Probleme der "Kritik der reinen Vernunft": Kant-Tagung Marburg 1981 9783110854145, 9783110089394

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Probleme der "Kritik der reinen Vernunft": Kant-Tagung Marburg 1981
 9783110854145, 9783110089394

Table of contents :
Vorwort
Historisches zum Selbstbewußtsein
Die metaphysische Deduktion in Kants „Kritik der reinen Vernunft”
Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – eine Diskussion mit Dieter Henrich
Vorbemerkung
Eine Meinungsdifferenz bezüglich Kants transzendentaler Kategorien-Deduktion
Diskussion
Zum Verhältnis von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonderer metaphysischer Naturwissenschaft bei Kant
Kontingenz in Kants „Kritik der reinen Vernunft“
Erkennen und Machen in der „Kritik der reinen Vernunft“
Der Begriff des Widerspruchs in der „Kritik der reinen Vernunft“. Zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik
Diskussion im Anschluß an das Referat von M. Wolff
Widersprüche im transzendentalen Idealismus
Diskussion im Anschluß an das Referat von Burkhard Tuschling
Namenregister
Stellenregister zu Kants Schriften

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Probleme der „Kritik der reinen Vernunft"

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Probleme der Kritik der reinen Vernunft" Kant-Tagung Marburg 1981 Herausgegeben von Burkhard Tuschling

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1984

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Probleme der „Kritik der reinen Vernunft" : [Klaus Reich zum 75. Geburtstag am 1. Dezember 1981] / KantTagung, Marburg 1981. Hrsg. von Burkhard Tuschling. Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. ISBN 3-11-008939-4 N E : Tuschling, Burkhard [Hrsg.]; Kant-Tagung ; Reich, Klaus: Festschrift

Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien - auch auszugsweise - vorbehalten. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Klaus Reich zum 75. Geburtstag am 1. Dezember 1981

Vorwort Auf Initiative von Rolf Peter Horstmann, Michael Wolff und mir fand vom 30.11. bis 2.12.1981 in Marburg eine Arbeitstagung über Probleme von Kants „Kritik der reinen Vernunft" statt, deren Ergebnisse der vorliegende Band mitteilt. Allen, die am Zustandekommen der Tagung und dieses Berichtsbandes mitgewirkt haben, danke ich an dieser Stelle nochmals herzlich, insbesondere der Stiftung „Volkswagenwerk", die die Tagung finanziert hat. Ursprünglich sollte nicht nur an das 200jährige Jubiläum der „Kritik der reinen Vernunft" erinnert - wofür Marburg sicherlich ein geeigneter Ort ist - , sondern auch Klaus Reich geehrt werden, der am 1.12.1981 75 Jahre alt geworden ist. Sich selbst treu bleibend hat er sich jede Ehrung verbeten. Veranstalter und Teilnehmer der Tagung haben sich diesem Wunsch selbstverständlich gebeugt. Daß das bloße Stattfinden der Tagung selbst, aber auch manche interpretatorische Bemühung um die „Kritik der reinen Vernunft" in ihrem Verlauf ohne die Arbeit von Klaus Reich nicht möglich gewesen wäre, stellt eine objektive Ehrung dar, die Veranstalter und Teilnehmer weder verhindern konnten noch wollten. Die Tagung sollte den großen Kant-Gedächtnisfeiern des Jahres 1981 nicht nur nicht Konkurrenz machen; sie sollte vielmehr, den bescheidenen Mitteln der Marburger Philosophie entsprechend, eine intensive Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie bei relativ beschränkter Zahl von Referenten und Teilnehmern sein. Den thematischen Mittelpunkt bildete - ohne daß dies vorher so recht geplant worden wäre: die Themen waren den Referenten weitgehend freigestellt - die transzendentale Logik, speziell die Lehre vom Selbstbewußtsein und den Kategorien. Die diesem Themenkreis gewidmeten Beiträge ebenso wie Gerd Buchdahls Auseinandersetzung mit Kants „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" und Konrad Cramers Überlegungen zum Begriff des Zufalls in der „Kritik der reinen Vernunft" standen unter der Leitfrage, inwieweit Kants Fragestellungen und seine Antworten heute noch systematisch ernst genommen zu werden verdienen - ein präzises und angemessenes Verständnis seiner Gedanken vorausgesetzt.

Vili

Vorwort

R. P. Horstmann, der an der Tagung nicht persönlich teilnehmen konnte, hat seinen ursprünglich als Vortrag geplanten Beitrag freundlicherweise für die Veröffentlichung in diesem Band zur Verfügung gestellt. Im übrigen folgt der Abdruck der Texte der Chronologie der Arbeitstagung. O b die Ergebnisse zu überzeugen vermögen, darüber sei hiermit das Urteil dem Leser anheimgestellt. Den Beteiligten hat die Tagung, w i e ich hoffe und in einigen Fällen auch weiß, viele Anregungen für die weitere Arbeit gebracht - und übrigens auch Spaß gemacht. Vielleicht bekommt auch der Leser etwas davon zu spüren. Marburg, im Juli 1983

B.T.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

REINHARD BRANDT

Historisches zum Selbstbewußtsein

1

R O L F PETER HORSTMANN

Die metaphysische Deduktion in Kants „Kritik der reinen Vernunft"

15

Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe - eine Diskussion mit Dieter Henrich Vorbemerkung

34 34

HANS WAGNER. Eine Meinungsdifferenz bezüglich Kants transzendentaler Kategorien-Deduktion

35

Diskussion

41

G E R D BUCHDAHL

Zum Verhältnis von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonderer metaphysischer Naturwissenschaft bei Kant

97

KONRAD CRAMER

Kontingenz in Kants „Kritik der reinen Vernunft"

143

MANFRED BAUM

Erkennen und Machen in der „Kritik der reinen Vernunft"

161

MICHAEL WOLFF

Der Begriff des Widerspruchs in der „Kritik der reinen Vernunft". Zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik

178

Diskussion im Anschluß an das Referat von M. Wolff

203

X

Inhaltsverzeichnis

BURKHARD TUSCHLING

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

227

Diskussion im Anschluß an das Referat von Burkhard Tuschling . .

311

Namenregister Stellenregister zu Kants Schriften

342 344

REINHARD BRANDT

(Marburg)

Historisches zum Selbstbewußtsein Bei der Organisation der Tagung wurde mein Vortrag aus guten Gründen an den Anfang und damit gewissermaßen vor die Tür gesetzt. Das Thema des Kolloquiums ist dit Kritik der reinen Vernunft von 1781, meine Ausführungen jedoch beziehen sich im wesentlichen auf eine bislang unbeachtete vorkantische Bewußtseinstheorie aus dem Jahr 1728, die erste Monographie zu diesem Thema. Daß ich hier am Abend vorweg rede, kann man des weiteren so interpretieren, daß der Akzent auf Vorphilosophischem, bloß Historischem liegt - es spielen so triviale Dinge wie der Buchrücken eines bestimmten Bandes in der Universitätsbibliothek von Dublin und das Verzeichnis der Alumni Oxonienses eine Rolle. Ich möchte jedoch versuchen, nicht ganz im Historischen der Buchrückenkunde und in vorkantischen Überlegungen zu versinken, und zu diesem Zweck sogleich anknüpfen an den höchsten Punkt der Kritik der reinen Vernunft, an dem auch nach Kant alles aufgehängt ist. Es ist die synthetische Einheit der Apperzeption; sie ermöglicht die Verbindung eines gegebenen Mannigfaltigen in einem - meinem - identischen Bewußtsein, das sich aufgrund dieser Stiftung von Einheit der eigenen Identität bewußt werden kann. Ohne den Sinn im einzelnen zu verstehen läßt sich so viel allgemein sagen: Kant gibt ein unhinterschreitbares Handlungssubjekt an, das vergleichbar ist dem Autor eines Buches oder einer Rede. Der Autor stiftet die Einheit des Gesagten und ist dadurch allererst der eine identische Autor. „Ich, Immanuel Kant, sage, daß . . . " - alles was auf die Nennung seiner selbst folgt, ist bedingt und zusammengehalten durch das Ich des Autors, es ist nichts anderes als der höchste Punkt, der selbst in den Ausführungen nicht erscheint, obwohl alles an ihm hängt. Die Untersuchung dessen, was ein Autor als solcher überhaupt thematisch einheitlich (also nicht als ichloser Dadaist) sagen kann, wäre nicht eine Sammlung aller Inhalte von Büchern und Reden zu dem Gegenstand, sondern die Analyse der möglichen kompatiblen, Thema und These explizierenden und begründenden Aussagen und

2

Reinhard Brandt

Urteile, die auf das einheitsstiftende „Ich sage, d a ß . . . " folgen können, wobei jede Aussage und jedes Urteil unter der Bedingung steht, daß der Autor explizit intervenieren und sich mit einem „Ich sage, d a ß . . . " einblenden kann. In der Kritik der reinen Vernunft wird analog zu zeigen versucht, was unter rein formalem Gesichtspunkt Gegenstand einer möglichen Synthesis im Bewußtsein des Menschen als eines anschauenden und denkenden Wesens sein kann, wovon also das Subjekt überhaupt sagen kann: "Ich denke, ich erkenne, d a ß . . . " Dieser Ansatz der Begründung möglicher Erkenntnis (nicht ihrer wirklichen Inhalte) in der Autorschaft des die Erkenntnis stiftenden Subjekts ist in der deutschen Philosophie neu. Bei Leibniz gibt es zwar Hinweise auf die Selbstapperzeption, aber im Zusammenhang einer vorgängigen Theorie des Seienden überhaupt, das Leibniz überblickt wie Homer die Handlungen und Gedanken der Götter und Menschen. Leibniz' Aussagen über das menschliche Bewußtsein unterscheiden sich nicht von denen ûbêr die Monaden im Reich der Mineralien, der Pflanzen oder Tiere: er untersucht nicht die menschliche Vernunft als das unhinterschreitbare Subjekt der Erkenntnis, aus dessen möglicher Autorschaft sich Umfang und Grenze der menschlichen Erkenntnis erst ergeben. Was für Leibniz gilt, läßt sich für die Schulmetaphysik im ganzen behaupten. Das erkennende Subjekt ist Gegenstand unter vielen Gegenständen, ein bemerkenswerter Fall in der Schöpfung, zu verorten irgendwo zwischen Tier und Gott. Auch ein Autor wie Johann Nicolas Tetens, der aus der Schulmetaphysik ausbricht und dessen Philosophische Versuche Einfluß hatten auf Kants Terminologie und vielleicht auch Gedanken in der Kritik der reinen Vernunft, auch Tetens berichtet vom Ich und der Selbstapperzeption in naturalistischer Weise als dem Zusammenspiel von passiven und aktiven Kräften. Die Untersuchung des Denkens und Erkennens unter der Fragestellung, was durch mich als anschauendes und denkendes Wesen überhaupt gedacht und erkannt werden kann, diese - nach der Meinung Kants zirkelfrei realisierbare - Untersuchung der Kritik der reinen Vernunft ist nicht nur in der deutschen Philosophie, sondern auch in der Kantischen Entwicklung ohne Präzedenz. In der Dissertation von 1770, der einschlägigen vorhergehenden Schrift, wird, wie der Titel sagt, eine allge1

Vgl. hierzu den Beitrag von Burkhard Tuschling in diesem Band.

Historisches zum Selbstbewußtsein

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meine Theorie des mundus sensibilis und intelligibilis entworfen - daß das Ich für Kant eine Rolle spielen wird, läßt sich dieser Schrift nicht entnehmen. Im Gegenteil, Kant faßte das Denken naturalistisch als einen zeitlichen Prozeß, und er provozierte hiermit selber die Unisonoreaktion aus Berlin und Königsberg, die im Klartext besagte, er solle seine subjektivistische Raum-Zeit-Theorie lieber vergessen und Raum und Zeit als universelle Prinzipien auch der Dinge an sich annehmen. Es ist eine Frage der Kantforschung, welche Konstellation genau zu der kritischen Wende geführt hat - nicht um die historische Faktensammlung zu erweitern, sondern um die genaue Intention des Kantischen Gedankens aus ihrem genetischen pro und contra zu erkennen. Ein Autor, den Kant in die Auseinandersetzung hineinzog, ist John Locke, dessen Essay concerning human understanding von 1690 für ihn in den 70er Jahren erneute Aktualität gewann. In der Endfassung der Kritik der reinen Vernunft wird Locke als bloßer Physiologe oder Psychologe des inneren Sinns und darüber hinaus als inkonsequent kritisiert. Inkonsequent deswegen, weil er von der empirischen Grundlage der Psychologie aus zu nicht empirischen Erkenntnissen der Moral, Mathematik und rationalen Theologie gelangte. Aber diese Kritik an Locke in der Schrift von 1781, der Kritik der reinen Vernunft, ist ein Oberflächenphänomen, durch das sich eine deutschtümelnde Kantinterpretation dankbar täuschen ließ, um den Königsberger Philosophen ganz in die eigene Geschichte einzugliedern; danach leitet er sich in allen wesentlichen Gedanken von Leibniz und Wolff her und läßt sich heimführen ins Reich der Metaphysik und deren perennierendes nihil novi. 2 Wenn Kant in der Vorrede zur ersten Auflage als Programm seiner Kritik der reinen Vernunft die Bestimmung der Quellen, des Umfangs und der Grenzen „derselben, aber alles aus Prinzipien", nennt, so wiederholt er die Programmformel von Lockes Essay, und das „aber" wendet sich gegen eben dieses Werk, dessen verbesserte Auflage die Schrift von 1781 ist. Lockes Theorie ist wie die von Kant durchdrungen von dem Gedanken des erkenntnisstiftenden und -verantwortenden Ich; während bei Descartes das cogito nur als Musterfall einer gewissen, klaren und distinkten Erkenntnis fungiert, ist das Ich bei Locke das

2

Zur Locke-Rezeption nach 1770 vgl. Vf., Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Vernunft (John Locke und Johann SchultzJ, in: Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781-1981, ed. I.Heidemann und W . R i t z e l , Berlin-New Y o r k 1981, 37ff.

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Reinhard Brandt

durchgängige Subjekt der Erkenntnisstiftung. In der Abwendung von Descartes wird hier zum ersten Mal die unhinterschreitbare Souveränität des Ich zum Prinzip der Philosophie gemacht, die in einer Identitätstheorie der Person gipfelt, gemäß der der Mensch nicht mehr als Person zu einem dinglichen Etwas, einer res cogitans, heruntergedacht wird, sondern das Ich das Selbst ist, das sich selbst als Autor von Handlungen weiß. Es fehlt jedoch bei Locke der Gedanke einer formalen Vorstrukturierung möglicher Erkenntnis, er geht bei der Erfassung der durch das Subjekt zu erwerbenden Erkenntnis sensualistisch-inhaltlich vor. Kant hat sich gegen diese letztere Komponente der Lockeschen Theorie gewandt, und er hat hierin einen Vorläufer, der 1728 das Programm aufstellt, Lockes Essay concerning human understanding durch eine rationalistische Erkenntnistheorie zu ersetzen. Die anonyme Schrift, die ich hier vorstellen möchte, hat insgesamt den Titel Two Dissertations concerning sense, and the imagination, with an Essay on consciousness. Der Essay on consciousness ist die erste Monographie zum Bewußtsein oder Selbstbewußtsein überhaupt, die der historischen Forschung bisher verborgen geblieben ist, obwohl das Thema Bewußtsein und Selbstbewußtsein besonders in der letzten Zeit intensiv behandelt wurde. Das Werk wird fälschlich einem Zachary Mayne zugeschrieben; aber der Zachary Mayne, an den man vermutlich bei der Zuschreibung gedacht hat, ist 1696 gestorben. Ich will nicht auf die Details der Nachforschung eingehen - nur so viel: In der Universitätsbibliothek in Dublin findet sich ein Exemplar in einem Lederband der Zeit mit der Aufschrift „Bishop of Corke's Two Dissertations" — eine Zuschreibung, die neue Dunkelheit auf den anonymen Autor wirft. Der Bishop of Corke kann nur ein Peter Browne sein, der selbst über Erkenntnisprobleme geschrieben hat und auch auf das Selbstbewußtsein eingeht, aber in einer anderen Form als der Anonymus. Und noch eines: Es gibt einen anonymen Essay on rational notions von 1733, der vermutlich vom selben Autor stammt wie die Schrift von 1728. Aus bisher gänzlich unersichtlichen Gründen ist das Exemplar des Essay on rational notions der Cambridger Universitätsbibliothek einem Charles Mayne zugeschrieben worden, den man auch nicht auffinden kann, kein Charles Mayne hat vor der betreffenden Zeit in Oxford oder Cambridge studiert oder ist sonst nachweisbar. Aber die Probleme des Buchrückens von Dublin und der nicht existenten Doppelgänger Charles und Zachary Mayne, die vom identischen Selbstbewußtsein handeln und tatsächlich

Historisches zum Selbstbewußtsein

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eine Person sind - diese Probleme sollen hier nicht näher behandelt werden. 3 Der Essay on consciousness von 1728 ist ein relativ bescheidenes Werk, es war dem Autor nicht vergönnt, die Kritik der reinen Vernunft zu schreiben, und er weist selbst auf den unvollkommenen Charakter seines Versuches hin - „But however, till such a Genius arises, who can compleat and perfect a Work of which Himself is the first Author, every one is at Liberty to make a Tryal of his own Abilities" (To the Reader). Der anonyme Autor antizipiert in der gemeinsamen Front gegen Locke und dem gleichzeitigen Profit von der Locke-Lektüre einige Positionen Kants; zugleich ist es nicht unwichtig, auf die Vorstellung der SubjektObjekt-Identität bei einem Engländer von 1728 hinzuweisen, um dem Irrtum entgegenzuwirken, es sei das Bewußtsein und Selbstbewußtsein wie der Morgensternsche Mond ein völlig deutscher Gegenstand, der erst mit oder nach Kant in Erscheinung trat. Ich möchte so vorgehen, daß ich zunächst auf die Grundthese der Two Dissertations hinweise und sodann einige wichtige Punkte des Essay on consciousness vorstelle. N u n also zu dem Kant ante portam. Die gegen den Empirismus gerichtete These der beiden Dissertations concerning sense, and the imagination besagt: Unsere sinnliche Wahrnehmung und deren Reproduktion in der Einbildungskraft haben für sich keine Erkenntnisfunktion. Beim haptischen, optischen, akustischen Umgang mit den Dingen und beim Träumen oder Erinnern erkenne ich niemals etwas als etwas; sense und imagination haben wir mit den Tieren gemeinsam, denen Verstand (understanding) und das mit dem Verstand notwendig verknüpfte Bewußtsein fehlt. Um etwas als etwas zu erkennen, bedarf es der Begriffe, die aus dem bloßen Material der Sinnlichkeit nicht stammen können, wie der Sensualist oder Empirist behauptet. Die Sinne als solche haben keine Einheitsfunktion, sie können wahrnehmen, aber nicht etwas als solches erkennen. „ . . . the Soul is not Conscious of its Sensitive Perceptions, from the Endowment of Sense. And from

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Ich gehe auf die Umstände der Entstehung der Two Treatises concerning sense, and the imagination. With an Essay on consciousness in meiner demnächst erscheinenden deutsch-englischen Ausgabe des Essay on Consciousness (Verlag Felix Meiner, Hamburg) näher ein. Eine reprint-Ausgabe der Two Treatises und des Essay ist in der Reihe A Garland Series. British Philosophers and Theologians of the 17th & the 18th Centuries, ed. by René Wellek, N e w York & London 1976 erschienen. Die Seitenverweise beziehen sich im folgenden auf die Originalpaginierung.

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Reinhard Brandt

which it follows that the Soul cannot, merely as Sensible, take Cognisance of any Thing it perceives, as its Object: for unless I consider and regard my Perception, as my own Perception, or the Thing perceived, as perceived by my self, (which to do, is the proper Act of Consciousness) ,tis plainly impossible that I should consider it at all, as an Object, or have any Notion or Apprehension of it, as such." (51) Zu den nichtsensuellen Komponenten gehört auch die Form der Gegenstände; die Gegenstände können uns durch ihre Form nicht affizieren, sondern durch ihre Farbe, durch Druck und Stoß. „The Sight, for instance, is most affected with Colour, and very rarely takes notice of the Form, or Shape of a thing, because it does not affect it" (40). Aber der Autor bleibt bei einem kompromißlerischen „most" und hat nicht den Mut, die Konsequenzen aus seiner platonisierenden Idee zu ziehen. Die Stammbegriffe des Intellekts („notions") sind wie auch bei andern zeitgenössischen Autoren vor allem causa, substantia, Kraft, Essenz; 4 sie können nur durch eine intellektuelle Operation im einzelnen angewandt werden. So benötigen wir bei der Feststellung von Kausalbezügen die Negation, zu der nur der menschliche Intellekt befähigt ist. Ich kann die kausale Wirkung eines Faktors in einem Ereigniszusammenhang nur dann herausfinden, wenn ich ein Kontrastexperiment anstelle und diesen Faktor in Gedanken eliminiere (49-50). Der rationale Teil dieser Erkenntnistheorie, die sich sichtlich am platonischen Theätet orientiert (Locke nimmt die Stelle des Protagoras ein), wird in der Schrift nicht näher ausgeführt, statt einer abschließenden Dissertation „on the human understanding" liefert der Autor die selbständige Untersuchung eines Begleitphänomens des Verstandes, einen Essay über das Bewußtsein. 1. Skizze des Gedankengangs. Nach einer kurzen Einleitung, die die Neuheit der Untersuchung, die Wichtigkeit des Gegenstandes und die Unzulänglichkeit der eigenen Kräfte nach traditionellen Mustern der Rhetorik herausstellt, beginnt der Autor seinen Versuch mit einer „Definition oder besser Beschreibung", wie er sagt des Phänomens, wie es jedem aus der Erfahrung vertraut ist. „Bewußtsein ist der innere Sinn (inward sense) und das Wissen (Knowledge), das der Geist von seinem eigenen Sein und Existieren hat und von dem, was immer in ihm vorgeht bei dem Gebrauch und der Ausübung einer seiner Fähigkeiten und 4

Vgl. meine Anm. 2 genannte Arbeit, S. 47.

Historisches zum Selbstbewußtsein

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Kräfte" (144-145). Diese Bestimmung wird näher expliziert: der Geist kennt seine Handlungen als seine eigenen. Diese Handlungen nun beziehen sich auf verschiedene Arten von Gegenständen, sie sind immer intentional. Der Begriff des Objekts entsteht erst durch diese intentionale Beziehung des Bewußtseins, ohne diese gibt es keine Gegenstände. Das Bewußtsein nun kann sich selbst zu seinem Objekt machen, es ist sein „Principal and most proper object" (148). Es ist das Selbst, das in diesem Akt des Selbstbewußtseins gleichermaßen Subjekt wie Objekt ist - „Seif is likewise the Subject, as well as the Object of Consciousness" (149). Der Körper hat an diesem Selbst keinen Anteil, die sinnlichen Organe sind lediglich Instrumente des geistigen Selbst. Dieses ist im Unterschied zu allem Körperlichen eine unteilbare Einheit; es fügt sich nicht der kategorialen Einteilung des Seienden in Substanz und Attribut, sondern bildet eine Entität für sich. Das Wissen um das eigene Bewußtsein liegt 1. in der Natur der Sache, es läßt sich 2. empirisch bei jedem Menschen als bewußtem Wesen feststellen, und dieses Wissen um das eigene Bewußtsein kann 3. nicht das Wissen eines andern Vermögens des Menschen sein, der Sinne, der Einbildungskraft oder des Gedächtnisses, es ist auch kein Ergebnis der Reflektion des Verstandes, sondern ist Strukturmoment des Bewußtseins als solchen. Das sich selbst bewußte Bewußtsein ist an den Verstand (Understanding) geknüpft, beide verweisen aufeinander, obwohl der Verstand das Grundvermögen ist, dem das Bewußtsein zukommt, nicht umgekehrt. Verstand und Bewußtsein fehlt den Tieren, sie verfügen nur über Sinn, Einbildungskraft und Gedächtnis. Das Bewußtsein begleitet - accompanies - alle Handlungen des Geistes (175). Von ihm lassen sich des weiteren folgende Prädikate festlegen: es ist klar und distinkt, adäquat und exakt, gewiß, real und evident. Seine Realität bedarf keines Beweises, wie Descartes irrtümlich annahm - jeder Beweis setzt immer schon das probandum als gegeben voraus. Träume sind seelische Geschehnisse ohne Bewußtsein, der Traum ähnelt dem Wahnzustand und dem Seelenzustand der Tiere; es löst sich damit die - an sich ganz abwegige - Problematik der Differenz zwischen Wachen und Träumen. Hobbes, Descartes und Locke versuchten ihren Scharfsinn, ohne auf die einzig richtige und einfachste Lösung zu kommen: Der Traum ist sich seiner selbst nicht bewußt als eines

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Reinhard Brandt

Traumes, ihm fehlt also das entscheidende Merkmal des Wachzustandes der durch das seiner selbst bewußte Bewußtsein definiert ist. Bei Willenshandlungen weiß der Mensch a priori um seine eigene Kausalität. Das menschliche Subjekt wird sich notwendig seiner selbst bewußt, wenn eine Handlung nicht durch Objekte und Motive gesteuert, sondern durch den Willen entschieden wird. Die self-determinative power läßt sich nicht denken ohne die ausdrückliche reflexive Selbstbeziehung, und zwar so, daß hier nicht wie im epistemischen Selbstbewußtsein das Subjektwissen erst auf die bewußte Ausübung geistiger Tätigkeit folgt, sondern es geht umgekehrt notwendig das Wissen um sich selbst als des Handlungsgrundes der Handlung voraus. Das Selbst kann nur als seiner selbst bewußtes Selbst kausal wirken, darf also nicht erst in dieser Tätigkeit post festum erkannt werden. Hiermit ist zugleich bewiesen, daß der Mensch frei ist. Man kann in einem Experiment diese Freiheit bestätigen, indem man nur um des Beweises willen eine Willensrichtung ändert. Der menschliche Geist ist immateriell, die aufgewiesenen Phänomene besonders der Reflexivität lassen sich nicht als körperlich denken. Peroratio: Der Mensch ist göttlichen Ursprungs und sollte sich dessen zur rechten Zeit erinnern. 2. Der Autor handelt zuerst vom epistemischen, sodann vom praktischen Bewußtsein (Termini, die er selbst nicht gebraucht - sie sollen hier nicht als eigenständige Begriffe, sondern als Verweisungen auf das vom Autor Gemeinte dienen). Gemeinsam ist beiden Formen des Bewußtseins, daß sie im Modus des „inward Sense and Knowledge" (144) gegeben sind. Die Doppelform von „Sense und Knowledge" entspringt hier nicht der durchgehenden stilistischen Attitüde des Autors, Begriffe durch zwei oder drei Benennungen zu präzisieren, sondern besagt etwas Inhaltliches, das Bewußtsein ist zugleich ein Selbst-Gefühl5 und ein Selbst-Wissen oder Erkennen. Der Autor nimmt hier nicht seine Vorstellung aus den Two Dissertations auf, gemäß der das (notwendig wahre) Bewußtsein einer perception noch nicht identisch ist mit ihrer Erkenntnis (99-100), sondern identifiziert beides miteinander entgegen einer Warnung, die nicht

5

Eine Vorstellung, die auch Kant nicht fremd ist: Das Ich ist kein Begriff, durch den etwas gedacht wird, sondern „nichts mehr als Gefühl eines Daseins ohne den mindesten Begriff..." (Prolegomena §46 Anm.).

Historisches zum Selbstbewußtsein

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erst bei Kant steht, 6 sondern sich schon bei William Sherlock findet: „Seif-Knowledge properly signifies to contemplate our own Natures in their Idea, to draw our own Image and Picture as like the Original as we can, and to view our selves in it: But Self-consciousness is an intellectual Self Sensation, when we feel our selves, and all the Thoughts, Knowledge, Volitions, Passions of our Minds, and know what is Self, and what belongs to Self by feeling it"7. Der Autor scheidet nicht Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, er gewinnt aus dem ersteren die Möglichkeit der Erkenntnis seiner selbst als einer spirituellen unsterblichen Entität. Eine Differenz wird nur implizit insofern eingeführt, als jeder Mensch über Selbstbewußtsein verfügt, jedoch die Selbsterkenntnis gewöhnlich vernachlässigt. „ . . . there is, in the Generality of Mankind, a total Unconcernedness and Indifferency to Know Themselves, or understand the Nature of their own Being" (227). Aber hiermit ist ein moralischer Defekt, keine epistemologische Differenz angezeigt. Sowohl das epistemische wie auch das praktische Selbstbewußtsein bezieht sich primär auf die eigenen Handlungen, die „own Acts". Das Selbstbewußtsein wird in beiden Teilen als ein possessives Aktbewußtsein gefaßt. So ist es möglich, daß das Bewußtsein, das sich auf die eigenen Willenshandlungen bezieht, eine Intensivierung im Bewußtsein gegenüber dem Epistemischen darstellt. Die intensivste Form von Bewußtsein bezieht sich auf die eigene Kausalität, auf meine Handlungen als meine eigenen. Drittens ist beiden Ausprägungen des Bewußtseins die Einheit in der Mannigfaltigkeit der Handlungen gemeinsam. Das Bewußtsein hat in epistemischer Hinsicht die Funktion des einheitlichen sensus communis. Es vereint die verstreuten Sinnesempfindungen und leistet damit etwas, was keiner der Sinne für sich tun kann (51). Das Bewußtsein ist jedoch nicht nur eines, sondern es ist der Ermöglichungsgrund von Einheit 6

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„Das Bewußtsein seiner selbst ist noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst" (Kritik der reinen Vernunft Β 158). William Sherlock, A Defence of Dr. Sherlock's Notion of a Trinity in Unity ..., London 1694, 77. Auf die Selbstbewußtseinsproblematik in der englischen Philosophie vor Pseudo-Mayne geht U d o Thiel in seiner demnächst erscheinenden Dissertation Lockes Theorie der personalen Identität im Kontext der britischen Philosophie des ausgehenden 17.Jahrhunderts ein. Zur Differenz von Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein vgl. auch Malebranche, Recherche de la vérité (16): „ . . . nous ne la connaissons point par son idée, nous ne savons de notre ame que ce que nous sentons se passer en nous" (III, 2, 7, 4).

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Reinhard Brandt

überhaupt. „Unity of Nature and Essence is, in an especial and singular Manner, attributable to Self, or that which is Conscious. For tho', in thinking of any thing, we always consider it, as one, and the Unity of every thing (as Philosophers teach) is convertible with its Essence; yet Consciousness hath This in it peculiar and extraordinary, viz. that it is the very Cause and Reason of the Unity of that Essence or Being which is endued with it. And so it continually suggests this Notion and Apprehension to us, about any Conscious Being whatever, viz. that, as such, it is necessarily one, and cannot so much as in Thought be imagined to be more than one thing only" (154-155). Das Bewußtsein kann sich also nicht in der Vielheit seiner Akte verlieren. Ein Problem der Identität der Person in praktischer Hinsicht, wie es sich für John Locke notwendig durch die Kritik der cartesischen res-cogitans-Vorstellung ergibt,8 kennt der Autor entsprechend seiner intelligiblen Bewußtseinseinheit nicht. 3. Das epistemische Bewußtsein ist eine Re-flexion auf das erkennende Selbst. Das Auffinden des Selbst ist entsprechend erst möglich nach der — bewußten — Handlung eben dieses Selbst. „For tho' we are as well conscious of every Thing we do or act, as of our own Beings or selves; and it is absolutely requisite and necessary that some Act or other should precede that of Self-Consciousness, for we are conscious of our selves only from our Acting, or because we act, and Self-Consciousness must of course depend thereon for its Existence; yet is it impossible to be Consious of any Act whatever, without being sensible of, or perceiving one's Self to be that which Does it" (148). Die Spontaneität des Ich ist also, obwohl post festum betrachtet, für das Bewußtsein seiner selbst doch erreichbar. Auf der Subjektseite des Selbstbewußtseins steht damit die - sicher problematische - Behauptung der Subjekt-Objekt-Identität im Selbstbewußtsein. „Seif is likewise the Subject, as well as the Object of Consciousness" (149). Für die Objektseite des epistemischen Bewußtseins entwickelt der Autor folgende - wiederum problematische - Theorie: Das reflexive Bewußtsein seiner selbst ist die Selbstthematisierung, die Rückwendung der Bewußtseinsintention, die normalerweise auf andere Objekte als das eigene Selbst geht. Die Objekte nun werden als solche allererst durch das 8

Vgl. dazu Vf .John Locke, in: Klassiker der Philosophie I, ed. O. Höffe, München 1981, 360-377.

Historisches z u m Selbstbewußtsein

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Bewußtsein möglich. „The Notion of Object (as I may here take occasion to observe) is entirely owing to Consciousness; it being plainly impossible that I should be able to consider or regard any thing, as having such an Appearance to me in my Act of perceiving it, (which is the true and proper Notion of an Object) any otherwise than by being conscious of my own Perception, and of the Appearance to which it refers" (146-147). Erst dadurch also, daß Objekte meine Vorstellungen werden, können sie zu Objekten werden. Es ist für den Autor kaum möglich, dem Vorwurf des Solipsismus oder Berkeleyschen Idealismus zu entgehen. Esse est percipi - „... there being no possibility of separating the Object, or Thing perceived, from the Act of Perceiving" (168). Damit wird alles Vorgestellte zu einem Teil eines Ich und dieses verliert sich als bundle of perceptions, wie Hume formuliert und damit die von Locke inaugurierte und von seinen Nachfolgern nicht mehr bewältigte Ich-Problematik auf den Begriff bringt.' Der Autor bekennt sich nicht zum Idealismus, sondern glaubt, Realist zu sein. Zwei Teilkomponenten seiner Theorie haben die Funktion, den Realismus zu garantieren. In beiden Fällen ist es das - vom Autor nicht so benannte - Unbewußte der menschlichen Seele, und zwar einmal in objektiver, zum andern in subjektiver Hinsicht. In objektiver Hinsicht bietet das Unbewußte eine Garantie für die Realität der von uns als Objekte erst ermöglichten Gegenstände durch die Funktion der Sinne und der reproduktiven Einbildungskraft. Die Sinne rezipieren Eindrücke, darüber kann kein Zweifel herrschen; die so empfangene Wahrnehmung kann uns bewußt und durch die kategoriale Bestimmung des Verstandes zum Objekt für uns werden (Kategorien dieser Art sind traditionsgemäß „Cause, Effect, Power, Act, etc."10). Wir erkennen das unbewußt rezipierte Etwas dadurch bewußt als es selbst, als dieses so und so bestimmte Etwas. Durch die Vorgabe der unbewußten Rezeption von Empfindungen, die in das Licht des Bewußtseins gelangen können, ist die Realität der von uns erst ermöglichten Objekte gewährleistet. Eine ähnliche Funktion scheint das Unbewußte in subjektiver Hinsicht zu haben. Der Autor beschäftigt sich ausführlich mit dem Traum (182-205) und gewinnt mit ihm einen Bereich von Seelenereignissen, die ' David Hume, A Treatise of human nature (1739) I, 4, 6. S. oben Anm.4.

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Reinhard Brandt

immanent kein Kriterium der Scheidung von Schein und Wirklichkeit liefern. Traum und Tierseele haben kein Bewußtsein und folglich auch kein Realitätsprinzip. Consciousness soll die klärende Gegeninstanz sein; das Bewußtsein gewährleistet die Wirklichkeit des eigenen Ich und der vom Ich unterschiedenen Perzeptionen (182-184). Der Autor sieht nicht, daß es auch im Tagbewußtsein bei einer bloßen Affirmation der objektiven Realität des Perzipierten bleibt - ein Beweis, daß der Gegenstand des Bewußtseins nicht bewußtseinsimmanent ist, wird nicht geliefert. 4. Von der bewußten Verstandeshandlung wird, wie schon gesagt, die bewußte Willenshandlung unterschieden. Das praktische Selbstbewußtsein kennt keine Differenz von Bewußtsein und Selbstbewußtsein, es ist ursprüngliches, keinen andern Akt voraussetzendes Selbstbewußtsein. Im Handeln betrachtet das Selbst sich immer als das wollende und handelnde Subjekt. Der Mensch muß, so wird zu zeigen versucht, um sich als die Ursache der Willensentscheidung wissen, sonst kann er selbstredend nicht die Ursache von Entscheidungen und Handlungen sein. Wir haben hier also die seltsame („stränge", 208) Tatsache der Kenntnis einer Wirlichkeit vor ihrem Aktuellwerden: Man weiß a priori vom eigenen Willensvermögen, bevor man es ausübt; die Selbst-Ursächlichkeit ist schon gewiß, bevor sie aktualisiert wird, andernfalls könnte der Wille nicht die selbstmächtige Ursache der Entscheidung und Handlung sein (156-157; 208-210). Hiermit ist zugleich das Gegebensein von Freiheit erwiesen, die man sich noch einmal in einem Experiment vor Augen führen kann: Man ändert eine Willensrichtung aus dem einzigen Motiv, die Freiheit zu beweisen. Das Motiv, die Freiheit, ist also wirklich (211-212). Die Voraussetzung dieses vorgeblichen Beweises der metaphysischen Freiheit bzw. absoluten Nichtdeterminiertheit meiner Handlungen ist die Annahme des Bewußtseins als sich selbst bewußten und transparenten: Es kann keine unbewußten Steuerungen des Bewußtseins geben und also auch nicht die Illusion einer eigenen freien Entscheidung, während tatsächlich unser Selbst in einem kausalen Netz hängt. Der Autor meint, daß bei einer vorsätzlichen Setzung der Freiheit als des Motivs einer bestimmten Handlung die Freiheit selbst auch mit der Ausführung der Handlung bewiesen ist. David Hume hat das Experiment, das die Freiheit gegen den Determinismus beweisen soll, bekanntlich anders bewertet; bei einem derarti-

Historisches zum Selbstbewußtsein

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gen Versuch würde nicht beachtet, „that the fantastical desire of shewing liberty, is here the motive of our actions" 11 . Wie immer es um unser Freiheitsgefühl bestellt ist - ein Beobachter kann unter Idealbedingungen unsere Handlungen, auch die zum Beweis der Freiheit, vorhersagen, und genau das ist unter Notwendigkeit zu verstehen 12 . Hume hat die anonyme Schrift kaum gelesen; er hat jedoch mit Sicherheit ein Werk unter dem Gesichtspunkt der Lehre von Freiheit und Notwendigkeit studiert, in dem auf den anonymen Essay on consciousness und das Freiheitsexperiment Bezug genommen wird13 - vielleicht also besteht hier ein genetischer Zusammenhang. Daß der Autor die Entwicklung in Deutschland beeinflußt hat, kann man fast mit Sicherheit ausschließen. Im Juni 1730 erschien in der Acta Eruditorum eine Rezension der anonymen Schrift unter dem Titel

Dissertationes

duae de sensu et imaginatione;

adjicitur tentamen

de

mente sui ipsius conscia (281-287); weitere Reaktionen konnte ich im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert bisher nicht feststellen. Das sperrige „tentamen de mente sui ipsius conscia" indiziert, daß es zunächst sogar sprachliche Schwierigkeiten gab, das Thema von consciousness als self-consciousness zu erörtern. Christian Wolff benutzt als lateinisches nomen den Begriff der apperceptio 14 und verzichtet damit auf den sonst benutzten Stamm des con-scius. Der deutsche Begriff des Selbstbewußtseins begegnet noch nicht in Johann Georg Walchs Philosophischem Lexikon; die zweite Auflage von 1740 verzeichnet als einzige Selbst-Präfixe die traurige Trias von Selbst-Betrug, Selbst-Mord und Selbstverachtung (2359-2369). Noch Herder scheint in seiner Schrift vom Ursprung der Sprache (1772) terminologische Schwierigkeiten mit dem intendierten Begriff des Selbstbewußtseins zu haben. Die Sprache ist nach ihm weder aszendenztheoretisch von den tierischen Anlagen her zu verstehen, wie es die französischen Materialisten wollten, noch als

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12 13

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David H u m e , An Enquiry concerning human understanding (1748), Sektion VIII, 1. Diese bündige Formulierung findet sich noch nicht in dem sonst gleichen Abschnitt im Treatise II, 3, 2, § 2 . H u m e macht hier einen positiven Gebrauch seines psychologischen Determinismus. E s handelt sich um einen Hinweis und ein Zitat aus dem Essay on Consciousness von E d m u n d L a w in seiner Übersetzung von William King, An Essay on the Origin of Evil, L o n d o n (1731) 1733, II, 253. H u m e benutzte dieses Buch ausweislich der Early Memoranda, 1728-1740, herausgegeben von Ernest Campbell Mossner, in: Journal of the history of Ideas 9, 1948, 4 9 2 - 5 1 8 , vgl. bes. 5 0 0 - 5 0 2 . Vgl. Psychologia empirica § 2 5 , aufgenommen in der Psychologia rationales § 16 u. ö.

14 Geschenk Gottes bibelgemäß zu verbuchen, sondern entspringt der reflexiven Struktur des menschlichen und nur menschlichen Bewußtseins. Kraft der Selbstreflektion ist der Mensch selbst und einziger Autor der Sprache. Herder benutzt aus sprachlichen Schwierigkeiten den Begriff der Besonnenheit statt den des Selbstbewußtseins (vielleicht im Rückgriff auf den Dialog Cbarmides mit dem Untertitel peri sophrosynes, Uber die Besonnenheit; Piaton erörtert im Dialog selbst das Problem des Wissens des Wissens, die Struktur also der Selbstreflektion, die für Herder zentral ist). Der Sache nach, so könnte man sagen, sind die Vorstellungen des Essay on consciousness auch in Christian Wolffs Psychologia empirica und rationalis vorhanden. Wolffs apperceptio deckt den Bereich der selfconsciousness. - Die beiden Autoren schöpfen aus einem gemeinsamen Fundus, der auf Piaton und Aristoteles zurückgeht, so daß gewisse identische Züge sicher aufweisbar sind. Eine entscheidende Differenz scheint jedoch darin zu liegen, daß Pseudo-Mayne eine Besitztheorie des Bewußtseins entwickelt, die bei Wolff fehlt. „My o w n . . . " ist eine stete Wendung; das Bewußtsein ermöglicht und gewährleistet, daß ich Täter und Eigner meiner Handlungen und Vorstellungen bin. Wolff interessiert sich für die notwendige Bewußtheit einer distinktiven, Subjekt und Objekt und die Objekte voneinander trennenden Erkenntnis und beschränkt die apperceptio entsprechend auf das Gebiet der theoretischen Philosophie. Das possessive Aktbewußtsein bei Pseudo-Mayne ist der gemeinsame höchste Punkt epistemischen und praktischen Habens und Handelns. Kant hat sicher nicht historisch an die anonyme Schrift angeknüpft; wenn es jedoch in der zweiten Deduktion z. B. heißt: „Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehörten..., weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden" (B 132-133), so steht er hiermit dem anonymen Autor von 1728 näher als der Tradition der deutschen Schulphilosophie.

R O L F P . HORSTMANN

(Bielefeld)

Die metaphysische Deduktion in Kants „Kritik der reinen Vernunft"

Kant hat das Schicksal vieler philosophischer Autoren geteilt, die versucht haben, ihre eigenen Theorien durch Veränderungen ihrer Darstellung für andere klarer und verständlicher zu machen: auch er hat damit Schiffbruch erlitten. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran - und das unterscheidet ihn von den meisten anderen philosophischen Autoren - , es immer wieder zu versuchen, auf vielerlei verschiedene Weise seine Theorie unter Darstellungsgesichtspunkten zu ändern. Ein Beispiel für dieses sein Mißgeschick und für die Standhaftigkeit seines Bemühens sind die verschiedenen Versuche, dem Publikum die Lehrinhalte der „Kritik der reinen Vernunft" näherzubringen. Kant ging völlig zu recht davon aus, daß dieses Werk nicht zu den luzidesten Produkten philosophischer Prosa gehörte - eine Einschätzung, die auch die 200jährigen Erfahrungen des Umgangs mit diesem Werk immer wieder belegen. Er veröffentlichte u.a. deshalb im Jahre 1783 die „Prolegomena", von denen er meinte, wie man dem Vorwort zu den ,Prolegomena' entnehmen kann, daß durch sie „eine gewisse Dunkelheit" (AA IV, 261)1 der „Kritik der reinen Vernunft" behoben werden würde. Er war dieser Meinung deshalb, weil er die Art der Darstellung, die ihm die „Prolegomena" erlaubten, aus von ihm selbst genannten Gründen für leichter zugänglich hielt als die, die er in der „Kritik der reinen Vernunft" selbst wählen mußte. Betrachtet man aber die Folgen, die die „Prolegomena" für das Verständnis der „Kritik der reinen Vernunft" gehabt haben, so scheint das genaue Gegenteil dessen, was Kant erhofft hatte, eingetreten zu sein: Nicht nur scheint niemandem irgendetwas in bzw. an der „Kritik der reinen Vernunft" durch die „Prolegomena" verständlicher 1

Ich zitiere die Schriften Kants nach der Akademie-Ausgabe („Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften", Berlin 1900 ff.). Bei der „Kritik der reinen Vernunft" gebe ich nur die Originalpaginierung nach A bzw. Β an.

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Rolf P. Horstmann

geworden zu sein, vielmehr boten die „Prolegomena" Anlaß zu Diskussionen, die das Verständnis sowohl ihrer selbst als auch der „Kritik der reinen Vernunft" erheblich belasteten. 2 Der Versuch, durch eine eigene Schrift die Probleme der Darstellung der „Kritik der reinen Vernunft" zu beseitigen, war also nicht sehr erfolgreich. Kaum besser erging es Kant bei dem Projekt, die Probleme, die die „Kritik der reinen Vernunft" schon wegen ihrer Darstellung bereiteten, durch eine Veränderung der „Kritik der reinen Vernunft" selbst aus der Welt zu schaffen. Die in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" von 1787 wiederum zur Vermeidung von „Schwierigkeiten und . . . Dunkelheit" (Β X X X V I I ) eingearbeiteten „Verbesserungen" (Β X X X V I I I ) haben wenigstens beim Publikum ihren Zweck so gründlich verfehlt, daß besonders zwei zentrale Lehrstücke der „Kritik der reinen Vernunft" hauptsächlich durch die Fassung, die sie in der zweiten Auflage erhielten, zum Gegenstand allgemeinen Mißverständnisses wurden und bis auf den heutigen Tag in diesem Zustand geblieben sind. Bei diesen Lehrstücken handelt es sich, wie jeder weiß, der sich mit Kants theoretischer Philosophie befaßt hat, einerseits um die transzendentale Ästhetik, andererseits um die Deduktion der Kategorien. Was gerade diese Lehrstücke in ihrer von Kant für verbessert gehaltenen Form zu bevorzugten Gegenständen der Auseinandersetzung hat werden lassen, dies hängt offenbar eng zusammen mit einer Unterscheidung, die Kant in der zweiten Auflage in bezug sowohl auf die Ästhetik als auch auf die Deduktion der Kategorien eingeführt hat, nämlich der Unterscheidung zwischen einem .metaphysisch' genannten Gedankengang und einem transzendental' genannten. Wenn auch diese Unterscheidung die erwähnten beiden Lehrstücke gleichermaßen betraf, so waren doch die Konsequenzen dieser Unterscheidung für die Rezeption 2

Diese Diskussionen betrafen vor allem die von Kant in den ,Prolegomena' eingeführte Unterscheidung zwischen einer analytischen und einer synthetischen Lehrart sowie den im § 39 angegebenen Ubergang von den logischen Formen des Urteils zu den Kategorien. - Kant selbst schien keine allzu großen Hoffnungen in den Erfolg der p r o l e g o mena' zu setzen, die Dunkelheiten der ,Kritik der reinen Vernunft' tatsächlich zu beseitigen. Dies kann man der folgenden, eher resignativen Bemerkung entnehmen: „Wer diesen Plan, den ich als Prolegomena vor aller künftigen Metaphysik voranschicke, selbst wiederum dunkel findet, der mag bedenken: daß es eben nicht nötig sei, daß jedermann Metaphysik studiere, . . . und daß endlich die so beschrieene Dunkelheit (eine gewohnte Bemäntelung seiner eigenen Gemächlichkeit oder Blödsichtigkeit) auch ihren N u t z e n habe" ( A A IV, 263 f.).

Die metaphysische Deduktion

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der Ästhetik einerseits und der Deduktion der Kategorien andererseits einigermaßen verschieden, wenn auch in beiden Fällen negativ. Für die transzendentale Ästhetik gilt, daß sich für sie die Unterscheidung zwischen einer metaphysischen und einer transzendentalen Erörterung von Raum und Zeit in dem Sinne nur negativ ausgewirkt hat, daß sie dem kritischen Argument Vorschub leistete, Kant habe sich nur etwas zurechtgelegt, was seine Auffassungen über Geometrie und Arithmetik rechtfertigen konnte. 3 Für die Deduktion der Kategorien hatte die Unterscheidung zwischen einer metaphysischen und einer transzendentalen Deduktion die kaum weniger negative Konsequenz, daß man sie weitgehend vernachlässigte. Dies hauptsächlich aus zwei Gründen: der eine, eher kuriose Grund war der, daß man gewisse Schwierigkeiten hatte, die metaphysische Deduktion der Kategorien überhaupt im Kantischen Werk selbst zu lokalisieren, der andere, eine sachliche Einschätzung implizierende Grund war der, daß man meinte, alles das allein in der transzendentalen Deduktion der Kategorien zu finden, was zur Einlösung des Kantischen Programms der Deduktion der Kategorien erforderlich ist. Dies führte dazu, daß nicht erst seit kurzem, sondern schon seit Kants eigener Zeit4 fast ausnahmslos nur die transzendentale Deduktion gemeint ist, wenn von Kants Deduktion der Kategorien die Rede ist, und daß der metaphysischen Deduktion, wenn sie schon einmal zur Kenntnis genommen wird, übereinstimmend bescheinigt wird, daß sie eigentlich keinen positiven Beitrag für Kants Programm der Deduktion der Kategorien leiste. Weshalb nun die metaphysische Deduktion eigentlich keinen positiven Beitrag zur Deduktion der Kategorien leistet, darüber gehen die Meinungen ziemlich stark auseinander. Ich werde daher zunächst drei neuere Deutungen der metaphysischen Deduktion betrachten, die sich vor allem im englischsprachigen Raum als sehr einflußreich erwiesen haben und die einen ganz guten Ausschnitt aus dem Spektrum von Schwierigkeiten deutlich machen, die man als für die metaphysische Deduktion symptomatisch ansieht. Bei den hier von mir angeführten 3

Vgl. dazu R. P. Horstmann: Raumanschauung und Geometrie. Bemerkungen zu Kants transzendentaler Ästhetik. - In: Ratio. 18 (1976), 16-22. 4 So hat z.B. Carl Christian Erhard Schmid in seinem „Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften" (Jena 1798) unter ,Deduktion' sowohl die transzendentale als auch die empirische als Stichwort verzeichnet, nicht aber die metaphysische Deduktion.

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Deutungen handelt es sich um die von R . P. W o l f f , die von J . Bennett und die von P. F . Strawson. 5 F ü r R . P. Wolff 6 „the metaphysical Deduction is probably the weakest link in the entire argument of the Analytic. T h e appearance f r o m nowhere of the Table of Judgments and the rather flimsy argument to the Table of Categories are entirely unconvincing . . . T h e opening chapter of the Analytic of Concepts is then revealed in its true role as an introductory exposition of the results to be achieved in the rest of the Analytic" (77). Für W o l f f ist dies vor allem deshalb der Fall, weil die seiner Meinung nach von Kant in der metaphysischen Deduktion versuchte Darlegung des Zusammenhangs zwischen Urteilsformen und Kategorien mit den von ihm bereitgestellten und von der Vermögenspsychologie abhängigen Mitteln gar nicht geleistet werden kann. W o l f f gibt daher zu erwägen, daß „The Metaphysical Deduction could be treated as an introduction in which a variety of concepts are explained and a summary given of certain results to be achieved (namely, the Table of Categories); or, alternatively, the entire opening chapter could be moved to the end of the Analytic, and presented as a systematic exposition of the conclusions of the Analytic of Principles" (60). W o l f f geht also davon aus, daß Kant im Rahmen der metaphysischen D e d u k tion die Kategorien aus den Urteilsformen ableiten will (vgl. 62), stellt das Mißlingen dieses Unternehmens fest und schließt daraus und aus dem Umstand, daß es seiner Meinung nach erst die „transcendental Deduction and the Analytic of Principles" sind, „where the real arguments are presented for the system of categories" (62), auf die Uberflüssigkeit der metaphysischen Deduktion für Kants Deduktion der Kategorien. P. F . Strawson 7 sieht die ganze Angelegenheit ein wenig anders. E r geht davon aus, daß in der metaphysischen Deduktion „the categories are . . . derived simply by adding to the forms of logic the idea of applying those forms in making true judgements about objects

of

awareness (intuition) in general, whatever the character of our modes of awareness of these objects may b e " (77). O b w o h l Strawson 5

6

7

einen

Einen genauen Überblick über die älteren Deutungen der metaphysischen Deduktion gibt K. Reich: Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Berlin 1948 2 , 13 ff. Kant's T h e o r y of Mental Activity. A Commentary on the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason. Cambridge 1963. The Bounds of Sense. An Essay on Kant's Critique of Pure Reason. London 1966.

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gewissen Sinn in dem Programm einer solchen Ableitung sieht, kommt auch er zu dem Ergebnis, daß „the excursion through the forms of logic has not advanced us a single step" (82), wenn man sich fragt, ob Kant auf diese Weise die Kategorien tatsächlich ableiten kann. Bei Strawson gehen in dieses Urteil wenigstens zwei Annahmen über die Funktion der metaphysischen Deduktion ein: Zum einen, daß Kant in der metaphysischen Deduktion die objektive Realität der Kategorien durch den Rekurs auf die Urteilsformen sichern will (vgl. auch 78), und zum anderen, daß Kant in der metaphysischen Deduktion dieses Ziel erreicht durch eine (vollständig unbegründete) These über die logische Form des Urteils. Da Strawson meint, daß Kant beides nicht nur nicht gelingt, sondern auf groteske Weise mißlingt, kommt er zu dem abschließenden Ergebnis: „The results of the appeal to formal logic are not merely meagre. Their meagreness is such as to render almost pointless any critical consideration of the details of Kant's derivation of the categories from the Table of Judgements" (82). U n d nicht besser geht es der metaphysischen Deduktion bei J. Bennett. 8 O b w o h l Bennett eine gewisse Unsicherheit bei der Bestimmung dessen zeigt, was denn in der metaphysischen Deduktion geleistet werden soll, kommt auch er zu dem Ergebnis, daß sie, unter welcher Interpretation auch immer, nicht das leistet, was sie soll. Bennett bietet wenigstens zwei Versionen dessen an, was die Aufgabe der metaphysischen Deduktion ist. Die erste Version ist die, daß in der metaphysischen Deduktion „Kant lays down certain conditions which he thinks must be satisfied if one is to use concepts" (71). Da Kant diese Bedingungen falsch bestimme, komme er zu irreführenden Unterscheidungen zwischen verschiedenen Begriffsarten, die ihn auf die Annahme eines irgendwie privilegierten Status seiner zwölf „primitive formal concepts", der Kategorien also, führe. Die zweite Version geht davon aus, daß Kant in der metaphysischen Deduktion versucht habe, „to infer the indispensability of his dozen judgment-features from their formality" (79). Was auch immer diese vieldeutige Formel meinen mag, für Bennett wenigstens scheint sie eindeutig genug zu sein, um die Bemerkung zu rechtfertigen: „It is not essential for the assessment of the Critique as a whole that we should decide just what concepts are indispensable or categorial, for Kant's favoured dozen serve throughout the rest of the Critique only 8

Kant's Analytic. Cambridge 1966.

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as a Procrustean bed on which he hacks and wrenches his philosophical insights into a grotesque ,system'" (88f.). Was zeigt nun die Betrachtung dieser Deutungen? Meiner Meinung nach hauptsächlich zweierlei: (1) Es scheint weitgehend Unklarheit darüber zu herrschen, was denn als das Deduktionsziel der metaphysischen Deduktion angesehen werden kann, und (2) scheint kein sehr ausgeprägtes Bewußtsein darüber zu bestehen, warum überhaupt eine solche ,metaphysisch' genannte Deduktion von Kant unternommen wird. Uber diese beiden Punkte sich zu verständigen, ist nun aus wenigstens drei Gründen keine ganz überflüssige Angelegenheit. Zum einen hängt von einer Verständigung über diese Punkte die Entscheidung darüber ab, ob man Kant unterstellen soll, daß seine Unterscheidung zwischen einer metaphysischen und einer transzendentalen Deduktion entweder nichtssagend oder wenigstens irreführend ist. Zum anderen wird man, ohne sich über diese Punkte hinreichend verständigt zu haben, kaum in der Lage sein, die Kantische Präferenz für die in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" gegebene Version der Deduktion der Kategorien gegenüber der ursprünglichen Fassung dieser Deduktion zu verstehen. Und schließlich hängen mit der Aufklärung dieser Punkte einige Annahmen darüber zusammen, was denn im Rahmen eines transzendentalen Ansatzes sachlich geleistet sein muß, ehe von einer vollständigen Deduktion der Kategorien gesprochen werden kann. Die Verständigung über die genannten beiden Punkte scheint mir daher nicht nur von historischem, sondern auch von sachlichem Interesse zu sein. Ich werde sie im folgenden in Angriff nehmen mit dem Ziel zu zeigen, (1) daß es ein klar zu bestimmendes Deduktionsziel der metaphysischen Deduktion gibt und (2) daß Kant ohne die metaphysische Deduktion nicht in der Lage gewesen wäre, die transzendentale Deduktion der Kategorien überhaupt als Programm zu vertreten. Zunächst muß allerdings geklärt werden, was überhaupt unter einer metaphysischen Deduktion zu verstehen ist. Dies ist deshalb nicht ganz einfach, weil Kant selbst sich zu dieser Frage in seinen von ihm veröffentlichten Werken explizit nie geäußert hat. Man hat daher nur die Möglichkeit, sich durch einen Umweg über die transzendentale Ästhetik darüber zu verständigen. Dies deshalb, weil, wie bereits anfangs angedeutet, die Unterscheidung zwischen einem metaphysischen und einem transzendentalen Gedankengang in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" nicht nur in dem Zusammenhang der Deduktion der

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Kategorien eingeführt worden ist, sondern weil sie von Kant explizit und einigermaßen ausführlich bei der Exposition der Anschauungsformen Raum und Zeit, also im Rahmen der sogenannten transzendentalen Ästhetik benutzt worden ist. Bei Gelegenheit der Exposition von Raum und Zeit gibt Kant wenigstens einige Hinweise darauf, was denn mit dem Unterschied zwischen ,metaphysisch' und transzendental' gemeint ist bzw. worauf diese Unterscheidung zielt. Diese Hinweise zu nutzen muß daher die erste Aufgabe sein.9 Kant beschreibt in § 2 der transzendentalen Ästhetik die dort in der Uberschrift angekündigte „metaphysische Erörterung" der Raumvorstellung wie folgt: „Ich verstehe aber unter Erörterung (expositio) die deutliche (wenngleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört; metaphysisch aber ist die Erörterung, wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff als a priori gegeben, darstellt" (B 38). Diese lapidare Formulierung ist selbst nicht eben einfach zu verstehen. Soviel scheint jedoch deutlich zu sein, daß Kant den Terminus metaphysisch' hier zur Kennzeichnung eines bestimmten Typs von Begriffsexpositionen benutzt, des Typs nämlich, der es mit apriorischen Begriffen oder allgemeiner: Vorstellungen zu tun hat und der genau das exponiert, was den Begriff als einen a priori gegebenen Begriff oder, was ich im folgenden als gleichbedeutend verwende, als einen Begriff a priori ausweist. Wenn dem so ist, dann gibt es metaphysische Expositionen nur von apriorischen Begriffen, wenn auch nicht jede Exposition eines apriorischen Begriffs eine metaphysische Exposition sein muß (sie kann z . B . auch eine transzendentale sein). Nun ist eine metaphysische Exposition eines Begriffs nicht dasselbe wie eine metaphysische Deduktion eines Begriffs. Dies schon aus dem trivialen Grund, daß eben eine Deduktion keine Exposition ist. Unter Deduktion versteht Kant, allgemein gesprochen: den Nachweis der möglichen objektiven Realität eines Begriffs (vgl. Β 116 ff.). Je nachdem ob es sich um die Deduktion eines empirischen oder eines apriorischen Begriffs handelt, geschieht die Deduktion eines Begriffs nach Kant durch mindestens zwei ganz verschiedene Verfahren (B117). Die Deduktion eines empirischen Begriffs ist enthalten im Nachweis der Art der Erwerbung dieses Begriffs, während die Deduktion eines apriorischen Begriffs 9

Ähnlich geht in einem etwas anderen Zusammenhang L. Krüger vor, der allerdings zu etwas anderen Ergebnissen kommt. L. Krüger: Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen? - In: Kant-Studien 59 (1968), 3 3 9 f .

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der Nachweis der Rechtmäßigkeit des Gebrauchs dieses Begriffs zum Zwecke der Erkenntnis von Gegenständen ist. Hier ist die Lage also etwas anders als bei der Exposition eines Begriffs: galt dort, daß apriorische Begriffe nicht nur metaphysisch, sondern ζ. B. auch transzendental exponiert werden können, so gilt hier, daß apriorische Begriffe nur transzendental, nicht aber empirisch deduziert werden können. Diese Kantischen Festsetzungen darüber, was in welcher Weise deduziert werden kann, scheinen nun gar keinen Platz mehr zu lassen für irgendeinen signifikanten Gebrauch des Terminus ,metaphysische Deduktion'. Denn wenn man, wie Kant, davon ausgeht, daß die Alternative in bezug auf die Deduktion eines Begriffes nur die zwischen einer transzendentalen und einer empirischen Deduktion ist, und weiter mit Kant festsetzt, daß, wenn überhaupt eine Deduktion eines apriorischen Begriffs gegeben wird, diese „jederzeit transzendental sein" (B118) müsse, so scheint der Terminus ,metaphysische Deduktion' kein sinnvoller Begriff zu sein. Und dies ist tatsächlich so, wenn man nicht bereit ist, eine gewisse Erweiterung des Deduktionsbegriffs vorzunehmen, eine Erweiterung, die es erlaubt, so etwas wie eine metaphysische Deduktion überhaupt erst als Programmpunkt unterzubringen. Die Frage ist aber: in welche Richtung muß der Deduktionsbegriff erweitert werden? Deutlich ist nur eines: bei der Beantwortung dieser Frage wird der Rekurs auf den Sinn von ,metaphysisch', wie ihn die metaphysische Exposition exemplifiziert, nichts nützen. Denn die Begriffe, um die es geht, wenn nach der Möglichkeit einer transzendentalen und einer metaphysischen Deduktion gefragt wird, sind schon als apriorische Begriffe vorausgesetzt. Es kann also gar nicht darum gehen, in diesem Zusammenhang den Nachweis der Apriorität eines Begriffs als Teil des Deduktionsprogramms zu betrachten, weil bei Begriffen wie Möglichkeit, Notwendigkeit, Substanz für Kant gar nicht der Verdacht auftreten kann, sie seien empirische Begriffe, ein Verdacht, der bei den Vorstellungen Raum und Zeit durchaus nahelag. Was man bei der Beantwortung dieser Frage jedoch im Auge behalten muß, ist, daß die Unterscheidung zwischen einer metaphysischen und einer transzendentalen Deduktion in Analogie zu der zwischen einer metaphysischen und transzendentalen Exposition von Kant eingeführt worden ist. Es ist daher den Versuch wert, sich das Verhältnis von metaphysischer und transzendentaler Exposition anzusehen in der Hoffnung, aus der Bestimmung dieses Verhältnisses Aufschlüsse darüber zu

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gewinnen, wie das analoge Verhältnis im Falle von bestimmt werden kann.

23 Deduktionen

Wir wissen bereits, was Kant sich ungefähr unter einer metaphysischen Exposition eines Begriffs vorgestellt hat. Was er unter der transzendentalen Exposition eines Begriffs verstand, zeigt folgendes Zitat: „Ich verstehe unter einer transzendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffes als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann." (B 40) Da uns hier nur das Verhältnis interessiert, in dem metaphysische und transzendentale Exposition zueinander stehen, müssen wir auch diese Beschreibung nur soweit zur Kenntnis nehmen, als sie etwas zur Bestimmung dieses Verhältnisses beiträgt. Folgt man der Kantischen Begriffserklärung, so hat eine transzendentale Exposition etwas mit der Möglichkeit von synthetischen Erkenntnissen a priori zu tun. Und zwar genauer mit dem Nachweis, daß nur „unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart" (a. a. O . ) einer Vorstellung einsichtig gemacht werden kann, daß in bezug auf diese Vorstellung eine solche Erkenntnis tatsächlich stattfindet. Im Klartext heißt das also, daß eine transzendentale Exposition einer Vorstellung nur dann in Angriff genommen werden kann, wenn - unabhängig von dem Rekurs auf irgendwelche synthetische Erkenntnis a priori, die durch sie erst ermöglicht werden soll - , in einer metaphysischen Exposition nachgewiesen worden ist, daß es sich bei der Vorstellung, die transzendental exponiert werden soll, um eine apriorische Vorstellung handelt. Für die Bestimmung des Verhältnisses von metaphysischer und transzendentaler Exposition bedeutet dies, wenn man sich jetzt einmal an eine hinreichend allgemeine Funktionsbeschreibung wagt, daß der metaphysische Aspekt der Exposition einer Vorstellung etwas mit der Sicherung des Status einer Vorstellung als einer apriorischen zu tun hat, während der transzendentale Aspekt einer solchen Exposition den Typ von möglichen Erkenntnissen darlegt, die eine solche Vorstellung bereitstellt, und daß für das Verhältnis beider gilt, daß die Möglichkeit der metaphysischen Exposition eine Bedingung für die Möglichkeit der transzendentalen Exposition ist. N u n liegt es auf der Hand, daß diese Bestimmung des Verhältnisses von metaphysischer und transzendentaler Exposition ebensowenig etwas unmittelbar für die Klärung dessen, was eine metaphysische Deduktion ist, einbringt wie die Betrachtung der spezifischen Funktion der metaphysischen Exposition allein etwas dafür eingebracht hat. Den-

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noch aber scheint das Verhältnis von metaphysischer und transzendentaler Exposition wenigstens einen Hinweis auf das zu geben, was denn im Zusammenhang der Deduktion apriorischer Begriffe die Funktion einer ,metaphysisch' zu nennenden Deduktion im Unterschied zu ihrer transzendentalen Deduktion sein könnte. Hält man sich nämlich an die gängigen Charakterisierungen, die Kant zur Kennzeichnung der transzendentalen Deduktion verwendet, so fällt auf, daß Kant in ihnen häufig so etwas wie die Art der Möglichkeit des Objektbezugs von apriorischen Begriffen thematisiert (vgl. Β 117, Β 126). Dies deshalb, weil eben der Objektbezug es ist, der über die Legitimität der Verwendung von Begriffen im Zusammenhang von Erkenntnis entscheidet. Man kann dies auch so formulieren, daß man sagt: eine transzendentale Deduktion hat zu zeigen, wie, wenn es einen Zusammenhang zwischen reinen (apriorischen) Begriffen und Gegenstandserkenntnis gibt, dieser Zusammenhang gedacht werden muß. Auch für die transzendentale Deduktion gilt daher, was für die transzendentale Exposition einer Vorstellung in aller Vagheit deutlich geworden ist: sie besteht in der Darlegung dessen, wie bestimmte (apriorische) Begriffe etwas zur Möglichkeit von Erfahrungserkenntnissen beitragen (vgl. Β 168 f.). Wenn also eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen einer transzendentalen Exposition und einer transzendentalen Deduktion in der Reflexion auf die Erkenntnisleistung von bestimmten Vorstellungen (bzw. Begriffen) gesehen werden kann, so liegt es nahe zu vermuten, daß eine ähnliche funktionale Entsprechung zwischen einer metaphysischen Exposition und einer metaphysischen Deduktion besteht. Worin kann diese Entsprechung bestehen? Man kommt zu ihrer Bestimmung vielleicht am besten durch die Frage, was denn im Rahmen der Deduktion eines Begriffs als geklärt vorausgesetzt werden muß, ehe man sinnvollerweise auf die Idee kommt, sich die transzendentale Deduktion eines Begriffs zum Programm zu machen. Zu der Meinung, daß diese Frage weiterhelfen kann, kommt man aufgrund dessen, was die Betrachtung des Verhältnisses von metaphysischer und transzendentaler Exposition einer Vorstellung ergeben hatte: Dort hatte sich ja gezeigt, daß für Kant die Klärung des apriorischen Status einer Vorstellung, also die metaphysische Exposition, Bedingung dafür war, daß eine transzendentale Exposition dieser Vorstellung überhaupt erst möglich ist. Was also muß geklärt werden, ehe eine transzendentale Deduktion in Angriff genommen werden kann? Diese Frage ist gleichbedeutend mit der, was man

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denn implizit in Anspruch nimmt, wenn man „die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können" (B 117) — dies die plakativste Version dessen, was eine transzendentale Deduktion nach Kant zu leisten hat - zum Programm macht. Und auf diese Frage ist die Antwort relativ offensichtlich die folgende: Will man erklären können, wie sich Begriffe auf Gegenstände beziehen, setzt man voraus, daß sie sich in irgendeiner Art auf Gegenstände beziehen können. 10 Diese Voraussetzung ist, wie Kant selbst betont (B 116 f.), im Zusammenhang mit empirischen Begriffen ziemlich unproblematisch, weil sich bei ihnen der Gegenstandsbezug - die Nichtleerheit des Begriffs bzw. die objektive Realität des Begriffs - durch Erfahrung sichern läßt. Im Zusammenhang mit apriorischen Begriffen liegt die Sache aber anders. Im Zusammenhang mit ihnen muß allererst einmal ein Grund für die bloße Vermutung aufgewiesen werden, daß sie irgendetwas mit irgendwelchen Gegenständen zu tun haben. Denn nichts liegt näher als anzunehmen, daß apriorische, d.h. nichtempirische Begriffe zu tun haben mögen, womit sie wollen, nur nicht mit Gegenständen. Wenn man also schon so etwas wie die Möglichkeit einer transzendentalen Deduktion von (apriorischen) Begriffen in Betracht zieht, so muß man zuvor erst einmal die Rechtmäßigkeit der Annahme erklären, daß solche Begriffe irgendeinen Bezug auf reale Gegenstände haben können. Es gibt daher tatsächlich etwas, dessen Rechtfertigung im Rahmen eines Deduktionsprogramms von apriorischen Begriffen eine Bedingung dafür ist, daß eine transzendentale Deduktion überhaupt erst gegeben werden kann. Und wenn man nun die Analogie zur Unterscheidung zwischen metaphysischer und transzendentaler Exposition und deren Verhältnis wieder aufnimmt, dann kann man mit einigem Recht der Meinung sein, daß für Kant die metaphysische Deduktion genau darin besteht, eine Annahme auszuweisen, die eine Bedingung der Möglichkeit einer transzendentalen Deduktion ist, nämlich die Annahme, daß es überhaupt möglich ist, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände überhaupt beziehen. Die 10

Kant selbst macht diese Unterscheidung im Zusammenhang der Bestimmung der Eigentümlichkeiten transzendentaler Erkenntnis: „ U n d hier mache ich eine Anmerkung, die ihren Einfluß auf alle nachfolgenden Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muß, nämlich: daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie (Hvh. von mir, R. P. H . ) gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse" (B 80).

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Sicherung dieser Möglichkeit führt Kant zu der Annahme von apriorischen Begriffen von Gegenständen der Erkenntnis, die wir rechtmäßig verwenden und dennoch a priori erworben haben. Diese etwas mühsam gewonnene Bestimmung dessen, was wohl unter einer metaphysischen Deduktion im Sinne Kants verstanden werden kann, scheint nun einen gravierenden und schwer zu behebenden Mangel zu haben. Sie scheint sehr schwer mit der einzigen Äußerung Kants in Verbindung zu bringen zu sein, in der er explizit die metaphysische Deduktion (und zugleich auch die transzendentale) erwähnt. Bei dieser Äußerung handelt es sich um den wohlbekannten ersten Satz des §26 der transzendentalen Deduktion, der lautet: „In der metaphysischen Deduktion wurde der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan, in der transzendentalen aber die Möglichkeit derselben als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung ü b e r h a u p t . . . dargestellt" (Β 159)." Ehe ich zu den Schwierigkeiten dieser Äußerung in bezug auf die von mir behauptete Funktion der metaphysischen Deduktion komme, möchte ich mir erlauben, erst einmal auf den Teil dieser Äußerung hinzuweisen, der wenigstens einen Aspekt meiner bisherigen Ausführungen sozusagen unproblematisch bestätigt. Dies ist der Aspekt, der die Funktion der transzendentalen Deduktion betrifft. Dieses Zitat, wie auch immer man es bewerten mag, bestätigt eines ganz deutlich: daß eine transzendentale Deduktion es mit der Möglichkeit von Erkenntnissen in dem Sinne zu tun hat, daß eben bestimmte Begriffe als hinreichende bzw. für uns notwendige Bedingungen derselben ausgewiesen werden. Dieser eine Flanke meiner Überlegung entlastende Hinweis entlastet aber natürlich nicht in der Hauptsache, nämlich in der von mir vorgenommenen Zuweisung der Funktion, die der metaphysischen Deduktion zukommt. Denn es scheint eines zu sein, den „Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens" darzutun, und etwas ganz anderes, die Möglichkeit der Beziehung von apriorischen Begriffen auf Gegenstände nachzuweisen. Wenn daher die bisher entwickelte und hauptsächlich aufgrund von Analogieüberlegungen zur 11

Eine Parallelstelle zu dieser Formulierung findet sich in den Prolegomena, § 4 3 ( A A IV, 329).

Die metaphysische Deduktion

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transzendentalen Ästhetik zustande gekommene Deutung dessen, was eine metaphysische Deduktion ist, sich als haltbar erweisen soll, dann muß man sehen, ob, und wenn, wie sie sich mit der zitierten Äußerung über das verträgt, was nach Kants Meinung in der metaphysischen Deduktion geleistet wird. Dies soll nun im folgenden geschehen. Hier ist zunächst eine Vorfrage zu klären, die den Kantischen Text betrifft. Kant hat es, aus welchen Gründen auch immer, bekanntlich versäumt, irgendeinen Teil seines gesamten vernunftkritischen Unternehmens als den Teil explizit zu kennzeichnen, der die metaphysische Deduktion enthält. Man ist daher auf Konjekturen angewiesen bei der Festlegung des Ortes, an dem Kant so etwas wie eine Darlegung der Möglichkeit des Zusammenhangs von apriorischen Begriffen und Gegenständen der Erkenntnis - so meine Formulierung - bzw. des Zusammentreffens der Kategorien mit den Urteilsformen - so, sehr verkürzt, Kants Formulierung - unternimmt. Und hier hat sich wohl zu Recht die Meinung durchgesetzt, daß als dieser Ort der § 10 der ,Kritik der reinen Vernunft' anzusehen ist, der die Uberschrift trägt: „Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien" (B 102 ff.). Denn dieser Paragraph enthält das mittlerweile berüchtigte Diktum: „Auf solche Weise entspringen gerade so viele reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel logische Funktionen in allen möglichen Urteilen gab" (B 105). Und dieses Diktum wird wohl so verstanden werden müssen, daß wenigstens Kant selbst der Meinung gewesen ist, er hätte in den diesem Diktum vorangehenden Passagen des § 1 0 irgendetwas gezeigt, was dieses Diktum selbst rechtfertigt. Die Frage also ist jetzt: was hat er gezeigt? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, orientiere ich mich nicht an dem Wunsch, eine möglichst vollständige Interpretation des § 1 0 zu geben. Ich orientiere mich vielmehr (1) daran, ob Kant mit den Mitteln, die in diesem Paragraphen angelegt sind, tatsächlich ein Argument entwickeln kann, das die Möglichkeit des Bezugs von apriorischen Begriffen auf Gegenstände darlegt, und (2) daran, wie ein solches Argument, wenn es eins gibt, mit der von Kant im § 26 gewählten Formulierung des Deduktionsziels der metaphysischen Deduktion in Übereinstimmung gebracht werden kann. Was den ersten Punkt betrifft, so besteht Kants in § 10 angedeutetes Argument darin zu zeigen, daß es wenigstens einige apriorische Begriffe

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geben muß, die sich auf Gegenstände beziehen, wenn es denn überhaupt so etwas wie Gegenstände für uns geben soll (vgl. Β 126). Das Argument ist ungefähr folgendes: Das Denken von Gegenständen ist, wie alles Denken, eine Handlung des Verstandes, ein Akt der Spontaneität. Diese Handlung ist genauer die Handlung des Verbindens, der Synthesis zur Einheit. Bedingungen des Denkens sind für Kant „die Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf" (B 123). Diese Bedingungen bestehen nun in denjenigen Begriffen, die in der Lage sind, dem jeweils via Anschauung gegebenen Mannigfaltigen Einheit in dem Sinne zu geben, daß dieses Mannigfaltige überhaupt als Objekt gedacht werden kann. Kant nennt diese Bedingungen Kategorien oder Begriffe von einem Gegenstand überhaupt. 12 Da sie Bedingungen des Denkens von Gegenständen sind, sind diese Kategorien apriorische Begriffe. Denn da sie so etwas wie den Begriff eines Gegenstandes allererst ermöglichen sollen, sind sie auch Bedingungen dafür, daß empirische Begriffe gebildet werden können, weil diese die Gegenstandsvorstellung schon voraussetzen. Die Begriffe aber, die Bedingung dafür sind, daß überhaupt empirische Begriffe gebildet werden können, können selbst keine empirischen Begriffe sein. Sie müssen also reine oder apriorische Begriffe sein. Schon bis hierher scheint das Argument genau das zu sichern, was eine metaphysische Deduktion nach unseren Überlegungen wenigstens zeigen muß: daß es nämlich möglich ist, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen. Denn wenn ohne bestimmte apriorische Begriffe nicht einmal der Gedanke von einem Gegenstand möglich wäre, wenn also diese Begriffe notwendige Bedingungen für so etwas wie die Möglichkeit der Vorstellung von Gegenständlichkeit für uns sind, dann muß es wenigstens möglich sein, daß diese Begriffe sich auf Gegenstände beziehen. Hier allerdings heißt,Gegenstandsbezug des Begriffs' klarerweise etwas anderes als bei empirischen Begriffen. Hieß dort ,Gegenstandsbezug' so viel wie ,Nichtleerheit bzw. Realität des Begriffs', so heißt hier ,Gegenstandsbezug' so viel wie ,die Gegenstandsvorstellung allererst ermöglichender Begriff'. In diesem und nur in diesem Sinne können apriorische Begriffe Gegenstandsbezug haben. 12

S. die Definition der Kategorie in Β 128. Zur Analyse des Arguments vgl. M. Baum: Die transzendentale Deduktion in Kants Kritiken. Diss. Köln 1975, 18 ff., sowie M. Baum/ R. P. Horstmann: Metaphysikkritik und Erfahrungstheorie in Kants theoretischer Philosophie. - In: Philosophische Rundschau. 26 (1979), 76ff.

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Doch hat Kant tatsächlich bis hierher schon gezeigt, daß es möglich ist, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen? Eigentlich nicht. Bisher hat er nur gezeigt, was der Fall sein muß, wenn es möglich sein soll, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen. Daß das der Fall ist, was die Möglichkeit des Gegenstandsbezugs von apriorischen Begriffen sichert, dies versucht Kant durch die Angabe des Grundes der Möglichkeit dieses Bezugs anzuzeigen. Auch dies geschieht im Rahmen des § 10 und zwar mit den bei Kantliebhabern berühmten Sätzen aus Β104f.: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zustande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen...". Was Kant hier behauptet, ist, kurz gesagt, folgendes : Es gibt gewisse Leistungen des Verstandes, die in bezug auf gänzlich verschiedene Sachverhalte dieselbe Funktion haben, nämlich Einheit zu produzieren. Dies tut der Verstand einmal, indem er zum einen die logische Form des Urteils als das, was verschiedenen Begriffen in einem Urteil Einheit gibt, herstellt, und indem er zum anderen den transzendentalen Inhalt seiner Begriffe bereitstellt als das, was der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit gibt. Diese Einheiten - und darin liegt eine Verschärfung der Behauptung - werden nicht nur von ein und demselben Verstand, sondern auch durch dieselben Handlungen hergestellt. Also: Die Einheit der Begriffe im Urteil und die Einheit der Vorstellungen in einer Anschauung kommen durch genau dieselben Handlungen zustande, weil es (1) derselbe Verstand ist, der sowohl in bezug auf Begriffe als auch in bezug auf gegebenes Mannigfaltiges die Einheit herstellt, und (2) weil der Verstand nur über eine Art von Handlungen verfügt, nämlich die der Verknüpfung zur Einheit. Auf diese Weise hat also Kant nicht nur geklärt, was der Fall sein muß, wenn es möglich ist, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen, sondern er hat durch die Angabe des Grundes dieser Möglichkeit den Nachweis erbracht, daß dieser Bezug möglich ist. Von hier aus

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ist es nun kein weiter Weg mehr zum Verständnis der von gewählten

Formulierung

des

Deduktionsziels

der

Kant

metaphysischen

Deduktion, der Formulierung also, daß in der metaphysischen D e d u k tion die Darlegung des Ursprungs der Kategorien durch ihr Zusammentreffen mit den Urteilsformen geleistet worden sei. Die bisher als Kantisches Argument vorgetragene Überlegung ist nämlich in einem wesentlichen Punkt unvollständig: Sie zeigt zwar, daß und in welchem Sinne apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen können und sie zeigt auch, was der Grund der Möglichkeit dieser Beziehung ist, was sie aber bisher nicht zeigt, ist, welches denn die apriorischen Begriffe sind, die sich auf Gegenstände beziehen können, d . h . welche apriorischen Begriffe die Bedingungen erfüllen, unter denen allein ihr Gegenstandsbezug behauptet werden kann. Es ist nämlich offensichtlich, daß Kant nicht gezeigt hat, daß sich alle apriorischen Begriffe auf Gegenstände beziehen können. D e n n das Merkmal der Apriorität k o m m t ja allen nichtempirischen Begriffen zu, ganz gleich ob es sich um Kategorien, oder um die Ideen - G o t t , Welt, Seele - oder um bloß logisch mögliche Begriffe handelt, wie ζ. B. den eines geradlinigen Zweiecks (vgl. Β 377, Β 268, Β 348). 13 V o n diesen apriorischen Begriffen erfüllen aber nur ein Teil die Bedingung, unter der nach Kant die Möglichkeit dieses Gegenstandsbezugs

gesichert

werden kann. D . h. nicht alle apriorischen Begriffe sind solche, daß ohne sie schon der Gedanke von einem Gegenstand unmöglich wäre. W e n n man nun Kants Strategie bei dem Nachweis der Möglichkeit des Bezugs apriorischer Begriffe auf Gegenstände beachtet, dann bedarf ein solcher Nachweis der Angabe dessen, welches denn nun diese Begriffe sind, für die diese Möglichkeit gegeben ist. D e n n die Kantische Strategie besteht ja gerade darin, die Möglichkeit des Bezugs apriorischer Begriffe auf Gegenstände durch den Nachweis der Notwendigkeit einiger

apriori-

scher Begriffe für die Möglichkeit des Gedankens vom Gegenstand zu sichern. D i e Klärung der Frage, welches diese Begriffe sind, gelingt, wie 13

Bei mathematischen Begriffen, d. h. bei solchen, deren objektive Realität durch den Rekurs auf die reine Anschauung gesichert werden kann, schwankt Kant ein wenig, was die Frage ihrer Apriorität betrifft. Scheint er sie in Β 377 nicht als apriorische Begriffe im Sinne von Notionen zu akzeptieren, so hat er sie im Rahmen einiger seiner Logikvorlesungen als solche angegeben. Zum Begriff des geradlinigen Zweiecks und dessen unterschiedlicher Behandlung durch Kant vgl. G. Martin: Das geradlinige Zweieck, ein offener Widerspruch in der Kritik der reinen Vernunft. - In: Tradition und Kritik. Festschrift für R . Zocher. Hrsg. v. W . Arnold und H . Zeltner. Stuttgart 1967, 2 2 9 ff.

Die metaphysische Deduktion

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Kant sagen würde, nach Wunsch, wenn man das, was nach Kant unter der Möglichkeit des Gegenstandsbezugs apriorischer Begriffe allein verstanden werden kann, zusammenbringt mit dem, was nach Kant den Grund dieser Möglichkeit ausmacht. Denn dann ist deutlich zu sehen, daß nur diejenigen apriorischen Begriffe eine die Gegenstandsvorstellung ermöglichende Funktion haben können, die mit den Verknüpfungsformen im Urteil zusammentreffen: wenn nämlich der Grund der Möglichkeit der Beziehung bestimmter apriorischer Begriffe auf Gegenstände in der Identität der Handlungen des Verstandes im Herstellen von Urteilen und einheitlichen Anschauungen besteht, dann können nur diejenigen Begriffe dem gegebenen Mannigfaltigen Einheit geben, also die Gegenstandsvorstellung ermöglichen, die den Formen der Verknüpfung von Begriffen im Urteil entsprechen. Kants Formulierung des Ziels der metaphysischen Deduktion in § 26 der transzendentalen Deduktion erweist sich auf diese Weise als eine sehr genaue Antwort auf das von ihm selbst nur ungenau formulierte Programm der metaphysischen Deduktion. Die metaphysische Deduktion kann also, wenn man der hier vorgeschlagenen Interpretation folgt, als eine Analyse der Bedingungen angesehen werden, die erfüllt sein müssen, wenn man behaupten will, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen können. Sie erfolgt in drei Schritten. Der erste Schritt besteht in einer Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen es möglich ist, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen und impliziert eine Festlegung dessen, was ,Kategorie' bzw. ,reiner Verstandesbegriff' bedeutet. Der zweite Schritt besteht in dem Nachweis, daß es die einheitsbildende Funktion des Verstandes ist, auf die die Möglichkeit des Gegenstandsbezugs apriorischer Begriffe zurückgeführt werden kann. Der dritte Schritt schließlich zeigt auf, welche Begriffe es sind, die zum einen die Bedingungen erfüllen, die durch das Ergebnis des ersten Schritts erfordert sind, und die zum andern als Entsprechungen zu Einheitsfunktionen des Verstandes im Urteil betrachtet werden können. Von diesen Begriffen nun gilt, daß es möglich sein muß, daß sie sich auf Gegenstände beziehen, weil es sonst unmöglich wäre, den Begriff eines Gegenstandes zu haben. Und erst aufgrund dieser ,metaphysisch' genannten Überlegung hat so etwas wie eine transzendentale' Deduktion von bestimmten Begriffen überhaupt erst Sinn, wenn man unter einer transzendentalen Deduktion eine Untersuchung versteht, die klären soll, wie es möglich ist, daß

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bestimmte apriorische Begriffe, die Kategorien nämlich, sich auf Gegenstände beziehen. Hier ist der Ort, sich wenigstens andeutungsweise mit einem möglichen Einwand auseinanderzusetzen, der an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen anknüpft. Dieser Einwand könnte wie folgt formuliert werden: Haben Wolff, Strawson und Bennett mit ihren Deutungen der Deduktion die metaphysische zugunsten der transzendentalen zu Unrecht abgewertet, so wertet die hier vorgestellte Deutung der metaphysischen Deduktion diese auf Kosten der transzendentalen zu Unrecht auf. Dieser Einwand wäre sicher dann berechtigt, wenn die hier vorgenommene Zuweisung der Funktionen der metaphysischen Deduktion einerseits und der transzendentalen Deduktion andererseits die Folge hätte, daß letztere nur noch als Korollar der ersteren verstanden werden könnte. Doch dies ist gerade bei der hier versuchten Deutung nicht der Fall. Der Nachweis also, daß es möglich ist, daß apriorische Begriffe sich auf Gegenstände beziehen, enthält ja nicht einmal einen Hinweis auf die Art dieser Beziehung, d. h. darauf, wie die Beziehung zu denken ist. Hätte man nur das Ergebnis der metaphysischen Deduktion, dann wäre genau das nicht ausgeschlossen, was Kant in § 13 der „Kritik" so beschreibt: Daß Gegenstände der sinnlichen Anschauung „den Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf, gemäß sein müssen, davon ist die Schlußfolge nicht so leicht einzusehen. Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände" (B 122). Dies auszuschließen durch eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis ist aber die explizite Aufgabe der transzendentalen Deduktion (vgl. Β 169). Insofern scheint mir die hier dargelegte Rollenzuweisung an die beiden Aspekte der Deduktion der Kategorien gerade keinen Anlaß zu dem Verdacht zu geben, eine auf Kosten der anderen über- oder unterzubewerten, sondern allererst die systematische Notwendigkeit einer transzendentalen Deduktion zu erklären. Damit hoffe ich gezeigt zu haben, was ich anfangs versprach, nämlich was das Ziel der metaphysischen Deduktion ist und die Bedeutung, die sie für die Möglichkeit der transzendentalen Deduktion hat. Was ich sicher nicht zureichend gezeigt habe, ist die sachliche Plausibilität und Haltbarkeit der Kantischen Argumentation. Dies würde sehr ins Detail gehende Untersuchungen zu einigen der schwierigsten Themen

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der Kantischen theoretischen Philosophie unumgänglich machen. Untersuchungen, die den hiesigen Rahmen weit sprengen würden. 14 Doch selbst wenn man Fragen der Plausibilität im unklaren läßt, ist eines, meiner Meinung nach, ganz klar: Im Rahmen des Kantischen Deduktionsprogramms der Kategorien ist die metaphysische Deduktion eine unerläßliche Voraussetzung für die Möglichkeit der transzendentalen Deduktion. Dies nicht zu sehen, ist sicher kein Unglück, wenn man, wie die eingangs betrachteten Interpreten, über andere Möglichkeiten der Deutung des Zusammenhanges von Begriffen und Gegenständen in Erkenntnissen verfügt. Nur sind diese Möglichkeiten eben keine, die von Kant berücksichtigt worden sind, und dies zum Teil sogar aus guten Gründen nicht. Für Kant allerdings ist die vollständige Fehleinschätzung seiner metaphysischen Deduktion durch die interpretierende Nachwelt auch nicht unbedingt als Unglück zu werten - bestätigt sich dadurch doch nur, was er selbst sehr deutlich gesehen hatte: die Dunkelheit seines Hauptwerks, ein Umstand, den wahrscheinlich auch dieser Beitrag als Entschuldigungsgrund für manches in ihm Gesagte in Anspruch nehmen muß. 15

14

15

Vor allem wären die Fragen zu klären, die mit der von Kant für fundamental gehaltenen Beziehung zwischen Urteilsfunktion und Objektbegriff zusammenhängen. Vgl. dazu den meiner Meinung nach am weitesten entwickelten Erklärungsansatz von D. Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung zu Kants transzendentaler Deduktion. Heidelberg 1976, 16 ff. Des weiteren stünde eine Diskussion der Probleme an, die mit der Herkunft und der Vollständigkeit der Urteilstafel zu tun haben. Vgl. dazu die schon zitierten Arbeiten von K. Reich und L. Krüger. Zu klären wäre auch, in welchem Sinne die Kategorien den Urteilsformen entsprechen, wie also genau die Beziehung zwischen Kategorien und Urteilsformen aufgefaßt werden muß. Hinweise dazu finden sich bei D . P . Dryer: Kant's Solution for Verification in Metaphysics. London 1966, 108 ff. Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes lag einem Vortrag zu Grunde, den ich an der Boston University im Rahmen der dortigen Veranstaltung zum zweihundertjährigen Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft" unter dem Titel ,The Metaphysical Deduction in Kant's Critique of Pure Reason' gehalten habe. Er wurde unter dem angegebenen Titel im Kant-Sonderheft des Philosophical Forum 13, 1981, 32-47, veröffentlicht. Die hier vorgelegte Fassung unterscheidet sich sachlich von der in Boston vorgetragenen vor allem dadurch, daß in ihr vermieden wird, mit der Vorstellung zu arbeiten, es werde in der metaphysischen Deduktion irgendetwas bewiesen. Für Diskussionen über die bzw. Hinweise zu den verschiedenen Fassungen dieses Aufsatzes bin ich besonders Manfred Baum und Wolfgang Carl, aber auch Martin Schwab, Gisela Striker und Bernhard Thöle zu Denk verpflichtet. Dem Herausgeber des hier vorliegenden Bandes danke ich für seine freundliche Bereitschaft, den Beitrag in diesen Band aufzunehmen.

Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe - eine Diskussion mit Dieter Henrich

Vorbemerkung „The Proof-Structure of Kant's Transcendental Deduction" war der Titel eines Vortrage, den Dieter Henrich 1968 an der Yale-University gehalten und 1969 in The Review of Metaphysics XXII 4, p. 640-659 veröffentlicht hat. Die deutsche Fassung ist unter dem Titel „Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion" in dem von Gerold Prauss herausgegebenen Band - „Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln", Köln 1973, S. 90-104 - erschienen. Henrichs Interpretation ist insbesondere von Hans Wagner - „Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien", Kant-Studien 71, 1980, S. 352-366 - kritisiert worden. Ursprünglich war geplant, die beiden Kontrahenten Übereinstimmungen und bleibende Differenzen in gemeinsamer Diskussion feststellen zu lassen. In dieser Absicht hat Hans Wagner für die Marburger Arbeitstagung ein Positionspapier verfaßt, das jedoch nicht vorgetragen werden konnte, weil Wagner kurzfristig absagen mußte. Henrichs ursprüngliche Position und die wesentlichen Punkte der Wagnerschen Kritik wurden deshalb zwecks Einführung in die Diskussion kurz resümiert. Teilnehmer der Diskussion waren Dieter Henrich selbst sowie Gerd Buchdahl, Konrad Cramer, Franz Hespe, Katharina Kanthack, Marie Rischmüller, Helmut Schäfer, Bernhard Thöle, Burkhard Tuschling, Rainer Wolff; die Diskussionsleitung hatte Reinhard Brandt. Nachstehend wird zunächst das Wagnersche Diskussionspapier, dann die Diskussion wiedergegeben, deren Text stilistisch überarbeitet worden ist, im wesentlichen aber mit dem vorgetragenen Wortlaut übereinstimmt. Schließlich ist noch auf folgende Texte hinzuweisen, die jedoch in die Diskussion nicht einbezogen worden sind:

Eine Meinungsdifferenz

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Raymond Brouillet, Dieter Henrich et „The Proof-Structure of Kant's Transcendental Deduction". Réflexions critiques, in: Dialogue X I V 4, 1975, p. 639-648 Bernhard Thöle, Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion in der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", in: Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 4 . - 8 . April 1981, Teil I 1: Sektionen I - V I I , hrsg. v. G . Funke, Bonn 1981, S. 3 0 2 - 3 1 2 Viktor Novotny, Die Struktur der Deduktion bei Kant, in: Kant-Studien 72, 1981, S. 2 7 0 - 2 7 9 Wetlaufer, O n the Transcendental Deduction: Some Problems of Interpretation and Elements of a N e w Reading, in: Graduate Faculty Philosophy Journal, 5, 1, 1975 S. 113 ff. Paul Guy er, Kant on Apperception and a priori Synthesis, in: American Philosophycal Quarterly 17, 1980 S. 205 ff.

John

Ein weiteres Papier von Dieter Henrich - „Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion" - , das im Vorbereitungsseminar zur Arbeitstagung diskutiert worden war, konnte auf der Tagung selbst nicht behandelt werden. Henrich wird es an anderer Stelle publizieren.

Eine Meinungsdifferenz bezüglich Kants transzendentaler Kategorien-Deduktion (Hans Wagner, Bonn) Wenn Sie mir gleich zu Anfang eine freche Bemerkung erlauben, so würde ich gerne mit der Behauptung beginnen: Manchmal habe ich fast den Eindruck, daß deutsche philosophische Autoren, wenn sie sich über Kant äußern, eher dem nachreden, was vielleicht ein College-Professor sagen wir etwa aus Montana oder Arkansas - behaupten wollte, als daß sie, des Deutschen immer noch kundig, gewillt wären, Kants OriginalTexte aufmerksam, geduldig und umsichtig genug zu studieren. Ich wäre nicht so übertrieben frech und bissig, wenn ich nicht ganz ernstlich die Gefahr vor mir sähe, daß sich in unserem Lande am Ende ein schrecklich verzerrtes und beleidigend primitives Bild von Kants Philosophie durchsetzen könnte. Ich fürchte, die Leute, die noch wirklich Kant studieren, müssen sich anstrengen und sich zusammentun, um dieser Gefahr wirksam zu wehren. Ich finde es schön, daß sich einige dieser Leute

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Hans Wagner

dank der Aktivität insbesondere von Herrn Tuschling hier zusammenfinden können, in Marburg, diesem weltbekannten Hort der Kantforschung, in diesem Seminar, in dem der jüngst verstorbene Julius Ebbinghaus, der in diesen Tagen seinen 75. Geburtstag feiernde Klaus Reich und unser unglücklicher Freund Lüder Gäbe für ein genaues und zuverlässiges Kantverständnis eingetreten sind. Uber eine Menge von Lehrpunkten Kants, auch über entscheidende, wird immer noch - oder gerade heute wieder - ganz Unhaltbares behauptet. Bezüglich der theoretischen Philosophie Kants ist es z. B. der transzendentalphilosophische Grundgedanke Kants als solcher selbst. Wenn schon die durch Husserl - unschuldigerweise - veranlaßte Mehrdeutigkeit der Rede von Tanszendentalem (in welcher sich weder der kantische noch der husserlsche Gedanke in seiner spezifischen Bestimmtheit erhalten kann), - wenn schon diese inzwischen eingebürgerte Mehrdeutigkeit bislang noch immer nicht hat wieder ausgeräumt werden können, so hat sich in letzter Zeit, vorab wohl auf den britischen Inseln, ein Kantverständnis herausgebildet, welches einerseits gerade auch mit dem Begriff des Transzendentalen arbeitet, diesen Begriff andererseits aber so abwandelt, daß er Kant eher ins Unrecht setzt als wahrhaft erläutert. Es ist nun im Rahmen eben solcher Beobachtungen, daß ich immer wieder einmal versucht habe, für meine Person den kantischen Begriff des Transzendentalen so bestimmt wie möglich zu erfassen - und natürlich speziell auch Kants transzendentale Deduktion der Kategorien. Gleichzeitig meine ich, wir sollten und könnten uns bei allen verbleibenden Kontroversen in Detailfragen - über das Wesentliche gerade auch bezüglich dieser transzendentalen Deduktion miteinander einig werden und es dann auch im Gewirr heutiger Stimmen verteidigen. Es wird deshalb, denke ich, niemand erstaunen, wenn ich Herrn Henrichs 1973 in deutscher Fassung erschienene Untersuchung über „Die Bewußtseinsstruktur von Kants transzendentaler Deduktion" mit dem großen Interesse, das sie verdient, studiert habe. Auslösend für meinen Gedanken, zu dieser Untersuchung einmal öffentlich Stellung zu nehmen, war dann freilich erst ein Aufsatz von Raymond Brouillet im kanadischen ,Dialogue', 1975. Brouillet widersprach in zwei wichtigen Punkten Herrn Henrich; in dem einen Punkt schien er mir dabei recht zu haben, im anderen aber seinerseits in die Irre zu gehen. Brouillet's Aufsatz ist klug geschrieben und zeugt von genauen einschlägigen

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Studien. Was diese Kontroverse Henrich/Brouillet in meinen Augen belegte, war dies, daß selbst über diesen eminent wichtigen Abschnitt der Kr. d. r. V. auch unter guten und klugen Kantkennern doch noch keine im Wesentlichen übereinstimmende Deutung erreicht war. U n d dies war es, was nun einen Versuch meinerseits zu rechtfertigen schien, zur Klärung der tatsächlichen Verhältnisse mit meinem Aufsatz „Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien", 1980, einen vielleicht hilfreichen Beitrag zu liefern. U m Sie nun nicht länger als unvermeidbar zu langweilen, darf ich mir mit der Annahme helfen, daß Ihnen die Untersuchung von Herrn Henrich und mein Aufsatz im großen und ganzen bekannt sind. Lassen Sie mich vorneweg betonen, daß ich von allen wichtigen Punkten nur bezüglich eines einzigen von Herrn Henrich zu differieren glaube. In dem, was man den ersten Beweisschritt nennen kann (§§20 und 21), stimmen wir, meine ich, so gut wie ganz überein. Etwa in dem folgenden Sinn: Damit sinnliche Anschauung - diese conditio sine qua non echter Erkenntnis - ihren Erkenntnisbeitrag positiv leisten kann, braucht sie prinzipielle Einheit, Synthesis, Verbundenheit des in ihr enthaltenen Sinnesmannigfaltigen, Verbundenheit eben zur Einheit einer jeweils bestimmten, konkreten Anschauung; und solche Einheit verdankt jede sinnliche Anschauung den Kategorien: ohne die Funktion der Kategorien gäbe es keinerlei sinnliche Anschauung von irgendeinem Gegenstand. Ich meine, in diesem Punkte stimmen H e r r Henrich und ich überein; auch darin, daß dies das Resultat des sogenannten ersten Beweisschritts darstellt und in den §§20 und 21 erreicht wird und daß es sich nicht um eine erste Deduktion handelt, auf welche später eine zweite folgen würde, sondern eben um einen ersten Schritt in der einen transzendentalen Kategorien-Deduktion. Das besagt aber schließlich, daß nach unserer gemeinsamen Meinung im weiteren Text etwas Zusätzliches und Neues erreicht werden muß, das eben dann die Kategorien-Deduktion erst und wirklich zum Abschluß bringt. Was dieses Zusätzliche und Neue tatsächlich ist, darüber stimmen H e r r Henrich und ich (übrigens auch M. Brouillet und ich) nun in der Tat nicht überein. - H e r r Henrich sieht bereits in §20 eine Andeutung dieses noch notwendigen Zusätzlichen und Neuen (im „so fern" des Satzes III 115, 11-14); ihm scheint demzufolge das Beweis résultat von §§20 und 21 allein für jenen Teil sinnlicher Anschauungen gelten zu

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sollen, die, wie er sagt, „bereits Einheit enthalten". Das bedeutet: E r h ä l t es für möglich, daß Kant (trotz §§20 und 21) auch sinnliche Anschauungen erwägt, die gleichwohl ihren Charakter als solche sinnliche Anschauungen nicht der durch die Kategorien bewirkten Einheit verdanken würden. Nach dem gesamten Text „Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (ab §13; III 99 ff.) würde ich es nun für meine Person für äußerst unwahrscheinlich halten müssen, daß Kant in §20 eine solche Art sinnlicher Anschauungen, die dennoch keine den Kategorien verdankte Einheit besitzen sollten, erwägen könne. Aber vielleicht würde ich es dennoch nicht wagen, das völlig auszuschließen, wenn sich aus Herrn Henrichs Deutung nicht notwendig eine Folgerung ergäbe, die mir im Hinblick auf Kants anderweitige Äußerungen gänzlich unannehmbar erscheint. Nach dieser Folgerung nämlich müßte Kant es für denkbar halten, daß sinnliche Anschauungen ihre notwendige Einheit nicht ausschließlich der kategorialen Synthesis verdanken müßten, diese Einheit vielmehr auf eine andersartige Einheit zurückgehen könne, nämlich auf die, welche in unseren reinen sinnlichen Anschauungen von Raum und Zeit enthalten sei und darum zugleich allem eigne, was unseren Sinnen nur vorkommen könne - und daß dies der Grund dafür sei, daß schließlich doch „alles gegebene Mannigfaltige ausnahmslos den Kategorien unterworfen ist" (vgl. S. 94). Ich meine, da liegt wirklich ein ΰστερον-πρότερον vor: Es könnte ja danach der letzte und ausschlaggebende Grund für den Einheitscharakter unserer sinnlichen Anschauungen statt des reinen Verstandes und seiner Begriffe vielmehr die reine Sinnlichkeit sein. Ich kann mir nicht denken, daß Kant das jemals gemeint haben könnte. Ich glaube überdies, daß es sogar einige Formulierungen im Text gibt, die genau das Gegenteil besagen. Hier eine solche Äußerung, und zwar an systematisch wichtiger Stelle: „(Allein) die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung [sie!] zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Akt der Spontaneität [!] der Vorstellungskraft, . . . " (III 107, 11-15). Das besagt natürlich, daß ich für meine Person jenes Zusätzliche, Neue und die transzendentale Kategoriendeduktion Abschließende in etwas anderem sehe. Nach meiner Auffassung war das Resultat des sogenannten ersten Beweisschrittes dies: W o immer es eine sinnliche Anschauung mit der ihr notwendig eigenen Einheit geben mag, da ist

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diese Einheit, und damit die sinnliche Anschauung abschließend selber, den Kategorien verdankt. Das Resultat des sogenannten zweiten Beweisschrittes besagt demgegenüber: Es kann uns gar keine sinnliche Anschauung oder „Wahrnehmung" vorkommen, die nicht schon notwendig unter den Kategorien stünde. Das Neue, Zusätzliche und Abschließende ist also die schlechthinnige Universalität der Kategorienfunktion: nicht etwa erst unsere Möglichkeit der Theorienbildung, sondern schon die Möglichkeit ihrer bloßen Basis, schon die Möglichkeit auch nur bloßer „Wahrnehmung", beruht auf dieser universalen Kategorienfunktion. Man kann so gegenüberstellen: 1) Keine Einheit in irgendeiner sinnlichen Anschauung anders als dank den Kategorien; 2) nicht einmal irgendeine sinnliche Anschauung („Wahrnehmung") als solche anders als dank den Kategorien. - (Das logische Verhältnis zwischen den zwei Sätzen macht ältere Meinungsverschiedenheit bezüglich der Gesamtstruktur dieser Deduktion begreiflich.) Und wenn ich gleichwohl noch Zweifel hätte, ob ich den kantischen Text wirklich richtig verstehen würde, so höben sie sich für meine Person schließlich infolge der merkwürdigen Tatsache hinweg, daß Kant (§26; III 124, 19-26) diese Universalität der Kategorienfunktion für alles, was nur immer unseren Sinnen vorkommen mag, unmittelbar mit dem anderen Gedanken verbindet, daß wir - eben infolgedessen - der Natur gleichsam das Gesetz vorschreiben und sie sogar „möglich" machen. - Man sieht, daß die transzendentale Kategorien-Deduktion nun tatsächlich abgeschlossen ist: es gibt schlechterdings nichts in der Erfahrung und für die Erfahrung, das nicht notwendig unter den Kategorien stünde. -

Dies also wäre mein Versuch, ein bißchen darzustellen, worin Herr Henrich und ich einerseits einiggehen, andererseits voneinander abweichen und daß es m . E . eben nur ein einziger wichtiger Punkt ist, hinsichtlich dessen wir differieren. - Ich weiß nicht, bis zu welchem Grad Sie es interessant genug finden, über unsere Übereinstimmung und unsere Differenz zu diskutieren. Wenn die Diskussion darüber Sie bald langweilen sollte, hätte ich einen Vorschlag: die Diskussion auf das auszudehnen, was Kant die metaphysische Kategoriendeduktion nennt (III 124, 14). Man kann nämlich eine Frage erwägen, die geradezu den Nerv des kantischen Deduktionsgedanken und damit seiner gesamten

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Transzendentalen Analytik berührt. Ich meine folgendes: Gleichgültig ob man die Sache mehr so sieht wie Herr Henrich oder mehr so wie ich oder auch so wie unsere Vorgänger, es erhebt sich die Frage, was und wieviel mit der von uns so verstandenen transzendentalen Kategoriendeduktion wirklich erreicht ist. Wie es scheint, erbringt sie dieses - aber auch nur dieses: Keinerlei Erfahrung ohne Kategorienfunktion, ja ohne diese Kategorienfunktion nicht einmal eine Basis für Erfahrung (nicht einmal bloße „Wahrnehmung") und ohne sie keine Natur für uns. Wie es also scheint, erbringt sie nur den Beweis uneingeschränkter Universalität der Kategorienfunktion. Aber der Beweis bloß solcher Universalität reicht doch offensichtlich erkenntniskritisch nicht aus; denn nicht weniger wollen wir doch auch Gewißheit darüber erhalten, wieviel diese Kategorien nun ihrerseits auch wert sind, wie es mit ihrer Erkenntnisgültigkeit steht. Man muß sich klarmachen, daß die transzendentale Deduktion keineswegs darüber Auskunft gibt. Wohlgemerkt übrigens, es geht bei dieser Frage nicht um die wohlbekannte Gültigkeitsbeschränkung auf den Inbegriff der Erscheinungen. Worum es hier wirklich geht, das ist vielmehr die Frage nach der Gültigkeit gerade innerhalb der Erscheinungswelt, innerhalb der Erfahrung selber. Universal sein könnte auch ein Ungültiges und dann hätte alle Erfahrung schließlich doch keine objektive Gültigkeit. Es bleibt also nach der transzendentalen Deduktion noch eine entscheidende Frage. Unmöglich kann sie Kant übersehen haben, unbearbeitet gelassen haben. Er hätte sonst gar nicht glauben können, das Hume'sche Problem tatsächlich gelöst zu haben. Bloße Universalität der Kategorien hätte ja Hume selber durchaus zugeben können, falls er es nicht ohnehin getan hat mit seinem Hinweis, daß die Vorstellungen von kategorialer Art wie auch deren dauernder Gebrauch unser aller custom und habit sind; nur für ihre Erkenntnisgültigkeit konnte Hume keinen Beweis sehen: Funktion für allgemein menschliches belief ja, Basis für wirkliches knowledge aber gerade nicht. Worauf also will ich hinaus? Auf dies: Gerade wenn wir Kants Hauptstück über die transzendentale Kategorien-Deduktion zutreffend verstehen, werden wir von dieser transzendentalen Deduktion über sie hinaus auf etwas anderes verwiesen. Dies kann nun nur die sogenannte metaphysische Deduktion sein. Gerade im Hinblick auf die Frage der Erkenntnisgültigkeit der Kategorien ist die metaphysische Deduktion im Ganzen des kantischen Kategorienkonzepts mindestens so wichtig wie

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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die transzendentale Deduktion. Sie erbringt den Nachweis der Erkenntnisgültigkeit der Kategorien, und zwar durch einen strikten Rückbezug dieser Kategorien auf die logischen Urteilstypen, durch den Nachweis einer schlechthin ausgezeichneten Relation zwischen diesen Urteilstypen und den Kategorien, die - wie Kant sagt - nicht weniger als der letzteren „völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens" darstellt (vgl. III 124, 14—16). Ich fürchte, das tatsächliche Gewicht, welches die metaphysische Deduktion im Ganzen des kantischen Konzepts besitzt, wird allzu oft unterschätzt, ihre philosophische Dignität zu wenig beachtet, ihre - teils freilich implizit bleibende Struktur zu wenig erforscht. Wie schon gesagt: Falls die Diskussion über die Meinungsverschiedenheiten zwischen H e r r n Henrich und mir bezüglich der transzendentalen Kategorien-Deduktion Sie bald langweilen sollte, könnten wir auch ein bißchen über die metaphysische Deduktion diskutieren. Marburg wäre ein guter O r t dafür, Herrn Reichs Geburtstags-Anniversarium gerade auch dafür ein guter Anlaß.

Diskussion Nach einer kurzen Rekapitulation der veröffentlichen Positionen Henrichs und Wagners eröffnet Dieter H E N R I C H die Diskussion mit folgenden Ausführungen: Ich sollte wohl zunächst etwas zu den Argumenten von Herrn Wagner sagen: Eines von ihnen kann ich akzeptieren, von einem zweiten meine ich, daß es auf einem Mißverständnis beruht. Was zu akzeptieren ist, ist dies, daß die Partikel „sofern", deren grammatische Rolle ich nicht einmal richtig beschreiben kann, nicht die Beweislast tragen kann f ü r die Bestimmung der N a t u r des ersten Schrittes dieser Deduktion. Es heißt im Text: „Also ist alles Mannigfaltige, sofern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer logischen Funktion zu urteilen b e s t i m m t , . . . " (B 143) Dieses „sofern" kann in der Tat eine Einschränkung hinsichtlich des Umfangs meinen. Es kann auch eine Einschränkung meinen hinsichtlich des Aspektes, dem gemäß diese Bestimmung behauptet werden kann.

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Und wenn man rein grammatisch und exegetisch, näher: Kantgrammatisch und -exegetisch argumentiert, so kann man sagen, daß Kant dieses „sofern" auch in dem zweiten Sinne regelmäßig verwendet. Man sieht das z . B . im §24. Ich bin nicht sicher, ob Herr Wagner die Stelle auch als Evidenz benutzt. Im § 24 wird das „sofern" in eben dem Sinne, in dem es nicht umfangsrestringierend ist, benutzt. (B 150 ff.) Nun beruht allerdings meine These von 1968, daß der erste Deduktionsschritt die allgemeine Möglichkeit des Kategoriengebrauchs in Beziehung auf jegliches Mannigfaltige, das dem Subjekt, das in Frage steht, gegeben ist, noch nicht in Anspruch nehmen kann, nicht auf dieser grammatischen Partikel allein, sondern - was die Textevidenz betrifft im Wesentlichen auf dem, was hinter dieser Partikel in dem Nebensatz folgt und wie Kant selber in dem §21, der eine Anmerkung zu diesem § 2 0 ist, durch eine Anmerkung zu der Anmerkung - also in der Anmerkung in §21 - die Beweislage charakterisiert. In dieser Anmerkung heißt es: „Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten E i n h e i t d e r A n s c h a u u n g , dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt, und schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit der Apperzeption enthält." (B 144) So also erläutert Kant selbst den Beweisgrund. Wenn Sie nun auf dieses „schon" achten und darüber nachdenken, was mit diesem „schon" gesetzt ist, so müssen Sie zu der Schlußfolgerung kommen, daß Kant sagt, daß der Beweisgrund, sofern er ein Geltungsbeweis ist, davon abhängig ist, daß dasjenige Gegebene, in Beziehung auf das der Beweisgrund geltend gemacht wird, eine Einheit enthält, die als bereits von der Apperzeption abgeleitet gedacht werden muß. Und nun per implicationem: diese Voraussetzung kann man nicht hinsichtlich von allem, was in der Sinnlichkeit gegeben ist, ohne jede weitere Begründung machen. Man muß also, wenn dies der Beweisgrund ist, der in §21 die Anwendbarkeit der Kategorien auf Gegebenes zu sichern erlaubt, nach einem weiteren Beweisgrund suchen, der die allgemeine Möglichkeit dieser Kategorienanwendung - oder anders gesagt: der die Gewißheit garantiert, daß alles gegebene Mannigfaltige auch in solcher Einheit gegeben wird oder gegeben werden kann. Dieser Beweisgrund ist nicht in § 2 0 beigebracht; und es ist nun die Frage: ist

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der Beweisgrund schon vorab geliefert, so daß Kant sich implizit auf diesen vorab gelieferten Beweisgrund stützen könnte, - und der einzige Ort, an dem diese Lieferung hätte stattfinden können, wäre der § 16, die allgemeine Apperzeptionsanalyse - oder wird der Beweisgrund allererst nach geliefert? Der Ort, an dem diese Nachlieferung begründet stattfinden könnte, wäre eben der §26, der in der Tat die in Paragraphen 20 gemachte Einschränkung explizit aufhebt. Das schließt nicht aus, daß man sagen kann, daß die Einschränkung in § 2 0 nur argumentstrategischer Natur ist, nicht eigentlich eine Theorielage markiert, die in dem Textbestand, der § 20 vorausgeht und der von ihm vorausgesetzt werden könnte, nicht zugleich auch schon überschritten wäre. Wie man das sehen will, ob man also meint, es gibt oder gäbe doch in oder aus § 16 ein Argument für die allgemeine Möglichkeit der Synthetisierung von gegebenem Mannigfaltigen, oder ob man sagen will, erst in § 26 wird dieses Argument geliefert - , das mag kontrovers sein. Ich habe in dem Aufsatz eine Position bezogen, die beide Aspekte berücksichtigt. Jedenfalls ist das Verhältnis zwischen dem, was der § 20 explizit sagt und aufgrund der von Kant in §21 auch eigens markierten Stellung des Beweisgrundes sagen kann, und dem, was der § 26 dann später sagt, von der Art der Aufhebung einer Geltungsbereichseinschränkung, die wohlgemerkt - nicht die Aufhebung einer wirklichen Eingeschränktheit des Geltungsbereichs, sondern lediglich die Aufhebung einer möglichen Einschränkung ist, aber auf dem Stand des Beweisganges von § 20 noch nicht aufgehoben werden kann. Mengentheoretisch gesagt: Es ist eine unechte Teilmenge des gegebenenen Mannigfaltigen, von dem Kant im § 2 0 spricht. Das heißt: es ist noch unklar, ob es wirklich eine Teilmenge ist oder nicht. Daß es aber nicht nur eine Teilmenge ist, versucht §26 zu zeigen. Soviel zu dieser wie mir scheint - textexegetischen Gesamtsituation. Sie sehen schon: es bleibt das Problem, was Kant in § 1 6 hinsichtlich der allgemeinen Möglichkeit der Synthesis gesagt haben will und gesagt haben könnte. Aber das können wir ja vielleicht noch besprechen. Was das zweite Argument von Herrn Wagner anlangt, so glaube ich: es beruht ganz auf einem Mißverständnis. Natürlich glaubt niemand und ich habe das auch sicher nicht gesagt und sagen können - daß die trz. Ästhetik im Aufbau dieser Argumentationsstruktur so in Anspruch genommen wird, daß der Sinnlichkeit eine Einheitsbildung zugeschrie-

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Dieter Henrich u. a.

ben wird, deren Ursprung nicht im Verstände liegt. Es wäre für die Kantische Position gewiß zerstörerisch, so etwas auch nur zu erwägen. Das ganze Pathos von Kants Analyse geht ja darauf, zu zeigen, daß wo immer Einheit im Bewußtsein ist, sie Verstandeseinheit ist. Und man kann nicht aus irgendeiner Einheit, die nur der Sinnlichkeit als solcher zukommt, irgendeine Konklusion hinsichtlich der Brauchbarkeit der Kategorien ziehen. Wenn also eine Einheit, die in den Vorstellungen von Raum und Zeit aufgefunden worden ist, in Anspruch genommen wird, so kann es immer nur eine Einheit sein, deren Ursprung im Verstände gelegen ist. Und so argumentiert ja auch Kant - klarerweise - in § 2 6 , wenn er die Unterscheidung zwischen „Form der Anschauung" und „formaler Anschauung" macht. Die formale Anschauung ist der Raum unter den Bedingungen seiner Thematisierbarkeit, die ebensowohl von seinem Ursprünge in seiner Form der Sinnlichkeit wie von seinem Ursprung qua Einheitsvorstellung aus der Synthesisleistung des Verstandes abhängig ist. Und wenn man sich also auf die transzendentale Ästhetik als auf ein Faktum bezieht, so nicht auf ein Faktum, das Raum und Zeit, insoweit sie Formen der Anschauung sind, zugesprochen werden könnte, sondern auf ein Faktum, das den in der trz. Ästhetik thematisierten Raum und Zeit insofern zugesprochen werden können, als sie thematisierbar sind, d. h. als sie schon Gegenstände des Verstandes und somit der möglichen Analyse sind. Anders und mehr detaillierend kantisch gesprochen: Ein Actus von der Art des Ziehens einer Linie liegt den Raum- und Zeitbegriffen schon zugrunde, welche die transzendentale Ästhetik als Ausgangspunkt ihrer Analyse voraussetzt, wenn sich ihre Analyse auch nicht auf diesen Aktus und auf das, was aus ihm folgt, richtet. Was Raum und Zeit als möglichen Beweisgrund für die Uneingeschränktheit der Möglichkeit der Synthesis gegenüber allen anderen Beweisgründen, die aufgebracht werden können, beizutragen imstande sind, ist die Kollektivität, die Raum und Zeit als Gegenstand aufweisen in Beziehung auf alles, was überhaupt möglicherweise Gegenstand werden kann. In dem Maße und in der Hinsicht, in der Raum und Zeit als solche Gegenstand sind, kann alles - nein! ist alles (muß ich jetzt sagen), was überhaupt möglicherweise Gegenstand werden könnte, wirklicher Gegenstand. Und es ist diese Ausbeutung der Kollektivität des Raumes und der Zeit in Beziehung auf mögliches Gegebenes, was im § 2 6 die Bezugnahme auf die trz. Ästhetik erlaubt; - aber natürlich nur, insoweit Raum und Zeit Gegenstände sind

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und d.h. der Verstandesaktivität unterliegen, nicht, insoweit ihnen irgendeine Einheit zukommt - und es kommt ihnen eine Form-Einheit zu - , die nicht auf die Synthesisleistung des Verstandes zurückgeführt werden kann. Nun bleibt natürlich die Frage: Was ist das für ein merkwürdiger Schritt, aus der einfachen Synthesisleistung, welche die konstruktive Erzeugung von Zeit und Raum als Inbegriffen von Gegenständen ist, eine Schlußfolgerung zu gewinnen hinsichtlich der Gegenständlichkeit der materiellen Welt und ihrer Einheit, und in welchem Umfang ist die raum-zeitliche Einheit dieser Welt mit dem Gedanken ihrer Bestimmtheit nach allen Kategorien notwendig verbunden? Dazu muß man dann weitere Betrachtungen über das Verhältnis von Raum und Zeit als Gegenstand zu allen weiteren möglichen Gegenständen aufbieten. Diese Betrachtungen bringt Kant selbst nicht bei. Aber so sehe ich - und so muß man natürlich auch sehen - die Inanspruchnahme von Raum und Zeit in der 2. Auflage zum Zwecke des Beweises der uneingeschränkten Zugänglichkeit des gegebenen Mannigfaltigen für Vergegenständlichung. In der ersten Auflage wird die Bezugnahme auf die Begriffe von Raum und Zeit, sofern sie als Gegenstände in Anspruch genommen werden, nicht mit diesem strategischen Ziel besetzt, sondern dort wird, wenn Raum und Zeit als Gegenstände aufgerufen werden, immer auch, insofern eben Synthesisleistung in ihre Gegenständlichkeit eingeht, dieser Aufruf nur dazu benutzt, die Möglichkeit einer Synthesis a priori zu sichern, nicht aber dazu, die Durchgängigkeit der Verfügbarkeit von gegebener Mannigfaltigkeit für Verstandessynthesis - und das heißt dann: für Kategorien - sicherzustellen. Insofern ist der strategische Wert der Aufrufung des Raumes als Gegenstand zwischen der ersten und zweiten Auflage verschoben. Aber gemeinsam, ist den beiden Aufrufungen, daß Raum und Zeit nur aufgerufen werden hinsichtlich derjenigen Einheit, die ihnen kraft der Synthesis des Verstandes zugeschrieben werden muß - nicht einer Einheit, die ihnen qua Form der Sinnlichkeit zukommt. Das sind nun zunächst die Kommentare, die ich zu den beiden Einwänden von Herrn Wagner zu machen habe. Ich kann wohl später noch etwas über die Problemlage im Allgemeinen sagen, so wie sie mir heute erscheint - also die Problemlage, wohlgemerkt, hinsichtlich der Argumentstruktur der Deduktion im Ganzen.

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Im Anschluß an diesen Beitrag formulierte Frau KANTHACK, v o m Standpunkt einer - wie sie selbst sagte - „realistischen Kant-Deutung" aus die These, in der Interpretation der „Kritik" würde eine das G a n z e infragestellende Lücke klaffen, falls es nicht gelänge zu erklären, wann man die Kategorien der Substanz, der Möglichkeit oder der Qualität anwenden müsse, um die Erscheinungswelt zu fassen. Frau KANTHACK forderte die Teilnehmer auf, die Lücke zu schließen. Dieter HENRICH entgegnete, er könne eine solche „monumentale L ü c k e " nicht entdecken. Man könne erstens nicht Anwendbarkeit der Kategorien je für sich genommen denken; Kants Meinung sei vielmehr, daß man alle Kategorien zugleich anwenden müsse. Zweitens sei das Problem der Anwendung der Kategorien, das, wie schon das Grundsatzkapitel zeigt, ein reales Problem ist, nicht einfach nur nach dem Modell der Beziehung zwischen möglicherweise leeren Allgemeinbegriffen und gegebenen Anwendungsfällen zu behandeln. D i e strukturierte G r u p p e der Kategorien bestimme den Objektsinn selbst und bestimme sich ihrerseits durch die Verfassung des Selbstbewußtseins in Beziehung auf mögliche Objekte, woraus sich für die Frage ihrer Anwendung eine andere Problemlage ergebe. Schließlich sei zu beachten, daß ein Wesen, das ein Selbstbewußtsein von dieser Art hat, zugleich auch eine Anschauung von der allgemeinen Art von Anschauungseinheit haben müsse, wie wir sie wirklich haben. K o n r a d CRAMER:

Ich möchte vorschlagen, daß wir versuchen, zunächst näher am Text der transzendentalen Deduktion in Β zu bleiben und an diesem die Evidenzen zu identifizieren, die Herrn Henrichs Rekonstruktion ihrer Beweisstruktur und Herrn Wagners Einspruch gegen sie zugrunde liegen. In dieser Absicht versuche ich einmal, ein Argument gegen Herrn Henrichs Auffassung des Verhältnisses der beiden Schritte in dem einen Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien zu piazieren, das sich in dieser F o r m bei Herrn Wagner zwar nicht findet, aber - wie ich meine aus seinen Ausführungen (in: „ D e r A r g u m e n t a t i o n s g a n g . . . " S.358) extrapoliert werden kann. D e r § 2 1 beginnt mit dem Satz: „Ein Mannigfaltiges, das in einer Anschauung, die ich die meinige nenne, enthalten ist, wird durch die Synthesis des Verstandes als zur notwendigen Einheit des Selbstbewußtseins gehörig vorgestellt, und dieses geschieht durch die Katego-

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rie." (Β 144) Es gehört nun gewiß zu dem Merkwürdigsten des an Merkwürdigkeiten reichen Textbestandes von B, daß ausgerechnet diese Feststellung, welche die erste Aussage innerhalb eines Paragraphen ist, den Kant selber im ganzen als eine „Anmerkung" zu dem Vorangehenden verstanden haben wissen wollte, und die, so betrachtet, offenbar zusammenfaßt, was inzwischen bewiesen ist, sowie den Punkt markiert, an dem die transzendentale Deduktion mit Abschluß des Syllogismus des §20 steht, noch einmal durch eine Anmerkung erläutert wird. Auf diesen Textbefund hat Herr Henrich in seinem ersten Diskussionsbeitrag schon hingewiesen. Diese Anmerkung zur Anmerkung lautet: „Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten Einheit der Anschauung, dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt, und schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit der Apperzeption enthält." (B 144 Anm.) Das liest sich so, als wäre Kant an dieser Stelle plötzlich aufgegangen, daß der propositionale Gehalt des Eingangssatzes von §21 aus dem zuvor Entwickelten noch nicht wirklich einzuleuchten vermag und dem Leser deshalb noch etwas Entscheidendes nachgereicht werden muß, nämlich eben der Beweisgrund für ihn. Wenn dies die Sachlage wäre, so hätte Kant an dieser Stelle bemerkt, daß die Konklusion des ersten Schritts der transzendentalen Deduktion, die mit Ende des §20 („Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien." (B 143)) erreicht ist und im Eingangssatz des § 21 noch einmal festgehalten wird, aus der allgemeinen Verbindungstheorie des § 16 und ihrer Komplettierung durch den Rekurs auf die Definition des Urteils und den Begriff der Kategorie in den §§19 und 20 noch gar nicht hervorgeht. Das ist eine Interpretationshypothese, die trotz der hermeneutischen Merkwürdigkeit des Textbestandes alles andere als plausibel ist. Denn tatsächlich sind alle Argumente für den Eingangssatz von § 21, wenn sie überhaupt zu identifizieren sind, vor dem letzten Satz des §20, d. h. der gerade zitierten zweiten in §20 gezogenen Konsequenz zu identifizieren. Daß dies auch Kants eigene Uberzeugung gewesen sein muß, scheint mir zweifelsfrei. Insofern m u ß der merkwürdige, weil anmerkungsweise vorgetragene erneute Hinweis auf den Beweisgrund eine Rekonstruktion von der Art, wie sie H e r r Henrich vorgeschlagen hat, auch nicht irritieren; seine textinterne Plazierung ist von ihm vielmehr gerade zur Bestätigung seiner leitenden Interpretationsthese herangezogen worden.

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Man könnte jedoch den Eingangssatz von § 2 1 auch so zu lesen versuchen, daß man den Nachdruck nicht, wie dies Herr Henrich getan hat, auf die Wendung „eine Anschauung" (im Sinne von „Einheit der Anschauung", die „jederzeit" eine Synthesis eines Mannigfaltigen gegebener Vorstellungen in sich schließt) im Unterschied zu einem noch nicht zur synthetischen Einheit einer Anschauung gebrachten Mannigfaltigen gegebener Vorstellungen legt, sondern, wie dies Herr Wagner (a. a. O . S. 358) getan hat, auf die Wendung „Anschauung, die ich die meinige nenne", d.h. auf die Meinigkeit von Anschauung überhaupt, mithin auf Anschauung unter der Bedingung, daß sie meine Vorstellung ist, legt. In dieser den Nachdruck ändernden Lesart (die zugegebenermaßen durch den Wortlaut der Anmerkung zu § 2 1 nicht sehr gut gestützt wird, wenngleich auch in ihr von der „vorgestellten Einheit der Anschauung" die Rede ist) würde der Eingangssatz von § 2 1 folgendes aussagen: Wenn ich eine in der Anschauung gegebene Vorstellung überhaupt als meine Vorstellung soll bestimmen können, dann steht die Möglichkeit dieser Selbstzuschreibung unter der Bedingung der notwendigen Einheit des Selbstbewußtseins, und zwar genau insofern, als eine solche Vorstellung, ohne unter dieser Bedingung zu stehen, gar nicht als meine qualifiziert werden könnte, und eben „dieses geschieht durch die Kategorie". Nun ist es gewiß unkontrovers, daß jede gegebene Vorstellung, die ein Element des Mannigfaltigen einer solchen Anschauung ist, die von mir als die Einheit eines Mannigfaltigen gegebener Vorstellungen aufgefaßt wird, nach der Verbindungstheorie des § 1 6 zur ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption gebracht sein muß. Wäre es anders, könnte eine solche gegebene Vorstellung nicht als Element eines Mannigfaltigen der Anschauung aufgefaßt werden, dessen (und damit deren) Einheit vorgestellt wird. Herrn Henrichs erste Rekonstruktionsthese war nun, daß der erste, mit Ende von § 2 0 bzw. mit Anfang von § 2 1 abgeschlossene Schritt in dem einen Beweisgang der transzendentalen Deduktion der Kategorien als einem „Daß"-Beweis nur zeigen kann, daß das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige unter Kategorien steht, sofern ein solches Mannigfaltiges zur Einheit „einer Anschauung" gebracht ist, aber noch nicht gezeigt hat, daß alles in der Anschauung gegebene Mannigfaltige zur Einheit „einer Anschauung", d. h. zur „Einheit der Anschauung" gebracht werden können muß. Aus der der Sache nach zwar - wie Herr Henrich in seiner ersten Diskussionsbemerkung

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präzisierte - unechten, aber ihrer Möglichkeit nach noch nicht ausgeschlossenen Umfangsrestriktion des ersten Schritts in dem einen Beweis ergibt sich dann als die Beweisaufgabe des § 2 6 die Entwicklung des Arguments für die Unmöglichkeit eben dieser Umfangsrestriktion; und dies Argument läuft über die Theorie der formalen Anschauung, d . h . Kants Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der gegenständlichen Thematisierung der Formen unserer Anschauung, Raum und Zeit, selbst. Gegen diese Interpretationsstrategie läßt sich nun mit der soeben vorgeschlagenen Lesart, die den Nachdruck auf die Wendung „Ein Mannigfaltiges, das in einer Anschauung, die ich die meinige nenne" legt, folgendermaßen argumentieren: Es läßt sich schon nach dem Ergebnis des ersten Schritts der Deduktion gar kein Fall denken, in dem eine gegebene Vorstellung ein Element des Mannigfaltigen der Anschauung ist, aber nicht zur Einheit „einer Anschauung" gebracht ist. Denn es gilt nicht nur, daß nichts als ein Element der Einheit einer Anschauung identifiziert werden kann, wenn es nicht als eine gegebene Vorstellung identifiziert werden kann, die ich meine Vorstellung nenne, sondern es gilt umgekehrt auch, daß ich keine in der Anschauung überhaupt gegebene Vorstellung als meine identifizieren kann, wenn ich sie nicht als ein Element der Einheit einer Anschauung identifizieren kann. Denn um irgendeine in der Anschauung überhaupt gegebene Vorstellung als meine identifizieren zu können, muß ich mir der Identität meiner selbst mit Bezug auf diese Vorstellung bewußt sein können. Dieser Identität meiner selbst kann ich mir aber nicht mit bezug auf numerisch eine gegebene Vorstellung, sondern nur mit bezug auf ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen bewußt sein. Impliziert nun das Bewußtsein der Identität meiner selbst das Bewußtsein der Identität meiner selbst mit bezug auf ein Mannigfaltiges von in der Anschauung gegebenen Vorstellungen, so impliziert dies Bewußtsein auch das Bewußtsein einer von mir hergestellten Verbindung dieses Mannigfaltigen und damit das Bewußtsein der Einheit dieses Mannigfaltigen. Diese Einheit kann aber als Einheit eines Mannigfaltigen von in der Anschauung gegebenen Vorstellungen nur eine auf Anschauung selber bezogene Einheit, mithin nur „vorgestellte Einheit der Anschauung" sein. Und daher impliziert jede Selbstzuschreibung einer in der Anschauung gegebenen Vorstellung die Vorstellung der Einheit einer Anschauung, in der jene Vorstellung ein zu dieser Einheit verbundenes Element unter anderen solchen Ele-

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menten ist. Da diese Verbindung durch die Kategorien geschieht, steht jede in der Anschauung gegebene Vorstellung, insofern sie vom Bewußtsein der Meinigkeit begleitet werden können soll, unter den Kategorien. Wenn dieses Argument akzeptiert werden kann, dann gilt schon mit §20, daß alles, was nur immer unseren Sinnen vorkommen mag, unter den Kategorien steht, sofern das, was unseren Sinnen vorkommen mag, mit dem Bewußtsein der Meinigkeit begleitet werden können soll. Diese Einschränkung scheint jedoch leer zu sein, denn dann gilt das Argument des §16: Gegebene Vorstellungen, die nicht mit dem Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zu mir begleitet werden können, wären entweder unmöglich oder wenigstens doch nichts, was für ein Ich irgendeine Bedeutung haben könnte. (Vgl. Β131 f.) Dann aber wäre das Programm, mit Argumenten, die über das Argumentationspotential der §§ 16-20 hinausgehen, nun noch nachweisen zu müssen, daß alles Mannigfaltige der uns in den Formen von Raum und Zeit gegebenen sinnlichen Anschauung unter den Kategorien steht, selber leer. Dies Argument konstruiert eine bestimmte Relation von Einheit der Anschauung und Meinigkeit der in der Anschauung überhaupt gegebenen Vorstellungen und behauptet: Alle in der Anschauung überhaupt gegebenen Vorstellungen sind nach Kants Argument für den ersten Schritt der transzendentalen Deduktion zur Einheit einer Anschauung gebrachte Vorstellungen, sofern sie als meine Vorstellungen sollen gelten können. Da ich von denjenigen Vorstellungen, von denen dies nicht gelten sollte, kein auf die Identität meiner selbst bezogenes Bewußtsein haben kann, brauchen sie eine Deduktion des allgemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der Kategorien auch nicht zu interessieren. Ich weiß nicht, ob diese Überlegungen in der vorgetragenen Form von Herrn Wagner akzeptiert würden. Meine Frage an Sie, Herr Henrich, ist, wie würden Sie auf diesen Zug in der Rekonstruktion des Ganges der kantischen Argumentation antworten? Eines ist ja ohnehin klar: wir wollen sicher nicht wieder die durch Ihre Untersuchungen obsolet gewordene These in die Diskussion einführen, §26 zeige, wie der Gebrauch der Kategorien unter den Bedingungen der spezifischen Bestimmtheit unserer Sinnlichkeit funktioniert. Der zweite Schritt der transzendentalen Deduktion soll ja ein Schritt im „daß", nicht im „wie" sein. Müßte ihr Gegenzug gegen den soeben vorgeschlagenen Zug nicht der sein, daß es entgegen dem Anschein, den dieser Zug erzeugt, eine bis

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inklusiv § 2 0 bzw. § 2 1 noch nicht gelöste Beweisaufgabe ist, daß jegliches Mannigfaltige, welches als eine Vorstellung bestimmt werden können soll, die ich mir zuschreibe, so bestimmt sein muß, wie es der § 16 fordert?

D i e t e r HENRICH:

Ihre Überlegungen betreffen einen Teilbereich des allgemeineren Problems, die Funktion des § 16 im ganzen Beweisaufbau der Deduktion durchsichtig zu machen. Man muß das Problem - im Anschluß an das, was Sie darlegen - sogar verschärft so ausdrücken: Der § 16 als solcher führt bereits zu einem Beweisresultat, das von solcher Art ist, daß es an keiner Stelle in der transzendentalen Deduktion, was den daß-Beweis der Geltung der Kategorien anbetrifft, in seiner Ausdehnung noch überboten werden kann. Denn der § 16 behauptet bereits die unrestringierte Zugänglichkeit von allem in der Sinnlichkeit Gegebenen für alle diejenigen (zunächst noch unspezifizierten) Bedingungen, von denen sich zeigen läßt, daß sie Bedingungen des möglichen Selbstbewußtseins sind. Bedingungen von Selbstbewußtsein sind eben die Bedingungen, unter denen irgend etwas insofern steht, als hinsichtlich seiner ein Bewußtsein gemäß der Grammatik des Possessivpronomens ,mein' möglich ist. In dem Aufsatz von 1968 habe ich schon dargelegt: Wenn es so ist, daß der § 1 6 den Beweis der unrestringierten Zugänglichkeit bereits de facto führt, dann bleibt für die Deduktion hinsichtlich des Daß-Beweises kein Rest einer Aufgabe. Es bleibt nur die Ausfüllung des Daß-Beweises von § 16 durch Aufklärungen unter Anleitung der Frage: ,Wie ist es möglich?', - und die Spezifizierung der Bedingungen für das mögliche Meinsein von Vorstellungen. Ich habe damals auch schon dargelegt, daß Kant dazu neigt zu meinen, daß alles, was ich möglicherweise ,mein' nennen kann, ein solches sein muß, das in Akten des Denkens mit dem ,Ich' der ersten Person als Subjekt muß thematisiert werden können, und daß diese Meinung aus der Beobachtung der Abhängigkeit der Bedeutung von ,mein' von der von ,ich' hervorgeht, - wobei ,ich* natürlich die synthetische Einheit der Apperzeption indiziert. In einer Einzelanalyse der Paragraphen 16 und 17 und mancher anderer Stellen kann man zeigen, daß Kant Meinigkeit und Verbindbarkeit für koextensive Eigenschaften hält und daß er die zweite oft aus der ersten herleitet, - unangesehen des

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Zugeständnisses im ersten Satz von § 16, demzufolge es Vorstellungen in mir geben könnte, die ,für mich nichts' und insofern nicht,meine' sind. Daß Kant sich in den Bedeutungszusammenhängen von Pronomina verfängt und daß seine Theorie dabei in von ihm selbst nicht durchschaute, obwohl gespürte Schwankungen gerät, darf man ihm nicht zu sehr vorhalten. Immerhin war die Perspektive von Analysen, die Begründungen aus Formaspekten des Selbstbewußtseins gewinnen könnten, ganz und gar seine philosophische Entdeckung. Wenn aber im Text der „Kritik" über die Paragraphen 16 und 17 eine Tendenz dominiert, welche die mögliche Aktualität des Bewußtseins ,mein' hinsichtlich aller Vorstellungen, die einem Wesen, das Selbstbewußtsein haben kann, zugehören, in Anspruch nimmt, so ist es um so auffälliger und der Erklärung um so mehr bedürftig, daß sich die Beweislage in § 2 0 wieder verschoben hat, - jedenfalls nach meiner Interpretation von 1968 und auch nach der, wie Sie zugestehen, besten Lesart des Textes. Wenn in § 16 die Meinigkeit und somit mögliche Einheitlichkeit allen ,mir' gegebenen Vorstellungen zugesprochen war, so wird jetzt die innere Einheit von Anschauungen als Beweisgrund sui generis für die Unterstellung des Gegebenen unter die Funktionen des Selbstbewußtseins geltend gemacht. Daß die Möglichkeit der Einheit der Anschauung garantiert ist, weil alle Anschauung ,meine' muß genannt werden können, behauptet der Text von § 20 nicht direkt und auch nicht über eine einigermaßen deutlich erkennbare Implikation. Daß sich die Beweislage für Kant verändert hat, daß er die Abhängigkeit der Bedeutung von ,mein' von der des ,Ich' der Apperzeption nicht mehr als Argument aufbietet, läßt sich nun aus der Einführung des Objektbegriffes verständlich machen, die in § 17 erfolgt und die in § 19 ihre wichtigste Konsequenz zeitigt: Objekte sind Gegenstände von Urteilen. Der § 1 6 redet über die Mannigfaltigkeit des Gegebenen in ihrer Beziehung zur Einheit des Ich, welche Grund der Meinigkeit dieser Mannigfaltigkeit ist, wie über eine Eins-zu-Eins-Beziehung. Alles Mannigfaltige ist meines, insofern das Bewußtsein der Verfügbarkeit oder Zugehörigkeit dieses Gegebenen zu dem einen Subjekt, das den Gedanken ,Ich denke' vermag, möglich sein muß. Das heißt: Die ganze Mannigfaltigkeit ist eine Einheit in diesem ,Ich denke'. Nur diese Form von Beziehung vermag der § 16 zu thematisieren, obgleich auch er schon eine Vielzahl von Fällen des Gedankens ,Ich denke' in Anspruch nehmen muß. Denn der Formeinheit des ,ich denke' entsprechen allgemeine

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Funktionen der Verbindung, die in jedem Fall von ,ich denke'-Bewußtsein vorausgesetzt sind. Was einzelnen Fällen von ,Ich denke'-Bewußtsein als besondere Mannigfaltigkeit in der ihr eigenen Einheit entspricht, ist vorerst nicht zu artikulieren. In den §§ 17-19 verändert sich diese Situation. Es kann und muß nun von besonderen Einheiten gehandelt werden, die bestimmte Mannigfaltigkeiten in besonderen ,Ich-denke'-Fällen zusammenfassen. Und das bedeutet, daß wir nicht mehr eine Eins-zu-Eins-Beziehung, sondern eine Eins-zu-einer-unbestimmten-Menge-Korrelation von Einheitsfällen zu verstehen haben. Objekt ist nicht oder nicht nur der Inbegriff aller Mannigfaltigkeit in der Einheit, sondern eine jeweils bestimmte Einheit solcher Art. Das ergibt sich zwingend schon daraus, daß ,Objekt' sich vom Urteil her versteht. Denn Urteile sind Urteile über etwas Bestimmtes, nicht über alle Mannigfaltigkeit insgesamt oder jedenfalls nicht allein über sie. So erhalten wir ganz selbstverständlich und ohne daß Kant die Veränderung in der Struktur der Problemlage hervorhebt, eine Beziehung zwischen dem ,Ich denke', das ein einziges Einheitsprinzip ist, und einer unbestimmten Vielzahl von Einheitsfällen, die Objekte sind und die als solche in Urteilen thematisiert und gekennzeichnet werden. Damit stellt sich das Einheitsproblem für Mannigfaltiges und das Problem der Möglichkeit seiner Vereinheitlichung auf eine neue Weise. Zu fragen ist nämlich, in welcher Weise schlägt der Gedanke des § 16 von der Meinigkeit des mir gegebenen Mannigfaltigen auf eine Schlußfolgerung durch, die dahin gehen müßte, daß in der ganzen Dimension gegebener Mannigfaltigkeit hinsichtlich jeder Teilmenge dieses Mannigfaltigen bestimmte Einheiten möglich sind, die sich nunmehr über die Urteilsformen aus der Einheit der Apperzeption herleiten müssen. Dies, daß die Mannigfaltigkeit überhaupt, die einer Verbindung überhaupt unterliegt (§16), nunmehr die Mannigfaltigkeit der Objekte aufbricht, verändert die Beweissituation im §20, ohne daß Kant diese Verschiebung und Komplizierung der Problemlage ausdrücklich thematisch macht. Und so erklärt sich auch zwanglos, warum er im §20 von „Einer empirischen Anschauung" (B 143) sprechen kann und muß. Diese Redeweise ist im Rahmen des § 16 noch gar nicht möglich, weil die Grundlage für sie fehlt, die durch den Objektbegriff gegeben ist. Das läßt unberührt, daß auch im § 16 kraft der Vorverständigung über die Problemlage

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diese Redeweise bekannt ist und daß die Theorie dieses Paragraphen wegen der notwendigen Pluralität der Fälle des Bewußtseins ,Ich denke' den grundlegendsten Ansatzpunkt. für ihre Entfaltung enthält. Die Deduktion als Theorie erreicht die Korrelation Eins-zu-Vielem in Hinsicht auf viele Einheitsfälle erst im § 17. Die bestimmte Einheit einer Mannigfaltigkeit, welche die eines Objektes ist, das in einem Urteil zur Bestimmung kommen kann, korrespondiert derjenigen Einheit, die in der Folge auch als die der Wahrnehmung ausgewiesen wird. Die Einheit des Begriffs vom Objekt ist nun diejenige Einheit, zu der die Vielheit eines bestimmten gegebenen Mannigfaltigen in einer Eins-zu-Eins-Beziehung steht. Die Einheit der Apperzeption, aus der sich die besonderen Einheiten im Objektgedanken zuletzt herleiten, ist damit ihrerseits Eines in Beziehung auf die offene Vielheit solcher Objektgedanken. Sie stehen allerdings selbst in einer umfassenden Beziehung zueinander, ohne die ihre jeweilige Bestimmtheit nicht die eines Objektgedankens würde sein können. Und die erklärt sich aus der unbeschränkten Einheit des ,Ich-denke'Bewußtseins selbst. Die Verschiebung in der Problemlage hat zur Folge, daß Kant zunächst auch das Problem der allgemeinen Zugänglichkeit der gegebenen Mannigfaltigkeit wieder zulassen muß. Kant meinte zwar, schon aus der Meinigkeit alles ,mir' gegebenen Mannigfaltigen ein Argument dafür gewonnen zu haben, daß seine ausnahmslose Zugänglichkeit gesichert ist. Sein Begründungsgang ist aber nun der Frage ausgesetzt, was es denn garantiert, daß jegliches Mannigfaltige zu derjenigen Einheit verbunden werden kann, kraft deren in Beziehung auf es die bestimmte Einheit eines Objektbegriffes und einer ihm korrespondierenden empirischen Anschauung möglich ist. Und so ergibt sich das Problem der Umfangsbestimmung möglicher Zugänglichkeit. Auf dem Stand und mit den Mitteln von § 20 läßt sich für dieses allgemeine Problem keine Entscheidung finden, die in Beziehung auf die besonderen Bedingungen überzeugt, unter denen der Gang der Deduktion in eben diesem Paragraphen steht. - Mit diesen Erläuterungen zur Dynamik der Theorieentfaltung der Deduktion bin ich über das, was im Aufsatz von 1968 entwickelt wurde, hinausgegangen. B e r n h a r d THÖLE:

Ich habe auch mit dem, was Sie jetzt in Ihrer Antwort auf Herrn

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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Cramer gesagt haben, immer noch Schwierigkeiten. Zunächst ist mir nicht klar, daß irgendwo zwischen § 16 und § 2 0 ein Bruch der Art, wie Sie ihn jetzt beschrieben haben, wirklich vorliegt. Ich fände deshalb genauere Texthinweise nützlich. Aber einmal die Richtigkeit Ihrer Interpretation unterstellt, sehe ich 2. nicht recht, wie die Veränderung der Beweislage im Ubergang von § 16 zu § 17, von der Sie in Ihrer Antwort an Herrn Cramer gesprochen haben, so ins Spiel kommt, daß sich Kant ihrer hätte bewußt werden können, ohne dann den §16 zu streichen. Ein solches Bewußtsein müssen Sie aber unterstellen, wenn Sie die von Kant ja bewußt vollzogene Zweiteilung der Deduktion als Reaktion auf die durch jene Verschiebung entstehende Problemlage verstehen wollen. Gravierender aber scheint mir 3. zu sein, daß Kant nach Ihrer Lesart des 2. Teils der Deduktion 1 mit dem Argument des §26 bewiesen hätte, daß die Geltung der Kategorien bereits als Bedingung der Apprehension eines Mannigfaltigen vorauszusetzen ist. Dann aber wären auch die Relationskategorien bereits Bedingungen einer Synthesis, „wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird" (B161). Dies steht aber in offensichtlichem Widerspruch zur Charakterisierung der Funktion der Relationskategorien, die gerade darin zu sehen ist, daß durch ihre Anwendung Erfahrung durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich wird, einer Verknüpfung, die aus den Wahrnehmungen selbst gerade nicht „erhellt" (vgl. Β 218 f.). Wenn also Kant im zweiten Schritt der transzendentalen Deduktion so argumentiert, wie Sie sagen, d.h. wenn bereits die Einheit der Wahrnehmung den Kategoriengebrauch voraussetzt, dann ist es nicht mehr möglich, wie im Grundsatzkapitel zu argumentieren. Ich glaube, diese Schwierigkeiten zwingen dazu, die Einschränkung, der das Resultat des ersten Teils der Deduktion in der Tat unterliegt, an einer anderen Stelle zu suchen. Die Differenz der beiden Beweisschritte beruht darauf, daß Kants These, das Mannigfaltige stehe unter Kategorien, im ersten Teil etwas anderes bedeutet als im zweiten. Es bedeutet im ersten Teil: ,Ich kann mir zu jeder Vorstellung ein Objekt denken, und dieser Gedanke setzt voraus, daß ich die Kategorie auf die gegebene

1

Vgl. D . Henrich, Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Hrsg. v. G. Prauss, Köln 1973, S. 94 Z. 3 ff.

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Vorstellung problematisch anwende'. Daß ich solche bloß problematischen Gedanken hinsichtlich all dessen, was mir gegeben ist, denken kann, ist das Resultat des ersten Teils der Deduktion. Erst im zweiten Teil wird gezeigt, daß das uns gegebene Mannigfaltige der Anschauung so beschaffen ist, daß diese Gedanken nicht bloße Gedanken, sondern wirkliche Erkenntnis werden können. Es handelt sich also nicht um eine Differenz im Umfang der den Kategorien unterstehenden Vorstellungen, sondern um eine Unterscheidung der Bedeutung der Metapher des „Unter-Kategorien-Stehens".

D i e t e r HENRICH:

J a - das ist nun sehr subtil, und wir kommen in die Situation, in der wir sozusagen in Blöcken argumentieren müssen, die wir dann nur mit einiger Mühe auch ausfüllen können. Ich glaube nicht, daß die Notwendigkeit, eine andere Beweisstruktur ins Auge zu fassen, so begründet werden kann, wie Sie es tun, nämlich aus den Schwierigkeiten, die man mit dem Verhältnis von Wahrnehmung und Erfahrung im § 26 und im ganzen Grundsatzkapitel hat. Ich glaube, das ist eine sehr gravierende Schwierigkeit, zu deren Beseitigung Kant fast nichts getan hat, die man aber nur beseitigen kann, wenn man eine Theorie über zwei Formen von Synthesis - in ihrem Verhältnis zueinander - entwickelt, die der Wahrnehmung selbst immanente Synthesis und dann derjenige universalsynthetische Zusammenhang, der alle Wahrnehmungen bezieht auf das System der Objekte, das wir Natur nennen. Im Grundsatzkapitel setzt Kant diese Differenz voraus. In § 2 6 bereitet er sie vor durch die These: Wahrnehmung unterliegt schon dem Verstände und Erfahrung ist eben Synthesis von Wahrnehmungen. Es gibt keine Theorie über dieses Verhältnis, und dieses Defizit kann man - meine ich - auch nur an der Stelle, wo es auftritt, beheben allerdings dann wieder so, daß die Weise der Behebung dieses Defizits die Prinzipien, die die Deduktion zur Verfügung stellte, ausbeuten muß. Sie bietet auch für diesen Zweck ein Theoriepotential an, - ein Garn, aus dem sich das von ihr selbst nicht entwickelte, aber in Anspruch genommene Theoriemuster knüpfen ließe. Man muß in der Form der Apperzeption selbst sozusagen schon Raum schaffen für die Differenz von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil, wobei diese Differenz nicht die sein darf: zwischen unverbundenem Mannigfaltigen und einer Vorstel-

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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lung, die ich mit dem Bewußtsein „Ich denke" begleite. Nicht wahr? Da ist dieses Defizit! In §26 wird es akut. Ich habe dazu auch Einiges zu sagen; nur - ich glaube, diese Analyse können wir jetzt und hier nicht ernsthaft in Gang bringen. Was Sie im übrigen sagen, nämlich: Einklagung der Textbasis für die Interpretation, die mit der Restriktions-Einschränkungs-Aufhebung argumentiert, ist sicher berechtigt. Und sehr wichtig ist auch, was Sie andeuten hinsichtlich der Bewußtseinslage Kants bei der Niederschrift des Textes. Man muß Kants explizite Intentionen von theorie-strategiscben Situationen, in die er gerät und die er berücksichtigt, noch unterscheiden. Um zunächst zu diesem letzteren etwas zu sagen: Ich habe das in meinem Aufsatz so dargestellt, als ob Kant erst einmal dagesessen und sich diese Beweisstruktur entworfen habe, so, als ob ihn die Intention auf diese Zweitschritt-Struktur: Umfang-Einschränkung und Aufhebung des eingeschränkten Umfanges bei der Niederschrift geleitet hätten. Das ist - glaube ich - eine Verzeichnung gewesen. Zu dieser Verzeichnung ist es deshalb gekommen, weil mir nicht klar war, was eine Deduktion ist, als ich diesen Aufsatz schrieb. Und niemandem ist das klar - bis heute; aber heute werden Sie es erfahren! Er lacht. (Allgemeines Amüsement.) Das heißt, einer, Herr Thöle, weiß es schon, - aus Heidelberger Seminaren. (Fortgesetzte Heiterkeit) Aber - aber es gibt doch eine Textbasis. Und das ist die in §26. Davon bin ich in den Überlegungen von 1968 auch ausgegangen. In §26 zeigt Kant doch klar das Bewußtsein, daß er erst hier die allgemeine Zugänglichkeit gesichert hat: „Denn ohne diese ihre Tauglichkeit würde nicht erhellen, wie" - und dieses „wie" ist als „wieso" zu lesen - „alles, was unseren Sinnen nur vorkommen mag, unter den Gesetzen stehen müsse, die a priori aus dem Verstände allein entspringen." (B 160) N u r dort kann man begreifen, warum es so ist, daß alles den Kategorien unterstehen muß. Und dann gibt es — über die ganze Deduktion hinweg - diese Parallelstelle in der Exposition der Deduktion, wo er sagt: „Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände und

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alles so in Verwirrung läge, daß ζ. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand g ä b e . . . " . (B 123) Nun dieses: ,Erscheinungen könnten auch beschaffen sein, d a ß . . k a n n man natürlich so lesen und verstehen, daß es in § 16 schon aufgehoben ist. Aber diese Erwägung Kants markiert eine Theoriesituation - unabhängig davon, inwiefern sie ihm bei der Niederschrift der trz. Deduktion durchgängig vor Augen stand - , die ihm als solche auch an dieser Stelle jedenfalls deutlich ist, und von der dann weiter gesagt werden kann, daß sie manifest wird in § 2 6 , - dort, wo sozusagen die Entspannung in die Schreibbewegung kommt, wo alles zusammengefaßt wird in dem Sinne, daß nun eine Konklusion Zustandekommen muß, die alle Desiderate wirklich und definitiv erfüllt. An der Stelle scheint mir nun das Bewußtsein der Aufhebung einer möglichen Eingeschränktheit - die mit dem Ton auf „alles" - offenkundig vorzuliegen. Ich habe das in dem Aufsatz sozusagen zurückgelesen in die gesamte Beweisstruktur. Dieses Entspannungsbewußtsein, das mit dem ,nun erhellt's, wieso a l l e s . . . ' und gleichzeitig werden die beiden Teile der Kritik der reinen Vernunft zusammengebunden - ich habe es zurückprojiziert in den ganzen Verlauf des Deduktionsganges und habe gesagt: Diese Explizitheit des Bewußtseins - die Aufhebung jeder möglichen Restriktion der Zugänglichkeit von gegebener Mannigfaltigkeit für die Kategorien im Deduktionsgeschehen sei als der Zielpunkt während der Niederschrift der trz. Deduktion Kant unausgesetzt vor Augen gestanden. Ich glaube das nicht mehr. Also: der Implizitheitsgrad der Problematik muß - glaube ich - vergrößert werden und das hängt mit der Themenbestimmung der trz. Deduktion zusammen - auch mit solchen Sachverhalten, wie sie in meinem letzten Argument zu Cramers Beitrag verdeutlicht worden sind, eben der Veränderung der Theorie-Situation gegenüber § 16 mit § 17, - so daß die Formulierung der Umfangsrestriktion überhaupt erst eine für den Aufbau der Theorie relevante und wiederum dominante wird. Was eigentlich schließt es aus, daß wir in einer Welt leben, die wesentlich fragmentarisch ist? - Das wäre die Frage, welche die Deduktion in ihrem zweiten Beweisschritt zu beantworten hat. Und welches Argument soll das auf der Theoriestufe, die § 20 markiert, ausschließen? Zusammenfassend: Wir brauchen eine Theorie über das Verhältnis von Wahrnehmung und Erfahrung; aber die ist so fern von dem, was Kant wirklich erarbeitet hat, daß man nun nicht die ganze trz. Deduk-

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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tion als Lieferanten dieser Theorie umlesen darf - unangesehen dessen, daß sie freilich nur über eine Ausbeutung der Prinzipien der trz. Deduktion würde geliefert werden können. D a werden nun weiter grundsätzliche Probleme der Kant-Exegese aktuell: Wie kann man mit diesen Texten überhaupt umgehen. Ich habe, als ich diesen Aufsatz schrieb - das habe ich ja gerade schon selbstkritisch gesagt - noch zu sehr vertraut auf die Möglichkeit, eine in Kants Geist dominante Strategie-Intention anzunehmen, die den Text, den er schreibt, überall eindeutig steuert. Das aber glaube ich nicht mehr. Ich glaube weiterhin nicht, daß man das bei irgendeinem klassischen philosophischen Text kann. Ich glaube, daß das Gewicht eines wirklich innovatorischen Textes immer einhergeht mit einer Dunkelheit hinsichtlich der Verfugung der verschiedenen Intentionen, die die Niederschrift dieses Textes als eine notwendige Aufgabe zur Folge haben, so daß also diese Texte wesentlich dunkle Texte sind, daß es aber darauf ankommt, die Dunkelheit über eine Aufklärung aufzuhellen, die die Verfugung und das — je auf einer Theorieentwicklungsstufe verschiedene - relative Gewicht dieser miteinander gebündelten Intentionen anzugeben erlaubt. In der Interpretation von klassischen Texten fehlt durchgängig das Bewußtsein von dieser Problematik und damit ein den Texten angemessenes Interpretationsverfahren. R e i n h a r d BRANDT:

Ja, ich würde dem zustimmen, mit der Einschränkung, daß es häufig bei klassischen Texten so ist, aber nicht notwendig so sein muß. Dieter HENRICH: (Zwischenfrage) Kennen Sie eine Ausnahme? R e i n h a r d BRANDT:

Das kann man - glaube ich - nicht a priori behaupten, das sei notwendig. G e r d BUCHDAHL:

Erstens möchte ich etwas unterstreichen, auf das Herr Henrich hingewiesen hat, und zwar auf die erste Fußnote im § 26: die Unterscheidung, die Kant dort zieht, zwischen den Formen der Anschauung und formaler Anschauung (B 160). „Form der Anschauung" ist ein Aus-

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druck, der da gebraucht wird, wo es sich um etwas handelt, in welches noch keine Einheit der Apperzeption mit hineinspielt. Und in der Tat fügt Kant in dieser Fußnote hinzu, daß er das in der Ästhetik so dargestellt habe, als ob man von einer Einheit sprechen könnte, die „zur Sinnlichkeit gezählt" würde, obwohl in soweit als es eine solche Einheit gebe, diese natürlich „eine Synthesis, die nicht den Sinnen a n g e h ö r t . . . voraussetzt." Wenn man also von einer Anschauung redet und dann von dem Verstand, dem Begrifflichen, absieht, dann ist das eine Abstraktion, die in einer Sprachform ausgedrückt wird, welche im allgemeinen oder alltäglichen Gebrauch nicht das bedeutet, was bei Kant in einem ganz besonderen Zusammenhang dadurch ausgedrückt wird. Das soll man also nie außer Auge lassen. Peter Krausser hat in seinem kürzlich erschienenen Buch auch wieder darauf hingewiesen, daß, wenn Kant von Raum und Zeit, auch von Anschauung, spricht, und dieses im Sinne einer Abstraktion vom Verstand (vom Begrifflichen), dies auch wieder nur im Sinne vom „Räumlichen und Zeitlichen" zu verstehen ist, und sich noch nicht auf einen „bestimmten" Begriff von Raum und Zeit bezieht. 2 Komischerweise erstreckt sich das auch auf den Ausdruck der „Wahrnehmung". „Wahrnehmung" wird einmal definiert als Anschauung, die mit Bewußtsein begleitet wird. 3 Also: unter Umständen erlaubt sich Kant, auch von „Wahrnehmung" zu sprechen, wo es sich vorläufig nur um die raum-zeitliche Seite handelt (wenn auch „mit Bewußtsein verbunden"). Aber das ist natürlich nur eine ganz abstrakte Sprechweise; etwas in Wirklichkeit aus der einzig und allein „gegebenen" Erfahrung Herausgerissenes. Denn sobald wir von Erfahrung reden, muß die Einheitlichkeit schon mitgegeben sein. Das Zweite, welches ich in diesem Zusammenhang hinzufügen möchte, ist, daß es bei Kant weiterhin auch noch zwei Ausdrücke gibt, auf die bis jetzt heute morgen vielleicht noch nicht so ausdrücklich hingewiesen worden ist: die des bestimmten und des unbestimmten

2

3

Kants Theorie der Erfahrung und Erfahrungswissenschaft (Klostermann: Frankfurt, 1981), S. 120. „Das Erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt, . . . " (A 119 ff.).

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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Gegenstandes. Diese Ausdrücke weisen wieder auf die eben angedeuteten Unterschiede hin: Der unbestimmte Gegenstand ist eine Art Gegenstand, der als solcher noch nicht ein Gegenstand für mich sein kann; d. h., der in einer Erfahrung als solcher noch nicht vorkommt. Wo man von der Relevanz des Verstandes absehen, und trotzdem von einem Gegenstand sprechen will, da benutzt Kant den Ausdruck „unbestimmter Gegenstand", während er vom „bestimmten Gegenstand" redet, wenn er sich auf einen Gegenstand bezieht, der der Einheit der Apperzeption unterliegt. Dies sind also zwei Ausdrücke, die hier als termini technici anzusehen sind, und die innerhalb der Kritik der reinen Vernunft einen ganz besonderen technischen Gebrauch haben. Ich bin der Meinung, daß man diesen nie außer acht lassen dürfte. Ganz kurz noch denn in der Dreiviertelstunde ist das verloren gegangen - eine Frage an Herrn Henrich: Er sprach davon, zum Beispiel, Zeit und Raum würden aus dem Selbst hergeleitet. Nun muß das sorgfältig verstanden werden, damit man nicht plötzlich wieder von eingeborenen Ideen spricht. Raum und Zeit, wenigstens die Kategorien, nebenbei dann wahrscheinlich auch die Anschauungsformen, haben nicht den Status von eingeborenen Ideen, sondern werden nur eingeführt, um die Erfahrung, das Objekt, möglich zu machen. Sie haben also eine ganz merkwürdige Stellung innerhalb der Kantischen Theorie. Kant weist selbst darauf hin (B 166 f.), daß man die Kategorien weder als Empirisches, noch als Eingeborenes, sondern als ein Drittes ansehen muß: als „selbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis"; was nicht so zu verstehen ist, als seien die Kategorien „uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken". Ich glaube also, daß das darauf hinweist, daß man sich sehr sorgfältig hier ausdrücken muß. Wenn man sagt, daß etwas aus dem Selbstbewußtsein hergeleitet wird, dann klingt das so, als ob das Selbstbewußtsein gewissermaßen eine psychologische Formgebungsmöglichkeit in sich hätte, wohingegen die Rede von dem Selbstbewußtsein letztlich - meiner Ansicht nach - nur eine Art Modell für die Einheit der Apperzeption bedeutet, durch die „Erfahrung möglich" gemacht wird wie Kant ganz richtig auch in diesem Zusammenhange dies ausdrückt. Das transzendentale Selbstbewußtsein, für das ja auch ein römischer Ausdruck benutzt wird, nämlich „Apperzeption", hat einen besonderen Status, der weder etwas Psychologisches, noch etwas Metaphysisches, geschweige etwas Empirisches bezeichnet.

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D i e t e r HENRICH:

Ja, nur ganz kurz: Natürlich kann man auch die Räumlichkeit des Raumes und die Zeitlichkeit der Zeit nicht aus dem privilegierten Gedanken herleiten, der das cartesianische „Ich denke" als Möglichkeit zum Inhalt hat. Es gilt nicht nur, daß sie nicht eingeboren sind, sondern es gibt auch kein in der Ich-Form begründetes Postulat, das die spezifische Form des Raumes und der Zeit zu gewinnen erlaubt, - wohl aber gilt - und das war eigentlich meine These, über die wir bisher gar nicht diskutiert haben - : daß zu einem solchen Selbstbewußtsein irgend eine Form der Anschauung mit dem Einheits- und Unendlichkeitssinn gehört, die auch Raum und Zeit eigentümlich sind. 4 Das ist ein Strukturzusammenhang, den man zwar in der „Kritik der reinen Vernunft" nicht argumentativ belegt findet, den aber Kant de facto in Anspruch nimmt. Es ist kein Zufall, daß wir - die cartesianischen Denker - über solche Formen verfügen. Sie sind weder eingeboren noch sind sie vom „Ich denke" gemacht. Aber es könnte das „Ich denke" nicht aktuell werden, wenn es nicht solche Formen gäbe. Und dieser Zusammenhang einer notwendigen Bedingung erlaubt eben auch eine Deduktion, wenn auch nicht der Räumlichkeit qua Räumlichkeit. G e r d BUCHDAHL:

Wo kommt die her, die Räumlichkeit qua Räumlichkeit? R e i n h a r d BRANDT:

Die ist kontingent.

4

Belegstellen für diese Analyse finden sich vor allem in Reflexion 4673. Daß Kants Reflexionen zur Metaphysik in den Interpretationen der Kritik, die weltweit versucht werden, nicht überall berücksichtigt sind, ist auch dem de Gruyter Verlag anzulasten. Er trägt für die Zugänglichkeit aller Schriften des größten Philosophen in deutscher Sprache, des einzigen wahren Weltphilosophen neben Piaton, die Verantwortung. Die Nachlaßbände sind seit langem wirtschaftlich abgeschrieben. Trotzdem stellt sie der Verlag noch immer nicht in einer wohlfeilen Ausgabe zur Verfügung. Daß die Paperback-Version der Akademieausgabe mindestens auch den Metaphysiknachlaß einschließen werde, hat mir der Lektor des Hauses schon vor zwanzig Jahren in sichere Aussicht gestellt. Aber bis heute wird wohlfeil nur angeboten, wofür es Konkurrenz gibt. Es ist geradezu Pflicht der Philosophen, die am kantischen Werk in deutscher Sprache arbeiten, diesen Mißstand so lange öffentlich hervorzuheben, bis er behoben ist. So bitte ich auch im Interesse der Philosophen der weniger wohlhabenden Länder und im Interesse der Wirkung von Kants Werk erneut um schnelle Abhilfe.

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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Dieter H E N R I C H : Das ist ein kontingentes Faktum. Es ist sehr interessant, sich zu fragen, wo genau setzt diese Kontingenz ein? Ist es die Euklidizität schon - oder wird man die noch gewinnen können? Ist es die Dimensionszahl? usw.

Burkhard T U S C H L I N G : U m auf den Hauptpunkt zurückzukommen: Herr Thöle hat, wie zuvor schon Herr Wagner, eine Schwäche in Henrichs Position deutlich gemacht, das Stillschweigen über Inhalt und Funktion der §§22 bis 25. In der hier schon mehrfach herangezogenen Anmerkung zur „Anmerkung" des §21 erklärt Kant rückblickend, er habe bislang „noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde, abstrahieren" müssen (B144); und dieser Satz, in Verbindung mit dem ersten Ansatz von § 26, gibt doch einen ganz deutlichen Hinweis darauf, worin der Autor die spezifische Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Schritt der Deduktion sieht: abstrahiert wird im ersten Schritt sowohl von der Synthesis der Einbildungskraft, die in § 24 ins Spiel kommt, als auch davon, daß wir das sinnliche Mannigfaltige in Form von Wahrnehmungen, die gleichfalls einer besonderen Synthesis - der Synthesis der Apprehension - bedürfen, aufnehmen. Die Problemlage - was die Beweisstruktur anbetrifft - stellt sich demnach so dar: Im §20 wird noch völlig davon abgesehen, daß es so etwas wie ein Vermögen der Einbildungskraft oder ein Vermögen der Apprehension des Mannigfaltigen gibt, - und daher auch davon, daß eine notwendige Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der Synthesis besteht. Das heißt, daß man die §§16 bis 20 in diesem Sinne lesen muß, daß dort zunächst ausschließlich von der intellektuellen Synthesis gehandelt worden ist. Das eigentlich Neue ist also : die Entwicklung der Notwendigkeit der Schematisierung durch die Einbildungskraft und der Nachweis der Zusammenstimmung von intellektueller Synthesis, Synthesis der Einbildungskraft und Synthesis in der Apprehension. Wenn man das so versteht und wenn man das „sofern" (B 143) in dem respektiven Sinne nimmt - den Sie ja auch als möglich und gut kantisch anerkennen - , dann kann man sagen: Doch, es ist schon in §20

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bewiesen worden, daß alles Mannigfaltige aller Anschauung überhaupt unter Apperzeption und Kategorien steht. Abstrahiert wird noch von dem „wie". Dieses „wie" führt uns nun nicht mehr - Herr Cramer - in die Debatte, die Herr Henrich, wie ich finde, zurecht erledigt hat, mit „daß" und „wie" für objektive und subjektive Deduktion.5 - Sondern dieses „wie" gehört allerdings noch zum Nachweis des „daß" der Gültigkeit der Kategorien hinzu, denn es ist ja eine der Pointen der kantischen Theorie, nicht von objektiver Gültigkeit von Kategorien überhaupt zu reden, sondern nur von der objektiven Gültigkeit der schematisierten Kategorien; und das heißt, die Notwendigkeit ihrer Beziehung auf spezifisch menschliche Anschauung nachgewiesen zu haben. - Insofern ist die Abstraktion von dem „wie" und dann die Rückgängigmachung dieser Abstraktion in den §§24, 25, 26 integraler Bestandteil des Nachweises des „daß", also der Vollendung der objektiven-Gültigkeits-Argumentation. Wenn man das so liest, hat man sich den Problemen zu stellen, die Herr Henrich bzgl. der §§ 16 bis 20 aufgeworfen hat. Dazu würde ich sagen: Ich meine, daß man zunächst einmal das verstärken muß, was Herr Brandt schon einmal angedeutet hat. Man kann nicht zwingend behaupten, daß Kant die Bestimmtheit der Kategorien, also, daß es gerade diese viermal drei Kategorien sind, aus der Struktur des Selbstbewußtseins als Selbstbewußtsein habe beweisen wollen. Dafür gibt es mehrere Hinweise. Einer der Hinweise ist der berühmte Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772, wo er bereits behauptet, eine Theorie zu haben, die die a-priori-Gegenstands-Beziehung des Bewußtseins auf Gegenstände überhaupt garantiert, und zwar nach Prinzipien - also anders als Aristoteles und Locke. Aber in diesem Herz-Brief ist immer noch - genau wie 1770 - mit keiner Silbe von so etwas wie reinem Selbstbewußtsein die Rede. Die Theorie der Apperzeption - dieser „höchste Punkt" (B 134 Anm.), an den er dann in der Kritik der reinen Vernunft alles heften will, - ist ihm mit Sicherheit erst nach 1772 aufgegangen, wo, das wissen wir nicht genau. Wohl da ist aber schon die Zwölfertafel der Kategorien. Hinzu kommt, daß die sogenannte „metaphysische Deduktion" von der Theorie des Selbstbewußtseins unabhängig ist: in §26 wird ja ausdrücklich auf die metaphysische Deduktion als einen eigenständigen 5

D. Henrich, a.a.O. S.91 f.

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Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion Bestandteil der synthetischen Darstellungsart neben

der Apperzeptions-

theorie, - und das heißt: Rückgriff auf Urteilstafel und, Kategorientafel rekurriert. Man muß demnach die § § 1 6 bis 20, also den ersten Schritt so lesen und verstehen können: In § 16 wird - wie Sie unbestritten und unstreitig zu recht gesagt haben - das zentrale Ergebnis bewiesen: Alles Mannigfaltige muß unter dem reinen Selbstbewußtsein stehen, wenn es für mich oder für uns überhaupt Objekt

werden können soll. Soweit es

diesen Grundgedanken anbetrifft, ändert sich bis § 2 0 nichts mehr. A b e r die Kategorien als Objektbegriffe darf man nicht aus dem Ich herausholen wollen, jedenfalls nicht, soweit es Kant betrifft. Etwas anderes ist es natürlich, wenn man die Kategorien in eigener systematischer Verantwortung herzuleiten versucht. Kant dagegen leitet die Kategorien gerade nicht aus dem Selbstbewußtsein her, er betrachtet vielmehr die Gedanken des § 19 als eine unabhängige, in die transzendentale Deduktion an dieser Stelle neu eingeführte Argumentation, die man sich grob gesprochen - und ohne die aufwendige Arbeit von Klaus Reich dadurch entbehrlich machen zu wollen - wie folgt klarmachen kann: Eine Verknüpfung von Vorstellungen muß, um ein Urteil

sein zu

können, aus jeder der vier Gruppen à drei Bestimmungen je eine erfüllen. Sie muß entweder allgemein, besonders oder einzeln sein, sie m u ß bejahend, verneinend oder unendlich sein, sie muß relational so aufgebaut sein, daß sie entweder S - P - S t r u k t u r oder W e n n - D a n n - S t r u k tur oder Entweder-Oder-Struktur hat, und es muß schließlich noch die Modalität des Behauptens geklärt sein: eine Äußerung muß sich entweder als problematisch oder als bestimmt behauptend oder schließlich als notwendig behauptend darstellen. J e eine Bestimmung für jede dieser vier Funktionen muß erfüllt sein, damit eine Vorstellungsverbindung wahrheitsfähig ist und also darauf Anspruch haben kann, ein

Urteil

genannt zu werden. Daran anschließend, so Kants entscheidende Überlegung, kann man nun zeigen: dieselbe Bedingung muß ein beliebiges Mannigfaltiges erfüllen, um bestimmtes

Mannigfaltiges, Vorstellung von etwas Bestimmtem,

von Etwas überhaupt oder schließlich: Vorstellung eines O b j e k t s zu sein. Diesen Gedanken meint er — mit welchem Recht auch immer - im § 1 0 , soweit es die verschiedenen möglichen Arten der Bestimmung von etwas überhaupt anbetrifft, geklärt zu haben. Im § 1 9 wird er dann benutzt, um zu sagen: Die Kategorien sind diejenigen Vermittlungsformen, deren es bedarf, um ein gegebenes Mannigfaltiges als ein

bestimm-

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Dieter Henrich u. a.

tes oder in bestimmter Weise auf das Selbstbewußtsein zu beziehen oder um es als objektiv - nämlich durch die objektive Einheit der Apperzeption und nicht nach empirischen Gesetzen der Assoziation, daher schließlich als notwendig - bestimmt zu denken. Wenn man das so sieht, dann hat man das Problem nicht mehr, das Sie haben, wenn Sie von einer Verschiebung der Beweissituation ab § 17 sprechen. Kant jedenfalls hat ein gutes Gewissen. Ich gebe zu: Dunkelheiten bleiben da in Hülle und Fülle. Aber jedenfalls, was das unmittelbare Textverständnis anbetrifft, scheinen mir die Hauptschwierigkeiten ausräumbar zu sein. Ich meine, daß Herr Wagner in der Tat - jedenfalls, was den zweiten Argumentationsschritt betrifft, die spezifische Hinsicht: Neueinführung der Einbildungskraft, Schematisierung, Bezugnahme auf Wahrnehmung - gegen Sie eine sehr starke Position hat. (Das andere, was ich eben zu dem ersten Teil gesagt habe, das ist Marburger Ambiente und wird in dieser Form expressis verbis von Herrn Wagner gegen Sie nicht eingeführt. Ich weiß deshalb auch nicht, wie er sich dazu verhalten würde.) Zu dieser starken Seite der Wagnerschen Position würde ich Sie bitten, noch etwas auszuführen, denn er scheint damit das Entscheidende gezeigt zu haben. Dieter H E N R I C H : Es ist kein Zweifel daran, daß der Text, der den Titel „Transzendentale D e d u k t i o n . . . " trägt, eine Grundaufteilung in zwei Hälften erlaubt in Beziehung auf eine intellektuelle Seite und auf eine sinnliche Seite im Zustandekommen von Synthesis. Das ist ganz offenkundig - und darin haben Sie sicher recht, daß in der ersten Hälfte Urteil und in der zweiten Hälfte Einbildungskraft die Schlüsselrollen als Vermittlungsbegriffe spielen. Es ist kein Zweifel, daß die erste Hälfte der Deduktion die invariante Seite, nämlich Urteil in Beziehung auf Apperzeption in der Objekterkenntnis behandelt, im Unterschied zu der zweiten Hälfte, welche die variante Seite insoweit behandelt, als bei der Ausführung der Synthesis die Räumlichkeit und die Zeitlichkeit der gegebenen Mannigfaltigkeit zu berücksichtigen sind, so daß also die Unterscheidung Erkenntnis überhaupt — unsere Erkenntnis eine strukturgebende Bedeutung hat. Das ist auch ein Unterschied gegenüber der ersten Auflage und ist ja auch der Aspekt, der die synthetische Verfassung der Deduktion ausmacht und der dafür sorgt, daß die Deduktion der zweiten Auflage in

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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den Gesamtaufbau des Buches so gut hineinpaßt - im Unterschied zu ihrem Aufbau in der ersten Auflage. Das kann gewiß nicht strittig sein und ist auch von mir niemals bestritten oder beiseitegesetzt worden. Aber das alles tangiert nicht direkt das Problem unseres gegenwärtigen Interesses: welchen Begründungswert hat die zweite Hälfte? Was leistet sie für das Ziel der Deduktion? 1968 habe ich das eben so gesehen - wir haben das bisher noch nicht diskutiert - : Das Ziel der Deduktion ist der Beweis der uneingeschränkten Brauchbarkeit der Kategorien bei der Bestimmung gegebener Mannigfaltigkeit. Dieses Ziel ist bereits in der ersten Hälfte leitend. Schon in der ersten Hälfte der Deduktion wird in Beziehung auf gegebene Mannigfaltigkeit argumentiert. Schon in § 16 wird ganz explizit formuliert: die Geltung des Satzes, der die Zugänglichkeit von gegebener Mannigfaltigkeit für die Möglichkeit des Gedankens „Ich denke" formuliert, hängt davon ab, daß eine gewisse Anschauung gegeben ist. Das heißt, die Beziehung auf Anschauung ist auch dort außer Frage und im Blick. Und nun frage ich Sie: Was ist - wenn man die Aufgabe der trz. Deduktion als die Aufgabe der Entwicklung eines Geltungsbeweises ansieht - in § 2 0 noch nicht erwiesen und was muß deshalb in § 2 6 in Sachen des Geltungsbeweises noch nachgetragen werden? Sie sagen, Sie teilen die Meinung, daß ein Beitrag zum Geltungsbeweis in der zweiten Hälfte der Deduktion erfolgt, aber ich habe nicht verstanden, worin dieser Beitrag besteht, so daß sich dieser - von § 2 2 an gelieferte - zusätzliche und notwendige Beitrag von dem, was hinsichtlich der Geltung in der ersten Hälfte schon feststeht, noch unterscheidet. Das ist ja eigentlich mein starker Punkt damals gewesen; ich will hören: Was an Geltungsbeweislast ist von der ersten Hälfte der Deduktion noch nicht übernommen. Mir ist damals nichts anderes eingefallen als die Umfangsrestriktion; und ich habe auch bisher noch keine Alternative dazu gehört. B u r k h a r d TUSCHLING:

Darf ich direkt etwas dazu sagen? R e i n h a r d BRANDT:

Ja!

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Dieter Henrich u. a.

Burkhard T U S C H L I N G : Stichwort: Einbildungskraft, Stichwort: Schematismus - Wenn man sich das konkret vorstellt, dann heißt das doch, daß eben nicht nur behauptet wird, daß alles Mannigfaltige der empirischen Anschauung z . B . in die Unterscheidung Subjekt - Prädikat gebracht werden kann, sondern daß in allen Erscheinungen - wie Kant behauptet - etwas Beharrliches enthalten ist. Die Notwendigkeit der Ergänzung der Kategorie durch ihre Schemate kommt doch neu hinzu. Und das ist in der Tat in §20 überhaupt nicht erwiesen. Daß alle Anschauungen extensive Größen sind, die Erzeugung des Mannigfaltigen in der Zeit, all diese Dinge, die dann im Schematismuskapitel entwickelt werden - das ist das eigentlich Neue und von dem behauptet er, daß er es in § 26 in allgemeiner Form bewiesen habe. Das ist etwas, was in § 20 nicht drin ist. Da sind nur die leeren Kategorien als Intellektualformen da.

Dieter H E N R I C H : Herr Tuschling, dann können Sie sogar so weit gehen, zu sagen, daß die gesamte Analytik bis zum Ende des Grundsatzkapitels die trz. Deduktion sei. Es gibt jedoch die andere Lesart, und das ist diejenige, die zunächst - wenn kein Argument dagegen vorgebracht wird, daß man so zu lesen hat - auch die verbindliche ist: Aufgrund des in der Deduktion gelieferten Beweises, daß die Kategorien allgemein verwendbar sind, muß nun eine umfängliche Theorie, die also die zweite Hälfte der Deduktion, das Schematismuskapitel, das Grundsatzkapitel einschließt, die weiter in die Metaphysischen Anfangsgründe und am Ende ins opus postumum hineingeht, ausgeführt werden - eine Theorie nämlich, die aufklärt, auf welche Weise dieser Gebrauch der Kategorien bei der Bestimmung von Objektbegriffen zustandekommt und was dieser Kategoriengebrauch alles einschließt. - Der Nachweis dieser Einschlüsse, der viel weiter geht als der Geltungsbeweis, ist aber eine Folge des vorausgehenden Geltungsbeweises; und der Geltungsbeweis ist in §20 abgeschlossen. Wenn das so wäre, dann hätten wir wieder die doppelte Beweisführung in der zweiten Hälfte der Deduktion selbst. Wir befänden uns wieder in der alten Interpretationslage mit ihren untragbaren Konsequenzen, denen ich 1968 zu entkommen suchte.

D i s k u s s i o n : Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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Bernhard THÖLE:

Wenn man die Deduktion unter dem Aspekt betrachtet, unter dem J sie jetzt betrachtet wird, nämlich als Geltungsbeweis der Kategorien, dann ist unter Kantischen Prämissen ein Beweis zu erwarten, in dem gezeigt wird, daß das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige so beschaffen ist, daß die Kategorien auf es angewendet werden könnten (vgl. z . B . A 9 0 / B 1 2 3 ) . D . h . es muß gezeigt werden, daß die uns gegebenen Anschauungen den Anwendungsbedingungen der Kategorien genügen. Die Frage der zwei Beweisschritte ist dann: Wieviel wird zu diesem Zweck im ersten, und wieviel im zweiten Teil der Deduktion gezeigt? Sieht man den Unterschied der beiden Beweisschritte in einer zunächst behaupteten, und dann aufgehobenen Umfangseinschränkung, so hieße das: Im ersten Teil wird nur von einer Teilmenge, im zweiten aber von der Gesamtheit unserer Anschauungen gezeigt, daß sie den Anwendungsbedingungen der Kategorien genügen. Sie haben nun Herr Henrich, zu Anfang der Diskussion eine Differenzierung eingeführt zwischen einzelnen Fällen von Bewußtsein und der Gesamtheit solcher Einzelfälle. 6 Versucht man von dieser Unterscheidung ausgehend den Unterschied der beiden Beweisschritte zu charakterisieren, so könnte man sagen: zwar genügen die Einzelfälle und ihr Mannigfaltiges den Anwendungsbedingungen der Kategorien, aber im ersten Beweisschritt ist noch nicht ausgemacht, ob die Mannigfaltigkeit dieser Einzelfälle selbst den Anwendungsbedingungen der Kategorien genügt. Dies, so könnte man vermuten, wird dann im zweiten Teil der Deduktion mit dem Hinweis darauf, daß alle diese Einzelfälle in der Zeit zusammenhängen, die Zeit aber als formale Anschauung Einheit hat, bewiesen. Ich weiß nicht, ob Sie eine solche Überlegung im Auge hatten. Eine solche Deutung der Differenz der beiden Beweisschritte ließe sich aber nicht mehr als eine Differenzierung des Umfangs der kategorial bestimmbaren Anschauungen darstellen. Sie scheint mir aber die Basis für eine echte Alternative zu Ihrer These von 1968, nach der Sie Herrn Tuschling gefragt haben, zu bieten: Folgt man dieser Idee, so muß man erklären, was es im Unterschied dazu, daß das Mannigfaltige einer einzelnen Anschauung unter Kategorien steht, für diese Anschauung selbst bedeutet, daß sie als Element einer Mannigfaltigkeit von

6

Vgl. dazu Henrich: Die Identität des Subjekts in der tr. Deduktion. Manuskript 1981 S. 33 ff. (Punkt 9 und 10).

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Einzelfällen unter Kategorien steht. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich, wenn man beachtet, daß man in zweierlei Sinn davon reden kann, daß Anschauungen den Anwendungsbedingungen der Kategorien genügen. Die schwächere Lesart lautet: Hinsichtlich jedes Mannigfaltigen, das mir in einer gegebenen Anschauung präsent ist, kann ein Wesen, das Selbstbewußtsein hat, dadurch, daß es das Mannigfaltige in die Form eines Urteils bringt, ein Objekt denken. Es handelt sich dabei nur darum, daß das in der Anschauung Gegebene in die Form eines Gedankens gebracht werden kann und der erste Teil der Deduktion besteht in dem Nachweis, daß dies, was immer mir auch in der Anschauung gegeben sein mag, möglich ist. Und es wird weiterhin gezeigt, daß diese Gedanken nur möglich sind durch Anwendung der Kategorien. Damit aber ist noch nicht behauptet, daß ein solcher (problematischer) Gedanke auch mögliche Wahrheit hat; daß ich also durch diesen Gedanken ein Objekt der Anschauung erkenne. Die Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen markiert die Differenz der beiden Beweisschritte. Wenn ich auf diese Tafel schaue, dann ist mir ein Mannigfaltiges der Anschauung gegeben. Im ersten Teil der Deduktion wird nun gezeigt: wann immer mir ein solches Mannigfaltiges gegeben ist und wie immer es beschaffen sein mag, ich kann mir dazu einen Gegenstand denken, indem ich das Gegebene in die Form eines Urteils bringe und z . B . sage: „Da ist eine Tafel" oder „die Tafel ist grün". Mit diesem problematischen Gedanken gebe ich sozusagen eine Deutung meiner Anschauung. Aber es ist evident, daß mit dieser Fähigkeit, Objektgedanken zu denken, noch keineswegs garantiert ist, daß es zu jeder Anschauung einen Gedanken gibt, der auch wahr ist. Denn die Wahrheit der Deutung (ζ. B. dies ist eine Tafel) hängt nicht allein von dem Einzelfall ab, von dem sie ausging, sondern bezieht sich auf viele mögliche Einzelfälle. Die Wahrheit ζ. B. der Aussage „da ist eine Tafel" impliziert, daß ich zusätzliche Wahrnehmungen machen kann - z.B. daß, wenn ich mich jetzt umdrehe, dann wieder dort hinschaue, ich wieder eine Tafel sehen werde. Die Wahrheit solcher Gedanken impliziert also mehr als die bloße Möglichkeit, sie zu denken; und man sieht an dem Beispiel, daß diese über das Gegebene hinausgehenden Geltungsansprüche mit der Anwendung der Kategorien zusammenhängt (in diesem Falle der Substanzkategorie und dem mit ihr verbundenen Schema der Beharrlichkeit). Aus der Möglichkeit, solche Gedanken zu denken, folgt also keineswegs schon ihre mögliche Wahrheit, d.h. die

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Möglichkeit, durch diese Gedanken Gegenstände zu erkennen. Und eben dies ist die Aufgabe des zweiten Teils der transzendentalen Deduktion, nämlich zu zeigen, daß die mir gegebenen Einzelfälle empirischer Anschauung untereinander so verbunden werden können, daß Erkenntnis von Objekten möglich ist. Dies wäre ein Gegenvorschlag zu der Erklärung mit Hilfe der Umfangsrestriktion. D i e t e r HENRICH:

Ein Wort zu dem Gegenvorschlag zunächst: Der hat ja ganz sicher eine noch viel schwächere Textbasis als meiner, nämlich gar keine (Allgemeine Heiterkeit) und kann nur aus moderneren Überlegungen aufgebaut werden, obgleich ich die Strategie, die Sie anwenden, nämlich nun nach einer Zweiteilung des Geltungsbeweises auf andere Weise zu suchen, ganz richtig und interessant finde; sie geht jedenfalls auf den Kernpunkt des Problems. Ich glaube nur, daß sie vom Text nicht getragen werden kann; ebensowenig aber, und das ist noch wesentlicher, von dem Gefüge der Gedanken, die Kant über den Zusammenhang von Urteil zu Objektbegriff und Erkenntnisbegriff entwickelt hat. Es ist nicht möglich, von Urteilen auf der Ebene der ersten Hälfte der Deduktion zu sprechen, die nicht im Vollsinn als Erkenntnis gelten könnten. Und genau diese These stellen Sie auf, obwohl Sie sie nicht hervorheben wollen. Bernhard THÖLE:

Einige Hinweise zur Textbasis: in § 2 2 wird im ersten Satz die Differenz der beiden Beweisschritte mit Hilfe der Unterscheidung Denken - Erkennen markiert: „Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei." (B 146) Es muß nun noch gezeigt werden, daß diesem Gedanken von einem Objekt eine „korrespondierende Anschauung" gegeben werden kann, es muß also gezeigt werden, daß es sich nicht nur um „einen Gedanken der Form nach" handelt, sondern um einen solchen, der sich mit Inhalt füllen läßt (B 146). Es gibt einen systematischen Grund für Kant dafür, die Zweiteilung in dieser Weise durchzuführen: Kurz nach der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" ist ja die „Kritik der praktischen Vernunft" erschienen. Dort findet sich eine Stelle, die auf den Motivationshinter-

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grund für diese Zweiteilung hinweist. Es geht dort um das Problem: wie ist der implizite Gebrauch der Kategorien, der ja in der Verwendung der Ideen in der praktischen Philosophie steckt, möglich, obwohl es sich dabei um Gegenstände handelt, die nicht Gegenstände der Erfahrung sind.7 Es muß erklärt werden, wieso ein Gebrauch der Kategorien von Gegenständen, die nicht Gegenstände der Erfahrung sind, möglich ist, so daß durch diesen Gebrauch der Kategorien gleichwohl keine Erkenntnis dieser Gegenstände zustande kommt. Das ist das hinter der Zweiteilung stehende systematische Motiv (vgl. auch §21). Es muß also die universelle Brauchbarkeit der Kategorien in einem Sinn begründet werden, der schwächer ist als der Erkenntnisgtbrauch und die Möglichkeit von den Kategorien in diesem schwachen Sinne Gebrauch zu machen, wird im ersten Teil der Deduktion erklärt. Das kommt auch ganz gut heraus am Anfang des § 24, in dem gesagt wird, daß die reinen Verstandesbegriffe als solche „bloße Gedankenformen, wodurch noch kein bestimmter Gegenstand erkannt wird" sind. Der erste Teil erklärt nur die Möglichkeit einer intellektualen Synthesis, d.h. eben die Möglichkeit, zu jeder Anschauung durch die Kategorie ein Objekt zu denken. Dann erst ist zu zeigen, unter welchen Bedingungen ein solcher Gedanke als Erkenntnis gelten kann. Dies geschieht mit Hilfe der Theorie der Selbstaffektion. Schließlich wird im § 2 6 gezeigt, daß ein Großteil der uns gegebenen Anschauungen diese Bedingungen wirklich erfüllt. Und dies geschieht durch eine Überlegung zur Möglichkeit der Integration solcher Anschauungen (Wahrnehmungen) in eine einheitliche Vorstellung von Raum und Zeit. 8 D i e t e r HENRICH:

Es ist schon interessant zu sehen, daß Sie wirklich vom Grundsatzkapitel her die Problematik aufrollen. Insofern ist alles, was Sie sagen, ganz konsistent. Aber ich halte es für nicht durchführbar, weder als Textexegese noch als Kant-Rekonstruktion, und zwar schon allein deshalb, weil Einheit der Apperzeption notwendige Einheit der Apperzeption ist. Die Weise, in der diese Einheit sich von vornherein definiert, ist

7 8

Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe Band 5, S. 53 f. Eine Skizze des Arguments gebe ich in „Die Beweisstruktur der tr. Deduktion in der 2. Auflage der ,Kritik der reinen Vernunft".

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nicht die irgendwelcher Gedanken, irgendwelcher möglicher Gedanken, sondern die Einheit derjenigen Gedanken, die kraft der Bezogenheit aufeinander, die sie allesamt haben, hinsichtlich eines jeden Gedankens, der der notwendigen Einheit der Apperzeption wirklich untersteht, die Objektivität ergibt und definiert. Wir können nicht zunächst Denken gewinnen und hinterher Erkenntnis. Gültigkeit der Kategorien definiert Erkenntnis. Allerdings: so wie wir zur vollen Artikulation von §26 eine Theorie benötigen über das Verhältnis von Wahrnehmung und Gegenstand, die Kant nicht liefert, so brauchen wir für die erste Hälfte eine Theorie über das Verhältnis von Denken und Erkenntnis. Im übrigen kann, natürlich, nicht bestritten werden, daß die erste Hälfte der Deduktion in der Erkenntnis das thematisiert, was Gedanke ist. Und dies ist gewiß nicht alles, was wirkliche Erkenntnis konstituiert. Doch der Begriff in der Erkenntnis ist keineswegs bloßer Begriff, wie immer nach der ersten Hälfte verstehbar wird, wieso es leere Begriffe geben kann. Ich habe in meinem zweiten Ihnen vorliegenden Papier auch etwas über das Verhältnis von Denken zu Erkennen nach dem Konzept von Kants Deduktionskapitel gesagt.9 Wir haben jedoch keine Aussicht auf eine mögliche Theorie des Denkens diesseits einer Theorie der Erkenntnis, und das gar noch in einem Text, der einzig die transzendentale Einheit der Apperzeption zu seinem Prinzip hat. M a r i e RISCHMÜLLER:

Ich will die Lesart von Herrn Thöle verstärken, die die Zweiteilung des Gültigkeitsbeweises der reinen Verstandesbegriffe in der Deduktion zeigt. Nachdem Sie noch einmal den § 16 ins Spiel gebracht haben, will ich jedoch davon ausgehen, daß man das Dunkel der Deduktion mit dem falschen Scheinwerfer aufzuhellen versucht, wenn man die Einheit der Apperzeption als den einzigen Dreh- und Angelpunkt ansieht, der in sich die einzigen Beweiselemente für das, was in der Deduktion passiert, enthält. Um das genauer zu sagen: Sie formulierten eben in etwa so, daß in der Einheit der Apperzeption der Gedanke und das Denken die objektive Gültigkeit gleich mit definiert. 9

Dieser Text wird in einem Band meiner Abhandlungen zu Kants theoretischer Philosophie publiziert, der in Vorbereitung ist.

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Und ich meine: das geht doch eigentlich fundamental an dem vorbei, was für Kant das Problem ist, nämlich gerade zu beweisen, daß die Bedingungen unseres Denkens - Urteilsdefinition, metaphysische Deduktion, diese zwar notwendigen, aber doch subjektiven Bedingungen - objektive Gültigkeit haben. Das heißt eben, daß sie auf ein mannigfaltiges Gegebenes in unseren Anschauungen tatsächlich anwendbar sind. Was in der Deduktion geleistet werden muß, ist der Beweis dieser objektiven Gültigkeit; und die kann nicht allein aus der Einheit der Apperzeption geleistet werden, sondern sie muß - konsistenterweise - in zwei Schritten geleistet werden. Der erste Schritt ist in § § 2 0 / 2 1 wesentlich mit der Behauptung abgeschlossen, daß alle sinnlichen Anschauungen unter den Kategorien qua Einheitsfunktionen stehen. Nun läßt aber diese Bestimmung noch bestimmte Möglichkeiten offen, z . B . — wie Kant es in § 2 7 a u s d r ü c k t den Mittelweg des Crusius. Die Objektivität unseres Denkens könnte ja davon abhängig sein, daß in dem gegebenen Mannigfaltigen Strukturen vorhanden sind, die den subjektiven Bedingungen unseres Denkens entsprechen und so etwas wie eine prästabilierte Harmonie stattfindet. Die Objektivität unseres Denkens wäre also ein kontingentes Faktum, davon abhängig, daß wir äquivalente Strukturformen vorfinden. Diese Möglichkeit wird aber erst dann ausgeschlossen, wenn Kant zeigen kann, daß alles, was unseren Sinnen vorkommen kann, durch Raum und Zeit organisiert und strukturiert wird - durch die Spezifica unserer Anschauung; und, daß die Spezifik unserer Anschauung eine Einheitsleistung, eine Leistung des Verbindens, eine Spontaneität voraussetzt, eben die Synthesisleistung, die letztendlich wiederum auf die Apperzeption zurückgeführt werden kann. So schlagen wir den Bogen, daß dann tatsächlich behauptet werden kann: N u r unter diesen Bedingungen ist der allgemeine Erfahrungsgebrauch der Kategorien möglich.

D i e t e r HENRICH:

Ich weiß nicht, ob Sie es selber merken, daß die Problematik sich darauf zuspitzt: Was eigentlich ist ein Geltungsbeweis? Und was strebt Kant an unter diesem - allerdings von uns seinem Deduktionstext zugeordneten - Titel? Denn alles, was Sie sagen, ist ja ganz einleuchtend, - auch alles, was

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Herr Tuschling gesagt hat, ist einleuchtend. Es ist nur irrelevant, wenn man eine wohl bestimmte Definition von Gültigkeitsbeweis unterstellt. Wenn ich erstens beweise - und das geschieht in § 15 in Verbindung mit §16 - , daß alle Verbindung Verstandesleistung ist, und daß es deshalb keine Verbindung, die gegeben wird, für mich geben kann, wenn ich zweitens zeige, daß diese Verbindungsleistung einzig auf Grund der notwendigen Einheit der Apperzeption zustande kommt und daß sie eine hinreichende Definition für Erkenntnis ist, - und wenn ich dann drittens zeige - und das geschieht Ihrer Meinung nach in § 16 - in § 20 ist es unterstellt - , daß alles in der Sinnlichkeit gegebene Mannigfaltige zu einer solchen Synthesis gebracht werden kann, - dann habe ich einen vollständigen Geltungsbeweis, an dem überhaupt nichts zu deuteln ist. Ich habe zwar noch beliebig viele weitere Erkenntnisinteressen, die im Gesamtbereich transzendentaler Analysen zu befriedigen sind, aber nichts fehlt mehr zu einem Geltungsbeweis. Denn ich habe a. jede Möglichkeit, Verbindung auf etwas anderes als Apperzeption zurückzuführen, ausgeschlossen; ich habe b. Verbindung mit Erkenntnis identifiziert; und ich habe c. die allgemeine Zugänglichkeit des mir Gegebenen für solche Erkenntnis gesichert. Das ist aber der vollendete Geltungsbeweis. Reinhard B R A N D T (nebenbei): Es fehlen noch Raum und Zeit. Dieter H E N R I C H : Was immer ich noch einschieben muß, um mir zu erklären, wie die Erkenntnis, deren Möglichkeit gesichert ist, zustande kommt, der Geltungsbeweis wird durch nichts erweitert, er wird allenfalls durch Einsichten in den Erkenntnisapparat und dessen Zusammenhang komplementiert, die - für den Fall, daß ich den Beweis nicht verstehe oder daß ich Zweifel an seinen Prämissen habe - mir diese Zweifel vielleicht mindern oder beseitigen. Wenn ich aber einen strikten Begriff von Geltungsbeweis habe, so habe ich in Beziehung auf ihn keine Komplettierungsmöglichkeiten mehr, und deshalb meine ich heute, daß man wenn man Kants Text verstehen will - eben diesen Begriff von Geltungsbeweis nicht als den Programmpunkt ansehen darf, der den Aufbau des Ganzen dieses Textes determiniert.

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Das war das Grundsätzliche, was ich sagen wollte. Aber damit habe ich noch nicht gesagt, wie der Text als ganzer verständlich gemacht werden kann, ohne daß dabei der strikte Begriff von Geltungsbeweis verschwommen gemacht wird. F r a n z HESPE:

Ich habe ein Problem mit Ihren Ausführungen über die Verschiebung der Beweislage von § 16 zu §20. Sie behaupten, Kant glaube, im § 1 6 sozusagen in einer Eins-zu-Eins-Relation die Beziehung des Bewußtseins zu der Mannigfaltigkeit der Anschauung überhaupt begründet zu haben. Nun geht Kant doch in § 1 6 von einzelnen Fällen empirischer Vorstellungen aus, die als einzelne empirische Fälle von dem Bewußtsein, daß es meine Gedanken sind, begleitet werden können. Von diesen einzelnen empirischen Vorstellungen sagt er dann, daß sie als meine Gedankeninhalte gefaßt werden können, setze voraus, daß sie synthetisiert sind. Von daher liegt dann auch der Schluß nahe: Diese Synthesis der einzelnen empirischen Fälle nach Begriffen erlaubt erst so etwas wie Objektbegriffe. Und genau das ist im Prinzip auch das, was er in der Anmerkung zu §21 sagt, daß das Gegebensein eines Gegenstands jederzeit voraussetzt, daß er die Synthesis des Mannigfaltigen zu einer Anschauung ist. Daher kann man an dieser Stelle doch nicht davon ausgehen, daß hier schon zur Einheit gebrachte Anschauungen gegeben seien, auf die die Möglichkeit des Kategoriengebrauchs bis hierher noch restringiert sei, so daß man also im Grunde genommen sagen muß: Kant hat von § 16 bis § 20 doch das Problem, wie einzelne empirische Anschauungen zu einem Objektbegriff gebracht werden können. D i e t e r HENRICH:

Ja, was ich zu Anfang als eine Erklärung für das Wiederaufkommen einer Restriktionsproblematik in Kants Strategie angeführt hatte, das war vielleicht wirklich mißverständlich. Wenn man den § 16 gut analysiert, dann hat man auch diese Mannigfaltigkeit der „Ich denke "-Fälle. Ich habe das auch angemerkt, und im übrigen in meinem anderen Papier näher ausgeführt. Also, wenn man eine Analyse durchführt, dann sieht man auch den Zusammenhang. Eine Form des ,Ich denke'-viele Objektgedanken.

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Aber es ist ein Unterschied, ob ich sage: da ist ein Mannigfaltiges; das wird mit dem „Ich denke" begleitet, oder ob ich sage: Ich habe einen Begriff von einem bestimmten Objekt, für den ich auch noch eine Korrelatstruktur aufrufen kann: das Urteil, in dem ich dieses Objekt auffasse, hinsichtlich deren der Fall von „Ich denke" durch eine Spezifikation festgelegt ist in Beziehung auf andere von ihm abhebbare Fälle. Ich kann Urteile nicht so wie Mannigfaltiges zur Einheit bringen, sondern ich muß sie als für sich wohlbestimmte Fälle in jeder solchen Einheit erhalten. Und das ist es, was in § 17 neu aufgeboten wird. Ich habe nur erklären wollen, wieso es möglich ist, daß - auch in Kants Bewußtsein eine Problematik der Umfangsrestriktion wieder aufkommt, obgleich er meint — wie ich meine, übrigens zu unrecht - , daß er die allgemeine Zugänglichkeit des gegebenen Mannigfaltigen schon in § 16 gesichert hat. Wenn wir weiter davon ausgehen, daß Kant denkt, in § 16 habe er schon eine unrestringierte Zugänglichkeit gesichert - einfach aufgrund der Analyse, die auf der Bedeutung von „Meinigkeit" beruht - und wenn Sie mir weiter zugeben, daß das Problem Alle oder nicht alle in der Sequenz der §§21 bis 26 wieder aufkommt, dann muß man sich fragen, wie kann das Problem für Kant überhaupt wieder aufkommen? Beantworten läßt sie sich nur aus der sukzessiven Entfaltung der Problemlage im Deduktionsgang. Ich meine, daß die Anreicherung der Struktur, die für einen „Ich denke"-Fall erfüllt sein muß, durch den Objektbegriff und die Urteilsform das Wiederaufkommen der Problematik ermöglicht und erzwingt. Der globale Geltungsbeweis des § 16 hat in der nun durch diese Struktur bestimmten Problemlage keine Uberzeugungskraft, - von seinen inneren Schwächen und davon, daß er in § 16 nicht eindeutig artikuliert ist, einmal abgesehen. Das ist die eine Seite der Sache. Also, wenn Sie im Rahmen einer Rekonstruktion der trz. Deduktion als einer wohlformulierten Theorie im überlegten Aufbau ihrer Schritte den Ansatz zu diesem Argument lokalisieren wollen, dann haben Sie vollkommen recht: dann ist er in § 16 enthalten - und zwar als Implikation des „Ich denke"-Gedankens, der selbst eine Pluralisierung verlangt: wir haben nicht nur einen Gedanken von aller Mannigfaltigkeit, also mit immenser Extension, sondern wir haben bestimmte Gedanken von bestimmten Mannigfaltigkeiten in Beziehung aufeinander. Wenn Sie die Interpretationsgeschichte kennen, dann wissen Sie ja, daß diese These, die ich mit Ihnen hinsichtlich § 16

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teile, keineswegs die geläufige Interpretationsthese ist; sondern da wird eben der „Ich denke"-Gedanke (das ist die neukantianische Interpretation dieses Gedankens) als eine Gedankenform in Beziehung auf alle Mannigfaltigkeit von vorneherein angesetzt. Man kann also diesen Paragraphen, wenn nur die Oberfläche seiner Textgestalt berücksichtigt wird, auch so lesen, daß der Ansatz, den wir beide sehen, gar nicht in den Blick kommt. Was nun den zweiten Aspekt anlangt, so müßten wir uns zu dieser doch sehr auffälligen - Wendung von §21, also der Anmerkung zur Anmerkung und zu dem „schon" (B 144) des Enthaltenseins von Einheit zurückbegeben. Ich will das jetzt nicht tun, weil wir etwas in Zeitknappheit geraten sind und uns vielleicht auf der Hauptlinie halten müssen, die mir jetzt die zu sein scheint: nicht so sehr Argumente für oder gegen Lesarten dieser bestimmten Textstelle zu erwägen, sondern die Frage zu behandeln: Wie überhaupt erhält man eine Argumentation, die auf der Grundlage eines klaren Gedankens von der Aufgabe eines Geltungsbeweises eine konsistente Zweiteilung der trz. Deduktion, die unstrittig im Text vorliegt, erlaubt und die dann auch die besondere Weise, in der sie gemacht wird, erklärt. Das scheint mir die Grundfrage zu sein, von der wir nicht abkommen sollten. H e l m u t SCHÄFER:

Ich möchte auch an die Differenz von § 16 und § 2 0 anschließen, die Ihnen vorgeworfen worden ist. Ich möchte an Sie die Frage stellen, Herr Henrich, ob man nicht aus dem, was Sie gesagt haben, die Konsequenz ziehen sollte, daß die Schwierigkeiten der Interpretation der trz. Deduktion im wesentlichen darin liegen, daß gegebenheitsûitoreûsôie Aspekte der Rekonstruktion mit erfahrungsobjekttheoretischen Konstitutionsproblemen in einer eigentümlichen Weise in der trz. Deduktion verschränkt werden. Ich möchte das an dem thematisierten Satz in § 2 0 exemplifizieren. Ich lese im Anschluß an diesen die Stelle vor, die bis jetzt noch nicht diskutiert worden ist, aber immer in der Diskussion angeklungen ist: „Also ist alles Mannigfaltige, sofern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen b e s t i m m t , . . . " - mir kommt es auf das Wörtchen „einer" eigentlich nicht an; vielleicht sind es auch alle Funktionen, aber das ist nicht mein Problem im Moment.

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Ich hätte keine Schwierigkeiten, wenn der Satz lauten würde: Also ist alles Mannigfaltige, sofern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, gegeben für eine mögliche Erfahrung, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen b e s t i m m t , . . . ; wenn das dabei stünde, dann hätte ich keine Probleme. So aber klingt der Satz gegebenheitstheoretisch und nicht - wie ich im Anfang sagte - erfahrungsobjektkonstituierend. Ich hätte dann eben keine Schwierigkeiten, wenn das da stünde; das würde aber eher - glaube ich - in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft stehen als in der zweiten. Meine Frage zielt also auf das Verhältnis von transzendentaler Apperzeption insgesamt und Kategorien. Sind in der Tat die Kategorien die Weisen allein, in denen Einheit gestiftet wird? Kann sich nicht die Apperzeption auf Funktionen der Synthesis beziehen, die nicht kategorial vollzogen werden? Hier sehe ich Vorteile in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", wo ja der Sache nach die Synthesis der Einbildungskraft: Apprehension in der Anschauung, Reproduktion in der Einbildung, Rekognition im Begriffe angesprochen wird, also eine Sphäre - wenn man das mal mit Husserl ausdrücken würde - der passiven Synthesis durch untere intellektive Akte. Und es kommt jetzt hier in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die ganze Diskussion um die Einbildungskraft erst in den §§ 24 bis 26, so daß sich von daher eine Verschiebung in der Fragestellung ergibt und eine Verunklärung der beiden Aspekte: Gegebenheitstheorie / Seite der passiven Synthesis - Erfahrungsobjektkonstitution, kategorial vollzogen / und im Gefolge davon: Erfahrungsbegründung/Naturbegriff; das letztere ist eigentlich ja das Thema der trz. Deduktion. - Wenn Heidegger vorschlägt, einen ganzen Teil der Diskussion um trz. Deduktion in die trz. Ästhetik oder in eine genuine Sphäre der Wahrnehmungstheorie zurückzunehmen und sie von der Erfahrungsobjektkonstitution zu trennen, dann leuchtete mir diese Interpretation eher ein, als wenn man jetzt die ganze Zeit so tut, als sei das dasselbe, wenn man gegebenheitstheoretisch argumentiert und wenn man erfahrungsobjektkonstituierend redet. Und wenn Frau Rischmüller sagte: Es geht um die Anwendung der Kategorien auf das gegebene Mannigfaltige, dann muß ich dazu bemerken: so steht das ja bei Kant auch hier (in der zweiten Auflage) nicht, sondern es geht um das gegebene Mannigfaltige, insofern es gedacht wird, insofern es ein Gegenstand der Erfahrung ist. Dann wenden wir

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die Kategorien an. Dieser kategorialen Anwendung aber könnten in der Tat - und das hat Kant in der ersten Auflage exemplifiziert - Funktionen der Synthesis vorangehen, die nicht kategorialer Natur sind, die aber gleichwohl unter der transzendentalen Apperzeption stehen. N u r muß die transzendentale Apperzeption nicht unbedingt in der Weise von Kategorien vollzogen werden, sondern sie kann sich auf Funktionen der Synthesis beziehen, die nicht kategorial sind.

D i e t e r HENRICH:

Das ist ein sehr interessantes Thema, das übrigens mit dem, was Herr Thöle früher aufbrachte, in direktem Zusammenhang steht, nämlich über das Problem: in welcher Weise lassen sich Wahrnehmungen und Erkenntnis qua Synthesisleistungen voneinander unterscheiden und auf den gemeinsamen Einheitsgrund der Apperzeption beziehen. Ich bin nicht sicher, ob die erste Auflage dazu etwas Erhellendes und Differenzmarkierendes gegenüber der zweiten einbringt; denn dort wird ja nun auch behauptet, was in der zweiten gleichfalls durchgängig behauptet, wenn auch nicht in eine Theorie entwickelt ist, daß die Wahrnehmung so in Beziehung auf Einheit der Apperzeption zustandekommt, daß sie in Beziehung auf deren Status als Einheitsprinzip zustandekommt; und mit dem Gedanken der Apperzeption qua Einheit ist der Gedanke der Kategorialität bei Kant notwendig verbunden. Daraus entsteht dann die Schwierigkeit bei der Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erfahrungs-Urteilen in den Prolegomena, die in der zweiten Auflage der Deduktion weggefallen ist und durch eine gleichfalls unbefriedigende Theorie ersetzt worden ist. Sie weisen darauf hin: Wie kann die Wahrnehmung selbst schon Synthesis sein, ohne bereits unter Kategorien zu stehen. Und wenn es zu schwierig erscheint, dieses zu denken, dann ist die komplementäre Schwierigkeit die Folge, die darin besteht, daß man sich fragen muß: Wie kann die Wahrnehmung schon den Kategorien unterstehen und etwas anderes sein als Erkenntnis? Das ist Ihre Problemlage, und ich würde sehr gerne in sie eintreten. Das können wir nicht tun, weil ich ganz sicher bin, daß sie a. eine sehr komplizierte, intrikate Problemlage ist und daß b. Kant in ihr keine hinreichend expliziten Theorievorschläge erarbeitet hat.

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Man muß ihm einen solchen Theorievorschlag abringen - wohlgemerkt dem, was er selbst wirklich zu sagen hat. Man kann das, aber dazu muß man selbständig argumentieren, während wir ja bei einem Thema sind, das zwar auch selbständige Argumentation verlangt, das aber eine starke Basis im Text hat und das eine Textauslegung verlangt. Deshalb - mit allem Respekt für das, was Sie vortragen - halte ich es für schwer, unser ziemlich genau umzirkeltes Problem (man müßte einen Problemkatalog haben, der all das, was in der trz. Deduktion zu erörtern ist, zunächst einmal aufführt und unterscheidet) jetzt mit Ihrer Fragestellung zusammen zu diskutieren, weil Ihr Problem doch wegzieht von dem, was wir hier wirklich erläutern können. - Ich meine, es ist wahr, daß die innere Formierung von Wahrnehmung in der zweiten Hälfte der Deduktion Thema ist. Es ist aber auch wahr, daß Kant schon in der ersten Hälfte der trz. Apperzeption zuschreibt, dafür verantwortlich zu sein, daß in einer gegebenen empirischen Anschauung Einheit ist. Das heißt: es ist nicht so, daß wir der ersten Hälfte der Deduktion die intellektuelle Seite' in Isolation gegen Wahrnehmung zuordnen könnten. Das geht deshalb nicht, weil die intellektuelle Seite - und das ist definitorisch für Kants Position - den Sachverhalt der Wahrnehmung umgreift. Das sagen Sie ja auch. So ist da keine Differenz zwischen uns. Nur bleibt die Frage: Was hilft uns die Einsicht darein, daß hier bei Kant ein Problem bleibt, bei der Beurteilung der Problem- und Theorie-Situation der transzendentalen Deduktion und ihrer verschiedenen Schritte?

Konrad C R A M E R : Noch einmal etwas zur Stützung dieser Auffassung: Nachdem Kant in §21 erklärt hat, was in §26 bewiesen werden soll, weist er ausdrücklich darauf hin, daß die Differenz zwischen dem Gegebensem und dem Gemachtsein von Vorstellungen eine Voraussetzung ist, von der schon der erste Schritt der transzendentalen Deduktion nicht abstrahieren konnte. Es heißt: „Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber, bleibt hier unbestimmt." (B 145, Hvh. v. K. C.) Es kann also in gar keinem Fall Beweisprogramm eines zweiten Schrittes der Deduktion sein, jetzt noch einmal auf die

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Gegebenheit eines Mannigfaltigen der Anschauung als solche eingehen zu wollen. Damit ist freilich eine weitere Interpretationsschwierigkeit bezeichnet. Sie ergibt sich näher, wenn man in Rücksicht zieht, was Kant selber in §21 als Beweisziel des §26 angibt. Es heißt dort: „In der Folge (§26) wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben wird, gezeigt werden, daß die Einheit derselben keine andere sei, als welche die Kategorie nach dem vorigen § 20 dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt, und dadurch also, daß ihre Gültigkeit a priori in Ansehung aller Gegenstände unserer Sinne erklärt wird, die Absicht der Deduktion allererst völlig erreicht werden." (B 144 f., Hvh. v. K . C . ) Wenn nun gilt, daß mit §20 schon folgendes bewiesen ist: (1) Alle Verbindung geht entweder direkt oder indirekt (durch Begriffe) auf gegebene Vorstellungen einer hinnehmenden Anschauung überhaupt (2) Alle Verbindung eines Mannigfaltigen derart gegebener Vorstellungen ist Vorstellung der synthetischen Einheit dieses Mannigfaltigen (3) Alle Vorstellung der synthetischen Einheit eines Mannigfaltigen derart gegebener Vorstellungen im Bewußtsein seines Verbundenseins ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft mit Bezug auf derart gegebene Vorstellungen, d. h. die Vorstellung einer Einheit, die nicht in der Anschauung selber gegeben, sondern erzeugt und durch Kategorien vorgestellt wird dann ist mit §20 aber auch schon bewiesen, daß die Einheit der empirischen Anschauung unter Berücksichtigung der Art, wie diese in unserer Sinnlichkeit gegeben ist, keine andere als eben diejenige Einheit sein kann, die in ein Mannigfaltiges der Anschauung überhaupt (wenn diese nur sinnlich und nicht intellektuell ist) durch dessen Beziehung auf die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption kommt und auf keine andere Weise kommen kann. Dann ist, anders gewendet, mit § 20 schon mitbewiesen, daß die Einheit der uns in den spezifischen Formen unserer ektypischen Sinnlichkeit gegebenen empirischen Anschauung keine andere als diejenige sein kann, welche die Kategorien nach §20 einer gegebenen Anschauung überhaupt für einen ektypischen Verstand vorschreiben. Denn nach (3) gilt dann, daß die Einheit der uns in unserer Sinnlichkeit gegebenen empirischen Anschauung keine andere Einheit

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sein kann, weil keine Einheit eines gegebenen Mannigfaltigen einer auf hinnehmende Anschauung bezogenen Sinnlichkeit eine andere als kategoriale Einheit sein kann. Es kann dann also gerade aufgrund des Resultats des §20 und seiner von Kant explizit namhaft gemachten Voraussetzung gar kein sinnvolles Programm sein, an einer späteren Stelle noch nachweisen zu wollen, daß die Einheit der uns in den Formen von Raum und Zeit gegebenen empirischen Anschauung unter den Kategorien steht. Da nun - und das war seinerzeit Herrn Henrichs Ausgangspunkt die Auffassung, im zweiten Schritt der Deduktion gehe es nur mehr um die Aufklärung des „wie", ganz unbefriedigend ist, entsteht die Frage: Was eigentlich ist dann in §26 überhaupt noch zu beweisen? Mir scheint, daß Herrn Henrichs Rekonstruktionsvorschlag diese Frage besser beantworten kann als der von Herrn Wagner. Nach Herrn Henrich soll der zweite Schritt in dem einen „Daß"-Beweis weder beweisen, daß die Einheit unserer empirischen Anschauung kategoriale Einheit ist, noch beweisen, daß ein erkennendes Wesen von der Art, wie wir es sind, ein des Bewußtseins seiner selbst mächtiges Wesen sein können muß, sondern beweisen, daß nichts, was ein Mannigfaltiges unserer sinnlichen Anschauung ist, nicht unter den Kategorien steht. Erst dieser Beweisschritt garantiert, daß nichts, „was unseren Sinnen nur vorkommen mag" (B 160) außerhalb eines kognitiven Zusammenhanges stehen kann, der Erfahrung von Objekten in Raum und Zeit genannt wird. (Und daher, so kann ergänzt werden, garantiert auch erst dieser Beweisschritt, daß der einheitliche Verlauf einer solchen Erfahrung nicht durch subjektive Zuständlichkeiten unterbrochen wird, in denen etwas vorgestellt wird, was sich ihm prinzipiell nicht fügt. Es scheint mir eine der erwünschten systematischen Pointen eines solchen Nachweises zu sein, daß er verstehbar macht, daß das Ich - um es so auszudrücken keine prinzipiellen Pausen macht, sondern gerade und nur im Bewußtsein der prinzipiell garantierten Objektivierbarkeit der ihm in den Formen von Raum und Zeit präsentierten Vorstellungsinhalte das Bewußtsein seiner Identität mit bezug auf diese durchhält.) Schaut man nun auf den Text des § 26 selber, so tritt sofort eine neue Schwierigkeit auf. (Daß sie auftritt, ist nach dem soeben Entwickelten nur erwartbar und nachgerade begrüßenswert.) Die Frage ist nämlich, ob das, was in §26 wirklich entwickelt wird, überhaupt mit dem identisch ist, was in §21 als Beweisprogramm von §26 vorgestellt

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Dieter Henrich u. a.

wurde. In § 26 heißt es : „Jetzt soll die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände, die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen, und zwar nicht der Form ihrer Anschauung, sondern den Gesetzen ihrer Verbindung nach, a priori zu erkennen, also der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben und sie sogar möglich zu machen, erklärt werden. Denn ohne diese ihre Tauglichkeit würde nicht erhellen" - und jetzt folgt das meines Erachtens Entscheidende - „wie alles, was unseren Sinnen nur vorkommen mag, unter den Gesetzen stehen müsse, die a priori aus dem Verstände allein entspringen." ( B 1 5 9 f . , die letzte Hvh. von mir) Ich will es mit diesem Hinweis bewenden lassen und ihn nicht weiter ausführen. Herr Henrich hat das in dieser entscheidenden Passage auftretende „Wie" konsequent als ein „Wieso" interpretiert. Herr Tuschling muß, wenn er seine Interpretationsthese halten will, meines Erachtens wenigstens einräumen: das „wie alles"'muß man zumindestens auch noch als ein „daß alles" lesen - das „wie alles" wäre hier zu wenig. Man kann dann zugestehen, daß in dem „Daß-alles"-Beweis auch ein „Wie-alles"-Beweis enthalten ist. Denn in jenem Beweis muß auf denjenigen Einheitssinn rekurriert werden, der den für unsere Sinnlichkeit spezifischen Anschauungsformen von Raum und Zeit als thematisierbaren Gegenständen eignet. Erst so wird es möglich darzutun, daß etwa der Begriff der Kausalität sein für uns faßliches epistemisches Applikationsfeld exklusiv an Veränderungen als Weisen der Sukzession von Zuständen an etwas Beharrlichem hat. Das führt allerdings zu dem weiteren Problem, wie sich das Argumentationspotential des § 2 6 zum Schematismus und zu den Grundsätzen verhält. Die über die angedeuteten Fragen hinausgehende Frage ist jedoch, ob Kant nicht für jedes der Interpretationsprogramme, die hier zur Diskussion stehen, zu viel sagt, wenn er sagte: „Jetzt soll die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände . . . a priori zu erkennen, . . . erklärt werden." (B 159) Was heißt das eigentlich: Die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori zu erklären? Das ist ja wohl doch eine sinnvolle Frage. D i e t e r HENRICH:

Ja, jetzt ist es wohl an der Zeit, etwas zu erzählen. (Allgemeines Gelächter): Neue Forschungsergebnisse, - die aber nichts mit meinem zweiten Papier zu tun haben, das Sie erhielten. Herrn Cramers Verdeut-

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lichungen zur Interpretation des Textes, sofern er Geltungsbeweis ist, stimme ich ebenso zu wie seiner Schlußfrage: Wir müssen verstehen, was ,Erklären' im Zusammenhang der Deduktion ist. Mir scheint, daß aber auch unsere Schwierigkeiten bei der Strukturanalyse der transzendentalen Deduktion mit der Frage nach der Definition der Aufgabe der Deduktion zusammenhängt. Was soll in der Deduktion geschehen? Was ist überhaupt eine Deduktion ? - Und ich kann nur versichern, daß - von mir her gesehen - der gravierendste Fehler meiner Arbeit von 1968 der ist, daß ich damals nicht wußte, was eine Deduktion ist - für Kant. Das ist wohl eine läßliche Sünde, da niemand das aufgeklärt oder auch nur gefragt hatte. Das hängt nun aber auch mit unserer Diskussionslage zusammen; deshalb will ich auch jetzt über den wahren Deduktionssinn berichten. Herr Cramer gibt mir dazu die Gelegenheit, weil an das, was er sagte, man die Verdeutlichung der Aporie in unserer bisherigen Problemlage anschließen kann: Sie ergibt sich dann, wenn man keine Klarheit über das Programm der trz. Deduktion hat. In unserer Diskussion scheint durchgängig dies vorausgesetzt: Eine Deduktion muß eine Schlußfolgerung sein, die Prämissen und eine Konklusion hat, und als eine trz. Deduktion der Kategorien muß es sich um eine solche syllogistisch aufbaubare Schlußfolgerung handeln, in deren Schlußsatz steht, daß die Kategorien Geltung haben und daß diese Geltung eine in Hinsicht auf unsere Sinnlichkeit uneingeschränkte ist. Das ist ein „deduktiver" Schluß nach dem Prinzip ,deduktiver' Logik auch noch für uns - : Prämissen, Folgerungsregeln des wahrheitserhaltenden Schließens und die Schlußfolgerung - das ist die Deduktion. Die Deduktion ist dort abgeschlossen, qua Deduktion, wo diese Schlußfolgerung erreicht ist. Alles, was darüber hinaus von der Deduktion noch erbracht wurde, ist, wie Kant selbst sagt, nur „verdienstlich"10. Die Aufgabe eines jeden Interpreten, der diese Vorstellung von der Aufgabe einer Deduktion und dem, was die trz. Deduktion ist, hat, ist notwendigerweise dann die, a. zu zeigen: Wo ist die Schlußfolgerung der trz. Deduktion - der Sache nach und im Text - nach diesem Beweisprogramm erreicht und 10

In der Generalanmerkung zu „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft", Akad. Ausg. Bd. IV, S.474, Z.32.

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b. dann alles, was nach dieser Schlußfolgerung noch kommt, als einen verdienstlichen Nachtrag oder als eine variierende Wiederholung desselben Arguments oder als ein anderes, ergänzendes Argument (als Nachschub, als theoretischen overkill sozusagen) zu interpretieren. Wenn man diesen Begriff von Deduktion hat, den ich eben dargestellt habe, - und wir alle haben ihn heute zugrundegelegt, als wir über die Beweisstruktur der trz. Deduktion argumentierten - folgt meines Erachtens unabwendbar die Zwangslage, in der wir uns befinden; und ich bin nach wie vor der Meinung, daß es aus dieser Zwangslage keinen anderen Ausweg gibt als den, den ich 1968 - durchaus auf verschiedenen Ebenen kritisierbar - vorgeschlagen habe, nämlich die Umfangsrestriktion im ersten Schritt. Wenn die trz.,Deduktion' dieser syllogistische Gültigkeitsbeweis ist — so, wie ich ihn eben vorgetragen habe: dann ist sie dort vollendet, wo die Schlußfolgerung feststeht. Ganz egal, wie diese Schlußfolgerung zu einer Theorie der Erfahrung ausgefüllt werden muß - die Deduktion ist vollendet, d. h. der Nachweis, daß die Kategorien gültig sind, ist vollendet. Wenn man so denkt, dann bleibt einem gar keine andere Strategie, als zu sagen: ja, es ist im §20 noch nicht die Gültigkeit der Kategorien für alles gegebene Mannigfaltige unter Beweis gestellt. Eine Einschränkung im Kern dessen, was eine trz. Deduktion ist, wird aufgehoben in § 26. Es gibt - glaube ich — keine andere Strategie, und sie hat auch ihre Textbasen. Ich glaube weiterhin, daß die Strategie auch in Kants Textgenerierung hineinspielt und eine der Formationsbedingungen dieses Textes ausmacht - aber dennoch meine Damen und Herren - die Prämisse ist falsch; die trz. Deduktion ist etwas anderes als eine solche Schlußfolgerung. Wenn die trz. Deduktion in zwei Hälften geteilt wird, so nicht in Beziehung auf den beschriebenen deduktiven Beweis. Um es ganz paradox zu sagen: Die trz.,Deduktion' ist nicht als deduktive Schlußfolgerung definiert. Das ist etwas, was mir ganz allmählich klargeworden ist, weil ich mit meiner eigenen Strategie als einer den Text durchgängig aufschlüsselnden auch nicht zufrieden war. Sie schien mir unabweisbar und sie schien mir stützbar, aber sie schien mir doch auch angreifbar zu sein. Was macht man aber, wenn sie doch der einzige Ausweg ist? Herr Brandt hat uns gestern einiges sehr interessante Philologische

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Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

aus der Geschichte vor der „Kritik der reinen Vernunft" erzählt: vielleicht erlauben Sie mir nun, Ihnen für ein paar Minuten etwas über den historischen Hintergrund des „Deduktions"-Begriffs zu erzählen. Kants Deduktion beginnt so: „Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist, (quid juris) von der, die die Tatsache angeht, (quid facti) und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den ersteren, der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die D e d u k t i o n " (B 116); „Rechtsanspruch dart u n " : das ist die Deduktion. W a r u m geht Kant auf dieses juristische Exempel ein? Ich habe immer gedacht; bei den Juristen muß wohl ein terminologischer Gebrauch vorliegen, der eine syllologische Schlußfolgerung, die zur Konklusion die Rechtfertigung einer Befugnis hat, definitorisch festlegt und von der genetischen Herleitung unterscheidet. Dem

ist nicht

so!

Kant kannte die juristische Literatur; und deren definitorische Festlegung von „ D e d u k t i o n " ist eine andere. Das geht weit auf die frühe Entwicklung des deutschen Rechtes zurück, w o in den rechtlichen Streitigkeiten zwischen Territorialfürstentümern vor allem - es waren fast immer Erbstreitigkeiten oder Vertragsstreitigkeiten, also staatsrechtliche Streitigkeiten, die sozusagen eine privatrechtliche K o m p o n e n t e hatten oder privatrechtlicher Natur waren — eine Literaturgattung eingeführt wurde; das waren die

Deduktions-

Dieser Terminus ist schon im 1 7 . J h d . ganz geläufig. Es gibt

schriften.

deren Hunderte; es gab sogar eine Klasse von Juristen, die schriftsteller,

Deduktions-

die Deduktionen abfaßten, Deduktionsschriften, die dazu

dienten, in oder außerhalb des Gerichtshofes ( „ G e r i c h t s h o f der nunft".

Siehe Β 779 f.) die Legitimität

eines Anspruches

Ver-

darzutun, und

zwar so, daß der Streitfall entwickelt wird, die Grundlagen

für die

des Streitfalles angegeben werden (Urkunden,

genealogi-

Entscheidung

sche Stammbäume den Rechtsanspruch

usw.) und dann eine Argumentation geführt wird, die aus seinen Quellen

herleitet, aus seinem Ursprung.

Man muß auf die Quellen, auf den Ursprung zurückgehen, um zu zeigen, daß der Rechtsanspruch wirklich besteht. „ D e d u k t i o n " wird dann später - das ist sehr interessant - terminologisch ausdrücklich nicht mit „syllogistischem Beweis", sondern mit „Geschichtserzählung" parallel gesetzt, aber natürlich einer Geschichtserzählung, die nicht die quaestio facti betrifft, sondern die quaestio juris

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Dieter Henrich u. a.

insofern, als die Geschichte einer Erwerbung in nur den Aspekten, die rechtsrelevant sind, erzählt wird. Die Dokumente werden gezeigt, der Ablauf wird vorgetragen bis hin zum Ursprung des Rechtstitels, aus dessen Eigenart auch die Legitimität des Titels, die Gültigkeit des Rechtsanspruchs verdeutlicht wird. Im 18. Jahrhundert entstand dann eine systematische Literatur zur Rechtswissenschaft, die Rechtsmethodologie und Rechtssystematik. Da ist dann auch der „Deduktions"-Begriff untersucht worden. Hier in Marburg hat ein Jurist eine Dissertation über den Deduktionsbegriff geschrieben. (Kant hat sie freilich kaum gekannt.) Daß sie hier entstand, mag mit der wölfischen Tradition zusammenhängen. Wolff hatte in Marburg in einer Vorlesung die für sein System charakteristische Behandlungsweise der Rechtstheorie entwickelt und damit die Grundlagen für die Rechtsschule gelegt, die er ins Dasein gebracht hat. Auch in den konkurrierenden rechtstheoretischen Schulen, vor allem in Göttingen, ist eine methodologische Literatur über die Deduktion entstanden: Darüber, wie eine Deduktionsschrift abzufassen sein, - Was eigentlich eine Deduktion ist, etc. etc. Man kann nun zeigen, daß Kant von dieser methodologischen Literatur direkte Kenntnis hatte, und zwar aus Achenwall, nach dem Kant Naturrecht gelesen hat (aus dem ersten Band des Werkes; nur der zweite ist in der Akademie-Ausgabe abgedruckt, so daß man also die Belegstellen nicht so leicht in die Hand bekommt). Schon aus Wolffs eigener Begriffsbestimmung von ,Deduktion' im Jus Naturale ergibt sich die wichtige Eigenschaft einer Deduktion, daß sie nämlich dort zu liefern ist, wo ein Recht ein erworbenes Recht, also nicht angeboren ist.11 N u r hier gibt es Anlaß und Möglichkeit dazu, eine Deduktion zu führen, das heißt, eine Rückleitungsargumentation, die den Ursprung des Rechtsanspruchs namhaft macht - so, daß durch den Aufweis des Rechtsanspruches zugleich die Legitimität des Rechtsanspruches einleuchtet, was dann der Fall ist, wenn die Umstände des Erwerbs den dafür erforderlichen Bedingungen genügen. Die Deduktionsliteratur 11

Wolffs Naturrecht gab mir den ersten Hinweis darauf, daß eine Deduktionsliteratur und eine Literatur zum juristischen Deduktionssinn bestanden haben muß. Seine Definition habe ich zuerst in ,Die Deduktion des Sittengesetzes' (in: ,1m Schatten des Nihilismus', hsg. A. Schwan, Darmstadt 1975) herangezogen und ausführlicher in der japanischen Ausgabe dieser Abhandlung erläutert (in: ,Die Systemform der Philosophie Kants' japanisch, Tokyo 1978).

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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war Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem solchen Umfang angeschwollen, daß es Deduktionssammlungen gab, die als Preziosen versteigert wurden - so etwa wie Briefmarkensammlungen. Deduktionsschriften sind oft auch sehr schön und aufwendig gedruckt, da es sich eben meist um Streitfälle hochherrschaftlichen Interesses handelte. Wenn Sie viele solcher Deduktionsschriften lesen, dann geht Ihnen auf, daß Kant, wenn er von der Stammtafel der Begriffe des reinen Verstandes redet, er die genealogischen Tafeln der Deduktionsschriften vor Augen haben konnte (cf. A IX). Auch sie dienen der Legitimation von Besitzansprüchen durch Ursprungsnachweis. Dieser Zusammenhang ist durchschlagend erhellend für das Verständnis der Organisationsweise des Kantischen Textes. Die Kenntnis von ihm schafft auch für die Zuordnung der in ihm zusammengeführten Theoreme eine ganz neue Aussicht. Kants historische Situation in der philosophischen Theorie war doch die, daß er eine Begründungsmöglichkeit für Erkenntnisansprüche zu suchen hatte. Er überschaut das Methodenproblem. Das ist überhaupt seine Spezialität: Methodologie der Philosophie, Antwort auf die Frage nach dem der Philosophie gemäßen Verfahren (Sie erinnern die Preisschrift). Ohne Klarheit über ihr Verfahren bewegt sich die Philosophie im Dunkeln. Sie bewegt sich auch in Zirkeln und setzt immer voraus, was eigentlich zu begründen wäre. Der mos geometricus kann keine Rechtfertigung leisten, denn alles steckt schon in den Axiomen. Das heißt aber schon: Ist der letzte Begründungsgang die Deduktion, so kann sie nicht wesentlich syllogistische Begründung sein. Die empiristische Rückleitung - Locke, mit der Humeschen Variante - helfen auch nicht, denn so ergibt sich keine Gültigkeitsbegründung für die Begriffe und keine Abgrenzung von Geltungssphären gegenüber Sphären leerer Ansprüche. Die Universale Charakteristik ist auch tautologisch, was Geltungsansprüche anlangt, denn auch in ihr müssen die Begriffe als legitim und die Kombinationsregeln als gegeben vorausgesetzt werden. Das aber heißt: Wir haben überhaupt keine Methodologie für die Philosophie; wir können uns nicht an der Mathematik, wir können uns nicht an der Logik, wir können uns nicht an der Physik orientieren -für die Begründung von Erkenntnisansprüchen. Eine Katastrophenlage sozusagen, in der sich das Problem einer Kritik der reinen Vernunft so formulieren läßt: Wir müssen die Vernunft als solche kritisieren, aber mit welchem Verfahren? Und da kommt in Kant diese Idee auf: das juristi-

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sehe gibt uns ein Modell, denn gerade in ihm werden Rechtsansprüche begründet - und zwar nicht im juristischen Begründungsverfahren ganz allgemein, sondern dort, wo die Rechtsansprüche Ansprüche auf den Gebrauch erworbener Güter sind (im Falle der Erkenntnis : der Begriffe a priori). Wie wird das aber gemacht? Nun, da gibt es nun das Modell der Deduktion. Eine Deduktion weist den Ursprung reiner Erkenntnisse auf und ist damit auch imstande, den Umfang und die Grenzen der Legitimität der Ansprüche aufzuzeigen, die mit ihnen zu verbinden sind. Insofern dieser die Begründung nach Prinzipien und verschafft in einem mit der Legitimität die Verständlichkeit des Besitzes solcher Erkenntnisse. Es ließe sich nun viel sagen über den Zusammenhang zwischen der juristischen Metaphorik, welche die gesamte „Kritik" samt der transzendentalen Deduktion durchzieht, mit den Verfahrensweisen und der Terminologie der juristischen Deduktionsliteratur. Ich werde das in der Abhandlung tun, für die die Materialien schon zusammengetragen sind12. Für Kant war der Hintergrund, vor dem er seine transzendentale Deduktion aufbaute, noch juristische Trivialkenntnis, die er auch bei seinen Lesern unterstellte. Die transzendentale Deduktion IST geradezu als eine Deduktionsschrift im juristischen Sinne aufzufassen, nur sinngerecht übertragen auf die Problemlage der Philosophie. Aber die Rechtstradition der Deduktionsschriften war schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Auslaufen. Schon Kants Schüler waren somit nicht mehr selbstverständlich mit ihr vertraut. Heute wissen selbst die angesehensten Institute, deren Aufgabenbereich die Geschichte des Rechts ist, nichts mehr über sie zu berichten, - so das Max Planck Institut für Rechtsgeschichte und die Harvard Law School, die ich vergeblich befragte, obwohl die Literatur bis zum 18. Jahrhundert einen gewaltigen Umfang hat. So erklärt sich, daß die Verfassung von Kants Deduktionstexten, um die sich inzwischen eine Literatur von ebenfalls erheblichem Umfang bemüht hat, eigentlich unverständlich bleiben mußte. Das halte ich für eine durchschlagende philologische Beweisführung. Sie verdeutlicht die Gründe für die Schwierigkeiten, in denen sich auch unsere Diskussion befand. Sie ergibt auch eine Kritik an meiner eigenen 1!

Auch diese Abhandlung wird in dem Band meiner Untersuchungen zu Kants theoretischer Philosophie erscheinen, der in Vorbereitung ist.

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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Argumentation von 1968. Wiederum kann ich die Konsequenzen nur kurz anzeigen: Der Aufbau der Deduktion in zwei Schritten muß von einem anderen und weiter ausgreifenden Ansatz her verstanden werden. So sehr es notwendig ist, daß sich im Verband des Textes ein Geltungsbeweis finden muß, der zugleich den Umfang der Geltung der Kategorien bestimmt, so sehr dieser Beweis auch eine syllogistische Form muß annehmen können, es ist nicht die Form dieses Beweises, der das Modell für den Aufbau der transzendentalen Deduktion im Ganzen enthält und der die Struktur des Textes insgesamt generiert und beherrscht. Sie ist von einem ganz anderen Modell her artikuliert, - eben vom Modell einer Deduktionsschrift. U n d dies ist das Modell einer Herleitung aus einem ersten Ursprung Schritt um Schritt, so daß - über den ganzen Erbgang, über die Transmission der Rechtstitel in der Vernunft, am Ende die uneingeschränkte Gültigkeit der Kategorien für den möglichen Bereich ihrer Legitimität deutlich gemacht und in diesem Sinne (Herr Cramer fragte danach) ,erklärt' ist. Diese Herleitung geschieht nach einer eigenen und eigentümlichen Form von Argumentation, die weder die des syllogistischen Beweises ist noch mit Patons Aufklärung der ,subjective machinery' etwas zu tun hat. Sie ermöglicht das für die Kritik charakteristische Begründungsverfahren, von dem Kant sagen würde: Was immer es selbst ist und möglich macht, - für die Grundfragen der Philosophie haben wir kein anderes und gewiß kein besseres. Es wird wichtig sein, nach der Aufklärung des historischen Hintergrundes dieses Verfahrens eine Analyse des deduzierenden Argumentierens in Gang zu bringen. Ebenfalls muß die Art der Verfugung von Teiltheorien in der transzendentalen Deduktion, also ihre komplexe Argumentationsstruktur theoretisch aufgeklärt werden. In Beziehung auf das Problem unserer Diskussion wird dabei zu zeigen sein, wie der Geltungsbeweis, als Beweis der Geltung der Kategorien für alles Gegebene ohne Einschränkung, in den Aufweis der Herkunft ihrer Geltungsansprüche aus deren Ursprung, der synthetischen Einheit der Apperzeption und ihrer cartesianischen Gewißheit eingefügt ist. Der Umstand, daß Kant den Aufweis des Ursprungs für die eigentliche Deduktion hält, daß aber die unumschränkte Geltung der Kategorien für Gegebenes im Rahmen dieses Aufweises sicherzustellen ist, kann den Assoziationsgang verständlich machen, der dem Text seine verwirrende Form gegeben hat. Er macht ebenso verständlich, warum Kant Mängel in der Deutlichkeit

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und im Aufbau der Schrittfolge nur des Geltungsbeweises nicht ebenso gravierend erscheinen mußten, wie sie uns dann erscheinen müssen, wenn wir die Textstruktur der Deduktion im wesentlichen an die Beweisstruktur des Geltungsbeweises gebunden sehen. Aus dem Gang unseres Gesprächs ergibt sich sicher auch für Sie Klarheit über das G e w i c h t dieser Perspektive für die Interpretation des Textes der Kritik und über den Grad von Kompliziertheit, in den diese Interpretation w o h l geraten muß. R e i n h a r d BRANDT:

J a , herzlichen D a n k . Wenn mir erlaubt ist, dazu gerade noch eine F u ß n o t e zu machen: Dieser Begriff des Umfanges, Ursprungs

der

Erkenntnis

der Grenze

L o c k e wird eben diese Trias von Begriffen für den Second Government

und des

wird bei Kant aus L o c k e zitiert; und bei Treatise

of

gewählt. Das heißt: Das Ganze ist ein politisches Pro-

gramm; ich würde Ihre Ausführungen damit ergänzen, daß hier nicht nur das Privatrechtliche der Deduktion von Besitzverhältnissen, sondern auch das Problem der Herrschaft eine Rolle spielt. D i e t e r HENRICH:

Also, für die juristische Definition des „Deduktions"-Sinnes ist dieser Zusammenhang allein entscheidend, und wenn H e r r s c h a f t . . . R e i n h a r d BRANDT:

J a , ja, sicher, aber es ist im Gesamtkonzept der „Kritik der reinen V e r n u n f t " , die ich sehr stark auch in die gleiche Richtung interpretieren möchte wie Sie, wie es mit ihrer Interpretation wenigstens kompatibel ist, - würde ich sagen - entscheidend: politisch-rechtlichen

Problemlage

das Gesamtkonzept

einer

letztlich

der Legitimität der Behauptung von

Notwendigkeit von etwas, was als solches gar keine Notwendigkeit hat, nämlich

Erfahrung.

Rainer WOLFF:

Ich würde gerne noch einmal auf eine inhaltliche Sache zurückkommen. H e r r Henrich, Sie haben darauf hingewiesen, daß in der Anmerkung zu § 2 1 die Einheit der Anschauung als Beweisgrund bezeichnet wird. Ihre eigene Position verstehe ich so, daß Sie sagen, in § 26 ist die

Einheit der formalen Anschauung von Raum und Zeit Beweisgrund. Sie

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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bezeichnen das als Faktum. Man könnte das als Faktum im wörtlichen Sinne nehmen: nicht als Datum, sondern als Faktum, als gemachte Vorstellung; Sie haben auch gesagt: die Einheit bei Raum und Zeit geht auf den Verstand zurück. Ich glaube, man muß sich noch viel genauer ansehen, was es eigentlich heißt, die Einheit von Raum und Zeit als Beweisgrund heranzuziehen. Es hängt nämlich sehr viel daran. Erstens, wenn man sich die Α-Deduktion ansieht, wird bei der Behandlung von Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption jeweils darauf hingewiesen, daß sie in ihren reinen Formen notwendig sind, um überhaupt die Synthesis von Raum und Zeit, die synthetische Einheit von Raum und Zeit zustandezubringen (Siehe: A 99 ff.; A 1 0 7 ) . Es hängt also sehr viel daran; nicht nur die Apprehension, sondern auch die produktive Einbildungskraft — das war vorhin schon (für den zweiten Β e weis schritt) eingebracht worden, es läßt sich also gut damit verbinden - und dann auch die begriffliche Einheit. Und ich finde, man müßte also diese Sache, daß es sozusagen ein Faktum ist - jetzt in dem anderen Sinne, nicht nur Datum, auf seine Konsequenzen viel weiter untersuchen. Man kann insofern jetzt sagen, die Einheit bei Raum und Zeit ist ein Faktum. Damit kann die Deduktion eventuell abgeschlossen werden. Die Perspektive, die sich damit ergibt - und ich weiß nicht, wie weit sie sich ergibt - , daß man zweitens die Grundsätze als abhängig davon verstehen kann. In der B-Auflage wird ja immer wieder damit argumentiert, daß sich die Zeit für sich gar nicht wahrnehmen läßt - aber sie soll ja bestimmt vorgestellt werden. Und so hängt an der Vorstellung der Zeit z . B . die schematisierte Kategorie der Kausalität: man braucht Regeln für die Vorstellungsfolge im inneren Sinn, sonst läßt sich keine objektive Zeitfolge bestimmen. Also, wenn Sie an dieser Behauptung festhalten, daß die Einheit bei Raum und Zeit als Faktum, als gemachte Vorstellung Beweisgrund ist, dann müßte man das noch viel mehr ausloten. D i e t e r HENRICH:

Das ist völlig zutreffend. Ich habe gar nichts hinzuzufügen. Die Weise, in der Raum und Zeit als einer Einheit unterliegend und eine Einheit darstellend in Anspruch genommen werden, ist unbedingt der Entwicklung bedürftig und ist in vieler Beziehung auch mißverständlich. Von Kant selbst ist auch hier eine ganze Reihe von Mißverständnissen

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nahegelegt worden, die dann auch das Problem - wie Sie richtig sagen der Anschlußfindung für das Grundsatzkapitel an die Deduktion aufwerfen. Also - um nur ein Beispiel zu bringen - man darf sich nicht vorstellen, daß die Einheit von Raum und Zeit, die am Ende der trz. Deduktion das Gemeinte ist, der an einer Wandtafel über Projektion rekonstruierbare Raum der euklidischen Geometrie bzw. der entsprechenden basalen Kinematik ist. Die Einheit von Raum und Zeit muß von vorneherein in Beziehung auf Wahrnehmung und zugleich auf eine Perspektive, die Wahrnehmung notwendigerweise übersteigt, gedacht werden. Das Ziehen einer Linie, das (im Anschluß an Euklid natürlich) für Kant Evidenz und Exempel zugleich ist, ist nicht etwa so zu denken wie der Akt des Erzeugens der Zeit an der Tafel, der selbst nur eine in vielem unpassende Erläuterung ist. Dieser Akt entspricht der synthetischen Erzeugung der Einheit der Zeit in Beziehung auf alles (auch räumlich) Gegebene, greift also in die dreidimensionale Welt der Objekte ursprünglich aus. Es gibt da die weitere, hier aber nicht zentrale Schwierigkeit, daß man nicht weiß, wo ein Einsatzpunkt für dieses ,Ziehen', wo also das Zentrum ihres Koordinatensystems zu setzen wäre. Aber nehmen wir einmal an, wir könnten das transzendentale Subjekt ursprünglich in die Zeit versetzen, so daß es von vornherein an einem Zeitpunkt steht, - dann muß der konstruktive Vorgriff über die Gegenstände der Einen Zeit, welche die Linie in ihrer Genese nur symbolisiert, so beschaffen sein, daß er zugleich die Möglichkeit einschließt, die Zeit in Beziehung auf alle Gegebenheit gedanklich zu beherrschen. Insofern ist der konstruktive Vorgriff von vornherein rückbezogen auf zeitliche Mannigfaltigkeit, die auch räumliche Mannigfaltigkeit ist, und zwar zunächst auf eine jeweils partiale, begrenzte, so daß eine einzelne Wahrnehmung mit ihr einhergeht, - aber von vornherein rückbezogen so, daß der Gedanke der Einheit der Zeit die Lokalisierung dieser raumzeitlichen Gegebenheiten, die in sich selbst noch nicht auf die Einheit der Zeit in wohl bestimmter Weise bezogen sind, in der Einheit der Einen Zeit erlaubt, welche insofern nicht Wahrnehmungszeit, sondern Objektzeit ist. Uber diese Linienführung des Arguments hat man dann in den Raum-Zeit-Einheitssinn auch die Differenz von Wahrnehmung und Erfahrung von vornherein untergebracht. Das ist so von Kants Text nicht abzulesen. Aber doch erläutere ich

Diskussion: Beweisstruktur d. trsz. Deduktion

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nur, was Sie gesagt haben, von einem Gesichtspunkt aus, der Kants Text durchaus zuzuschreiben und sicher Kants Gedanken zuzumuten ist. U n d man muß die Theorieskizze, die §26 gibt, so lesen, wenn sich nichts Triviales ergeben und wenn in ihm der Anschluß zum Grundsatzkapitel gedanklich gewonnen werden soll. - Wenn ich dies noch anfügen darf: Ich erinnere mich gut an die Semester, die ich in Marburg studiert habe. U n d ich bin dankbar für das, was ich - besonders von Klaus Reich - damals gelernt habe, zu dessen Ehren ja auch die Einladung zu dieser Veranstaltung ursprünglich gemeint war. Schon während meines ersten Semesters in der Philosophie ging es mir nicht ein - ich erinnere mich, daß Reich das aber immer sagte - , daß das wirkliche Ende in der Begründung der transzendentalen Deduktion wohl doch schon mit der Begründung der Geltung der Quantitätskategorien einträte. U m Raum und Zeit so zu bestimmen, wie das im Ziehen der Linie nach der einfachen, geometrischen, gedanklich nicht vertieften Vorstellung geschieht, brauche ich ja nicht die Kategorien von Substanz und Kausalität, und so bleibt deren Rechtfertigung also durch Kant dubios. Wenn wir aber da schon enden müßten, dann hätten wir eine um alles Wesentliche amputierte Deduktion. Sie greift dann nicht gegen Hume. U n d so dachte ich mir immer, daß die These nicht stimmen kann, - daß die Analyse von Kants Gedankenführung schon im Ansatz tiefer gehen muß. Und andererseits scheint doch der Text nicht mehr plausibel zu machen als daß Synthesis als Erzeugung der Zeit eine Operation ist, die nur die Quantitäten des Gegebenen betrifft. Nun, eben versuchte ich zu umreißen, auf welche Weise die Analyse wirklich tiefer angesetzt werden kann. Dazu muß man den ursprünglichen Akt der Synthesis von vornherein in eine klare Beziehung zur Entstehung des Objektsinnes von Anschauungen setzen. Und gleichzeitig damit muß man den Zusammenhang mit einer kantischen Wahrnehmungstheorie herstellen, deren Ansatzpunkt ihrerseits (wie wir schon sahen) nicht leicht zu verdeutlichen ist. U n d erst dann kommt man in kontrollierter Schrittfolge zu dem Gedanken, den Kant im Grundsatzkapitel durchgängig in Anspruch nimmt: „Die Zeit selbst kann nicht wahrgenommen werden". (B219) Der geht ja für Kant lückenlos zusammen mit dem Gedanken, daß sie aber dennoch ein Gegenstand der Anschauung ist. Daß Kant so denkt, liegt auf der Hand. In welchem Zusammenhang aber diese Gedanken als Teile einer Theorie möglich sind, kann sich dem Versuch zu verstehen auf lange entziehen.

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Dieter Henrich u. a.

Insofern ist die Folgerung, die Klaus Reich seinerzeit zog, so naheliegend wie nur möglich; und dennoch nicht tolerabel. Die ganze Anstrengung der Deduktion erwiese sich nämlich angesichts des mageren Resultats als unangemessener Aufwand. Hessisch wäre er so zu kommentieren (Er spricht in Dialekt): „et eß jo fast zoum Lache, em su e kejtche Wurscht su-η grüß Gedäts ze mache!"13 Wenn's nur dahin geht, ist's nirgends hin gegangen. Zu diesem Problembereich muß man also auch noch eine Arbeit schreiben, die gibt's nicht einmal im Ansatz. Herr Thöle ist da aber schon tätig. Es ist dies eines der Themen, wo man wirklich noch entscheidend Weiterführendes zu Kants Theorie auszudenken und im Text auszuweisen hat. Es gibt da auch einen Zusammenhang mit den konstruktiven Protophysikern, die ich hier im Raum sehe und die ja auch auf ähnlicher Wellenlänge denken. - Nur: Es war für die kantische Position durchaus charakteristisch, daß die Einheit schon der Zeit selbst die Doppelung in eine nur durch Kategorien faßbare, aber als solche in Anschauung ausweisbare Struktur auf der einen Seite und eine offene Menge räumlicher und zeitlicher Gegebenheit in Wahrnehmungen auf der anderen Seite einschließt, wobei die Struktur der Raum-Zeitlichkeit, sofern sie gedacht und in Anschauungen darstellbar ist, selbst die hinreichende Garantie für die Integration der Partial-Räume und -Zeiten in die Einheit der Raum-Zeit auswerfen muß. Sind aber die Einheit von Raum und Zeit in der transzendentalen Deduktion so gedacht und begründet, dann eben braucht man alle Kategorien, um diese Einheit denken zu können, - nicht nur die der Quantität.

" Etwa so zu übersetzen: Es ist ja fast zum Lachen, um so ein Fetzchen W u r s t so ein großes Getöse zu machen. Vgl. ,Mir lache als', erste Sammlung, Verlag E. Roth, Gießen 1934, S. 76 - Diese Quelle für oft wiederholten Spaß in meiner Marburger Kindheit sei allen Marburgern empfohlen.

GERD BUCHDAHL

(Cambridge)

Zum Verhältnis von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonderer metaphysischer Naturwissenschaft bei Kant

I.

Transzendentale Argumente, ihre Natur und verschiedenen Arten, sind seit kurzem wieder erneut zur Diskussion gestellt worden. Hier wollen wir nicht versuchen, Resultate vorzutragen. Statt dessen werden wir uns darauf beschränken, Kants eigene Fassung, oder Fassungen, einer irischen Untersuchung zu unterziehen. Was man sich vor allem erst einmal klar machen muß - und wovon man bisher vielleicht noch nicht genug Notiz genommen hat - ist die Tatsache, daß Kant sich selbst schon verschiedener Sorten von transzendentalen Argumenten bedient. O b diesen nun auch verschiedene Grade von Uberzeugungskraft entsprechen, sei vorläufig dahingestellt; auch ob ihnen gewisse Mängel anhängen. All das wird sich vielleicht im folgenden von selbst herausstellen. Es ist für uns eine besonders wichtige Aufgabe, Kants verschiedene transzendentale (oder quasi-transzendentale) Argumente zu entwickeln, weil deren Verständnis - wie wir sehen werden - eine notwendige Bedingung auch für eine richtige Einsicht in Kants Absichten in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (im folgenden als MA zitiert) ist, mit welchen sich dieser Aufsatz vor allem beschäftigen soll. U m uns der verschiedenen Typen des Transzendentalen innerhalb der kantischen Wissenschaftslehre bewußt zu werden, wollen wir zuerst auf gewisse Einzelheiten hinweisen, durch die Kant eine ,Logik der Bewertung' wissenschaftlicher Theorien selbst formuliert hat. Diese Logik besitzt eine dreiwertige Struktur 1 , welcher drei ganz verschiedene 1

Die dreiwertige Struktur habe ich zum ersten Mal eingeführt in meinem Aufsatz, „History of Science and Criteria of Choice", Roger H . Stuewer (ed.), Historical and Philosophical Perspectives of Science (Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 1970), 204-30; s. besonders Sn. 226-27. Weiterhin auch in meinem „Neo-transcendental

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Gebiete, in denen Kant seine transzendentale Stellungnahme entwickelt hat, entsprechen: das Gebiet der „Natur überhaupt", das der „besonderen (körperlichen) Natur" (469-70) 2 , und letztlich, das Gebiet der „Ordnung der Natur". 3 Viel zu häufig werden die transzendentalen Elemente, welche in diese verschiedenen Gebiete hineinspielen, miteinander verwechselt; man stellt sich vor, Überlegungen, die zum Problem der Möglichkeit - oder der ,Ontologie' (wie ich das nennen will) - der Natur überhaupt gehören, bezögen sich statt dessen auf Kants Erörterungen zur theoretischen Naturwissenschaft; oder sogar auf Erörterungen zur speziellen Newtonschen Physik. Sollte dieser Aufsatz sonst keine Resultate erzielen, so ist unsere Hoffnung doch wenigstens, die verschiedenen Gebiete um die es sich hier handelt, schärfer voneinander unterschieden zu haben, als dies in vielen einschlägigen Kommentaren zu Kants Philosophie bisher geschehen zu sein scheint. In seiner Einführung zur Logik (X, Ak. Ausg., ix, Sn. 85-86), wo Kant über die logische Natur der Hypothese etwas vorträgt, führt er an, daß die Geltungsfähigkeit einer Hypothese nicht bloß von einer Gruppe von Kriterien, sondern zusätzlich noch von zwei weiteren Gruppen abhängt. Was die erste Gruppe betrifft, so bestimmt sie (in Kants Worten) die induktive „Wahrscheinlichkeit" einer Hypothese; wo wir es vor allem mit dem empirischen, d. h. experimentellen und Beobachtungsmaterial zu tun haben. U m mit einer späteren Periode zu reden, handelt es sich hier also um eine Art des wissenschaftlichen Schließens, wie man sie z . B . in J . S t . Mills Logik findet. Statt an die Millschen Methoden könnte man natürlich auch an modernere Fassungen denken, wie z . B . die Confirmation Theory', oder die Bayesische Statistik, oder die Falsifikationsmethode von Karl Popper, usw. Nun ist es aber in der Zwischenzeit klar geworden, daß es sich bei der Betrachtung von wissenschaftlichen Theorien noch um mehr als eine

2

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approaches towards scientific theory appraisal", in D. H. Mellor (ed.), Science Belief and Behaviour (Cambridge: Camb. Univ. Pr., 1980), 1-21; s. besonders S. 4. Schließlich in meinem „Reduction-Realization: A key to the Structure of Kant's Thought", in: J. N. Mohanty & R. W. Shahan (eds.), Essays on Kant's Critique of Pure Reason (Norman: Oklahoma Univ. Press, 1982), 39-98. Seitenzahlen beziehen sich auf Bd. iv der Akad. Ausg., Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Sn. 465-565. Vgl. KrV: A 6 9 7 / B 719 für diesen Ausdruck.

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bloß empirische Beweismethode handelt. Erstens finden sich in einer jeden entwickelten Theorie eine Anzahl theoretischer Ausdrücke', die zu sehr verschiedenen Graden mit der Beobachtungszone zusammenhängen. Zweitens stellt eine solche Theorie ein System logisch-verbundener „empirischer Gesetze" (um Kants Ausdruck dafür zu benutzen) dar. Zwischen diesen beiden Seiten besteht weiterhin eine gewisse Wechselwirkung. Einige zeitgenössische instrumentalistisch eingestellte Wissenschaftsphilosophen (Hempel usw.), von der Tatsache beeindruckt, daß die theoretische Seite der Forschung nur sehr mittelbar mit der Beobachtungszone zusammenfällt, sehen die Aufgabe der theoretischen Elemente fast ausschließlich darin, die Systematik der Theorie selbst zustande zu bringen, während sie ihnen andererseits jede Wirklichkeit' absprechen. Dagegen sind mehr ,realistisch' eingestellte Philosophen, z.B. die der Duhem-Quineschen Schule angehören, der Ansicht, daß das Wesen aller wissenschaftlichen Begriffe (ob nahe oder weit von der Beobachtungszone entfernt) von der Stellung abhängt, die sie innerhalb des ,Netzes' einnehmen, welches eine Theorie ausmacht. (,Realistisch' bedeutet hier, daß nach Meinung dieser Philosophen kein scharfer Unterschied zwischen Beobachtung und Theorie zu machen ist.) Nach beiden Anschauungen hängt also die Bedeutung eines jeden Wissenschaftsbegriffes - selbst wenn er sich relativ eng an Beobachtungstatsachen anzuschließen scheint - von der mit ihm verbundenen Theorie ab. Und hier ist es interessant, daß Kant, obwohl er in einer gewissen Hinsicht (wie unten noch zu zeigen sein wird) eine ziemlich instrumentalistisch ausgerichtete Einstellung vertritt, auch schon Bemerkungen macht, die ihn in die Nähe Quines bringen. So bemerkt er einmal in der Kritik der Urteilskraft (Erste Einleitung): die [empirischen] Prinzipien, wornach wir Versuche anstellen, müssen immer selbst aus der Kenntniß der Natur, mithin aus der Theorie, hergenommen werden. (Ak. Α., xx, 199)

Solche Bemerkungen, die die Aufmerksamkeit auf die absolut zentrale Stellung der Systematik der Wissenschaft lenken, führen uns denn auf ganz natürliche Weise zu dem zweiten Kriterium, von dem laut Kants Logik die Geltungsfähigkeit einer Theorie oder Hypothese weiterhin noch abhängt: sie muß soweit wie möglich einen hohen Grad systematischer „Einheit" besitzen, etwas - so wollen wir sagen - daß ihre ,Vernünftigkeit' bestimmt. Auf dieses Kriterium werde ich noch zurückkommen. (Technische Einzelheiten habe ich schon an anderem

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Orte ausführlicher besprochen.)4 Vorerst wollen wir uns kurz dem dritten Kriterium zuwenden, welchem laut Kant eine jede Hypothese (und besonders eine von theoretischer Art) genügeleisten muß, und welches eine Eigenschaft bestimmt, die ich ihre Verständlichkeit' nennen will. (Siehe dazu das beigefügte Schema.) In Kants Sprechweise bedeutet dies, daß die Zulässigkeit einer Hypothese oder eines hypothetischen Begriffs zuallererst eines Beweises ihrer „Möglichkeit" (natürlich ihrer „realen" nicht nur ihrer „logischen") bedarf. In diesem Zusammenhang ist das Beispiel, welches Kant in der Logik an dieser Stelle gibt, sehr interessant. (A. a. O., S. 85) Sollte man, sagt er, „zur Erklärung der Erdbeben und Vulkane ein unterirdisches Feuer annehmen, so muß ein solches Feuer doch möglich sein", und man muß annehmen können - was hier nach Kants Ansicht der zeitgenössischen geologischen Forschung natürlich prinzipiell erlaubt ist - die Erde sei ein „hitziger Körper". - Dagegen (fährt Kant fort), würde (wie das einige frühere Wissenschaftler getan haben) zur Erklärung gewisser anderer Erscheinungen angenommen, die Erde sei ein Tier, „in welchem die Zirkulation der inneren Säfte die Wärme bewirke", dann würde eine solche Hypothese unzulässig sein; sie würde sozusagen einen ,Kategorienfehler' begehen; sie wäre eine bloße Erdichtung, weil sie eben nichts Mögliches ausdrückt.5 Richtig verstanden, haben wir hier schon ein Indiz dafür, was Kant unter „Möglichkeit" in einem solchen Zusammenhange versteht. Eine zulässige Hypothese, so erscheint es, muß mit den Grundsätzen einer in Frage stehenden Wissenschaft, und mit ihren damit verbundenen Begriffen und Beobachtungen in enger Ubereinstimmung stehen. Denken wir das durch, so sehen wir schon jetzt, daß die Möglichkeitsbedingung weiterhin die Forderung mit sich bringt, daß eine Hypothese prinzipiell mit der Gesamtstruktur der Erfahrung übereinstimmen muß; wenigstens, so weit dies zur Ausarbeitung eines gegebenen Wissenschaftsbereiches benötigt wird. So auch in dem obigen Beispiel: wollte man die Erde als ein Tier betrachten, d.h. gewissermaßen als etwas lebendiges 4

5

Siehe z . B . mein Metaphysics and the Philosophy of Science (Oxford: Blackwell, 1969), ch. 8, sect, iv (c), Sn. 495-530. Für diesen Punkt, vgl. besonders KrV: A 770/B 798, wo es der „Einbildungskraft" erst „unter der strengen Aufsicht der Vernunft", d. h. dem Beweis „der Möglichkeit des Gegenstandes selbst" zufolge, erlaubt ist, „Hypothesen" als „Erklärungsgründe" aufzustellen.

Allg. Metaphysik d. Natur u. besondere met. Naturwissenschaft Methodologische

Komponenten

der wissenschaftlichen

(Eine kantische

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Theorienbewertung

Formulierung)

Konstitutivkomponente bestimmt Empirisches Beweisgewicht

bestimmt

I

Auslegungskompon ente (Besondere Ontologie) bestimmt

ι

Verständlichkeit („Möglichkeit")

Begriffsauslegung (gelegentlich: ,Metaphysische Grundlagen'), zu irgend einem „hardcore" oder Begriffsschema führend. Bestimmung der ontologischen Bedeutung von Erklärungsbegriffen und Prinzipien

Vemünftigkeit („Einheit")

Systematische Gliederung; „consilience of inductions"; sozial-historisch verstandene Dynamik von „Forschungsprogrammen", mit intertheoretischen Beziehungen und Hintergrundsinformation zusammenhängend Plausibilität. Bestimmt durch heuristische Maximen, Prinzipien und Ideen (traditionell oft als etwas «metaphysisches' aufgefaßt, oder auch als etwas .regulatives'). Z . B . Einfachkeit, Sparsamkeit; Kontinuität oder Diskontinuität; Gleichartigkeit, Varietät, Affinität; Analogie; Erhaltung; Symmetrie oder Assymetrie, usw. Bevorzugte Erklärungsarten, z. B. kausale oder aetiologische (mechanistische) gegenüber teleologischen; phänotypische (macro oder beschreibende), sich auf Oberflächenstruktur beziehend, gegenüber genotypischen (micro oder erklärende), sich auf Innenstruktur beziehend

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oder beseeltes - so will Kant zu verstehen geben - dann würde dies mit Grundsätzen - physischen sowohl als auch metaphysischen - in Konflikt kommen, die einer Wissenschaft wie der Geologie zu Grunde liegen. So verbietet schon - wie Kant in den MA ausdrücklich erwähnt - das Trägheitsprinzip der Newtonschen Physik jede „hylozoistische" Einstellung, sowohl in der Physik selbst als auch in ihren Nachbargebieten, also auch in der Geologie.6 In der Logik geht Kant nun auf dieses Kriterium nicht näher ein. Statt dessen begnügt er sich mit einer kurzen Besprechung des Kriteriums der systematischen Einheit. Interessanter ist jedoch hier seine Forderung, daß die Bestimmung der Möglichkeit (sowohl als der Einheit) „gewiß sein" müsse. Dieser Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Gewißheit wird nun durchgehender in der Vorrede zu MA besprochen. Eine wissenschaftliche Disziplin, im eigentlichen Sinn dieses Wortes (so schreibt Kant), muß „apodiktisch-gewisse" Prinzipien bei sich führen; will sagen, die „Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, [müssen] a priori erkannt werden, und nicht bloße Erfahrungsgesetze" sein (468). Nun heißt aber (fährt Kant fort), „etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen" (470); wo dieses im vorstehenden Falle bedeutet, daß es sich um Begriffe handelt, die entweder „konstruiert" werden oder doch zumindest als notwendige Daten zu einer Konstruktion7 führen können (wie in dem Falle von Grundkräften); was dann weiter noch die Bedingungen benötigt, mit deren Hilfe solche Konstruktionen' durchgeführt werden, d.h. das System der Kategorien.

II. Auf einige Einzelheiten werden wir im folgenden noch eingehen. Vorerst aber möchte ich die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen „Möglichkeit" und dem „a priori" richten - eines der Zentral6

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M A , K a p . 3 , „Mechanik", Lehrsatz 3, Anmerkung zum Beweis: „ . . . d e r Tod aller Naturphilosophie wäre der H y l o z o i s m " (544). Die Bemerkung bezieht sich auf die Bedeutung des Trägheitsgesetzes für die „Naturphilosophie". M A : 4 9 8 ; s. auch 4 6 9 - 7 0 für die Beziehung zwischen „Konstruktion" und „Mathematik", als Bedingung für den „reinen Teil" jeder „eigentlichen Naturwissenschaft". W i r werden unten noch darauf zurückkommen.

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themen der ersten Kritik, deren Gegenstand Kant in MA als den „transzendentalen" - manchmal auch „allgemeinen" - Teil der „Metaphysik der Natur" bezeichnet; d.h. den Teil „welcher von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen" handelt (469); wo mit dem Ausdruck „Gesetz" hier natürlich die allgemeinen „Grundsätze des reinen Verstandes" in der KrV gemeint sind. Um mit den Worten von A158/B197 zu reden, handelt die „allgemeine Metaphysik" von den „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt", welche gleichzeitig auch die „Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" sind. Und hier sei darauf hingewiesen, daß in einem solchen Zusammenhang die „Bedingungen" der „Möglichkeit" von irgendetwas dabei gleichzeitig „objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori" bekommen (ebenda). (Dieser Parallelismus zwischen „Möglichkeit der Erfahrung" und „Gültigkeit ihrer Bedingungen" muß für das folgende unbedingt im Auge behalten werden.) 8 a) Hier wird es nützlich sein, einige dieser Grundsätze und der ihnen zugehörigen Kategorien einer wenn auch noch so kurzen Betrachtung zu unterziehen, um zu sehen, wie diese von Kant mit der „besonderen Metaphysik" der MA in Zusammenhang gebracht werden. Betrachten wir ζ. B. den ersten dieser Grundsätze, das „Prinzip der Axiome der Anschauung". In der Ästhetik hatte Kant gezeigt, daß, um zum Begriffe der Erfahrung zu gelangen, wir vorerst die beiden „modis der reinen Sinnlichkeit" (A82/B 108) einführen oder zugrunde legen müssen, welche als „Formen der Anschauung" der Räumlichkeit und Zeitlichkeit eines jeden „Dinges in der Erscheinung" (A 539/B 567) entsprechen. Um aber von da aus zu den vollständigen Begriffen von Raum und Zeit zu gelangen, d.h., nicht bloß als „Formen der Anschauung", sondern als „formalen Anschauungen" (B160n); nicht bloß als „unbestimmten", sondern als „Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder Zeit"

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Kant spricht natürlich durchwegs auch von „Möglichkeit", wo es sich in erster Linie um „Gültigkeit" handelt; insbesondere in bezug auf die Frage: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" (B 19). Aber die Antwort auf diese Frage ist eben, allgemein gesprochen, daß ihre Möglichkeit auf dem Beweis der „Gültigkeit" beruht, der sie als Bedingungen der „Möglichkeit der Erfahrung überhaupt" aufzeigt. Vgl. z.B., A 89-90/ Β 122: „...objektive Gültigkeit [der Kategorien], d.i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis...". Aber vgl. auch Bxxviii, wo Kant von den Bedingungen spricht die man benötigt, um einem Begriff von einem Gegenstand „objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit...) beizulegen".

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(Β 202),' müssen wir weiterhin noch einen „Aktus der Spontaneität" (B130), der zum Verstände gehört, hinzuziehen; worunter im vorstehenden Falle die Einheit der Synthese, in Ubereinstimmung mit dem Schema der Größe, oder genauer gesagt, der Zahl, zu verstehen ist; eine „Vorstellung", die „die sukzessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt" (A 142/B 182) - worunter im besonderen Falle des Raumes eine „sukzessive Synthesis (von Teil zu Teil) in der Apprehension" (A 163/B204) zu verstehen ist, wie ζ. B. das Ziehen einer Linie, durch welches eine solche erst ein möglicher Gegenstand der Erkenntnis werden kann, ein „Ziehen", das nur in Ubereinstimmung mit der Einheit des vorliegenden Begriffes zu verstehen ist. (Vgl. Β 202 f., Β 137) Die Erkenntnis eines Gegenstandes in einem bestimmten Raum, als eine extensive Größe, setzt also eine sukzessive Synthese a piori, deren Einheit sich mittels des dazugehörigen Kategorienbegriffes (oder Schemas) präzisiert, voraus. b) Eine ähnliche Darstellung läßt sich auch von dem zweiten Prinzip geben - dem der Antizipationen der Wahrnehmung, das für das Verständnis von Kants Überlegungen zu den Grundkräften besonders wichtig ist. Das Reale in der Wahrnehmung ist die Empfindung. Dieses Prinzip enthält nun nicht - wie in dem vorhergehenden Fall - als Voraussetzung eine sukzessive Synthese, sondern bloß ein Moment a priori, das mit Vergrößerung oder Verminderung von Empfindung zusammenhängt; und welches also nicht etwas extensives, sondern nur etwas intensives bedeutet (s. A 168/B209f.). Das Reale, oder der sinnliche Inhalt in jeder Wahrnehmung, besitzt also bloß „intensive Größe", d. h. nur „einen Grad" (wie die 2. Ausgabe das ausdrückt). Daß die Sinnlichkeit mit einer bestimmten Empfindung ausgestattet ist - dem „Empirischen" in der Anschauung - ist bloße Tatsache, das eigentliche aposteriori; das, was - wie Kant einmal sagt — der „transzendentalen Materie aller Gegenstände als Dinge an sich (die Sachheit, Realität)" entspricht. (A 143/B 182) Ebendasselbe gilt nun auch für alle besonderen Gattungen von Empfindungen; so spricht Kant in M A von dem „Sinn des Gefühls", welches uns das Zeugnis für die Repulsionskraft liefert, und uns dadurch „die Größe und Gestalt eines Ausgedehnten, mithin von einem bestimmten Gegenstande im Räume einen Begriff verschafft, 9

Siehe dafür auch mein Metaphysics, ser, Kants Theorie der Erfahrung Klostermann, 1981), S. 120.

Fn.4 oben, besonders S.573n.2; und Peter Krausund Erfahrungswissenschaft (Frankfurt: Vittorio

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der allem übrigen, was man von diesem Dinge sagen kann, zum Grunde gelegt wird" (510); wo wir also schon sehen, daß die Kraft sich auf die aposteriorische Dimension alles Möglichen nur bezieht; ein Punkt der uns unten noch beschäftigen wird. Was die Empfindung (und ihre Gattungen) betrifft, kann also a priori nichts „antizipiert" werden als die Tatsache, daß die Intensivität derselben sich von einer jeden beliebigen Größe kontinuierlich bis auf null vermindern kann (das Prinzip der Antizipationen). Aber weiterhin haben wir es hier, wie gesagt, nicht mit einer „sukzessiven Synthese" zu tun, und deshalb auch nicht mit einem räumlichen, also im kantischen Sinne strikt mathematisch-konstruktiven, und a priorischen, Vorgehen ich übergehe hier die Idee einer „symbolischen" Konstruktionsmethode (Algebra; vgl. A717/B745); weshalb wir das zweite Prinzip nicht für irgendwelche „mathematischen" Zwecke werden benutzen können; d. h. es fehlt uns hier der Grund für ein mathematisches Vorgehen, (vgl. A168/B 210); eine für das folgende sehr schwerwiegende Ansicht seitens Kants, da uns hier - ungleich dem vorigen Prinzip - die Mittel zur Begründung der „Möglichkeit" solcher gegebenen Wissenschaftsbegriffe fehlen, die mit dem Prinzip der Antizipationen prinzipiell in Verbindung gebracht werden; was (so werden wir finden) bei den „Grundkräften der Materie" eben der Fall ist. (S. unten, Abschn. VI) Allerdings setzt Kants Beweisführung voraus, daß zumindest „Raum und Zeit quanta continua" seien (A 169/B211), und daß Zunahme oder Abnahme der Empfindung a priori einen „kontinuierlichen" Vorgang darstellen (ebend.); alles Annahmen, die - was Kant auch immer geglaubt haben mag - nicht selbstverständlich sind, sondern in das Feld von empirischtheoretischen Tatsachen gehören; besonders angesichts der gegensätzlichen Hypothesen der heutigen Quantenmechanik. c) Während das Prinzip der Axiome dem ersten Kapitel der MA (Phoronomie), und das der Antizipationen dem zweiten (Dynamik) entspricht, wird das dritte Kapitel (Mechanik) mit der dritten Gruppe von Grundsätzen a priori, den Analogien der Erfahrung, in Zusammenhang gebracht. Hier wollen wir uns nur kurz auf einige Bemerkungen betreffs der 2. und 3. Analogie beschränken, um in der Lage zu sein, die logischen Beziehungen zwischen den auf transzendentaler Ebene liegenden Prinzipien der Analogien einerseits, und den auf empirischer Ebene liegenden Wissenschaftsallgemeinheiten andererseits würdigen zu können.

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Betrachten wir zuerst das mit der 2. Analogie verbundene Prinzip der Kausalität. In einer jeden Synthese der Wahrnehmungen, in welcher uns eine Erfahrung von einer gegenständlichen Folge, oder von einem empirischen Vorgang, gegeben werden soll, muß die Einheit dieser Synthese durch den Begriff von einer Kausalverbindung oder Regel so „gedacht werden" (B234), daß dadurch gleichzeitig das objektive ,vorher und nachher' von Zuständen gesetzt wird. Wohl verstanden: der Kausalitätsbegriff bestimmt die Folge der Wahrnehmungen „als notwendig" (ebend.), aber nur um damit die Erkenntnis überhaupt einer gegenständlichen (oder objektiven) Folge von Zuständen (d.h. eine Gegenstandserfahrung) möglich zu machen. So gesehen, wird es sofort klar, daß diese Folge selbst nicht eine empirische Kausalverbindung auszudrücken braucht; d.h., nicht in dem Sinne den wir normalerweise mit diesem Ausdruck verbinden.10 Denn es ist offensichtlich immer eine zweite Frage, ob eine solche objektive Folge zusätzlich noch eine empirische Verbindung, ζ. B., als Spezialfall eines empirischen Gesetzes, ausdrücke. In der Tat, ob es solche Gesetze prinzipiell gebe, dafür benötigen wir eine weitere und ganz unabhängige Beweisführung, welche in Kants Fall von der Vernunft bzw. der Urteilskraft zu leisten ist; in welchem Zusammenhang also der Kausalbegriff gewissermaßen ,ein zweites Mal* angewendet werden muß. Kant war sich offensichtlich dieses Unterschiedes vollkommen bewußt, weswegen er ja auch angibt, daß kausale Untersuchungen als solche in der Wissenschaft gemäß einem „regulativen Prinzip der Vernunft" vorgehen müssen, während das Prinzip der Analogie als „regulatives Prinzip des Verstandes" bezeichnet wird. (Vgl. A179/B 222 mit A561/B589) Dieselben Beziehungen zwischen transzendentaler und empirischer Ebene findet man auch im Zusammenhang mit dem Prinzip der Wechselwirkung, das in der 3. Analogie bewiesen wird. Die „dynamische Verknüpfung" wird zwar da „vorausgesetzt", als ein Begriff, welcher das „Zugleichsein" möglich machen soll; aber man ist nicht befugt - so

10

Siehe dafür auch mein Metaphysics, Fn. 4, ch. 8, sect. 8 (d, e); und mein „The Kantian ,Dynamic of Reason', with special reference to the place of causality in Kant's System", in Lewis W . Beck (ed.), Kant Studies Today (La Salle, 111.: Open Court, 1969), 3 4 1 - 7 4 . Die Beispiele, die Kant dafür in Prolegomena gibt, sind besonders für MißVerständnisse geeignet, da sie sich auf die Bedingung des Kausalbegriffes wirklicher empirischer Kausalverbindungen beziehen, statt auf objektive Folgen im Allgemeinen; vgl. §§ 20 und 22, A A , iv, Sn. 301n und 305n.

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betont Kant ausdrücklich - sich vorzustellen, man dürfe aus diesem Grund sofort auch auf die „Möglichkeit der dynamischen Verknüpfung a priori", als „Hypothese" von etwas Wirklichem, schließen (A770/ Β 798). Denn, so fährt er fort, „die Kategorie dient nicht dazu dergleichen zu erdenken". Als besonderes Beispiel erwähnt er „neue ursprüngliche Kräfte", wie etwa „eine Anziehungskraft ohne alle Berührung": Mit einem Worte: es ist unserer Vernunft nur möglich, die Bedingungen möglicher Erfahrung als Bedingungen der Möglichkeit der Sachen zu brauchen, keinesweges aber, ganz unabhängig von diesen sich selbst welche gleichsam zu schaffen, weil dergleichen Begriffe, obzwar ohne Widerspruch, dennoch auch ohne Gegenstand sein würden ( A 7 7 1 / Β 799).

Dieser Passus macht vollkommen klar, daß wir selbst für die Möglichkeit physikalischer Kräfte im besonderen zusätzliche Beweisführungen brauchen, welche nicht dem Gebiete der allgemeinen Ontologie angehören, sondern - wie wir gleich zeigen werden - entweder dem der „besonderen", oder (wie Kant in dem vorstehenden Zusammenhang sagt), der systemischen Ontologie, d.h.: „bloß problematisch gedacht", als „regulative Prinzipien [der Vernunft] des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung" (ebenda). Solche, hier angedeuteten Beziehungen werden im folgenden immer besonders im Auge zu behalten sein.

III. Diese kurzen Ausführungen über die Verstandesgrundsätze und ihre Stellung innerhalb der Struktur der KrV sollen hier hauptsächlich als Einführung in das Problem ihres Zusammenhanges mit den in MA behandelten Grundlagen der Newtonschen, oder allgemeiner gesprochen, „mechanischen" Wissenschaftsanschauung dienen. Um Kants Ansichten in das richtige Licht zu setzen, müssen wir hier erst noch einmal auf das dreigliedrige Methodenschema zurückkommen, auf das wir schon oben im Zusammenhang mit Kants Ausführungen in der Logik hingewiesen haben. Wir wollen dies nun in etwas systematischerer Weise behandeln, indem wir uns dabei auch auf Kants Besprechungen der Natur der Wissenschaftstheorien im Anhang zur Transzendentalen Dialektik („Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Ver-

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nunft", A 642/B 670 ff.), die den beiden Einleitungen in die dritte Kritik vergleichbar sind, beziehen. Nebenbei sei auch bemerkt, daß wir in unserem Schema die ursprünglichen kantischen Ansätze weiter ausgedehnt haben, indem wir die Resultate methodologischer Diskussionen aus späterer Zeit, soweit sie sich auf natürliche Art an die Ideen Kants anzupassen scheinen, berücksichtigt haben, um damit auch ihre Bedeutsamkeit für die heutige Wissenschaftslehre zu betonen.11 Wir haben oben schon angedeutet, das das Zentralthema der KrV sich um das Problem der Möglichkeit, im besonderen um das Problem der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt dreht. Wir wollen dies nun insbesondere im Zusammenhang mit den drei kantischen Wissenschaftskomponenten in dem erwähnten Schema entwickeln. Was die erste Komponente betrifft, welche wir als ,Konstitutivkomponente' (KK) bezeichnet haben, so sieht man, daß diese mit „Möglichkeit" nur mittelbar etwas zu tun hat, da sie als solche einfach in faktischer' Weise die „Wahrscheinlichkeit" irgendeiner Hypothese bestimmt; wobei also offensichtlich nur auf indirekte Art das Problem der Möglichkeit einer „Natur überhaupt", d. h. das Problem der Möglichkeit von empirischem Beweismaterial (Beobachtungen, Experimenten) als solchem, einzelner Tatsachen und ihrer Verallgemeinerungen unter „empirischen Gesetzen" (s. dafür A664/B692) mit hineinspielt. Was die in KK aufgezählten methodischen Beweismittel betrifft, so ist es nicht notwendig, sich über ihre Einzelheiten noch weiter auszulassen. Jedenfalls ist es klar, daß, soweit wir Kants Ausführungen folgen, die .Begründung' der hier erwähnten Beweismethoden zum Teil auch in das Gebiet der Vernunft fällt, und also zur Regulativkomponente (RK) gehört. Jedenfalls ist es klar, daß insoweit,Induktivmethode' als Kausalforschung verstanden wird, die Begründung der letzteren in RK, als dem hier miteinbezogenen Kausalprinzip („regulatives Prinzip der Vernunft") zu suchen ist. Dieser Zusammenhang zwischen KK und RK unterstreicht nochmals die oben schon angesprochene Warnung, die Prinzipien der Analogien nicht auf direkte Art als methodologische Wissenschaftsprinzipien anzusehen; so als ob die Analogie die Berechtigung dafür gäbe, das Kausalprinzip unmittelbar auf die Methodik von

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Besonders die Ausdrücke ,hardcore' und ,Forschungsprogramm', die an die Lehren von Imre Lakatos, oder die ,phänotypisch/genotypische' Unterscheidung, die an Ausführungen von E. Mach und P. Duhem oder auch von E. Meyerson, u. a. anknüpfen.

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KK anzuwenden. (Das zeigt auch unsere schematische Darstellung: Das Prinzip der Analogie gehört zur allgemeinen Ontologie', während dasselbe Prinzip, als in der RK befindlich, sich auf die Systematik der Wissenschaft bezieht, deren ,Möglichkeit' (wie wir zeigen werden) in unabhängiger Weise durch die systematische Ontologie' begründet werden muß. Die Tradition hat dies oft mißverstanden, als sei der Analogiebeweis von Kant als eine Parallele zu derjenigen Beweisart, wie sie z.B. in Mills Logik zu finden ist, anzusehen. Wenden wir uns denn fürs erste einer Betrachtung von RK selbst zu. Hier muß vor allem in Erinnerung gebracht werden, daß es in der Wissenschaft von Kants Zeit, ζ. B. in den Werken eines Newton, oder Linnaeus oder Maupertuis, eine Kernannahme war, die Natur bilde eine Einheit, die sich in jedem Wissenschaftssystem von empirischen Naturgesetzen widerspiegele. Die ,Vermutung' einer solchen systematischen Einheit (Kants „Ordnung der Natur": A691/B 719; vgl. auch KU, AA, ν, 185, mit ihrem besonderen Rückweis auf die „Naturordnung") will ich dabei soweit als eine phänomenologische Tatsache' bezeichnen. ,Tatsache' schließt hier den Sprachgebrauch ein, gemäß welchem Wissenschaftler von der biologischen Entwicklungslehre als einer ,Tatsache' sprechen (also einer theoretischen' Tatsache); oder wenn sie das Bestehen von Gattungen {genera und species) als ,Tatsachen' bezeichnen. (Vgl. einen ähnlichen Sprachgebrauch bei Kant, A653/B681). Wir können diese als .mutmaßliche' oder ,hypothetische' Tatsachen, oder sogar als Wissenschaftspostulate, für die Entwicklung der Forschung notwendige Annahmen bezeichnen. N u n werden aber zur Begründung solcher .Tatsachen', hier immer noch im phänomenologischen' Sinne verstanden, gewisse methodologische Hilfsmittel benötigt - Maximen und Prinzipien (wie sie Kant benennt), von der Art, wie sie in unserem Schema (unter RK) in etwas verallgemeinerter Art angeführt werden: wie Einfachheit, Gleichartigkeit, Kontinuität, Symmetrie, usw. (Vgl. A675/B685). Ein jedes wissenschaftliches System setzt also auf diese Weise den methodologischen Gebrauch der Vernunft voraus; wobei zu bemerken ist, daß dieses System immer nur als „projektierte Einheit, an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem" anzusehen ist. (A647/B675) Die ,Kenntnis' solcher Tatsachen ist also in erster Linie etwas methodologisch Postuliertes. Wenn aber Kant den methodologischen Gebrauch der Vernunft darüber hinaus noch als „regulativen" bezeich-

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net, so hat dieser Ausdruck noch einen weiteren, nicht nur „methodologischen" Sinn (vgl. A648/B676). Kants Interesse bezieht sich nämlich auch noch darauf, wie diese ,Tatsachen' (bisher immer nur phänomenologisch' verstanden) als etwas „mögliches", und vor allem, wie ihre Erkenntnis als möglich bewiesen werden könne. (A651/B679) Die Rechenschaft, welche Kant von der Möglichkeit solcher ,Tatsachen' gibt, will ich hier als ihre ,Ontologie' bezeichnen. (Vgl. unser Schema für ,Systemische Ontologie'.) Die Unterscheidung zwischen Phänomenologie und Ontologie im vorstehenden Sinne wird in meiner „Reduction-Realization" noch etwas eingehender diskutiert.) Darüber kann nun laut Kant Rechenschaft nur dann abgelegt werden, wenn die erwähnten Maximen usw., nicht nur „methodologisch" sondern auch im „transzendentalen" Sinne verstanden werden. (Vgl. A650/B 678 und A654/B682) „Regulativ" hat also mindestens einen doppelten Sinn, nämlich nicht nur methodologisch, sondern auch einen transzendentalen. (Einen dritten Sinn werden wir sogleich noch angeben.) Die methodologischen Prinzipien als etwas „transzendentales" ansehen, heißt, daß in Abwesenheit des methodologischen Momentes die Möglichkeit der „Naturordnung" (ontologisch gesprochen) nicht bestünde. Man kann das etwa so formulieren, indem man sagt, ohne die Methodologie reduziere' sich die Idee der Natureinheit in erster Linie auf einen bloß „transzendentalen Gegenstand" (A679/B707), der erst mit Hilfe des methodologischen Vorgehens in gewisser Weise „realisiert" wird (A677/B705); und zwar auf zweierlei mögliche Arten, entweder, als einheitliches theoretisches System von Gegenständen, auf der Basis des methodologischen Gebrauchs der Vernunft, also „regulativ" - nicht „konstitutiv", sich auf einen Gegenstand beziehend (die dritte Bedeutung von „regulativ"; vgl. z.B. A665/B693); oder, als eine Einheit, die man sich als „an sich gegeben" (als ein „Ding an sich", A679/B707, A674/B702), aber nur als ein „Analogon" von einem wirklichen Ding vorstellt, so „als ob" das letztere sich auf „ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit", d. h. die göttliche Intelligenz, gründete. (A697/B725) Das Leitmotiv für eine solche Einstellung ist natürlich, daß andernfalls man sich nicht apodiktisch („a priori") gewiß werden könnte, ob es eine solche Einheit überhaupt gebe. Man würde dann bestenfalls (sagt Kant) nur so ,νοη außen' auf die Natur sehen (als etwas, daß nur „fremd

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und zufällig" wäre; A 693/Β 721); und (in ontologischer Hinsicht) nur problematisch oder hypothetisch von ihrer Einheit etwas aussagen können. (Man bemerke noch einmal den Unterschied zwischen dem phänomenologischen und dem ontologischen Momente: laut dem ersten ist natürlich die Einheit immer etwas problematisches', eine „Aufgabe" für die Wissenschaft; dagegen laut dem letzteren die Möglichkeit der Erkenntnis solcher Einheiten wenigstens im Prinzip „apodiktisch" gesichert ist.) Wir sind nun in der Lage, diese transzendentale Beweisführung mit derjenigen zu vergleichen, die sich in der Analytik vorfindet. Offensichtlich ist die eben besprochene eine schwächere Fassung als jene. Denn anstatt daß die transzendentalen Bedingungen (wie das in der Analytik der Fall gewesen war) Gegenstände (oder gegenständliche Begebenheiten) liefern, führen sie hier nur zu ,problematisch-gewonnenen' Systemen von Gegenständen, und das natürlich nur in dem Sinne, den wir oben mit der phänomenologischen Ansicht von ,mutmaßlichen' oder ,postulierten' Tatsachen verbanden; als eine Forderung der Naturforschung. Kant faßt die Sachlage in folgenden Worten zusammen: die Vernunftideen führen nicht zu einer Erweiterung unserer Erkenntnis über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann, sondern [dienen nur] als regulative Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt, welche dadurch in ihren eigenen Grenzen mehr angebauet und berichtigt wird... (A671/B699).

Bemerkenswert ist, daß die Idee der Einheit in diesem Sinne von Kant als ein „Merkmal empirischer Wahrheit" bezeichnet wird (A651/ Β 679); eine interessante Vorwegnahme moderner Wahrheitsansichten wie man sie ζ. B. bei Quine findet. Die Einschränkung der Ideen auf den rein regulativen Gebrauch der Vernunft hat weiterhin auch das Resultat, daß das transzendentale Gültigkeitsverfahren hier nur zu einer „subjektiven Notwendigkeit" führt (KU, AA, xx, 209). Und dies wird schließlich noch weiter abgeschwächt angesichts der Tatsache, daß die Maximen und Prinzipien, welche (laut RK) den Gebrauch der Einheitsidee präzisieren, ganz offensichtlich nicht in einer ,zeitlosen' Struktur wie die Kategorien in der Aristotelischen Logik wurzeln - wie das Kant angesehen hatte - sondern von einer vollkommen historisch-bedingten Bewertung der zeitgenössischen physikalischen und biologischen Wissenschaft herstammen.

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Gerd Buchdahl IV.

Versuchen wir nun in ähnlicher Weise einen Vergleich zwischen den transzendentalen' Erörterungen der MA - ob sie wirklich transzendentaler Art sind, sei vorläufig dahingestellt - und der Beweisführung in der KrV über die „Natur überhaupt" anzustellen. Um mit der Ausdrucksweise unseres Schemas zu reden, handelt es sich hier um die Beziehungen, die zwischen der Auslegungskomponente (AK) und der Konstitutivkomponente (KK) bestehen. Diese Darstellung zeigt, daß interessanterweise AK die einzige Komponente zu sein scheint, die ausdrücklich (und nicht nur auf indirekte Art) die „Möglichkeit" in ihre Erörterungen mithineinbezieht. Wie wir sahen, waren KK und RK als solche nur rein methodologisch zu betrachten - auf die phänomenologische Ebene hinzielend - indem sie darauf gingen, die „Wahrscheinlichkeit" und die „Einheit" der theoretischen Forschung zu bestimmen. Was die transzendentale' Seite der Sache anbelangte, so ging sie nur darauf, zu erklären wie es möglich sei, von einer „Natur überhaupt", respektive von einer „Ordnung der Natur" zu sprechen (etwas zu erkennen). Dagegen zielt AK in unmittelbarer Weise ab auf die Erklärung der Möglichkeit der Dinge in Ansehung ihrer körperlichen Natur, und also als einen damit verbundenen Teil der Naturforschung; ζ. B. der Möglichkeit von gewissen Hypothesen über die Kräfte, oder von gewissen Bewegungsgesetzen, usw. (Vgl. MA, 470-71) 12 In dem Abschnitt der Logik, auf den wir oben hinwiesen, sagt Kant, daß durch KK nur die „Wahrscheinlichkeit" einer Hypothese (auf „Grund ihres Vermögens zu erklären") gesichert werde, aber daß doch etwas „in jeder Hypothese apodiktisch gewiß sein [müsse], nämlich die Möglichkeit der Voraussetzung selbst" (A. a. O., 85). Und dies soll auch so weit als möglich, wie gesagt, für alle Begriffe und Prinzipien gelten, welche die „Möglichkeit" der in Frage stehenden Hypothese ausdrükken. Dasselbe Thema wird wieder in der Vorrede zu MA aufgenommen: „Eigentliche Wissenschaft" muß auf „Gesetzen" basieren, die ein „Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich führen" und deshalb „apo-

12

Darum wird auch in unserem Schema die ,besondere Ontologie' als in die A K direkt eingegliedert dargestellt, statt, wie die beiden anderen Ontologien, außerhalb zu bleiben.

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diktisch gewiß" sind. Solche Gesetze können nicht „bloße Erfahrungsgesetze" sein, sondern müssen „a priori erkannt werden" (468). Diese, und ähnliche Bemerkungen in der KrV, haben zu endlosen Mißverständnissen geführt, die erst einige neuere Erörterungen auszuräumen versucht haben.13 In KrV - z.B. in dem berühmten Passus A127, wo gesagt wird, „der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur" - bezieht sich dies natürlich auf die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes allein (und dann nur, um die Möglichkeit der Natur überhaupt zu begründen!), die, wie wir sahen, damit auch das Beobachtungsfundament von KK als solches möglich machen sollen. In den MA beziehen sich Kants apriorisch klingende Bemerkungen auch wieder auf gewisse besondere Prinzipien, wie ζ. B. die der Möglichkeit der Zusammensetzung der Bewegungen, der Materie als Sitz von Zurückstoßungs- und Anziehungskräften, wie auch auf einige der Newtonschen Erhaltungs- und Bewegungsgesetze. Aber wiederum muß von Anfang an betont werden, daß es sich in Kants Abhandlungen nur um die Möglichkeit solcher Begriffe und Prinzipien dreht - um das ,Ontologische' und nicht das phänomenologische', wie wir es nannten; Wirklichkeit hat dabei mit dem kantischen Verlangen nach der eben erwähnten „Gewißheit" nichts zu tun. Die Metaphysik der Natur versucht keine Ableitungen apriorischer Art von zugestandenermaßen empirischen Gesetzen der Mechanik, noch irgendwelchen anderen Gesetzen, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage der „Gesetzmäßigkeit" überhaupt - wie Kant das einmal sehr klar in einer seiner Reflexionen ausgedrückt hat.14 In ähnlicher Weise sagt er denn auch ausdrücklich in MA, im Gegensatz zu metaphysischen Möglichkeits- und Begriffsauslegungen (in Bezug auf AK), auf dem Gebiete der Wirklichkeit, d. h. dem von KK bestimmten, darf

" Siehe besonders Gordon G. Brittan, Jr., Kant's Theory of Science (Princeton: University Press, 1978), obwohl hier im letzten Kapitel leider auch wieder die altmodischen Ideen über die Bedeutung der Lehre Kants von der Kausalität, in ihrer Beziehung zu Hume, vertreten werden. 14 Reflexion 5414; AA xviii, S. 176. Siehe dazu auch mein „The Conception of Lawlikeness in Kant's Philosophy of Science", Synthese 23 (1971) 24-46, bes. S.26. [Nachgedruckt in L . W . Beck (ed.), Kant's Theory of Knowledge (Dordrecht: Reidei, 1974), Sn. 128-150. Auch auf deutsch in Heintel/Nagl (hrsg.), Zur Kantforschung der Gegenwart (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982).]

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Gerd Buchdahl weder irgend ein Gesetz der anziehenden, noch zurückstoßenden Kraft auf Mutmaßungen a priori gewagt, sondern alles, selbst die allgemeine Attraktion, als Ursache der Schwere, muß samt ihrem Gesetze aus Datis der Erfahrung geschlossen werden (534; vgl. auch 517 für eine ähnliche Behauptung).

In derselben Weise schreibt Kant, im Zusammenhang mit einer Besprechung gewisser geometrischer Analogien für die Repulsions- und Attraktionsgesetze, die den letzteren eine gewisse Plausibilität geben sollen, „zum Behufe des Versuchs einer . . . vielleicht möglichen Konstruktion" - man verwechsele hier nicht eine logisch „mögliche Konstruktion" mit der Konstruktion einer Möglichkeit'! - wie folgt: N o c h erkläre ich, daß ich nicht wolle, daß gegenwärtige Exposition des Gesetzes . . . als zur Absicht meiner metaphysischen Behandlung der Materie notwendig gehörig angesehen, noch die letztere . . . mit den Streitigkeiten und Zweifeln, welche die erste treffen könnten, bemengt werde (522 f.).

Selbst die Beweisform, in der die MA eingekleidet ist, kann nicht so ernst genommen werden; denn Kant erklärt am Ende der Vorrede ausdrücklich, daß die axiomatische Form seiner Behandlung, mit ihren „Grundsätzen", „Beweisen" und „Lehrsätzen", usw., in Wirklichkeit „nicht mit aller Strenge [die mathematische Methode] befolgt", sondern dies ihr eigentlich nur „nachgeahmt" habe (478). Man kann also wohl glauben, daß hinter der deduktiven Fassade etwas anderes beabsichtigt war, nämlich, wie gesagt, die Begründung der Möglichkeit, und gewisse Begriffsauslegungen der Hauptelemente der Newtonschen Wissenschaft; oder wie man heute sagen würde: des Newtonschen Paradigmas.15 Im einzelnen versucht Kant zu zeigen, erstens, daß die Zusammensetzung von Bewegungen (Geschwindigkeiten usw.), die Hypothese 15

Gegen eine solche Ansicht könnte man vielleicht einwenden, daß die Idee des Kuhnschen ,Paradigmas' geradezu einen Pluralismus von Paradigmen miteinbezieht, der mit der kantischen Einstellung, die das System Newtons als den einzigartigen Gipfel der Entwicklungsgeschichte der Physik angesehen haben sollte, ziemlich unverträglich ist. Dagegen ist aber zu sagen, daß die Einzigartigkeit' für Kant schließlich nichts mehr als eine geschichtliche Meinungsäußerung sein kann; die - wie sich im folgenden noch zeigen wird - aus dem kantischen Beweisverfahren der MA nicht mit Notwendigkeit folgt. Die Beziehungen zwischen KrV, MA und der Newtonschen Physik dürfen nicht als ein deduktives Schlußverfahren ausgedeutet werden; das folgt ja auch außerdem von selbst aus der Tatsache, daß Kants eigene Auslegungen in MA zu einer Weiterentwicklung der Newtonschen Ansichten in Richtung einer Feldtheorie führten.

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einer allgemeinen Anziehungskraft in die Ferne, und die Gesetze der Erhaltung der Masse, der Trägheits- und Triebkraft, Realmöglichkeiten in dem Sinne ausdrücken, daß sie sich auf natürliche Art und Weise in die ,Tiefsprache' der zeitgenössischen Physik eingliedern lassen. Die zweite Aufgabe besteht für Kant darin, zu zeigen, daß die grundlegenden Ideen und Gesetze dieser Physik sich in die allgemeine Struktur der Erfahrung überhaupt eingliedern lassen, sowohl in bezug auf das konstruktivistische a priori als auch auf die rein begrifflichen Seiten. Mit seinem Beispiel aus der geologischen Forschung seiner Zeit haben wir ja schon versucht, das Grundsätzliche, welches Kant hier verfolgt, anzudeuten. Aus all diesem leuchtet also ein, daß Kant nicht beabsichtigt, irgendwelche physikalischen Gesetze auf a priori Art und Weise ableiten zu wollen, sondern daß er, von den Tatsachen und Gesetzen eines gegebenen Wissenschaftszweiges seiner Zeit ausgehend, sich das Ziel setzt, in ontologischer Hinsicht die Grundelemente einer solchen Wissenschaft mit gewissen a priorischen und/oder Begriffselementen in Einklang zu bringen. Bei solchen Überlegungen in der Dynamik handelt es sich offensichtlich um eine dritte Art des transzendentalen Vorgehens; ein Vorgehen, welches (wie wir sehen werden) eine noch schwächere' Beweiskraft aufweist, als sich bei den bisher besprochenen zwei Formen, K K und R K , herausgestellt hat. (Also solche, die mit der ,allgemeinen' der ,systemischen' Ontologie zusammenhängen.) In diesem dritten Falle soll nicht gezeigt werden, wie „Erfahrung überhaupt", noch wie „systematische Erfahrung" 1 6 möglich sei, sondern die Untersuchung bezieht sich auf die Möglichkeit gewisser empirischer ,Tatsachen' aus der Physik, die - logisch und phänomenologisch gesprochen - hypothetischer' Art sind; aus welchen Gründen dann auch die Bedingungen, welche die Möglichkeit solcher Tatsachen sichern sollen, nur eine relativ schwächere' Gültigkeit aufweisen können. (In diesem Zusammenhang muß an unsere oben angeführte ,Gleichung' erinnert werden, die zwischen ,reeller Möglichkeit' und ,objektiver' (bzw. .subjektiver') ,Gültigkeit' besteht.)

14

Für diese Ausdrucksweise, siehe Kritik S. 209.

der Urteilskraft,

Erste Einleitung, A A , xx,

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Möglicherweise könnte es auch sein, daß es sich in den MA vielleicht gar nicht um die Begründung von Gültigkeiten handelt, die den ebenerwähnten Möglichkeiten von .Tatsachen' entsprechen würden; aus welchem Grunde Kant in der Vorrede - wie schon erwähnt - den „transzendentalen Teil der Metaphysik der Natur" (von dem die KrV gehandelt hatte) der „besonderen metaphysischen Naturwissenschaft" gegenüberstellt, so als ob hier von einer transzendentalen Stellungnahme als solcher nicht die Rede wäre. (Vgl. 469-70) Die Erklärung dafür ist wohl die, daß in der „besonderen Metaphysik" die transzendentalen Prinzipien, deren Gültigkeit schon vorher in der KrV „deduziert" worden war, auf „die Gegenstände unserer Sinne angewandt" (470), d.h., auf den Begriff der körperlichen „Materie" ausgedehnt werden. Dieser Begriff nun - und dies ist ungemein wichtig für alles was folgt wird von Kant als ein „empirischer Begriff" bezeichnet, dessen Bedeutung dann in MA im Rahmen einer Begriffsanalyse (472) durchgeführt wird; also als eines der zentralen Beispiele für das was wir als AK bezeichnet haben. Hier muß nun daran erinnert werden, daß solche empirische Analysen laut Kant geradezu den eigentlichen Stoff für die „Metaphysik" abgeben - im Vergleich zu der Mathematik, die ihre Begriffe „konstruiert" - , wie er schon in seiner vorkritischen Schrift Uber die Deutlichkeit der Grundsätze (1763) ausgeführt hatte; wo er schreibt, daß es die besondere Aufgabe metaphysischer Betrachtungen ist, d u r c h sichere innere E r f a h r u n g , d . i. ein u n m i t t e l b a r e s a u g e n s c h e i n l i c h e s B e w u ß t s e i n , diejenige M e r k m a l e . . . [ a u f z u s u c h e n ] , die gewiß i m B e g r i f f e v o n i r g e n d einer allgemeinen B e s c h a f f e n h e i t l i e g e n . . . ( A A , ii, 2 8 6 ) ;

was nebenbei der modernen sprachanalytischen Tradition schon sehr nahe kommt und uns auch erklärlich macht, was Kant hier unter dem vielumstrittenen Begriff „empirisch" verstanden hat.17 In MA wird nun die Beweisführung der Möglichkeit durch die Anwendung der kategorischen Begriffe und Prinzipien auf gewisse empirische Begriffsauslegungen durchgeführt. Aber es ist wahrscheinlich nicht der Fall, daß irgendwelcher Erfolg mit dieser Methode einen Gültigkeitsbeweis als solchen für die so eingeführten ,Bedingungen' mit 17

Siehe dazu besonders die vortreffliche Schrift von Peter Piaass, Kants Theorie der Naturwissenschaft (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1965), 4.1: ,„Materie" als empirischer Begriff', Sn. 86-88.

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sich bringen soll; nicht der transzendentalen Prinzipien, da deren Gültigkeit ja schon auf der Deduktion der Analytik beruht; und nicht der Begriffsauslegungen, die in gewissem Sinne ,empirischer' Art sind (sprachanalytisch). In diesem Zusammenhange ist es weiterhin sehr interessant, daß Kant sich klar darüber war, daß die Bedeutungen, welche der Metaphysiker durch seine Begriffsauslegungen bestimmt, nicht notwendigerweise als etwas ein für allemal Endgültiges anzusehen wären; wo bemerkenswerterweise das Hauptbeispiel, welches in der Deutlichkeit zitiert wird, das von der Materie als Sitz von Zurückstoßungs- und Anziehungskräften ist. Man muß, sagt er, bei jeder veränderten Anwendung eines Begriffs Acht haben, ob der Begriff selber, ohnerachtet sein Zeichen einerlei ist, nicht hier verändert sei . . . (AA, ii, 289).

Eine visionäre Bemerkung, angesichts moderner Ansichten über das Problem des ,Sinnwechsels' (meaning variance) von Wissenschaftsausdrücken in der modernen Wissenschaftsphilosophie!18 Wenn wir uns also erst einmal von dem verführerischen Musterbild der Axiomatik befreit haben - etwas was man falscherweise immer der kantischen Anschauungsweise angehängt hat - , werden wir in einer besseren Lage sein, den Sinn dieser Ausführungen zu erfassen. Es ist eben, wie schon gesagt, Kant hauptsächlich nur darum zu tun, zeitgenössische physikalische Begriffe in die allgemeine Struktur der Erfahrung einzugliedern. Sollte es weiterhin noch der Fall sein, daß einerseits hier einige dieser Wissenschaftsbegriffe mit der Zeit einer Veränderung unterliegen oder daß sich andererseits unsere Ansichten über die Natur der Erfahrung selbst ändern - nicht daß Kant diese letztere Möglichkeit je in Betracht gezogen hätte - , dann würde eben eine andere Darstellungsweise herauskommen. Prinzipiell ist die Möglichkeit solcher intellektuellen ,Krisen' mit Kants allgemeinem Vorgehen vollkommen vereinbar, wenn er auch selbst tatsächlich so etwas nicht im Auge gehabt hätte. Denn seine Untersuchungen beschränken sich auf gegebene Wissenschaftsbegriffe der zeitgenössischen Forschung - wenn auch nicht absolut statisch, wie die eben zitierte Stelle aus Deutlichkeit ja zeigt - , und es geht ihm nur um die Frage der, Verständlichkeit' dieses ,Gegebenen' — ,wie sie möglich sein möge'. So versucht er zu zeigen — wir 18

Siehe besonders P. Feyerabend, „Explanation, Reduction and Empiricism", Minn. Stud, in Phil. Sei. (III) (1962) 28-97.

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werden das noch näher betrachten - , daß, richtig verstanden, die Newtonsche Fernkraftsidee gar nichts irrationales' enthält, sondern sich auf ganz natürliche Weise in die Begriffsstruktur der allgemeinen Erfahrung einfügen lasse; trotz der gegenteiligen Meinung des ,Entdeckers' dieser Idee (Newton), wie auch der meisten seiner Zeitgenossen und vieler Denker noch späterer Zeit.

V. Um das Vorhergehende etwas besser würdigen zu können, wollen wir jetzt ein paar Einzelheiten aus Kants „besonderer Naturmetaphysik" besprechen, um ein angemessenes Verständnis für seine Beweisführungen über die verschiedenen Grundbegriffe und Gesetze der Newtonschen Physik zu erlangen. Angesichts dessen, was wir schon angeführt haben, wird man nicht überrascht sein, daß Kants verschiedene ,Beweise' mit ganz unterschiedlichen Erfolgen gekrönt sind. Wie schon gezeigt, behauptet er gleich zu Anfang, daß jedes Verständnis der Möglichkeit eines Wissenschaftsbegriffes eine „Erkenntnis a priori" erfordert; was weiterhin bedeutet, „daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff konstruiert werde" (470); denn nur auf diese Weise können wir uns versichern, daß die Mathematik auf eine gewisse Naturlehre angewendet, und diese so „eigentliche Wissenschaft" werden könne (ebend.) (Wir werden unten noch sehen, daß diesem Programm aber anscheinend bedeutende Grenzen gesetzt sind; überraschenderweise besonders im Zusammenhang mit der Frage der ,Möglichkeit' der Grundkräfte, einschl. der Newtonschen Fernkraft.) Hier ist zu betonen, daß in dem vorstehenden Zusammenhang unter „a priori" vorerst das mathematische (die mathematische ,Konstruktion'), und nicht das transzendentale, zu verstehen ist; die beiden a priori sind nicht miteinander identisch - wie Kant in der KrV speziell bemerkt (s. A56/B80; und A87/B 120); obwohl andererseits natürlich das a priori von Räumlichkeit und Zeitlichkeit als transzendentale Bedingung a priori dem Mathematischen zugrundeliegt. Jedenfalls ist es sehr wichtig, im Auge zu behalten, daß die Möglichkeit des Begriffes von einem Gegenstande überhaupt des mathematischen a priori als solchen nicht bedarf (wie Kant ganz richtig bei S. 470 andeutet), da jener

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Begriff sich bloß auf die Kategorie und das damit verbundene Prinzip der „sukzessiven Synthese" stützt. (S. dazu oben, Abschnitt II) N u r die mathematische Behandlung irgend eines Physikbtgr'úíts erfordert, als Anwendung der „sukzessiven Synthese", das Konstruktionsverfahren; die Synthese ist die Voraussetzung' für das letztere, wobei ihre Gültigkeit' als das Prinzip der Axiome der Anschauung vorher bewiesen worden war. Das Konstruktionsverfahren selbst steht hauptsächlich in dem ersten Kapitel von MA (Phoronomie) im Vordergrund, wo der Begriff (oder das „Moment"), worum es sich hier handelt, d. h. der Materie als „das Bewegliche im Räume" (480), als eine erste Eigenschaft durch die „Analyse" des Materiebegriffes „durchgeführt" (476) wird. Kants Vorgehen besteht hier darin, Bewegung (und die damit verbundene „Geschwindigkeit": Schnelligkeit in gegebener Richtung) als eine „Veränderung der äußeren Verhältnisse (eines Dinges) zu einem gegebenen Raum" auszudrücken (482), um auf diese Art der „metaphysischen Konstruktion" (473) Einheitlichkeit mit der „mathematischen", d.h. geometrischen, Konstruktion zu erzielen. (Die zwei Seiten der „metaphysischen" und „mathematischen" Konstruktion scharf auseinander zu halten wird ja als eines der Hauptziele von MA auf S. 473 angegeben.) Wenn auf Grund eines solchen ,Einheitlichkeitsverfahrens' die Möglichkeit einer mathematischen Wissenschaft erklärt werden soll (z. B. der „Begriff einer zusammengesetzten Bewegung" als eines Konstruktionsvorganges, S. 486), dann muß eine solche „Mathematik des Raumes", laut Kant, in ausdrücklicher Weise sich auf eine „sukzessive Synthese" im Räume gründen - eine Einstellung, die wir schon im Zusammenhang mit dem Prinzip der Axiome besprochen haben, wo wir sahen, daß die Einheit dieser Synthese unter dem Schema der Größe oder der Zahl zuwege kommt. Dieses ist also das erste Beispiel, aus dem wir ersehen, wie die Kategorie, und das ihr entsprechende Prinzip, auf den empirischen Materiebegriff, auf das Bewegliche im Räume, „angewandt" (470) wird. Man kann dieses Verfahren der ,Gleichartigkeitsmachung' (ein besonderer Fall von Schematisierung)" etwa durch folgendes Analogieverhältnis beschreiben: Die Kategorie verhält sich zu dem Prinzip der

19

Für den Zusammenhang zwischen „Gleichartigkeit" und dem Schematismus, siehe besonders KrV: A 138/B 177, wo Kant von einem „Dritten" spricht, „was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß".

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Synthese, wie der empirische Begriff der Bewegung zur (mathematischen) Konstruktion. (Man bemerke nochmals: Synthese ist noch nicht Konstruktion; sie unterliegt nur der letzteren.) Auf diese Weise zeigt es sich also wie der Physikbegriff, der hier als etwas mathematisierbares bewiesen worden ist, automatisch mit einer der allgemeinen Bedingungen der Erfahrung in Zusammenhang gebracht wird; im vorgehenden Falle: als Anschauung extensiver Größen. (Prinzip der Axiome) Indem ich (aus Platzmangel) die weiteren Einzelheiten der phoronomischen Besprechung außer Acht lasse,20 will ich mich noch, bevor wir zu unserer Hauptaufgabe schreiten (dem Problem der „intensiven Größen" in der Dynamik), ganz kurz über das dritte Kapitel, die Mechanik, auslassen. Hier wird der Zusammenhang zwischen den einschlägigen Prinzipien a priori und ihrer „Anwendung" auf den empirischen Begriff der Materie (der hier als „das Bewegliche, sofern es bewegende Kraft hat" - oder „mitteilt" - ausgelegt wird [536]) etwas anders angesehen; auch trifft man hier wieder auf die schon oben erwähnte Art einer relativ ,lockeren' Beweisführung, wie sie sich ja in den MA durchgängig findet, und was wieder die ,undeduktive' Vorgangsweise Kants unterstreicht. Hier wollen wir uns bloß auf Kants „Beweis" des Trägheitsgesetzes (Newtons 1. Bewegungsgesetz) beschränken: Jeder Körper bewegt sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit, wofern keine äußere Kraft auf ihn wirkt. (Das ist ungefähr Kants Wendung. Und es sei nochmals bemerkt, daß wir es hier natürlich nur mit einem ,Möglichkeitsbeweis' zu tun haben. Kant hat nicht im Sinne, der experimentellen Physik Newtons Konkurrenz zu machen!) Als erstes bemerken wir, daß Kräfte von Kant natürlich - dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend - als Beispiele von Kausalitätsvorgängen angesehen werden. (Man vergleiche: „Die Ursache einer Bewegung heißt aber bewegende Kraft" (497).) Weiterhin soll dann das in der 2. Analogie besprochene „Gesetz der Kausalität": „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung" (B 232); oder: „Alle Veränderung hat eine Ursache" (543), auf den kinematischen Fall von Veränderung angewendet werden; wobei offensichtlicherweise gleichförmige „Bewegung" ganz spontan als ,gleichför-

20

V o r allem ist hier ni¿ht der Platz g e w e s e n , sich weiter über K a n t s interessante A u s f ü h r u n g e n , w i e die betr. der „ I d e e " des „ a b s o l u t e n R a u m e s " , a u s z u l a s s e n , da es die A u f g a b e dieses A u f s a t z e s w a r , sich auf die D y n a m i k K a n t s zu konzentrieren.

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mige Geschwindigkeit' angesehen wird. So gesehen, verursacht dann natürlich eine Krafthandlung eine Beschleunigung, und ihre Abwesenheit führt zu gleichförmiger Geschwindigkeit - was das Trägheitsgesetz aussagt. Hier ist zu bemerken, daß schon bei Descartes, dem eigentlichen ,Entdecker' des Trägheitsgesetzes, das letztere als eine logische Spezifizierung des Kausalitätsgesetzes eingeführt wird.21 Und auch da wird ganz unbewußt ,Bewegung' mit Geschwindigkeit' in Zusammenhang gebracht, was leider - wie wir schon seit Poincarés Zeit wissen - nichts offensichtliches oder zwingendes an sich hat: warum sollte man ,Bewegung' (als Veränderung) nicht ebensogut durch die ,Beschleunigung' als etwas Primäres messen? (Kants Fußnote in der 2. Analogie, daß, wenn er in ihr von ,Veränderung' spreche, er „nicht von Veränderung gewisser Relationen überhaupt, sondern von Veränderung des Zustandes rede", (A207/B252n) - setzt schon voraus, daß erstens die Bewegung als ein Zustand des Körpers angesehen werden kann (was ζ. B. in der Aristotelischen Physik nicht der Fall war, und eine Ansicht ausdrückt, die erst von Descartes speziell eingeführt worden ist); und daß zweitens in dem besprochenen Fall die ,Bewegung' als Geschwindigkeit' verstanden werden sollte, ganz abgesehen davon, daß diese Erklärung nicht besonders gut zu den einzelnen Behauptungen der Analogie selbst paßt. Hier ist es also klar, daß sich die kantische Auslegung durchaus dem Newtonschen Paradigma anzupassen versucht; genau wie ja auch der Raum hier ohne weiteres als euklidisch betrachtet wird. Andrerseits und dies ist in dem vorstehenden Zusammenhange allerdings sehr wichtig - , während sich bei Descartes das Kausalgesetz auf das „lumen naturale" stützt (d.h. auf eine ,metaphysische Ebene', in dem alten, rationalistischen Sinne), liegt für Kant die Begründung dieses Gesetzes natürlich in der Rolle, die es als Bedingung der Möglichkeit jeder Erkenntnis von Veränderungsbegebenheiten überhaupt spielt - in der Art wie wir das schon oben ausgeführt haben (s. Abschn. Ile). Allerdings sahen wir da schon, daß, wenn der Kausalsatz nur auf dem Boden der 2. Analogie bewiesen wird, er damit nur ein relativ begrenztes Gebiet zum Gegenstand hat. Denn es ist klar, daß wenn ,Veränderung' 21

Siehe auch mein Metaphysics, Fn.4, ch. 3, sect. 2(e), Sn. 147-55; auch mein „The Relevance of Descartes's Philosophy for Modern Philosophy of Science", Br. J. Hist. Sci., 1 (1963) 228-249. Ähnliches auch bei Euler, z.B. in Lettres à une Princesse d'Allemagne (Paris, 1845), p. 186 (s. mein Metaphysics, a.a.O., S.24).

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als ,Geschwindigkeitsveränderung', und ,Ursache' als „äußere bewegende Kraft" ausgelegt werden, sich dann die sogenannte „Anwendung" des Analogieprinzips weit über das in der Analogie selbst in Betracht gezogene Gebiet ausdehnt. In Wirklichkeit haben w i r hier wieder einen Fall, w o das Gesetz der Analogie ,zum zweiten Mal', und außerhalb ihres ursprünglichen Anwendungsgebietes, angewandt wird. In der 2. Analogie w i r d der Kausalsatz benutzt, um das Geschehen von Veränderungen im allgemeinen transzendental zu begründen; im vorliegenden Fall ist seine Aufgabe, die Veränderung der Bewegung (Beschleunigung) als etwas empirisch Kausales auszugestalten. W i e w i r sehen, passen sich also in diesem Kapitel Kants „metaphysische" Erläuterung wieder soweit wie möglich an die Begriffe der N e w tonschen Physik an, die zu der Zeit gebräuchlich waren, und wodurch dann die Newtonsche Weltansicht als solche ihren Ausdruck findet. Zusammenfassend kann man sagen, daß die „Anwendung" des Analogieprinzips in dem besprochenden Falle darauf hinausläuft, das erste Bewegungsgesetz mit den Grundlagen, die (laut Kant) jede Erkenntnis von Veränderungsbegebenheiten enthält, in Zusammenhang zu bringen - allerdings nicht in deduktiver Weise, sondern auf Wegen eines sehr e r w e i t e r n d e n ' Vorgehens. Dabei sollte man auch bemerken, daß ein derartiges „metaphysisches" Vorgehen von der Generation der Wissenschaftsphilosophen der jüngsten Zeit weniger überraschend gefunden werden wird, als dies bei ihren unmittelbaren ,positivistisch-gesinnten' Vorgängern der Fall w a r ; vielmehr sieht man, daß Kants ganze Einstellung hier modernen Ansichten schon auf interessante Weise in gewissem M a ß e vorgreift, und ihnen vielleicht sogar größere Präzision gibt. Vor allem ist es ja jetzt geläufige Meinung, daß Gesetze w i e N e w t o n s Trägheitsgesetz nicht so etwas strikt-empirisch Prüfbares darstellen, sondern vielmehr in Wirklichkeit die Rolle von Poincaréschen „Konventionen" spielen. 22 In der Tat handeln solche Gesetze von dem ,harten Kern' - um mit Imre Lakatos zu reden - einer Wissenschaft, der seinerseits einen Teil des „dynamischen Forschungsprogrammes", das die Newtonsche P h y -

22

Siehe dafür mein „Science and Logic: Some Thoughts on Newton's Second Law of Motion in Classical Mechanics Brit. J. Phil. Sci., 2 (1951) 217-35. Für das Trägheitsgesetz im besonderen, s. M.B. Hesse, Forces and Fields (London: Nelson, 1961), ch.6, Sn. 134-43.

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sik bildet23, ausmacht. (Siehe wieder unser Schema) Die Auslegungskomponente würde dann gewissermaßen als das ,Begriffsgerüst' eines jeglichen Wissenschaftszweiges anzusehen sein, das solange beibehalten wird, bis eine Reihe „Anomalien" Kuhnscher Art uns dazu zwingen, sie abzuändern oder durch ein neues Begriffsgerüst zu ersetzen.24 Auf diese Weise kann sich Kants „besondere Metaphysik der Natur" sehr gut an moderne Ansichten anpassen, und wir können jetzt - hermeneutisch gesprochen — besser verstehen, was er eigentlich philosophisch beabsichtigt hat; in der Tat kann das Kantische Vorgehen sogar als eine etwas schärfere oder prägnantere Interpretation des Lakatosschen ,metaphysical hardcore' angesehen werden. Auch finden wir, daß angesichts der Tatsache, daß, wie wir sahen, nur ein ziemlich lockerer Zusammenhang zwischen der transzendentalen Ebene und der ,metaphysischen' Behandlung besteht, es klar ist, daß altmodische Klagen wie die von Seiten Reichenbachs und vieler anderer, mit dem ,Umsturz der Physik' sei auch die ganze ,a priorische' Position der KrV zugrunde gegangen, ein vollkommen falsches Verständnis Kants .metaphysischer' Philosophie entgegenbringen. Solche Urteile sind eben wieder ein Resultat der positivistischen Manie für rein formal-logische Beweisführungen.

VI. Um das Verständnis der wirklichen Ziele und Vorgangsmethoden Kants weiter zu vertiefen, wollen wir jetzt zu der Besprechung des historisch gesehen - vielleicht einflußreichsten Teiles der MA schreiten: der Dynamik. Hier versucht Kant eine Darstellung der sogenannten „metaphysisch-dynamischen Erklärungsart" zu geben, welche er als eine mögliche Alternative der „metaphysisch-mechanischen" zur Seite stellen will. (525) Auch hier müssen wir nicht glauben, daß es sich um zwei ,faktisch-gegebene', einander ausschließende physikalische Theorien handle. Statt dessen geht es wieder um eine Begriffsauslegung, die sich auf zwei verschiedene ,metaphysische Hartkerne' bezieht, und die vor allem mit dem Sein und Status der Kräfte innerhalb des Newtonschen 23

24

Imre Lakatos, „Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes", in Criticism and the Growth of Knowledge (ed. I. Lakatos & A. Musgrave, Cambridge: University Press, 1970) Sn. 91-196. T. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago, 1962).

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Paradigmas zu tun haben. Statt solche Kräfte, wie es in der „mechanischen" Philosophie geschieht, von ,außen her' als ein Zusätzliches zu der als solcher unabhängig bestimmten Materie zu betrachten, will Kant die Kräfte (in der „dynamischen" Alternative) als etwas der Materie ,νοη Anfang an' wesentlich Angehöriges behandeln. Angesichts eines solchen Abänderungsversuchs ändert sich in interessanter Weise nun auch die Bedeutung der dritten unserer methodologischen Komponenten (AK) etwas. Als solche war sie ursprünglich von Kant natürlich als eine Begriffsauslegung der Grundideen der Newtonschen Physik beabsichtigt; und in der Tat sahen wir ja, daß es gerade das Verdienst Kants gewesen war, begriffen zu haben, daß wir immer versuchen müssen, eine dem induktiven Erfolg der zwei anderen Komponenten gemäße Auslegung zu finden. Dies schließt jedoch nicht aus, daß die „dynamische" Erklärungsart (im Sinne von AK) in der folgenden Periode physikalischer Theoriebildung einen Einfluß ausüben sollte, der ihrer Entwicklung eine ganz andere Richtung als die Newtonsche geben sollte. Es zeigt sich also, daß unsere drei Komponenten manchmal zusammenarbeiten (in derselben Richtung), während sie ein anderes Mal separat von einander die physikalische Theorieentwicklung beeinflussen können. So hat die kantische AK-Interpretation einen tiefen Einfluß auf Forscher wie Ritter und Oerstedt ausgeübt, deren Ansichten sich sehr bald auch in England auszuwirken begannen, ζ. B. bei Humphry Davy; von wo aus sie sich dann zu den Anfängen einer Feldtheorie (Michael Faraday) ausgestalten sollten - ziemlich weit von dem Newtonschen Ursprung entfernt! 25 In diesem Zusammenhang sieht man, daß die Metaphysik der Natur doch nicht so scharf von der Physik abzutrennen 25

Für einige Einzelheiten des kantischen Einflusses auf diese späteren Forscher, vgl. z.B. L. Pearce Williams „Naturphilosophie and Scientific Method", in R. N . Giere & R. S. Westfall (eds.), Foundations of Scientific Method: The Nineteenth Century (Bloomington: Indiana Univ. Pr., 1973), Sn. 3-22. B. Tuschlings Ansicht (in seiner Schrift, Metaphysische und Transzendentale Dynamik in Kants Opus Postumum [Berlin: W. de Gruyter, 1972]), daß Kants Beschäftigung mit den Grundlagen der Newtonschen Dynamik schon zu seiner Zeit etwas altmodisches an sich gehabt hätte, weil sie nämlich durch die Physik seiner Zeit schon überholt sei, da ihre Interessen sich in andere Richtungen, wie ζ. B. der Elektrizitätslehre usw., bewegt hätten, wenn auch als solche richtig, darf also nicht mißverstanden werden, angesichts des tatsächlichen Einflusses, den Kants metaphysische Ansichten über die Naturlehre doch weiterhin auf die Entwicklung der Physik ausgeübt haben - nicht nur auf die idealistisch-ausgerichtete Naturphilosophie, sondern auch auf die Entwicklung der empirischen Physik; man denke nur an den Einfluß Kants auf Helmholtzens Arbeit Uber die Erhaltung der Kraft.

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ist, wie es frühere empirisch gesinnte Denker (und vielleicht Kant selbst) sich vorgestellt hatten; was ja auch aus der Form unseres dreigliederigen Schemas herauszulesen ist, welches die Beziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten bildlich aufzeigt. Z . B . zeigt es an, daß die Begriffsauslegung (AK) die Entwicklung der physikalischen Einbildungskraft und Theorienbildung ( K K und R K ) ebenso beeinflussen kann, wie ein Umschwung in der Physiktheorie ihrerseits dies für die Bedeutung von wissenschaftlichen Begriffen tut - was Anhänger der Quineschen Lehre des wechselseitigen Einflusses von Bedeutung und Tatsache nicht sehr überraschen wird. Was setzt sich nun das Dynamik-Kapitel zum Ziel? Vor allem versucht es eine Schwierigkeit zu beseitigen, welche die Newtonsche Physik schon seit Anbeginn geplagt hat, in bezug auf den Begriff der Fernwirkung, welcher mit dem Gravitationsgesetz verbunden ist. So schreibt Kant in der zweiten Anmerkung zu Lehrsatz 5, daß wenn Newton die Gravitationskraft ausdrücklich aus der Liste der „wesentlichen" Eigenschaften der Körper ausgeschlossen habe, man wohl merkt, daß der Anstoß, den seine Zeitgenossen, und vielleicht er selbst, am Begriffe einer ursprünglichen Anziehung nahmen, ihn mit sich selbst uneinig machte . . . (515).

In der Tat stand Newton auf dem Standpunkt, der Begriff einer Fernkraft sei „irrational"; eine Anschauung, die (wie schon angedeutet) viele seiner Zeitgenossen, wie etwa Leibniz, Huygens, Bernoulli, und eine Menge anderer Forscher teilten. Andrerseits war jedoch der induktive Erfolg der Newtonschen Theorie (was wir in unserem Schema als ,empirisches Beweisgewicht' bezeichnet haben) ein solcher, daß zu Kants Zeit das ursprüngliche Mißtrauen gegen diesen Begriff sich schon etwas zu legen begonnen hatte. U m mit unserem Schema zu reden, könnte man sagen, der Erfolg von K K und R K war so bedeutend, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis daß die Auslegungskomponente ( A K ) so umgestaltet würde, daß sie sich den anderen Komponenten in natürlicher Weise anpassen könnte. Allerdings bedeutet ein solches Verlangen nach einer passenden Begriffsauslegung nichts Absolutes oder Logisch-Zwingendes. So gab es zum Beispiel eine Anzahl Denker im 17. und 18. Jahrhundert, die einen (Vgl. P. M. Heimann, „Helmholtz and Kant: The metaphysical foundations of Über Erhaltung der Kraft", Stud. Hist. Phil. Sci. 5 (1974) 205-238.)

die

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etwas leichteren Ausweg aus der obigen Schwierigkeit suchten, indem sie einfach die Forderung von seiten AK's übersahen, und - in der Art von John Locke und Maupertuis - erklärten, die Fernkraft sei einfach eine kinematische Tatsache, oder eine wohlbegründete ,Mathematische Hypothese', ganz abgesehen davon ob sie ,Sinn' hätte oder nicht.26 Die Existenz der Fernkraft würde sich dann so verstehen, daß man sagt (wie Kant selbst es einmal in MA ausdrückt): sich unmittelbar außer der Berührung anziehen heißt sich einander nach einem beständigen Gesetze nähern . . . (514; meine Hvh.)

Natürlich drückt Kant seine eigentliche Ansicht in dieser Bemerkung nicht aus. Im Gegenteil erlaubte ihm sein geniales Verständnis der Wissenschaftsmethodologie, wie schon gesagt, gerade die Einsicht, daß der darin vertretene Standpunkt ungenügend war; daß - in der Terminologie unseres Schemas - die AK-Dimension am Ende doch schließlich in Ubereinstimmung mit den Dimensionen von KK und R K gebracht werden müßte. Aus diesem Grunde macht Kant denn auch - das bedeutsame an dieser Erklärung wird noch unten zu besprechen sein die „Anziehungskraft" zu einer „wesentlichen Grundkraft der Materie" (508), die zusammen mit der „Rückstoßungskraft" als eine ihrer Grundeigenschaften angesehen wird; was für ihn bedeutet, daß diese Kräfte nun „selbst zur Möglichkeit des Begriffs von Materie für notwendig erklärt" werden (523). Diese Kräfte waren also wie gesagt, nicht zusätzlich der Materie „hypothetisch" (vgl. 533) beigegeben, sondern sie werden von Anfang an zum Wesen der Materie gezählt (vgl. 511). Dabei wird also diese „Möglichkeitserklärung" der Materie zu einem der Hauptziele der Dynamik; ein Vorgehen, welches wir durch die Idee der Auslegungskomponente ausgedrückt haben. Vergleichen wir dies für einen Augenblick noch einmal mit den zwei anderen Komponenten. Was KK betrifft, so bringt das, was ich im dritten Abschnitt als die phänomenologische' Seite bezeichnet habe, keine besonderen Schwierigkeiten mit sich. Man ist sich im Allgemeinen 26

Siehe dazu mein „Gravity and Intelligibility: Newton to Kant", in R. E. Butts & J . W . Davis (eds.), The Methodological Heritage of Newton (U. of Toronto Press, 1970), Sn. 74-102; für Locke, siehe S. 87. (Obwohl diese Studie weitere historische Hinweise über die vorkantische Situation liefert, ist das was ich darin über Kant sage, durch den vorliegenden Aufsatz weitgehend als berichtigt anzusehen.) Weitere historische Hinweise betreffs Locke und Maupertuis finden sich auch in meinem „History of Science and Criteria of Choice", a . a . O . (Fn. 1), s.223.

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darüber einig, daß es objektive experimentelle Erfahrungen gibt, und Kants transzendentale Problemstellung hat es nur mit der ,ontologischen' Frage des ,wie' zu tun; d.h. mit dem Sinne, in welchem es eine solche Erfahrung geben soll. (Was in unserem Schema als .allgemeine Ontologie' bezeichnet ist.) Dagegen, so sahen wir schon, ist im systemischen Fall (RK) für manche vielleicht bereits ein phänomenologischgesehener Zweifel am Platz. O b die Klassen, mit denen sich die Biologie beschäftigt, „natürlicher" Art sind und ob es eine „Naturordnung" gebe - also ganz abgesehen von ihrer ontologischen ,Möglichkeit' - , das ist, wie oben angedeutet, immer auch noch eine faktisch-theoretische Frage, die mit der der ,systemischen Ontologie' nur indirekt zu tun hat. Im Falle von A K liegen die Sachen etwas extremer, besonders im Zusammenhang mit dem Problem der Gravitation. Wie bekannt, ist die phänomenologische Seite dieser Frage - also rein wissenschaftlich', vom KK-Standpunkt aus gesehen - immer noch sehr umstritten, und ihr Problem wird auch noch in der einschlägigen Literatur als ein physikalisches diskutiert. 27 Die Diskussion, besonders in den früheren Jahrhunderten, also dem 17. und 18., zeigt aber, daß dabei die ,faktische', d.h. phänomenologisch gesehene Frage doch nicht immer sehr klar von der ontologisch-bedingten unterschieden wird, indem viele Forscher schon seit Newtons Zeit häufig gegen die eigentliche Möglichkeit ^Verständlichkeit') dieser Kraft Einwände erhoben hatten. U n d es war eben Kant, der diesem Möglichkeitsproblem einen klassischen Ausdruck gegeben hat, indem er es zu einem Problem der „besonderen Metaphysik der N a t u r " machte. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß das transzendentale Vorgehen hier seine .schwächste' Form haben wird; erstens, weil sie (wie in Abschn. IV schon gezeigt wurde) gar keine unabhängigen Begründungen für die transzendentalen Prinzipien liefert (noch zu liefern sucht), sondern die letzteren nur behauptungsweise auf den konkreten physikalischen Fall anzuwenden' versucht. Ein Erfolg oder Scheitern mit einer solchen ,Anwendungsmethode' kann dann aber auch keine besondere logische Bedeutung für die G ü l tigkeit' der so angewandten Prinzipien haben, sondern sich höchstens

27

Tuschling (a. a. O . , Fn. 25) zeigt auch auf die Schwierigkeiten, die Kant selbst schon, sowohl vor und nach 1786, mit der Gravitation gehabt hat. Für weiteres, s. auch M . B . Hesse, F n . 2 2 , chs. 8-11.

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pragmatisch als mehr oder weniger ,nützlich' erweisen. Zweitens ist die vorstehende Form des transzendentalen Beweises eine schwächere', weil irgendwelche ,Möglichkeitsbeweise' sich mit etwas beschäftigen, das phänomenologisch gesprochen einem wie gesagt gewichtigen Zweifel auch jetzt noch unterliegt - anders als ζ. B. im Falle von KK, wo man die Existenz von Erfahrung überhaupt kaum in diesem Sinne in Zweifel ziehen kann. Aber wenden wir uns den Hauptlinien der Dynamik zu. Der Begriff der Materie soll sich so ausgestalten, daß er erstens mit den Grundzügen der kantischen Darstellung der Erfahrung überhaupt (wie sie in der Analytik definiert sind) in Ubereinstimmung gebracht wird; zweitens sollen seine wesentlichen Eigenschaften aus einer empirischen Analyse („Zergliederung", 472), in Kants „metaphysischem" Sinne dieses Wortes - vgl. dazu oben, Abschn. IV, die Ausführungen zu Uber die Deutlichkeit der Grundsätze - abgeleitet werden. („Empirisch" in diesem Zusammenhange hat, wie wir gleich zeigen werden, hier natürlich keinen Bezug auf ,besondere Erfahrung', sondern gehört in das Gebiet des ,empirisch' Sprachanalytischen.) In dem vorliegenden Falle, wird die Materie dann als durch bewegende Kräfte Raumerfüllendes beschrieben. Obwohl die Beweisführung hier wieder die mathematische „nachzuahmen" (478) versucht, ist sie in Wirklichkeit (wie man nach dem Obigen wohl voraussehen wird) als etwas durchaus Sprachanalytisches zu verstehen. Dies wird besonders klar, wenn wir es noch einmal mit der Behandlungsart desselben Problems vergleichen, wie wir es vorher in der Schrift über die Deutlichkeit der Grundsätze antrafen. Schon dort war Kants Beispiel die Fernkraft, wobei er darauf besteht, daß bisher „die Metaphysik" die Möglichkeit einer solchen Kraft „zum mindestens . . . nicht widerlegt habe" (trotz der schon geschilderten Schwierigkeiten, die aus einer, zu Kants Zeit schon überholten, Analyse der Auslegungskomponente stammen).28 Um nun die genannte Schwierigkeit zu beseitigen, rückt Kant schon in dieser Schrift die Methode der linguistischen Analyse in den Vordergrund, indem er in bemerkenswerter Weise das Hauptgewicht auf die Frage „der Bedeutung . . . [eines] Wortes" legt! Er diskutiert dies im Zusammenhang mit dem Problem, wie zwei Körper aufeinander wirken können, „wenn sie sich einander nicht berühren?" Worauf er in sehr prägnanter Weise wie folgt antwortet: 2!

Siehe dafür besonders mein „History of Science and Criteria of Choice", Fn. 1.

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Frage ich nun: was verstehe ich unter dem Berühren? so werde ich inne, daß, ohne mich um die Definition zu bekümmern, ich doch jederzeit aus dem Widerstande der Undurchdringlichkeit eines anderen Körpers urteile, daß ich ihn berühre. Denn ich finde, daß dieser Begriff ursprünglich aus dem Gefühl entspringt . . . , [und daß ich] bei dem vermerkten Widerstande der Impenetrabilität es allererst gewiß weiß (AA, ii, 288; meine Hvh.).

Mit anderen Worten: wir wissen um die Undurchdringlichkeit eines Körpers nur empirisch, auf Grund der Einwirkung von Kräften auf uns. Die Frage der Möglichkeit solcher Kräfte hat nichts mit geometrischer Berührung zu tun, sondern - wohlgemerkt - nur mit dem unmittelbar empirischen, a posteriori Gefühlsmäßigen. Aus diesem Grund (will Kant sagen) haben wir keine Berechtigung, die Anziehungskraft zurückzuweisen, oder als unmöglich zu erklären, bloß weil die Körper sich nicht geometrisch oder sogar ,stofflich' berühren. Das ist nun im großen und ganzen die sprachanalytische Methode, welche sich 23 Jahre später in den MA wiederfindet: „Einen Raum erfüllen heißt allem Beweglichen widerstehen, daß durch seine Bewegung in einen gewissen Raum einzudringen bestrebt ist" (496; meine Hvh.). Widerstand ist als eine „Ursache der Bewegung" zu verstehen; und eine solche Ursache „heißt aber bewegende Kraft" (497; meine Hvh.), wie der „Beweis" des ersten Lehrsatzes es ausdrückt; obwohl dies natürlich nicht so sehr ein .Beweis' ist, als es uns vielmehr - wie wir schon in der Deutlichkeitsschrift fanden - an eine Reihe von alltäglichen ,empirischen' Sprechweisen erinnert, einschließlich einiger Entlehnungen aus Newtons 2. Bewegungsgesetz, welches letztere Kant allerdings nirgendwo ausdrücklich erwähnt. Für uns ist es hier die Hauptsache, daß in dieser Beweisführung die Kraft zu einem „wesentlichen" Bestandteil der Materie geworden ist. In der Tat fungiert in der Dynamik Kants die Materie nur als ein ,primitiver Ausdruck', wobei ihre Masse nicht in Betracht gezogen wird, obwohl man daraus nicht schließen darf, daß Kant hier einen vollkommen ,reduktiven' Standpunkt eingenommen habe, als ob die Materie sich in nichts als das erwähnte Kräftepaar auflöse; trotz einiger Stellen, die das Gegenteil zu behaupten scheinen; so z . B . wo Kant sagt: „Der Begriff der Materie wird (in der Dynamik) auf lauter bewegende Kräfte zurückgeführt" (524). Jedenfalls schiebt Kant die Besprechung des Massenbegriffs (Trägheitsmasse) bis in das Kapitel über die Mechanik auf; in

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welcher letzteren die Kraft (so erklärt er) nicht - wie in der Dynamik als Bewegung „erteilen", sondern als Bewegung „mitteilen" (535) zu verstehen ist. (Vielleicht sollte man auch bedenken, daß die Formeln für elektrostatische Kräftefelder die Masse schließlich ebensowenig in ausdrücklicher Art erwähnen.) Die philosophischen Motive und die besondere Anschauungsart, die von Kant mit der „dynamischen" Erklärungsweise verbunden werden, werden im folgenden Abschnitt noch etwas weiter erörtert werden müssen. Bevor wir dazu schreiten, wollen wir nur noch kurz Kants Beweis der Notwendigkeit einer Fernkraft in seinem dynamischen Schema besprechen. Wie wir sahen, wird die Materie zuerst als Repulsionskraft erklärt, so daß jeder Teil des materiellen Körpers als ein Mittelpunktswiderstand angesehen werden kann. Daraus folgt dann, daß von einem solchen Punkte aus unzählige dynamische Resultanten auf eine beliebige Oberfläche wirken. Nun würde eine solche Kraft, behauptet Kant, wenn kein Hindernis entgegen wirke, „sich ins Unendliche zerstreuen" (508), so daß wir eine Gegenkraft benötigen, die in irgendeiner Entfernung von den erwähnten Mittelpunkten in die Richtung der letzteren wirkt; was sich dann als eine Anziehungskraft herausstellt. Wieder die Einzelheiten von Kants komplizierten und wenig überzeugenden Beweisen übersehend, fassen wir das Resultat zusammen, indem wir sagen, daß die Materie als eine gemeinsame Wirkungszone von Zurückstoßungs- und Anziehungskräften zu verstehen ist; woraus sofort folgt, daß die letztere eine Wirkung unmittelbar durch den leeren Raum ist; d. h. eine Fernkraft. O b w o h l diese Darstellung sehr geistreich ist, hat sie - wie Kant das später selbst gefunden hat - ihre Schwierigkeiten, die teilweise aus der (schon erwähnten) Tatsache herstammen, daß er hier vollkommen von dem Massenbegriff absieht. Nun kann unser Kräftepaar sich aber nur in relativem Gleichgewicht erhalten, und so das Phänomen eines Körpers in einem endlichen Ausmaße (unter der Kategorie der Limitation, 523) darstellen, wenn die zwei Kräfte mit verschiedener Größe abnehmen; d. h., wenn die Repulsion mit der Entfernung vom Mittelpunkt schneller abnimmt als die Anziehung. Und Kant liefert sogar noch gewisse - man bemerke wohl! - „Schätzungen" (520-21) davon, die leider auf ziemlich unpassenden geometrischen und räumlichen Annahmen fußen - wie Kant sogar zögernd zugibt; ganz abgesehen davon, daß sie sich auch auf gewisse empirische Uberzeugungen stützen, die von den empirischen

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Hypothesen der physikalischen Wissenschaft herstammen; was Kant schließlich auch auf Sn. 517-18 zugibt. Noch peinlicher ist aber die Tatsache, daß Kant sich manchmal auf die Annahme der Proportionalität von ,träger' und der heute sogenannten schweren Masse, beruft, während er doch zugleich behauptet hatte, die letztere werde ihrerseits von der Anziehungskraft erzeugt; so daß er sich hier „in einem Zirkel" zu bewegen scheint; aus dem - wie er Jahre später in einem Brief an Beck gestand (17.11.1792) - „es mir unmöglich ist, herauszukommen, und ich muß weiterversuchen mich darin selbst besser zu verstehen" (AA, xi, 362). Nun ja, es war Kants Absicht, im Opus Postumum vielleicht die Lösung zu erreichen; aber dies ist ihm leider auch da nicht gelungen. 2 '

VII. Diese, und viele andere Schwierigkeiten, welche sich auf Seiten der wissenschaftlich-tatsächlichen Einzelheiten der kantischen Darstellung finden lassen, dürfen uns jedoch auf keinen Fall davon abhalten, die philosophische und methodologische Bedeutung der in den M A enthaltenen Gedanken zu unterschätzen, oder ihnen weniger Interesse als sie wirklich verdienen, entgegenzubringen. Zu diesem Ende wollen wir uns noch etwas weiter in Kants Motive für seine dynamische „Metaphysik" hineindenken. Wir haben schon gezeigt, daß Kants Motiv für die zentrale Stellung, welche er den Kräften als dem wesentlichen Bestandteil der Materie zuweist, dasjenige ist, der Newtonschen Anziehungskraft ,in die Ferne' intellektuelle Respektabilität zu verschaffen. Dahinter steht aber die Gesamteinstellung, welche Kant dem Begriff der Grundkräfte der Materie überhaupt entgegenbringt. U m dies richtig zu verstehen, müssen wir etwas tiefer in diese Idee der Repulsiv- und Attraktionskraft als das „Wesen der Materie" (511) eindringen. Eine interessante Erklärung dafür findet man in einer vielbesprochenen Anmerkung, die Kant seinem ersten Lehrsatz - daß die

29

Siehe dafür Tuschling, a.a.O., Fn.25, S.46. Weiterhin für die Bewertung des Opus Postumum, s. Hansgeorg Hoppe, Kants Theorie der Physik (Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1969).

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Materie den Raum „nicht durch ihre bloße Existenz, sondern durch eine besondere bewegende Kraft" erfüllt - beifügt. (497-98) Viele Mathematiker und Physiker seiner Zeit (er erwähnt „Lambert und Andere" vielleicht Musschenbroek) hatten laut Kant die Existenz der Materie im Raum (und deren Widerstand gegen jegliches Eindringen) durch die Eigenschaft der „Solidität" bezeichnet. (Dies findet sich auch bei John Locke.) Kant behauptet nun, daß auf diese Art und Weise der Widerstand, den die Materie ausübt nur durch einen ,logischen' Zug bezeichnet sei; d. h. er unterstellt - ob das jene Denker so verstanden haben, sei hier offengelassen - , daß auf diese Weise die Opposition zwischen zwei Körpern, die ineinander eindringen wollen, nur logischer Art sei; „nach dem Satz des Widerspruches"; während eine überzeugende Erklärungsweise erfordere, daß diese auf eine reell-wirkliche Ebene gebracht werde: Der Satz des Widerspruchs treibt keine Materie z u r ü c k . . . N u r alsdann, wenn ich dem, was einen Raum einnimmt, eine Kraft beilege, alles äußere Bewegliche, welches sich annähert, zurückzutreiben, vestehe ich, wie es einen Widerspruch enthalte, daß in den Raum, den ein Ding einnimmt, noch ein anderes von derselben Art eindringe (498; meine Hvh.).

Auf den ersten Blick erscheint diese Kritik nicht sehr überzeugend. Was ist denn der Unterschied, so fragen viele Kommentatoren, zwischen der Materie als Kraft, und ihrer Beschreibung als Solidität? Beides sind doch schließlich physikalische Prädikate? Trotzdem hat der Unterschied, auf den Kant hier zielt, eine tiefere Bedeutung. In der Schrift über Die negativen Größen (1763), wo zum ersten Mal, insbesondere im Zusammenhang mit dem Problem des Unterschiedes zwischen dem logischen und dem wirklichen Widerstreit, der Versuch gemacht wird, den Unterschied zwischen dem Logischen und dem Reellen zu präzisieren, sucht Kant dies zu erklären durch Bezugnahme auf den Unterschied zwischen der rein logischen Formel ,p und nicht-p' (deren logischer Wert,Unmöglichkeit' ist), und der mathematischen ,a plus (minus-a)', deren Wert nichts weniger als unmöglich, sondern eine wirkliche Zahl, nämlich null, ist; worauf er dann noch auf ein zweites Beispiel hinweist, nämlich was wir heute als,Vektoraddition' von Kräften bezeichnen. Durch solche Analogien versucht Kant also das Feld des Nichtlogischen klarzustellen; genau wie später wieder in der KrV. ( A 2 6 4 / B 320) Wir können also die Lambertstelle wie folgt verstehen: es handelt

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sich hier um die metaphysischen Grundlagen der Körperlehre, d. h. um Bestimmungen ihrer Möglichkeit. Die letztere kann aber nicht aus ihrem bloßen Begriffe [im kantischen Verstehen hier bloß ,logischen'] erkannt werden . . . ; es wird noch erfordert, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff konstruiert werde (470).

Die Diskussion verläuft also hier parallel mit derjenigen, die man ganz allgemein in der KrV antrifft. (Z.B. Β308, und an vielen anderen Stellen.) Genau wie die „reinen Begriffe" (im logischen Sinne) erst schematisiert („realisiert", A147/B187) werden müssen, um für die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt etwas zu liefern, so sind auch empirische Begriffe erst unter etwas dem Schema Ahnliches zu bringen, um als Grundlage für die Möglichkeit des Physikalischen - Kants „besonderer Natur" (470) - dienen zu können. (S. auch oben, am Anfang von Abschn. V, über das .Analogieverhältnis' zwischen Kategorie und Konstruktion.) Nun ist es aber bemerkenswert, daß es, was die Kräfte betrifft, laut Kant gerade nicht möglich sein wird, ein Konstruktionsverfahren auf sie anzuwenden. Diese Schwierigkeit wollen wir nun erklären. Im Zusammenhang mit der dynamischen Auslegung des Materiebegriffs kommen in erster Linie die drei Qualitätskategorien: Realität, Negation, Limitation in Betracht; korrespondierend mit dem „Reellen" der Zurückstoßungskraft, dem „Negativen" der Anziehungskraft und „der Einschränkung der ersten durch die zweite" (wie Kant es auf S. 523 beschreibt). Speziell kommt es hier auf die Realitätskategorie an, welcher das Schema einer „Empfindung überhaupt korrespondiert" (A143/B 182); und hier also die Kraft, von welcher „der Sinn des Gefühls" uns „von einem bestimmten Gegenstande im Räume einen Begriff verschafft" (510; s. oben, Abschn. I I b ; auch für das sogleich folgende im ganzen). In diesem Zusammenhange ist es besonders wichtig, daß die „Abhandlung" der „metaphysischen Dynamik" unter den obigen „Titeln" der drei Kategorien (523) nicht etwa nur eine architektonische, sondern ebenso sehr noch eine ontologische Bedeutung für Kants ganze Behandlung der Frage der Kräfte hat. Die über die Kategorie „Realität" vermittelte Bezugnahme auf das Gefühl will besagen, daß dies mit dem grundlegenden Motiv der „Affizierung der Sinnlichkeit" (s. A253/B 309 für diese Ausdrucksweise) als „Empfindung" zusammenhängt, und so klarerweise das Fundamentale der a posteriorischen Seite der Erfahrung

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ausdrückt. Nun wird ja in dem dazugehörigen „Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung" ausdrücklich erklärt, daß die „Empfindung" das ist, welches als solche niemals „antizipiert werden", und nur „a posteriori in der Erfahrung gegeben werden kann" ( A 1 6 7 / B 2 0 9 ) . Weiterhin erklärt Kant hier, daß die Empfindung „keine sukzessive Synthese" im Räume enthält, und also „keine extensive G r ö ß e " darstellt (ebend.), sondern nur als „intensive Größe" gegeben ist, von der man nur den „Grad" schätzen kann. ( Z . B . wird auf A 1 6 0 / B 2 1 0 vom „Grad der Realität" als ein „Moment" gesprochen, und dabei „das Moment der Schwere" erwähnt.) Nun hat aber auch das an der zuletzt-zitierten Stelle erwähnte „schätzen" eine tiefere Bedeutung bei Kant. Dies wird klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß dieser Begriff in einem ganz besonderen Sinne gebraucht wird, und zwar in dem, welcher schon in Kants erster vorkritischen Schrift vorkommt, den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747); wo er den Standpunkt vertritt, daß Vis viva (mv 2 ) - im Gegensatz zu der Cartesischen „Triebkraft" (mv) nur „geschätzt" werden kann, während mv allein einer mathematischen Behandlung dort fähig ist (weil nur sie einem Erhaltungsprinzip unterliege - sie!). Jedoch will eben Kant, durch die Benützung dieses Wortes ,Schätzung', gleichzeitig andeuten, daß trotzdem Vis viva empirische Realität besitze - nur eben nicht in dem ,mathematischen' Sinne, wie er diesen Ausdruck da benutzt; auf welche Weise dann das Phänomen der Vis viva ,gerettet' werden soll und daher beiden Seiten (Descartes und Leibniz) Gerechtigkeit zugewiesen werden kann. Und es ist dieser Sinn des ,Schätzens', der in M A wieder auftaucht, und in ähnlicher Art benutzt wird. Für den Augenblick schauen wir jedoch auf das Hauptresultat: Die Materie, jetzt als „wesentlich" durch die Repulsiv- und Attraktionskräfte bestimmt, wird auf diese Weise auf das Gebiet der aposteriorischen Realität geführt. Und das ist der Sinn der Lambertstelle; es soll auf diese Weise die metaphysische Grundlage für den Materiebegriff geschaffen werden. V o r allen Dingen werden durch eine solche Begründungsweise - und das ist für Kant von der größten Wichtigkeit - die Kräfte, und im Besonderen: die Anziehungskraft, nicht (wie in der „mechanisch-mathematischen" Ansichtsweise) als „neue Hypothese" (533), als etwas der Sache selbst „fremdes" und hinterher „zukommendes" (525), sondern von vornerein als ein prinzipiell empirisches Ele-

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ment in die Physik eingeführt; anstatt in der Art wie das bei der Newtonschen Ansichtsweise geschieht, „wegphilosophiert" (524) zu werden. Kant beschreibt nun diese Auslegung des Materiebegriffs als etwas, „was den allgemeinen Begriff einer Materie überhaupt möglich macht" (524). Es ist aber wichtig zu verstehen, daß mit dieser Ausdrucksweise nur eine begrenzte und konditioneile „Möglichkeit" gemeint sein kann. Denn die Materie wird von Grundkräften abhängig erklärt, die doch selbst - wie wir schon angedeutet haben - prinzipiell nicht konstruierbar sein können (vgl. ebenda), weil sie unter solche Kategorien fallen, die nichts mit „extensiven", sondern nur mit „intensiven" Größen zu tun haben; aus welchem Grund auch die „Möglichkeit" der Materie selbst, im Sinne von etwas ,a priori anschaulich Konstruierbarem' nicht beweisbar ist. Man könnte vielleicht sagen: Die Materie ist so weit nur ein prinzipiell empirisches Moment (a posteriori) der Naturmetaphysik (im Sinne der Qualitätskategorien, denen sie untersteht; vgl. 523): ihre „allgemeine Möglichkeit" fällt so etwa zwischen die einer „Natur überhaupt" und die einer „besonderen Natur", die mathematisch (d. h. mit Hilfe der kinematischen Größen, Geschwindigkeit usw.) konstruierbar ist. Aus diesen Gründen sagt Kant auch in dem Lambert-Abschnitt (498), daß die Materie uns durch die Zurückführung auf Kräfte wenigstens „ein Datum der Konstruktion" anbietet - also nichts selbst Konstruierbares - , und daß man „nicht befugt [sei], jenes für etwas aller mathematischen Konstruktion ganz Unfähiges zu erklären". Man sieht also, daß provisorisch wenigstens hier das Konstruktionsproblem einfach ,vertagt' wird, wie ja auch Kant das ganze Dynamikkapitel hindurch wegen dieser Schwierigkeit' dauernd einem gewissen Zögern in seiner Darstellung Ausdruck gibt. Andrerseits soll das Wort „Datum" hier doch wohl noch auf ein weiteres Moment hinweisen, nämlich das der Beziehung, die zwischen Kraft und Bewegung besteht. N u n schreibt Kant schon in der KrV, daß die Kenntnis wirklicher Kräfte . . . nur empirisch gegeben werden kann, ζ. B. der bewegenden Kräfte oder, welches einerlei ist, gewisser sukzessiven Erscheinungen (als Bewegungen), welche solche Kräfte anzeigen (A207/B252; meine Hvh.).

Hier drückt das „einerlei" wieder die sprachanalytische Natur der Beziehung zwischen Kraft und Bewegung aus; etwas in der ganzen

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zeitgenössischen Physik als konventionell Enthaltenes. Man erinnere sich nochmals an das, was wir schon bei unserer Besprechung des Trägheitsgesetzes (Abschn. V) betonten: „Die Ursache einer Bewegung heißt aber bewegende Kraft" (497; meine Hvh.); und Bewegungen können laut Kant natürlich konstruiert werden. Allerdings hat für Kant diese Frage der Konstruierbarkeit, selbst mit Bezug auf Bewegung, noch eine weitere Schwierigkeit, indem - wie er in einer Anmerkung zu Lehrsatz 8 über die Anziehungskraft schreibt die Art wie . . . ein Punkt durch bewegende Kraft dynamisch einen Raum körperlich erfüllen könne, freilich keiner weiteren mathematischen Darstellung fähig ist . . . (520; meine Hvh.).

Weswegen diese Kraft nicht „durch divergierende Zurückstoßungsstrahl e n . . . vorstellig" gemacht werden kann; weil der Raum „voll" ist, kann keine Bewegung vorgestellt werden; d . h . Kant schließt ausdrücklich hier die Darstellung einer „unendlich kleinen Bewegung" aus! Sein Erfolg mit dem Möglichkeitsbeweis ist also so weit nur ein ziemlich bedingter, und das ersieht man auch aus der Art, wie er es am Ende bei einer ,Bilanz' beläßt, indem er die Stärken und Schwächen der zwei konkurrierenden Weltsysteme aufzählt. (524-25; 534) Im mechanischen Weltbild ist alles konstruierbar, aber die Kräfte werden dagegen nur ,νοη Außen' und ganz hypothetisch als solche hinterher hineingebracht. Im „dynamischen" sind die Grundkräfte von vornerein als etwas wesentliches in die Physik mit hineinbegriffen, aber man kann sie als das endgültig aposteriorische Element nicht weiter ,ableiten' (524), noch sie konstruieren, und deshalb auch ihre Möglichkeit nicht beweisen. Vielleicht könnte man weiter fragen: Wenn die Möglichkeit der Grundkräfte nicht beweisbar ist, woher nimmt sich Kant das Recht zu behaupten, daß sie in der dynamischen Metaphysik von vornherein, als das Wesentliche der Materie, in die Physik kommen? Er antwortet darauf, daß er sich nur auf das Recht berufe, solche Kräfte „als wirklich anzunehmen", indem er den „Begriff der Materie auf lauter bewegende Kräfte" zurückgeführt habe, zu dem sie „unvermeidlich gehören", „weil im Räume keine Thätigkeit, keine Veränderung als bloß Bewegung gedacht werden kann" (524) - will sagen: Tätigkeit als Ursache der Bewegung. Soweit ist dies also nur etwas Bedingtes und Begriffliches, wie auch das „gedacht werden" des letzten Zitats andeutet: Insoweit als man in der Physik mit dem Begriff der Materie arbeiten will, muß man sie aus Kräften usw. erzeugt begreifen. -

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Und doch ist dies nicht etwas nur ,Gedachtes', denn schließlich und letztlich sind die Kräfte etwas sich auf die Qualitätskategorien Stützendes, also ein aposteriorisches Faktum, daher auch das ebenerwähnte sich Berufen auf das „wirkliche" dieser Kräfte. (Während in der „mechanischen" Ansicht die „Hypothese" von Kräften nicht einmal eine derart schwache Grundlage hat.) Dieser ,Kräfterealismus' ist also doch etwas Prinzipielles; weswegen Kant es erlaubt ist zu sagen, daß auf das tatsächliche Bestehen solcher Kräfte in jedem physikalischen Zusammenhange „aus den Datis der Erfahrung geschlossen werden" darf. (534) Nun müssen also zugestandenermaßen sowohl die dynamische als auch die mechanische Ansicht das tatsächliche Dasein der Kräfte „aus den Datis der Erfahrung schließen", wobei noch zu erinnern ist, daß dieses ,Schließen' eine ziemlich komplizierte Sache ist, wie sich aus Newtons Principia z.B. ergibt. Der Unterschied zwischen den zwei Verfahren ist nur der: während laut Newton und seinen Nachfolgern die Fernkraft etwas irrationales' und deshalb (im kantischen Sinne) Unmögliches an sich hat, will Kant, glaube ich, sagen, daß mit seiner Auslegung der Kräfte als einer im Prinzip aposteriorischen Sache (in der Art wie wir das nun durchgehends besprochen haben) und der in diesem Sinne bewiesenen „allgemeinen Möglichkeit der Materie überhaupt", er wenigstens gezeigt hat, daß die Idee der Fernkraft nicht notwendigerweise etwas ,Unmögliches' darstellt; er gibt also eine Art „negativen" Beweis (524). Und es ist auf Grund eines solch relativ begrenzten Beweises, daß man dann zu dem Versuch einer ,Entdeckung' solcher Kräfte in konkreten Umständen schreiten darf, dem guten Grundsatz folgend, daß „alles wirkliche . . . möglich ist" (A231/B283). Ob dieser Schritt, vom Beweis der Möglichkeit zu dem von der ,Nicht-Unmöglichkeit', auf welcher dann das Recht zu einer Hypothesenbildung gründen soll, vollkommen statthaft ist, müssen wir (und Kant hat das anscheinend selbst auch getan) am Ende offen lassen. Und so müssen wir schließlich Kants eigenem Urteil zustimmen, daß sein Schema nur ein kritisches oder „negatives" Ziel hatte, nämlich zu zeigen, daß es nicht notwendig ist, und in der Tat etwas Sinnwidriges an sich hat, die Grundkräfte wegzuphilosophieren; obwohl er zugibt, daß es der dynamischen Methode nicht möglich ist, die Physiktheorie in der Art, wie die mechanische das vollbringt, aufzubauen. Mit der Terminologie unseres Schemas könnte man sagen, daß es in Wirklichkeit Kants Hauptziel war, zu zeigen, daß die Forderungen von seiten AKs ernst zu

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nehmen sind, und nicht - wie bei vielen seiner Zeitgenossen - vernachlässigt werden dürfen. (Vgl. 472-73)30 N u n kann man wohl zugeben, daß solche methodologischen Erwägungen prinzipiell wertvoll und wichtig sind, ohne darauf zu bestehen, daß sie in jedem einzelnen gegebenen Falle absolut bindend sein müssen. Tatsächlich findet man auch, daß während der unmittelbar auf Kant folgenden Periode viele Physikforscher und Philosophen sehr oft versucht haben, die Kräfte an Hand verschiedener Reduktionsmethoden, ,wegzuphilosophieren'; man denke vor allem an die Arbeiten von Ernst Mach und Heinrich Hertz in diesem Zusammenhang, um nicht noch frühere Physiker, wie etwa Lagrange zu erwähnen. In ähnlicher Weise finden wir, daß es während des 20. Jahrhunderts immer problematischer geworden ist, einen einfachen ,Kräfterealismus' zu vertreten; wie überhaupt der Realismus in der Physik, wenigstens bis vor 10 Jahren, wenig Freunde gehabt hat. Am Ende besteht meiner Ansicht nach das Wertvolle in Kants „Metaphysik der Natur" darin, die Aufmerksamkeit auf das Bestehen eines dreigliederigen Methodenschemas gelenkt, und in seiner Metaphysik im besonderen ein wertvolles Beispiel dafür gegeben zu haben. Jede Generation hat häufig in Kant ihren ,Vorläufer' gesehen, und ihre philosophischen Themen dadurch weiter zu befestigen versucht. Und so ist es auch heute wieder, indem Themen wie Lakatos' Idee des ,metaphysischen Hartkerns', oder etwa L. Laudans Unterstreichen der Wichtigkeit des ,Begriffsproblems' (conceptualproblem') für unser Verständnis der Idee des wissenschaftlichen Fortschrittes', in der kantischen Naturmetaphysik in sehr tiefgehender Weise schon antizipiert worden sind.31 50

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Die entgegengesetzte Einstellung ist besonders in unserem Jahrhundert von Physikern eingenommen worden, um aus Bedeutungsschwierigkeiten der Quantenmechanik herauszukommen. Man sagte da gewöhnlich, daß es nicht nötig sei, den mathematischen Ausdrücken die darin vorkommen, irgendwelche physikalische, oder sogar anschauliche Bedeutung beizumessen. Die Bedeutung solcher Ausdrücke bestehe ausschließlich in der Stellung welche sie in den Axiomen einer gegebenen Theorie einnehmen (implicit definitions). Die klassische Auseinandersetzung über ähnliche Einstellungen während der ersten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts findet man in N . R. Campbell, Physics, The Elements (Cambridge: University Press, 1920); nachträglich veröffentlicht als Foundations of Science: The Philosophy of Theory and Experiment (New York: Dover Pubi., 1957). Siehe dafür auch mein „Theory Construction: The Work of Norman Robert Campbell", Isis 24 (1955) 151-62. Larry Laudan, Progress and its Problems (London: Rougledge, 1977), Pt. I, ch. 2. Und auch seine .Comments' über mein „Historical and Philosophical Perspectives of Science", a . a . O . , Fn. 1, Sn. 230-37.

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Vili. Im Zusammenhang mit dem ebenerwähnten ,Kräfterealismus' Kants ist, mag nun auch der Platz knapp sein, kurz auf das allgemeine Problem des Realismus bei Kant zurückzukommen, welches wir beiläufig schon einige Male gestreift haben. In der KrV wird die „Gravitation" (A612/ Β 685) als ein Beispiel dafür zitiert, wodurch die Einheit einer Wissenschaft möglich gemacht wird; insbesondere, durch den zusätzlichen Gebrauch verschiedener sogenannter regulativer Maximen, Beispiele von welchen wir unter RK in unserem Schema erwähnt haben; z.B. Gleichartigkeit, Varietät und Affinität. (A657/B685; vgl. auch Prolegomena, 38 [AA, iv, 321], wo die systemische Bedeutung von RK für die Newtonsche Gravitationstheorie betont wird.) RK liefert (wie wir dies genannt haben) das Kriterium der ,Vernünftigkeit' für den Gravitationsbegriff; verglichen mit der ganz separat bewiesenen Verständlichkeit', die wie gezeigt ihm seitens AK zukommen soll. Während Kant also auf Grund von AK, einen relativen ,Realismus' der Gravitation vertritt, verleiht RK diesem Begriff nur regulativen' Gehalt, was in moderner Ausdrucksweise eine ,instrumentalistische' Haltung seitens Kant andeuten würde; eine Haltung, die er überhaupt gegenüber den meisten der theoretischen Begriffe seiner und früherer Zeiten einzunehmen scheint. (Man vergleiche z.B. seine Einschätzung der Aristotelischen ,Elemente', oder der Begriffe von „Erden, Salze und brennliche Wesen, . . . Wasser und Luft", sowie des Phlogistons seiner eigenen Zeit, die alle als bloß regulative Hilfsmittel zur systematischen Behandlung, anstatt als Wesen im existenziellen Sinne, betrachtet werden. (Vgl. A647/B673; Bxiii) Andererseits wieder ist natürlich für Kant die gesamte Wissenschaft (einschließlich ihrer Behandlung durch die drei methodischen Komponenten) als auf der Ebene des „empirischen Realismus" liegend zu betrachten (parallel mit dem ihm entsprechenden „transzendentalen Idealismus"). Und es ist nur innerhalb dieses Realismus, daß Kant die Kräfte entweder ,instrumentalistisch' (auf RK basierend) oder realistisch' (im Sinne von AK) versteht. Angesichts dieser Vieldeutigkeit des Realismus, gibt es auf die Frage nach Kants Anschauung darüber keine eindeutige Antwort - was auch als eine interessante Antwort auf den gegenwärtigen Streit über den Wissenschaftrealismus gelten kann. Schließlich sollte man die kantischen Ausführungen in MA nur, wie

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Kant selbst sagte, als einen ersten „Entwurf" (478) betrachten, der zeigen sollte, wie der „metaphysische Teil" sich für eine „allgemeine Physik" gestalten könnte. Manche der darin besprochenen Themen finden auch ihren Wiederklang in'der modernen Physik. Diese liefert ζ. B. eine ganze Anzahl von Fällen des Zusammenwirkens von Repulsivund Anziehungskräften. So haben wir es im Inneren des atomischen Nucleus, z . B . , mit sogenannten ,starken Wechselwirkungen' zwischen Protonen und Neutronen zu tun, deren gegenseitige Anziehungen anfangs durch gewisse elektrostatische Repulsivkräfte ausgeglichen werden, um Stabilität zu erreichen. Dagegen bauen sich in Neutronensternen, wo die Neutronen noch viel enger zusammengedrückt werden, weit größere Repulsivkräfte auf, die dann auch wieder durch immer größerwerdende Gravitationskräfte ausgeglichen werden müssen, usw. usw. — alles interessante Anwendungen oder Interpretationen des kantischen Kräftebildes. Auch das Zusammenspiel zwischen Materie, Kraft und Raum findet sein Echo in der modernen Relativitätstheorie. Jedoch muß man hier vorsichtig sein: wird Kants skizzenhaftes philosophisches Vorgehen in M A so bewertet, daß es mit jedweder Entwicklung der Physik in Einklang gebracht werden müsse und könne, dann würde es - laut einem Popperschen Falsifikationsprinzip - aller Bedeutung beraubt werden. Wollte man andererseits darauf bestehen, das kantische System müsse in präziser Art und Weise zu ganz bestimmten physikalischen Voraussagen führen, dann würde dies ein Mißverstehen des Wesens der Auslegungskomponente (die den Ausführungen von M A entspricht) anzeigen und sie jeder philosophischen Bedeutsamkeit berauben. Ein weiser Beobachter wird daher versuchen, einen Mittelweg zu beschreiten und sich darauf beschränken, die philosophische Bedeutsamkeit des kantischen Vorgehens in M A als solches zu würdigen, und nicht fragen, wie ,korrekt' dies mit den physikalischen Tatsachen' übereinstimmt, sondern wie weit dies unser physikalisches und philosophisches Verstehen erweitert. Ähnliche Bemerkungen sind im Zusammenhang mit dem „Beweis" der nicht-Newtonschen unendlichen Teilbarkeit der Materie am Platze (4. Lehrsatz, 503). Diese folgt ganz einfach aus der Tatsache, daß wir dem Vorhandensein unserer zwei Grundkräfte keine Schranken setzen können, so daß die Teilbarkeit sich auf das dynamische Kontinuum im Verhältnis zu dem Raumkontinuum erstrecken muß. Aber daß es nun solche Kräfte mit den Eigenschaften, die Kant ihnen beilegt, gebe, ist,

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wie aus seiner Darstellung selbst folgt, natürlich eine empirische Sache. U n d so kann es nicht überraschen, daß die Möglichkeit einer Q u a n t e lung' der Kraft (wie dies in unserem Jahrhundert geschehen ist) immer vorhanden war, und mit den metaphysischen Grundlinien der M A nicht so sehr in Konflikt steht. All dies unterstreicht nur noch einmal den Punkt, daß Kants metaphysische Grundlagen nur die Absicht haben konnten, der Newtonschen Weltanschauung eine rationale Auslegung zu geben, um ihre Bedeutsamkeit für die Grundlagen aller Erkenntnis zu erforschen. D a kann man also wohl erwarten, daß, wo die besonderen Erfahrungen sich ändern, der metaphysische „Entwurf" auch gewisser Abänderungen bedürfen werde. Ganz falsch ist nur die Meinung, daß solche Abänderungen zu einer ,Widerlegung' der gesamten kritischen Anschauung als solcher führen müßten. Ein metaphysisches Vorgehen dieser Art macht nicht die ,Autoritätsansprüche', die manche Philosophen (wie z . B . Richard Rorty 32 ) gegen ein solches transzendentales' Vorgehen jüngstens eingelegt haben; denn dieses Vorgehen muß man eher als eine Art ,Plan' ansehen, mit Hilfe dessen wir versuchen, uns in dem Gebäude der Wissenschaft zurecht zu finden. Das Konstruieren eines solchen Planes wird selbst ursprünglich von der erst provisorischgegebenen Wissenschaftsepoche angeregt - , obwohl nachträglich der Plan selbst die Weiterentwicklung einer Wissenschaft beeinflussen mag. In Kants Fall würden Veränderungen in der wissenschaftlichen Anschauung nur zeigen, daß verschiedene Begriffe des Transzendentalgerüstes der KrV in einer veränderten Sachlage keine „Anwendung" mehr finden, oder wenigstens nicht in der Art, wie Kant sich dies in M A vorgestellt hatte; und weiterhin, daß das Material (die Deutung des „empirischen Begriffes" der Materie), auf welches jene Allgemeinbegriffe angewendet werden sollten, nun selbst wieder einer begrifflichen Revision bedürfe. Allgemein gesprochen sind die M A nur als Muster für eine mögliche Ausarbeitung von A K anzusehen. Die Kategorientafel liefert da nur einen Wegweiser (vgl. 474) zur Untersuchung des empirisch verstandenen Begriffsaufbaues der Physik einer bestimmten Epoche. Dieses Fak32

Richard Rorty, „Transcendental Arguments, Self-Reference, Bieri, R. P. Horstmann & L . Krüger (Hrsg.), Transcendental (Dordrecht: Reidei, 1979), Sn. 77-104; auch sein Philosophy ( O x f o r d : Blackwell, 1980); und meine Bemerkungen darüber cendental Approaches", Fn. 1, Sn. 18-19.

and Pragmatism", in P. Arguments and Science & The Mirror of Nature in meinem „Neo-Trans-

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tum der empirischen Begriffsbildung bringt es natürlich mit sich, daß das Resultat niemals tragfähiger sein kann als die in Frage stehenden empirischen Begriffe selbst. Andererseits zeigt es sich jedoch, daß - wie im Falle der M A selbst - ein solches Schema auch zu anderen Ansichten über die Grundlagen, d. h. die grundlegenden Begriffe, einer empirischen Physik führen kann, indem zum Beispiel - wie das mit den M A wirklich der Fall gewesen ist - das Interesse von atomistisch-gestalteten Anschauungen auf den physikalischen Feldbegriff gelenkt wurde. Vor allem aber muß verstanden werden, daß ein solches Gebäude nicht auf deduktive Weise aus der KrV abgeleitet zu werden beansprucht. Im Gegenteil mag sich die Beziehung zwischen M A und KrV manchmal sogar in entgegengesetzter Richtung gestaltet haben. So hat Hermann Cohen schon darauf hingewiesen, daß das logische Gerüst der M A fast sicherlich die Grundlage für die architektonische Ordnung der Kategorien abgegeben hat. Es kann kaum ein Zufall gewesen sein, daß die vier Kategoriengruppen sich so eng an die vier Kapitel der MA anschließen; insbesondere, daß die drei Prinzipien der Analogien: Substanz, Kausalität und Wechselwirkung, sich in solch passender Weise in Verbindung mit den Gesetzen der Erhaltung der Masse, der Trägheitskraft und des Impulses bringen lassen. Nachdem, was hier ausgeführt worden ist, wird das nicht sehr überraschen; noch weniger sollte es als eine Art Taschenspielerei angesehen werden; denn in Wirklichkeit sind die Beziehungen zwischen KrV und M A eben loser, als manchmal angenommen worden ist. Die Einsicht in solche Beziehungen zeigt, daß die M A ein unentbehrliches Werkzeug zum vollen Verständnis der KrV selbst sind, wenn die letztere in ihrem Gesamtumfang verstanden werden soll.33

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Auch hat Tuschling ja (a.a.O., Fn.25) sehr schön gezeigt, daß Kants physikalische Materietheorie, sowohl vor als auch besonders nach 1786 stark von der Darstellung in den MA abweicht, so daß man annehmen muß, daß die letzteren hauptsächlich nur darauf abzielten, zu zeigen wie man die zeitgenössischen Einstellungen über die Dynamiklehre ungefähr mit dem „transzendentalen Teil der Metaphysik der Natur" in Ubereinstimmung bringen könnte. Das Werk ist eben nur ein „Entwurf", der die „mathematischen Naturforscher" davon überzeugen soll, „den metaphysischen Teil, dessen sie ohnedem nicht entübrigt sein können, in ihrer allgemeinen Physik als einen besonderen Grundteil zu behandeln und mit der mathematischen Bewegungslehre in Vereinigung zu bringen." (478)

KONRAD CRAMER

(Münster, jetzt Göttingen)

Kontingenz in Kants „Kritik der reinen Vernunft" Die Überlegungen, die ich im folgenden zur Diskussion stellen will1, gelten nicht dem vollen Umfang der Probleme, die sich mit Kants Theorie der Kontingenz dann verbinden lassen, wenn man sie auf seine kritizistische Lehre von den Modalbestimmungen zurückbezieht, sondern den Konnotationen von drei von Kant unterschiedenen Begriffen von „Zufälligkeit" und Kants Beantwortung der Frage, inwieweit und inwieweit nicht ein Ubergang zwischen diesen Begriffen gerechtfertigt werden kann.

I Kant unterscheidet zwischen der empirischen Zufälligkeit im Dasein der Erscheinungen, insofern sich diese als Veränderungen präsentieren, der intelligiblen Zufälligkeit im Dasein der Dinge überhaupt und der logischen Zufälligkeit im Dasein der Erscheinungen und der Dinge überhaupt. Eine seiner Grundthesen ist es, daß ein analytischer Übergang von der empirischen Zufälligkeit auf die intelligible unmöglich ist und eben daher einer Variante des klassischen Arguments ,a serie entium contingentium ad ens extra Seriem idque necessarium' der Weg abgeschnitten ist. Dieser These kommt innerhalb der Exposition des vierten Widerstreits der Antinomie im Begriff der Welt eine besondere Bedeutung zu. Ließe sich nämlich der Übergang von dem, was Kant die empirische Zufälligkeit nennt, zu dem, was Kant die intelligible Zufälligkeit oder die Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes nennt, 1

Der Text gibt den unveränderten Wortlaut meines auf der Marburger Kant-Tagung 1981 gehaltenen Vortrags. Auf sachliche Schwierigkeiten, die der Leser bei der Beurteilung der Argumente für die vorgeschlagenen Rekonstruktionen haben mag, werde ich an anderer Stelle, in meinem Beitrag für das auf 1984 geplante Heft „Kontingenz" der „Neuen Hefte der Philosophie" zurückkommen.

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rechtfertigen, ergäbe sich eine theoretische Situation, in der der von Kant gezogene Schluß auf den antinomischen Charakter der Vernunft in Ansehung des Begriffs des Weltganzen nicht mehr zwingend wäre und sogar als irrig zurückgewiesen werden müßte. In der Anmerkung zur Thesis der vierten Antinomie skizziert und kritisiert Kant ein Argument der Metaphysik, welches dieser Antinomie auf eben diese Weise entgehen will. Diesem Argument und den kantischen Mitteln seiner Zurückweisung gilt im folgenden mein Interesse. Bevor ich das Argument selber vorstelle, erinnere ich an die Thesis der vierten Antinomie: Diese lautet: „Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Teil oder ihre Ursache ein schlechthin notwendiges Wesen ist." ( B 4 8 0 ) Der Beweis der Thesis hat sich im Kontext der Analyse des Vernunftbegriffs von einem Ganzen, das Welt heißt, durch ein „rein kosmologisches Argument" (B 484) zu ergeben. Rein kosmologisch ist ein Argument für das Dasein eines schlechthin oder absolut notwendigen Wesens nun genau dann, wenn es nicht vom Begriff eines absolut notwendigen Wesens und auch nicht vom Begriff eines bedingt existierenden Wesens ausgeht und diesen nach einem Prinzip mit jenem analytisch verknüpft, also genau dann, wenn es weder ein ontologischer noch ein aus dem Begriff des Kontingenten geführter kosmologischer Beweis des Daseins eines absolut notwendigen Wesens im Sinne der tradierten Verfahrensweisen der Metaphysik ist. Rein kosmologisch ist ein Argument für ein solches Wesen vielmehr genau dann, wenn es von dem Bedingten in der Erscheinung, nämlich von den Veränderungen in der Sinnenwelt, zum Unbedingten im Begriff aufsteigt, „indem man dieses (sc. das Unbedingte) als die notwendige Bedingung der absoluten Totalität der Reihe ansieht." (B484, Hvh. v. V.) Jede Veränderung, das war das Resultat des Beweises der zweiten Analogie der Erfahrung, steht als ein möglicher Gegenstand der Erfahrung unter einer Bedingung, die ihr der Zeit nach vorhergeht und unter der ihr Eintritt notwendig ist. Eben dies sagt der synthetische Grundsatz a priori: „Alle Veränderungen haben eine Ursache" aus. Der Beweis dieses Satzes hat nach Kants Überzeugung zugleich dargetan, daß der epistemisch ausweisbare Referenzbereich des Begriffs der Relation von Ursache und Wirkung der Bereich der Veränderungen in der Sinnenwelt ist, so daß sich die Wahrheit folgenden Bikonditionals ergibt: „Wenn etwas Veränderung ist, dann ist es Wirkung, und wenn etwas Wirkung ist, dann ist es Veränderung". Die Vernunft fordert nun, daß jede Veränderung oder,

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wie auch gesagt werden kann, jeder Zustand der Dinge, der entstanden ist, als Etwas innerhalb eines vollständigen Ganzen von Veränderungen oder entstandenen Zuständen aufzufassen ist und in Ansehung seiner Existenz innerhalb eines solchen Ganzen eine vollständige Reihe von Bedingungen seiner Existenz voraussetzt, die ihrerseits nur begriffen werden kann, wenn eine Bedingung zugrundegelegt wird, die schlechthin unbedingt ist. Das Argument für die Thesis der vierten Antinomie hebt im Unterschied zu dem Argument für die Thesis der dritten auf den Begriff des Weltganzen ab und gewinnt dadurch den Begriff eines solchen Unbedingten, das, als Bedingung der Existenz eines beliebigen Bedingten, innerhalb dieses Ganzen als eines Ganzen seinerseits nicht so existieren kann, daß es von einer Bedingung innerhalb dieses Ganzen abhängt. Ein solches Unbedingte gehört aber - und das ist die systematische Pointe der Beweisstrategie für die Thesis - selber zur Sinnenwelt, d.h. selber zu dem Ganzen, als dessen Bedingung es auf Grund des Vernunftbegriffs von diesem Ganzen eingeführt wird. Wäre es nämlich Etwas außerhalb dieses Ganzen, würde die Reihe der Veränderungen in der Welt ihren Anfang von Etwas ableiten, was nicht zu dieser Reihe gehört. Dies ist, so argumentiert Kant, deshalb unmöglich, weil der Anfang einer Zeitreihe nur durch Etwas bestimmt werden kann, was ihm der Zeit nach vorhergeht. Sofern daher die unbedingt notwendige Bedingung die Bedingung für die Existenz einer Reihe von Veränderungen soll sein können, muß ihre Kausalität für diese Reihe und daher sie selber als deren Ursache in der Zeit sein, gehört also selber zu der Reihe der Erscheinungen und kann „von der Sinnenwelt, als dem Inbegriff aller Erscheinungen, nicht abgesondert gedacht werden." (B482) „Also ist in der Welt selbst etwas Schlechthinnotwendiges enthalten." (B482, Hvh. v. V.) Ein rein kosmologisches Argument für das Dasein des schlechthin Notwendigen darf also nichts anderes zugrundelegen „als die Reihe von Erscheinungen und den Regressus in derselben nach empirischen Gesetzen der Kausalität" und führt daher auf die Existenz einer solchen unbedingten Bedingung für die Existenz der als ein Ganzes aufgefaßten Reihe der Erscheinungen, die selber Glied, wenngleich durch kein anderes Glied der Reihe bedingtes Glied der Reihe ist. Nun behauptet Kant allerdings in genau diesem Kontext, daß der rein kosmologische Beweis „das Dasein eines notwendigen Wesens nicht anders dartun (kann), als daß er es zugleich ««ausgemacht lasse, ob dasselbe die Welt

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selbst, oder ein von ihr unterschiedenes Ding sei." (B484, Hvh. v. V.) Diese Behauptung ist einigermaßen merkwürdig. Denn erstens findet sich im Beweis für die Thesis kein Argumentationspotential, welches den Schluß darauf, daß das Weltganze selber die absolut notwendige Bedingung für seine Existenz ist, auch nur nahelegen könnte. Die bloße Annahme, das absolut notwendige Wesen könnte auch Etwas von der Welt Unterschiedenes, das heißt Etwas außerhalb der Welt Existierendes sein, macht aber in einem rein kosmologischen Argument nicht einmal Sinn. Kant selber führt aus: „Denn in eben derselben Bedeutung muß etwas als Bedingung angesehen werden, in welcher die Relation des Bedingten zu seiner Bedingung in der Reihe genommen wurde, die auf diese höchste Bedingung in kontinuierlichem Fortschritte führen sollte. Ist nun dieses Verhältnis sinnlich und gehört zum möglichen empirischen Verstandesgebrauch" - nämlich nach dem Grundsatz ,Alle Veränderungen haben ihre Ursache' - , „so kann die oberste Bedingung oder Ursache nur nach Gesetzen der Sinnlichkeit, mithin nur als zur Zeitreihe gehörig den Regressus beschließen, und das notwendige Wesen muß als das oberste Glied der Weltreihe genommen werden." (B 484/86, Hvh. v. V.) Es ist genau diese methodologische Voraussetzung des Beweises der Thesis, die zu ihrem propositionalen Gehalt führt, und sie ist es, die Kant in dem Argument der Metaphysik, dem im folgenden mein Interesse gilt, verletzt sieht. Es heißt zunächst: „Wenn man aber einmal den Beweis kosmologisch anfängt, . . . : so kann man nachher davon nicht ^¿springen und auf etwas übergehen, was gar nicht in die Reihe als ein Glied gehört." (B484, Hvh. v.V.) N u n fährt Kant fort: „Gleichwohl hat man sich die Freiheit genommen, einen solchen Absprung (μετάβασις εις αλλο γένος) zu tun. Man Schloß nämlich aus den Veränderungen in der Welt auf die empirische Zufälligkeit, d. i. die Abhängigkeit derselben von empirisch bestimmenden Ursachen,und bekam eine aufsteigende Reihe empirischer Bedingungen, welches auch ganz recht war. Da man aber hierin keinen ersten Anfang und kein oberstes Glied finden konnte, so ging man plötzlich vom empirischen Begriff der Zufälligkeit ab und nahm die reine Kategorie, welche alsdann eine bloß intelligible Reihe veranlaßte, deren Vollständigkeit auf dem Dasein einer schlechthin notwendigen Ursache beruhte, die nunmehr, da sie an keine sinnliche Bedingungen gebunden war, auch von der Zezfbedingung, ihre Kausalität selbst anzufangen, befreit wurde. Dieses Verfahren ist aber

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wie man aus folgendem schließen kann." ( B 4 8 6 ,

Es gilt zunächst, zwei Momente der internen Logik dieses von Kant in der Folge als widerrechtlich bestimmten Verfahrens genauer zu kennzeichnen. Mit den Argumenten, die Kant selber für die Thesis und die Antithesis der vierten Antinomie vorbringt, hat es die Voraussetzung gemein, von dem Phänomen der Veränderungen in der Welt auszugehen und aus ihnen auf deren empirische Zufälligkeit zu schließen. Empirisch zufällig ist nun jede Veränderung genau insofern, als der Begriff,empirisch Zufällig' nichts anderes bedeutet als ,Abhängigkeit von empirisch bestimmenden Ursachen'. Dies besagt: Jede Veränderung ist empirisch zufällig genau insofern, als sie eine empirisch bestimmende Ursache hat, d. h. insofern die zweite Analogie der Erfahrung gilt. Denn ,Ursache' ist genau das, unter Voraussetzung von dessen Existenz die Existenz von etwas Anderem notwendig ist. (Hieraus allein ergibt sich, so meine ich, zwingend, daß der Bereich des empirisch Zufälligen in Kants Theorie der Modalbestimmungen mit dem Bereich des empirisch Notwendigen identisch ist. Das ist eine Interpretationsthese, die ich hier nicht weiter entwickeln werde.) Eine Ursache ist nun genau dann empirisch bestimmend, wenn sie selber in den Bereich des Empirischen gehört, das heißt: wenn ihre Kausalität für etwas Anderes selbst zur Zeitreihe gehört. Wenn dies der Fall ist, untersteht sie, als etwas, das als Ursache existiert, aber selber dem Gesetz der Kausalität, ist also selber Wirkung einer anderen empirisch bestimmenden Ursache. So „bekam man", wie es heißt, „eine aufsteigende Reihe empirischer Bedingungen, welches auch ganz recht war." Da nun aber jede angebbare empirisch bestimmende Ursache nach dem Gesetz des dynamischen Zusammenhangs der Erscheinungen als etwas aufgefaßt werden muß, das entstanden ist und für das ein voriger Zustand Kausalität hat, gerät man genau in die Schwierigkeit, welche das zwingende Motiv für die Behauptung der Antithesis der vierten Antinomie ist. Es zeigt sich nämlich, „daß das Aufsteigen in der Reihe der Ursachen (in der Sinnenwelt) niemals bei einer empirisch unbedingten Bedingung endigen könne, und daß das kosmologische Argument aus der Zufälligkeit der Weltzustände, laut ihren Veränderungen, wider die Annehmung einer ersten und die Reihe schlechthin zuerst anhebenden Ursache ausfalle." ( B 4 8 5 , Hvh. v. V.) Mit der Einsicht, daß man im Regressus in der Reihe des empirisch Zufälligen keinen ersten Anfang und kein oberstes Glied finden kann,

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übernimmt das von Kant vorgestellte Argument die erste Teilaussage der Antithesis, nämlich die Aussage: „Es existiert . . . kein schlechthin notwendiges Wesen ...in der Welt." (B 481, Hvh. v. V.) Zweitens aber hält es die Thesis mit dem Argument für diese Teilaussage der Antithesis auch für widerlegt. Zu der Welt gehört gerade nicht etwas, das entweder als ihr Teil oder als ihre Ursache ein schlechthin notwendiges Wesen ist. N u n behauptet das Argument weiter, daß sich die zweite Teilaussage der Antithesis, nämlich die Aussage: ,Es existiert auch außer der Welt kein schlechthin notwendiges Wesen als ihre Ursache' (aus Β 481, Hvh. v. V.) nicht nur nicht zwingend ergibt, sondern falsch ist. Der erste Schritt in der Begründung für die Falschheit der zweiten Teilbehauptung der Antithesis ergibt sich so, daß das Argument von dem Begriff der empirischen Zufälligkeit abgeht und an dessen Stelle die „reine Kategorie" der Zufälligkeit setzt. Mit eben diesem Schritt leitet sie nun die Konstruktion einer, wie Kant sie nennt, „bloß intelligiblen Reihe" ein. Also erstens die Konstruktion einer Reihe, und das heißt hier, einer Pluralität von Entitäten, die insgesamt zueinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen, wie die Reihe der Veränderungen auch. Jedes Glied dieser Reihe ist Glied dieser Reihe, insofern es Ursache einer Wirkung ist, die ihrerseits durch eine dritte Ursache bewirkt ist, von der dasselbe gilt. Diese Reihe aber ist eine intelligible genau insofern, als die für die Reihe der Veränderungen konstitutive Bedingung ihrer Existenz, nämlich die Bedingung der Zeit, aus ihr exportiert wird. Und daher ergibt sich als letzter Schritt des Arguments der Ubergang auf eine für die Vollständigkeit dieser Reihe anzunehmende Ursache, die die unbedingte Bedingung für sie ist, dies aber so, daß sie von der Zeitbedingung, ihre Kausalität für diese Reihe anzufangen, befreit ist, weil die Glieder der Reihe selber von dieser Bedingung befreit worden sind. Und daher kann sie als Etwas außerhalb dieser Reihe Existierendes aufgefaßt werden. (Die Begründung für diese Möglichkeit muß sich freilich noch ergeben.) Die Konstruktion des Begriffs der Welt als eine intelligible Reihe erlaubt dann den Schluß: „Es existiert ein schlechthin notwendiges Wesen außerhalb der Welt als ihre Ursache." Dieses Verfahren aber ist, behauptet Kant, „ganz widerrechtlich", und zwar, wie das folgende lehrt, deshalb, weil sich der erste Schritt dieses Verfahrens, der Ubergang vom empirischen Begriff der Zufälligkeit auf den intelligiblen Begriff der Zufälligkeit gar nicht rechtfertigen läßt. Was bedeutet, so ist zunächst zu fragen, für Kant „intelligibel zufällig"?

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II „Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie" - und das heißt ,intelligibel zufällig' oder ,zufällig nach Begriffen des reinen Verstandes' - „ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist." (B486, Hvh. v. V.) Mit dieser Begriffsbestimmung zitiert Kant die Definition des formalen Begriffs der Kontingenz der Leibniz-Wölfischen Metaphysik. In §104 von Baumgartens Metaphysica heißt es: „Cuius oppositum absolute possibile, est contingens in se", und was hier ,möglich' bedeutet, geht auf direkte Weise aus Wolffs Definition in §294 der Ontologia hervor. Dort heißt es: „Contingens est, cuius oppositum nullam contradictionem involvit..." Demnach existiert das und nur das zufällig im reinen Sinn der Kategorie, dessen kontradiktorisches Gegenteil, nämlich seine Nicht-Existenz, keinen Widerspruch einschließt. Was aber heißt das? Trivialerweise kann damit nicht gemeint sein, daß eine Aussage ,A existiert nicht' dann, wenn eine Aussage ,A existiert' wahr ist, auch wahr ist. Denn wenn die Aussage ,A existiert' wahr ist, dann ist ihre Negation bzw. ihr kontradiktorisches Gegenteil falsch, das heißt: Die Annahme, daß ,A existiert nicht', dann, wenn ,A existiert' wahr ist, auch wahr ist, steht gerade im Widerspruch zu ,A existiert'. Die Widerspruchsfreiheit des kontradiktorischen Gegenteils von ,A existiert' kann daher nicht bedeuten, daß die Nicht-Existenz von A mit seiner Existenz kompatibel ist, denn das ist niemals der Fall, da der Gedanke einer solchen Widerspruchsfreiheit selber ein widersprüchlicher Gedanke ist. Daß das kontradiktorische Gegenteil von ,A existiert' keinen Widerspruch einschließt, kann daher nur bedeuten: Der Gedanke, daß A, anstatt zu existieren, nicht existiert, ist widerspruchsfrei. Diesen Gedanken drükken wir umgangssprachlich so aus: Wenn A existiert, dann freilich existiert es, und existiert nicht nicht. Es könnte aber sein, daß A, was existiert, anstatt zu existieren, auch nicht existiert. Die aussagenlogische Fassung dieses natürlichen Gedankens lautet: Wenn die Aussage ,A existiert' wahr ist, dann existiert A genau dann zufällig im Sinne des definierten Begriffs von ,zufällig', wenn der Satz ,A existiert nicht' anstatt des wahren Satzes ,A existiert' wahr sein kann, obwohl er es nicht ist. Daß genau dies die kantische Interpretation des Sinnes von intelligibler Zufälligkeit des Daseins von Etwas ist und schon lange vor Abfassung der „Kritik" gewesen ist, geht aus dem Nachlaß eindeutig hervor. Refi. 4041 (vor 1770): „Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner

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Stelle möglich ist." An dieser Interpretation hat Kant während der Abfassung der Kritik und später auch festgehalten. Refi. 5803 (um 1783): „Zufällig ist das, dessen Gegenteil an seiner statt möglich ist", und das ,an seiner statt' wird von Kant unterstrichen. Das in der Anmerkung zur Thesis der vierten Antinomie vorgestellte Argument der Metaphysik setzt nach Kants Darlegung eine metabasis eis alio genos vom empirisch Zufälligen zu dem intelligibel Zufälligen im jetzt präzisierten Sinn voraus. Dieser Schritt wäre nun unter genau der Bedingung nicht widerrechtlich, wenn es erlaubt wäre, von der empirischen Zufälligkeit auf diese intelligible zu schließen, das heißt: wenn es ein rein analytisches Argument gäbe, welches aus dem Bedingtsein der Veränderungen in der Welt darauf führt, daß alles, was existiert und durch eine Ursache entstanden ist, so existiert, daß es auch nicht existieren könnte. Daß es ein solches Argument nicht gibt, macht Kant in einer brillanten Überlegung klar: „Nun kann man aus der empirischen Zufälligkeit auf jene intelligible gar nicht schließen. Was verändert wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer anderen Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist dieses nicht das kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfordert wird, daß in derselben Zeit, da der vorige Zustand war, an der Stelle desselben sein Gegenteil hätte sein können, welches aus der Veränderung gar nicht geschlossen werden kann. Ein Körper, der in Bewegung war = A, kommt in Ruhe = non Α. Daraus nun, daß ein entgegengesetzter Zustand vom Zustande A auf diesen folgt, kann gar nicht geschlossen werden, daß das kontradiktorische Gegenteil von A möglich, mithin A zufällig sei; denn dazu würde erfordert werden, daß in derselben Zeit, da die Bewegung war, anstatt derselben die Ruhe habe sein können. Nun wissen wir nichts weiter, als daß die Ruhe in der folgenden Zeit wirklich, mithin auch möglich war. Bewegung aber zu einer Zeit, und Ruhe zu einer anderen Zeit, sind einander nicht kontradiktorisch entgegengesetzt. Also beweist die Sukzession entgegengesetzter Bestimmungen, d. i. die Veränderung, keineswegs die Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes, und kann also auch nicht auf das Dasein eines notwendigen Wesens, nach reinen Verstandesbegriffen, führen. Die Veränderung beweist nur die empirische Zufälligkeit, d. i., daß der neue Zustand für sich selbst, ohne eine Ursache, die zur vorigen Zeit gehört, gar nicht hätte stattfinden können, zufolge dem Gesetze der Kausalität. Diese Ursache, und wenn sie auch als schlechthin notwendig angenommen wird, muß auf diese Art

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doch in der Zeit angetroffen werden, und zur Reihe der Erscheinungen gehören." (B 486/88, Hvh. v . V . ) Sieht man sich den ersten Schritt in diesem Argument genauer an, so erweist sich Kants Behauptung, daß es ein Argument dafür ist, daß sich aus der empirischen Zufälligkeit im Dasein nicht auf die intelligible schließen läßt, als irreführend. Denn so, wie er läuft, macht er charakteristischerweise von dem Prinzip des Verursachtseins der Veränderungen gar keinen Gebrauch. E r beruht allein auf einer Analyse des im bloßen Begriff der Veränderung implizierten Begriffs der Sukzession der Bestimmungen A und N o n - Α im Dasein eines und desselben Dinges. Es ist nicht das Verursachtsein des Wechsels dieser Bestimmungen, sondern dieser Wechsel als solcher, aus dem das Argument seine Kraft zieht. Dies geht aus einer Bemerkung innerhalb der ,Allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze' in der zweiten Auflage hervor. D a heißt es: „Allein selbst der Wechsel des Seins und Nichtseins eines gegebenen Zustandes eines Dinges, darin alle Veränderung besteht, beweist gar nicht die Zufälligkeit dieses Zustandes, gleichsam aus der Wirklichkeit seines Gegenteils, ζ. B. die Ruhe eines Körpers, welche auf die Bewegung folgt, noch nicht die Zufälligkeit der Bewegung desselben, daraus, weil die erstere das Gegenteil der letzteren ist. Denn dieses Gegenteil ist hier nur logisch, nicht realiter dem anderen entgegengesetzt. Man müßte beweisen, daß anstatt der Bewegung im vorhergehenden Zeitpunkte, es möglich gewesen, daß der Körper damals geruht hätte, um die Zufälligkeit seiner Bewegung zu beweisen, nicht daß er hernach ruhe; denn da können beide Gegenteile gar wohl miteinander bestehen." ( B 2 9 1 Anm. Hvh. v . V . ) Daß sich dieser Beweis durch eine Analyse dessen, was wir Veränderung und Wechsel nennen, nicht führen läßt, gehört nun zu dem allerfrühesten begriffsanalytischen Kritikpotential gegenüber den Begriffsbestimmungen der Wölfischen Schule, das sich in Kants Nachlaß überhaupt identifizieren läßt, und setzt als solches keinen einzigen der Kritik der reinen Vernunft eigentümlichen Gedanken voraus. Refi. 4486, 1772: „Die opposita nacheinander kontradizieren sich nicht, mithin ist das succedens kein contradictorie oppositum des antecedentis, mithin sind die Veränderungen kein Beweis der Möglichkeit des contradictorie oppositi, also auch nicht der Zufälligkeit." Refi. 4181, 1770: „Aus der Sukzession läßt sich noch nicht auf die Kontingenz schließen, denn der daraufîolgende Zustand ist kein contradictorie oppositum vom

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Konrad Cramer

vorigen, folglich nicht zu erkennen, daß dessen Gegenteil möglich sei." Refi. 5791: „Veränderung ist die Verknüpfung der Bestimmungen mit ihrem Gegenteil in der Existenz eines Dinges post se invicem." (Hvh. v. V.) Kant war mit Recht der Uberzeugung, daß er damit dem sehr natürlichen Gedanken, dem Begriff der intelligiblen Zufälligkeit des Daseins von Etwas durch Rekurs auf das natürliche Phänomen der Veränderung seine Bedeutung zu sichern, den Weg abgeschnitten hat. Wenn Etwas so existiert, daß es entstanden ist, dann existierte es einmal nicht - das ist ein analytisch wahrer Satz. Was aber einmal nicht existierte, das konnte auch einmal nicht existieren — ab non esse ad posse non esse valet consequentia. Diese Möglichkeit muß aber auch jetzt, da dies Etwas existiert, weiterhin zugegeben werden. Also ist es möglich, daß Etwas, das jetzt existiert und entstanden ist, in dieser Welt auch nicht existiert. Genau dieser Gedanke ist es, der nach Kant gar nicht einzusehen ist. Das kontradiktorische Gegenteil der Existenz von Etwas jetzt ist nicht die Nicht-Existenz dieses Etwas zu einem früheren Zeitpunkt. Eben deshalb läßt sich aus der Nichtexistenz von Etwas zu einem früheren Zeitpunkt auch nicht auf die Möglichkeit des kontradiktorischen Gegenteils der Existenz der Sache jetzt schließen. Anders gewendet: Aus dem Phänomen der Veränderung als solchem läßt sich nicht schließen, daß Etwas, das entstanden ist, auch hätte nicht entstehen können.

III Es ist unzweifelhaft, daß Kant mit diesem Argument ein Haupttheorem der Leibniz-Wolffschen Metaphysik treffen wollte, nämlich das Theorem: „Alles Veränderliche ist zufällig" (Omne mutabile est contingens. Baumgarten: Metaphysica § 1 3 1 ; Wolff: Ontologia §296). Sieht man sich den Beweis dieses Satzes in seiner Wölfischen und für Baumgarten der Sache nach verbindlich gebliebenen Variante an, so ergibt sich freilich etwas Uberraschendes: Dieser Satz der Metaphysik sagt gar nicht aus, daß alles Veränderliche zufällig in dem Sinne ist, daß es so existiert, daß seine Nicht-Existenz an seiner statt möglich ist. Daß dies gerade nicht der Aussagegehalt dieses Theorems ist, ergibt sich durch eine nähere Analyse des Wölfischen Begriffs von Kontingenz selber.

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Für Wolffs Definition des Begriffs der Kontingenz im reinen Sinn der Kategorie ist seine prädikatenlogisch verfaßte Theorie der Bestimmungen von Etwas überhaupt, des ,ens in genere', die Voraussetzung. Diejenigen Bestimmungen oder Prädikate, die etwas A kraft der Definition des Begriffs ,A' zukommen, kommen ihm so zu, daß der Gedanke, sie könnten A nicht zukommen, einen Widerspruch einschließt, und zwar zu der Definition des Begriffs ,A'. Diejenigen Bestimmungen oder Prädikate, die etwas A nicht kraft der Definition des Begriffs ,A' zukommen, aber zukommen, kommen A nicht so zu, daß der Gedanke ihres Nichtzukommens einen Widerspruch zu der Definition des Begriffs ,A' einschließt. Β ist eine kontingente Bestimmung von A, heißt daher genau folgendes: Β kommt A zu, aber nicht kraft der Definition des Begriffs ,A', und daher schließt der Gedanke, daß die Bestimmung Β dem A nicht zukommt, keinen Widerspruch zu dem Begriff ,A' ein. Wenn im Wölfischen System gesagt wird, daß A zufällig existiert, heißt dies daher genau und nur folgendes: Aus dem Begriff von A folgt nicht, daß ein A existiert; und daher ist die Aussage ,A existiert nicht' dann, wenn die Aussage ,A existiert' wahr ist, zwar trivialerweise mit dieser Aussage inkompatibel, aber ebenso trivialerweise mit dem Begriff von A kompatibel 2 . Kant hat diesen Begriff von Kontingenz schon früh und auch später durchgängig als bloß logisch bezeichnet und von ihm den Begriff der realen Möglichkeit des kontradiktorischen Gegenteils von Etwas unterschieden und diesen zweiten Sinn von Kontingenz der Wölfischen Definition von Kontingenz in ihrer Baumgartenschen Fassung auch durchgängig imputiert. Es läßt sich jedoch zeigen, daß die Wölfische Ontologie im Gefolge von Leibniz genau derselben Auffassung, und fast emphatischer noch, gewesen ist wie der, die Kant gegen diese Ontologie geltend machen wollte: daß sich nämlich aus dem Phänomen der Veränderung gerade nicht auf die reale Möglichkeit des kontradiktorischen Gegenteils der Existenz von Etwas schließen läßt. Wolffs Beweis für das Theorem ,Alles Veränderliche ist zufällig' lautet folgendermaßen: „Es sei vorausgesetzt, daß B, was A zukommt, veränderlich ist. Dann ist es möglich, daß für Β unbeschadet der Identität von A etwas substituiert

2

Näheres hierzu und zum folgenden in meinem 1984 bei Klostermann, Frankfurt a. M. erscheinenden Buch: Metaphysik des Rationalismus. Die ontologischen Grundlagen von Christian Wolffs Spinozakritik.

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werden kann, was nicht Β ist, folglich etwas, das das Gegenteil von B. ist. Da somit das Gegenteil von Β keinen Widerspruch zu A einschließt, ist Β kontingent." (Ontologia §296) Dieser Schluß ist nicht nur kein .Schluß auf die reale Möglichkeit der Nichtexistenz von Β zu dem Zeitpunkt der Existenz von B, sondern hat mit einem solchen Schluß nicht einmal etwas zu tun. Aus der Veränderlichkeit von B, wie sich Wolff hier allerdings wenig passend ausdrückt, das heißt aus der Möglichkeit, daß A zu einem Zeitpunkt B, zu einem anderen Zeitpunkt N o n - B ist, wird hier die Kontingenz von Β nur in dem Sinn erschlossen, daß der Begriff von A gegenüber den Prädikaten Β und N o n - B unbestimmt ist. Dieser Schluß läßt sich überhaupt nicht kritisieren, und ist auch von Kant niemals kritisiert worden, weil er ihn stets als zwingend angesehen hat. Wenn in etwas A zu einer Zeit Β existiert, zu einer anderen Zeit N o n - B existiert, dann gilt auch für Kant wie für jeden anderen, daß das kontradiktorische Gegenteil von Β nicht im Widerspruch zu der Bedeutung des Begriffs ,A' steht. Stände es nämlich im Widerspruch zu dem Begriff von A, daß A einmal B, ein andermal N o n B ist, dann wäre A mit Bezug auf Β oder N o n - B gerade unveränderlich, d. h. es müßte aus der Definition des Begriffs von A entweder ,A ist B' oder ,A ist N o n - B ' folgen. So sagt Kant selber und mit vollem Recht: Refi. 5268, nach 1770: „Das Veränderliche ist sofern nicht durch Begriffe bestimmt. Also logisch zufällig, nicht in Ansehung des Daseins." Refi. 4406 (etwa zur gleichen Zeit): „Aus der Veränderung kann die logische Zufälligkeit in Ansehung der Begriffe geschlossen werd e n . . aber nicht die Zufälligkeit der Reihe." Refi. 5783 (ca. 1783/84): „Wir können nicht sagen, daß ein Wesen darum zufällig existierte, weil es verändert wird, sondern: daß wir sein Dasein alsdenn nicht aus seinem bloßen Begriff erkennen k ö n n t e n . . . " (Hvh. v. V.) Damit sagt Kant aber genau dasselbe, was in dem Theorem „Alles Veränderliche ist zufällig" auch gesagt wird. Denn die Aussage ,A existiert zufällig' bedeutet in der Metaphysik von Leibniz und seiner Schule gar nichts anderes als eben dies: daß die Existenz eines A nicht aus dem Begriff von A folgt, mithin nichts anderes als: ,A existiert logisch zufällig'. Weder Leibniz noch Wolff noch (aber das wäre genauer zu überprüfen) Baumgarten haben daraus die ihnen von Kant zugeschriebene Folgerung gezogen, daß sich aus der logischen Zufälligkeit des Daseins von Etwas auf die reale Möglichkeit der Nicht-Existenz dieses Etwas zu dem Zeitpunkt, an dem es existiert, schließen läßt.

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Vielmehr ist es gerade die Grundüberzeugung dieser Autoren gewesen, daß ein solcher Schluß auf etwas schließen würde, mit dem sich gar kein angebbarer Sinn verbinden läßt. Der Gedanke, Etwas, das existiert, könnte dann, wenn es existiert, auch nicht existieren, hat in der LeibnizWolffschen Metaphysik keine Interpretation und ist für diese ein ebenso leerer Gedanke wie für Kant. Wenn Etwas so existiert, daß seine NichtExistenz nicht im Widerspruch zu seinem Begriff steht, also so existiert, daß seine Existenz nicht aus seinem Begriff folgt, dann existiert es gleichwohl so, daß der Gedanke seiner Nichtexistenz einen Widerspruch einschließt, nämlich zu der kraft der universalen Gültigkeit des Principium Rationis Sufficientis geforderten Bedingung für seine Existenz, unter deren Voraussetzung es gerade notwendig, wenngleich nicht absolut, d. h. logisch, sondern nur hypothetisch notwendig existiert. Es ist also gar nicht so, daß die Metaphysik, gegen deren Verfahren Kant sich wendet, die ihr von Kant zugeschriebene μετάβασις εις άλλο γένος vom Sensitiven ins rein Intellektuelle so vollzieht, daß sie aus der Sukzession auf die Möglichkeit des realen Gegenteils der Existenz von Etwas zu derselben Zeit schließt. Diese Beobachtung eröffnet ein weites Feld von Interpretationsproblemen, die Kants kritisches Selbstverständnis und dessen Relation zu dem Theorembestand der metaphysischen Theorien betreffen, denen seine Kritik gegolten hat.

IV Das alles heißt aber durchaus nicht, daß Kant mit seiner Diagnose der Widerrechtlichkeit des Verfahrens, aus der Veränderung auf das Dasein eines absolut notwendigen Wesens außerhalb der Reihe der Veränderungen zu schließen, nicht recht hat. Zwar erfolgt der erste Schritt in diesem Verfahren auch für das Selbstverständnis der Metaphysik „ganz widerrechtlich". Aus der Veränderung läßt sich bloß auf die logische Zufälligkeit des Daseins schließen. Aber weil nur dies der Fall ist, gerät die Metaphysik nun in eine von Kant ebenfalls schon früh diagnostizierte kritische Situation. Wenn nämlich Zufälligkeit des Daseins nur die Interpretation von logischer Zufälligkeit und Notwendigkeit des Daseins die Interpretation von logischer Notwendigkeit hat, dann folgt, daß die Differenz der Begriffe des Zufälligen und Notwendigen überhaupt keine Interpretation hat. „Das ens necessarium ist, dessen

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Gegenteil schlechterdings unmöglich ist. Der menschliche Verstand kann aber diese Unmöglichkeit nicht einsehen, ohne dadurch, daß das Nichtsein seinem Begriff widerspricht. N u n widerspricht das Nichtsein eines Dinges niemals dem Begriffe des Dinges an sich selbst; also ist der Begriff des entis necessarii für die menschliche Vernunft unerreichl i c h . . . Wir können nicht sagen, daß ein Wesen darum zufällig existiere, weil es verändert wird, sondern: daß wir sein Dasein alsdenn nicht aus seinem bloßen Begriff erkennen könnten; denn da müßte es nur auf eine einzige Art determinabel sein. Aber wir können gar keines Dinges Dasein aus seinem Begriff e r k e n n e n . . . " (Refi. 5783) Dies besagt: Weil Dasein nicht als deskriptives oder „reales" Prädikat aufgefaßt werden kann, existiert alles, was existiert, logisch zufällig und der bloße Gedanke, von der logischen Zufälligkeit im Dasein zu Etwas überzugehen, welches der Definition des Begriffs ens necessarium entspricht, ist sinnlos, weil diese Definition selber keine Interpretation hat. Das absolut notwendige Wesen, so definiert es Wolff in § 309 seiner Ontologie, ist „dasjenige, aus dessen Wesen", d. h. aus dessen Begriff oder Definition „sein Dasein folgt". Dieser Begriff hat keinen Referenten, weil, wenn er einen hätte, die Differenz von Begriff und Referenz von Begriffen selber unverständlich würde. N u n ist dies allerdings nicht das Argument, mit dem Kant das weitere Verfahren des Schlusses auf ein absolut notwendiges Wesen außerhalb der Reihe der Veränderungen kritisiert. Dieser Typus von Kritik gehört selber zu einem anderen Prinzip der Vernunft, nämlich zur Kritik des Prinzips der Vernunft, mit dem sie einen Beweis der Existenz Gottes ontologisch, kosmologisch und physikotheologisch zu führen versucht. Wenngleich der Schluß von der Veränderung auf die intelligible Zufälligkeit dessen, was entstanden ist, nicht der Schluß der Metaphysik ist und diese Kants Kritik an diesem Schluß voll zugestimmt hätte, ist doch nachzufragen, was sich dann ergibt, wenn der Schluß von der Veränderung auf die logische Zufälligkeit korrekt ist, was er ist. Kant sagt, daß der Schluß auf die intelligible Zufälligkeit „alsdann" eine intelligible Reihe veranlaßte. So müßte der Schluß von der Veränderung auf die logische Zufälligkeit eine Reihe von Entitäten veranlassen, von denen gilt, daß sie insgesamt logisch zufällig existieren. Wie diese Veranlassung gegeben sein könnte, läßt sich folgendermaßen rekonstruieren. Die Voraussetzung war, daß alle Veränderungen empirisch zufällig, das heißt verursacht sind. N u n ist alles, was entstan-

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den ist, in Ansehung seines Daseins logisch zufällig. Es ist aber entstanden und daher verursacht. Also ist alles, was logisch zufällig existiert, Glied einer Reihe, deren Glieder insgesamt logisch zufällig existieren, aber eben so, daß ein Glied Ursache der Existenz eines anderen und selber Wirkung der Existenz eines Dritten ist. Dieser Schluß ist nur dann kein Paralogismus, wenn man nicht nur von der Veränderung auf die logische Zufälligkeit, sondern von der logischen Zufälligkeit auch auf die Veränderlichkeit schließen könnte. In der Tat zieht Wolff diesen Schluß in §295 der Ontologie: „Quod contingens est, illud mutabile est." Aber dieser Schluß ist selber gar nicht zwingend, und darauf hat Kant ebenfalls schon früh aufmerksam gemacht. Zwar hat er auch diesen Schluß unter der irrigen Voraussetzung kritisiert, daß der formale Begriff von Kontingenz mehr besagt als die bloß logische Zufälligkeit im Dasein von Etwas. Seine Kritik an Wolffs Schluß ist jedoch unabhängig davon vollkommen überzeugend: „Die Möglichkeit der Mutation ist nicht aus der bloßen Kontingenz zu erkennen. Denn weil es möglich ist, daß anstatt eines Prädikats ein anderes sei, so ist daraus nicht zu erkennen, daß das Subjekt die opposita nacheinander habe." (Refi. 4041) In der Tat gilt ganz allgemein folgendes: 1. Daraus, daß Etwas logisch zufällig existiert, folgt nicht, daß es überhaupt Etwas ist, das in der Zeit existiert. 2. Wenn Etwas logisch zufällig existiert und in der Zeit existiert, folgt daraus noch nicht, daß es einen Zeitpunkt geben kann, zu dem es nicht existiert. Denn es schließt keinen Widerspruch ein, daß Etwas logisch zufällig und in der Zeit existiert, aber de facto immer existiert. Das gilt in gleicher Weise für in der Zeit existierende Dinge wie Bestimmungen an diesen Dingen. Und so läßt sich daraus, daß das kontradiktorische Gegenteil des Daseins dem Begriff von Etwas nicht widerspricht, nicht schließen, daß dieses kontradiktorische Gegenteil auch eintritt, und nicht einmal dies, daß es eintreten kann. Damit ist der Versuch, die Koextensivität von logischer Zufälligkeit und Veränderlichkeit darzutun, gescheitert. Hieraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz: Der zweite Schritt in dem von Kant kritisierten Argument wird unverständlich, denn er enthält eine μετάβασις εις άλλο γένος, die „ganz widerrechtlich" ist. Denn er importiert nun den Begriff der Relation von Ursache und Wirkung, der gemäß dem Begriff von der empirischen Zufälligkeit des Daseins dessen, was entstanden ist, nur für Veränderungen gilt, in den Begriff der logischen Zufälligkeit des Daseins von irgendetwas. Dieser

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Schritt wäre nur dann diskutabel, wenngleich noch nicht gerechtfertigt, wenn sich von der logischen Zufälligkeit des Daseins auf die Veränderlichkeit schließen ließe. Da dies aber nicht der Fall ist, enthält der zweite Schritt eine μετάβασις εις άλλο γένος, nämlich vom Intellektuellen ins Sensitive, der sich auf keine Weise rechtfertigen läßt. Und so läßt sich von der logischen Zufälligkeit des Daseins in keiner Weise darauf schließen, daß Etwas, das logisch zufällig existiert, seine Ursache in etwas Anderem hat, das auch logisch zufällig existiert, und daher, ganz abgesehen davon, welche internen Schwierigkeiten sich mit dem bloßen Begriff des ens necessarium verbinden, nicht einmal der Begriff einer bloß intelligiblen Reihe bilden. Kant hat diesen Sachverhalt durch seine richtige These markiert, daß der Satz ,Alles Zufällige hat eine Ursache' ein synthetischer Satz ist. Zwar hat er auch diesen Satz auf die intelligible Zufälligkeit des Daseins bezogen und aus der Interpretationsunfähigkeit des Begriffs von einer solchen Zufälligkeit die Konsequenz gezogen, daß dieser Satz selber gar keine epistemische Bedeutung besitzt, mithin ein transzendenter Satz ist, der gar keines Beweises fähig ist. Dieser Satz ist aber auch dann ein synthetischer Satz, wenn man seinen Subjektterm durch den Begriff der logischen Zufälligkeit ersetzt. Denn daraus, daß Etwas existiert und logisch zufällig existiert, folgt nicht, daß es überhaupt etwas Anderes gibt, unter dessen Voraussetzung dies Etwas notwendigerweise, wenngleich immer noch logisch zufälligerweise, existiert. So vollzieht sich der entscheidende Schritt in dem Argument, welches Kant in der Bemerkung zur Thesis der vierten Antinomie kritisiert, eigentlich dadurch, daß dem Begriff des logisch zufälligen Daseins eine Bedeutung imputiert wird, die gerade den Begriff des empirisch Zufälligen definiert, nämlich die Abhängigkeit des Daseins von Ursachen überhaupt. Daß alle Veränderungen eine Ursache haben, ist freilich auch ein synthetischer Satz. Er läßt sich aber im Unterschied zu dem synthetischen Satz ,Alles Zufällige hat eine Ursache' nach Kants Auffassung beweisen, weil seine universale Gültigkeit die Voraussetzung dafür ist, daß wir den Wechsel, das heißt das Nacheinander von Bestimmungen in der Zeit, im Unterschied zum Zugleichsein von Bestimmungen in der Zeit, als ein Objekt der Erfahrung identifizieren können. Der Begriff der logischen Zufälligkeit im Dasein der Dinge sieht von der Zeit als Bedingung der Existenz der Dinge jedoch gerade ab. Daher kann der Satz ,Alles logisch Zufällige hat eine Ursache' nicht bewiesen werden. Weil er nicht bewiesen werden kann, richtet die Metaphysik nun ihr

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eigentlich so zu nennendes Blendwerk auf, indem sie ihn als einen analytisch wahren Satz deklariert. Wenn etwas logisch zufällig existiert, dann hat derartiges einen zureichenden Grund in etwas Anderem außer ihm. So definiert Wolff auf der Grundlage des logischen Kontingenzbegriffs den Begriff des ens contingens. „Ein zufälliges Ding ist etwas, das den zureichenden Grund seiner Existenz nicht in seinem Wesen, das heißt in seiner Definition hat, oder das, was den zureichenden Grund seiner Existenz in einem anderen, von ihm unterschiedenen Ding hat." (Ontologia §310). Unter der Voraussetzung dieser Definition wird der Satz ,Alles logisch zufällig Existierende hat eine Ursache' freilich zu einem analytisch wahren Satz, denn diese Definition ist dieser Satz. Und unter der Voraussetzung dieser Definition ergibt sich dann auch analytischerweise eine intelligible Reihe von Entitäten, die dieser Definition genügen, in der der zureichende Grund für die Existenz irgendeines Gliedes der Reihe deswegen nicht enthalten ist, weil auch das letzte Glied dieser Reihe eben dieser Definition genügt. Kant führt in der schon erwähnten allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze in offensichtlichem Rekurs auf diese Wölfische Definition folgendes aus: „Daß gleichwohl der Satz: alles Zufällige müsse eine Ursache haben, doch jedermann aus bloßen Begriffen klar einleuchte, ist nicht zu leugnen; aber alsdann ist der Begriff des Zufälligen schon so gefaßt, daß er nicht die Kategorie der Modalität (als etwas, dessen Nichtsein sich denken läßt), sondern die der Relation (als etwas, das nur als Folge von einem anderen existieren kann) enthält, und da ist es freilich ein identischer Satz: was nur als Folge existieren kann, hat seine Ursache." ( B 2 8 9 f . ) Indem es sich die Metaphysik schenkt, dem Begriff der Kontingenz selber diejenige außerlogische Bedeutung zu sichern, die sie im Vertrauen auf seine logische Bedeutung in Anspruch nimmt, kann sie bei ihrer Bemühung um einen Beweis der Existenz eines außerweltlichen absolut notwendigen Wesens allererst eine „intelligible Reihe" bilden, die, weil keines ihrer Glieder den zureichenden Grund für irgendein Glied der Reihe in dem Sinne enthält, daß sich mit Bezug auf es nicht ex definitione die Frage nach seinem zureichenden Grund erneut stellt und mit Rekurs auf kein Glied der Reihe beantwortet werden kann, dann eines zureichenden Grundes ihrer Existenz bedarf, der außerhalb dieser Reihe liegt, und, als seinerseits intelligibler Grund, von der Bedingung, seine Kausalität für die Reihe selber anzufangen, befreit ist.

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Dieses Verfahren ist, wenn die hier vorgetragenen Überlegungen als Interpretation akzeptiert werden können, nicht deswegen widerrechtlich, weil ihm die Metabasis von der sinnlichen Zufälligkeit zur intelligiblen zugrunde liegt, sondern weil ihm die Metabasis vom bloß logischen Begriff der Zufälligkeit zu einem Begriff von Zufälligkeit zugrunde liegt, der nur im Felde des Sinnlichen Sinn und Bedeutung hat. Das von Kant kritisierte Argument fängt also kosmologisch an, springt in seinem ersten Schritt von dieser Voraussetzung ab und führt in einem zweiten Schritt eben diese Voraussetzung durch die Bildung einer intelligiblen Reihe von Causae und Causata wieder ein. Würde das Argument einsehen, daß gerade dieser zweite Schritt auf Borg getan wird und weiter einsehen, daß der Anwendungsbereich des Begriffsverhältnisses von Ursache und Wirkung auf das Feld des Nacheinander von Erscheinungen beschränkt ist, dann würde es nicht für die Falschheit der Thesis und die Wahrheit der ersten Teilbehauptung der Antithesis und die Falschheit der zweiten Teilbehauptung der Antithesis der vierten Antinomie plädieren, sondern den Widerstreit der Antinomie im Weltbegriff entdecken können.

MANFRED BAUM

(Siegen)

Erkennen und Machen in der „Kritik der reinen Vernunft"

I.

Friedrich Heinrich Jacobi hat in seiner Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) das, was er für die wesentliche Aussage der Kantischen Philosophie hielt, so zusammengefaßt: „Der Kern der Kantischen Philosophie ist die von ihrem tiefdenkenden Urheber zur vollkommensten Evidenz gebrachte Wahrheit: daß wir einen Gegenstand nur insoweit begreifen, als wir ihn in Gedanken vor uns werden zu lassen, ihn im Verstände zu erschaffen vermögen." ( W i l l 351)1 Jacobi spricht von einer Kantischen „Entdeckung", die besage, „daß wir nur das vollkommen einsehen und begreifen, was wir zu construiren im Stande sind" ( W i l l 354), aber er weist auch selbst darauf hin, daß diese Entdeckung einen Vorläufer in Vicos Satz hat: „Geometrica ideo demonstramus, quia facimus; Physica, si demonstrare possemus, faceremus" ( W i l l 352f.) 2 . Dieser Satz soll bei Vico den bloßen Wahrscheinlichkeitscharakter allen menschlichen Wissens von der Natur begründen. Die Sphäre einer gesicherten Erkenntnis der Wahrheit ist aufgrund des Prinzips verum et factum convertuntur auf die Konstrukte der Geometrie eingeschränkt sowie auf die Geschichte der Völker und 1

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Bei den im Text angegebenen Belegstellen werden folgende Abkürzungen, jeweils gefolgt von einer römischen Band- und einer arabischen Seitenzahl, verwendet: W = Jacobi, Friedrich Heinrich: Werke. Hrsg. v. F. Roth, F. Koppen. Leipzig 1 8 1 2 - 1 8 2 5 , A = Kants Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der (Königlich) Preußischen (später: Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. Β bedeutet: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787. Vgl. Vico, Giambattista: De nostri temporis studiorum ratione. Hrsg. u. übs. v. W . F. O t t o . Godesberg 1947. 4 0 ; Jacobi beruft sich auf De antiqutssima Italorum sapientia liber primus, wo es etwa heißt: „eae [scientiae] certissimae sunt, q u a e . . . operatione scientiae divinae similes evadunt, utpote in quibus verum et factum convertuntur" und „verare et facere idem e s s e . . . : atque inde Deum scire physica, hominem scire mathemata". Vgl. Vico, G . : Liber metaphysicus. Hrsg. u. übs. v. S. Otto, H . Viechtbauer. München 1979. 44, 148.

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Manfred Baum

Staaten, denn in beiden Fällen hat es der Mensch mit seinen eigenen Produkten und Werken zu tun, die er darum auch erkennen kann, jedenfalls soweit sie von seinem eigenen Handeln abhängen. Die Wahrheit über die Natur aber ist nur für Gott erkennbar, weil er ihr Schöpfer ist. Die notwendige Erkennbarkeit der Geschichte und damit auch des entferntesten Altertums für uns behauptet Vico in seiner Neuen Wissenschaft aufgrund einer Wahrheit, die man nach ihm ebenfalls in keiner Weise in Zweifel ziehen kann, nämlich: „daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist". 3 Während die „Welt der Natur" allein von ihrem göttlichen Schöpfer adäquat erkannt werden kann, gibt es einen der geschichtlichen Welt der Völker vergleichbaren Erkenntnisbereich allenfalls in der „Welt der Größen", also in der Geometrie, die diese Größen ihren Prinzipien entsprechend selbst erschafft. Die Realität der Punkte, Linien und Flächen, also von bloßen Abstraktionen, steht aber hinter der Realität der menschlichen Angelegenheiten weit zurück.4 Dieselbe Übertragung der Erklärung von Gewißheit und Wahrheit geometrischer Erkenntnis auf die Wissenschaft vom menschlichen Handeln hatte fast 100 Jahre vor Vico schon Hobbes vorgenommen. Es gibt nach Hobbes eine demonstrative Erkenntnis a priori vom Gerechten und Ungerechten, von Billigkeit und Unbilligkeit, also eine demonstrativè Politik und Ethik, „weil wir die Prinzipien für die Erkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit und Billigkeit... nämlich Gesetze und Abmachungen selbst schaffen". 5 Eine wissenschaftliche Politik und Ethik ist möglich, weil die Erzeugung ihrer Gegenstände von der Willkür der Menschen selbst abhängt. Darum gilt mutatis mutandis in der politischen Philosophie das, was von der Geometrie gilt: „Da . . . die Ursachen der Eigenschaften, welche die einzelnen Figuren haben, in den Linien liegen, die wir selbst ziehen, und da die Erzeugung der Figuren von unserer Willkür abhängt, so ist zur Erkenntnis jeder beliebigen Eigenschaft einer Figur nichts weiter erforderlich, als daß wir alles das betrachten, was aus der Konstruktion folgt, die wir selbst beim Zeichnen

3

4 5

Vico, G.: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Übs. v. E. Auerbach. Hamburg 1966. 51 f. A . a . O 52, 59 f. Hobbes, Thomas: Vom Menschen. Ubers, v. M. Frischeisen-Köhler/G. Gawlick. Hamburg 1977. 20.

Erkennen und Machen

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der Figur ausführen." 6 Von Figuren, die wir selbst hervorgebracht haben, können wir eben darum ein demonstratives Wissen haben, und ebenso gibt es eine demonstrative politische Philosophie, weil wir den Staat selber machen. Bei Vico und Hobbes ist also das Vorbild für den Wissenschaftscharakter einer neuen Wissenschaft vom menschlichen Handeln die konstruktive euklidische Geometrie. Aber deren apriorische Erkenntnisse werden ihrerseits dadurch erklärt, daß ihre Gegenstände mit all ihren Eigenschaften ja nur Hervorbringungen eines Tuns sind, dessen Folgen in den Bedingungen dieser Konstruktion vollständig begründet sind. Statt einer Theorie der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori in der Geometrie wird bei Vico und Hobbes auf eine Analogie der geometrischen Konstruktion mit der göttlichen Erschaffung der Natur zurückgegriffen und eben damit die mangelnde Erkennbarkeit der Natur für den Menschen erklärt. Denkt man sich aber die Mathematik als eine spezifische Erkenntnisweise des göttlichen Schöpfers, so ist damit, wie bei Galilei, die Erkennbarkeit der Natur durch eine mathematische Naturwissenschaft hypothetisch gesichert. Eine solche Hypothese wird ausgedrückt durch den pseudoplatonischen Ausspruch ,,ό θεός άεί γεωμετρεϊ", den schon Plutarch7 vergeblich in Piatons Schriften gesucht hat, der aber zweifellos auf den Platonischen Timaios anspielt. Denn in diesem Bericht über eine mythische und also fiktive Schöpfung der Welt durch einen Demiurgen finden wir eine geometrisierende Elementenlehre, in der physikalische Eigenschaften der vier Elemente durch die Eigenschaften und Kombinationsmöglichkeiten zweier Elementardreiecke erklärt werden, und eine apriorische Astronomie, die die Bestimmung der Planetenabstände von dem Bildungsgesetz einer arithmetischen Reihe abhängig macht. Hier konnte Galilei die Idee einer mathematisch bestimmten Natur vorfinden, d. h. einer solchen, für die die Mathematik die Konstitutionsbedingungen a priori und nicht bloß die aposteriorischen Beschreibungsmittel liefert. Erkenntnistheoretisch ist damit die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Natur aus Gründen a priori gesichert, indem von dem Erklärungsprinzip Gebrauch gemacht wird, daß dasjenige, was der Hervorbringung der Natur zugrundeliegt, auch ihre Erkennbarkeit in demonstrativem Wissen verbürgt. Eine 6 7

A.a.O. 19.

Quaest. conviv, 718 C.

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Manfred Baum

Theorie der reinen Mathematik in ihrer Möglichkeit w i r d aber auch in dieser Tradition des Piatonismus nicht gegeben. Als Kant in seinem bekannten Brief an Marcus H e r z vom Februar 1772 ein Grundproblem der späteren „Kritik der reinen Vernunft" erörtert, nämlich worin die Ubereinstimmung der reinen Verstandesbegriffe mit ihren Gegenständen begründet sei, da findet er zwei Fälle einer solchen Ubereinstimmung unproblematisch und leicht erklärbar. W ü r den nämlich diese Gegenstände durch die intellektuellen Vorstellungen „hervorgebracht" ( A X 131) oder wären diese Vorstellungen „in Ansehung des objects activ", so „wie man sich die göttlichen Erkenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so w ü r d e auch die Conformität derselben mit den objecten verstanden werden können" ( A X 130), wie man ja auch umgekehrt unsere sinnlichen Vorstellungen als W i r k u n g e n der Gegenstände auf die Seele begreifen kann. Eben weil reine Verstandesbegriffe nicht ihr „object selbst hervorbringen" (ebenda), ist ihre Ubereinstimmung mit solchen Objekten zunächst unerklärlich. Auch im zweiten Fall, dem der Mathematik, gilt die Ubereinstimmung der reinen Begriffe mit ihren Gegenständen aus demselben Grunde als unproblematisch: „In der Mathematic geht dieses an; weil die objecte vor uns nur dadurch Größen sind und als Größen können vorgestellt werden, daß w i r ihre Vorstellung erzeugen können, indem w i r Eines etlichemal nehmen." ( A X 131) Es ist schon mehrfach bemerkt worden 8 , daß Kants Lösung des Problems der Möglichkeit einer Realdefinition oder Deduktion der Kategorien eben darin besteht, den aus der Mathematik und mathematischen Physik bekannten Gedanken der Konstruktion des Gegenstandes der Erkenntnis auf die Metaphysik zu übertragen. Nichts anderes bedeutet ja auch die Analogie zur Kopernikanischen Astronomie, von der Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik spricht, wenn er sein Unternehmen überblickt und dem wissenschaftlichen P u b l i k u m verständlich machen will. In irgendeinem noch zu präzisierenden Sinne bringt der erkennende Verstand den Gegenstand der Erkenntnis mitsamt seinen nicht in seinem Begriffe liegenden, aber aus ihm folgenden Eigenschaften selbst hervor - das ist die Lösung des Problems der Möglichkeit einer apriorischen Erkenntnis aller Dinge, also einer Ontologie, die als Wissenschaft wird auftreten können.

8

Z.B. von Paulsen, Friedrich: Versuch einer Erkenntnistheorie. Leipzig 1875. 165-176.

Entwicklungsgeschichte

der

Kantischen

Erkennen und Machen

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Der Kopernikanische Gedanke wird von Kant zunächst als Vorschlag zur Erklärung der Wahrnehmung von bestimmten Gestirnbewegungen eingeführt, die, wegen der Relativität aller Ortsbewegungen im Raum, natürlich auch durch eine Veränderung des Standpunktes des Betrachters zustandegekommen sein kann. Ein solcher Vergleich soll nur den allgemeinen Satz erläutern, daß man in der Erklärung eines Phänomens dadurch weiterkommen kann, daß man annimmt, sein Grund liege im wahrnehmenden Subjekt selbst und nicht im Objekt, wie es unabhängig davon gedacht werden muß. Seit Demokrits später so genannter Unterscheidung von primären und sekundären Sinnesqualitäten und seit deren Wiederaufnahme in Galileis Saggiatore ist die Subjektivität der letzteren so etwas wie eine erkenntnistheoretische Binsenwahrheit geworden. Nimmt man hinzu, daß Kants transzendentaler Idealismus von Raum und Zeit in der Göttingischen Rezension mit dem Berkeleys verglichen wurde und, wegen der auch von Kant vertretenen Subjektivität der sog. primären Sinnesqualitäten auch wirklich mit dem Berkeleys vergleichbar ist, so muß der Vergleich mit Kopernikus, den Kant erst in der zweiten Auflage der Kritik anstellt, einen anderen Sinn des Sichrichtens der Objekte nach dem Subjekt im Auge haben, als diesen verallgemeinerten empiristischen Idealismus. Denn Kant hat schon in den Prolegomena und dann in der zweiten Auflage der Kritik Anstrengungen unternommen, um sich von Berkeley scharf abzugrenzen und den von diesem bekämpften Newton bzw. die mathematische Physik in der Nachfolge Galileis als seine Vorbilder hinzustellen. Die sog. Kopernikanische Wende Kants besteht also nur in der Einführung einer Hypothese, d.h. in der Annahme, daß sich die Gegenstände unserer Erkenntnis nach dem erkennenden Subjekt richten, um die Ubereinstimmung beider erklären zu können, ohne auf eine prästabilierte Harmonie beider oder einen allgemeinen Empirismus zurückgreifen zu müssen. Wenn es so wäre, daß die Gegenstände metaphysischer Erkenntnis durch das erkennende Subjekt bestimmt würden, dann ließe sich die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori von ihnen einsehen. Aber ob diese Voraussetzung auch zutrifft, das kann natürlich nicht durch die wohltätigen Folgen dieser Annahme für unsere Erklärungsversuche jener Ubereinstimmung ausgemacht werden, sondern muß unabhängig davon erkannt werden. So wie Kopernikus ein System relativer Bewegungen von Himmelskörpern und einen Standort in diesem System für den Betrachter annahm, um seine Wahrnehmung zu

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erklären, so sind nicht die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten der Gegenstände selbst, sondern ihr Zusammenhang in einer Naturordnung dasjenige, was das erkennende Subjekt den Gegenständen seiner Sinne vorschreibt. Die Natur als solche, also das gesetzmäßige Dasein der Erscheinungen, sofern sie ein systematisches Ganzes ausmachen, beruht auf einer Tätigkeit des erkennenden Subjekts - das ist die durch den Vergleich mit dem kopernikanischen Weltsystem (in seiner Keplerschen Version) eingeführte These der Kantischen Analytik, die durch einen Rekurs auf Mathematik und Physik plausibel werden soll. Denn auch der Mathematiker weiß nach Kant, daß er „um sicher etwas a priori zu wissen, der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat" ( B X I I ) . Dies ist eine an Hobbes erinnernde Auffassung von der Mathematik. Die Galileische Physik soll nach Kant dem Einfalle folgen, „demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen, . . . was sie von dieser lernen muß" (Β X I I I f.). In beiden Fällen legt die erkennende Vernunft nach Kant zwar etwas in ihren Gegenstand hinein; aber Kants Auffassung vom synthetischen Charakter der Sätze der Mathematik und theoretischen Physik entspricht es, daß es die Folgen aus der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung und die durch Beobachtung und Experiment erst aufzufindenden bestimmten Naturgesetze des Verhaltens der Körper in Raum und Zeit sind, die unsere mathematische und physikalische Erkenntnis zu einer Erweiterung unseres Wissens machen. Wenn die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe an synthetischen Folgen hervorbringt, und wenn dieses Beispiel der Geometer und Naturforscher die Methode der Metaphysik leiten soll, so muß sich also auch hier ergeben, „daß wir . . . von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen" (Β XVIII). Daß dieses Hineinlegen ein aktives Machen des Gegenstandes der Erkenntnis ist, wird am Beispiel der Mathematik besonders deutlich. „ . . . in der Mathematik kann ich alles das durch mein Denken selbst machen (konstruieren), was ich mir durch einen Begriff als möglich vorstelle; ich tue zu einer Zwei die andere Zwei nach und nach hinzu und mache selbst die Zahl Vier, oder ziehe in Gedanken von einem Punkte zum andern allerlei Linien und kann nur eine einzige ziehen, die sich in allen ihren Teilen . . . ähnlich ist." ( A I V 370) Die synthetischen Sätze a priori, daß Zwei mal Zwei Vier sind und daß es zwischen zwei

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Punkten nur eine gerade Linie gibt, sind also nur dadurch als wahr einzusehen, daß ich den ihnen entsprechenden Gegenstand selbst erzeuge, und zwar durch sukzessive Synthesis im ersten Falle oder zweitens durch ein Linienziehen, das an die Grenze seines Vermögens, verschiedene Lösungsvarianten einer elementaren Konstruktionsaufgabe zu erproben, stößt, somit zugleich eine grundlegende Eigenschaft des euklidischen Raumes für alle anderen Konstruktionen in der Ebene erkennbar macht und also von axiomatischer Bedeutung ist. Die allgemeine Frage der Kritik der reinen Vernunft „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" wird, nach diesem mathematischen Vorbild zu schließen, also so zu beantworten sein, daß sie aufgrund einer Synthesis des tätigen Verstandes als wahre Erkenntnisse möglich sein werden. Erkenntnisse a priori oder Einsichten in die Natur der Dinge wären demnach nur möglich, wenn ihnen ein Machen zugrundeliegt. Im folgenden untersuchen wir (1) diese Tätigkeit als eine Verbindung, die nach Kant nur vom Verstände selbst vollzogen und nicht durch Sinne wahrgenommen werden kann (aber weder die erkannten Objekte noch das erkennende Subjekt, wie sie an sich selbst sind, zu erkennen gibt) und (2) das Produkt dieser Synthesis und damit den Zusammenhang von Objektivität des Erkenntnisgegenstandes und Naturordnung.

II. Die Deduktion der Kategorien nach der zweiten Auflage der Kritik erklärt in ihrem zweiten Teil, der den ersten voraussetzt, wie es möglich ist, daß der menschliche Verstand der Natur gleichsam das Gesetz vorschreibt und sie sogar möglich macht. Die Natur in formaler Bedeutung, von der hier die Rede ist, ist die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, und sie ist es, die ihrer realen Möglichkeit nach durch das Tun des Verstandes hervorgebracht wird. Die Ermöglichung der Natur durch die Kategorien des Verstandes wird von Kant in der subjektiven Deduktion dieser Kategorien vom § 15 ab untersucht. Grundlegend für diese Untersuchung ist Kants These, daß die Verbindung die einzige Vorstellung ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekt selbst verrichtet werden kann (B 130). Ähnlich heißt es in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, daß die Vorstellung eines Zusammengesetzten als eines solchen nicht bloße

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Anschauung sei, sondern den Begriff einer Zusammensetzung erfordere, der dann auf eine Anschauung in Raum und Zeit angewandt werde ( A X X 271). Der Sinn dieser These und ihre Begründung sind nun leicht mißzuverstehen. Denn man könnte meinen, Kant bekenne sich hier zu einem Humeschen Atomismus der Sinnesdaten, was besagen würde, daß unser Wahrnehmungsvermögen so beschaffen sei, daß wir nur unverbundene Empfindungen empfangen könnten und alle Verbindung auf unbewußten Assoziationen oder bewußten und willkürlichen Zusammensetzungen, also auf einer nachträglichen Tätigkeit der menschlichen Seele, ausgeübt am Material der Sinnesdaten, beruhe. In diesem Falle wäre Kants These eine Aussage über eine faktische Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, und sie würde sich dem Einwand aussetzen, daß isolierte Sinnesdaten zu den seltenen Ausnahmen unserer Wahrnehmung gehören und daß wir, wie die tägliche Erfahrung zeigt, beständig ganze Bündel oder Sequenzen von Sinneseindrücken wahrnehmen. Daß Kants Meinung dadurch nicht tangiert ist, weil er gar keine Aussage über den faktischen Wahrnehmungsvorgang macht, ist schon dadurch gesichert, daß er ausdrücklich von einem „Mannigfaltigen überhaupt" (B 129) spricht, also auch vom nichtwahrnehmbaren, reinen Mannigfaltigen in Raum und Zeit, und ferner vom Mannigfaltigen der mancherlei Begriffe und daß bei Kant, wie schon die Uberschrift des §15 bezeugt, hier entsprechend von der „Verbindung überhaupt" die Rede ist und nicht bloß von Wahrnehmungsverbindungen. Der Schlüssel zum Verständnis der Kantischen These liegt in den Worten „daß wir uns nichts als im Objekt verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben" (B130). Die Verbindungen überhaupt sind also jedenfalls objektive Verbindungen und von deren Vorstellung als solcher sagt Kant, daß sie auf einem Akt der Spontaneität beruhe. Die Vorstellung eines zusammengesetzten Objekts als eines solchen setzt den Begriff einer Zusammensetzung voraus, und dieser Begriff ist es, der nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekt selbst gebildet werden kann. Aber, so könnte man einwenden, wenn der Begriff eines Zusammengesetzten objektive Realität haben soll, so muß das Zusammengesetzte, das ihm korrespondiert, doch schon von sich aus eine Zusammensetzung oder synthetische Einheit enthalten, und es scheint a priori nicht einsehbar, warum nicht einiges Zusammengesetzte auch als zusammengesetzt durch die Sinne wahrgenommen werden könnte. U m Kants These, daß alle Verbindung selbst eine Verstandeshand-

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lung und also keine in irgendeinem Sinne sinnlich gegebene Vorstellung sei, zu verstehen, muß man wiederum auf die Paradoxie verweisen, daß es sich hier um die Vorstellung einer objektiven Verbindung handelt, die aber als einzige Vorstellung vom Objekt nicht durch das Objekt den Sinnen und damit dem Erkenntnisvermögen gegeben werden kann. Denn das wird bedeuten, daß es einen Zusammenhang zwischen der Objektivität der Verbindung und ihrer Nichtwahrnehmbarkeit durch die Sinne geben muß. M. a. W.: Die Auszeichnung der Verbindung vor allen anderen Vorstellungen, nicht durch die Sinne gegeben werden zu können, wird darauf beruhen, daß es sich nicht nur um eine objektive Vorstellung, sondern um eine die Objektivität von Vorstellungen erst ermöglichende Vorstellung handelt. Will man Kants These über die Verbindung in ihrer Berechtigung einsehen, so muß man von der Voraussetzung ausgehen, daß ich als erkennendes Subjekt mannigfaltige Vorstellungen habe, die Objekte vorstellen sollen. Vorstellungen sind aber für sich genommen nur Gemütsbestimmungen, also Bestimmungen des Subjekts und gerade nicht des Objekts. Sollen diese Vorstellungen nun gleichwohl ein Objekt vorstellen, so muß über sie als gegebene Gemütsbestimmungen (auch wenn es sich ζ. B. um reine oder empirische Begriffe handelt) noch etwas hinzukommen, wodurch sie als Bestimmung eines Objekts vorgestellt werden. Diese hinzukommende Vorstellung ist der Begriff des Objekts als diejenige eine Vorstellung, die mannigfaltige gegebene Vorstellungen auf das bezieht, was durch sie vorgestellt wird. Die Vorstellung mannigfaltiger Vorstellungen als Bestimmung eines Objekts ist die Vorstellung der Zusammengehörigkeit vieler Vorstellungen zu einer Vorstellung, also die Vorstellung einer Einheit. Die Vorstellung dieser Einheit ist in den gegebenen Vorstellungen als bloßen Gemütsbestimmungen nicht enthalten und muß also auf der Spontaneität des Vorstellungsvermögens beruhen oder gemacht sein. Verbindung als Vorstellung des Verbundenseins mannigfaltiger Vorstellungen in der einen Vorstellung ihrer Einheit ist also nur durch einen Akt des Verbindens möglich. Also ist die Vorstellung „Verbindung" oder „Zusammengesetztes", die eine Bedingung des Vorstellens von Objekten durch mannigfaltige gegebene Vorstellungen ist, eine Vorstellung, die nur durch den Verstand und nicht durch die Sinne möglich ist. So zeigt sich, daß schon Kants grundlegende These über die Verbindung eine Rückführung der Erkenntnis auf ein selbsttätiges Machen bedeutet. Die Kategorien, vermittelst derer die

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N a t u r in formaler Bedeutung hervorgebracht wird, sind ja nichts anderes als die Arten der Zusammensetzung des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen. D i e Verbindung als A k t der Selbsttätigkeit ist also das oberste Prinzip aller Kategorien und der durch sie gedachten Naturordnung. D i e Verbindung oder intellektuelle Synthesis, wie sie bisher erörtert wurde, ist eine erschlossene notwendige Bedingung der Objektivität unserer Vorstellungen. Bekanntlich hat Kant sie in der Einheit des Selbstbewußtseins fundiert. Wenn ein O b j e k t vermittelst der Vorstellungen erkannt werden soll, dann setzt dies eine synthetische Einheit der Vorstellungen und also einen A k t der Synthesis voraus. D a ß

aber

O b j e k t e vermittelst meiner Vorstellungen zu denken und somit eine Synthesis zu vollziehen selbst notwendig ist, das folgt aus der Tatsache, daß ich mir anders als durch das Bewußtsein der Synthesis meiner Vorstellungen der Identität meiner selbst nicht bewußt werden kann. Lassen sich nun verschiedene Weisen des für alles Verstandesdenken notwendigen Verbindens von analytischen Einheiten des Bewußtseins (Begriffen) als vollständiges System von (notwendigen) Begriffsverknüpfungen auffinden, so ist damit der Leitfaden zu einer transzendentalen Tafel reiner Gegenstandsbegriffe aufgefunden. D e r Nachweis der objektiven Gültigkeit dieser Kategorien besteht demnach (1) in dem Hinweis darauf, daß sie den Urteilsformen und damit den Funktionen derjenigen Verstandeshandlungen entsprechen, durch die eine notwendige Verbindung von Vorstellungen

überhaupt, also auch von

Anschauungen,

bewirkt wird, und (2) in dem Argument, daß diese Verstandeseinheit auch dem R a u m und der Zeit, als den Bedingungen der Wahrnehmung und aller Wahrnehmungsverknüpfung, zugrundeliegt und somit auch von unseren empirischen Anschauuungen gelten muß. D a aber die Kategorien nur Verstandesformen sind, deren anschaulicher Inhalt ihnen durch die Sinnlichkeit gegeben werden muß, so beschränkt sich ihre Gültigkeit auch auf bloße Erscheinungen. D i e F o r m des Urteils einerseits und R a u m und Zeit andererseits sind also ursprüngliche synthetische Einheiten, die auf einer nur erschlossenen intellektuellen Synthesis beruhen, und beide Teile der Deduktion hängen somit von diesem Gedanken der Notwendigkeit der Verbindung zur Objekterkenntnis ab. N u n handelt Kant aber außer von dieser intellektuellen Synthesis bekanntlich noch von anderen Weisen der Synthesis, insbesondere von einer von ihm „figürlich" genannten Synthesis, die dann vorliegt, wenn

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das Verbundene dieses Verbindens ein Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung, sei sie rein oder empirisch, ist und nicht mehr ein Mannigfaltiges überhaupt. Sie ist eine Synthesis der Einbildungskraft, da sie nicht auf die Gegenwart eines wahrnehmbaren Gegenstandes angewiesen ist, sondern gegebene reine oder empirische Anschauungen spontan verbinden kann. Diese figürliche Synthesis der Einbildungskraft ist nun nicht in jedem Falle erschlossen, sondern etwas, was ich auch in mir selbst wahrnehmen kann, d. h. dessen ich mir empirisch bewußt werden kann. D a z u gehören die Akte des Ziehens einer Linie, der Konstruktion eines Kreises und generell der Manipulation des Mannigfaltigen des Raumes, sei es durch ein Fortschreiten in ihm oder durch Versuche, ihn einzuteilen oder zu unterteilen. Solche Akte der Synthesis (und Analysis) geschehen nacheinander und somit in der Zeit. Wir werden uns ihrer nicht bloß jeweils als eines Aktes der sukzessiven Synthesis eines Mannigfaltigen im Räume bewußt, sondern diese Bewegungen ermöglichen uns sogar erst den Begriff der Sukzession selbst, als eines fundamentalen Zeitbegriffes. Das empirische Bewußtsein einer solchen Bewegung oder sukzessiven Synthesis ist die Wahrnehmung eines Mannigfaltigen, mit dem etwas durch mich geschieht, durch den inneren Sinn. D a r u m ist Bewegung nur im Nacheinander bewußt zu machen. Dieses Bewußtmachen ist ein Setzen des Mannigfaltigen und seiner eigentümlichen Veränderung in den inneren Sinn. Will ich mir nun den Sukzessionscharakter der Vorstellungen selbst, d. h. die Zeit selbst in ihrer eindimensionalen Folge der Jetzt vorstellen, so bedarf es dazu 1. des Mannigfaltigen des Raumes, 2. einer Handlung des Verbindens dieses Mannigfaltigen und 3. des Absehens von diesem Mannigfaltigen als Raumteilen und des Achthabens nur auf die H a n d lung, durch die ich mir des Raummannigfaltigen bloß als Vorstellungen im Setzen in den inneren Sinn bewußt werde, welcher Handlung des Setzens selbst ich mir nur als sukzessiver Synthesis bewußt werden kann. D i e Zeit ist dasjenige Medium, worin und woran ich mir der Verstandessynthesis bewußt werden kann, und dieses Bewußtsein ist der Begriff der Sukzession. D e m Verstand ist also hier im innern Sinn nicht eine Verbindung des Mannigfaltigen vorgegeben, sondern der Begriff der Sukzession wird durch ihn erst hervorgebracht. Damit aber wird zugleich die Zeit als ein synthetisches Ganzes von Jetzt, also als Gegenstand in Gestalt einer formalen Anschauung vorgestellt. Die formale Anschauung der Zeit beruht also insofern auf einem hervorbringenden

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Tun der Einbildungskraft, das gemäß der synthetischen Einheit des Objekts überhaupt und also gemäß der intellektuellen Synthesis des Verstandes vollzogen wird. Daß ich mir der Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft wegen der Zeitform des inneren Sinnes nur im Nacheinander bewußt werden kann, würde schon für sich den bloßen Erscheinungscharakter des empirisch bewußt werdenden Ich beweisen, wenn schon feststünde, daß die Zeit nur die Form des inneren Sinnes und aller inneren Erscheinungen sein könnte. Da das Bewußtsein des eigenen Denkens als eines Verbindens (und Trennens) des Mannigfaltigen aber zumindest dem ersten Anschein nach das Bewußtsein von etwas ist, das nicht durch einschränkende Bedingungen der Sinnlichkeit modifiziert und also ein Ding an sich selbst ist, so bedarf es eines eigenen Nachweises, daß die Zeit nicht eine Daseinsweise von Dingen an sich selbst sein kann. Dies geschieht dadurch, daß Kant auf die Abhängigkeit der Zeitvorstellung selbst (und damit allen empirischen Bewußtseins) von der Vorstellung des Raumes hinweist. Dabei ist vorausgesetzt, daß der Raum kein Ding an sich selbst oder eine Beschaffenheit von solchen Dingen sein kann. Kann ich mir die Zeit in ihrer Eindimensionalität nur an Ortsbewegungen, genauer am Ziehen einer Linie vorstellen und kann ich die Zeit nur messen durch Rekurs auf Bewegungen im Räume (Gebrauch von Uhren), so ist sie in diesen wesentlichen Hinsichten von der Raumvorstellung abhängig und kann also selbst nicht von höherer Dignität sein als diese. Das Bewußtsein meiner selbst als eines spontan handelnden Wesens, das seine Begriffe und damit die synthetische Einheit seiner Vorstellungen selbst macht, ist also nur das Bewußtsein einer besonderen Art von Erscheinung und nicht die Einsicht in ein intelligibles Prinzip von Erscheinungen. Schließlich ist auch die empirische Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen einer äußeren oder inneren Anschauung, durch die eine Wahrnehmung dadurch zustandekommt, daß ich mir ein Bild von einer Erscheinung mache, ein hervorbringendes Tun, das seiner Objektivität nach von der intellektuellen Synthesis des Verstandes, die in den Kategorien gedacht wird, abhängt. Was aber heißt das? Die Bedingungen a priori für die Wahrnehmung eines Hauses oder des Gefrierens von Wasser sind der Raum und die Zeit. Die empirische Anschauung eines Hauses wird nur dadurch zur Wahrnehmung eines Hauses gemacht, daß ich seine Gestalt so nachzeichne, daß sie einen bestimmten aus Teilen

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bestehenden Raum einnimmt. Indem ich mir so das Haus empirisch zum Bewußtsein bringe, unterwerfe ich zugleich alle seine Teile und ihre Verbindung dem Raum und der in ihm enthaltenen synthetischen Einheit seines Mannigfaltigen. Alle Eigenschaften des Raumes, insbesondere seine Unendlichkeit und Homogenität, sein Zugrundeliegen für alles in ihm und das gleichzeitige Nebeneinandersein seiner Teile gehen in die Wahrnehmung des Hauses mit ein. Das Entscheidende aber ist, daß nur dadurch, daß ich die empirische Synthesis seines Mannigfaltigen der synthetischen Einheit des Raumes unterwerfe, das Haus selbst unter die Kategorie der Größe (synthetische Einheit des mannigfaltigen Gleichartigen) subsumiert wird. Auch bei der Wahrnehmung eines Ereignisses, wie des Gefrierens von Wasser, liegt eine synthetische Struktur schon zugrunde, nämlich die spezielle synthetische Einheit der Zeitteile, die darin besteht, daß sie einander ihre Stelle als frühere und spätere, also ihre Folgeordnung bestimmen. Weil jedes empirische Bewußtsein einer zeitlichen Veränderung der Zeit selbst als Form des inneren Sinnes unterliegt, so steht der Vorgang des Gefrierens von Wasser als eine von mir durch sukzessive Apprehension zweier Zustände wahrgenommene Begebenheit unter dem Grundsatz der Zeitfolge oder dem Gesetze des Verhältnisses von Ursache und Wirkung, weil die Zeit selbst insofern synthetisch bestimmt ist, als ihre Teile eine eindeutig bestimmte Relation gegeneinander haben. Die empirische Synthesis der Apprehension, durch die die Wahrnehmung zustandekommt, ist also durch Raum und Zeit selbst und deren synthetische Einheit bedingt und steht nur in dieser mittelbaren Weise unter den Kategorien und der in ihnen gedachten Verstandessynthesis. Was hier schließlich und endlich gemacht wird, ist die Erfahrung, die dann entsteht, wenn eine Wahrnehmung, als den synthetischen Einheiten von Raum und Zeit gemäße, Objektivität und damit den Charakter einer Gegenstandserkenntnis beanspruchen kann.

III. Fragt man sich schließlich, was das Produkt des hervorbringenden Tuns des Verstandes ist, so ist klar, daß es sich hierbei nur um eine formale Einheit einer gegebenen Materie handeln kann, da durch die von Kant behauptete Sinnlichkeit aller unserer Anschauungen und die Tatsa-

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che, daß dem denkenden Verstände durch ihn selbst kein Stoff zum Denken gegeben wird, jede Art von creatio ex nihilo ausgeschlossen ist. Dem entspricht, daß für Kant auch die Gegenstände der reinen Mathematik im Felde möglicher Erfahrung liegen, ohne daß ihre Begriffe darum von dieser abstrahiert wären. Das Produkt des erkenntnisbegründenden Machens ist aber auch nicht in dem Sinne eine geformte Materie, wie die Artefakte es sind. Denn der Gegenstand der Erkenntnis ist nicht einfach ein technisches Produkt, das nur die Eigenschaften hat, die ich ihm gebe, sondern - jedenfalls in der Mathematik - etwas, über dessen Eigenschaften ich nach der Konstruktion durch es selbst belehrt werde und an dem es Neues zu entdecken gibt. Die Gleichartigkeit mit den Konstrukten der Mathematik hört aber da auf, wo es um unkonstruierbare Qualitäten und deren Dasein geht, also der Bereich der Größen verlassen wird. Obwohl die Philosophie im Unterschied zur Mathematik ihre Begriffe nicht konstruieren und so zu synthetischen Erkenntnissen a priori gelangen kann, sind die Schemata der reinen Verstandesbegriffe als Analoga zu den Darstellungen der geometrischen und arithmetischen Begriffe anzusehen. Die transzendentalen Zeitbestimmungen vermitteln den Kategorien die Anwendung auf Erscheinungen und sind selbst der sichtbare Ausdruck der Restriktion der objektiven Gültigkeit dieser Kategorien auf Sinnliches. Der Begriff des Schemas umfaßt aber auch die mathematischen Konstrukte wie „das Schema des Triangels" (B 180). Mache ich mich nun nach Anweisung des Schemas etwa der Ursache („das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt": Β 183) auf die Suche nach derjenigen Erscheinung, die dieses Kriterium für ein gegebenes Ereignis erfüllt, so erweitere ich mein empirisches Wissen von der Natur durch Anwendung einer schematisierten Kategorie auf den Inbegriff der Erscheinungen, in Analogie zur Erkenntnis etwa der Eigenschaften eines Kreises, die in der Darstellung seines Begriffes als einer Konstruktionsvorschrift gefunden und dann bewiesen werden können. Damit ist ein erstes Beispiel gegeben für diejenigen Sätze, die durch Subsumtion der Erscheinungen unter die schematisierten Kategorien möglich werden und als sog. Grundsätze des reinen Verstandes das System transzendentaler Naturerkenntnis ausmachen. Die Natur als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit ist selbst ein System, weil alle ihre a priori einsehbaren Gesetze dem einen Prinzip der Verstandessynthesis entspringen und nach Vollständigkeit und Stellung

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zueinander genau der Tafel der ursprünglichen Verstandesfunktionen im Urteil entsprechen. Dieses System der Grundsätze würde zusammen mit dem System der Kategorien eine vollständige Ontologie ausmachen, wenn nicht deren Grundbegriff der eines Dinges überhaupt wäre, von dem Kant glaubte zeigen zu können, daß ihm keine erkenntnisbegründende Bedeutung zukomme. Allenfalls könnte man, wider den Sprachgebrauch, von einer Ontologie der Erscheinungen oder der Gegenstände der Erfahrung sprechen. Denn die durch die Synthesis des Verstandes in ihrer systematischen Vollständigkeit ermöglichten elementaren synthetischen Urteile a priori gelten insgesamt nur von Gegenständen möglicher Erfahrung, und zwar deshalb, weil sie die Möglichkeit, durch sinnliche Wahrnehmung empirische Erkenntnis von Objekten zu erwerben, allererst begründen. Damit ist zwar dem Skeptizismus hinsichtlich einer apriorischen Erkenntnis Einhalt geboten, zugleich aber das paradoxe Resultat erzielt, daß die Metaphysik als der Inbegriff nichtempirischer synthetischer Erkenntnisse nur von Gegenständen empirischer Erkenntnis gilt. Was aber bringt nun der Verstand an den Erscheinungen der Sinne hervor, wenn er in intellektueller Synthesis die Einheit eines Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt stiftet, also angesichts gegebener Vorstellungen der Sinne die Vorstellung des Objekts hervorbringt? Offenbar nicht das Objekt selbst, denn dieses ist durch die Sinne gegeben, die aber nicht das Objekt als Objekt, sondern als gegebenes Mannigfaltiges in zufälliger und variabler Einheit vorstellen. Damit aber der Verstand angesichts eines gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung, also bei uns: der Sinne, etwas verstehen, d. h. ein Objekt derselben denken kann, bedarf es nach Kant der ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, also der Kategorien. Diese Synthesis ist eine Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen der Sinne, erzeugt aber nur die Form solcher synthetischer Einheiten. Da Anschauungen ohne Begriffe zwar einen Gegenstand zur Erkenntnis geben, aber nicht erkennen können und also blind sind, so bedarf es zur Beziehung ihrer auf ein Objekt einer Synthesis, die nicht in ihnen liegen kann und also vom Verstand selbst verrichtet worden sein muß. Die Apperzeption als Quelle aller Verstandessynthesis kann natürlich nicht bestimmte Verbindungsbegriffe begründen, sondern nur solche, in denen formal die Objektivität von Objekten der Anschauung überhaupt gedacht ist. Diese Formalität aber besagt, daß nur solche empirisch gegebenen Anschauungen (Empfin-

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düngen) und deren Verbindungen, die gewisse formale Bedingungen erfüllen, so daß sie mit dem Begriff eines Objektes überhaupt übereinstimmen, von objektiver Bedeutung sind. Aus dem Mannigfaltigen

sinnlicher Anschauung wird nicht durch Komposition,

sondern durch

Selektion eine empirische Erkenntnis des Objekts. Zugleich kann ich aber aufgrund der intellektuellen Synthesis des Verstandes a priori wissen, daß es solche empirischen Anschauungen geben muß, die durch die Kategorie antizipiert sind. Sie aber muß ich nach Anweisung der Kategorie erst aufsuchen, zumal sie nicht notwendig in einer gegebenen Anschauung schon enthalten sind. Da es aber nicht in unserer Macht steht, ob uns gegebene sinnliche Anschauungen faktisch die durch die Kategorien gedachten formalen Bedingungen erfüllen, so kann man auch von dieser Seite her nicht sagen, daß wir das Objekt einer empirischen Anschauung selbst durch Synthesis hervorbringen. Vielmehr beruht nur die Objektivität gegebener Vorstellungen auf der Tätigkeit des Subjekts, also nicht das O b j e k t selbst. Das ist der Sinn von Kants empirischem Realismus. Die vom Verstände hervorgebrachte Objektivität der Objekte ist nun aber nichts, was einer Erscheinung isoliert von anderen Erscheinungen zukommen könnte. Vielmehr sind die Erscheinungen der Sinne für sich genommen nur unbestimmte Gegenstände einer empirischen Anschauung ( B 3 4 ) . Denn abstrahiert man von einem der beiden zur Vorstellung eines Gegenstandes als eines solchen notwendigen Faktoren und behält nur die (sinnliche) Anschauung übrig, so müssen diese Gegenstände, da man vom Anteil des Denkens in ihrer Vorstellung abstrahiert, als unbestimmte Gegenstände betrachtet werden, wobei man auch nur aufgrund der Erwartung einer späteren Bestimmung vorausschauend von „Gegenständen" sprechen kann. Die zur vollen Gegenständlichkeit erforderliche Bestimmtheit erhalten die als Erscheinungen noch unbestimmten Gegenstände der äußeren Sinne und des inneren Sinnes erst durch ihr Verhältnis zu anderen Erscheinungen. Die Bestimmung dieses Verhältnisses geschieht durch das Denken des Verstandes, durch den also auch erst entschieden wird, ob ζ. B. eine gewisse Erscheinung nur die Eigenschaft einer Substanz oder diese selbst ist, oder ob eine subjektive Bestimmung des Gemüts objektive Bedeutung hat oder nicht. V o r dieser Bestimmung durch den Verstand muß es also auch unentschieden bleiben, ob eine (in sich mannigfaltige) Erscheinung eingebildet oder real ist.

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Der Inbegriff aller Erscheinungen überhaupt aber ist die Natur in materialer Bedeutung. Ist die Bestimmung des Verhältnisses einer Erscheinung zu allen anderen eine Bedingung der Möglichkeit, sie als Objekte zu erkennen, so kann die Objektivität der Objekte auch nicht einem isolierten Naturdinge für sich zugesprochen werden. Und ist der Verstand derjenige, der die Objektivität der Objekte macht, so kann er dies nur als Autor der Naturordnung im ganzen, also als Gesetzgeber der Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen in Raum und Zeit tun. Erst dadurch, daß das Verhältnis einer Erscheinung zu allen anderen Erscheinungen als den Inhalten von Raum und Zeit bestimmt ist, also nur dadurch, daß ich jeder Erscheinung eine Stelle im Ganzen von Raum und Zeit a priori anweise, werden aus diesen Erscheinungen Objekte empirischer Erkenntnis. Der Gegenstand der Erkenntnis, den wir nach Analogie zur Mathematik auch in der Metaphysik selbst hervorbringen, ist nicht ein isolierter Gegenstand, sondern der formale Gegenstand der Natur im ganzen als gesetzmäßiger Ordnung der Erscheinungen. Raum und Zeit, vermittelst welcher die Erscheinungen nach dem §26 der Kritik unter den Kategorien des Verstandes stehen, weil sie a priori gegebene Bedingungen ihrer empirischen Apprehension sind, werden nicht bloß als spezifisch menschliche Arten der Anschauung überhaupt unter dieses Genus subsumiert. Sondern die mit Raum und Zeit als formalen Anschauungen oder entia imaginaria gegebene synthetische Einheit von Objekten besagt zugleich, daß nur dadurch eine Erscheinung unter den objektivitätsbegründenden Verbindungsbegriffen steht, daß sie im Ganzen von Raum und Zeit eine bestimmte Stelle einnimmt, die ihre Relation zu allen anderen Erscheinungen bestimmt und durch sie bestimmt wird. Wenn also Kopernikus derjenige war, der durch sein Planetensystem eine gegebene Wahrnehmung erklärte, so hatte Kant darum recht, sich auf ihn zu berufen, da nach Kant eine gegebene Wahrnehmung nur dadurch (möglicherweise) ein Objekt zu erkennen gibt, daß sie in einem System von Erscheinungen ihren durch eine Synthesis des Verstandes bestimmten Platz findet. Das erkennende Subjekt, nach dem sich das erkannte Objekt bei Kant richtet, ist dasjenige, was die Objektivität des Objekts zustandebringt, indem es ihm einen Platz in der ihrer Form nach von ihm selbst gemachten Natur anweist.

MICHAEL WOLFF

(Bielefeld)

Der Begriff des Widerspruchs in der „Kritik der reinen Vernunft" Zum Verhältnis von formaler

und transzendentaler

Logik

Was Kant in der Kritik der reinen Vernunft über den Begriff des Widerspruchs sagt, ist herzlich wenig. Kant zählt diesen Begriff zu den sogenannten Reflexionsbegriffen. Reflexionsbegriffe sind nach Kants Terminologie Begriffe, die wir benötigen, um Gegenstände oder Begriffe miteinander zu vergleichen. Den Begriff des Widerspruchs benötigen wir nach Kant nur zum Begriffsvergleich; bezogen auf Gegenstände führt er in die Irre. Worin aber ein Widerspruch besteht, zu dieser Frage sagt Kant fast nichts. Es sei denn, man beachtet eine kleine definitionsähnliche Bemerkung, auf die man erst im hinteren Teil des Buches stößt; nach dieser Bemerkung ist ein Widerspruch eine „analytische Opposition" (B 532 = A 504). Man würde allerdings zuviel sagen, wenn man behaupten würde, Kant wolle damit wirklich eine Definition geben. Berücksichtigt man den Kontext der Stelle, dann ergibt sich, daß Kant eigentlich nur sagen will, daß die „Entgegensetzung", die einem echten Widerspruch zugrundeliegt, im Unterschied zu den (nur scheinbar widersprüchlichen, „dialektischen") Antithesen, wie sie für die Antinomien der reinen Vernunft charakteristisch sind, „analytisch" ist. Kant liegt daran, den nicht-analytischen Charakter des dialektischen Schließens zu betonen; es liegt ihm in diesem Kontext kaum etwas daran, positiv etwas über das Wesen kontradiktorischer Beziehungen zu sagen. Inwiefern der echte Widerspruch eine „Entgegensetzung" ist, welches seine entgegengesetzten Relate sind und inwiefern deren Relation etwas „Analytisches" ist, das erläutert Kant nicht. Der Leser muß es sich aus anderen Kontexten erschließen. Der Leser mag indessen anderen Kontexten zugleich entnehmen, daß Kant, in Anlehnung an die traditionelle Logik, den Widerspruch als ein non cogitabile, als etwas eigentlich gar nicht Denkbares auffaßt (BXXVI Fußnote) : Etwas sich Widersprechen-

Der Begriff des Widerspruchs

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des liegt nicht nur außerhalb jeder realen Möglichkeit, es ist noch nicht einmal logisch möglich. Mit dieser Auffassung mag es zusammenhängen, daß Kant glauben konnte, sich eine systematische Erörterung dessen, was ein Widerspruch seinem Begriff nach sei, ersparen zu müssen. Indessen wäre es ganz falsch zu meinen, eine genauere Prüfung der Kantischen Bestimmung des Widerspruchs als analytischer Opposition habe nur marginale Bedeutung für eine Gesamtbeurteilung der Kantischen Philosophie. Man kann zeigen, daß am Begriff der analytischen Opposition ein Knäuel von Problemen hängt, die das ganze systematische Gefüge der Vernunftkritik selbst und insbesondere deren Bezüge zur formalen Logik einerseits, zur transzendentalen Logik andererseits betreffen. Versucht man, das Knäuel zu entwirren, so wird man Schwierigkeiten haben, bei dieser Entwirrung die Auffassung des Widerspruchs als analytischer Opposition einfach auf sich beruhen zu lassen. In dieser Auffassung treffen nämlich, wie mir scheint, ganz heterogene Uberzeugungen aufeinander, die als die traditionellen und die revolutionären Züge der Kantischen Logik einander gegenübergestellt werden können. Ich werde diesen Sachverhalt in fünf Schritten darlegen. Zuerst, in Abschnitt I, werde ich zu zeigen versuchen, inwiefern aus dem Begriff der analytischen Opposition zusammen mit anderen logischen Annahmen Kants zu folgen scheint, daß der Satz des Widerspruchs für Kant ein analytisches Urteil ist. Diese Folgerung wird von Kant zwar nirgends ausdrücklich ausgesprochen, sie scheint mir jedoch aus systematischen Gründen unvermeidlich zu sein, und Kant widersetzt sich dieser Auffassung jedenfalls an keiner Stelle. In Abschnitt II werde ich dann zeigen, inwiefern aus der Analytizität des Satzes vom Widerspruch folgt, daß die formale Logik eigentlich eine Theorie analytischer Urteile sein müßte. Auch diese Folgerung wird von Kant nirgendwo ausgesprochen. Man muß sogar im Gegenteil sagen, daß Kant über das Wesen der formalen Logik (zumindest auch) ganz andere Ansichten hegt. In Abschnitt III ist daher näher auszuführen, was nach Kants ausdrücklicher Meinung die formale Logik (teils im Unterschied zur transzendentalen Logik, teils in Übereinstimmung mit dieser als Logik) ist. Die Schwierigkeiten, die in diesem Kantischen Logikkonzept liegen und die ich in Abschnitt IV aufzeigen möchte, können zusammen mit den zuvor erörterten Schwierigkeiten zum Anlaß dafür genommen werden, Kants Ansichten vom Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik anzugreifen. Wie das geschehen kann, soll zum Schluß (in Abschnitt V) - unter Berück-

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Michael Wolff

sichtigung einer möglichen alternativen Anordnung des Verhältnisses von formaler und transzendentaler Logik - skizziert werden. I. Um zunächst zu verstehen, inwiefern mit dem Begriff der analytischen Opposition die Analytizität des Satzes vom Widerspruch zusammenhängt, muß eine kurze Erläuterung nachgeholt werden, die deutlich macht, inwiefern von Kant der Widerspruch als Entgegensetzungsverhältnis aufgefaßt wird und was diese Entgegensetzung in Kants Augen „analytisch" sein läßt. Wir erschließen uns den Sinn dieser Auffassung am leichtesten dadurch, daß wir Kants sprachlichen Gebrauch des Ausdrucks „Widerspruch" beachten und z. B. von der Formulierung des Satzes vom Widerspruch in der Kritik der reinen Vernunft ausgehen. Sie lautet: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht"

(B 190 = A151).

Aus dem unmittelbaren Textzusammenhang ergibt sich, daß Kant nicht unterstellt, ein Prädikat könne unmittelbar einem Ding widersprechen, ohne daß bereits andere Prädikate des Dinges im Spiele sind. Der (unmittelbare) Widerspruch, an den hier zu denken ist, ist vielmehr eine Beziehung zwischen Prädikaten, von denen das eine die (logische) Verneinung des anderen ist. In der wechselseitigen Verneinung der Prädikate liegt ihre kontradiktorische Entgegensetzung. „Analytisch" kann diese Entgegensetzung genau deshalb heißen, weil nach Kants Ansicht die logische Verneinung eines Urteils, das zwei so entgegengesetzte Prädikate einem Dinge beilegt, zu einem „analytisch" wahren Urteil führt und weil umgekehrt die Verneinung eines „analytisch" wahren Urteils „analytisch" falsch heißen kann. Kant hat das Adjektiv „analytisch" implizit so definiert, daß ein Urteil, dessen Bejahung oder Verneinung einen Widerspruch enthält, „analytisch" falsch oder wahr ist. Der Satz des Widerspruchs wird aus diesem Grund „der oberste Grundsatz aller analytischen Urteile" und „das allgemeine und völlig hinreichende Prinzipium aller analytischen Erkenntnis" (B 189-191 = A150-151) genannt. Man sieht jetzt deutlicher, daß Kants Bestimmung des Widerspruchs als analytischer Opposition nicht für eine Definition gehalten werden

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darf. Sie wäre nämlich nicht zirkelfrei. Denn wie man sieht, hat sich Kant zur Erklärung des Begriffs der Analytizität des Begriffs des Widerspruchs bereits bedient. Man könnte nun aus dieser Zirkularität die Vermutung herleiten, daß der Satz des Widerspruchs, als Erkennungshilfe analytischer Urteile, nicht selbst ein analytisches Urteil sein kann. Denn welche andere Erkennungshilfe gäbe es für seine eigene Analytizität? Mir scheint allerdings, daß Kant, auch wenn er das nirgends expressis verbis behauptet hat, der Meinung sein konnte, daß der Satz des Widerspruchs seine eigene Analytizität direkt ausdrückt. Es fällt nämlich auf, daß die von mir schon erwähnte eigentümliche Formulierung, die Kant für den Satz des Widerspruchs gewählt hat, ein Urteil ist, in dessen Prädikat der Widerspruchsbegriff ausdrücklich vorkommt. Dieser Sachverhalt hat zur Folge, daß die Negation des Satzes vom Widerspruch dem Inhalt nach (nicht nur aufgrund ihrer logischen Form) unmittelbar das Bestehen eines Widerspruchs ausdrückt. Der Satz des Widerspruchs in der Formulierung Kants legt auf diese Weise implizit fest, daß die Begriffe des Widerspruchs und der Analytizität ihrerseits analytisch entgegengesetzt sind. Daß für Kant, wenigstens seit den 1770er Jahren, der Satz des Widerspruchs ein analytisches Urteil ist, könnte noch durch folgendes Argument erhärtet werden. Zunächst ist (in Ergänzung des bisher Gesagten) daran zu erinnern, daß nach Kant der Satz des Widerspruchs zwar ein Analytizitätskriterium ist, es aber nicht immer möglich ist, über die Analytizität des einzelnen Satzes mittels des Satzes vom Widerspruch zu entscheiden. Vielmehr kommt es auch darauf an, ob sich unter den logischen Voraussetzungen des einzelnen Satzes ausschließlich analytische Sätze befinden. Ein einzelner Satz, dessen Wahrheit mittels des Satzes des Widerspruchs eingesehen werden kann, ist nur dann analytisch, wenn er keine synthetischen Sätze logisch voraussetzt. So ist es nach Kants ausdrücklicher Feststellung (B 14) ein Fehlschluß zu glauben, daß gewisse Axiome der Mathematik analytische Urteile schon deshalb sind, weil sie „aus dem Satz des Widerspruchs erkannt würden". Denn „ein synthetischer Satz kann allerdings nach dem Satze des Widerspruchs eingesehen werden, aber nur so, daß ein anderer synthetischer Satz vorausgesetzt wird, aus dem er gefolgert werden kann, niemals aber an sich selbst". Was Kant hier über die Grundsätze der Mathematik sagt, das muß zweifellos auf die Grundsätze der Logik übertragbar sein. Denn

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diese ist nach Kant ihrer Struktur nach etwas ganz Ähnliches wie die Mathematik: Sie ist „eine demonstrierte Doktrin", in welcher alles „völlig a priori gewiß sein" muß (B 78 = A 54). N u n ist es aber zweifellos so, daß für Kant (wenigstens für den Autor der Kritik der reinen Vernunft) einige der grundlegenden Sätze der Logik, wie z. B. der Satz der Identität oder der Satz des Grundes, ausdrücklich analytische Sätze sind und auf dem Satz des Widerspruchs beruhen. Daß der Satz der Identität ein analytischer ist, ist von Kant, wenigstens seitdem er über die Unterscheidung zwischen „analytisch" und „synthetisch" verfügt, niemals bezweifelt worden. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Eberhard um das Jahr 1790 herum bezieht Kant einen gleichen Standpunkt bezüglich des logischen Satzes vom Grunde 1 ; und er läßt diesen Satz aus dem Satz des Widerspruchs folgen2. Wenn es, wie Klaus Reich 3 gesagt hat, ein „Faktum" ist, daß die formale (oder „allgemeine") Logik nach Kant Erkenntnisse über die Form des Denkens enthält, die deshalb analytische sind, weil sie alle auf dem Satz des Widerspruchs beruhen, dann ist der Satz des Widerspruchs als oberstes logisches Gesetz ein analytisches Urteil. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, daß der jüngere Kant, für den die Dichotomie aller Urteile in analytische und synthetische noch nichts Verbindliches an sich hatte, die logischen Grundsätze in ihrer relativen Anordnung und in ihrer inhaltlichen Fassung noch ganz anders beurteilt hat. Am interessantesten ist hier die Nova dilucidatio von 1755, die (in Sectio I) nicht den Satz des Widerspruchs, sondern den Satz der Identität als oberstes logisches Prinzip anerkennt und dabei (in Propositio II) sogar so weit geht zu behaupten, daß der Satz der Identität aus zwei aufeinander logisch nicht zurückführbaren Teilsätzen besteht. Es gibt nach der Auffassung des dreißigjährigen Kant nicht Ein oberstes logisches Prinzip, sondern zwei: „A ist identisch mit A" und „non-/4 ist nicht identisch mit A". Für den jungen Kant sind die zwei Teilsätze (die eigentlich erst „beide zusammen" den Satz der Identität ausmachen sollen) logisch insofern voneinander unabhängig, als verneinende Sätze unmittelbar immer nur aus verneinenden Sätzen, bejahende Sätze immer nur aus bejahenden folgen. Von diesem Standpunkt aus wäre es Kant 1 2

3

S. den Brief an Reinhold vom 19. Mai 1789. S. die Streitschrift gegen Eberhard von 1790 (Über eine Entdeckung etc.), AkademieAusgabe Bd. V i l i , S.238. K. Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, 21948, S. 15.

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niemals gelungen, die logischen Grundgesetze als analytische Urteile aufeinander zurückzuführen. Als analytisch hätte von diesem Standpunkt aus noch nicht einmal der Satz der Identität gelten können. (Bestenfalls wären es dessen Teilsätze.) Ich halte es für denkbar, daß Kant diesen Standpunkt eben deshalb aufgegeben hat, um die Grundgesetze der formalen Logik alle unter den Begriff des analytischen Urteils subsumieren zu können.

II. Wenn wir nunmehr annehmen, daß von dem Standpunkt aus, den die Kritik der reinen Vernunft bezieht, alle formallogischen Gesetze einschließlich des Satzes vom Widerspruch analytische Geltung haben, so kann man eben diesen Sachverhalt auch so ausdrücken, daß man sagt, die Kritik der reinen Vernunft betrachte die formale Logik als Theorie analytischer Urteile, d. h. als Theorie, deren Sätze analytischer Natur sind. Kant gerät auf diese Weise in eine unmittelbare Nachbarschaft zu den in unserem Jahrhundert verbreiteten Standpunkten des Logischen Empirismus und der Analytischen Philosophie, sofern nämlich auch diese (in Anlehnung an den Kantianismus des 19. Jahrhunderts) die logischen Gesetze für analytische Wahrheiten oder für Tautologien halten. Es läßt sich indessen leicht einsehen, daß man mit dieser Beschreibung des Standpunkts der Kritik der reinen Vernunft in Schwierigkeiten gerät. Denn Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft eine Idee von formaler Logik entworfen, die sich mit der Auffassung von ihr als Theorie analytischer Urteile auf gar keinen Fall vereinbaren läßt. Bevor ich diese Idee in Erinnerung bringe, möchte ich vorweg ankündigen, daß es nicht meine Absicht ist, die Unvereinbarkeit durch eine Kantinterpretation aus der Welt zu schaffen, die Konsistenz herstellt, wo möglicherweise gar keine Konsistenz besteht. Die Auffassung der formalen Logik als Theorie analytischer Wahrheit kann sich, wie mir scheint, auf Kant durchaus berufen, und es ist wohl kein von Kant gänzlich unverschuldeter Zufall, daß diese Auffassung eine lange Zeit hindurch, beginnend schon mit der Kantischen Schule am Ende des 18.Jahrhunderts (Kiesewetter) über das ganze 19. Jahrhundert hinweg bis hin zum Marburger Neukantianismus, so sehr herrschende Meinung

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der Kantinterpretation gewesen ist, daß der Logische Empirismus und die Analytische Philosophie ganz unauffällig und harmlos an diese Tradition anknüpfen konnten. Ich darf es mir an dieser Stelle ersparen, die Argumente im einzelnen zu wiederholen, die Reich gegen diese traditionelle Kantinterpretation vorgebracht hat, um die spezifischen Züge zur Geltung zu bringen, die die Kantische Idee der formalen Logik auszeichnen. Ich möchte hier nur auf einen mir besonders wichtig erscheinenden Gedanken verweisen, der dieser Kantischen Idee zugrundeliegt. Nach Kant untersucht die formale Logik stets nur notwendige, niemals hinreichende Wahrheitsbedingungen. Von hinreichenden Wahrheitsbedingungen kann es nach Kant gar keine allgemeine, formale Theorie geben. Denn diese Bedingungen müßten den unterschiedlichen Inhalt wahrer Urteile berühren. Dagegen gehören zu den notwendigen Wahrheitsbedingungen die (auch von Kant so genannten) logischen Gesetze, deren Erfüllung durch irgendeinen bestimmten gedanklichen Inhalt nicht immer etwas Wahres, wohl aber immer etwas logisch Mögliches ergibt. Ein Gedanke, der dem Satz des Widerspruchs genügt, also keine analytischen Oppositionen enthält, ist ein logisch möglicher Gedanke, aber allein deshalb noch nicht wahr. Weil die formale Logik, wie Kant sagt, von allem Inhalt abstrahiert, ist sie nicht fähig, dafür zu sorgen, daß dieser Inhalt nicht aus gänzlich leeren Begriffen besteht, d. h. aus Begriffen, die zwar logisch möglich sind, denen aber gar kein Gegenstand entspricht. Ein hinreichendes Wahrheitskriterium liefert die formale Logik nur für die analytischen Urteile: Insofern der Satz des Widerspruchs hinreichendes Analytizitätskriterium zu sein hat, muß er zugleich auch hinreichendes Wahrheitskriterium sein. Aber diese Leistung kann der Satz des Widerspruchs eben nur für einen sehr kleinen Teil aller möglichen wahren Urteile erbringen, und zwar kann er das auch für diesen Teil nur in den seltenen Fällen, in denen die Negation des Urteils unmittelbar einen formalen Widerspruch ergibt. Denn als /ormtf/logischer Satz, als welcher er „von allem Inhalt entblößt" (B 191 = A 1 5 2 ) ist, ist der Satz des Widerspruchs nicht geeignet, über Analytizität entscheiden zu helfen, wenn sie nur den Inhalt von Begriffen, nicht deren logische Form zur Grundlage hat. Sieht man also, wegen der marginalen Rolle des Satzes vom Widerspruch als eines hinreichenden Wahrheitskriteriums für analytische Urteile, von der besonderen Beziehung der formalen Logik auf die Klasse der analytischen Urteile ab, so stellt sie in ihren Sätzen nichts als bestimmte Bedingungen der Möglich-

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keit von Wahrheit auf. Sie ist zwar ein „Kanon", aber kein „Organon" der reinen Vernunft. Diese Beschreibung des Wesens der formalen Logik klingt zunächst harmlos, sie wirft aber doch Probleme auf für die Auffassung der Logik als Theorie analytischer Urteile. Es stellt sich nämlich sogleich die Frage, welche Wahrheitsbedingungen eigentlich die Sätze der formalen Logik selbst erfüllen. Wenn diese Sätze analytisch sind, dann erfüllen sie nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Wahrheitsbedingungen. So scheint denn ja auch der Kantische Satz des Widerspruchs als ein unbedingt wahrer Satz aufzutreten - „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht". Dieser Satz schließt, mit unbedingtem Wahrheitsanspruch, die Existenz einer bestimmten Klasse von Dingen aus, und zwar so, daß er diese Existenz nicht bloß als wirkliche oder als real mögliche, sondern vielmehr auch als logisch mögliche verneint. Worin aber kann die Wahrheit eines Satzes bestehen, wenn er nicht nur etwas über die Wirklichkeit, sondern darüber hinaus über das logisch Mögliche aussagen soll? Nach der Kantischen Idee der formalen Logik als einer Theorie bestimmter notwendiger Wahrheitsbedingungen ist es an sich ganz sinnlos, den formallogischen Gesetzen als solchen Wahrheit beizumessen. Jedenfalls Wahrheit im Sinne der „Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande" kommt ihnen nicht zu. Als bloß formale Sätze sollen sie gar nichts aussagen über etwas, was möglicher Gegenstand einer Erkenntnis ist, sondern nur über das, was möglicher Inhalt des Denkens ist. „Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht. U m einem solchen Begriffe aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert" ( B X X V I ) , als die Ubereinstimmung des Gedankens mit den Gesetzen der formalen Logik. Die formale Logik „abstrahiert", so sagt Kant, „von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Object, und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse aufeinander, d. i. die Form des Denkens überhaupt" (B 79 = A 55). Für

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das, was nicht erkannt, sondern nur gedacht wird, gibt es, mit anderen Worten, nicht die Alternative von wahr oder falsch, sondern nur die des logisch Möglichen oder logisch Unmöglichen. Die formale Logik als Theorie bestimmter notwendiger Wahrheitsbedingungen ist deshalb, genaugenommen, keine Theorie einer bestimmten Klasse von wahren Sätzen, sie ist keine Theorie der Wahrheit, sondern eine Theorie der logischen Möglichkeit und Unmöglichkeit. Sie ist selber (um es ganz überspitzt zu sagen) stets nur eine logisch mögliche oder logisch unmögliche Theorie, niemals aber wahr oder falsch. Zu diesem Verständnis der Kantischen Idee formaler Logik (das allerdings, wie ich einräumen will, keine unmittelbare Textbasis für sich beanspruchen kann) paßt es gut, daß Kant das widersprüchliche Urteil oder den widersprüchlichen Begriff, also das logisch Unmögliche, nicht einfach „falsch", sondern „nichts" (ein „nihil negativum" [B348 = A 291]) nennt. Hätte Kant Wert darauf gelegt, den Sätzen der formalen Logik Wahrheit in irgendeinem vernünftigen Sinne beizumessen, so hätte er sich meiner Meinung nach in der Einleitung zur Transzendentalen Logik nicht völlig zufriedengeben dürfen mit der „Namenerklärung" der Wahrheit als „Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande" (B 82 = A 58), sondern er hätte in der Kritik der reinen Vernunft die Frage nach dem Wesen der Wahrheit wirklich aufrollen und neu beantworten müssen. Ich gebe zu, daß nicht alle Kantinterpreten dieses Argument akzeptieren würden. G. Prauss4 hat versucht zu zeigen, daß die Kritik der reinen Vernunft sich im Grunde gar nicht mit dieser Namenerklärung abfindet. Ich möchte es mir an dieser Stelle ersparen darzulegen, inwiefern Kant in der Einleitung zur Transzendentalen Logik die Frage nach dem Wesen der Wahrheit als „an sich ungereimt" bezeichnet und statt dessen die „Namenerklärung der Wahrheit" akzeptiert und vorausgesetzt hat. H. Wagner5 hat das in seiner Erwiderung auf Prauss mit hinreichender Klarheit getan; zum Versuch, „daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andere ein Sieb unterhält" (B 82, 83 = A 58), enthält die Kritik der reinen Vernunft keinerlei Anleitung. 4

5

G . Prauss, Zum Wahrheitsproblem bei Kant, in: Kant-Studien Bd. 60, 1969, S. 166-182; wiederabgedruckt in: G. Prauss (Hrsg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, S. 73-89. H. Wagner, Zu Kants Auffassung bezüglich des Verhältnisses zwischen Formal- und Transzendentallogik, in: Kant-Studien Bd. 66, 1975, S. 73-76.

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III. Meine bisherigen Überlegungen mögen genügen, um deutlich zu machen, inwiefern man sagen kann, daß der Kritik der reinen Vernunft anscheinend zwei heterogene, schlecht miteinander vereinbare Konzeptionen von formaler Logik zugrundeliegen: sie versteht die formale Logik einerseits als Theorie analytischer Urteile, andererseits als Theorie notwendiger Wahrheitsbedingungen. Sollte man versuchen, den Logikbegriff der Kritik der reinen Vernunft zuungunsten einer dieser beiden Konzeptionen konsistent zu machen, wäre es zweckmäßig, sich zunächst vor Augen zu halten, welche Uberzeugungen Kants von jeder der beiden Konzeptionen im einzelnen abhängen. Man wird nämlich finden, daß es sich in beiden Fällen um Grundüberzeugungen Kants handelt. Von dem Verständnis der formalen Logik als Theorie analytischer Urteile hängt die Überzeugung Kants ab, sie sei, der Mathematik vergleichbar, eine „demonstrierte Doktrin", bestehe mithin aus beweisbaren, das heißt aber für Kant: aus wahrheitsdifferenten Sätzen. Sind diese nämlich nicht, wie es nach Kant die Sätze der Mathematik sind, synthetisch und in der Anschauung „gegründet", dann stellt sich die Frage, inwiefern sie „gegründete" Sätze sein können, wenn sie nicht analytisch wahre Sätze sind? - Kants Auffassung von der formalen Logik als einer „demonstrierten Doktrin" hängt mit seiner Auffassung zusammen, daß die formale Logik als ganze der Transzendentalphilosophie vorherzugehen vermag (s. Β 134): Während die Mathematik mit Begriffen anfängt, die „an der reinen Anschauung sofort in concreto dargestellt werden" (B 739 = A 711) können, und während die reine Anschauung in mathematischen Begriffen eine Synthesis zustandebringt, vermag nach Kant die formale Logik mit Begriffen anzufangen und deren Gebrauch zu untersuchen, ohne sich zuvor davon vergewissert zu haben, ob diese Begriffe nicht vielleicht ganz „leer", d.h. ohne anschaulichen Gehalt und ohne „Realität" sind. Im Gegenteil: „Die Bedingungen der Möglichkeit der „Realität" von Begriffen und das Verhältnis dieser Bedingungen zur Anschauung überhaupt können in einem System der Philosophie erst danach [sc. erst nach dem vollständigen Aufbau der formalen Logik] Gegenstände der Untersuchung werden" 6 . Alle trans6

K. Reich, a.a.O., S.44.

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zendentalphilosophische Untersuchung setzt mithin die formale Logik schon voraus. Dieses Voraussetzungsverhältnis bildet schließlich die systematische Grundlage für Kants Meinung, daß sich die transzendentallogische Kategorientafel aus der formallogischen Urteilstafel herleiten lasse. Wenn Kant schreibt (B 134): „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr [sie], die Transzendentalphilosophie, heften muß", so heißt das eben, daß die ganze formale Logik der Transzendentalphilosophie systematisch vorgeordnet ist, wenn sie auch trotzdem, ebenso wie die Transzendentalphilosophie, die synthetische Einheit der Apperzeption sachlich voraussetzt, weil sie aus dieser Einheit ihren (analytischen) Wahrheitsgehalt bezieht. Denn alle Wahrheit, auch die analytische, setzt die synthetische Apperzeptionseinheit voraus, was nach Kants Ansicht wiederum selbst nur ein analytisch wahrer Satz ist: der „oberste" Grundsatz „im ganzen menschlichen Erkenntnis" (B135). Von dem Verständnis der formalen Logik als einer Theorie (bestimmter) notwendiger Wahrheitsbedingungen dagegen hängt eigentlich das ganze Programm der Transzendentalphilosophie als eines Systems der (materialen oder transzendentalen) Logik ab. Was berechtigt denn Kant eigentlich dazu, der formalen Logik einen anderen Typus von Logik zur Seite zu stellen, so daß dieser den Namen „Logik" überhaupt aus sachlichen Gründen verdient? Nach meinem Eindruck besteht in der Kantliteratur über diese Frage keine hinreichende Klarheit. Prauss 7 stellt die formale und die transzendentale Logik als „Logik der Falschheit" einerseits und „Logik der Wahrheit" andererseits einander gegenüber, wobei er die Wahrheit als Gegenstand der transzendentalen Logik noch als eine besondere Wahrheitsart, nämlich als „transzendentale Wahrheit", auszeichnen möchte. Dabei scheint Prauss zu übersehen, daß Kant - zwar nicht in der Kritik der reinen Vernunft, aber in der Streitschrift gegen Eberhard 8 - vom Ausdruck „transzendentale Gültigkeit" auch mit Bezug auf den Satz des Widerspruchs Gebrauch macht. „Transzendental" kann diese Gültigkeit genau deshalb heißen, weil sie eine Bedingung der Möglichkeit von (empirischer) Wahrheit ist.

7 8

G. Prauss, a . a . O . , S. 83 f. S. Akademie-Ausgabe, Bd. Vili, S.193.

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Diese Art von Gültigkeit kommt eigentlich beiden zu: den Sätzen der formalen und den Sätzen der transzendentalen Logik. „Transzendentale Wahrheit" ist nämlich andererseits keineswegs der Gegenstand der transzendentalen Logik als solcher, sie kommt Kants Meinung nach vielmehr nur den synthetischen Grundsätzen a priori (also nur einem Teil der Gegenstände der transzendentalen Logik) zu, insofern diese Grundsätze beweisbar sein sollen und ihre Wahrheit nicht nur Erfahrung (empirische Wahrheit) erst ermöglicht, sondern auch in der Ubereinstimmung ihres Inhalts mit Erfahrungsgegenständen besteht (B 185). Man versteht das Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik am besten, wenn man sieht, daß sie beide eine Theorie notwendiger Wahrheitsbedingungen sind. Als Theorie notwendiger Wahrheitsbedingungen kommt ihnen beiden der Name „Logik" zu. Als Logik sind sie beide nur ein „Kanon", kein „Organon" des Verstandesgebrauchs, aber sie sind verschiedene kanonische Logiken, weil sie es mit verschieden bestimmten Wahrheitsbedingungen zu tun haben. Man macht sich den bestimmten Unterschied zwischen diesen Bedingungen am besten auf folgende Weise klar. Kant orientiert sich zur Unterscheidung dieser Bedingungen an der Verschiedenheit der Teile des Urteils als des elementaren Substrats von Wahrheit; das Urteil ist nämlich bestimmbar als dasjenige, was entweder wahr oder falsch ist, und was wahr ist, ist jedenfalls ein Urteil. Wahrheitsbedingungen dürften insofern etwas mit der Struktur des Urteils zu tun haben. Das Urteil, so bestimmt es Kant, ist „ein Verhältnis, das objektiv gültig [d. h. wahr oder falsch = wahrheitsdifferent] ist" (B 142). Die Struktur des Urteils beruht nun darauf, daß dieses objektiv gültige Verhältnis in seiner elementaren Form ein Verhältnis zwischen Begriff und Gegenstand ist. Für Kant ist aus diesem Grund eine Theorie notwendiger Wahrheitsbedingungen entweder eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit des Begriffs oder eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstandes. Im ersten Fall handelt es sich um formale, im zweiten um transzendentale Logik. Der oberste Grundsatz der formalen Logik fällt deshalb zusammen mit dem sog. obersten Grundsatz aller analytischen Urteile und ist der Satz des Widerspruchs: denn er stellt fest, worauf die Möglichkeit eines Begriffs beruht, daß er nämlich widerspruchsfrei, frei von analytischer Opposition ist. Der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile ist dagegen ein Grundsatz der transzendentalen Logik und besagt: „ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen

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Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" (B197 = A158). Daraus folgt dann, daß die Bedingungen der Möglichkeit dieser Gegenstände zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung dieser Gegenstände sind und daß von daher die transzendentale Logik sich einer ganz bestimmten Methode zu bedienen hat. Die Kategorien und synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes machen den Gegenstand des wahren Urteils als Gegenstand erst möglich. Die Kategorien sind „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen als bestimmt angesehen wird" (Definition der Kategorien, § 14 [B 128], cf. §20 [Β 143]). Die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes lehren die Urteilskraft, die Kategorien „auf Erscheinungen anzuwenden" (B171 = A132). Die transzendentale Logik ist also eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen oder kürzer gesagt: sie ist eine Theorie der Bedingungen „realer" Möglichkeit, wohingegen die formale Logik eine Theorie der Bedingungen „logischer" Möglichkeit ist. Wenn wir das Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik auf diese Weise fassen, sehen wir deutlicher, worin die Differenz der beiden Konzeptionen formaler Logik besteht, die der Kritik der reinen Vernunft zugrundeliegen. Wir können jetzt diese Differenz folgendermaßen beschreiben: Als Theorie analytischer, mithin unbedingt wahrer Urteile ist die formale Logik der transzendentalen systematisch vorgeordnet, als Theorie notwendiger Wahrheitsbedingungen dagegen ist sie ihr systematisch nur beigeordnet. Als bloß beigeordnete Theorie besteht zwischen ihr und der transzendentalen Logik ein wechselseitiges Voraussetzungsverhältnis. Denn sie untersuchen gleichrangige Bedingungen der Möglichkeit des wahren Urteils, aus dessen vorgegebener BegriffsGegenstands-Struktur sich das Daseinsrecht beider Logiken herleiten läßt. Betrachtet man die formale Logik dagegen als der transzendentalen Logik vorgeordnet, so liegt darin zugleich ein einseitiges Voraussetzungsverhältnis. Kant bezeichnet die formale Logik durchgängig als „allgemeine" Logik, und es scheint so, als ob er ihr - auch wenn er das nirgendwo ausdrücklich sagt - die transzendentale als besondere Logik unterordnen wollte. Dem Begriff der allgemeinen Logik liegt ein eher traditionelles Logikverständnis zugrunde. Bevor Kant die Idee der transzendentalen Logik gefaßt hatte, verstand er unter Logik eine Wissenschaft, die „allen Wissenschaften überhaupt" gewisse Vorschriften

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macht und insofern allgemein ist9. In der Kritik der reinen Vernunft stellt er die transzendentale Logik in dieser Hinsicht den gewöhnlichen Wissenschaften zur Seite. Denn die transzendentale Logik kann es, wie Kant dort sagt, der formalen Logik darin „nicht nachtun" (B 170 = A131), ein Kanon allen Vernunftgebrauchs zu sein. Denn zwar enthält die transzendentale Logik nicht nur eine Theorie transzendentallogisch notwendiger Begriffe und Urteile, sondern auch eine Theorie transzendentallogisch notwendiger Schlüsse. Diese Schlüsse aber geraten mit der formalen Logik, unerachtet ihrer transzendentallogischen Notwendigkeit, in Konflikt. An dieser Stelle gibt es für Kant gar keinen Zweifel, daß nicht die transzendentale Logik der formalen Logik Vorschriften zu machen hat, sondern umgekehrt: die formale Logik hat in der transzendentalen Logik sozusagen als „Polizei" durchzugreifen, um einen von Kant selbst sehr geschätzten Vergleich zu benutzen (BXXV). Die formale Logik stempelt die transzendentale Logik an dieser Stelle zur „Dialektik", d. h. aber für Kant: zu einer Logik des metaphysischen Betrugs. Die formale Logik wird der transzendentalen vorgeordnet, insofern sich die Vern u n f t auf erstere als auf ein Mittel unbedingt verlassen soll, den Betrug der letzteren dingfest zu machen.

IV. Ich persönlich glaube, daß Kant seiner eigenen neu entdeckten, revolutionären Idee einer transzendentalen, materialen Logik mit deren Bevormundung durch Prinzipien der formalen Logik sehr geschadet hat. Dadurch, daß er selbst das traditionelle Vorurteil einer allgemeinen, allen Wissenschaften hierarchisch vorgeordneten, formalen Logik in die Kritik der reinen Vernunft hineintrug, hat er dieses allseits vorhandene Vorurteil nur gestärkt. Die Folgen davon waren in der nach-Kantischen Philosophie eigentlich verheerend, wenn auch ganz entgegengesetzter Art: Einerseits ist durch einige Philosophengenerationen hindurch angefangen von den unmittelbaren Kantschülern über den Neukantianismus hinweg bis hin zum Logischen Empirismus und zur Analytischen Philosophie - das Konzept von der formalen Logik als Theorie analytischer Wahrheit so treu gepflegt worden, daß zuletzt die Idee der 9

S. dazu z.B. die Dissertation von 1770 (De mundi sensibilis etc.), §23.

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transzendentalen, materialen Logik ganz vergessen worden ist. Auf der anderen Seite findet man in der Nachfolge Kants Autoren wie Hegel, die die Idee der transzendentalen Logik so energisch gegen die Fehlbeurteilungen der formalen Logik glaubten zur Geltung bringen zu müssen, daß sie es fast ganz unterließen, systematisch zu untersuchen, inwiefern der formalen Logik und ihren Sätzen ein Recht, ja sogar eine bedingte Notwendigkeit zukommt. Uber die Art dieser bedingten Notwendigkeit fehlt infolgedessen bis zum heutigen Tag fast jegliche Theorie. Nun ist es keineswegs nur eine Frage der Sympathie, welchen der beiden konkurrierenden Konzepten formaler Logik, die in der Kritik der reinen Vernunft verborgen sind, der Vorzug gegeben werden sollte. Jedenfalls dann nicht, wenn man die Idee der transzendentalen Logik als mögliche Idee akzeptiert. Denn meiner Ansicht nach zeigt gerade die transzendentale Dialektik ganz deutlich, daß die formale Logik, mit ihrem obersten Prinzip des Satzes vom Widerspruch, die von Kant zugedachte Polizistenrolle gar nicht erfolgreich ausfüllen kann. Ich habe das in einer Studie zur Dialektik Kants und Hegels10 ausführlicher zu zeigen versucht und möchte mich hier nur auf das Allerwesentlichste beschränken. Die Zweite Abteilung der Transzendentalen Logik, die transzendentale Dialektik, und darin besonders die Antinomienlehre, führt mit aller Deutlichkeit folgendes vor Augen, ohne daß Kant daraus die systematischen Konsequenzen ziehen würde: Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte es gegebenen Prädikaten eines Urteils für sich genommen, also gegebenen Begriffen außerhalb ihrer Beziehung auf bestimmte Gegenstände, ansehen, ob sie sich in analytischer Opposition befinden oder nicht. Selbst wenn es sich um Prädikate handelt, die der Form nach Negationen voneinander sind, so daß sich aus ihnen der Form nach kontradiktorische Urteile bilden, kann nur diese Form allein (mithin auch die formale Logik allein) keine Auskunft darüber geben, ob die beiden Urteile gleichen oder entgegengesetzten Wahrheitswert haben, und schließlich auch nicht, ob sie beide wahr oder beide falsch sind. Denn wenn wir nicht schon zuvor vorausgesetzt haben, daß allein die formallogische Struktur über die logische Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Urteils und der darin enthaltenen Begriffe entscheiden soll, dann kommt es eben immer schon auf die inhaltliche Bestimmtheit der 10

M. Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Königstein/Ts. 1981.

Kants und Hegels.

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Gegenstände des Urteils an, ob seine Prädikate logisch möglich sind oder nicht. Ohne daß Kant selbst es zu bemerken scheint, beweist die transzendentale Dialektik, daß die der traditionellen Logik zugrundeliegende Lehre von den konträren und kontradiktorischen Begriffen unhaltbar ist. Mit demselben Recht, mit welchem Kant sagt, daß die transzendentale Logik in den Antinomien der reinen Vernunft dialektisch wird, darf man sagen, daß die formale Logik im selben Kontext zur Scheinlogik wird. Sie muß hier glauben, Widersprüche zu erkennen, wo in Wirklichkeit gar keine sind, und wo Widersprüche sind, kann sie sie nicht erkennen. Die systematische Konsequenz, die Kant aus diesem Sachverhalt hätte ziehen müssen, wäre gewesen, daß es die formale Logik als den allgemeinen, der Transzendentalphilosophie vorgeordneten, selbständig beweisbaren Kanon nicht geben kann. Nicht als allgemeine reine Logik, sondern im Gegenteil nur als besondere Logik, nämlich als die Logik formaler Sprachen, wäre die formale Logik eine selbständig beweisbare Wissenschaft. Denn formale Sprachen mögen so beschaffen sein, daß ihre Formen logische Beziehungen zum Ausdruck bringen. Sieht man dagegen von formalen Sprachen ab, dann ist nicht einzusehen, wie es möglich sein soll, daß die Logik „von bloßen Begriffen anfängt" und deren Gebrauch sowie deren logische Beziehungen untersucht, ohne daß sie zugleich auch die Beziehungen der Begriffe auf die Bestimmtheiten der Gegenstände berücksichtigt. Denn wenn uns ζ. B. nur zwei Begriffe A und Β gegeben sind, und wenn wir annehmen, daß A und Β ihrem Inhalt nach verschiedene Begriffe sind, dann wäre es ganz sinnlos, darüber entscheiden zu wollen, ob A und Β identisch, konträr, subkonträr oder kontradiktorisch sind. Es wäre ebenso sinnlos, wie wenn man darüber entscheiden wollte, ob A und Β eine analytische Opposition oder eine Synthesis a priori ergeben. Kants Fiktion der Möglichkeit einer solchen Entscheidung scheint mit der anderen Fiktion Kants zusammenzuhängen, wonach es möglich ist, über die Analytizität eines Urteils vom Typus „Alle A sind B " zu entscheiden, ohne daß wir schon wissen oder festgelegt haben, wie A und Β auf bestimmte Gegenstände bezogen sind.11

11

L. W . Beck hat diese Fiktion Kants sorgfältig analysiert in seinem Aufsatz Können Kants synthetische Urteile in analytische umgewandelt werden? in: Kant-Studien, Bd. 47, 1955, S. 1 6 8 - 1 8 1 ; wiederabgedruckt in G. Prauss (Hrsg.), Kant etc. a. a. O . , S. 2 7 - 4 3 .

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Besonders scharf kommt Kants Fiktion im Kapitel über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe zum Ausdruck. Hier verlangt Kant, daß man bei der Verwendung von Vergleichungsbegriffen (Reflexionsbegriffen) wie „Einerleiheit", „Verschiedenheit", „Widerstreit" etc. stets auseinanderhalten muß, ob es sich bei dem mit Hilfe dieser Begriffe Verglichenen um bloße Begriffe oder um die Dinge selbst handelt. Kant unterstellt hier die Möglichkeit des bloßen Begriffs Vergleichs (ebenso wie er andererseits - hier allerdings auf der Grundlage der Ergebnisse der transzendentalen Ästhetik - sich gegenüber Leibniz die Erlaubnis nimmt, beim Vergleich der Gegenstände selbst die anschaulichen, raumzeitlichen Gegenstandsbestimmtheiten gänzlich herauszuhalten - was vielleicht nicht weniger problematisch ist). Was den Begriffsvergleich betrifft, so scheint Kant anzunehmen, daß mit dem jeweiligen Inhalt der zu vergleichenden Einzelbegriffe deren wechselseitige Beziehungen der Einerleiheit, Verschiedenheit, des Widerstreits etc. schon unmittelbar mitgegeben sind. Aus diesem Grunde betont Kant im § 39 der Prolegomena, daß sich die Reflexionsbegriffe von den Kategorien dadurch unterscheiden, daß sie keine Synthesis stiften und keine Objektbestimmung enthalten, sondern bloß der Vergleichung schon gegebener Begriffe dienen. Diese reflexionslogische Fiktion Kants ist schon darum merkwürdig, weil Kant in der Definition des Urteils (die - wie wir sahen - für seine Idee der transzendentalen Logik grundlegend ist) bereits von ganz anderen Einsichten Gebrauch gemacht hat. So macht Kant gleich zu Beginn der Transzendentalen Analytik (B93f. = A 68 f.) deutlich, daß Vorstellungen erst dadurch zu Begriffen werden, daß sie als Prädikate möglicher Urteile dienen und somit schon auf einen möglichen Gegenstand bezogen werden. Von der Gegebenheit des Begriffs kann also eigentlich nicht die Rede sein, wenn nicht schon das Urteil (mithin der Gegenstandsbezug) gegeben ist. Und außerdem betont Kant, daß ein Begriff sich nicht unmittelbar auf einen Gegenstand beziehen kann, sondern nur mittelbar durch andere Vorstellungen (Begriffe oder Anschauungen) des Gegenstands. Erst in der Einheit des Urteils bildet sich der Unterschied von Begriff und Gegenstand heraus. Dabei ist das Urteilsprädikat als Begriff nicht so etwas wie der Begriff des (ganz unbestimmten) Gegenstandes x, so daß wir in der Phrase „des Gegenstandes x" eben von jeglicher Vorherbestimmtheit des Gegenstandes abstrahieren dürften. Vielmehr steht der Begriff als solcher schon immer

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in Beziehung auf bestimmte, voneinander wohlunterschiedene Gegenstände. Wenn man also, wie Kant, von „gegebenen" Begriffen sprechen möchte, und wenn man meint, daß die logische Reflexion (sowie die ganze formale Logik) es mit solchen Gegebenheiten zu tun habe, so hat man zu beachten, daß es sich dabei schon immer um Begriffe möglicher bestimmter Gegenstände handelt. Mir scheinen diese Hinweise auf Kants Begriff des Begriffs wichtig zu sein, um zu sehen, daß Kant von logischer Reflexion und daher auch vom spezifischen Inhalts- bzw. Gegenstandsbezug der formalen Logik gar keinen ausreichenden Begriff hat. Dieser Mangel zeigt sich in folgendem: Nach Kant bezieht sich jede logische Reflexion auf gegebene Begriffe, andererseits gibt Kant zu, daß umgekehrt die Bildung von Begriffen logische Reflexion voraussetzt: Begriffe entstehen durch logischen Vergleich von Vorstellungen, durch Identifizieren, Unterscheiden etc. Da aber Kant die Gegebenheit des logischen (bloß begrifflichen) Reflexionsmaterials voraussetzt, ohne die Beziehung auf die Bestimmtheit der Gegenstände zu berücksichtigen, behauptet er (ohne weitere Rechtfertigung) den angeblich grundlegenden Unterschied zwischen den Reflexionsbegriffen und den Kategorien. Statt dessen wäre eine systematische Untersuchung der Frage angebracht, ob die Reflexionsbegriffe wirklich nicht in der Lage sind, Synthesis zu stiften und Objekte zu bestimmen. Könnte es nicht sein, daß die Unterscheidung zwischen Begriff und Gegenstand als „Bestandteilen" des Urteils selbst auf einer elementaren synthetischen Leistung logischer Reflexion beruht? Wenn dem so wäre, dann wäre es ganz unberechtigt zu sagen, daß Begriffe und Gegenstände und der Unterschied zwischen Begriff und Gegenstand für die logische Reflexion etwas schon „Gegebenes" ist. Es mag sein, daß wir mit dieser Frage auf einen Zentralnerv des transzendentalen Idealismus stoßen. Denn hängt mit Kants Rede von der „Gegebenheit" einerseits der Begriffe, andererseits der Gegenstände - nicht der grundlegende Dualismus zusammen, der das System des transzendentalen Idealismus durch und durch beherrscht? Ich meine den Dualismus von Anschauung und Denken, Sinnlichkeit und Verstand, den Dualismus selbständiger, „gegebener" Erkenntnis-„Elemente", auf dem Kants mechanistische oder besser chemistische Vorstellung von Synthesis beruht.

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Michael Wolff V.

Doch was folgt aus diesen Überlegungen für den Begriff der formalen Logik und für deren Verhältnis zur transzendentalen Logik? Was wird aus der formalen Logik, wenn sie als das begriffen wird, was sie in der Kritik der reinen Vernunft (auch) ist: nämlich eine der transzendentalen Logik nicht vorgeordnete, sondern beigeordnete Logik? Man kann auf diese Frage aufgrund meiner bisherigen Überlegungen unmittelbar folgendes antworten: Mindestens vom Standpunkt der transzendentalen Dialektik, also vom Standpunkt der sogenannten Vernunft (nicht so sehr vom Standpunkt der transzendentalen Analytik, also vom Standpunkt des sogenannten Verstandes) muß die Geltung der formalen Logik einschließlich ihres obersten Prinzips (des Satzes vom Widerspruch) als bedingt angesehen werden. Doch was läßt sich über diese Bedingtheit sagen? Legt man die erwähnten Fiktionen Kants zugrunde, daß jeder logischen Reflexion der Unterschied von Begriff und Gegenstand sowie eine Vielzahl reflexionslogischer Beziehungen (wie Identität, Verschiedenheit, Widerstreit etc.) durch den Inhalt der Begriffe bzw. durch die Bestimmtheit der Gegenstände selbst vorgegeben sind, dann kann die Bedingtheit nicht eingesehen werden. Denn die Bedingtheit der Geltung formallogischer Sätze, die über solche reflexionslogischen Beziehungen Aussagen treffen, kann doch nur in dem Sinne bestehen, daß eben dieselben formallogischen Sätze nicht in jeder beliebigen Hinsicht gelten, mithin das Identische auch nicht-identisch, das Widerstreitende auch nicht-widerstreitend ist etc. Dann aber kann von einer „Gegebenheit" einer Vielzahl nebeneinander bestehender reflexionslogischer Beziehungen gar keine Rede sein. Kants Fiktion einer solchen Gegebenheit ist allerdings zunächst nur eine bloße Verstandesfiktion. Und so erscheinen für unseren gewöhnlichen Verstandesgebrauch, der ja stets bestimmte Begriffe und Gegenstände als Gegebenheiten unseres Denkens unterstellt, die formallogischen Gesetze als unbedingt gültig. Aber vom Standpunkt der Vernunft müßten diese Gegebenheiten durchaus in Zweifel gezogen werden, so wie ja vom Standpunkt der Vernunft auch anderes, was Anschauung und Verstand ihr vorgeben (Raum-Zeitlichkeit und Kategoriengebundenheit der Gegenstände), in seiner unbedingten Gültigkeit bezweifelt werden muß, wie Kant selbst betont hat. Wohin aber sollte uns der Zweifel führen, wenn die Begriffe und Grundsätze der formalen Logik, allen voran der Begriff und der Satz des

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Widerspruchs, in ihrer Gültigkeit von Bedingungen abhängig sein sollen? Aus Gründen der ersten Orientierung möchte ich diese Frage vorerst lieber durch eine andere ersetzen, und statt zu fragen: Wohin sollte...? möchte ich lieber fragen: Wohin kann uns der Zweifel führen? Als Antwort auf diese Frage liegt es nahe, auf vorhandene Entwürfe zu verweisen. Am nächsten liegt dabei der Hinweis auf Hegel, der die Möglichkeit einer Beiordnung von formaler und transzendentaler Logik von allen Nachfolgern Kants am gründlichsten untersucht hat. Auch ist Hegels Logik hier von größtem Interesse deshalb, weil sie in engster Auseinandersetzung mit Kants Kritik der reinen Vernunft entwickelt worden ist. Mit deutlicher Anspielung auf den Zustand, in dem Kant die Kritik der reinen Vernunft gelassen hat, schreibt der junge Hegel bereits 1802 : „Der sogenannte Satz des Widerspruchs ist [...] so wenig auch nur von formeller Wahrheit für die Vernunft, daß im Gegentheil jeder Vernunftsatz in Rücksicht auf die Begriffe einen Verstoß gegen denselben enthalten muß; ein Satz ist bloß formell, heißt für die Vernunft, er für sich allein gesetzt, ohne den ihm contradictorisch entgegengesetzten eben so zu behaupten, ist eben darum falsch. Den Satz des Widerspruchs für formell anzuerkennen, heißt also ihn zugleich für falsch erkennen."12 Mit anderen Worten: Man mag den Satz des Widerspruchs in seiner formalen Geltung anerkennen. In dieser Anerkennung liegt aber eben nicht die Erkenntnis seiner unbedingten Gültigkeit. Im Gegenteil, die Gültigkeitsbedingung ist in dieser Anerkennung bereits ausgesprochen. Für die Vernunft kommt es darauf an, die Bedingtheit des Satzes zu erkennen. Diese Erkenntnis aber schließt die Erkenntnis der Falschheit des Satzes vom Widerspruch ein, - man hat hier zu ergänzen: insofern dieser Satz ein unbedingt gültiger Satz sein soll. Es war Hegels Meinung, daß die formale Logik, ähnlich wie die Mathematik, von der Bedingtheit der Gültigkeit ihrer obersten Sätze abstrahiert. Die Berechtigung, von ihr zu abstrahieren, scheint Hegel niemals bestritten zu haben (auch wenn besonders der jüngere Hegel

12

G . W . F. Hegel, Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie etc., in: Kritisches Journal der Philosophie, Bd. I, Stück 2, März [1802], S. 22 f. Vgl. Gesammelte Werke Bd. 4, Hamburg 1968, S. 208-209.

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gelegentlich13 schroff von der „Ungültigkeit" logischer Gesetze spricht, denn der Sache nach verneint Hegel an diesen Stellen nur deren unbedingte Gültigkeit). Es ist aber seiner Ansicht nach ein folgenreicher Fehlschluß, wenn man von der abstrakten Gültigkeit der sogenannten „logischen Gesetze" auf ihre unbedingte Gültigkeit schließt. Hegel fordert die konsequente Beiordnung von formaler und transzendentaler Logik, genauer: die Herabsetzung der formalen und der transzendentalen Logik zu gleichrangigen Momenten einer „spekulativen Logik". Man kann deshalb Hegels Metakritik der reinen Vernunft in bezug auf die folgenden zwei Fragen zu Rate ziehen: 1. Worin besteht die Gültigkeit formallogischer Gesetze? 2. Worin besteht die Bedingtheit der Gültigkeit formallogischer Gesetze? Ich möchte in aller Kürze skizzieren, wie Hegel die beiden Fragen beantwortet. Dabei möchte ich hier die möglichen Modifikationen der Standpunkte des früheren und älteren Hegel völlig unbeachtet lassen. Die erste Frage hat Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes, im Kapitel über Logische und psychologische Gesetze, beantwortet; er verweist dort auch auf das Problem, das in der zweiten Frage liegt, und deutet an, daß die Antwort darauf im mittleren Teil der Wissenschaft der Logik zu entwickeln sein wird. Es lohnt sich daher, diese Stellen genauer zu studieren. Hegels an diesen Stellen gegebene Antworten auf beide Fragen lassen sich so charakterisieren, daß sie gegen die Auffassung formallogischer Gesetze als analytischer Wahrheiten gerichtet sind: Die formallogischen Gesetze sind synthetische Sätze. Und ihre Gültigkeit beruht nicht auf ihrer Wahrheit, auch nicht auf so etwas wie „formeller Wahrheit". Wahrheit würde (im Sinne der von Kant zugrundegelegten „Namenerklärung" der Wahrheit) Realitätsbezug, d.h. auf jeden Fall Beziehung auf Objekte voraussetzen. Aber diese Beziehung soll den Sätzen der formalen Logik als solchen ja gerade fehlen. Auf der anderen Seite gehört die formale Logik, zusammen mit der transzendentalen Logik, in den Bereich des apriorischen Wissens und beide zusammen haben die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände und Gegenstandsbestimmungen zum Inhalt. In dieser Hinsicht haben die 15

Z.B. in der Phänomenologie des Geistes von 1807; s. G . W . F . Hegel, Werke Bd. 9, Hamburg 1980, S.168.

Gesammelte

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sog. Reflexionsbestimmungen (d.h. die logischen Beziehungen, die in den formallogischen Gesetzen ausgedrückt werden) einen ganz ähnlichen Status wie die Kategorien des reinen Verstandes. Ähnlich wie die Kategorien ein System von Bestimmungen ausmachen, das insgesamt notwendig ist als System der Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen, ähnlich bilden auch die den Denkgesetzen zugrundeliegenden formallogischen Beziehungen (die Reflexionsbestimmungen) ein System von Begriffen, das notwendig ist als System von Möglichkeitsbedingungen der Gegenstände. Die Gültigkeit der Reflexionsbestimmungen kann nur darin bestehen, daß ihr System die Einheit des Selbstbewußtseins ermöglicht. Hegel denkt sich also die Gültigkeit der Reflexionsbestimmungen ganz in Analogie zur Gültigkeit der Kategorien des reinen Verstandes. Er nimmt insofern Kants Forderung (KrV, Β 134) vollkommen ernst, daß nicht nur die „Transzendentalphilosophie", sondern auch „die ganze Logik" an die synthetische Einheit der Apperzeption zu heften sei. N u r läßt es Hegel nicht zu, die ganze Logik der Transzendentalphilosophie systematisch ^orzuordnen. Hegels Ablehnung dieser Vorgeordnetheit ergibt sich dabei aus folgendem Gedanken: Eine systematisch zusammenhanglose Vielheit der Kategorien {genauso wie eine systematisch zusammenhanglose Vielheit der Reflexionsbestimmungen) widerspräche an sich der Einheit des Selbstbewußtseins. Wenn gezeigt werden soll, daß das System der Kategorien die Einheit des Selbstbewußtseins ermöglicht, dann kommt es nicht allein auf einen bloßen Vollständigkeitsbeweis der Kategorien an, sondern vor allem darauf, den inneren Zusammenhang des Begriffsinhalts der Kategorien und dadurch die Einheit des Kategoriensystems darzustellen. Kant selbst hat aber bereits darauf aufmerksam gemacht - und Klaus Reich hat es im § 7 seiner Dissertation ausführlich rekonstruiert 14 - , daß zur Darstellung dieses inneren Zusammenhangs der Kategorien Vergleichung und Unterscheidung, mithin Reflexionsbegriffe, erforderlich sind: Kant selbst legt ζ. B. wert auf die Feststellung, daß der triadische Aufbau der Kategorientafel sich aus der „Opposition" zweier Kategorien ergibt, die in einer dritten „verknüpft" werden. Merkwürdig ist daran, daß Kant selbst keinen Gedanken darauf verschwendet, um was für eine Art von Opposition es sich hier handeln soll. O b es eine „analytische", „reale" oder „dialektische" Opposition ist - um Kants eigene Einteilung zu 14

K. Reich, a.a.O., s. besonders S.88-91.

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verwenden - , das erfährt man aus Kants Überlegungen nicht. Ja es scheint sogar so zu sein, daß jede dieser drei Möglichkeiten Kants eigenen Intentionen ganz zuwiderläuft. Insofern die Kategorien reine Verstandes-Begriffe sind, und da nach Kants Theorie der Reflexionsbegriffe die Opposition zwischen bloßen Begriffen stets eine analytische Opposition ist, spricht Kant der Sache nach hier indirekt aus, daß die Kategorien einander widersprechen. Nur: Kant scheint an dieser Stelle nicht zu beachten, was er sagt. Wie immer er sich die Opposition zwischen Kategorien gedacht haben mag, auf jeden Fall kann auch nach Kants Meinung so etwas wie die Einheit der Kategorien als System ohne Reflexionsbegriffe nicht gedacht werden. Hegel macht nun auf das Problem aufmerksam, daß auch die Reflexionsbegriffe eine Vielheit von Bestimmungen abgeben, deren Einheit nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern nachgewiesen werden muß, wenn die Vielheit der Reflexionsbestimmungen der Einheit des Selbstbewußtseins nicht widersprechen, sondern diese Einheit im Gegenteil ermöglichen soll. Identität, Verschiedenheit, Gegensatz, Widerspruch, etc. sind doch zunächst wieder nur eine Menge von Beziehungen, die, wenn sie gleichberechtigt auf ein bestimmtes Material, z. B. die Kategorien, angewandt werden, diese wieder nur in eine bloße Vielheit, ohne Einheit, auseinanderfallen lassen. Hegel löst das Problem auf folgende Weise: Er nimmt an, daß die Reflexionsbestimmungen auf dieselbe Weise aufeinander bezogen werden müssen, wie Kant die Kategorien aufeinander bezogen hat, nämlich durch logische Reflexion. Das bedeutet aber, daß die Reflexionsbestimmungen auf sich selbst bezogen werden müssen: Sie sollen als ineinander „reflektierte" Bestimmungen betrachtet werden. Diese Reflexion verleiht ihnen einerseits wohlunterschiedene Bestimmtheit gegeneinander, andererseits stiftet sie Einheit zwischen ihnen. („Reflexion" erhält hier zugleich einen neuen etymologischen Sinn.) Die Einheit sowohl der Kategorien als auch der Reflexionsbestimmungen resultiert nach Hegel nicht aus einer bloßen Identität, auch nicht aus einer bloßen Verschiedenheit oder Entgegensetzung, sondern aus ihrem Widerspruch. Die abstrakte Identität der Kategorien und Reflexionsbestimmungen widerspräche ihrer Verschiedenheit, sie widerspräche mithin der Einheit des Selbstbewußtseins als einer synthetischen Einheit. Die bloße Verschiedenheit allerdings widerspräche der Einheit. Nur der Widerspruch ist sowohl einheitsstiftend, als auch etwas Synthe-

Der Begriff des Widerspruchs

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tisches. Denn er ist eine Beziehung verschiedener Relate, die als Entgegengesetzte zugleich einander „aufheben" - ohne allerdings ein Kantisches nihil negativum zur Folge zu haben. An dieser Stelle ist es natürlich von ganz erheblicher Wichtigkeit einzusehen, warum nach Hegels Auffassung die „Aufhebung" des Entgegengesetzten im Widerspruch nicht, wie für Kant, ein nihil negativum, sondern eine neue Einheit - Hegel nennt sie „negative Einheit" zur Folge hat. Dazu wäre es erforderlich, Hegels Begriff des Widerspruchs detailliert zu analysieren, wozu hier nicht der Ort ist. Für unseren Zweck muß es genügen, sich vor Augen zu halten, daß Hegels Widerspruchsbegriff eine ganz neuartige Idee von Synthesis enthält. Synthesis ist für Hegel niemals so etwas wie Zusammensetzung oder Verbindung von zuvor „gegebenen" verschiedenen „Elementen". Sie ist nichts Quasi-Mechanisches oder Quasi-Chemisches. Synthesis ist eher vergleichbar der Art und Weise, wie sich ein Organismus „zusammensetzt". Die organische Zusammensetzung ist ein Vorgang der Selbstteilung, des aktiven Zerfalls oder des Sich-von-sich-Unterscheidens. Was wir gewöhnlich, und zwar im logischen Sinne, mit „Widerspruch" meinen, das glaubt Hegel auf Synthesis (auf ein „Sich-von-sich-unterscheiden") zurückzuführen zu können. Es kommt mir hier nicht darauf an, diese Zurückführung im einzelnen plausibel zu machen. Man kann aber, wenn man sich auch nur im Umriß Hegels Idee von Synthesis vor Augen stellt, schon das Hegeische Programm verstehen, das darauf abzielt, die Gültigkeit der formallogischen Gesetze und zugleich die Bedingtheit ihrer Gültigkeit zu erklären. Die Gültigkeit der formallogischen Gesetze läßt sich nach Hegel nur aus der Beziehung der Reflexionsbestimmungen auf sich selbst erklären, die diesen Gesetzen zugrundeliegen. Nur aufgrund dieser Beziehung machen die Reflexionsbestimmungen ein System aus, dessen Gültigkeit (genauso wie die des Systems der Kategorien) darauf beruht, daß ohne es die synthetische Einheit des Selbstbewußtseins nicht möglich ist. Die Bedingtheit der Gültigkeit der formallogischen Gesetze besteht darin, daß die Reflexionsbestimmungen als einzelne, losgelöst vom System, die synthetische Einheit des Selbstbewußtseins nicht nur nicht ermöglichen, sondern geradezu unmöglich machen. Als einzelne sind sie stets anderen einzelnen Reflexionsbestimmungen entgegengesetzt und widersprechen ihnen sogar. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich nach Hegel die Reflexionsbestimmungen nicht von den Kategorien. Es

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ist gerade der Witz in Hegels Version der transzendentalen Logik, daß sie die Bedingtheit der Gültigkeit der Kategorien nicht wie Kant aus der faktischen Gegebenheit unseres „endlichen" subjektiven Bewußtseins herleitet, sondern daraus, daß die Kategorien einzeln einander widersprechen und daher in ihrer unbedingten Gültigkeit einander begrenzen. Man sieht, daß Hegels Theorie der bedingten Gültigkeit der formallogischen Gesetze (genauso wie seine Theorie der bedingten Gültigkeit der Kategorien) voraussetzt, daß jede einzelne Reflexionsbestimmung (genauso wie jede einzelne Kategorie) Synthesis voraussetzt. Was die Reflexionsbestimmungen angeht, so gerät Hegel an dieser Stelle in ausdrücklichen Gegensatz zu Kant. Ich hatte ja erwähnt, daß Kant (in den Prolegomena, § 39) die Kategorien als „Begriffe der Verknüpfung" bezeichnet hatte, während er die Reflexionsbegriffe eben dadurch von den Kategorien unterschied. Zu dieser nicht-synthetischen Auffassung der Reflexionsbegriffe paßt aber gut, daß für Kant die logischen Gesetze nicht synthetische Sätze sind. Hegels ausdrückliche15 Auffassung dieser Gesetze als synthetischer Sätze, sowie die damit zusammenhängende Deutung der Reflexionsbegriffe, ist in der Geschichte der Logik vollkommen neu und bis heute ungewöhnlich. Jedoch sollte man erwähnen, daß Hegel in dieser Hinsicht der Sache nach mindestens Einen Vorläufer hatte: Kant selbst, nicht den Autor der Kritik der reinen Vernunft, aber den dreißigjährigen Kant der Nova dilucidatio von 175516. An ihn knüpft Hegel in seiner Wissenschaft der Logik der Sache nach an. Doch dies wäre ein neues Thema. Meine Absicht war zu zeigen, wohin eine im wesentlichen berechtigte Metakritik der reinen Vernunft führen kann. Ob sie dahin führen sollte, ist nur zu entscheiden, wenn man das darin Behauptete ernsthaft überdenkt.

S. die Wissenschaft der Logik, Erster Band, Zweites Buch Nürnberg 1813, S . 4 2 ; vgl. G . W . F . Hegel, Gesammelte Werke Bd. 11, H a m b u r g 1978, S.265. " S. o. Abschnitt I. Die synthetische Fassung des Satzes der Identität in der Nova dilucidatio stimmt der Sache nach mit Hegels Begriff der (konkreten) Identität überein. 15

Diskussion im Anschluß an das Referat von M. Wolff über: Der Begriff des Widerspruchs in der „Kritik der reinen Vernunft" Zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik

Konrad CRAMER:

Ich möchte zunächst eine Frage zum Verständnis Ihrer Darlegungen stellen. Diese Frage ist zwar recht trivial, aber ich stelle sie einmal. Sie haben die Formulierung zitiert, die Kant auf dem Standpunkt der „Kritik der reinen Vernunft" als die allein angemessene Fassung des Satzes vom Widerspruch angesehen hat, nämlich A 1 5 1 / B 190: ,Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht.' Wie fassen Sie den propositionalen Gehalt dieser Formulierung auf? Näher: Auf was bezieht sich Ihrer Meinung nach der in ihr auftretende Ausdruck ,ihm', auf ,Prädikat' oder ,Ding'? Es gibt ja zwei mögliche Lesarten, nämlich (1) ,Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm, d. h. diesem Prädikat, widerspricht' und (2) ,Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm, d. h. diesem Ding, widerspricht.' Eine Entscheidung darüber, welche dieser Lesarten die Intention trifft, die Kant mit seiner Neuformulierung des Satzes vom Widerspruch verbunden hat, scheint mir nicht bedeutungslos für die von ihnen vorgeschlagene Rekonstruktion der Beziehung des, wenn ich dies einmal so bezeichnen darf, Sinnes von ,Prädikat' und des Sinnes von ,Gegenstand der Erkenntnis'. Die naheliegende Lesart ist natürlich (2). Entscheidet man sich für (2), macht man sich nicht nur implizit anheischig, sondern verpflichtet man sich sogar, in einer Rekonstruktion des propositionalen Gehalts des Satzes vom Widerspruch in seiner kantischen Fassung aufzuklären, welche Bedeutung (im nicht-fregeschen Sinn von ,Bedeutung'), d.h. welchen Sinn der Terminus ,Ding' hier hat und was es heißen soll, daß etwas, nämlich ein Prädikat, einem Ding widerspricht. Nimmt man nun den Terminus ,Ding' selber terminologisch, nämlich so, wie ihn die transzendentale Analytik in der Analytik der Grundsätze über die Analogien der Erfahrung einführt und rechtfertigt, wäre man bei der Aufgabe, den

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propositionalen Gehalt des Satzes vom Widerspruch in der Kritik der reinen Vernunft zu rekonstruieren, schon aus der formalen Logik heraus und bei einer Aufgabe, die in die transzendentale Logik fällt. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn man sagt, daß Kant hier den Terminus ,Ding' nicht Kritik-spezifisch, sondern im Sinne des Terminus der rationalistischen Ontologie gebraucht, in der dieser Terminus mit dem Terminus ,Ens' äquivalent ist. Es liegt dann nahe, diesen Terminus (Wolff, Ontologia § 134: Ens dicitur, quod existere potest, consequenter cui existentia non répugnât) an den Terminus des (logisch) ,Möglichen' zurückzubinden, mit dem er zumindest koextensiv ist (Wolff, Ontologia §85: Possibile est, quod nullam contradictionem involvit. §135: Quod possibile est, ens est.) N u n setzt eine solche Interpretation eine Formulierung des Satzes vom Widerspruch bzw. eine Formulierung wenigstens des Begriffs vom Widerspruch zwar schon voraus, legt aber nahe, Kants eigener Formulierung des Satzes vom Widerspruch die Lesart (1) zu geben. Lesart (2) wäre bei dieser Interpretation der Satz: ,Keinem, was keinen Widerspruch enthält, kommt ein Prädikat zu, das dem, was keinen Widerspruch enthält, widerspricht'. Ich will hier nicht entscheiden, welchen Informationsgehalt ein solcher Satz haben mag. Ein ,Ding' im Sinne von ,Ens' ist jedoch zunächst etwas, das durch eine Verbindung von Prädikaten bezeichnet wird, die den Begriff von etwas ausmachen, und diese Verbindung muß als solche widerspruchsfrei sein, d.h. eine Verbindung von miteinander kompatiblen Prädikaten sein. Lesart (1) lautet in dieser Interpretation: .Keinem, dessen Begriff durch eine widerspruchsfreie Verbindung von Prädikaten bestimmt ist, kommt ein Prädikat zu, das einem dieser Prädikate widerspricht.' Einfacher gesagt: ,Keinem X kommt dann, wenn ihm A zukommt, Non-Α zu.' Das ist in jedem Fall eine sinnvolle Formulierung, die in folgende übersetzt werden kann: ,Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches einem Prädikat, das diesem Ding zukommt, widerspricht.' Die Frage ist, was Kant hier meint. Michael W O L F F : Naiv habe ich den Satz immer so gelesen, daß sich das Relativpronomen .welches' auf ,Prädikat' bezieht. Das scheint sich mir syntaktisch aus der Abfolge der Wörter in diesem Satz zu ergeben. Das Dativpronomen ,ihm' muß dann auf ,Ding' bezogen werden, andernfalls hätte Kant besser vom Reflexivpronomen Gebrauch gemacht. Würde man anders-

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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herum das Relativpronomen ,welches' auf ,Ding' beziehen - was immerhin möglich ist - , so dürfte mit dem Dativpronomen ,ihm' umgekehrt nur das ,Prädikat' gemeint sein, weil man sonst wieder ein Reflexivpronomen erwarten müßte. Aus beiden Lesarten ergibt sich deshalb, daß Kant an einen Widerspruch zwischen Ding und Prädikat denkt. Nun scheint es mir allerdings auf der Hand zu liegen - und das habe ich ja auch im Vortrag zum Ausdruck bringen wollen - , daß Kant nicht an den Fall denkt, daß ein Prädikat unmittelbar dem Ding widerspricht... Konrad CRAMER: Eben. Michael W O L F F : . . . sondern daß er vielmehr einen mittelbaren Widerspruch zwischen Ding und Prädikat ins Auge faßt. Ein solcher Widerspruch liegt vor, wenn im Subjektbegriff eines Urteils dem Ding implizit bereits andere Prädikate beigelegt worden sind, denen das Urteilsprädikat widerspricht - wie auch immer diese impliziten Prädikate der Form nach aussehen mögen; ob sie sich nun zum Urteilsprädikat als dessen direktes Negat oder etwa so verhalten, wie ,Viereck' und ,Kreis' etc. Konrad CRAMER: Ich erwähnte dies deswegen - wenn ich das noch anfügen darf - , weil Kant ja offenbar im Hinblick auf eine Differenz im Widersprechen Wolffs Bestimmung des ,Tenors' des Satzes vom Widerspruch (Ontologie §28: Fieri non potest, ut idem simul sit et non sit, seu, quod perinde est, si A sit B, falsum est, idem A non esse B.) dahingehend kritisiert, daß der Auftritt des Zeitausdrucks ,zugleich' (simul) in der Formulierung des Satzes vom Widerspruch nicht zu rechtfertigen ist, weil er ein synthetisches Verhältnis anzeigt. Kant führt in dieser kritischen Absicht in A153 Β 192 aus: „Der Mißverstand kommt bloß daher: daß man ein Prädikat eines Dinges zuvörderst von dem Begriff desselben absondert, und nachher sein Gegenteil mit diesem Prädikate verknüpft, welches niemals einen Widerspruch mit dem Subjekte, sondern nur mit dessen Prädikate, welches mit jenem synthetisch verbunden worden, abgibt, und zwar nur dann, wenn das erste und zweite Prädikat zu gleicher Zeit gesetzt werden." (Ein Mensch (= ein Ding, das durch den Begriff ,Mensch' bezeichnet wird), der jung ist (= durch ein Prädikat bestimmt

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wird, welches von dem Begriff des Dinges abgesondert, d. h. nicht Teilbegriff des Begriffs,Mensch' ist) kann nicht zugleich alt sein ( = kann dann, wenn ihm die Bestimmtheit, jung zu sein, zukommt, nicht die Bestimmtheit zukommen, die durch das kontradiktorische Gegenteil des Prädikats bezeichnet wird, das die Bestimmtheit bezeichnet, die ihm zukommt, aber nicht ex vi terminorum zukommt.) Der ,Begriff des Dinges', von dem Kant in diesem Zusammenhang spricht, ist offenkundig der Begriff von etwas X, der das ,logische Wesen' von X angibt; und dies geschieht durch die, wie Wolff sagen würde, ,wesentliche Definition' des Begriffs von X. Das macht auch für Kant einen guten Sinn, solange das definitorische Verfahren sich nicht anmaßt, schon etwas über die ,reale Möglichkeit' der definierten Begriffe im Unterschied zur bloß ,logischen Möglichkeit' zu entscheiden. Aber eben dann gibt auch die Lesart (1) erneut guten Sinn. Ist nämlich das Definiens des Begriffs von einem Ding A + B, dann kommt A + Β kein Prädikat Non-A oder Non-B zu, und zwar deshalb nicht, weil Non-Α dem Prädikat A und Non-B dem Prädikat Β in der Prädikatenverbindung Α + Β widerspricht. Michael W o l f f : Kant, auf dem Standpunkt der „Kritik der reinen Vernunft", möchte das Mißverständnis ausschließen, daß der Satz des Widerspruchs irgendwie durch Zeitbegriffe affiziert wird. Er setzt sich in dieser Hinsicht nicht nur von Wolff, sondern auch von eigenen früher eingenommenen Positionen ab. Ich stimme Ihnen zu: Kant möchte auf dem Standpunkt der „Kritik" den Eindruck vermeiden, der Satz des Widerspruchs zeige ein synthetisches Verhältnis an. Konrad C r a m e r : Sie würden aber in Kants Formulierung des Satzes vom Widerspruch als solcher nicht schon so etwas wie einen Anlaß zu der von Ihnen vorgeschlagenen Notwendigkeit einer gegenüber den konventionellen Interpretationsstrategien veränderten und neuen Bestimmung des Verhältnisses von formaler und transzendentaler Logik sehen. Man könnte ja, wenn man den Auftritt des Terminus ,Ding' in der Formulierung preßt, zu sagen versucht sein: Hier zeigt es sich schon, daß dies Verhältnis anders zu bestimmen ist, als es die konventionellen Bestimmungsversuche wahrhaben wollen. Wenn ich dem Begriff des ,Dinges'

D i s k u s s i o n : Formale und transzendentale L o g i k

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überhaupt eine angebbare Bedeutung sichern soll und nicht einfach nur die Trivialität meinen will: Keinem Begriff kommt ein Merkmal (Prädikat) zu, welches die Negation eines Merkmals dieses Begriffs ist, dann bin ich de facto schon bei etwas anderem als bei einer Frage der formalen Logik. Michael WOLFF:

In der Tat, ich meine nicht, daß Kants Formulierung ihrem bloßen Inhalt nach schon zu einer vom üblichen Verständnis abweichenden Neubestimmung des Verhältnisses zwischen formaler und transzendentaler Logik zwingt. - Ins Wanken gerät aber das übliche Verständnis, wenn die Frage aufgeworfen wird: Ist der Satz des Widerspruchs nach Kants Ansicht ein analytischer oder ein synthetischer Satz? Kant selbst scheint sich dieser Frage durch einen Kunstgriff zu entziehen, und für diesen Kunstgriff spielt allerdings Kants Formulierung des Satzes vom Widerspruch der Form nach eine Rolle. Der Witz dieser Formulierung ist, daß sie es leistet, zum Ausdruck zu bringen, daß eine Verneinung des Satzes vom Widerspruch schon selbst, unmittelbar und äußerlich erkennbar, einen Widerspruch enthält. Das ist die Pointe dieser Formulierung; sie ist geeignet, den Eindruck entstehen zu lassen, die Frage nach dem analytischen oder synthetischen Charakter des Satzes vom Widerspruch sei schon entschieden - was sie der Sache nach aber eigentlich nicht ist. R e i n h a r d BRANDT:

Herr Wolff, ich habe eine Frage und zwar bezüglich der von Ihnen auch ins Spiel gebrachten Synthesis bei Kant und bei Hegel; Sie bezeichnen die Synthesis bei Kant als eine quasi-mechanische oder quasichemische. Herr Baum hat in seinem Vortrag die Synthesis als eine einheitsstiftende Handlung des Subjekts gekennzeichnet. Und meine Frage ist, ob die Rolle der formalen Logik bei Kant sich nicht auch mit diesem Charakter des Handelns des Subjekts - sagen wir - auf Verstandesebene in Verbindung bringen läßt, während bei der Hegeischen Version aus einer Vernunft-Sicht diese Art des Selbstbewußtseins, das sich selber handelnd erzeugt, wohl da wegfallen muß, an dessen Stelle ein Zusammenhang - Sie nennen ihn einen organischen - entsteht, aus dem das handelnde Subjekt ausgeschlossen ist. Meine Frage zielt jetzt darauf, ob Sie in Ihrer Analyse der Funktion der formalen Logik bei

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Kant und bei Hegel einen Zusammenhang mit der veränderten Stelle des Subjekts sehen. Michael W O L F F : Nicht so ohne weiteres. Denn für mich ist es fraglich, ob man den Gegensatz zwischen Kant und Hegel so, wie Sie es vorschlagen, interpretieren darf. Hegel ist doch im großen und ganzen einverstanden mit Kants Synthesisbegriff und preist ihn als eine seiner wichtigsten Errungenschaften. Vergleichen Sie dazu das Einleitungskapitel zum Zweiten Band der „Wissenschaft der Logik", worin Hegel die ursprüngliche Synthesis der Apperzeption als den Anfang zum wahrhaften Auffassen der Natur dessen bezeichnet, was er selbst den „Begriff" nennt. Aber Hegel unterscheidet doch zwischen dem großen Anfang, den Kant gemacht habe, und der unzulänglichen Ausführung, die Kant seinem Gedanken hat zuteil werden lassen. Schon der Ausdruck „Synthesis" erzeugt, wie Hegel vermerkt, die Vorstellung einer äußerlichen quasimechanischen, quasi-chemischen Verbindung von etwas, was genausogut wie verbunden auch getrennt sein kann. Das ist eine Vorstellung, die in Kants Dualismus von Anschauung und Denken einfließt, des Mannigfaltigen der Anschauung einerseits und des sonst leeren Begriffs andererseits, eine Vorstellung, die Hegel ganz der Seite der unzulänglichen Ausführung des Kantischen Synthesiskonzepts zuschlägt. Aber auf der anderen Seite zeigt sich, daß die Vorstellung der Sache, die Kant selbst vor Augen hatte, nicht wirklich angemessen ist. So macht Hegel mit Recht darauf aufmerksam, daß, insofern der apriorische Begriff als Synthesis a priori zu gelten hat, er nicht als für sich leer, sondern als bestimmt und in sich unterschieden zu denken ist. Die Idee der Synthesis als eines Sich-von-sich-Unterscheidens ist in Kants Lehre von der ursprünglichen Synthesis der Apperzeption der Sache nach durchaus angelegt. Sie schließt bei ihm genausowenig wie bei Hegel den Gedanken aus, daß Synthesis einheitsstiftende Selbsttätigkeit ist. Im Gegenteil, nach Hegels Meinung müßte sie zu dessen korrekter Ausführung gehören. - Sicherlich, Hegel bringt dann allerdings in einen Zusammenhang, was Kant nicht im Zusammenhang sehen wollte oder konnte. So die wie Sie es ausgedrückt haben - „Ebenen" des Verstandes und der Vernunft. Bei Kant ist erst im Kontext der praktischen Philosophie, etwa in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", von einem Subjekt des Handelns ausdrücklich die Rede, das sich (als Erscheinung)

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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von sich (als Subjekt spontaner Aktivität) unterscheidet, ohne dadurch seine Einheit aufzugeben. Hegel bringt dieses Subjekt mit dem „höchsten Punkt" des Systems der „Kritik der reinen Vernunft" in Zusammenhang, wobei er die organologische Metaphorik, in die Kant selbst dieses System eingekleidet hat, auf ihren sachlichen Kern zurückzuführen versucht. M a n f r e d BAUM:

Ich habe zwei Fragen. Ich möchte sie erst kurz formulieren und dann erläutern. Einmal: Ich verstehe noch nicht genau, in welchem Sinne für Dich der Satz vom Widerspruch selbst analytisch ist. Das muß irgendetwas damit zu tun haben, daß er merkwürdigerweise von Dingen spricht, was man von einem logischen Prinzip nicht erwartet. Und die zweite Frage ist: In welchem Sinne kann man bei Hegel von transzendentaler Logik sprechen? Also zunächst einmal zum Satz vom Widerspruch: In der Tat ist die Formulierung, die Kant wählt, eine solche, in der vorausgesetzt wird, daß es ein kategorisches Urteil gibt, in dem einem Dinge etwas - nämlich ein Prädikat - zugesprochen wird. Konsequenterweise müßte das Ding dann in irgendeiner Weise begrifflich vorliegen. Also: es ist implizit auch ein Subjekt-Begriff des Urteils unterstellt. Und zwischen den beiden Begriffen darf eben nicht das Verhältnis des Widerspruchs bestehen, d. h. es darf im Subjekt-Begriff nichts bejaht sein, was im zugesprochenen Prädikat-Begriff verneint wird - das besagt der Satz vom Widerspruch als Regel kategorischer Urteile. Er besagt aber offenbar ζ. B. nicht, daß einem jeden Dinge alle die Prädikate zukommen, die ihm nicht widersprechen. Sondern man muß offenbar sagen: einige der Prädikate, die einem Ding nicht widersprechen, kommen ihm zu. Das kann man a priori sagen. Welche Prädikate das sind, weiß man natürlich a priori nicht. Fragt man sich aber: was mögen das wohl für welche sein, kann man darüber dennoch irgendeine apriorische Angabe machen? dann kann man auf die „Prolegomena" zurückgreifen. Dort wird nämlich das tertium non datur ein logisch-ontologisches Prinzip genannt. Und das heißt: Man kann, angewandt auf unseren Fall, sagen: Es kommen dem Dinge all die Prädikate zu, deren Negation ihnen nicht zukommt. Das ist nicht trivial. Allein darum, daß einem Ding gewisse Prädikate nicht zukommen, kann man nämlich aufgrund des tertium non datur sagen, daß deren kontradiktorisches Gegenteil ihm zukommt.

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Also dann hätte man diese drei Sätze, so in einem Satz gelesen: keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, das ihm widerspricht, sondern es kommen ihm einige von denen zu, die ihm nicht widersprechen, und zwar alle die, deren Negation ihm nicht zukommt. All das hat — soviel ich sehe - überhaupt nichts mit Analytizität zu tun. Ich kann jedenfalls nicht sehen, was diese - sagen wir einmal - primitiven ontologischen Konsequenzen aus diesen logischen Grundsätzen für die Entscheidung der Frage: Ist der Satz vom Widerspruch selbst ein analytischer Satz? ergeben sollen, wenn das nicht den ganz harmlosen Sinn hat, daß der Satz vom Widerspruch eben ein Prinzip aller analytischen Sätze ist, nämlich aller bejahenden analytischen Sätze. Man kann ihn auch zum Prinzip aller verneinenden machen, nämlich man kann sagen: solche Prädikate, die im Begriff eines Subjekts schon enthalten sind, die können einem Subjekt nur bei Strafe des Begehens eines Widerspruchs abgesprochen werden - so etwa kann die Formulierung dann aussehen. Warum soll das nicht den ganz schlichten Sinn haben: Das Prinzip analytischer Sätze ist, weil es eben die fruchtbaren Folgen für diese hat, nämlich hinreichende Wahrheitsbedingung für sie zu sein, in sensu eminenti ein analytischer Satz. Meine zweite Frage ist vielleicht kürzer zu erläutern, nämlich: Das, was Kant formale und transzendentale Logik nennt, nennt Hegel subjektive und objektive Logik und das kommt daher, daß er merkwürdigerweise meint, die Formalität der formalen Logik mache sie zu etwas Subjektivem, und daß er unter einer objektiven Logik - wie er selbst sagt — eine ontologische Logik versteht und darin auch solche Sätze aufstellt, die man in der Tradition wohl zur metaphysica specialis gerechnet hätte. Das ist also nur ein merkwürdiger Sprachgebrauch, den man sich aber plausibel machen kann. Wenn man aber jetzt fragt: Was sagt Hegel zur transzendentalen Logik im Sinne Kants - und der hat ja diese Terminologie erfunden - , dann würde man mit Hegel sagen: Das ist eine Logik, in der versucht wird, durch eine Untersuchung der Erkenntnisbedingungen apriorischer Art des Subjekts Erkenntnisse über Objekte zustandezubringen. Und so etwas ist grundsätzlich falsch. So etwas darf man nie machen. Das ergibt nämlich nur wieder einen sozusagen ontologischen Subjektivismus. Dann muß sich nämlich das Objekt immer nach dem Subjekt richten, also bloße Erscheinung sein. Und das darf nicht sein, sondern man muß es so machen, daß man das Absolute auch zum Prinzip der Logik macht, d. h. die Einheit von Subjekt und Objekt - und

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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das ergibt immer einen Widerspruch, nicht wahr, und darum sind alle wahren Erkenntnisse widersprüchlich, wie D u das ja auch zitiert hast, schon aus dem Skeptizismus-Aufsatz. Kurz und gut: mir scheint, es ist nicht erlaubt, zu sagen, daß Hegel irgendeinen positiven Begriff von transzendentaler Logik hat. M i c h a e l WOLFF:

Zunächst zur ersten Frage: In welchem Sinne ist der Satz des Widerspruchs für mich analytisch? - Ich wollte in meinem Vortrag erläutern, inwiefern man in Schwierigkeiten gerät, wenn man den Satz im systematischen Kontext der „Kritik der reinen Vernunft" für analytisch hält. Man gerät aber ebensosehr in Schwierigkeiten, wenn man ihn für nicht analytisch, sondern für synthetisch hält. Die Systematik der „Kritik der reinen Vernunft" legt die Analytizität des Satzes wenigstens nahe. Denn ein synthetischer Satz a priori ist er nach Kant anscheinend nicht - sonst hätte er ihn sicherlich wie die anderen synthetischen Sätze a priori für beweisbedürftig angesehen - ; und die Disjunktion synthetisch/analytisch soll vollständig sein. Angesichts dieser Schwierigkeiten darf man sich nicht wundern, wenn Kant weder den analytischen noch den synthetischen Charakter des Satzes vom Widerspruch ausdrücklich behauptet. Man darf sich aber auch nicht darüber wundern, daß Kant immerhin suggeriert, der Satz des Widerspruchs sei analytisch. Für Kant ist ein Urteil analytisch, wenn seine Negation einen Widerspruch einschließt. Wenn nun der Satz des Widerspruchs so formuliert werden kann, daß seine Negation einen Widerspruch einschließt, dann scheint er in diesem Sinne analytisch zu sein. Genau in diesem Sinne scheint Kants Formulierung darauf angelegt zu sein, den Satz des Widerspruchs als analytischen Satz erscheinen zu lassen. - Das Problem, ob und inwiefern ontologische Konsequenzen aus den logischen Grundsätzen gezogen oder auch nicht gezogen werden dürfen, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. N u n zur zweiten Frage: Hat Hegel einen Begriff von transzendentaler Logik gehabt? - D u hast darauf hingewiesen, daß in der Einleitung zur „Wissenschaft der Logik" von Hegel ausgesprochen wird, daß im ersten Teil, genauer in den beiden ersten Büchern dieser Logik das System der transzendentalen Logik ausgeführt werden soll. Hegel hat überhaupt das Systemprogramm vor Augen, welches Kant in den Einleitungen zur „Kritik der Urteilskraft" skizziert und das die Logik als

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ersten von drei Systemteilen erwähnt. Man kann sich nun fragen: Hat Hegel wirklich einen Begriff gehabt von dem, wovon er spricht? Ich meine, das läßt sich verteidigen. Man darf doch sagen, daß die beiden ersten Bücher der „Wissenschaft der Logik" ein Versuch sind - man kann sich dann immer noch fragen, ob der Versuch in allen Einzelheiten geglückt ist - aber jedenfalls ein Versuch sind, die Gültigkeit der Kategorien nachzuweisen und einen Nachweis der systematischen Vollständigkeit der Kategorien zu entwickeln. Manfred B a u m : Das ist das tertium comparationis zu Kant. Michael W o l f f : JaManfred B a u m : Aber die Differenzen überwiegen doch nun. Ich meine: wenn auch nur ein Satz davon wahr ist, ist alles, was Kant je dazu gesagt hat, falsch und umgekehrt. Michael W o l f f : Hegels Idee von transzendentaler Logik ist mit Kants nicht wirklich zu vereinbaren, das glaube ich schon, und das wollte ich auch in einigen Punkten meines Vortrags deutlich machen. Ich glaube nur, daß deswegen noch nicht gesagt werden kann: Hegel hat keinen Begriff von transzendentaler Logik gehabt. Manfred B a u m : Keinen positiven. Michael W o l f f : Einen anderen positiven als Kant. Beide halten die Kategorien für (nicht empirische) Erkenntnisbedingungen, und beide sind der Ansicht, daß, sofern wir in der Verstandeserkenntnis und in der Erfahrung von den Kategorien Gebrauch machen, der Inhalt des Erkennens ein endlicher Inhalt, bloße Erscheinung ist. Für Hegel aber folgt die Endlichkeit des Erkennens aus der Endlichkeit der Kategorien; für Kant ergibt sie sich - aufgrund eines von Hegel sogenannten „psychologischen Idealismus" — aus dem Ursprung der Kategorien im Selbstbewußtsein.

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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Bernhard T H Ö L E : Ich habe eine Frage zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik. Du hast gesagt, daß es bei Kant zwei nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringende Konzeptionen gibt: Einmal sei die formale Logik der transzendentalen vorgeordnet und einmal beigeordnet. N u n steht außer Frage, daß Kant die ,Vorordnungsthese' vertreten hat: in dem Sinn jedenfalls, daß die Gesetze der allgemeinen Logik uneingeschränkt und unabhängig von transzendentallogischen Überlegungen gelten (z.B. A60/B84f.). Weniger klar sind mir dagegen die Gründe für die These der Beiordnung, in dem Sinn, daß damit die Vorordnung ausgeschlossen ist. In dem Thesenpapier 1 schreibst Du: „Die logische Möglichkeit der Begriffe setzt ihre reale Möglichkeit voraus." N u n könnte man sagen: Für Kant ist es so, daß die reale Möglichkeit eines Begriffs davon abhängt, ob er bzw. sein Gegenstand den Bedingungen unserer Sinnlichkeit und unseres Denkens genügt. Und daraus kann man eine einfache Unterscheidung zwischen formaler und transzendentaler Logik machen: Ein Begriff ist genau dann logisch möglich, wenn er den (formalen) Bedingungen des Denkens (und die sind für Kant in den Gesetzen der allgemeinen Logik enthalten) genügt, und er ist real möglich, wenn er den Bedingungen, aufgrund derer ein ihm entsprechender Gegenstand in der Anschauung gegeben werden kann, genügt. Das Programm der transzendentalen Logik beruht auf dieser Beziehung auf Anschauungen (a priori) und wäre ohne sie gegenstandslos (vgl. A55/B 79 f.). N u n , inwiefern setzt die logische Möglichkeit der Begriffe ihre reale Möglichkeit voraus? Ich hatte den Eindruck, Dein Argument gründet sich auf die These: Es gibt eben Begriffe, bei denen nicht entschieden ist, wie logische Prinzipien angewendet werden können. Aber daraus scheint mir noch nicht zu folgen, daß die Geltung der logischen Gesetze abhängig ist von irgendwelchen Bedingungen, die sich auf Anschauungen beziehen. Man kann ja sagen: Die logischen Prinzipien gelten nach wie vor, es ist aber noch nicht klar, wie sie auf sprachliche Ausdrücke angewendet werden können. Da mögen inhaltliche Überlegungen eine Rolle spielen; aber das scheint mir nicht dazu zu führen, daß man sagen muß : Jetzt ist der formalen Logik eine irgendwie transzendentale vorzu1

Den Teilnehmern der Diskussion lag eine Kurzfassung des Wölfischen Vortrags in Thesenform vor.

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ordnen, sondern: Der Anwendbarkeit der logischen Gesetze muß (in bestimmten Fällen) eine Bedeutungsanalyse der entsprechenden sprachlichen Ausdrücke vorausgehen. Michael W o l f f :

Ich glaube, Du überziehst hier einen Satz in dem kurzen Thesenpapier von mir, indem Du ihn so liest, als ob ich meinen würde, Kant vertrete außer der ,Vorordnungsthese' auch noch eine dazu konträre ,umgekehrte Vorordnungsthese', nach welcher der formalen Logik eine irgendwie transzendentale Logik vorzuordnen sei. Was ich meine ist vielmehr, daß Kant einerseits die ,Vorordnungsthese' ausdrücklich vertritt, er andererseits aber gelegentlich so argumentiert und aus sachlichen Gründen auch so argumentieren muß, als ob die ,Vorordnungsthese' nicht gelte. So vor allem in der transzendentalen Dialektik. Wenn man seine Argumentation dort genau analysiert, sieht man, daß Kant zwar meint und ausspricht, daß die formale Logik ein Kanon sei - auch hinsichtlich des transzendentalen Gebrauchs der Vernunft - , andererseits aber in seiner eigenen Argumentationsweise zu erkennen gibt, daß die formale Logik ihre kanonische Funktion nicht immer wahrnehmen kann. Ob zum Beispiel Widersprüche vorliegen oder nicht, wird im Kontext der Antithetik der reinen Vernunft nicht aus der formalen Logik eingesehen. Bernhard T h ö l e :

Aber meint er das mit dem Kanon? Meint er, wenn er behauptet, daß die formale Logik ein Kanon sei, daß die formale Logik Kriterien an die Hand gibt, um zu erkennen, ob ein Widerspruch vorliegt - oder meint er nicht vielmehr, daß die formale Logik in dem Sinne ein Kanon ist, daß sie ein negatives Kriterium für die Wahrheit eines Satzes gibt. Das heißt: Wenn man weiß, daß ein Widerspruch vorliegt, weiß man, daß der Satz falsch ist - bzw., im Falle eines logisch widersprüchlichen Begriffs weiß man, daß kein Ding unter diesen Begriff fällt. Dies Wissen, daß ein Widerspruch vorliegt, hängt natürlich vom Inhalt der Begriffe, von ihrer Bedeutung, ab. Michael W o l f f :

Du sprichst das Problem, das Du leugnest, selber aus: Das Wissen, daß ein Widerspruch vorliegt, hängt letztlich vom Inhalt der Begriffe,

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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von ihrer Bedeutung ab. Deshalb hattest D u vorhin schon gesagt, der Anwendbarkeit der logischen Gesetze müsse in bestimmten Fällen eine Bedeutungsanalyse der entsprechenden sprachlichen Ausdrücke vorausgehen. - In der Abhängigkeit des Wissens, daß in bestimmten Fällen ein Widerspruch vorliegt, vom Inhalt oder der Bedeutung der Begriffe, zeigt sich eben, daß der Satz des Widerspruchs - und mit ihm die formale Logik - für sich genommen noch gar kein hinreichendes negatives Kriterium abgibt. Das Gegenteil aber scheint Kant in seiner ,Vorordnungsthese' vorauszusetzen. Kant setzt voraus, daß man einem Begriff unabhängig von seinem Gegenstandsbezug ansehen kann, ob er logisch Mögliches zum Inhalt hat oder nicht (vgl. z . B . A 5 9 6 / B 6 2 4 Fußnote). Diese Voraussetzung ist mit einer anderen Voraussetzung Kants verwandt, der Voraussetzung, daß man zwei Begriffen unabhängig von ihrem Gegenstandsbezug ansehen kann, ob einer den anderen analytisch enthält oder nicht. Beide Voraussetzungen sind aus ähnlichen Gründen angreifbar. Kant selbst belehrt uns durch seine transzendentale Dialektik, daß es unrichtig ist, logische Beziehungen wie Kontradiktorietät, Kontrarietät, Subkontrarietät etc. zwischen bloßen Begriffen unabhängig vom Gegenstandsbezug anzunehmen. Dann aber macht es auch Schwierigkeiten, von der logischen Möglichkeit eines bloßen Begriffs zu sprechen. F r a n z HESPE:

Ich habe zwei Fragen zu Ihren Ausführungen über die auch in der spekulativen Logik Hegels weiterbestehende bedingte Gültigkeit der formalen Logik. Erstens: Was bleibt eigentlich von der formalen Logik, wenn behauptet wird: Sätze der formalen Logik gelten als einzelne nicht mehr, sondern nur noch in einem System ineinander übergehender Reflexionsbestimmungen? Ist damit nicht im Grunde die formale Logik aufgehoben? Zweitens: Was bleibt vom Gültigkeitsanspruch der formalen Logik, wenn etwa die Widerspruchsfreiheit kein Kriterium dafür ist, ob etwas möglich oder unmöglich ist, ja, wenn umgekehrt behauptet wird: Es gibt real existierende Widersprüche, und es kann unter Umständen nötig sein, sich in Widersprüchen auszudrücken, um einen Sachverhalt richtig zu beschreiben? Bleiben dann die Sätze der formalen Logik nicht als bloße Formen des Denkens übrig, mit denen wir uns auf die Gegenstände beziehen müssen, um überhaupt über sie zu sprechen -

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etwa, daß die Identität eines besprochenen Gegenstandes gewahrt bleibt - ohne daß ihnen Gültigkeit in dem Sinne zukommt, daß etwas, was mit ihnen nicht kompatibel ist, nicht real sein kann? Michael W o l f f : In § 82 der Berliner Encyklopädie schreibt Hegel, daß in der spekulativen Logik „die bloße Verstandes-Logik" enthalten sei. Die spekulative Logik könne durch „Weglassen" des Dialektischen zu dem gemacht werden, „was die gewöhnliche Logik ist, eine Historie von mancherlei zusammengestellten Gedankenbestimmungen, die in ihrer Endlichkeit als etwas Unendliches gelten". Aus §162 der Berliner Encyklopädie ergibt sich, daß das, was Hegel „gewöhnliche Logik" nennt, mit dem zusammenfällt, was Kant „formale Logik" genannt hat und daß zu ihr nicht nur die Begriffs-, Urteils- und Schlußlehre, sondern auch die sogenannten logischen Gesetze hinzugehören. Die formale Logik mit ihren logischen Gesetzen bleibt demnach in den Augen Hegels in ihrem traditionellen Umfang gültig. Aber außerhalb des Kontextes der spekulativen Logik ist die formale Logik ein bloßes Aufzählen oder Hererzählen von Sätzen, bei dem die Gründe ihrer Gültigkeit nicht angegeben werden. Aber die Einsicht in die Gültigkeitsgründe dieser Sätze, welche die spekulative Logik ermöglichen soll, ist zugleich eine Einsicht in die bedingte Gültigkeit dieser Sätze. Es war ein Mißverständnis, wenn Sie meiner Darstellung entnommen haben, die Sätze der formalen Logik, genauer die traditionellen logischen Gesetze, würden als einzelne nicht mehr gelten, sondern nur noch in einem System ineinander übergehender Reflexionsbestimmungen. Dieses System macht die logischen Gesetze nicht gültig, sondern eher im Gegenteil - es nimmt ihnen die unbedingte Gültigkeit. Es nimmt den Reflexionsbestimmungen ihre - wie Hegel es ausdrückt - „Unendlichkeit". - Und noch ein anderes Mißverständnis: Ich wollte nicht behaupten, die formale Logik müsse nach Hegel auf das Kriterium der Widerspruchsfreiheit verzichten. Die Reflexionsbestimmung der Identität und mit ihr die traditionellen Sätze der Identität und des Widerspruchs rechnet Hegel sicherlich nicht zu dem, was „wegzulassen" ist, wenn man aus der spekulativen Logik die formale Logik herauszieht. Burkhard T u s c h l i n g : Herr Thöle hat noch einmal versucht, die Intentionen, die Kant mit

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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der Unterscheidung von logischer und realer Möglichkeit verfolgt hat, zu verdeutlichen, also einen Begriff von logischer Möglichkeit plausibel zu machen. Aber ich meine, daß bei diesem Versuch, wie heute morgen im Zusammenhang mit dem Vortrag von Herrn Cramer auch, deutlich geworden ist: die Annahme, es sei möglich, eine „logische" Möglichkeit von Begriffen oder dergleichen von ihrer „realen" Möglichkeit zu unterscheiden; d . h . die Annahme, es sei möglich, das Gegebensein von „logischer Möglichkeit" mit bloß formalen oder „logischen" Mitteln unabhängig von jeder Inhaltsprüfung entscheiden und dementsprechend die „logische" Möglichkeit von Begriffen oder Sachverhalten feststellen, behaupten oder verneinen zu können - diese Annahme ist gleichbedeutend mit der Annahme, es sei möglich eine „inesse"-Logik und zwar für unendlich viele Entitäten aufzubauen. Darunter würde ich eine Logik verstehen, die davon ausgeht, daß es möglich ist, für Begriffe a priori und unabhängig von inhaltlichen Prüfungen zu entscheiden, ob ihnen bestimmte andere Begriffe (Prädikate) zukommen oder nicht; daß es mithin - weil die Feststellung dieser begrifflichen Beziehung ja a priori sein soll - möglich ist zu entscheiden, ob jenen ersten Begriffen („Subjekten") jene anderen („Prädikate") notwendigerweise zukommen oder nicht; daß es also a priori notwendige oder wesentliche (im Unterschied von zufälligen oder unwesentlichen) Beziehungen des Zukommens zwischen Begriffen gibt: Einschluß-Ausschlußbeziehungen eines jeden gegebenen Begriffs zur Gesamtheit aller Prädikate und ihrer Negationen derart, daß ihm von allen Paaren „wesentlicher" Prädikate und ihrer Negate jeweils notwendigerweise eines (das Prädikat oder sein Negat) zukommt; oder schließlich: daß es Beziehungen des notwendigen Zukommens und Nichtzukommens von Begriffen zueinander gibt, über deren Vorliegen mittels bloß formaler Verfahren a priori entschieden und daß deshalb zwischen apriorischen oder „wesentlichen" und aposteriorischen (nichtwesentlichen, „zufälligen") Beziehungen von Begriffen andererseits unterschieden werden kann.

Ich glaube, daß Kant - und mit ihm alle diejenigen, die der formalen Logik jene Funktion zuschreiben, allgemeine, obwohl bloß negative Kriterien aller Wahrheit, ζ. B. die Widerspruchsfreiheit, zu entwickeln in der Tat von der Existenz einer solchen Logik ausgeht, und daß gerade in dieser Voraussetzung die Problematik steckt, die Michael Wolff mit guten Gründen angreift. Kants Voraussetzung impliziert nämlich, daß man weiß, was ein „allgemeines obzwar bloß negatives Kriterium aller

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Wahrheit" (Β 190) ist und wie es funktioniert. Nach dieser Auffassung von Logik haben vor aller inhaltlichen Wahrheitsprüfung Konsistenzprüfungen (von Begriffen, Urteilen oder Sätzen, Sachverhalten) stattzufinden, und solche Konsistenzprüfungen sind ohne Rekurs auf irgendwelche inhaltlichen Annahmen prinzipiell immer möglich. K a t h a r i n a KANTHACK:

Und das Kriterium? B u r k h a r d TUSCHLING:

Das ist die entscheidende Frage. Kant meinte, unterstellen zu dürfen, es gebe einen unproblematischen Begriff vom Satz des Widerspruchs. Bernhard THÖLE:

Aber das sind doch jetzt zwei Inhaltsbegriffe: Einmal Begriffsinhalt und einmal so etwas wie der dem Begriff gegenüberstehende Gegenstand. B u r k h a r d TUSCHLING:

Nein. Zwei Inhaltsbegriffe sind es nur, wenn das hier diskutierte Logikprogramm funktioniert, sonst nicht. Nur wenn man unabhängig von jeglichem Bezug auf den ,dem Begriff gegenüberstehenden Gegenstand' angeben kann, was .Begriffsinhalt' ist, kann man von zwei verschiedenen Inhaltsbegriffen reden, andernfalls nicht. Natürlich ist es in empirischen Kontexten unproblematischerweise immer möglich, zwischen Begriffsinhalt' einerseits, ,Gegenstand' andererseits zu unterscheiden, weil vom Vorhandensein eines Vorstellungskomplexes oder -begriffs und einem davon verschiedenen Referenten dieses Vorstellungskomplexes mindestens hypothetisch ausgegangen werden kann. Unser fragliches Logikprogramm unterstellt jedoch sehr viel mehr, nämlich es sei möglich, a priori - d. h. unter allen Umständen, notwendigerweise, unabhängig von jeder Beziehung auf außerlogische (außerbegriffliche, außergedankliche) Inhalte oder Gegenstände - anzugeben, was ein Begriffsinhalt ist, wann Beziehungen des Einschlusses, des Ausschlusses, der Entgegensetzung usw. zwischen bestimmten Begriffsinhalten (Begriffen, Prädikaten usw.) bestehen und dies eben unabhängig von jeder Beziehung auf nichtlogische Voraussetzungen; es sei also

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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unter anderem möglich, einen in diesem Sinne bloß formalen Begriff von ,Widerspruch' zu entwickeln, der aber dennoch in beliebigen materiellen Kontexten als allgemeines Kriterium ,logischer Möglichkeit' dienen können soll. Das Logikprogramm unterstellt also kurz gesagt absolute Verschiedenheit von Begriffsinhalt' und ,dem Begriff gegenüberstehenden Gegenstand'. Es ist allerdings fraglich, ob unter dieser Voraussetzung (sc. einer solchen absoluten Verschiedenheit von Begriff und Gegenstand des Begriffs) ein Begriff von Widerspruch oder von bestimmten anderen logischen Verhältnissen überhaupt entwickelt werden kann; oder ob nicht vielmehr ein solcher Begriff zumindest notwendigerweise leer ist, wenn er nicht sogar mit Hegel als sich selbst widersprechend bezeichnet werden muß. Versucht man nämlich, die kantische Auffassung, die formale Logik liefere mit dem Satz des Widerspruchs ein allgemeines, wenn auch bloß negatives Kriterium der Wahrheit, zu durchdenken, dann stellt sich die Frage: Wie stellt eine Erkenntnis es eigentlich an, dem Satz des Widerspruchs ,zuwider' zu sein? Man braucht also bereits einen präzisen Begriff von Widerspruch, wenn man das Programm der Logik als eine Wissenschaft allgemeiner, wenn auch bloß formaler und negativer Wahrheitskriterien bei Kant oder anderen verstehen will. N u n ist doch die - wie mir scheint - sehr gut begründete These Michael Wolffs die, daß Kant unterstellt, man habe davon einen Begriff; tatsächlich aber, nicht nur keinen solchen Begriff hat, sondern nicht einmal seine Möglichkeit unterstellen darf, weil sie mit seinem Programm einer transzendentalen Logik unverträglich ist. Denn die formale Logik als Theorie der,logischen' Möglichkeit (von Begriffen), gleichrangig mit der transzendentalen Logik als einer Theorie der ,realen' Möglichkeit (von Gegenständen), ist, als eine Theorie der Wahrheitsbedingungen, nicht analytischen, sondern synthetischen Charakters: die so verstandene Logik abstrahiert nicht mehr, wie sie soll, von aller Beziehung auf Gegenstände überhaupt; sie ist nicht mehr formale, sondern transzendentale Logik, Teiltheorie einer umfassenderen transzendentalen Logik (neben der von Kant so genannten) oder bloße Folge der kantischen transzendentalen Logik (verstanden als Theorie des gesamten Verstandesgebrauchs im Sinne von Β 134 Fußnote). Ein Teilaspekt der ersten Schwierigkeit ist die vorhin schon einmal erörterte Schwierigkeit mit der Analytizität des Satzes des Widerspruchs. Nimmt man an, er sei analytischen Charakters (Michael Wolff hat gezeigt, welche Aspekte von

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Kants Konzeption dafür sprechen), dann landet man bei der Logikauffassung des Neukantianismus oder des Logischen Empirismus, muß aber darauf verzichten, mit Kant die Logik als Theorie formaler Wahrheitsbedingungen aufzufassen. Will man den analytischen Charakter des Satzes des Widerspruchs bestreiten - nach meinem Eindruck neigt Herr Baum dieser Auffassung (für die ja gleichfalls vieles spricht) zu, wenn er den Satz des Widerspruchs das Prinzip analytischer Urteile, aber nicht selbst ein analytisches Urteil nennt - , dann muß man diesem Begriff einen Inhalt verschaffen und angeben, was das Reden vom Prinzip analytischer Urteile im Unterschied von einfachen analytischen Urteilen bedeutet. Es kann nach kantischen Voraussetzungen - Vollständigkeit der Disjunktion analytischer und synthetischer Urteile, Elementfremdheit der beiden Klassen von Urteilen oder Sätzen, theoretischer Geltungs- oder Wahrheitsanspruch des obersten Prinzips analytischer Urteile - jedoch nur bedeuten: der selbst nichtanalytische oberste Grundsatz aller analytischen Urteile (sc. der Satz des Widerspruchs) ist selbst synthetisch, und zwar natürlich synthetisch a priori. Wenn dem aber so ist, tut sich ein neues Problem auf: Warum hat die „Kritik der reinen Vernunft", die behauptet, die Aufgabe ,Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?' in ihrem ganzen Umfang aufgelöst zu haben, ausgerechnet diesen ganz besonders wichtigen, den gesamten formalen Verstandesgebrauch bestimmenden Grundsatz nicht behandelt? Sie hat das Problem nicht gesehen, geschweige denn gelöst. Wie wollen Sie das erklären? In diese Schwierigkeit geraten alle Interpretationsversuche, die auf der von Herrn Baum angedeuteten Linie liegen. Manfred Baum: Ich glaube, die Antwort auf die beiden Punkte ist ganz dieselbe, nämlich zum ersten möchte ich sagen - also: inwiefern gibt es in der Antinomienlehre einen Hinweis darauf, daß man mit der formalen Logik und ihrem Verbot des Widerspruchs nicht weiterkommt, oder, wieso ergeben sich da Notwendigkeiten, Widersprüche in irgendeinem Sinne produktiv sein zu lassen, um mich mal so auszudrücken? Ja, das ist doch gar nicht so. In Wirklichkeit spielt die formale Logik dort eine Scharfrichter-Rolle. Konrad C r a m e r : Recht so! (Allg. Heiterkeit)

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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M a n f r e d BAUM:

Es wird nämlich einfach gesagt: Der Satz vom Widerspruch ist ein Prinzip für Sätze, für Urteile. Und wenn in diesen Urteilen, die Begriffe enthalten, verschwiegenermaßen im Subjektbegriff ein Widerspruch enthalten ist, dann muß man sich nicht wundern, daß sich von einem solchen einen widersprechenden Subjektbegriff enthaltenen Satz zwei widersprechende, also logisch entgegengesetzte, kontradiktorische Sätze als wahr (und auch als falsch) beweisen lassen. Das ist dann notwendigerweise so. Der viereckige Kreis ζ. B. ist notwendig sowohl rund als auch nicht rund. Und das heißt nur, daß ich aus einer solchen Antinomie die Erkenntnis ziehe: Mein zugrundeliegender Begriff - auch, wenn ich das noch nicht weiß - enthält verschwiegenermaßen einen Widerspruch. In diesem Fall ist es der Begriff eines an sich gegebenen Ganzen von Gegenständen der Erfahrung, oder von Erscheinungen, oder eines an sich gegebenen Ganzen von Gegenständen, von denen man sinnvollerweise nur mit Bezug auf Erfahrung reden kann und von denen es deshalb auch kein an sich gegebenes Ganzes geben kann. Weil das so ist, ergeben sich diese peinlichen Folgen in der Antinomienlehre; eine echte Dialektik - sagt Kant - gibt es überhaupt nicht, auch nicht in meiner transzendentalen Dialektik, weil eben einfach diese Auflösung möglich und notwendig ist; wobei dann noch die Differenzierung hinzukommt, daß die beiden Sätze der ersten Antinomie ja bekanntlich beide falsch sind, während die beiden letzten Satzpaare beide wahr sein können — und nicht beide wahr sind. - Aber das sind Feinheiten. Und das zweite ist . . . Ich habe jetzt Ihre positive These im Augenblick vergessen. B u r k h a r d TUSCHLING:

Sie läuft darauf hinaus, daß man einen Beweis für das Prinzip liefern muß. Es muß doch ein synthetischer Satz a priori sein. M a n f r e d BAUM:

Ach so, ja, richtig. D a würde ich auch wieder sagen: Nehmen Sie doch den Satz vom Widerspruch als ein Prinzip von Sätzen, nicht wahr! D a Sätze im Unterschied zu Begriffen die wunderbare Eigenschaft haben, wahr oder falsch sein zu können - , da sie in dieser Weise von Gegenständen handeln. Also ist der Satz vom Widerspruch eo ipso ein Prinzip für (Aussagen über) Gegenstände. Und das zeigt sich an der Formulierung:

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Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht. Die Formulierung kann nur so lauten, weil der Satz vom Widerspruch gedacht wird als ein Prinzip für Sätze. Und damit ist die ganze Analytizität als verborgene Ontologie sozusagen schon gestorben.

K o n r a d CRAMER:

Zunächst noch einmal direkt zur Frage der Analytizität des Satzes vom Widerspruch. Herrn Wolffs wichtige und diskussionswürdige These ist ja, daß Kant die Formulierung: ,Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht' deswegen gewählt hat, weil an Hand ihrer und, vielleicht noch stärker, an Hand keiner anderen gezeigt werden kann, daß der Satz vom Widerspruch selber ein analytisch wahrer Satz ist. Ist das wirklich so? U m dies in Frage zu stellen, schlage ich einmal folgenden Versuch vor: Das kontradiktorische Gegenteil des Satzes vom Widerspruch in der kantischen Fassung lautet offensichtlich: ,Einem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht.' Warum, so will ich jetzt fragen, ist das kontradiktorische Gegenteil des Satzes vom Widerspruch falsch? Auf diese Frage hat man schwerlich eine andere Antwort als die folgende: Genau deswegen, weil der Satz ,Einem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht' selber dem Satz vom Widerspruch widerspricht. Das ist eine sinnvolle und vermutlich die einzig sinnvolle Auskunft. Aber die Aussage: ,Ein Satz ist falsch, weil er dem Satz vom Widerspruch widerspricht' ist klarerweise kein logisches Äquivalent für die Aussage: ,Der Satz vom Widerspruch ist ein analytisch wahrer Satz'. U n d das ändert sich auch nicht, wenn für die Variable ,Ein Satz' irgendwelche Werte eingesetzt werden, also auch dann nicht, wenn das kontradiktorische Gegenteil des Satzes vom Widerspruch eingesetzt wird. Das scheint mir nicht ganz unwichtig zu sein. Ich will nicht behaupten, daß gar keine andere Interpretationsstrategie zur Wahl ansteht, um darzutun, daß das kontradiktorische Gegenteil des Satzes vom Widerspruch falsch ist. Es ist aber wegen der genannten Nicht-Äquivalenz nicht möglich, die Analytizität des Satzes vom Widerspruch auf diese Weise darzutun. Der Satz: ,Das kontradiktorische Gegenteil des Satzes vom Widerspruch ist falsch, weil es dem Satz vom Widerspruch widerspricht' setzt die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch voraus, sagt aber nichts darüber aus, welchen formalen epistemischen Status dieser Satz hat, d.h. nichts darüber aus, ob er

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

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analytisch oder synthetisch oder etwas anderes (wenn es etwas nicht in diese Disjunktion fallendes geben sollte) ist. Meine zweite Bemerkung betrifft die Funktion der formalen Logik in der Konstruktion und Beurteilung der Antinomie der Vernunft. (Herr Wolff ist dieser Frage in seinem jüngsten Buch 2 auf erhellende Weise nachgegangen.) Thesis und Antithesis stehen jedenfalls prima facie zueinander in kontradiktorischem Gegensatz. Und Thesis und Antithesis müssen jeweils bewiesen werden. Schenken wir einmal, daß diese Beweise wirklich gültige Beweise und keine Sophismen sind, die z . B . auf einer quaternio terminorum beruhen. Wie ist dann nach Kant - und das scheint mir die entscheidende Frage zu sein - das Ergebnis der antinomischen Struktur der Vernunft in Ansehung von Ideen zu interpretieren, denen kein korrespondierender Gegenstand in der Anschauung gegeben werden kann? Allgemein gesagt gilt für Kant: Zwei, wie er meint, aus demselben Prämissensatz erschlossene Sätze ρ und non-p können aus formallogischen Gründen nicht beide wahr sein. Wenn das unbeschadet der kantischen Strategie der Auflösung der Antinomien und den Differenzen in der Auflösung der beiden ersten und der beiden letzten gilt, so heißt dies für Kant: die Widersprüche müssen jedenfalls verschwinden. Das heißt: diese Widersprüche werden für Kant nicht produktiv, sie sind vielmehr aufzulösen, weil man sie nicht stehen lassen kann. Der transzendentale Idealismus ist das Prinzip ihrer Auflösung. Das genau war der Punkt, der Hegel nicht überzeugt hat. Denn Hegel war der Meinung, daß Kant schon mit der Forderung nach .Auflösung' der Vernunftwidersprüche das Gedanken konstituierende Potential des antinomischen Charakters der Vernunft unterschätzt, ja, nicht einmal erkannt hat. Daher die formale Forderung nach ,Auflösung des Widerspruchs'. Auf diesem Hintergrund habe ich als dritte Bemerkung eine ganz allgemeine Frage zum Theoriehintergrund Ihrer Rekonstruktionsstrategie. Wenn ich deren systematische Absicht richtig verstehe, so wollen Sie auf Grund einer Analyse immanenter Problemkonstellationen der „Kritik der reinen Vernunft" eine Neubestimmung des Verhältnisses von formaler und transzendentaler Logik entwickeln, dessen systematische Pointe, abgekürzt gesprochen, zu dem Theorem führt: Es gibt einen explikationsfähigen Begriff von Widerspruch, der nicht die Folge 2

S . o . Anmerkung 10 zum Vortrag.

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Michael Wolff u. a.

hat, daß das, was unter ihm steht, ein bloßes ,nihil negativum' ist. Das hieße: Ihre ganze Rekonstruktionsbemühung steht ihrer systematischen Intention nach im Kontext der gegenwärtigen Bemühungen um Aufklärung des rationalen Gehalts der Hegeischen Logik selber. Und dies in genau dem Sinne, daß Sie (ähnlich wie Henrich, Fulda, Theunissen und andere) versuchen, Hegels Grundbegriff der ,absoluten Negativität' eine Bedeutung zu vindizieren, die sich von vokabelhafter Wiederholung oder bloßer Paraphrase unterscheidet. Hegels operativer Grundbegriff ist ja der von der Struktur einer Negation, die zwar nicht ohne Bezug auf die Urteilsnegation ist, aber als sich auf sich beziehende Negation (negative Beziehung der Negation auf sich) mit der Urteilsnegation auch nicht identifiziert werden kann. Denn in aussagen- und prädikatenlogischen Kontexten muß eine Form ,p ist non-p' bzw. ,X, was A ist, ist Non-Α' natürlich zum Kollaps von Sinn führen. Ist es, in extrem formalem Sinn gesprochen, Ihre Intention, diesen Kollaps zu vermeiden? Michael W o l f f : Das ist meine Absicht. Manfred Baum: Ein Satz zu Tuschling, dessen Gedanke mir eben entfallen war. Nämlich: Ihre Frage warum sagt der Mann, der ein ganz dickes Buch über die Frage: „wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" schrieb, nichts zu dem - sagen wir einmal - zumindest dem Anschein nach - und ich hätte gar nichts dagegen, wenn man es auch behauptet synthetischen Satz vom Widerspruch? Ja, ganz einfach: weil synthetische Sätze, ob a priori oder nicht, Urteile über Gegenstände sind. Der Satz vom Widerspruch ist kein Urteil über Gegenstände. So ist er formuliert, es klingt so. Er ist in Wirklichkeit ein Urteil über Sätze und das heißt, er ist ein logisches Prinzip. Burkhard T u s c h l i n g : Es ist auffallend, daß dieser Fassung des Satzes des Widerspruchs bei Kant eine bestimmte Vorstellung von dem zugrundeliegt, was ein Ding ist, nämlich: ein Ding ist die Summe einer begrenzten Anzahl von Prädikaten. Angenommen, es gibt Prädikate, die diesem Gegenstand nicht zukommen, spricht man eines dieser Prädikate diesem Ding trotzdem zu, dann ist das ein Widerspruch.

Diskussion: Formale und transzendentale Logik

225

K o n r a d CRAMER: W a s heißt das eigentlich: das D i n g als S u m m e von Prädikaten? E s gibt im N a c h l a ß eine schlichte f o r m a l e B e s t i m m u n g dessen, w a s ein U r t e i l ist: , X , w a s ich unter der B e s t i m m u n g A kenne, das kenne ich auch unter der B e s t i m m u n g B . ' U n t e r welcher B e d i n g u n g ist diese K e n n t n i s analytisch w a h r oder analytisch falsch? ( K a n t spricht bekanntlich auch v o n f a l s c h e n Erkenntnissen'.) G e n a u unter der B e d i n g u n g , w e n n diese Kenntnis durch die bloße Vergleichung der Intensionen der P r ä d i k a t e A u n d Β als w a h r o d e r als falsch einleuchtet. D a b e i ist gewiß nicht die R e d e d a v o n , daß ein D i n g eine S u m m e v o n E i g e n s c h a f t e n ist, die d u r c h Prädikate bezeichnet w e r d e n . D a s ist ein g a n z anderer P u n k t , der erst d o r t a u f k o m m e n kann, w e n n das Urteil nicht analytisch wahr o d e r analytisch falsch ist. N a t ü r l i c h kann ich einen W i d e r s p r u c h in einem Satz nur feststellen, i n d e m ich die B e g r i f f e , die in ihm die Subjekt- und

Prädikatstelle

einnehmen, analysiere. Wie sollte ich ihn sonst feststellen? D a s

ist

g e s c h e n k t und v o r a u s g e s e t z t . M i t dieser V o r a u s s e t z u n g verbindet sich j e d o c h n o c h keine o n t o l o g i s c h e T h e s e , und i n s b e s o n d e r e n o c h keine von der A r t , die Sie vorschlagen. W a s Sie in Wahrheit meinen m ü s s e n , ist, daß ich keinen W i d e r s p r u c h konstatieren kann, wenn ich nicht die T e r m i n i eines Urteils analysiert habe. U n d das ist eine triviale logische Wahrheit, die aus d e m Satz des W i d e r s p r u c h s in seiner kantischen F o r m u l i e r u n g selber folgt. B u r k h a r d TUSCHLING: In der T a t k a n n m a n sich der o n t o l o g i s c h e n P r o b l e m a t i k f ü r s erste d a d u r c h entledigen, daß m a n , wie H e r r B a u m vorhin vorgeschlagen hat, die kantische F o r m u l i e r u n g des Satzes des W i d e r s p r u c h s d u r c h eine solche ersetzt, in der v o n D i n g e n nicht m e h r die R e d e ist. F ü r eine Interpretation, die darauf abzielt, den v o n K a n t intendierten Sinn v o n f o r m a l e r L o g i k als einer T h e o r i e negativer Wahrheitskriterien festzuhalten u n d d e n n o c h die o b e n genannten Schwierigkeiten z u vermeiden, bietet sich dieser A u s w e g g e r a d e z u an. A b e r die von Michael W o l f f a u f g e w o r f e n e n o d e r in K o n s e q u e n z seiner Ü b e r l e g u n g e n sich stellenden F r a g e n bleiben, z . B . : Welche Wahrheitsbedingungen gelten f ü r diese T h e o r i e bloß negativer Wahrheitsbedingungen und ihren H a u p t s a t z , den Satz des W i d e r s p r u c h s , selbst? W a s bedeutet es, H e r r B a u m , ein ,Prinzip v o n Sätzen' z u sein, u n d w a s bedeutet dies speziell im Fall des

226

Michael Wolff u. a.

Satzes des Widerspruchs? Was bedeutet Analytizität, von Sätzen oder von Intensionen? Manfred BAUM:

Ja, wenn der Satz vom Widerspruch ein Satz über oder ein Prinzip von Sätzen ist, wie ich behaupte, dann ist er natürlich mittelbar, weil Sätze eben die Fähigkeit haben, mit Objekten übereinstimmen zu können (also wahr sein zu können), ein Satz über Sachen und Sachverhalte sagen wir mal lieber statt Dinge. Also, das kommt mittelbar rein. Insofern habe ich das gar nicht rausschmeißen wollen. Deshalb darf man denn auch so formulieren, wie Kant das tut, nämlich vom kategorischen Urteil ausgehend rückschließen, was das für das Ding bedeutet. N u r : das ist nicht trivial, denn es gibt ja tatsächlich eine Theorie, die sagt, daß ein Subjekt nichts ist als die Summe seiner Prädikate, nämlich die Leibnizische. Das bedeutet nämlich, in eine Ontologie verwandelt, die Monadologie: Wenn alle wahren Sätze über eine Sache etwas, was im Subjektbegriff enthalten ist, als Prädikat aussagen, dann muß der Subjektbegriff der Begriff einer Monade sein, und diese Monade als Spiegel des Universums enthält im Grunde alle Prädikate. Der logische Fehler, der hier besteht, ist ein ganz kleiner, so daß der große Leibniz ihn übersehen konnte, nämlich der, daß er meinte, es gäbe Individualbegriffe. Es gäbe adäquate Begriffe von Individuen. Und die gibt es halt nicht. Und gäbe es die, dann hätte er nämlich recht.

BURKHARD TUSCHLING ( M a r b u r g )

Widersprüche im transzendentalen Idealismus"'

1.

„Transzendentaler Idealismus" wird im folgenden unter anderem, wie üblich und von Kant selbst gewollt, als Gesamtbezeichnung für Kants (theoretische) Philosophie1 verstanden und besagt dann unter Bezugnahme auf das Gesamtergebnis der transzendentalen Analytik insbesondere dies, ,daß wir Erkenntnis immer nur von Erscheinungen oder Gegenständen möglicher Erfahrung, niemals aber von Dingen an

* Im Unterschied zu allen übrigen Beiträgen dieses Bandes sprengt der vorstehende die einem Vortrag gezogenen Grenzen. Tatsächlich umfaßte die ursprüngliche Vortragsfassung gerade 10 Schreibmaschinenseiten und entsprach inhaltlich im großen und ganzen dem, was oben in Abschnitt 1 - 1 1 dargestellt worden ist. Ich bitte die Referenten der Arbeitstagung für meine Unbescheidenheit um Nachsicht und den Leser für die ihm zugemuteten gedanklichen Umwege um Verständnis. D e r W o l f f und Tetens gewidmete zweite Teil des Aufsatzes scheint sich für eine Kürzung geradezu anzubieten. Ich habe mir auch überlegt, ihn wegzulassen, mich dann aber doch nicht dazu entschließen können. Denn die Widersprüche der „Kritik der reinen Vernunft" sind ohne die Darstellung ihrer Vorgeschichte nicht zu verstehen. Schon die Behauptung ihres Auftretens und erst recht die Behauptung, Kant habe sie zunächst übersehen, erregt vielfach Anstoß. Sieht man sie vor dem Hintergrund von Leibniz' und Wolffs Lehre vom Ansichsein der Welt und ihrer Vorstellung durch ein apperzipierend-perzipierendes Ich; der Kant durch Locke oder Tetens vermittelten Kritik an dieser Metaphysik; der durch diese Kritik nur wenig affizierten, ihrerseits widersprüchlichen Konzeption des Substanz- oder empirischen Dingbegriffs überhaupt; oder der schon bei W o l f f exponierten tätigen, die Unterscheidung von Subjekt und O b j e k t transzendental erzeugenden Beziehung des Selbstbewußtseins auf die Gesamtheit seiner möglichen Vorstellungsinhalte, die doch eine ansichseiende und gegen jenes T u n der (endlichen) Apperzeption gleichgültige Welt bilden - so wird begreiflich, wie sie in die „Kritik der reinen Vernunft" hineinkommen und zunächst auch unbemerkt bleiben konnten: ihren Grund haben sie in der verhandelten Sache, ihr Zutagetreten verdanken sie größtenteils erst ihrer gedanklich-systematischen Zuspitzung durch Kant. Das Begreifen der Widersprüche der „Kritik der reinen Vernunft" erschöpft sich jedoch nicht im Nachvollzug ihres Gewordenseins aus der Verarbeitung vorhandener Konzeptionen zu einem neuen System, auch nicht in der abstrakten Feststellung kontradiktorischer Aussagen. Sie sind ebensosehr in dem Beziehungsreichtum des transzendentalen

228

Burkhard Tuschling

sich selbst haben' 2 und daß diese Einsicht der Schlüssel zur A u f l ö s u n g aller dialektischen Widersprüche der reinen Vernunft ist 3 . Unter „transzendentalem Idealismus" verstehe ich aber auch und im engeren Sinne diejenige Theorie, mit der Kant einige seiner berühmt gewordenen Fragen zu beantworten versucht, nämlich - „auf welchem G r u n d e beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?" 4 Idealismus begründet, in der Mannigfaltigkeit der Probleme, die Kant sieht und durch seinen transzendentalen Idealismus gedanklich zu beherrschen und zu lösen versucht. Wer die Kühnheit des Gedankens, die Welt in ihrer Bestimmtheit und Gesetzmäßigkeit aus der tätigen Einheit des Selbstbewußtseins erzeugt sein zu lassen - sei es in seiner Leibniz-Wolffschen, sei es in seiner Locke-Humeschen, sei es in der sie miteinander verknüpfenden und überbietenden Version Kants - , nicht sieht, wird nicht nur die Widersprüche der „Kritik der reinen Vernunft", sondern auch die ihnen zugrundeliegenden sachlichen Notwendigkeiten nicht begreifen, und damit auch nicht, warum die kantische Lösung dieser Probleme notwendigerweise neue Lösungen hervorgebracht hat. Seine schier unerschöpfliche Fruchtbarkeit, die er in der Erzeugung immer neuer Systemkonzepte schon in der Periode des deutschen Idealismus bewiesen hat, verdankt der transzendentale Idealismus der fruchtbaren Widersprüchlichkeit des sich auf die Totalität seiner Inhalte notwendig beziehenden, sie als eine Welt von sich unterscheidenden und dennoch als s e i n e Welt aus seiner eigenen Einheit erzeugenden Ichs. Freilich wird diese Fruchtbarkeit nur sichtbar, wenn man sich nicht auf das abstrakte Schema dieser Beziehung einschränkt, sondern die ganze enzyklopädische Mannigfaltigkeit der Inhalte in Rechnung stellt, deren die Beziehung des erkennend-handelnden Ichs zu seiner Welt fähig ist. Schließlich kann der skizzenhafte Hinweis auf den problemgeschichtlichen Hintergrund des transzendentalen Idealismus bei Leibniz, Wolff, Locke oder Tetens auch ein meines Erachtens viel zu wenig beachtetes Faktum verdeutlichen: das Erfordernis, die Widerspruchsstrukturen in der Beziehung von Subjekt und Objekt, Ich und Welt auf grundlegend neue Art zu begreifen, wurde der nachkantischen und vor allem der hegelschen Philosophie durch Probleme aufgedrungen, die ihr ebensosehr durch die kantische Philosophie, wie davon unabhängig und parallel dazu durch die vorkantische, vor allem die Leibniz-Wölfische Philosophie vermittelt worden sind. Die durch Kant nur zugespitzte, in der „Kritik der reinen Vernunft" allerdings eklatierende Logik der Probleme hat ein neues Begreifen der Widersprüche und eine neue Art des Umgangs mit dem Widerspruch selbst provoziert. Wenn die vorstehenden Überlegungen dem Leser den philosophisch zwingenden Charakter dieser Provokation und der hegelschen Dialektik als Antwort darauf ein wenig einleuchtender gemacht haben, haben sie, soweit es mich betrifft, ihren Zweck erreicht. 1

2

3

Kritik der reinen Vernunft A 3 6 9 f f „ Β518ff.; Prolegomena IV 282f., 285f., 289f., 290-94; 337, 29 ff. - im folgenden wird die „Kritik" ohne weitere Angaben nur mit Seitenzahl nach der ersten und zweiten Auflage zitiert, römische und arabische Ziffern beziehen sich, wie üblich, auf die Akademie-Ausgabe. S. besonders Β294-315; vgl. auch den zweiten Teil der transzendentalen Deduktion nach B, §§22-27 und das Schematismuskapitel. S. bes. Β 518 ff., 525 ff., 545 ff., 587-595.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

229

- „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich"? 5 - „Wie ist Natur selbst möglich?" 6 und die eben deshalb das Herzstück des transzendentalen Idealismus im weiteren Sinne ausmacht: sc. die Theorie einer Beziehung a priori des Vorstellungs- oder Erkenntnisvermögens auf seine Gegenstände. 1772 taucht die Idee einer solchen Wissenschaft als Problem erstmals auf, und wenigstens einige der zentralen Momente der späteren Lösung - die Idee einer Kritik der reinen Vernunft als Kritik des Vernunftvermögens selbst, die Kategoriensystematik - werden auch bereits angedeutet7. Aber es gibt noch keinerlei Hinweis auf das für den künftigen transzendentalen Idealismus systemkonstitutive Moment, das Selbstbewußtsein. Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption als „höchster Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik . . . heften muß" (B 134), mußte erst noch entdeckt werden 8 . Und erst in dieser Entdeckung - und nicht schon in der Kategoriensystematik für sich genommen - steckt die systematische Grundidee des transzendentalen Idealismus, daß das Selbstbewußtsein oder der Verstand durch verschiedene begriffliche Verfahren, ihm gegebenes Mannigfaltiges in bestimmter Weise aufeinander zu beziehen, zu trennen und sich dadurch in bestimmter Weise bewußt zu machen und zu denken, zugleich der Urheber der Bestimmtheit und Gegenständlichkeit dieses Mannigfaltigen der Form nach ist. Denn die Idee des Verstandes als Urheber der Gegenständlichkeit und der Grundgesetze der Gegenstandswelt, die er vermittels „transzendentaler Handlungen" der Form des Denkens nach selbst schafft, in Verbindung mit der Idee, durch solchen a priori-Gegenstandsbezug alle ,materiale Wahrheit' des Erkennens, die Möglichkeit einer empirischen Gesetzeswissenschaft von der Natur und eben damit auch die materielle Unabhängigkeit der Natur oder Gegenstandswelt vom erkennenden Verstand erklären' und das Humesche Problem lösen zu können, war nur

4

X 130. Prolegomena § 5, IV 275-280 und KrV Β 12-21. 6 Prolegomena §36, IV 318. 7 Χ 129-132. 8 Nicht zuletzt mit dem Fehlen dieses Zentralstücks ist es zu erklären, daß die Fertigstellung der Kritik der reinen Vernunft, die Kant doch im Februar 1772 „binnen drei Monaten" herauszubringen hoffte, sich solange hinausgezögert hat. Kant scheint seine Entdeckung erst sehr spät, vermutlich erst nach dem Erscheinen von Tetens' „Versuchen" (1777) gemacht zu haben; dazu s. die Abschnitte 12 und 16 f. im Text. ' Bei der Lektüre von Tetens und der dadurch veranlaßten erneuten Beschäftigung mit der Apperzeptionslehre von Leibniz und vor allem von Wolff scheint Kant, wie ich zu zeigen hoffe, ein weiteres „Licht" aufgegangen zu sein. Diese Theorie erlaubte, die bis dahin noch als disjecta membra unverbundenen Probleme der entstehenden Kritik der reinen Vernunft stringent aufeinander zu beziehen. - Den Zustand, indem sich die neue 5

230

Burkhard Tuschling m ö g l i c h unter d e r V o r a u s s e t z u n g , daß sich d a s B e w u ß t s e i n in allen seinen V o r s t e l l u n g e n . i m m e r nur auf sich selbst' u n d i h m g e g e b e n e , G e g e n s t ä n d e ' (eben das M a n n i g f a l t i g e seiner V o r s t e l l u n g e n , d a z u aus i h m selbst s t a m m e n d e F o r m e n des A n s c h a u e n s u n d D e n k e n s ) , niemals aber auf D i n g e an sich s e l b s t bezieht, die, w i e K a n t w e n i g später sagt, w e d e r a p r i o r i n o c h a p o s t e r i o r i e r k a n n t w e r d e n können 1 0 .

Aufgrund dieser Überlegungen kann schließlich auch gesagt werden: „Transzendentaler Idealismus" bedeutet zu allererst die a priori notwendige und transzendentale Beziehung der Apperzeption auf das Mannigfaltige aller möglichen empirischen Anschauungen überhaupt, d. h. diejenige Beziehung, deren Notwendigkeit durch die transzendentale Deduktion erwiesen worden sein soll 11 ; oder auch dasjenige Zusammenwirken von Apperzeption, Einbildungskraft, Anschauungsformen und empirischem Mannigfaltigen, das den obersten Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori enthält12. Daher bezieht sich die Behauptung von ,Widersprüchen im transzendentalen Idealismus' auch auf diese Beziehung und erstreckt sich damit - ihre Wahrheit einmal unterstellt - kraft der systematisch grundlegenden Stellung dieser Beziehung auf das Gesamtsystem der Behauptungen der theoretischen Philosophie Kants.

2.

Unter ,Widersprüchen im transzendentalen Idealismus' verstehe ich danach zunächst einmal das Auftreten sich kontradiktorisch zueinander verhaltender Behauptungen in der „Kritik der reinen Vernunft", die in der oben angegebenen Beziehung der Apperzeption auf ihren g e g e n ständ' a priori gründen. Nicht gemeint sind also wirkliche oder vermeintliche Kontradiktionen, die auf nachlässigen Umgang Kants mit seiner Terminologie oder überhaupt auf nachlässigen Sprachgebrauch zurückzuführen sind. Es geht allein um solche Widersprüche, die in Wissenschaft der Kritik der reinen Vernunft befand, als Kant im Begriff war, diese Entdeckung zu machen (vgl. X X V I I I 274, 23-30, dazu Heinze und Lehmann ebd. 1345 f.), kann man vielleicht noch in der Metaphysik L 1 erkennen: vgl. ebd. 187, 233 f., 238-244, 265-268, 274. 10 11 12

Prolegomena § 14. KrV §20 u. 26. Β 197.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

231

s y s t e m a t i s c h e n G r u n d a n n a h m e n K a n t s im o b e n skizzierten Sinne enthalten sind o d e r aus ihnen entwickelt w e r d e n k ö n n e n und

daher,

Zumindestens im systematischen R a h m e n des transzendentalen Idealism u s , n o t w e n d i g sind. E i n e - sei es „ f o r m a l l o g i s c h e " , sei es sonstwie inhaltliche - B e w e r t u n g ü b e r A u s s c h l u ß o d e r das , z u - V e r m e i d e n ' v o n W i d e r s p r ü c h e n - im üblichen Sinne des auch von K a n t geteilten Verständnisses des „Satzes v o m a u s g e s c h l o s s e n e n W i d e r s p r u c h " 1 3 - ist mit der Feststellung des A u f t r e t e n s solcher K o n t r a d i k t i o n e n zunächst n o c h nicht verbunden. Ich m ö c h t e vielmehr wie folgt v o r g e h e n : In einem ersten Schritt (3-11) soll das Auftreten solcher Kontradiktionen in zentralen Kontexten der „Kritik der reinen Vernunft" überhaupt gegen mögliche Zweifel begründet nachgewiesen werden; dazu beziehe ich mich zu allererst auf das Lehrstück von den sog. „Analogien der Erfahrung" im Rahmen des Systems der Grundsätze des reinen Verstandes. In einem zweiten Schritt (12-17) möchte ich zeigen, daß die spezifische Konstellation des transzendentalen Idealismus und damit auch der in ihm enthaltenen Widersprüche aus der Verbindung der kritisch berichtigten Apperzeptionstheorie Christian Wolffs mit einem vor allem Locke verpflichteten empiristischen Grundkonzept der Beziehung des Vorstellungsvermögens auf seine Gegenstände resultiert. Und erst in einem dritten und letzten Schritt (18-Schluß) will ich die fraglichen Kontradiktionen bewerten und zu zeigen versuchen, daß sie Ausdruck und Folge zugrundeliegender kontradiktorischer Sachverhalte, daher notwendig und unvermeidlich sind; daß eben deshalb eine Revision der auch von Kant geteilten Auffassung der Logik und speziell die Ersetzung des Prinzips des ausgeschlossenen durch ein Prinzip des eingeschlossenen Widerspruchs erforderlich ist; und daß mithin Hegels Logikverständnis, speziell seine sog. Reflexionslogik, eine genuine Entwicklung und „Aufhebungsform" des kantischen transzendentalen Idealismus ist, deren Nachvollzug notwendig ist, nicht nur, um ein angemessenes Verständnis der „Kritik der reinen Vernunft", sondern vor allem auch der dort unter den Titeln der „Analogien der Erfahrung" verhandelten Sachverhalte zu gewinnen.

13

Vgl. dazu den Beitrag von Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs in der Kritik der reinen Vernunft. - Meine eigenen, nachstehend wiedergegebenen Überlegungen bauen auf dem Logikverständnis auf, das Wolff in seiner Monographie „Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels", Königstein/Ts. 1981, entwickelt hat.

232

Burkhard Tuschling

3. D e n „Analogien der E r f a h r u n g " k o m m t innerhalb des Systems der „ G r u n d s ä t z e des reinen Verstandes" eine Sonderstellung zu. Sie beruht darauf, daß allein die „ A n a l o g i e n " die Verhältnisse im Dasein der empirischen Gegenstände einer Formalstruktur a priori unterwerfen, „die eigentlichen N a t u r g e s e t z e " heißen 14 und die G e s e t z g e b u n g s k o m p e tenz des Verstandes für die N a t u r erhärten können. E s erscheint deshalb gerechtfertigt, die Untersuchung mit ihnen zu beginnen 15 . In der zweiten Auflage der „Kritik der reinen V e r n u n f t " hat Kant mit der Behauptung, das Q u a n t u m der Substanz werde „in der N a t u r weder vermehrt noch vermindert", in die Formulierung der ersten Analogie eine Präzisierung bzw., so scheint es, sogar ein inhaltlich neues M o m e n t hineingebracht, das mindestens zwei gravierende Einwände auf sich zieht. Erstens: Wie soll die Erhaltung des Gesamtquantums der Substanz in der N a t u r jemals Gegenstand empirischer Erkenntnis oder überhaupt empirisch nachweisbar sein? 16 D e n empirischen Charakter von besonderen Erhaltungssätzen wie Kants 1. A n a l o g i e o d e r v o n E r h a l t u n g s s ä t z e n g a n z allgemein z u bestreiten ist w o h l g e m e r k t nicht g l e i c h b e d e u t e n d d a m i t , die E x i s t e n z v o n e m p i r i s c h e r f o l g r e i c h e n V e r f a h r e n der B e s t i m m u n g s o l c h e r E r h a l t u n g s g r ö ß e n z u l e u g n e n . E m p i r i s c h nicht g e d e c k t u n d schlechterdings a u c h nicht b e l e g b a r ist die in E r h a l t u n g s s ä t z e n stets involvierte - u n d f ü r die Praxis s o l c h e r V e r f a h r e n s t i l l s c h w e i g e n d a n g e n o m m e n e - E x t r a p o l a t i o n in die Z u k u n f t , die u n b e s c h r ä n k t e A l l g e m e i n h e i t o d e r T o t a l i t ä t unendlich vieler Realisie14

15

16

IV 307, 29; aus demselben Grunde kann Kant auch vom Substanz-Grundsatz sagen, er stehe „an der Spitze der reinen und völlig a priori bestehenden Gesetze der Natur" (B227). Erst die „Analogien der Erfahrung", beginnend mit ihrem „Prinzip", machen aus Anschauungen oder Wahrnehmungen durch Notwendigkeit der Verknüpfung „Erfahrung" im prägnanten Sinne (B 218 ff.). Erst dank ihrer - und in deutlich anderer Weise als dank der vorangegangenen „Axiome der Anschauung" und „Antizipationen der Wahrnehmung" - entsteht aus zerstreuten subjektiven Vorstellungen Objektivität und Notwendigkeit der Erkenntnis, Kontinuität und Gesetzmäßigkeit im Wechsel der Erscheinungen, ihr Zusammenhang in einer Natur dem Dasein nach. Vom „Prinzip derselben" sehe ich dabei ebenso ab wie von dem problematischen Zusammenhang der drei Analogien untereinander. Zur Frage der Wahrnehmbarkeit der Substanz, die er prinzipiell bejaht, vgl. H. J. Paton, Kant's Metaphysic of Experience, 19512, Bd. 2, S. 205 ff. Die Quantum-Formel hält Paton schon deshalb für unentbehrlich, weil andernfalls die erste Analogie eine leere Behauptung wäre. Allerdings hält auch Paton unterschiedliche .empirische Verkörperungen' für möglich und legt sich im übrigen bezüglich der Gültigkeit von Kants Argumentationen in der ersten Analogie nicht abschließend fest.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

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rungsfälle der jeweils behaupteten Naturkonstanz. Und speziell für Kant gilt: die Bezugnahme auf ein Gesamtquantum des Daseins ist problematisch, weil es nicht Gegenstand möglicher Erfahrung und daher als solches auch nicht quantitativ bestimmbar ist; weil sie mit der Idee der quantitativen Bestimmtheit der Totalität des empirischen Daseins gegen Kants Behauptung der Nichtabschließbarkeit der empirischen Synthesis verstößt; oder schließlich weil ihr Relatum, das absolute Ganze aller Erscheinungen, „nur eine Idee, . . . ein Problem ohne alle Auflösung" ist (KrV Β 384). Im übrigen ließe sich zeigen, daß die durch die Quantumformel aufgeworfenen Probleme dieselben sind wie diejenigen, die der AtherWärmestoff des opus postumum aufwirft17. - Erhaltungssätze sind deshalb - so wird man auch unabhängig von Kants Systematik sagen können - nichtempirische Sätze, aus denen empirische Sätze gefolgert werden können.

Zweitens: Diese Möglichkeit einmal unterstellt - bedeutet diese Aussage nicht eine allzu enge Verknüpfung der transzendentalen Theorie mit bestimmten Ergebnissen der Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts? Wie, wenn sich die Position der Naturwissenschaft hinsichtlich Art und Wert der Erhaltungsgröße ändert, so wie sie sich ja in der Tat seit den Tagen Kants geändert hat 18 ? Es wäre keine Lösung, diese Quantum-Formel als einen unglücklichen Zusatz' der zweiten Auflage entschärfen zu wollen. Dagegen haben schon Paton u. a. geltend gemacht^ daß diese Präzisierung für die erste Analogie selbst, aber auch für ihre Beziehung zu Lehrsatz 2 der Mechanik der M A unentbehrlich ist". Zudem wären die Schwierigkeiten durch Vernachlässigung oder Eliminierung der Quantum-Formel nicht zu vermeiden; denn dieselben Schwierigkeiten, die den Begriff eines konstanten Quantum der Substanz im ganzen der Natur betreffen, betreffen ganz unabhängig davon auch den Begriff der Substanz selbst.

18

Vgl. Tuschling, Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum, 1971, bes. S. 1 7 0 - 1 8 4 . Einen Ausweg versucht v. Weizsäcker, Kants ,Erste Analogie der Erfahrung' und die Erhaltungssätze der Physik, in: Kant . . . hrsg. von Prauss, 1973, S. 151 ff. Zur Problematik solcher Interpretationen s. weiter unten im Text.

19

A . a . O . S . 2 0 7 f f . ; vgl. auch M A in IV 537ff., besonders 540, 35ff. und 541, 3 2 f f .

17

234

Burkhard Tuschling 4. D i e S u b s t a n z in der E r s c h e i n u n g ist nach K a n t das Unwandelbare im Dasein der Erscheinung (B 183); das in den Gegenständen der Erfahrung anzutreffende Substrat der empirischen Vorstellung der Zeit, der empirischen Zeitbestimmung, allen Wechsels, das als solches immer dasselbe bleibt (B225, 183); das Beharrliche in den Erscheinungen, d.h. „der Gegenstand selbst" (A182, Β226); eine Erscheinung, deren Dasein zu aller Zeit wir voraussetzen (B228); das erste Subjekt der Kausalität allen Entstehens und Vergehens im Felde der Erscheinungen (B251); stehende und bleibende Anschauung (A350); beharrliches Objekt der sinnlichen Anschauung (B 800); beharrliches Bild der Sinnlichkeit und nichts als Anschauung (B 553 f.). In diesen A n g a b e n sind eine ganze Reihe kontradiktorischer B e s t i m -

m u n g e n des B e g r i f f s einer S u b s t a n z in der E r s c h e i n u n g enthalten.

5. D e r g r u n d l e g e n d e W i d e r s p r u c h besteht darin, daß die S u b s t a n z in der E r s c h e i n u n g nach K a n t s V o r a u s s e t z u n g n o t w e n d i g e r w e i s e selbst ( G e g e n s t a n d der) A n s c h a u u n g ist und nicht ist, nicht sein kann. Ersteres ergibt sich schon aus der allgemeinen Begriffsbestimmung der Kategorien als ,Begriffe in einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen als bestimmt angesehen wird" (B 128). Es folgt ferner aus dem zweiten Schritt der transzendentalen Deduktion, demzufolge „die reinen Verstandesbegriffe, selbst wenn sie auf Anschauungen a priori . . . angewandt werden, nur sofern Erkenntnis (liefern), als diese, mithin auch die Verstandesbegriffe vermittels ihrer auf empirische Anschauung angewandt werden können" (§22, Β 147), mithin die einzelne empirische Anschauung, vermittelt über die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft (§24, bes. Β 151/52) bestimmen; aus dem Schematismus, der die reinen Verstandesbegriffe „restringiert", aber eben dadurch auch zu allererst „realisiert" (B 185/86). Und speziell folgt dies aus dem Schema der Substanz, der „Beharrlichkeit des Realen in der Zeit", der „Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt" ; aus der Bestimmung der Substanz, das der Zeit im Dasein der Erscheinungen korrespondierende Unwandelbare zu sein (B183); d.h. aus der Idee einer qualitativen Differenz im

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Dasein der Erscheinungen, nämlich der Unterscheidbarkeit des Wandelbaren und des Unwandelbaren dem Dasein nach (ebd.) bzw. zweier spezifisch verschiedener Arten zu existieren, nämlich der Subsistenz (Dasein als bleibender, beharrlicher Gegenstand) und der Inhärenz (Dasein als bloße wechselnde Bestimmung eines anderen): „Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst und das Wandelbare, als dessen bloße Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existiert" (A182; vgl. auch Β 106 und Β 226/7). Die Schematisierung der Substanzkategorie läuft daher auf die Behauptung hinaus, daß die Unterscheidung der vorkantischen Metaphysik zwischen Subsistenz und Inhärenz eine empirisch gehaltvolle, in den Gegenständen der Erfahrung selbst anzutreffende Unterscheidung sei, sich eben darin aber auch der erkenntnisliefernde Gebrauch dieser metaphysischen Begrifflichkeit erschöpfe. Schließlich verbindet Kant (B 183, Β 224 ff.) mit der Behauptung der Unterscheidbarkeit dieser sich qualitativ wesentlich voneinander unterscheidenden Formen von empirischem Dasein die Vorstellung, daß diese Unterscheidung bzw. die Existenz des Beharrlichen im Dasein der Erscheinungen Grund der Möglichkeit empirischer Zeitbestimmung überhaupt sei - um die nichtwahrnehmbare Zeit empirisch vorstellig machen zu können, muß die Substanz selbst empirisch vorstellbar, Gegenstand der empirischen Anschauung und Wahrnehmung sein, und gelegentlich sagt Kant dies auch einmal unzweideutig20.

6.

N a c h alledem kann nicht zweifelhaft sein, daß von der Substanzkategorie im besonderen gilt, was Kant nicht müde wird, allgemein zu behaupten, daß nämlich „keine Kategorie die mindeste Erkenntnis enthalte oder hervorbringen könne, wenn ihr nicht eine korrespondierende Anschauung, die für uns Menschen immer sinnlich ist, gegeben werden kann"21. Aber ebenso zwingend ergibt sich aus den zitierten und einigen ergänzenden Behauptungen, daß die Substanz nicht Gegenstand der Erfahrung ist und schlechterdings auch nicht sein kann. D e n n wenn die Substanz das bleibende Substrat allen Wechsels (B 183); „immerwährendes Dasein" und „eigentliches Subjekt an den Erscheinungen" (B228);

20

21

Vgl. Β 256, die Formel für die dritte Analogie. O b Β 255 „folglich muß in den Gegenständen der Wahrnehmung, d. i. den Erscheinungen, das Substrat anzutreffen sei . . . " in demselben Sinne zu lesen ist, wage ich nicht zu entscheiden. VIII 198, 24 ff.

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„Substratum aller Zeitbestimmung, folglich auch die Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmungen" ist (B 226) und so allein die Einheit der Zeit und die Identität in allem Wechsel vorstelligmachen kann (B229), so folgt: ihr „Bleiben" selbst, ihre „sempiternality" (Bennett), ist nicht mehr erfahrbar; sie selbst, da Subjekt (an) der Erscheinung, ist nicht Erscheinung; da Grund allen Bestimmens empirischer Zeitverhältnisse ist sie selbst kein Gegenstand empirischer (Raumes- und) Zeitbestimmung. Und schließlich: insofern sie als ewiges Substrat empirischer Zeitbestimmung Begriff der Identität, Kontinuität, Homogenität und Einheit des physikalischen Raums und der physikalischen Zeit ist, transzendiert sie notwendigerweise die einzelne empirische Anschauung (auch wenn die Folgen ihrer Wirksamkeit in ihr präsent sein mögen) : das Dasein zu aller Zeit ist als solches ebensowenig wahrnehmbar wie die materielle Identität der Welt (dem Raum und der Zeit nach). Die „Substanz in der Erscheinung' wird schon in den bisher zitierten Bestimmungen 22 zur Idee des dynamisch-materiellen Totums, Weltbegriff oder Idee im Sinne der „transzendentalen Dialektik", notwendiger Begriff, dessen „Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann" 23 . Und sie steigt damit24 zu dem materiellen oder Daseinskorrelat der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, zur

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23

24

D i e ausnahmslos dem K o n t e x t des Schematismuskapitels bzw. der ersten Analogie entnommen sind; deutlicher wird dies dann in der zweiten und vor allem in der dritten Analogie der Erfahrung und schließlich im opus postumum. I V 3 2 8 , 12 ff. - Diese Entwicklung findet also nicht erst, wie ich früher annahm, im opus postumum statt, sondern wird dort nur aufgrund der unermüdlichen Versuche Kants, in die Implikationen seiner Substanztheorie oder seiner dynamischen Theorie der Materie Konsistenz hineinzubringen, offenkundig. A u f jeden Fall ist klar, daß sich Kant mit diesen Bestimmungen in für ihn unauflösliche Widersprüche mit sich selbst verstrickt, die noch zu diskutieren sind. D i e die Systematik Kants sprengenden M o m e n t e dieser Entwicklung sind jedenfalls schon hier deutlich: wenn Begriff und Grundsatz der Substanz aus dem System der Kategorien bzw. Grundsätze des reinen Verstandes herausfallen, werden diese Systeme selbst und schließlich auch der allgemeine Begriff von Kategorie (wie Β 1 2 8 oder etwa A 1 0 5 , 106, 1 0 8 - 1 1 0 entwickelt) grundsätzlich problematisch. D i e korrespondierende Zulassung eines notwendigen Vernunftbegriffs mit konstitutiver Funktion als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung würde die grundlegende Unterscheidung zwischen Analytik und Dialektik, d. h. den transzendentalen Idealismus selbst, aufheben. Implizit wird das schon hier, explizit dann in der dritten Analogie gesagt; s. weiter unten im T e x t .

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237

materiellen „Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmungen" auf.

7.

Die Fülle der damit verbundenen Probleme - ob ein „Beweis" a priori für eine derart grundlegende, transzendentale „Substanz" je gegeben worden ist25; ob er nach kantischen Prinzipien überhaupt möglich ist; welcher Status und systematische Ort einer solchen transzendentalen Daseinslehre oder Dynamik 26 im System der transzendentalen Prinzipien überhaupt zukommen kann usw. - kann hier noch nicht diskutiert werden, ebensowenig die Frage, wie es zu einem derart fundamentalen Widerspruch kommen und wie er Kant zunächst verborgen bleiben konnte27. Zu letzterem nur ein Hinweis: Das Schwanken von Kants Sprachgebrauch indiziert den Widerspruch und sogleich einen Grund der Möglichkeit, warum er Kant verborgen bleiben konnte. Bald spricht Kant vom Beharrlichen „an" oder „in" den Erscheinungen28. Bald ist es eine einzelne Erscheinung selbst, „der wir den Namen Substanz geben". Und schließlich kann Kant - in mehrfach Identität und Nichtidentität von Erscheinung (Gegenstand der Wahrnehmung) und Substanz ausdrükkender Weise - auch noch sagen, die Substanz sei das „Substrat..., welches die Zeit überhaupt vorstellt, und an dem aller Wechsel oder Zugleichsein durch das Verhältnis der Erscheinungen zu demselben in der Apprehension wahrgenommen werden kann." 29 : d.h. das Substrat ist nicht Erscheinung, vielmehr sind die Erscheinungen von ihm ver-

25

26 27

28 29

Kant nimmt dies jedenfalls in Β 227/8 für sich in Anspruch und antizipiert damit im Kern die inhaltlichen wie methodischen Probleme der sogenannten Ätherdeduktionen des opus postumum schon in der ersten Analogie. Vgl. meine Dissertation (s. Anm. 17), S. 183. In letzter Instanz ist er ja auch nicht unentdeckt geblieben: mir scheint inzwischen, daß Kants Entdeckung der fundamentalen Schwierigkeiten der M A und seine im opus postumum unermüdlich unternommenen Versuche, sie zu beheben, in letzter Konsequenz aus der Einsicht in diesen grundlegenden Widerspruch im Begriff von Substanz resultieren und daß Kant sich zunehmend der Tragweite dieses Widerspruchs bewußt geworden ist. B. 225, 226, 227, 228. Β 225.

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schieden; dennoch haben sie, die Erscheinungen, „ein Verhältnis" zu ihm, dem Substrat; und schließlich soll dieses Verhältnis dennoch „in der Apprehension wahrgenommen werden" können, womit das Substrat, seiner wesentlichen Verschiedenheit von den Erscheinungen und seiner transzendentalen Bestimmungsfunktion für die Verhältnisse im Dasein der Erscheinungen zum Trotz, seinerseits erneut zur Erscheinung gemacht wird.30 Die Substanz ist mithin Erscheinung; sie ist nicht Erscheinung; sie ist etwas, was selbst nicht Erscheinung ist, zu dem aber „die" Erscheinungen in einem Verhältnis stehen, das seinerseits wahrnehmbar ist: deutlicher läßt sich Kants Sich-in-Widersprüchen-Bewegen kaum formulieren. Aus einer ganzen Reihe von Gründen jedoch blieben diese Widersprüche Kant zunächst verborgen: Er hat so gründlich wie wohl niemand vor ihm den dem Begriff der Substanz zugrundeliegenden seinerseits widersprüchlichen - Sachverhalt bearbeitet. Ihm fehlten ferner noch wesentliche Hilfsmittel der begrifflichen Bearbeitung solcher Widersprüche (seine Arbeit schuf vielmehr erst die Voraussetzungen für deren Entdeckung). Und schließlich gab er sich, vollbeschäftigt mit der Herausarbeitung der transzendentalen Funktion des materiellen Substrats für die Bestimmbarkeit von Erscheinungen durch die Apperzeption zum Zwecke möglicher Erfahrung, mit dem traditionellen Begriff von Substanz — Identifikation des Dingbegriffs mit dem Substanzbegriff, daraus resultierende Verknüpfung des Begriffs von Substanz mit,einzelner körperlicher Substanz', Vorstellung von der Welt als aus einer unendlichen Vielzahl von Substanzen bestehend - zufrieden.31 Denn es war ihm wesentlich darum zu tun, die objektive und transzendentale Unentbehrlichkeit des Substanzbegriffs für Erfahrung und Wahrnehmung gegen Locke und vor allem gegen Hume nachzuweisen, der den

30

31

Vgl. Kants Versuche im opus postumum, mit der Konzeption von „Erscheinungen von Erscheinungen" oder der sogenannten Erscheinungsstufung mit diesem Problem fertig zu werden ( X X I I 319 ff. u.ö.). Vgl. Descartes, Meditationen, Antwort auf die zweiten Einwände, Ausgabe von A d a m und Tannéry Bd. VII 161; Christian Wolff, Ontologia § 7 6 8 : „Ein beharrliches und modifizierbares Subjekt heißt Substanz. Ein Seiendes, was nicht modifizierbar ist, heißt Akzidenz. Der Stein z. B. ist beharrlich . . . und modifizierbar . . . er ist also eine Substanz. U n d jedermann weiß, daß wir ihn deshalb Substanz nennen, weil wir ihn gleichsam als Subjekt beständiger und veränderlicher Bestimmungen v o r s t e l l e n . . . " . Zur Vorstellung der Welt als aus einer unendlichen Vielzahl von Substanzen bestehend vgl. schon propositio 13 der N o v a Diluciadatio, in 1412 f.

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reinen Verstaijdesbegriffen bloß subjektive Notwendigkeit zugebilligt hatte. Daß gerade diese zumindest bis auf Descartes zurückführbare Verbindung des Substanzbegriffs mit dem empirisch faßbaren materiellen Einzeldasein oder Körper problematisch oder gar unhaltbar sein könnte, kam Kant jedenfalls in der „Kritik der reinen Vernunft" noch nicht in den Sinn, weil er die Notwendigkeit der empirischen Sachhaltigkeit der Unterscheidung des „Dings" von seinen vielen „Eigenschaften" in ihren Implikationen eben erst zu entdecken begann.

8.

Wichtige Folgewidersprüche oder in den zuvor genannten bereits enthaltene kontradiktorische Bestimmungen sind noch zu nennen: 1. Die angebliche Zutat der zweiten Auflage - die Behauptung der Erhaltung des Gesamtquantums der Substanz - ist tatsächlich schon in den oben zitierten Bestimmungen, die überwiegend bereits der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" angehören, enthalten, etwa in der Behauptung eines „immerwährenden Daseins des eigentlichen Subjekts an den Erscheinungen" (B 228 = A185) oder in der „Identität des Substratums, als woran aller Wechsel allein durchgängig Einheit hat" (B229 = A186): letzteres meint zweifelsfrei qualitative Homogenität und quantitative Erhaltung. 2. Der Gedanke, daß der Substanzbegriff empirisch überhaupt anwendbar und sachhaltig ist, führt, wie sich aus dem Gesagten ergibt, zwingend zu der Annahme, daß es der Gegenstand der einzelnen empirischen Anschauung (das einzelne empirische Dasein, der Einzelkörper) ist, der sei es selbst beharrt, sei es ,das Beharrliche' „an" oder „in sich" - aber doch in dieser Einzelheit faßbar - enthält. Doch alle Erfahrung lehrt, daß alles empirische Dasein nicht beharrlich, veränderlich, allenfalls für begrenzte Zeit beharrlich ist: weshalb denn auch z.B. Bennett glaubt, Kant umstandslos entgegenhalten zu können, die Substanz sei nicht absolut, sondern nur relativ beharrlich32; was, soweit es das unmittelbar empirisch faßbare Dasein anbetrifft, sicher seine 32

J. Bennett, Kant's Analytic, S. 182 ff., 184.

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Richtigkeit hat. Der Versuch, am Substanzbegriff als empirisch brauchbarem festzuhalten, läuft daher auf dasselbe hinaus wie oben: auf die Annahme von etwas Unveränderlichem, Unzerstörbarem, was dem physischen Körper zugrundeliegt, d. h. auf die Annahme von Atomen oder physischen Monaden, die zwar selbst nicht empirisch faßbar, aber doch mit wahrnehmbaren Phänomenen in unmittelbarer Beziehung stehen sollen. 3. Die Substanz in der Erscheinung ist nicht nur empirische Anschauung und nicht Anschauung, beharrlich und nichtbeharrlich, sie ist auch unendliche Vielzahl und dennoch nur eine einzige: der für Kant, wie gezeigt, schon aus systematischen Gründen 33 zwingende Gedanke, daß der Substanzbegriff - sofern er empirisch überhaupt brauchbar sein soll - auf die einzelne empirische Anschauung und den Einzelkörper beziehbar sein muß, führt natürlicherweise, über die Identifikation der Einzelkörper mit der Substanz vermittelt, zur Annahme einer unendlichen Vielzahl von Substanzen und zur Vorstellung von der Welt als eines ,commercium' einer solchen unendlichen Vielzahl von Substanzen - einer Vorstellung, die Kant seit der „Nova dilucidatio" von 1755 geläufig ist und die er im wesentlichen unverändert in die „Kritik der reinen Vernunft" (vor allem 3. Analogie) und die MA34 übernommen hat. Aber diese wahrnehmbaren Substanzen, von denen zufolge der dritten Analogie jede Wechsel- (oder all-)seitig Grund der Bestimmungen (in) der anderen ist, sind doch einem ständigen Wandel oder Wechsel ihrer Bestimmungen unterworfen; was beharrt, ist allein die - eine, qualitativ und quantitativ mit sich identisch bleibende - Substanz: weshalb auch nicht zufälligerweise der Sprachgebrauch Kants schwankt, bald von Substanzen, bald von der Substanz die Rede ist35 und immer dort, wo von Substantialität, Erhaltung, Identität, Substratfunktion usw. im prägnanten Sinn gesprochen wird, der Singular

33

34 35

Ein weiterer, damit freilich zusammenhängender Grund, ist der empiristisch-distributive Grundansatz der KrV, den Kant von Locke und Hume übernimmt; der in der durchgängigen Auszeichnung der einzelnen empirischen Anschauung resultiert und in der These von der Wahrnehmung als einzigem Charakter der Wirklichkeit (B 273) seinen prägnantesten Ausdruck findet. Zur Nova Dilucidatio vgl. Anm.31, zu den MA IV502 ff., 537-543. Gelegentlich, z.B. B227/A184 oben wird beides sogar miteinander verbunden.

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eindeutig dominiert - besonders deutlich ist dies in der Formulierung von Grundsatz und Beweis in der Fassung von 1787 der Fall, es ist aber auch sonst anzutreffen. 4. Dieser Gedanke, in der Formulierung eines „ersten" oder „letzten" Subjekts, und über den Gedanken eines „Subjekts" der „Handlung", „Kausalität" oder „Kraft" vermittelt (B 249-252), führt von der Vorstellung beharrlicher substantieller Raumerfüllung zur Vorstellung der Beharrlichkeit dynamischer Kraftentwicklung und damit zur Materietheorie der MA und deren Widersprüche hinüber; d.h. im einzelnen a) zur Annahme unendlich vieler eigenbeweglicher Punkte oder Kraftzentren, in Verbindung mit der Annahme der Erhaltung eines dynamischen Wirkungsganzen (Impulsganzen): Erhaltung des Bewegungsquantums oder Impulses in allen mechanischen Bewegungsabläufen im einzelnen wie im Ganzen der Natur 36 ; b) darin enthalten: die „dynamische" Materieauffassung, d.h. die Vorstellung von Materie als eines homogenen, dynamischen Kontinuums unter Ausschluß der Korpuskularvorstellung und der Existenz leerer Räume. - Tatsächlich enthalten die MA jedoch beides, die Kontinuitätsauffassung und, im unvermittelten Widerspruch dazu, die monadologische (oder korpuskulare) Vorstellung. Das Problem von Materie als Kontinuum und als Diskretum bleibt in den MA und letzten Endes auch im opus postumum ungelöst37. c) Schließlich reproduziert die MA-Konzeption von materieller Substanz - die Vorstellung von selbstbeweglichen Teilen der bis ins Unendliche teilbaren Materie38 - den Widerspruch von behaupteter Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit der Substanz in der „Kritik der reinen Vernunft": die ,Anschauung' der Bewegung eines Punktes, von der Kant in Β 292 unter Bezug auf die MA spricht, ist einerseits wörtlich zu nehmen und kann andererseits so nicht verstanden werden: die materielle Substanz, die „Menge des Beweglichen" in einem gege36

37 38

Schon in den MA wird die Idee eines solchen dynamischen Weltganzen (IV 523 f.) gelegendich mit der Vorstellung eines Weltäthers verbunden (ebd. 534). S. ebd. 523 f. und 532 ff. Ebd. 502 f.

242

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benen Volumen 39 , entzieht sich der Mechanik der M A zufolge jeder direkten Schätzung, ist u.a. wegen der unendlichen Teilbarkeit der Materie kein Gegenstand möglicher empirischer Anschauung 40 .

9. Vorläufiges Fazit: die Vorstellung von Substanz als erstem oder letztem Subjekt im Dasein der Erscheinungen, als Garanten der materiellen Identität und Einheit der Erfahrung und ihrer Gegenstände in einer Erscheinungswelt, als Subjekt der Handlung (Kausalität und Kraft) drängt Kant immer wieder in die Richtung der Annahme eines einzigen Materiekontinuums oder Weltstoffs, derart, daß er gelegentlich sogar so weit geht, das Kriterium der Beharrlichkeit der Substanz zugunsten des empirischen Kriteriums der „Handlung" und der Äußerung bewegender Kraft aufgeben zu wollen 41 . Aber die Systematik von Kategorien und Anschauung, das empiristische Konzept von Erfahrung als Sequenz einzelner Anschauungen mit ontologischer Auszeichnung des Bezugs auf den Gegenwartspunkt der singulären empirischen Anschauung als einzigem „Charakter" der Wirklichkeit 42 und schließlich die Furcht, in Spinozismus zu verfallen 43 : all dies motiviert Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" dazu, Substantialität und Einzeldasein miteinander zu identifizieren. So kommt es in der „Kritik der reinen Vernunft" und in den M A zu einem unverbundenen Nebeneinander unverträglicher Auffassungen: der - allein mit dem Systemkonzept des transzendentalen Idealismus kompatiblen - Auffassung von Substanz als Kategorie, d. h. als einem die Anschauung eines Gegenstandes in Ansehung der Funktion des kategorischen Urteils bestimmenden Begriffs; und der ihr widersprechenden Auffassung, der zufolge das Beharrliche, qualitativ

" 40 41 42 43

E b d . 540, 35 ff. E b d . 537, 2 4 - 5 3 8 , 11. Β 249, 250 ff. Β 273. In V I I I 224 F u ß n o t e ist K a n t , im G e g e n s a t z zu Β 2 4 9 - 2 5 2 der A u f f a s s u n g , daß mit der I d e n t i f i k a t i o n v o n S u b s t a n z u n d K r a f t der B e g r i f f der S u b s t a n z g a n z verloren gehe, weil diese I d e n t i f i k a t i o n z u m S p i n o z i s m u s , nämlich z u r A n n a h m e der E x i s t e n z einer einzigen S u b s t a n z in der Welt f ü h r e .

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243

und quantitativ mit sich in allem Wechsel der Erscheinungen identisch Bleibende, nur die Totalität der im (Welt-)Raum wirksamen bewegenden Kräfte ist44, weshalb denn auch diesem dynamisch-beharrlichen Kräftekontinuum die Funktion zugeschrieben werden kann, „Substratum aller Zeitbestimmung", „Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmung" (B 226) und damit materielles Gegenstück und Garant der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption zu sein. Der Terminologie des transzendentalen Idealismus zufolge wäre die Substanz damit nicht Kategorie, sondern - auf die Totalität des Daseins der Erscheinungen bezogene, empirisch nicht darstellbare - Idee und dennoch mit transzendentaler, Erfahrung und ihre Gegenstände ermöglichender, konstitutiver Funktion begabt. Zur Entdeckung, geschweige zu einer begrifflich und theoretisch befriedigenden Bearbeitung dieser Widersprüche kommt es in der „Kritik der reinen Vernunft" nicht.

10.

Ein Aspekt der Widerspruchsstruktur, die Begriff und Grundsatz der Substanzerhaltung schon in der „Kritik der reinen Vernunft" charakterisiert, bedarf noch besonderer Erwähnung: Kant macht sich anheischig, etwas, was eigentlich bloß empirisch ist, a priori beweisen zu wollen, oder kurz: einen Existenzbeweis a priori zu führen, also etwas zu tun, was nach Prinzipien seines transzendentalen und eben deshalb nicht „dogmatischen" Idealismus ein Unding ist. 44

Erklärung 5 der Dynamik der MA zufolge heißt „materielle Substanz" jeder eigenbewegliche Teil der Materie, folglich existieren, der unendlichen Teilbarkeit der Materie entsprechend, unendlich viele materielle Substanzen (IV502 f.); in Lehrsatz 2 der Mechanik (IV 541) heißt es dann, „bei allen Veränderungen der körperlichen Natur" bleibe „die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert"; und aus dem vorhergegangenen Lehrsatz 1 der Mechanik schließlich ist zu entnehmen, daß unter der Erhaltung dieser Quantität allein die Erhaltung des Produkts aus Masse und Geschwindigkeit und jedenfalls nicht unmittelbar die Erhaltung der in einem gegebenen Raum enthaltenen eigenbeweglichen Teile der Materie zu verstehen ist. Es gelingt Kant an keiner Stelle, dem Gedanken der Erhaltung der Substanz der einzelnen empirischen Anschauung oder des empirischen Einzelkörpers einen bestimmten Inhalt zu verschaffen. Bei dem Versuch dies zu tun, tritt in der Dynamik der MA an die Stelle jenes Gedankens immer wieder die noch unbestimmte Beziehung auf eine einzige allgemeine dynamische Weltmaterie (vgl. nochmals IV 523-525 und 532-534).

244

Burkhard Tuschling Im opus postumum hat Kant ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Paradoxic und die den Bestand seines Systems bedrohende Gefährlichkeit eines solchen Unternehmens entwickelt; in unzähligen Anläufen versucht er zu zeigen, daß dennoch möglich ist, was nach seinen eigenen Prinzipien eigentlich nicht möglich sein darf, nämlich das eigentlich Empirische a priori zu antizipieren; die Erfahrung quoad materiale zu antizipieren, aber dies wiederum auch nur formaliter - weil ja eben eine vollständige, auch materiale Antizipation der Erfahrung die Grenzen zwischen transzendentalem und dogmatischem Idealismus, zwischen Erkenntnis a priori und empirischer Erkenntnis einreißen würde - ein Resultat, das den transzendentalen Idealismus wiederum ad absurdum führen würde". In der „Kritik der reinen Vernunft" ist die Sensibilität für dieses Problem wenn nicht so ausgeprägt, so doch durchaus vorhanden 46 . Vorhanden aber ist vor allem auch das Problem, nicht nur im Fall der sog. „Antizipationen der Wahrnehmung", sondern auch und erst recht in den drei „Analogien der Erfahrung"; und hier allerdings scheint sich Kant weitestgehend über den die Grundlagen seines transzendentalen Idealismus in Frage stellenden Charakter seiner „Beweise" im unklaren zu sein. Bezüglich der ersten Analogie dürfte dies aus dem bislang Gesagten bereits hinreichend klar geworden sein. Es wird bewiesen, oder besser: es wird postuliert, daß das empirische Mannigfaltige, der Substanz seines Daseins nach, quantitativ und qualitativ mit sich identisch bleibt, bzw. daß im Ganzen der Erscheinungswelt Dinge der Substanz nach weder entstehen noch vergehen. Daß dies auf einen Existenzbeweis a priori hinausläuft, dessen ist sich Kant durchaus bewußt, wenn er schreibt: „ . . . man hätte beweisen müssen, daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Daseins ist. Da aber ein solcher Beweis niemals dogmatisch, d. i. aus Begriffen geführt werden kann, weil er einen synthetischen Satz a priori betrifft, und man niemals daran dachte, daß dergleichen Sätze nur in Beziehung auf mögliche Erfahrung gültig sind, mithin auch nur durch eine Deduktion der Möglichkeit der letzteren bewiesen werden kann; so ist kein Wunder, wenn er zwar bei aller Erfahrung zum Grunde gelegt..., niemals aber bewiesen worden ist". (B227f.) Nicht bewußt scheint er sich zu sein, daß ein solcher Beweis auch im Rahmen einer nach kritischen Prinzipien verfahrenden Metaphysik nicht geführt werden kann, jedenfalls nicht mit der Strenge und Vollständigkeit, die erforderlich ist, um die Gesetzgebungskompetenz des Verstandes für die Naturidentität und Natureinheit auch dem Dasein nach zu beweisen.

45

46

XXI 221, 2ff.; 222, 2ff.; 226, 2ff.; 237, 5ff.; 538, 3ff.; 540, 13ff.; 545f.; 559, 5ff.; 563, 17ff. bis 565, 15; 571-575; 576, 2-579; 581, 4ff. usw. durchgängig bis 603/605. Im Zusammenhang mit den „Antizipationen der Wahrnehmung", die das Problem ja schon im Titel beim Namen nennen, macht Kant sich dazu Gedanken: Β 208 f.

W i d e r s p r ü c h e im t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s

245

Hiergegen müßte nun von einem Interpretationsstandpunkt aus, der sich die Herausarbeitung größtmöglicher Konsistenz in der Auffassung des transzendentalen Idealismus zum Ziel setzt, eingewandt werden, daß natürlich auch hier das Eigentlich-Empirische, Materiale oder Dasein auch nur „formaliter" antizipiert werde; und daß mithin in der ersten Analogie nicht mehr gesagt werde als dies : wenn Erfahrung möglich sein soll, so gilt notwendig „bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz und das Quantum derselben usw.": ob Erfahrung möglich sei, mithin ob die Substanz beharre und ob in allen Erscheinungen das Beharrliche enthalten sei - , darüber werde materialiter erst im aktuellen Erfahrungsvollzug entschieden, insoweit und insofern könne und solle hier gar kein Existenzbeweis a priori geführt werden. Eine solche Auffassung liegt ausgesprochen oder unausgesprochen all denjenigen Interpretationen zugrunde, die glauben, Begriff und Grundsatz der Substanzerhaltung bei Kant seien mit dem Wechsel des historischen Wissens und Erfahrungsinhalts wechselnder ,empirischer Verkörperungen' oder ,Interpretationen' bedürftig und fähig und die in einem solchen Interpretationsansatz die willkommene Möglichkeit sehen, Kant aus der Identifikation mit der Naturwissenschaft seiner Zeit zu lösen und die „Kritik der reinen Vernunft" als aufnahmefähig auch für die revolutionären Entdeckungen der Physik des 20. Jahrhunderts zu erweisen47. So ehrenwert, plausibel und an sich einzig vernünftig eine solche Interpretationsstrategie auch sein mag, es scheint, als ob sie gerade dadurch, daß sie retten will, endgültig zerstört. Denn der 1. Analogie für sich genommen wie ihrer engen Verbindung mit der Materietheorie der „Metaphysischen Anfangsgründe" ist zu entnehmen, daß Kant hier wörtlich genommen werden muß. ,Die Substanz ist beharrlich' ist für ihn gleichbedeutend mit ,In jedem Einzelkörper ist unveränderliche und deshalb auch unzerstörbare materielle Substanz enthalten' und dies wiederum mit Jeder Einzelkörper ist aus unzerstörbaren materiellen Kraftzentren oder eigenbeweglichen Punkten aufgebaut, deren Bewegung die Substanz in der Erscheinung vorstellt.' Nun mag man zwar zeigen können, daß auch diese kantischen Behauptungen - über allerlei Äquivalenzen, die die moderne Physik 47

Vgl. Paton a . a . O . S . 2 0 9 ; von Weizsäcker a . a . O . und auch den Beitrag von Gerd Buchdahl in diesem Band.

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entdeckt hat, vermittelt — mit der Behauptung der Energieerhaltung oder dergleichen äquivalent sind. Das aber macht den ad-hoc-Charakter dieser Rettungsversuche nur noch deutlicher. Denn selbst wenn man als möglich unterstellt, die Theorie der Analogien der Erfahrung durch Preisgabe der Materietheorie der M A zu retten (die der Autor doch als ein systematisches Ganzes begriffen hat), läßt sich das Hauptproblem nicht ausräumen. Während nämlich physikalische Theorien, die die Erhaltung irgendwelcher Größen behaupten, die Konstanz dieser Größen aufgrund mathematischer Berechnungen und physikalischer Meßverfahren extrapolieren, behauptet Kants transzendentaler Satz, ohne sich auf solche Verfahren stützen zu können, viel mehr: die qualitativquantitative Identität des in aller Erfahrung Gegebenen, das den Raum und die Zeit kontinuierlich erfüllt und dadurch den formalen Anschauungen (Raum und Zeit), der Einbildungskraft und der Apperzeption (vgl. hierzu Β 1 9 7 ) ein einziges Feld durchgängiger Bestimmbarkeit darbietet. Dieser Gedanke findet weder in der Idee wechselnder empirischer „Verkörperungen" der Substanz noch in der Annahme, die 1. Analogie behaupte nur die Notwendigkeit des Auftretens von Erhaltungssätzen in physikalischen Theorien überhaupt, angemessenen Ausdruck. U n d umgekehrt kann nicht unterstellt werden, die Physik des 20. Jahrhunderts habe irgendetwas derartiges bewiesen oder auch nur beweisen wollen. Die transzendentale Pointe der 1. Analogie geht also in jedem Fall verloren. Dieselbe Problematik reproduziert sich in der zweiten und dritten Analogie. In der zweiten: in der Idee einer transzendentalen Zeitordnung, die der Verstand a priori entwirft und der er alles Dasein des empirischen Mannigfaltigen so unterwirft, daß allem Geschehen, allem Wechsel der Bestimmungen der Erscheinungen usw., jedem Ereignis seine Stelle im Gesamtablauf der Zeitfolge a priori bestimmt werden könne 48 . Dabei wird unterstellt, daß sich das vom erkennenden Subjekt unabhängige und eben deshalb bloß empirische Dasein zu dieser Bestimmungsfunktion des Verstandes qualifiziert. In der dritten: in der Idee, daß sich alles Dasein der Verstandes-Synthesis-Regel der Wechselwirkung derart unterwirft, daß ein wirkliches „Kommerzium" der Substanzen, eine einzige, einer kontinuierlich-bruch- und lückenlosen Erfahrung zugängliche Erscheinungswelt dem Dasein nach entsteht. » B. 242 ff.

4

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11. Spätestens im Zusammenhang der dritten Analogie der Erfahrung wird die aporetische Situation deutlich, in die sich Kant mit dem Versuch derartiger Existenzbeweise a priori bezüglich dessen, was eigentlich nur empirisch ist, begeben hat. Einerseits muß er alles daransetzen, um die Möglichkeit der Erfahrung des Zugleichseins auf den Begriff der Wechselwirkung und die aus ihm resultierende Synthesisregel des Verstandes a priori, die zugleich Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung sein soll, zurückzuführen und tut dies auch4'. Zugleich aber wird deutlich, daß die dynamische Gemeinschaft, deren Existenz aus transzendentalen Gründen der Einheit und Kontinuität von Erfahrung und Gegenstandswelt gefordert wird, etwas ist, was a priori nicht bewiesen werden kann: materielle Kontinuität der Wirkung der Substanzen, Ausschluß a priori des leeren Raumes, Homogenität und Kontinuität der dynamischen Wirksamkeit der Weltmaterie als Bedingung der Möglichkeit kontinuierlicher Erfahrung und speziell der Möglichkeit, sich der individuellen Erfahrung und der Erscheinungswelt, die ihr Gegenstand ist, als einer einzigen und damit schließlich irgendeines einzelnen Gegenstands überhaupt bewußt werden zu können - all das sind Voraussetzungen, die aus den Formalismen von Verstand und Sinnlichkeit a priori nicht hergeleitet werden können, ohne den transzendentalen Idealismus aufzugeben. In einer rückblickenden Reflexion über die „Beweisart" dieser „transzendentalen Naturgesetze" sagt Kant: „ . . . in d i e s e m D r i t t e n n u n (sc. der M ö g l i c h k e i t der E r f a h r u n g ) , d e s s e n w e s e n t l i c h e F o r m in der s y n t h e t i s c h e n E i n h e i t der A p p e r z e p t i o n aller E r s c h e i n u n g e n besteht, f a n d e n w i r B e d i n g u n g e n a p r i o r i der d u r c h g ä n g i g e n u n d n o t w e n d i g e n Z e i t b e s t i m m u n g alles D a s e i n s in der E r s c h e i n u n g , o h n e w e l c h e s e l b s t die e m p i r i s c h e Z e i t b e s t i m m u n g u n m ö g l i c h sein w ü r d e , u n d f a n d e n R e g e l n d e r synthetischen Einheit a p r i o r i , vermittels d e r e n w i r die E r f a h r u n g antizipieren k o n n t e n . " ( B 2 6 4 ) .

B. 257: „Folglich wird ein Verstandesbegriff . . . erfordert, um zu sagen, daß die wechselseitige Folge der Wahrnehmungen im Objekt gegründet s e i . . . " ; Β 2 5 9 „ N u n bestimmt nur dasjenige . . . Also muß jede Substanz . . . N u n ist aber alles dasjenige . . . Also ist es allen Substanzen in der Erscheinung, sofern sie zugleich sind, notwendig, in durchgängiger Gemeinschaft der Wechselwirkung untereinander zu stehen."

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Burkhard Tuschling

Hier wird die synthetische Einheit der Apperzeption aller Erscheinungen im zusammenfassenden Rückblick nochmals zur Bedingung der Möglichkeit empirischer Zeitbestimmung überhaupt gemacht, so wie dies in den drei Analogien zuvor in unterschiedlichen Relationen schon der Fall gewesen war. Aber ebenso klar ist: Wenn sich das vom Subjekt unabhängige Dasein des Mannigfaltigen der Erscheinungen nicht zur Subsumption unter die Einheitsfunktionen von Apperzeption und Kategorien qualifizieren würde; wenn es sich nicht als kontinuierlich, sondern als diskret, durch intermittierende leere Räume getrennt, als den Bedingungen der Synthesis, Einheit und Verbindung des Verstandes nicht gemäß erweisen würde - und dies kann durch keinen „Beweis" a priori ausgeschlossen werden, wenn nicht zugleich angenommen wird, was im transzendentalen Idealismus nicht angenommen werden kann und darf, daß nämlich der Verstand eben auch Urheber der Gegenstände der Erfahrung ihrem Dasein nach ist50 - , dann könnte die Apperzeption diese synthetische Einheit aller Erscheinungen nicht bewirken, Natureinheit im ganzen wie Bestimmung irgendeines Erfahrungsobjekts im einzelnen wären unmöglich. Wegen der Wichtigkeit dieser Stelle und angesichts des Umstands, daß die dritte Analogie beinahe durchgängig von der Interpretation außer acht gelassen wird, setze ich den folgenden Kontext in aller Ausführlichkeit hierher: „Unseren Erfahrungen ist es leicht anzumerken, daß nur die kontinuierlichen Einflüsse in allen Stellen des Raumes unseren Sinn von einem Gegenstand zum anderen leiten können, daß das Licht, welches zwischen unserem Auge und den Weltkörpern spielt, eine mittelbare Gemeinschaft zwischen uns und diesen bewirken und dadurch das Zugleichsein der letzteren beweisen, daß wir keinen O r t empirisch verändern (diese Veränderung wahrnehmen) können, ohne daß uns allerwärts Materie die Wahrnehmung unserer Stelle möglich mache, und diese nur vermittels ihres wechselseitigen Einflusses ihr Zugleichsein, und dadurch, bis zu den entlegensten Gegenständen, die Koexistenz derselben (ob zwar nur mit50

Damit wären dann alle Unterschiede zwischen a priori und a posteriori, Denken und Anschauen, Denken und Erkennen, transzendentalem und dogmatischem Idealismus endgültig aufgehoben. A n den in Anmerkung 45 angegebenen Stellen im opus postumum wird mehrfach sichtbar, daß Kant bei dem dort unternommenen Versuch, nun explizit einen Existenzbeweis a priori zu führen, ständig im Begriff ist, die Grenzen des klassischen transzendentalen Idealismus zu überschreiten, so wenn X X I 573, 6 ff. vom Wärmestoff als Erfahrungsgegenstand und als a priori gegebenem Stoff oder 574, 21 ff. als Idee und als Basis möglicher Erfahrung die Rede ist usw.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

249

telbar) dartun kann. O h n e Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (der Erscheinung im Räume) von der anderen abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, würde bei einem neuen O b j e k t ganz von vorne anfangen, ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhänge, oder im Zeitverhältnisse stehen könnte. Den leeren Raum will ich hierdurch gar nicht widerlegen; denn der mag immer sein, wohin Wahrnehmungen gar nicht reichen, und also keine empirische Erkenntnis des Zugleichseins stattfindet; er ist aber alsdann für alle unsere möglichen Erfahrungen gar kein O b j e k t . Zur Erläuterung kann folgendes dienen. In unserem Gemüte müssen alle Erscheinungen, als in einer möglichen Erfahrung enthalten, in Gemeinschaft (communio) der Apperzeption stehen, und sofern die Gegenstände als zugleich existierend verknüpft vorgestellt werden sollen, so müssen sie ihre Stelle in einer Zeit wechselseitig bestimmen, und dadurch ein Ganzes ausmachen. Soll diese subjektive Gemeinschaft auf einem objektiven Grunde beruhen, oder auf Erscheinungen als Substanzen bezogen werden, so muß die Wahrnehmung der einen, als Grund, die Wahrnehmung der anderen, und so umgekehrt möglich machen, damit die Sukzession, die jederzeit in den Wahrnehmungen, als Apprehensionen ist, nicht den Objekten beigelegt werde, sondern diese als zugleich existierend vorgestellt werden können. Dieses ist aber ein wechselseitiger Einfluß, d. i. eine reale Gemeinschaft (commercium) der Substanzen, ohne welche also das empirische Verhältnis des Zugleichseins nicht in der Erfahrung stattfinden könnte. Durch dieses commercium machen die Erscheinungen, sofern sie außereinander und doch in Verknüpfung stehen, ein Zusammengesetzes aus . . . " (B 260 ff.). H i e r wird, ebenso wie im opus p o s t u m u m , Kontinuität, H o m o g e n i tät u n d Identität eines d y n a m i s c h e n K o n t i n u u m s , i m D a s e i n der W e l t m a t e r i e u s w . g e f o r d e r t u n d gezeigt, d a ß die M ö g l i c h k e i t der E r f a h r u n g in d e r T a t v o n dieser t r a n s z e n d e n t a l e n Q u a l i t ä t alles Daseins abhängig ist. U n d i n s b e s o n d e r e w i r d deutlich, daß die Einheitsstiftungs-

oder

S y n t h e s i s f u n k t i o n des D e n k e n s , w i e schließlich a u c h die A p p e r z e p t i o n selbst - der h ö c h s t e P u n k t , an den m a n n a c h K a n t allen V e r s t a n d e s g e b r a u c h heften m u ß - d a v o n abhängig ist, daß sein K o r r e l a t z u s o l c h e r E i n h e i t s s t i f t u n g taugt. D i e o b e n beschriebene A p o r i e ist deshalb für K a n t u n l ö s b a r : E n t w e d e r hält er an der S y n t h e s i s - G e s e t z g e b u n g s f u n k tion des D e n k e n s

fest -

dann m u ß

er n a c h den zitierten

Belegen

n o t w e n d i g e r w e i s e a u c h das D a s e i n v o m V e r s t a n d abhängig m a c h e n , u n d d e r t r a n s z e n d e n t a l e geht in den d o g m a t i s c h e n Idealismus über. O d e r er hält an der U n a b h ä n g i g k e i t des materiellen Substrats der E r s c h e i n u n g e n fest -

d a n n m u ß er zugestehen, daß der V e r s t a n d nicht U r h e b e r der

N a t u r e i n h e i t u n d d a m i t der M ö g l i c h k e i t der E r f a h r u n g ist, s o n d e r n daß

250

B u r k h a r d Tuschling

v i e l m e h r die in d e n A n a l o g i e n d e r E r f a h r u n g b e h a u p t e t e

dynamische

N a t u r e i n h e i t d e m D a s e i n b e r e i t s an sich z u k o m m t : in d i e s e m F a l l g e h t d e r t r a n s z e n d e n t a l e I d e a l i s m u s in einen t r a n s z e n d e n t a l e n R e a l i s m u s ü b e r u n d eben deshalb zugrunde. D a m i t d ü r f t e d e u t l i c h g e w o r d e n sein, d a ß diese i m o p u s p o s t u m u m m a n i f e s t e A p o r i e s c h o n in d e r „ K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t " p r ä s e n t ist. Sie ist in f o l g e n d e r W e i s e als G r u n d w i d e r s p r u c h , z u n ä c h s t d e r A n a l o gien d e r E r f a h r u n g , d a n n a b e r a u c h d e r a p r i o r i - G e g e n s t a n d s - B e z i e h u n g d e r A p p e r z e p t i o n selbst beschreibbar:51 W e n n synthetische Urteile a priori dadurch möglich sind, daß „wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildunskraft und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen A p p e r z e p t i o n auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis überhaupt bezieh e n " (und dadurch Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung identifizieren k ö n n e n ) ; und wenn vermittelt über ein mögliches Erfahrungserkenntnis - d . h . im Fall der Grundsätze der dritten Klasse: über das mögliche einzelne empirische Dasein - eine Beziehung auf die Totalität des Daseins der Erscheinungen hergestellt wird; dann hat die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption, und zwar in Erfüllung ihrer transzendentalen F u n k t i o n e n , eine wesentliche Beziehung auf die Totalität dieses Daseins. W e n n n u n , w i e a n d e r z u v o r z i t i e r t e n Stellen Β 2 6 3 f. g e s a g t , die Bedingungen a priori der durchgängigen und notwendigen Zeitbestimm u n g in d e r s y n t h e t i s c h e n E i n h e i t d e r A p p e r z e p t i o n aller E r s c h e i n u n g e n b e s t e h e n , s o gilt: D i e ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption bestimmt durch Antizipation der Erfahrung die Grundstruktur b z w . die grundlegenden Beziehungen im Dasein der Erscheinungen, damit die Grundgesetze der Erscheinungswelt und ihrer Gegenstände: auf diese Weise ,schreibt der Verstand der N a t u r die Gesetze vor'.

und: Verstand und Apperzeption leisten dies nicht, weil das Dasein, das E i g e n t l i c h - E m p i r i s c h e oder Materie als D i n g an sich selbst ( A 3 6 6 ) nicht antizipiert werden kann. Vielmehr folgt aus der wesentlichen Beziehung, die die Apperzeption auf die Totalität des Daseins hat, gerade umgekehrt dies, daß die Apperzeption ihre transzendentale, Erfahrung und ihre

51

Vgl. zum folgenden KrV Β 196 f.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

251

Gegenstände ermöglichende Funktion nur unter der Bedingung erfüllen kann, daß sich das Dasein des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung an sich selbst in seiner Totalität als kontinuierliches dynamisches Substrat möglichen Bestimmens erweist. Denn nur dann, wenn der leere Raum (und mit ihm die leere Zeit) aus dem Ganzen aller Erfahrung a priori ausgeschlossen werden kann, ist gesichert, daß die ursprünglichsynthetische Einheit der Apperzeption, die Einbildungskraft, die Formen von Raum und Zeit jederzeit ein in diesen Formen synthetisierbares Mannigfaltiges vorfinden oder „realisiert" werden können, wie es im opus postumum heißt. Wenn sich also das Dasein nicht als an sich dynamisch kontinuierlich erweist, sind Erfahrung, Anschauungen in Raum und Zeit, Synthesis der Einbildungskraft und Apperzeption nicht möglich.

Eine Auflösung dieser Widersprüche mit den Mitteln des transzendentalen Idealismus ist, wie schon gesagt, nicht möglich. Denn bei näherem Zusehen erweist sich sowohl der Auflösungsversuch durch Subsumption des Daseins unter die Synthesisfunktions des Denkens als auch umgekehrt die Subsumption der Synthesisfunktion unter eine an sich existierende Gesetzlichkeit der Natur nur als Reproduktion der Widersprüche, die in der Grundstruktur des transzendentalen Idealismus selbst enthalten sind: In der Idee einer Gesetzgebungs- und transzendentalen Konstitutionsfunktion eines erkennenden Subjekts, das doch in aller seiner Erkenntnistätigkeit an die Existenz und kontinuierliche Wirksamkeit eines von ihm unabhängigen und in seiner Unabhängigkeit unerkennbaren Daseins gebunden sein und bleiben soll. Daß wir es ,immer nur mit unseren Vorstellungen zu tun haben' und dennoch vom Gegebensein eines empirischen Mannigfaltigen, das als solches nicht unsere Vorstellung ist, abhängig sein sollen: dies ist der Ausgangsund Rückkehrpunkt des transzendentalen Idealismus und aller seiner Widerspruchsbeziehungen.

12.

Einige der o. a. Probleme, die den Begriff der Substantialität und die Behauptung der Erhaltung der Substanz - als Behauptung einer quantitativ-qualitativen Identität, Kontinuität und Homogenität ein und desselben Daseins oder als Behauptung des Sich-in-allem-Wechsel-und-beialler-Veränderung-seiner-selbst-sich-selbst-Gleichbleibens dieses Daseins - betreffen, teilt die „Kritik der reinen Vernunft" mit der gesamten, zumindest auf Descartes zurückgehenden Tradition, soweit sie über-

252

Burkhard Tuschling

haupt an der Unterscheidung von Substanz und Akzidenzen festhält: daß die Körperwelt aus Substanzen besteht, die durch eine oder einige wenige Grundqualitäten ausgezeichnet sind (Ausdehnung, Kraftentfaltung, Raumerfüllung oder was auch immer), gehört zu den Grundüberzeugungen der Metaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts, an denen Kant auch nach seiner Hinwendung zum englischen Empirismus-Sensualismus nicht rüttelt52. Die mit dem Begriff von „Substanz" unzertrennlich verknüpften Vorstellungen - v o n „etwas, was nur als Subjekt und nicht als bloßes Prädikat existieren kann" 53 ; - oder v o n etwas, das für sich subsistiert und Träger von Akzidenzen ist54; - oder schließlich auch die Vorstellung von einem „beharrlichen und modifizierbaren Subjekt" 55

treffen in striktem Sinne nur auf ein einziges „Subjekt" - Gott oder die Welt insgesamt - zu, weshalb die Tradition notorisch mit dem Problem zu kämpfen hat, dem Begriff der individuellen Substanz, des substantiellen Einzeldings oder der endlichen, geschaffenen Substanz usw. in Abhebung vom Gottes- oder Weltbegriff einen Inhalt zu verschaffen, ohne in den gefürchteten Spinozismus zu verfallen56. Soweit es also um das oben dargestellte Schwanken Kants zwischen diesen beiden Möglichkeiten geht, so wird dies aus seiner Übernahme eines traditionellen Vorstellungssyndroms verständlich, wenn auch noch nicht abschließend erklärt, und es sieht angesichts dieser Tradition so aus, als ob dieser Widerspruch - eines für sich existierenden oder beharrlichen Seienden, das doch nur in der Beziehung auf ein wahrhaft für sich Seiendes oder beharrendes Ganzes existiert - nur dadurch beseitigt werden könnte, daß man mit Locke, insbesondere aber mit Hume auf den Substanzbe-

52

53 54

55

56

Erst im opus postumum stellt Kant auch diese Voraussetzungen seiner Philosophie grundsätzlich in Frage, vgl. dazu meine Dissertation S. 181-189. KrV Β 289. So die von Christian Wolff der „aristotelisch-scholastischen Philosophie" zugeschriebene und von ihm kritisierte Definition von Substanz : Ontologia § 771. Dies Wolffs eigene und dann von Kant in der ersten Analogie durchgängig als richtige Nominaldefinition unterstellte Begriffserklärung, Ontologia §§ 768 ff. Vgl. dazu nochmals Kant VIII 224 Fußnote; Wolff, Ontologia § 771.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

253

griff überhaupt verzichtet, wobei freilich wiederum zu fragen wäre, ob ein solcher Verzicht überhaupt möglich ist". Andere widersprechende Bestimmungen dagegen ergeben sich aus der spezifisch kantischen Konzeption des transzendentalen Idealismus selbst. Insbesondere trifft dies auf die zuletzt exponierte Beziehung von Apperzeption und Dasein, ursprünglich-synthetischer Einheit des Selbstbewußtseins und Welt oder Natur in formal-materialer Bedeutung zu. Um sie sich verständlich zu machen, ist es sinnvoll, sich nochmals die Genese des transzendentalen Idealismus in groben Zügen zu vergegenwärtigen. Der berühmte Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 gilt zurecht als Geburtsbrief des transzendentalen Idealismus, das erste Dokument, in dem die Idee einer „Kritik der reinen Vernunft" von Kant skizziert wird. Aber wie oben schon erwähnt, fehlt noch jeder Hinweis auf das Kernstück des künftigen Ganzen, die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption. Die entscheidende Frage, wie Kant zur Entdeckung dieses „höchsten Punktes" seiner Transzendentalphilosophie gelangt ist, läßt sich mit dem Herzbrief nicht beantworten. Andere Dokumente, denen Zeitpunkt und Umstand dieser Entdekkung mit Sicherheit zu entnehmen wären, liegen nicht vor58. Es ist nicht auszuschließen, daß Kants intensive Beschäftigung mit Tetens59 auch für diese Entdeckung eine entscheidende Rolle gespielt hat. Aber so wichtig Tetens für die Herausbildung des transzendentalen Idealismus im gro57

58

59

Kant ist eben der Auffassung, daß ein solcher Verzicht nicht nur nicht möglich ist, sondern daß der Substanzbegriff als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung unentbehrlich ist. Und dies durchaus zurecht, zumindest was die Unentbehrlichkeit und empirische Sachhaltigkeit des Begriffs eines bestimmten Etwas, das sich aus der empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit durch seine Bestimmungen und Relationen auszeichnet. Auf den Begriff eines bestimmten Gegenstandes der Anschauung und der Wahrnehmung kann nicht einmal der Empirismus verzichten. Weder der v. Duisburgsche Nachlaß noch die Vorlesungen geben darüber Auskunft. Vgl. Theodor Haering, Der Duisburgsche Nachlaß und Kants Kritizismus um 1775, Tübingen 1910, 108 f. (LB1. 8, 35 ff.) u. 148 f. (Kommentar) bzw. Rfl. 4675, speziell die Stelle XVII 651, 13-16: eine erste Andeutung der künftigen zentralen Stellung der Apperzeption, deren Begriff im übrigen noch nicht festliegt; um 1775 noch zumeist svw. ,Selbstwahrnehmung'. J . M . Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bde. Leipzig 1777; zur Bedeutung der Tetens-Lektüre für Kant vgl. Hamanns Brief an Herder vom 17. 5.1779: „ . . . K. arbeitet frisch drauf los an seiner Moral der reinen Vernunft und Tetens liegt immer vor ihm." (J. G. Hamann, Briefwechsel, Bd. 4, hrsg. v. A. Henkel, Wiesbaden 1959, S.81).

254

Burkhard Tuschling

ßen und ganzen wie in manchen Details auch gewesen sein mag60: es ist sicher nicht möglich, die Genese der Idee vom Verstand als Gesetzgeber der Natur und Erzeuger der Form der Gegenständlichkeit der Erscheinungswelt kraft der Einheit seines Selbstbewußtseins und der Kategorien auf einen einzigen Einfluß zurückzuführen, zumal Tetens' „Versuche" für sich genommen gerade für die systematische Grundlegungsfunktion der Apperzeption noch nicht allzuviel hergeben. Tatsächlich ist Tetens für Kant auch nicht als isolierter Autor, sondern als Kritiker einer Tradition interessant, die er - wie Kant selbst - gleichzeitig grundlegend in Frage stellt und kritisch fortsetzt: der der empirisch-rationalen Psychologie Christian Wolffs und seiner Schüler. Bei Tetens fand Kant eine Position, die seiner eigenen Haltung am meisten entgegenkam und die auch für die Kritik der reinen Vernunft charakteristisch ist, einen kritisch- und d. h. vor allem durch Kritik von Seiten des englischen Empirismus bzw. an ihm orientierter Kritiker der Wölfischen Schule61 - über die eigenen Grenzen aufgeklärten Rationalismus, der sich in wichtigen Grundauffassungen an Locke orientiert, in anderen Punkten dagegen an Begriffen und Einsichten Wolffs festhält. Übrigens kommt Wolff selbst einer solchen vermittelnden Position sehr entgegen; gerade auf seine Psychologie trifft die Trennung von Rationalismus und Empirismus oder sogar die einseitige Bezeichnung „rationalistisch" am allerwenigsten zu. Wolffs rationale Psychologie nämlich baut auf seiner empirischen Psychologie nicht nur systematisch auf, sie hat sie, wie er ausdrücklich bemerkt, auch inhaltlich zur Voraussetzung 62 und läßt sich als Kombination von Ergebnissen einer beobachtenden Psychologie (des inneren Sinnes) und Elementen der Leibnizschen Monadenlehre beschreiben. Gerade diese Kombination mußte Wolff für Kant interessant machen in einer Periode, wo er nach Verarbeitung und Übernahme wesentlicher Elemente des Lockeschen Sensualismus und unter dem Eindruck von Tetens' empiristischer Kritik der Psychologie mit demjenigen Problem konfrontiert war, das mit empiristischen Mitteln nicht zu lösen war, das zu lösen Kant sich jedoch vorgenommen 60

61

62

Vgl. dazu H . J . de Vleeschauwer, La Deduction transcendantale dans l'œuvre de Kant, 1936, Bd. 1, S. 299 ff. mit Hinweisen auf ältere Monographien. Vgl. dazu Dieter Henrichs ausführliche Rezension zur zweiten Auflage von Heideggers „Kant und das Problem der Metaphysik", unter dem Titel: Über die Einheit der Subjektivität, in: Philosophische Rundschau 3, 1955, S. 28-69. S. Psychologia Rationalis §3.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

255

hatte: das der Erklärung der Möglichkeit einer a priori-Gegenstandsbeziehung des Vorstellungsvermögens. Es ist eben jene Vereinigung eines empiristischen Sensualismus und einer rationalistischen Konzeption der Beziehung des Ich auf eine ganze Welt, die auch für die Analytik der Kritik der reinen Vernunft charakteristisch ist. Und sie ist es, die, wie ich zu zeigen hoffe, Kant einer erneuten kritischen Beschäftigung mit Wolff verdankt. Es scheint mir deshalb zumindest plausibel anzunehmen, daß Kant durch Tetens zu einer solchen Beschäftigung veranlaßt wurde und daß deren Ergebnisse in die Arbeit an den Problemen des transzendentalen Idealismus im o. a. engeren Sinne bzw. an der entstehenden transzendentalen Analytik eingegangen sind.

13.

Von Wolff und seinen Schülern" konnte Kant vor allem zweierlei lernen oder sogar übernehmen: Erstens eine detaillierte - um nicht zu sagen: systematisch ausgearbeitete - Theorie der Seelenvermögen, ihrer Grundbegriffe, spezifischen Differenzen und ihres Zusammenwirkens". Es ist m. E. nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß Kant die wichtigsten Grundbegriffe und -Vorstellungen seiner Theorie der Seelenvermögen Christian Wolff bzw. einem mit Hilfe seiner empiristischen Kritiker berichtigten Christian Wolff - verdankt 65 . Der ganze psychische „Apparat" des transzendentalen Idealismus wie auch Kants viel kritisierter „Psychologismus"

63

64

65

Hier ist natürlich vor allem an Baumgarten zu denken, dessen „Metaphysica" Kant seinen Vorlesungen als Handbuch zugrunde legte. S. auch die nächste Anmerkung. Hierfür dürfte vor allem Baumgartens Einfluß wichtig sein: innerer und äußerer Sinn, Apprehension, Gedächtnis, (re-)produktive Einbildungskraft, Rekognition und Reflexion: all das fand Kant in abstrakt-systematischer Übersichtlichkeit, scholastischsäuberlich definiert eher bei Baumgarten als bei Wolff vor, wobei letzterer doch immer der Meister bleibt, über den der Schüler im grundsätzlichen nicht hinausgeht. U n d insofern diese ganze Lehre einer introspektiven beobachtenden und anschließend rational bearbeiteten Psychologie entstammt, trifft Hegels Kritik am Empirismus dieses ,Herumkramens im Seelensack' den Nagel auf den Kopf: materiell gesehen sind diese verschiedenen Vermögen so wie sie von der empirischen Psychologie gefunden worden sind, in die rationale Psychologie oder Metaphysik aufgenommen worden, und das gilt für Wolff und seine Schüler wie für Kant. Spezifisch kantisch ist nur die transzendentale Methode der Behandlung dieser Ergebnisse und ihr systematisches Rearrangement entsprechend den Erfordernissen der kantischen Transzendentalphilosophie.

256

Burkhard Tuschling

überhaupt - der schon in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in ziemlich abstrakter Form erscheint; in der zweiten Auflage dann noch stärker reduziert und dennoch gerade in dem, was gegenüber der Version A 66 nicht mehr ausgeführt wird, für das Verständnis unentbehrlich ist; der ohnehin wegen der scholastischen Systematik wie auch wegen des altertümlichen Entwicklungsstands der Psychologie, den er repräsentiert, dem Verständnis des modernen Lesers besonders große Schwierigkeiten bereitet - , kann nicht aus sich oder überhaupt immanent aus dem Textbestand der Kritik der reinen Vernunft allein heraus, sondern nur vor dem Hintergrund der Diskussion in der deutschen empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts, die von Wolff und einer ihn empiristisch kritisierenden Richtung beherrscht wird, verstanden werden 67 . Zweitens und sehr viel wichtiger: eine Exposition und ansatzweise sogar eine Lösung derjenigen Probleme, mit denen Kant in den 70er Jahren vorrangig beschäftigt war, sc. eine Konzeption des systematischen Zusammenhangs aller empirisch beobachtbaren Phänomene des Seelenlebens oder des inneren Sinnes, der Stiftung dieses Zusammenhanges durch das Selbstbewußtsein und des Zusammenlaufens aller Teilvermögen oder Teilfunktionen der Reflexion in diesem Vermögen des Selbstbewußtseins oder der Apperzeption als oberstem, alle Detailfunktionen bestimmenden Vermögens.

14. Was Kant in dieser Hinsicht bei Christian Wolff 68 finden konnte, ist schon erstaunlich: - erstens die Idee der Zurückführbarkeit aller Erscheinungen des Seelenlebens auf das Verhältnis der Apperzeption als Grundverhältnis überhaupt; und damit zusammenhängend: die Entwicklung des Begriffs des Selbstbewußtseins als Grundbegriffs der empirischen Psychologie und die Idee der Funktion der empirischen Psychologie in einer Theorie des "

Vgl. die vier Punkte des zweiten Abschnitts der Deduktion in der Ausgabe A mit den §§ 15—19 und 22—26 in B : was Β an gedanklicher Klarheit der Argumentation gewinnt, verliert sie an Konkretion. " Das gilt auch für die verschiedenen Versuche, der „verborgenen Kraft unserer Seele", 68

der Einbildungskraft, interpretierend beizukommen. U n d dies auch nur bei Wolff, nicht bei seinem Schüler Baumgarten.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

257

Selbstbewußtseins, die ihrerseits aus einer Reduktion des empirisch gewonnenen Begriffs des Selbstbewußtseins auf seine apriorischen Momente hervorgehen soll"; - zweitens die Idee, der Apperzeption eine Funktion zuzuordnen, die man mit der Terminologie der Kritik der reinen Vernunft nur als transzendental bezeichnen kann; - drittens die Art der Ausgestaltung dieses Verhältnisses als bleibendabstrakte Struktur und Tätigkeit zugleich; - viertens die Beziehung der Apperzeption oder des Selbstbewußtseins auf die Welt im ganzen als das ,Wesen', die ,Natur' 7 0 der Seele, i. e. die Idee einer a priori bestehenden notwendigen Beziehung des Vorstellungsvermögens auf die Gesamtheit seiner möglichen Inhalte als Grundlage aller empirisch möglichen Beziehungen dieses Vorstellungsvermögens. Daß

Kant

mit

der

Ausarbeitung

dieser

Grundkonzeption

von

A p p e r z e p t i o n zugleich die dieser S t r u k t u r o d e r Tätigkeit i n n e w o h n e n den Widersprüche -

zum

einen die des

seinen-eigenen-Inhalt-Beziehen,

Sich-auf-etwas-anderes-als-

z u m anderen die der B e z i e h u n g

A p p e r z e p t i o n auf eine an sich existierende T o t a l i t ä t der "Welt -

der

über-

n i m m t , bleibt z u zeigen 7 1 ; z u v o r sollen j e d o c h die o b e n f o r m u l i e r t e n B e h a u p t u n g e n belegt w e r d e n . Z u n ä c h s t z u r ersten B e h a u p t u n g : Während die empirische Psychologie nach Wolff die Wissenschaft von der Wirklichkeit der Seelenvorgänge ist, soweit sie aufgrund von Erfahrung und Selbstbeobachtung erkannt werden können 72 , ist die psychologia rationalis die Theorie der Möglichkeit der psychischen Vorgänge 7 '. Unter Benutzung der Prinzipien der Ontologie, Kosmologie und empirischen Psychologie 7 4 legt die rationale Psychologie von dem, was in der Seele wirklich oder möglich ist, Rechenschaft ab, d. h. wie die Physik bezüglich der materiellen Dinge so bringt die psychologia rationalis bezüglich der seelischen Phänomene evidente Gründe a priori bei 75 . - Ausgangstatsache der empirischen Psychologie ist die jederzeit mögliche Erfahrung des Bewußtseins unserer selbst und der Dinge außer

" 70 71 72 73

74 75

Psychologia Rationalis, Einleitung § 4 in Verbindung mit § 10 und § 17 Anmerkung. Zu einer Unterscheidung dieser beiden Begriffe bei Wolff s. ebd. § § 6 7 , 68. S. unten Abschnitt 17. Wolff, Psychologia Empirica, § 1, praefatio. Psychologia Rationalis § 1 ; vgl. dazu Kant, M A , IV 470, 18 f. : etwas a priori erkennen, heißt es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Psychologia Rationalis § 3 . Ebd. § 4 und Anmerkung.

258

Burkhard Tuschling uns 76 ; Grundbestimmung der Seele ist nach Wolff wie nach Descartes, auf den sich Wolff beruft77, das Denken, dessen Begriff er wie folgt bestimmt: „Es heißt daß wir denken, wenn wir uns dessen bewußt sind, was in uns vorgeht, und dessen, was wir uns als gleichsam außer uns existierend vorstellen. Das Denken ist also derjenige Akt der Seele, durch den sie sich ihrer selbst und anderer Dinge außer sich bewußt ist ( § 2 3 ) . - Vorstellung (perceptio) heißt derjenige Akt des Geistes (mens), durch den er sich irgendein Objekt vorstellt ( § 2 4 ) ; Apperzeption kommt dem Verstand zu, insofern er sich seiner Vorstellung bewußt ist (§25). Endergebnis: „Alles Denken (oder: jeder Gedanke) involviert Vorstellung ( § 2 4 ) und Apperzeption (§25)." 7 8 Diesen in der psychologica empirica entwickelten Begriff des Denkens nimmt die rationale Psychologie wieder auf. Und unter dieser Voraussetzung bezeichnet Wolff es als erste Aufgabe der rationalen Psychologie, für den Akt der Apperzeption den Grund anzugeben und von ihr einen deutlichen Begriff zu liefern, und zwar durch Auflösung dieser Handlung der Seele in andere einfachere Handlungen, aus denen sie besteht 7 '. W o l f f s rationale P s y c h o l o g i e führt also die seelischen E r s c h e i n u n g e n

u n t e r B e n u t z u n g e m p i r i s c h g e w o n n e n e r Inhalte auf den u r s p r ü n g l i c h a u c h b l o ß e m p i r i s c h e n Begriff der A p p e r z e p t i o n z u r ü c k , u m sie s o d a n n u m g e k e h r t aus eben diesem Begriff a p r i o r i zu e r k e n n e n . D i e G r u n d l a g e d a f ü r soll eine A n a l y s e der , H a n d l u n g ' der A p p e r z e p t i o n u n d der sie k o n s t i t u i e r e n d e n T e i l h a n d l u n g e n bieten, die z u zeigen erlaubt 8 0 , wie die e m p i r i s c h e n Inhalte u n d die v e r s c h i e d e n e n T e i l v e r m ö g e n der Seele aus

76 77 78 79 80

81

Psychologia Empirica § 1 1 . Ebd. §23. E b d . § 2 6 , die im Zitat genannten Paragraphen beziehen sich auf dasselbe Buch. Psychologia Rationalis § 1 0 Anmerkung. W o l f f legt, wie immer, W e r t darauf, daß er demonstrable Wissenschaft betreibt: Psychologia Rationalis § 2. E s ist gerade diese Verbindung, die Kant aufgrund seines transzendentalen Idealismus nicht mehr vertreten kann. Während W o l f f rationale Erkenntnis von der ,Natur' und dem ,Wesen' der Seelensubstanz zu besitzen und vermitteln zu können glaubt, ist dies für Kants Kritizismus ein über die Erfahrung der seelischen Vorgänge in unzulässiger Weise hinausführender Schluß. Das aber darf nicht den Blick dafür verstellen, daß Kant diejenigen Passagen von W o l f f s Psychologia Rationalis für richtig hält und sich modifiziert sogar zueigen macht, in denen nicht von der Seelensubstanz, sondern nur von demjenigen A k t gehandelt wird, der alle empirischen Vorgänge in der Seele möglich macht, sc. der Apperzeption. E s wird deshalb noch zu zeigen sein, daß Kant selbst aus diesem Teil, nämlich der Lehre von der N a t u r oder dem Wesen der Seele, nach kritischer Modifikation Wichtiges übernimmt, nämlich die Idee einer wesentlichen Beziehung des Vorstellungsvermögens auf die Welt im Ganzen.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

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dem Akt der Apperzeption - oder allgemeiner: dem Begriff der Seele81 hervorgehen und durch ihn bedingt sind82. Sie enthält damit wie Kants Analytik die Idee - und übrigens auch die Ausführung - einer Wissenschaft, in der alles Denken, Vorstellen und Erkennen auf den „Aktus" der Apperzeption bzw. den Begriff der Seele als eines notwendig auf die Welt im ganzen bezogenen Vermögens83 zurückgeführt wird. Nicht bei Locke, selbstverständlich nicht bei Hume, in dieser ausgearbeiteten Form aber auch nicht bei Leibniz oder Baumgarten, sondern nur bei Wolff fand Kant das Vorbild für die ausgezeichnete systematische Stellung der Apperzeption und eine auf ihr aufbauende Theorie des Vorstellens, des Bewußtseins und der Erkenntnis der Welt, aus der die Möglichkeit empirischen Vorstellens und Erkennens begründet, d. h. in ihrer Notwendigkeit dargetan werden konnte. Und es ist diese Idee eines sachlich-systematischen Zusammenlaufens aller Funktionen unseres Vorstellens und Denkens im „Akt" der Apperzeption bzw. die korrespondierende Idee einer Wissenschaft des denkenden Bezuges auf die Gesamtheit aller Vorstellungsinhalte, die der Idee einer Kritik des Vernunftvermögens wie diesen Begriff selbst und damit auch der Herleitung der reinen Verstandesbegriffe ,aus einem Prinzip' den Zusammenhang verschafft, der ihnen im Februar 1772 offensichtlich und anscheinend auch lange danach noch fehlt. Zweifellos bedeutet die Rezeption der Wölfischen Apperzeptionstheorie in letzter Konsequenz eine Rückkehr zu Leibniz, ohne dessen Substanztheorie Wolffs rationale Psychologie wie seine Psychologie insgesamt nicht zu denken sind. Die systematische Grundlegung des transzendentalen Idealismus in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption ist insofern eine kritische Rekonstruktion der Leibnizschen Monadologie. Doch der scholastische Charakter von Kants Theorie des Selbstbewußtseins, die minutiöse Unterscheidung verschiedener „Vermögen", die betonte Darstellung ihrer Aktivitäten als synthetische Handlungen, schließlich die eigentümliche Mischung von rationalen und empirischen Momenten machen es höchst wahrscheinlich, daß 82

83

Die weiteren Inhalte der rationalen Psychologie, nämlich die Kapitel über das Begehrungsvermögen, das ,commercium' von Seele und Körper und die Attribute der Seele sowie deren Herleitung aus dem Begriff der Seele überhaupt können und müssen hier vernachlässigt werden. Zum Begriff der Seele bei Wolff vgl. zusammenfassend Psychologia Rationalis §§ 53-68 und unten Abschnitt 15.

Burkhard Tuschling

260 Kant

diese systematischen

Grundkonzeption

von

Leibniz

in ihrer

W ö l f i s c h e n F a s s u n g f ü r die A u s a r b e i t u n g seiner transzendentalen A n a lytik b e n u t z t hat. D a f ü r sprechen schließlich auch die im nächsten Abschnitt zu besprechenden Gesichtspunkte.

15. D a s Verhältnis v o n A p p e r z e p t i o n und Begriff der Seele z u m empirischen Vorstellen, F ü h l e n , D e n k e n u n d E r k e n n e n in der p s y c h o l o g i a rationalis ist nicht nur apriorisch b z w . m e t a p h y s i s c h - wie sich K a n t das Verhältnis des B e g r i f f s von Materie z u den d a d u r c h ,in ihrer M ö g l i c h keit' erkannten empirisch-physikalischen V o r g ä n g e n in den M A denkt 8 4 ; es ist d a r ü b e r hinaus s c h o n bei W o l f f transzendental: denn es handelt sich hier u m

eine „ E r k e n n t n i s " ,

die sich wesentlich

„mit

unserer

E r k e n n t n i s a r t v o n G e g e n s t ä n d e n , insofern diese a priori m ö g l i c h sein soll, ü b e r h a u p t beschäftigt" 8 5 . Z u m i n d e s t gilt dies von den f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n W o l f f s z u Begriff b z w . Verhältnis der A p p e r z e p t i o n : - Der oben zitierten, der empirischen Psychologie entnommenen Definition gemäß bezeichnet ,Apperzeption' diejenige Teilhandlung der komplexen, ,Denken' genannten Handlung des Geistes, durch die er sich seiner eigenen Vorstellung bewußt wird; Denken heißt demgemäß Perzipieren und sich seiner Perzeptionen bewußt werden". Der Begriff der Apperzeption soll dadurch zu einem deutlichen werden, daß die ihrerseits noch komplexe Handlung der Apperzeption in ihre einfachen, d. h. nicht mehr auflösbaren Teilhandlungen aufgelöst wird87. Unter .Handlung' ist schließlich nach Ontologia §713 eine solche Zustandsänderung zu verstehen, deren Grund das Subjekt, das seinen Zustand ändert, selbst enthält. - Der Begriff von Seele, den Wolff seiner Analyse der Apperzeption zugrundelegt, ist deshalb der eines spontanen oder selbsttätigen Vermögens, das den Grund seiner Zustandsänderung selbst enthält und sich durch sein eigenes Tun selbst ändert, bestimmt oder modifiziert und dennoch - wie Wolff ausdrücklich festhält und mit dem Begriff von der Seele als einer einfachen Substanz zu fassen versucht88 - in diesem Sich-selbst-ändern oder Sich-von-sich-Unterscheiden mit sich identisch bleibt.

84 85 86 87

IV 470, 13 ff. und 472, 1-12. K r V Β 25. Vgl. das ausführliche Zitat aus Psychologia Empirica §26 in Abschnitt 14. Psychologia Rationalis §10.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

261

- Diese ursprüngliche - nämlich im Begriff der Apperzeption selbst angelegte - Spontaneität manifestiert sich ganz allgemein in folgenden Tätigkeiten des Selbstbewußtseins: • „Sobald die Seele das von ihr Vorgestellte von sich unterscheidet, ist sie sich dessen bewußt und umgekehrt: dasjenige, dessen sie sich bewußt ist, unterscheidet sie von sich selbst." 8 9 • „Wenn die Seele in einer Totalvorstellung Teilvorstellungen unterscheidet, ist sie sich der vorgestellten Dinge bewußt und umgekehrt." 9 0 • „Die Seele ist sich ihrer selbst bewußt, insofern sie sich ihrer Veränderungen oder ihrer eigenen Handlungen bewußt ist, andernfalls nicht."" D i e Seele w i r d also als ein u r s p r ü n g l i c h tätiges Subjekt begriffen, das d e n G r u n d seiner M o d i f i k a t i o n e n in sich selbst hat. Sie bringt s o w o h l das V o r s t e l l e n (das S i c h - e t w a s - b e w u ß t - M a c h e n ) als auch das Selbstbew u ß t s e i n (das S i c h - d e s - V o r s t e l l e n s - s e l b s t - B e w u ß t - w e r d e n ) ,

d a m i t die

V o r s t e l l u n g eines E t w a s ü b e r h a u p t u n d das B e w u ß t s e i n dieser V o r s t e l lung u n d eben d a d u r c h schließlich den U n t e r s c h i e d beider, d . i .

die

U n t e r s c h e i d u n g v o n O b j e k t u n d Subjekt, d u r c h ihr u r s p r ü n g l i c h beziehendes T u n h e r v o r . M i t d e n W o r t e n W o l f f s : „Während wir nämlich unsere Aufmerksamkeit darauf richten, daß wir uns der vorgestellten Dinge bewußt sind, sind wir uns auch unserer selbst bewußt. Dann aber stellen wir uns die Apperzeption, eine gewisse Handlung unserer Seele vor (§ 25 Psychologia empirica) und unterscheiden uns selbst durch sie gleichsam als das vorstellende Subjekt von den vorgestellten Objekten, indem wir anerkennen, daß das vorstellende Subjekt durchgängig etwas von der vorgestellten Sache Verschiedenes ist. D i e Seele ist sich also ihrer selbst bewußt, insofern sie sich ihrer Veränderungen bewußt ist."' 2 E s ist offenbar dieselbe S t r u k t u r , die bei R e i n h o l d " u n d Hegel 5 4 als Satz 81

89 90 91 92 93

'4

des B e w u ß t s e i n s

vorkommt

u n d bei K a n t

das Verhältnis

der

Psychologia Rationalis § 48, wobei der Substanzbegriff von § 768 Ontologia zu unterstellen ist: „Ein beharrliches und modifizierbares Subjekt heißt Substanz. Ein Seiendes aber, das nicht modifizierbar ist, wird Akzidenz genannt." Psychologia Rationalis § 10, Lehrsatz. Ebd. § 1 1 Lehrsatz. Ebd. § 12 Lehrsatz. Ebd. § 1 2 , Beweis. K. L. Reinhold, Über das Fundament des philosophischen Wissens, Jena 1791, N a c h druck H a m b u r g 1978, S. 77 f. Phänomenologie des Geistes, Einleitung, 10. Absatz, Suhrkamp-Ausgabe S. 76 bzw. G . W . F . Hegel, Ges. Werke, B d . 9 , 1980, S . 5 8 , 2 5 f . - Dazu ferner Konrad Cramer,

262

Burkhard Tuschling

Apperzeption (als denkende Beziehung des Verstandes auf den Inhalt seiner Vorstellungen als seinen Gegenstand, unter der Bedingung der Zugehörigkeit zu einem und dem selben denkenden Selbst) ausmacht: das Bewußtsein unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; derart, daß das Etwas-von-sich-Unterscheiden des Bewußtseins ebenso konstitutive Bedingung des Objekt-Denkens und -Seins ist, wie umgekehrt diese Beziehung des Bewußtseins auf ein von ihm selbst (dem Bewußtsein oder Denken) spezifisch Verschiedenes konstitutive Bedingung des Bewußtseins oder Denkens des Subjekts durch sich selbst, als Selbstbewußtsein, ist. Das ursprüngliche Tun der Seele in Perzeption-Apperzeption und D e n k e n ist also nicht einfach nur Grund der Möglichkeit der Erfahrung seelischer Phänomene oder äußerer Gegenstände, sondern, wie in der kantischen Analyse des ursprünglichen Verbindens des diskursiven Verstandes in der Einheit der Apperzeption auch, ursprüngliche - transzendentale und tätige — Bedingung jeder denkenden oder vorstellenden Unterscheidung von Subjekt und Objekt, objektiv bestimmtem Vorstellungsinhalt und subjektiv-tätigem Vorstellen überhaupt. Aus der Wölfischen Analyse der Handlungsstruktur der Apperzeption insgesamt 95 seien noch die folgenden Momente besonders hervorgehoben:

95

Bemerkungen zu Hegels Begriff vom Bewußtsein in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hrsg. und eingeleitet von R.-P. Horstmann, Frankfurt 1978, S. 360 ff. und insbesondere die Anmerkung 20 auf S. 391, in der Cramer auf die Leibniz-Wolffsche Apperzeptionstheorie als begriffshistorischen Hintergrund für Hegels Satz des Bewußtseins verweist. Sie umfaßt die §§ 10-29 der Psychologia Rationalis und vollzieht sich in folgenden Teilschritten: a) das Grundverhältnis (das, was man den „Satz des Bewußtseins" in der Fassung Wolffs nennen könnte) wird in §§ 10-12 entwickelt. b) §§ 13-20 entwickeln wichtige Voraussetzungen der Apperzeption, insbesondere Klarheit der Teilvorstellungen einer (komplexen) Totalvorstellung als Bedingung dafür, daß die Seele die vorgestellten Dinge von sich selbst unterscheiden kann. c) §21 exponiert die Beziehung der Vorstellung auf etwas außer der Seele Existierendes als weitere entscheidende Bedingung der Apperzeption. d) §§ 22-29 entwickeln als grundlegende, einfachere Handlungen der Seele, die zusammengenommen die Apperzeption ausmachen sollen: Aufmerksamkeit, Gedächtnis (d. h. Reproduktion der Vorstellungen, verbunden mit dem Bewußtsein der Identität des Vorgestellten) und Reflexion (d. h. Vergleich der verschiedenen Inhalte der Vorstellungen miteinander und mit der Seele selbst). In diesen Handlungen erweisen sich die Erhaltung der Vorstellungen in der Zeit bzw. größere oder geringere Beharrlichkeit der Gedanken und damit die Zeit selbst als konstitutive Bedingung

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

263

- die Bindung des Bewußtseins seiner selbst an die Voraussetzung der bestimmten Vorstellung der Vorstellungsinhalte (§20: „ex claritate perceptionum partialium nascitur apperceptio") - die Unterscheidung dreier Teilhandlungen (und entsprechender Teilvermögen) der Apperzeption - attentio, memoria, reflexio - ist parallel zur kantischen Unterscheidung von „Synthesis der Apprehension in der Anschauung", „Synthesis der Reproduktion in der Einbildung" und „Synthesis der Rekognition im Begriff" (KrV A 98, 100, 103) - die Abhängigkeit der komplexen „Handlung" der Apperzeption und des Denkens vom bestimmten Ablauf der Teilhandlungen der Bestimmung der Teile der Vorstellungsinhalte, von der Beziehbarkeit verschiedener solcher Inhalte aufeinander und auf ein und dasselbe Selbstbewußtsein in der Zeit - der „Vehikel-Charakter", der in §§ 10-26 (29) durchgängig zum Ausdruck kommt und in der Kurzformel „cogitatio = apperceptio cum perceptione" seinen prägnantesten Ausdruck findet - die Entwicklung dieser Struktur aus dem empirischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein, d.h. die Bestimmung des Begriffs des Bewußtseins Selbstbewußtseins bzw. der apperceptio cum perceptione = Denken aus der jederzeit möglichen Selbstbeobachtung oder Erfahrung der Identität des Selbstbewußtseins mit sich selbst; mit anderen Worten: die Genese der rationalen Psychologie und ihres Grundbegriffs bzw. Grundverhältnisses von Seele aus der empirischen Psychologie. Festzuhalten bleibt: Einerseits kommt die schon bei Wolff selbst vorgegebene empirische Ausrichtung des Bewußtseins der empirischsensualistischen Kritik an der rationalen Psychologie, der Substanzmetaphysik oder Ontologie ganz allgemein entgegen; andererseits stellt sich Wolff das ursprüngliche Tun des Selbstbewußtseins oder Denkens als allem empirischen Bewußtsein, Vorstellen, Denken usw.

immanent

bzw. eben als im Begriff des Bewußtseins selbst enthalten vor. Damit liefert er - als einziger unter Kants Vorgängern - den Begriff eines die empirischen Inhalte des Bewußtseins organisierenden, strukturierenden, bestimmenden und eben damit in ihrer Bestimmtheit und schließlich auch sich selbst im Unterschied und Gegensatz zu den so bestimmten

dafür, die reproduzierten Vorstellungsinhalte als in bestimmten identischen und damit sich selbst als identisches Subjekt der Vorstellungen und des Denkens zu wissen. M. a. W . : Die Zeit fungiert bei Wolff als (in kantischem Sinne) transzendentale Bedingung der Apperzeption. Alle in a) bis d) genannten Teilhandlungen jedoch sind nach Wolffs Verständnis nichts anderes als Verwirklichungsformen der einen ursprünglichen Tätigkeit der Apperzeption, deren entscheidende Bedingungen weiter oben im Text zitiert und interpretiert worden sind.

264

Burkhard Tuschling

Inhalten überhaupt erst als Wissensinhalt erzeugenden Vermögens des Subjekts: jenen Begriff, der den Zusammenhang aller empirischen Vorstellungen erzeugt und reproduziert und damit Objektivität wie Subjektivität transzendental erst ermöglicht; d. h. jene Idee einer nichtempirischen Strukturierung aller Empirie, die, wie Kant glaubte, den Schlüssel zur Lösung des Humeschen Problems in seiner größtmöglichen Erweiterung enthält. Damit fehlt wohlgemerkt noch viel zur vollständigen Idee der transzendentalen Analytik, unter anderem so wichtige Elemente wie die Kategorien oder die qualitative, grundlegende Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand. Dennoch: Kant konnte ein zentrales - wenn nicht das zentrale - Stück seiner sich entwickelnden Analytik aus dieser Wiederbeschäftigung mit Wolff gewinnen und hat es m. E. auch daraus gewonnen, eben die Apperzeptionstheorie, die ihm 1772 und vermutlich vor 1777 überhaupt noch fehlte. Wolffs Theorie ist aber nicht nur für den formalen Begriff der Apperzeption als ursprüngliches Tun des Selbstbewußtseins oder als höchster Punkt der Transzendentalphilosophie, der für Wissen und Wissenschaften gleichermaßen organisierende Funktion hat, wichtig. Denn wie bei Leibniz ist auch bei Wolff die Apperzeption mit dem ,Wesen' oder der ,Natur' der Seele, das Universum vom Standpunkt des organischen Körpers aus vorzustellen, unzertrennlich verbunden 96 . Diesem inhaltlichen Moment kommt im Prozeß der Herausbildung des transzendentalen Idealismus - Subjektivierung von Raum und Zeit (1770); Entwicklung des Gedankens, daß der Verstand durch gewisse Begriffe Urheber der Gegenstände der Form nach sein könnte (seit 1772); der damit verbundene Verzicht auf die Erkenntnis von Dingen an sich, ihre Beschränkung auf bloße Erscheinungen und die Hinwendung zu einem gegenüber dem herkömmlichen Rationalismus und Empirismus gleichermaßen kritischen Standpunkt - dieselbe Bedeutung zu wie der Formalstruktur der Apperzeption. Während nämlich die transzen-

" Die Lehre von der Apperzeption und die Lehre von der Seele als einer die Welt vorstellenden Monade sind in Wolffs Psychologia Rationalis über die folgenden Zwischenschritte miteinander verbunden: §§ 32—+3 erörtern die verschiedenen möglichen Auffassungen der Substantialität der Seele, §§ 44-53 behandeln die Unterscheidung der Seele vom Körper und die Einfachheit der Seelensubstanz, §§ 53-68 schließlich erörtern ausführlich die Kraft der Seele, das Universum vom Standpunkt des organischen Körpers aus vorzustellen.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

265

dentale Subjektivierung den Verzicht auf alle ontologischen Implikationen zur Folge hatte und die Identifikation mit dem Sensualismus der Engländer zur Auszeichnung der einzelnen empirischen Anschauung führte, erlaubte die Übernahme der kritisch berichtigten Wölfischen Apperzeptionstheorie die Beibehaltung eines Gedankens, der Kant zeit seines Lebens teuer gewesen ist, in den Systemen der Engländer aber, wenn überhaupt, nur höchst rudimentären Ausdruck gefunden hatte: des Leibnizschen Gedankens einer wesentlichen Beziehung des Ich auf die Welt als Ganzes. Auch er mußte naturgemäß modifiziert, das Leibnizsche Universum denkender Substanzen auf den Inbegriff von Erscheinungen reduziert werden. Doch die nach Kants Prämissen notwendige Reduktion der Apperzeption auf notwendige, deshalb transzendentale Funktionen des empirischen Vorstellens ließ die wesentliche Beziehung des Selbstbewußtseins auf die Welt als Vorstellung unangetastet. Denn sie war ja gerade der Schlüssel zu dem Problem, das Kant seit 1772 zu lösen versuchte und erst mithilfe der Apperzeptionstheorie zu lösen vermochte - nämlich die Frage, worauf die Beziehung unseres Vorstellungsvermögens auf seine Gegenstände und damit Wahrheit transzendental beruht. Sie beantwortet Kant, Wolff folgend, seit 1777 so: Das ursprüngliche Handeln der Seele, das sich in Akten der PerzeptionApperzeption realisiert, organisiert auch ihre Beziehung zur Welt, die sie „vom Standpunkt des organischen Körpers und formaliter durch die Konstitution der Sinnesorgane beschränkt vorstellt" 97 und als ihr transzendentales Produkt erzeugt: die Handlungen der Bestimmung des subjektiven Vorstellens und die Handlungen der Bestimmung der Welt als Inbegriff aller Objektivität sind dieselben. - So erweist sich der insgeheime Leibnizianismus der „Kritik der reinen Vernunft" als konstitutiver Bestandteil des transzendentalen Idealismus. Er liegt selbst der Idee der transzendentalen Deduktion zugrunde.

16.

Damit soll nun nicht behauptet werden, der transzendentale Idealismus lasse sich insgesamt auf Wolff zurückführen. Das ist aus einer 97

Vgl. Psychologia Rationalis §63.

266

Burkhard Tuschling

ganzen Reihe von Gründen nicht möglich. Erstens erlangt die Apperzeption, aus der Wölfischen Metaphysik herausgelöst, bei Kant eine ganz neue Stellung im System der Philosophie98. Zweitens bestehen auch im Detail gravierende Unterschiede". Drittens stand das Systemkonzept des transzendentalen Idealismus lange vor der von mir vermuteten, durch Tetens veranlaßten erneuten Beschäftigung mit der Wölfischen rationalen Psychologie in seinen Grundzügen' 00 fest; es fehlte nur der allerdings alles entscheidende - „höchste Punkt" 101 . Zudem muß nunmehr der bislang vernachlässigte Einfluß von Tetens berücksichtigt werden. Die Bedeutung von Tetens' „Versuchen" liegt mit einer, allerdings entscheidenden Ausnahme, über die unten noch zu reden sein wird - primär nicht in den vielen Details, in denen Kant mit

"

Soviel in der rationalen Psychologie Wolffs vorgebildet sein mag, so wenig ist zu verkennen, daß Wolffs Apperzeptionstheorie in ganz anderen systematischen Zusammenhängen und mit ganz anderem - nämlich entschieden untergeordnetem - Interesse betrieben wird als bei K a n t : der rationalen Psychologie k o m m t nach der O n t o l o g i e , K o s m o l o g i e , der Psychologia empirica und vor der rationalen Theologie nur ein untergeordneter Platz zu. Sie ist deshalb bei W o l f f ganz und gar nicht der „höchste P u n k t " der Philosophie überhaupt; und entsprechend ist Wolffs Interesse primär das des O n t o l o g e n , Metaphysikers und überhaupt Dogmatikers - nicht das des Erkenntnistheoretikers oder kritischen Transzendentalphilosophen. " So u. a. in der qualitativen Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand, die Kant stets als kritische Grenze gegen die Leibniz-Wolff-Schule geltend gemacht hat; oder in der Grundentscheidung des transzendentalen Idealismus für die empiristisch-sensualistische L o c k e s c h e Sicht der Erfahrung: die Auszeichnung der einzelnen empirischen Anschauung oder Wahrnehmung als ,einziger Charakter der Wirklichkeit' ist dem Leibnizianer W o l f f fremd. 100 Zu berücksichtigen ist vor allem, daß die für die Entdeckung und Entwicklung des transzendentalen Idealismus im engeren Sinne entscheidende subjektivistische Wende bereits lange vor der von mir vermuteten, durch Tetens veranlaßten neueren Verarbeitung der Wölfischen rationalen Philosophie stattgefunden hat und schon im Herzbrief von 1772 dokumentiert ist. Die Idee, daß ,wir es immer nur mit unseren Vorstellungen, niemals mit Dingen an sich selbst zu tun haben'; die mit ihr korrespondierende Idee, daß auch dem Verstand nicht der ihm 1770 noch zugebilligte usus realis z u k o m m t ; und schließlich die Idee, daß die Gegenständlichkeit überhaupt konstituierenden Begriffe, die Kategorien, ebenso wie Raum und Zeit bloß Funktionen des subjektiven transzendentalen D e n k e n s , nicht objektive Begriffe sind - all dies liegt etwa 1772 schon vor. 101 Mit der Einfügung der Apperzeption und ihrer Entwicklung zur Idee der ursprünglich synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins ändern auch die bisher schon vorhandenen Elemente der Transzendentaltheorie, nämlich Raum, Zeit und Kategorien wie auch die mit ihnen verbundenen Begriffe von Urteil, Verstand, Vernunft usw. ihre Bedeutung; der Gedanke der Herleitung ihrer Erkenntnis liefernden Funktion aus der Apperzeption verleiht ihnen neue Inhalte und Funktionen.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

267

Tetens einer Meinung war oder sich durch ihn bestätigt sehen konnte102. Entscheidend sind vielmehr die philosophische Grundhaltung, die derjenigen Kants nach 1770 weitgehend entsprach, und die darauf basierende kritische Sichtung der bisherigen Ergebnisse der empirischen und der rationalen Psychologie. Tetens ist durchgängig der Auffassung, daß wirkliches Wissen in letzter Konsequenz allein auf Beobachtung, Empfindung, Wahrnehmung oder Erfahrung gegründet werden kann103. Zumindest dürfen Hypothesen, wo sie notwendig sind, der Erfahrung nicht widersprechen104. Tetens wird nicht müde zu betonen, daß jede Argumentation, die den Bezug zur Beobachtung verliert, damit zwangsläufig auch den Status begründbaren Wissens und somit sich selbst in leeren Spekulationen verliert. Diese Haltung bestimmt Tetens' skeptisch-epochetisches Argumentieren in den wichtigsten philosophischen Streitfragen, bezüglich deren er so weit wie möglich auf Schlußfolgerungen, die sich auf Erfahrung nicht stützen können, zu verzichten sucht105.

102

103

104

105

Vgl. dazu de Vleeschauwer a . a . O . - Alle Übereinstimmungen im Detail wiederum lassen sich auf zwei Grundüberzeugungen zurückführen, die Kant mit Tetens teilt: erstens auf die von Locke übernommene Uberzeugung, daß die Empfindung im Erkenntnisprozeß und insbesondere im Prozeß der Entstehung von Begriffen eine ganz ausgezeichnete Rolle spielt; zweitens auf die Überzeugung, daß die Seele und insbesondere ihre Denkkraft ein .selbsttätiges' Vermögen ist. Die Betonung des Handlungscharakters des Bewußtseins, allen Vorstellens, Denkens, Urteilens usw. ist bei Tetens noch entschiedener ausgeprägt als bei Wolff. - Auf ein Detail sei ganz besonders verwiesen: in Band I 329 f. kritisiert Tetens die Urteilsdefinition der Logiker ganz ähnlich wie Kant in § 19 der Ausgabe B. Belege für diese Tetenssche Grundüberzeugung findet man beinahe auf jeder Seite. Vielleicht am konzentriertesten 1336: „Nähere Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen aus Empfindungen. 1) Die Empfindungen geben den Stoff her zu allen Ideen... Der Erfahrungssatz, daß alle Ideen und Begriffe aus Empfindungen entstehen, . . . wird durch die vorhergehenden Betrachtungen nicht aufgehoben, aber genauer bestimmt... Empfindungen, oder eigentlich Empfindungsvorstellungen sind . . . der letzte Stoff aller Gedanken, und aller Kenntnisse..." Für Tetens' Grundhaltung, in der Empirismus und Rationalismus in ähnlicher Weise wie bei Kant vereinigt sind, ist jedoch bezeichnend, daß er sogleich hinzufügt: „ . . . aber sie sind auch nichts mehr, als der Stoff oder die Materie dazu. Die Form der Gedanken, und der Kenntnisse ist ein Werk der denkenden Kraft. Diese ist der Werkmeister und insoweit der Schöpfer der Gedanken." Vgl. ζ. B. Tetens' Überlegungen zur Frage der Wirklichkeit freier Handlungen und zum Verhältnis von Freiheit und Vernunft in II 32 ff. Vgl. dazu den ganzen Abschnitt IV des 13. Versuchs, der „von der Immaterialität unsers Ich" überschrieben ist, II 175-213.

268

Burkhard Tuschling

Doch bei aller Entschiedenheit für den Empirismus kann Tetens die Herkunft seiner Psychologie aus der Tradition der Leibniz-Wölfischen Psychologie nicht verleugnen. Sie kommt u. a. in folgenden Überlegungen zum Ausdruck: „So lange der Materialist das Spiel der Bilder in der Phantasie aus dem Mechanismus der Gehirnfasern erklärt, scheint es, es lassen sich seine Erklärungen wol hören; aber sobald das Gefühl von unserm Ich, das klare Bewußtseyn unser selbst, unsers innern Wohls und Wehs, unsers Denkens und Wollens und unserer Freyheit wieder lebhaft wird, so dränget sich uns auch wiederum der Gedanke auf: dieß sey doch mehr als ein Spiel der Fasern, mehr als ein Zittern vom Aether und als Gehirnsbewegungen, was dahinter stecke. Mein Ich ist ein Eins, nicht ein Haufen von mehrern Dingen . . . Die erste Vorstellung, die wir aus dem Selbstgefühl von einem Wesen uns machen, welches fühlen, denken, sich bewußt seyn und wollen kann, ist so ganz heterogen von dem Begriff, den wir uns von der Materie und dem Körper aus unsern äußern Empfindungen abstrahiren... Der Körper leidet, nimmt auf, wird modificirt, bewegt und wirkt zurück; aber keine Spur vom Gefühl, von Apperception, Vergnügen und Verdruß, vom Wollen, vom Selbstbestimmen liegt in allen Eindrücken, die wir von ihm e r h a l t e n . . . Gesetzt, daß es den Philosophen nicht gelingen sollte, es völlig evident zu machen, daß die Thätigkeiten der Seele durchaus keine Aktionen von Dingen seyn könnten, die so wie Körper aus andern einfachen Substanzen vereiniget sind: so müssen dagegen die Versuche der Materialisten noch unglücklicher ablaufen, wenn diese Denken, Empfinden und Sichselbstbestimmen in Wirkungen körperlicher Bewegungen aufzulösen bemühet sind."104 O b Tetens nun seine These „Mein Ich ist ein Eins, nicht ein Haufen von mehrern Dingen" als bewußte Gegen these zu Humes skeptischempiristischer Auflösung des Ich in ein ,bundle of perceptions' f o r m u liert hat oder nicht - entscheidend ist, daß er sich gegen Priestleys Einebnung der Unterscheidung von Seele und Körper auf Leibniz und W o l f f beruft 107 und f ü r die Fundierung seiner Gegenposition mit gewissen Einschränkungen ihre Konzeption vom Ich als einer substantiellen Einheit* übernimmt. Tetens nimmt damit prinzipiell dieselbe Haltung ein, die Kant jedenfalls seit 1781 eingenommen hat: die einer Vermittlung von angelsächsischem Sensualismus-Empirismus und kontinentaler, speziell Leibniz-Wölfischer Metaphysik 108 . 106 107 108

Ebd. S. 178 f. Ebd. S. 181. Für Kant läßt sich dieses Vermittlungsprogramm von seinen ersten Anfängen als philosophischer Schriftsteller an nachweisen, am kürzesten vielleicht mit der Titelfor-

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

269

Aus dieser Grundhaltung ergaben sich u. a. die folgenden Einsichten, die Kant von Tetens für seinen transzendentalen Idealismus übernehmen konnte, sofern er sie noch nicht unabhängig davon selbst gewonnen hatte: -

-

-

109 110

111

112

die Entgegensetzung der Vorstellung von körperlicher Substanz oder Materie einerseits und (nur in technischem Sinne so zu verstehender) substantieller Einheit und Identität des Ich andererseits 109 ; die Uberzeugung, daß wir es nicht nur in der Erfahrung der Körper außer uns mit Erscheinungen zu tun haben, sondern daß wir auch uns selbst nur erkennen, wie wir uns erscheinen, nicht 110 , wie wir an sich sind; die Erkenntnis, daß die für ein Urteil erforderliche Einheit des Denkens den Gedanken, verschiedene Vorstellungen an eine Mehrzahl von Vorstellungsvermögen zu verteilen, unmöglich 111 und dementsprechend die Voraussetzung einer wesentlichen Einheit des Selbstbewußtseins zwingend macht 112 .

mulierung der Monadologia physica nämlich der Idee, aus der „Metaphysik" und „der Geometrie" oder verkürzt: aus Leibniz und Newton Nutzen zu ziehen; für Tetens vgl. I 337 f. die interessante Interpretation des Verhältnisses von Leibniz zu Locke. Ebd. II 181-184. „So wenig die ersten einfachen Elemente der Körper und ihre einfachen Wirkungen sich durch die Zergliederung dem Anschauen darstellen lassen, und so wenig jemals der schärfste Blick des Menschen in dem weißen Lichtstrahl die vereinigten Farbenstrahlen unterscheiden wird; eben so wenig ist zu erwarten, daß ein Beobachter seiner selbst durch die bloße Aufmerksamkeit auf sein Gefühl es ausmachen werde, ob die Seelenäußerungen, die vor ihm einfach sind, auch wirklich einfach oder zusammengesetzt sind ; und ob sie aus einerleyartigen oder verschiedenartigen Bestrebungen entstehen? Das Fühlen, das Denken, das Selbstbestimmen ist vor uns etwas einfaches ohne innere Mannichfaltigkeit, aber da es vor uns ein Phänomen ist, so kann es entweder eine solche Empfindung seyn, welche aus unterschiedenen Theilen zusammen gesetzt ist . . . oder sie kann aus homogenen Kraftäußerungen bestehen, wie die Ideen von den einfachen Grundfarben..." (II 156). II 174: „Wir kennen die Körper und ihre Kräfte eben so wenig und unmittelbar als die Seele, und erhalten von ihnen eben so, wie von uns selbst, nur Ideen aus ihren Eindrücken und Wirkungen auf u n s . . . " Ebd. 212: „Was endlich die Natur unsers Selbstgefühls und der Vorstellungen betrifft, die wir von unsern eigenen Wirkungen haben, so können sie, nach den hier angestellten Raisonnements, nichts mehr als Schein seyn; so wie die unmittelbare Beobachtung uns auch nicht berechtiget, sie für etwas mehr anzusehen... Denn wir empfinden die Actus unsers Gefühls, und des Denkens, und des Wollens nur in ihren Wirkungen, das ist, in den Veränderungen und Folgen, die davon in dem gesammten Seelenwesen, das ist in einem zusammengesetzten Wesen, abhangen. Diese Empfindung entstehet also auf eine ähnliche Art, wie die Empfindung eines äußerlichen körperlichen Gegenstandes, von dem eine Impression auf die innern Organe vorhanden ist. . . . " Von der Rolle, die diese Tetensschen Überlegungen für Kants Kritik der Paralogismen der rationalen Philosophie spielen, muß ich hier absehen. Tetens II 195.

Burkhard Tuschling

270

Wie man sieht, ist der für die transzendentale Analytik wichtigste und fruchtbarste Gedanke, nämlich die Urteilseinheit mit der Einheit des Selbstbewußtseins zu identifizieren, bei Tetens mindestens vorgebildet. Aber der Fall liegt hier ähnlich wie bei der vermuteten WolffRezeption: es bedurfte schon des systematisch so spezifisch interessierten Lesers Kant, um die Fruchtbarkeit dieses Gedankens für die Entwicklung einer Theorie der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu entdecken1'3. Tetens selbst jedenfalls ist weit davon entfernt, die weitreichenden Konsequenzen, die Kant daraus ziehen wird, zu sehen. Für ihn ist das Argument mit der Urteilseinheit nur eines unter mehreren, die er für sein vorsichtiges Plädoyer zugunsten der substantiellen Einheit' des Ich benutzt. Doch wieviel Kant gerade in diesem entscheidenden Punkt von Tetens lernen konnte und wie nahe Tetens der kantischen Lösung gekommen ist, um schließlich dem Gedanken dann doch wieder eine traditionelle Wendung zu geben, kann man nur dem Kontext bei Tetens selbst entnehmen. Ein letztes ausführliches Zitat sei deshalb erlaubt: „Diese Einheit unseres Ichs ist noch das nicht, was die Immaterialisten durch ihre Beweise darzuthun gesucht haben. Laßt uns die Seelenäußerungen in ihre einfachen Aktus zerlegen, in welche sie durch die schärfste Analysis zerleget werden können. Laßt zum Beyspiel in jedem Urtheil die drey Aktus unterschieden werden: die Vorstellung des Subjekts, die Vorstellung des Prädikats, und den Aktus des Beziehens dieser beiden Vorstellungen auf einander. Nun folget zwar aus dem Vorhergehenden so viel, daß, wenn gleich unser urtheilendes Ich aus mehrern trennbaren Wesen zusammengesetzt sey, diese jene Aktus doch nicht so unter sich vertheilet haben können, daß einige von ihnen allein die Vorstellung des Subjekts in sich haben, andere dagegen das Prädikat sich vorstellen, und wiederum andere den beziehenden Aktus vornehmen, und den Verhältnißgedanken oder die Form des Urtheils hervorbringen. Man kann sagen, daß es eben so unmöglich sey, daß es sich auf diese Art verhalte, als ein Zirkel Ecken haben kann; da es offenbar ist, daß bey dieser Voraussetzung es nicht Eins und dasselbige Wesen ist, welches alle diese Aktus vornimmt. Aber dennoch lieget hierinn . . . noch die größte Schwierigkeit. Wenn gleich jede einfache Seelenäußerung ein Aktus ebendesselben zusammengesetzten Wesens ist, dem jede andere Seelenäußerung auch zukommt, so ist die große Frage zurück: ob nicht jeder simple Aktus ein Aktus mehrerer Dinge seyn könne, und woher man wissen könne, daß ein Ganzes, welches alle Aktus unter alle seine Theile verbreitet, ohne 1,3

Vgl. Kant, XXVIII 274.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

271

reelle Zusammensetzung seyn müsse? Da es eine Vielfachheit in demselben giebt, ist denn diese nothwendig nur eine bloße Vielfachheit substanzieller Punkte, die zusammen nur die substanzielle Einheit ausmachen? Man thut . . . sehr w o h l , wenn man diese z w e y Bilder beständig gegen einander hält, nämlich das Bild von einer substanziellen Einheit, in der es bloß eine Mannichfaltigkeit von einzeln unbestehbaren Punkten giebt, welche die Beschaffenheiten des einfachen Wesens vorstellen; und auf der andern Seite das Bild von einer zusammengesetzten Substanz, die aus mehrern reell verschiedenen Substanzen, welche einzelne f ü r sich bestehen, zusammengesetzet ist. Jeder Beweis f ü r die Immaterialität der Seele aus ihren Kraftäußerungen muß die letztere Vorstellung aufheben; aber es giebt, so viel ich weis, keine, mit der nicht jene erstere als eine bildliche Vorstellung der Sache sich vereinigen lasse, und man kann sichs versichern, daß irgend etwas in unsern Raisonnements erschlichen sey, wenn w i r auf eine Folgerung gerathen, die das Ich nothwendig von einem mathematischen Punkt in Hinsicht der Ausdehnung machen w ü r d e . . ."114

Von hier aus ist es nur noch ein Schritt bis zur kantischen Lösung, ja an sich ist sie sogar schon vorhanden. Denn was lag näher, als die Frage nach der Einfachheit oder der Vielheit der ,Seelensubstanz' für gegenstandslos zu erklären, zumal ja Tetens selbst die entscheidende Voraussetzung für diesen Schritt bereits formuliert hatte, nämlich die These, daß wir auch uns selbst immer nur so erkennen, wie wir uns erscheinen, nicht, wie wir an sich sein mögen, und deshalb auch die Frage nach der Natur der Seelensubstanz weder positiv noch negativ beantworten können? Es genügt daher - so die durch Tetens' Überlegungen zur Urteilseinheit nahegelegte Schlußfolgerung - , unter Verzicht auf das ,Seelending' die Einheit des Gedankens ,Ich' und seine einheitsstiftende Funktion für alle empirischen Vorstellungen und die Beziehung des Urteils im besonderen anzunehmen. Dann ist es möglich, einerseits den Fehlschlüssen der rationalen Psychologie — und übrigens auch der ontologisch argumentierenden Materialisten - zu entgehen und andererseits eine Theorie aufzubauen, in der die Einheit der „Vorstellung des Subjekts, . . . des Prädikats" und des „Aktus des Beziehens dieser beiden Vorstellungen 114

Tetens II, S. 194-196; übrigens bestätigt Tetens Locke in einer Fülle von Punkten (ohne ihn immer ausdrücklich zu nennen), so daß sich im Endergebnis die Einflüsse Lockes und Tetens' auf Kant wechselseitig verstärken. So auch hier: Schon bei Locke (Essay IV 3,6) konnte Kant lesen, die Frage der Immaterialität oder Materialität der Seele sei unentscheidbar. Es sei unbestritten, daß wir in uns etwas hätten, was denke; die Zweifel beträfen die Frage, welcher Art dieses Etwas sei. - Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Reinhard Brandt.

m

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aufeinander" auf die Einheit der Apperzeption zurückbezogen und auf diese Weise wie bei Christian Wolff mit denjenigen Handlungen des Selbstbewußtseins identifiziert werden kann, die die bewußtseinsimmanent gedachte Unterscheidung des Subjekts von den Bestimmungen aller Objektivität überhaupt ursprünglich begründen. Tetens, so scheint es rückblickend, ist seiner eigenen Einsicht - daß wir auch uns selbst nur erkennen, wie wir uns erscheinen - an der entscheidenden Stelle nicht konsequent genug gefolgt. Sonst hätte er bemerkt, welchen Fund er gemacht hatte: es ist „unser urteilendes Ich", das ,die Form des Urteils hervorbringt'. - Aber vielleicht lagen auch die Konsequenzen dieses Gedankens für den Psychologen einfach außerhalb des Horizonts seiner Interessen. Für Kant muß Tetens' Schwanken der Anlaß gewesen sein, nun im Detail nochmals zu überprüfen, was im Rahmen einer kritisch eingeschränkten „bildlichen Vorstellung der Sache" des Ich aus der ursprünglichen Apperzeptionstheorie in die neue Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft übernommen werden konnte und was umgekehrt bei konsequenter Verwirklichung von Tetens' Metaphysikkritik eliminiert werden mußte. Das allgemeine Ergebnis dieser Uberprüfung war der transzendentale Idealismus, konkreter: die Grenzziehung zwischen metaphysischer und transzendentaler Deduktion, Schematismuskapitel und Grundsätzen des reinen Verstandes einerseits, Paralogismenkritik und Antinomienkapitel andererseits. Denn da - wie schon Tetens erklärt - weder die Anschauung auf letzte substantielle Einheiten der Körperwelt führt115 noch die Erfahrung mit den Phänomenen des inne-

115

Vgl. nochmals die oben Anmerkung 110 angegebenen Stellen und insbesondere die folgende Fortsetzung des Zitats aus II 212: „Jene (nämlich die Empfindung des inneren Sinnes) ist eine Empfindung innerer Modificationen in der Materie, die aber ihre Ursache, von der sie abhängt, und auf die sie als Wirkung bezogen wird, in der Aktion des Ichs, das ist, eines einfachen Wesens, hat, und die auch eine zusammengesetzte Aktion des einfachen Ichs selbst seyn kann. Man muß zum mindestens einsehen, daß die Psychologen es bisher nicht bewiesen haben, daß diese Vorstellung unreimlich sey. Und wenn das ist, so ist es auch offenbar, daß die zwote Empfindung von der ersten Empfindung eines äußern Objekts, und überhaupt, das Gefühl unserer eigenen Gemüthsbewegungen, unserer Denkthätigkeiten und unsers Willens, und also auch die Vorstellungen aus diesen Empfindungen in allen Hinsichten nur Erscheinungen sind, die unmittelbar von dem körperlichen Bestandtheile der Seele herrühren, sich aber mittelbar auf die Beschaffenheiten, Kräfte und Vermögen des einfachen Ichs beziehen, und in so weit Vorstellungen von dem Einfachen sind, aber nur verwirrte und relative Vorstellungen." (Tetens II 212 ff.).

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ren Sinnes irgendeinen Rückschluß auf die Einfachheit einer Seelensubstanz erlaubt, kann die Alternative von Materialismus und Idealismus nicht akzeptiert werden. Und insbesondere muß auf die Behauptung der Leibniz-Wolffschen Philosophie, daß die Seele einfache Substanz ist und die Welt vorstellt, wie sie ist, verzichtet werden. Vom Ich, der Welt und ihrer Beziehung zueinander bleibt allein der durch die empirische Psychologie auch nach kritischen Prinzipien gedeckte Schluß übrig: es ist ein einziges, durchgängig mit sich selbst identisches Ich, das die Einheit der Welt als Vorstellung und damit schließlich auch seine eigene, empirisch faßbare Identität hervorbringt. Aber dieses Ich ist bloßer Gedanke, Organisationsprinzip allen empirischen Vorstellens, über dessen ontologisches Korrelat nichts ausgemacht werden kann.

17.

In dieser Form also blieb der Leibnizsche Gedanke einer Beziehung a priori des denkenden Ich auf das Universum im transzendentalen Idealismus erhalten. N u n war Kant zu diesem Ergebnis gerade aufgrund der Anwendung des Locke 116 -Tetensschen Prinzips gelangt, das die Annahme der Existenz eines „Substantiale" zwar erlaubt, jede mit Wissensanspruch verbundene Aussage darüber aber verbietet. Daher hegte er in der „Kritik der reinen Vernunft" und noch lange Zeit nach ihrer Veröffentlichung keinen Zweifel daran, daß die - gleichfalls von Tetens wie von Locke erhobene - Forderung, sich immer nur auf Erscheinungen und in der empirischen Anschauung Gegebenes einzuschränken, und die darin enthaltene Annahme, daß die Wahrnehmung „der einzige Charakter der Wirklichkeit" sei, mit der Behauptung einer transzendentalen Beziehung der Apperzeption auf die Welt im ganzen widerspruchsfrei vereinbar sei, ja daß sich letztere in jeder empirischen Anschauung verwirkliche. Und gerade aus der Verknüpfung dieser beiden Annahmen gewann Kant seinen „obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile" - die Möglichkeit des Nachweises notwendiger, allgemeingültiger und daher nichtempirischer Beziehungen, die dennoch notwendigerweise für alle empirischen Anschauungen Gültigkeit haben sollen. ' " Vgl. Locke, Essay concerning human understanding, Buch 2 K a p . 2 3 und Tetens II 187 f.

274

Burkhard Tuschling Tatsächlich gelangte er auf diesem W e g e nicht nur z u r T h e o r i e der

ursprünglich-synthetischen Einheit der A p p e r z e p t i o n als H e r z s t ü c k des transzendentalen Idealismus, sondern auch z u den ihr wesentlich anhaftenden W i d e r s p r ü c h e n . Sie läßt sich d a m i t als der G r u n d derjenigen der o b e n referierten W i d e r s p r u c h s b e z i e h u n g e n bezeichnen, die f ü r K a n t s p e z i f i s c h sind. E s lassen sich n u n m e h r unterscheiden: - Widerspruchsbeziehungen, die der philosophischen Tradition entspringen und unabhängig sind von Kants Programm einer Vereinigung von angelsächsischem Sensualismus-Skeptizismus und Leibniz-Wolffscher Metaphysik; dazu gehört u. a.: die Identifikation von Substanz mit dem Einzelding und der Totalität des Daseins. - Aus der Anwendung des Prinzips der Auszeichnung der empirischen Anschauung als einzigem Charakter der Wirklichkeit und der daraus resultierenden Einschränkung des Erkenntnisvermögens hervorgehende Widerspruchsverhältnisse oder Modifikationen jenes anderen Widerspruchs: dies trifft auf den Zwang zu - der seinerseits aus der Idee resultiert, daß Begriffe wie Substanz, Kausalität usw. unter Verzicht auf ontologische Implikationen auf Erscheinungen als ihren Gültigkeitsbereich einzuschränken seien, eben dort aber gültig seien und deshalb ihre objektive Realität jederzeit in der empirischen Anschauung dartun könnten - , das perdurabile-modificabile" 7 als .Substanz in der Erscheinung' in der singulären empirischen Anschauung suchen und finden zu müssen - ein erstes oder letztes Subjekt der Erscheinungen, das doch in einigen seiner Bestimmungen schlechterdings nur mit der Totalität des Daseins der Erscheinung identisch sein kann. Vor allem aber trifft es zu auf all diejenigen Widersprüche, die aus der Idee der transzendentalen Erzeugung der Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität und überhaupt allen Bestimmtseins der Vorstellungen aus Handlungen des apperzipierenden-perzipierenden Ich resultieren, d. h. aus der Subsumtion alles Einzeldaseins wie der Totalität möglicher empirischer Vorstellungsinhalte unter die Apperzeption in Verbindung mit der Annahme, daß diese Inhalte Erscheinungen eines an sich und unabhängig vom vorstellenden Ich daseienden Dinges als ihrem Substrat sind. Und im besonderen wiederum trifft dies zu: • auf den - nicht aus bloßen Begriffen, sondern aus der Beziehung der Apperzeption (Kategorien), der Synthesis der Einbildungskraft sowie Raum und Zeit auf mögliche Erfahrung geführten - Beweis, „daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei"" 8 ; • auf die Behauptung einer transzendentalen Zeitordnung, mittels deren der Verstand den Erscheinungen und ihrem Dasein „eine . . . a

117 118

W o l f f , O n t o l o g i a § 768. K r V Β 2 2 7 f . , vgl. auch Β 264 f.

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priori bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt, ohne welche sie nicht mit der Zeit selbst, die allen ihren Teilen a priori ihre Stelle bestimmt, übereinkommen würde."" 9 ; • auf die Behauptung der dynamischen Gemeinschaft und Totalität allen Daseins unter Ausschluß des leeren Raums als der dritten und letzten „Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmungen" 1 2 0 bzw. als Garanten dafür, „daß uns allerwärts Materie die Wahrnehmung unserer Stelle möglich mache" ; daß nicht jede Wahrnehmung (der Erscheinung im Räume) von der anderen abgebrochen (ist), und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, . . . bei einem neuen Objekt ganz von vorne anfangen (müßte), ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhänge oder im Zeitverhältnisse stehen könnte" 121 - was ersichtlich jede Wahrnehmung, jede Zeitbestimmung, jede synthetische Bestimmung und Apperzeption irgendeines Mannigfaltigen der empirischen Anschauung überhaupt unmöglich machen würde 122 .

In allen drei Fällen glaubt Kant, Erfahrung nur ihrer Möglichkeit und Form nach antizipiert zu haben123, behauptet aber zugleich, im Gedanken der „wesentliche(n) Form" der Erfahrung, „der synthetischen Einheit der Apperzeption aller Erscheinungen", „Bedingungen a priori der durchgängigen und notwendigen Zeitbestimmung alles Daseins in der Erscheinung, ohne welche selbst die empirische Zeitbestimmung unmöglich sein würde", gefunden zu haben124. Damit „antizipiert" er die Erfahrung der Form und dem Inhalt nach; nimmt diese Beziehung der Apperzeption auf „das absolute Ganze aller Erscheinungen", das doch „nur eine Idee" ist125 unter die konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung auf; und verwickelt sich in den oben beschriebenen Widerspruch, das Dasein der Erscheinungen der durchgängigen Bestimmung durch die Apperzeption zu unterwerfen, es so in seiner Zeitordnung durch das Subjekt produziert sein zu lassen und zugleich anzunehmen, daß sich dieses Dasein, das vom erkennenden Subjekt unabhängig und an sich existiert, eben deshalb auch an sich zur Synthesis in diesen

115 120 121 122

123 124 125

Β 2 4 4 f. und die zweite Analogie passim. So Β 2 2 6 , aber auf die dritte Analogie übertragbar. Β 2 6 0 f. Was Kant im opus postumum, anders als in der KrV, klar durchschaut und mittels seiner Ätherdeduktionen endgültig auszuschließen hofft. Β 2 6 4 , dazu nochmals Β 303. Β 264. Β 384.

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Formen qualifiziert und damit als an sich durch eine solche Zeitordnung bestimmt erweist. In dieser Idee der „ursprünglichen Einheit der Apperzeption aller Erscheinungen" - dem Produkt der kritischen Einschränkung der Leibniz-Wolffschen Konzeption einer vorstellend-denkenden Substanz (der es wesentlich zukommt, die Welt vorzustellen) auf ein vorstellendes Subjekt und dessen wesentliche Beziehung auf die Gesamtheit seiner möglichen Vorstellungsinhalte, unter Verzicht auf jede Theorie der Natur dieses vorstellenden Subjekts und der von ihm vorgestellten Welt, soweit sie unabhängig von diesem Vorstellungsbezug gedacht werden müssen - sind daher alle grundlegenden einander kontradiktorisch ausschließenden Bestimmungen des transzendentalen Idealismus in einer antinomischen Konjunktion verbunden und als durch die synthetische Spontaneität erzeugt und nicht erzeugt behauptet. Eben damit ist grundlegend infrage gestellt, ob Erkenntnis a priori und empirische Erkenntnis; transzendental-produktive Tätigkeit des Ich und Passivität des daseienden Mannigfaltigen; Form und Inhalt; reines Denken kombiniert mit reiner Anschauung einerseits, empirischer Anschauung andererseits; Apperzeption und Dasein usw. überhaupt in der von Kant angenommenen Weise einander ausschließen und in dieser Ausschließung mit eindeutiger Grenzziehung einander entgegengesetzt werden können. Denn was sich widerspricht, hat sich eben damit als falsch erwiesen, hat keinen Bestand; Widersprüche müssen - wenn man sie schon nicht vermeiden kann - aufgelöst, beseitigt, aufgehoben werden oder auch: sie heben sich selbst auf. Diese antinomischen, einander aufhebenden Bestimmungen lassen sich im wesentlichen auf Wolff zurückführen. Denn schon bei Wolff finden sich die folgenden kontradiktorischen Positionen: - Die Apperzeption wird als empirisches Verhältnis gewonnen und als apriorisches Verhältnis, das grundlegende Unterscheidungen fundiert, behauptet; - sie wird als transzendental-produktives, Subjektivität und Objektivität überhaupt erzeugendes Tun des perzipierend-apperzipierenden Ichs und zugleich wird das Ansichsein - d. h. die Unabhängigkeit oder das Nicht-durch-das-Bewußtsein-produziert-sein dieser ihrer Produkte behauptet; - (dasselbe, von der Seite des Bewußtseinsinhaltes betrachtet:) das Ich und die körperlichen Dinge, die und soweit sie Inhalt und Gegenstand der Handlungen des Bewußtseins-Selbstbewußtseins sind, werden als

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Vorstellungsinhalte oder Erscheinungen dieses Bewußtseins und sie werden als ansich existierende, unabhängig v o m perzipierend-apperzipierenden Bewußtsein, dessen Inhalt sie sind, eine Welt bildende Substanzen behauptet.

Kant hat - wie ich hoffentlich plausibel gemacht habe - die Idee der Apperzeption als einer transzendental-produktiven oder konstitutivhandelnden Beziehung des Bewußtseins auf die Gesamtheit seiner Gegenstände von Wolff übernommen und mit ihr die ihr inhärenten Widersprüche. Kant glaubte, unter Anwendung des von Tetens befolgten Prinzips - d. h. in der Beschränkung auf das, was unmittelbar oder durch mittelbare Beziehung auf empirische Anschauung begründet werden kann, unter Verzicht auf die ontologischen Implikationen der empirisch-rationalen Psychologie des Christian Wolff und damit unter Eliminierung des dritten der oben angegebenen Widersprüche - zu einer konsistenten Lösung des Erkenntnis- und materialen Wahrheitsproblems kommen und die Idee einer transzendentalen Logik der Wahrheit des reinen Verstandes entwickeln zu können. Tatsächlich jedoch hat er die Widersprüche nicht eliminiert, sondern durch Anwendung seines Kritizismus nur modifiziert. Denn er hat gerade an demjenigen Widerspruchsverhältnis festgehalten, auf das alle anderen zurückzuführen sind bzw. aus dem alle anderen hervorgehen: an der Idee eines transzendental-produktiven Selbstbewußtseins, das sich selbst und alle seine Gegenstände, d.h. seine Welt, soweit es ihre denkende Bestimmtheit betrifft, schafft. In diesem Begriff des Bewußtseins-Selbstbewußtseins, das „etwas von sich (unterscheidet), worauf es sich zugleich bezieht"126, sind in letzter Konsequenz alle bisher behandelten Widersprüche des transzendentalen Idealismus - den zwischen Erscheinungscharakter und Substantialität der Gegenstände des Bewußtseins nicht ausgenommen - enthalten: es selbst setzt seine Inhalte sich als wesentlich verschieden, an sich und ihm unabhängigerweise gegeben entgegen; aber es ist es selbst, das diesen Unterschied oder dieser Entgegensetzung macht, denkt, erzeugt, und so bezieht es sich zugleich auf dieses Etwas als sein Etwas, das Andere oder Bestimmung seiner selbst. Es selbst also behauptet und behandelt seine Gegenstände als „bloße Vorstellungen" und als „Dinge an sich", ist damit der Grund z . B . der oben an den Analogien der Erfahrung gezeigten Widersprüche. 126

S.o. Aran. 94.

278

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- Übrigens ließe sich dieselbe Widersprüchlichkeit der Verhältnisse an Locke, Tetens und überhaupt an allen Versuchen, das Bewußtseinsverhältnis zur systematischen Grundlage des Erkennens und Wissens zu machen, dokumentieren 127 . Was ist nun mit der Darstellung der Herkunft der Widersprüche des transzendentalen Idealismus aus älteren Theoriekontexten gewonnen? D e r Hinweis, daß sie auch bei anderen Autoren auftreten, kann in der Vermutung bestärken, daß sie in der Sache selbst gegründet sind. Wie sie zu begreifen sind, wie mit ihnen umzugehen ist - was es ζ. B. heißt, daß ,Widersprüche sich aufheben' usw. - : diese Fragen werden damit nicht beantwortet, vielmehr erneut und um so dringlicher aufgeworfen. Eine erneute Beschäftigung mit der Sache wird deshalb unausweichlich 128 .

18.

Kants eigene Äußerungen zum Problem des Widerspruchs bieten zwar keine Lösung 129 , aber bei entsprechender Auswertung doch wenigstens einen Fingerzeig. Kant sagt nirgends ausdrücklich, ob er den Satz des Widerspruchs für analytisch oder für synthetisch hält. Für das letztere130 spricht allerdings manches: - aus der Erklärung Kants, der Satz des Widerspruchs sei bezüglich der analytischen Urteile ein sowohl notwendiges wie hinreichendes Wahrheitskriterium131, folgt nicht, daß er ein hinreichendes Kriterium der 127

128

129 130

131

Und bekanntlich ist die Phänomenologie des Geistes ein Versuch, die Notwendigkeit solcher Widersprüche des Bewußtseins und ihrer Entwicklung zu zeigen. - Kant hat diese Widersprüche durch seinen Kritizismus nicht nur modifiziert, sondern in eine solche Form gebracht und systematisch derart entwickelt, daß sie und die Notwendigkeit ihres Produzierens im Verhältnis der Apperzeption offen zutage traten und der Anlaß für fruchtbare Entwicklungen im deutschen Idealismus werden konnte. ,Sache' bedeutet hier: Begriff und Problem des Widerspruchs (vgl. dazu die einleitend schon zitierte Monographie von Michael Wolff). Aber auch: Beziehung der Apperzeption auf ,ihren Gegenstand'. Denn es ist kein Zufall, daß Hegels neue Einsicht in die Sache der Logik und speziell des Widerspruchs auf dieses Zentralthema der Transzendentalphilosophie, genauer seine in Hegels Augen mangelhafte Behandlung bei seinen Vorgängern zurückzuführen ist. Vgl. den Beitrag von Michael Wolff. Die Teilnehmer an den Diskussionen zu den Referaten Wolff und Tuschling waren sich über den synthetischen Charakter des Satzes des Widerspruchs weitgehend einig. KrV Β 189 f.

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W a h r h e i t seiner selbst ist. K a n t sagt auch nicht, daß der S a t z des W i d e r s p r u c h s dies - nämlich ein hinreichendes K r i t e r i u m der W a h r h e i t seiner selbst - sei; o d e r d a ß seine W a h r h e i t an i h m selbst a b z u l e s e n , daß er a u f g r u n d seiner eigenen F o r m w a h r sei o d e r dergleichen. K a n t unterstellt vielmehr o h n e z u z ö g e r n seine W a h r h e i t u n d A l l g e m e i n g ü l tigkeit als o b e r s t e r f o r m a l e r G r u n d b e d i n g u n g allen U r t e i l e n s .

132

133

134

-

W i e ich an a n d e r e r Stelle 132 z u zeigen v e r s u c h t habe, läßt sich K a n t s in Β 14 e n t w i c k e l t e A r g u m e n t a t i o n f ü r den d u r c h g ä n g i g s y n t h e t i s c h e n C h a r a k t e r der m a t h e m a t i s c h e n U r t e i l e auf d e n S a t z des W i d e r s p r u c h s b z w . die U r t e i l e der L o g i k i n s g e s a m t ü b e r t r a g e n , s o f e r n g e z e i g t w e r d e n k a n n , daß die „ P r i n z i p i e n " o d e r A x i o m e der L o g i k ihrerseits synthetisch sind.

-

D i e s w i e d e r u m k a n n a u f g r u n d einer g a n z e n R e i h e v o n E n t w i c k l u n g e n in d e r m o d e r n e n M a t h e m a t i k - e r f o l g r e i c h e B e s t r e i t u n g der U n i v e r s a l i tät des S a t z e s des W i d e r s p r u c h s in G e s t a l t des S a t z e s v o m a u s g e s c h l o s senen Dritten durch den Intuitionismus - b z w . L o g i k - Nichtallgem e i n g ü l t i g k e i t der V o r a u s s e t z u n g e n der z w e i w e r t i g e n A u s s a g e n l o g i k , d a m i t des in ihr f o r m u l i e r b a r e n S a t z e s v o m W i d e r s p r u c h o d e r S a t z e s v o m a u s g e s c h l o s s e n e n Dritten 1 3 3 ; erfolgreicher A u f b a u m e h r w e r t i g e r L o g i k e n , in d e n e n der S a t z des W i d e r s p r u c h s o d e r des a u s g e s c h l o s s e nen Dritten, der veränderten Wertigkeit entsprechend veränderte G e s t a l t a n n e h m e n muß 1 3 4 - a n g e n o m m e n w e r d e n .

Sind die Urteile der Logik vielleicht „insgesamt synthetisch"? In: Kant-Studien 72,1981 S. 304-335. Dazu gehören u. a. Zweiwertigkeit selbst, die in der Tat nichts anderes als die Unterstellung der Allgemeingültigkeit des Satzes des Widerspruchs bzw. des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten ist, die tautologisch aus ihr folgen; aber auch die Wahrheitsfunktionalität der Junktoren: vgl. dazu u.a. Quine, Grundzüge der Logik, Frankfurt 1974 S. 33 ff., 49 f. Zum Beispiel die Form eines Satzes vom ausgeschlossenen Vierten. - Für die weiteren Erörterungen wichtig erscheinen mir folgende Punkte: 1. Die Infragestellung der Universalgültigkeit der Zweiwertigkeit und ihres deutlichsten Ausdrucks, des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, ist der Ausgangspunkt der Entwicklung höherwertiger Logiken überhaupt (vgl. Rutz, Peter, Zweiwertige und mehrwertige Logik. Ein Beitrag zur Geschichte und Einheit der Logik, München 1973, S. 22). 2. Die Entwicklung mehrwertiger Logiken eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit, zwischen dem Prinzip der Wertigkeit als solcher und den Sätzen vom ausgeschlossenen Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten als beweisbaren Lehrsätzen (Theoremen) der zweiwertigen bzw. höherwertiger Logiken zu unterscheiden. Während ,ρ ν ~ p ' ein Theorem der zweiwertigen Aussagenlogik ist, ist die Zweiwertigkeit (und entsprechend Dreiwertigkeit usw.) selbst ein Satz der Metasprache. (Rutz, S. 73, Anm. 11). 3. Im dreiwertigen Aussagenkalkül von Lukasiewicz sind „die Entsprechungen des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten und des Kontradiktionsgesetzes keine Theoreme" (Borkowski, Ludwig, Formale Logik, München 1977, S. 350). Es ist

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E s kann aber auch aufgrund kantischer Voraussetzung angenommen werden: W e n n die synthetische Einheit der Apperzeption der „höchste P u n k t " ist, „an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik . . . heften muß" 1 3 5 , die synthetische Einheit der Apperzeption mithin „Prinzip" auch der Sätze der Logik ist, so ist der Schluß auf deren synthetischen Charakter gemäß der Argumentation von Β 14 unausweichlich.

Das aber schafft neue Probleme und läßt sich nicht widerspruchsfrei behaupten. Einmal ist an den in den Diskussionen zum Referat von Michael Wolff von mir erwähnten Punkt zu erinnern: Wenn der synthetische Charakter des Satzes des Widerspruchs feststeht, er mithin als synthetisches Urteil a priori verstanden werden muß; warum hat Kant dann für diesen - mit den Grundsätzen des reinen Verstandes zumindest allerdings möglich, in ihr solche Funktoren zu definieren, für die alle Gesetze der zweiwertigen Aussagenlogik gültig sind (ebd.). Mit diesen Bemerkungen soll über das positive Verhältnis zwischen Hegels spekulativer Logik und höherwertigen modernen Logiken nichts gesagt sein. Den Ansätzen zu mehrwertigen Logiken, dem Intuitionismus und Hegel gemeinsam ist nur die Negation der Allgemeingültigkeit des Satzes vom Widerspruch, genauer: des Zweiwertigkeitsprinzips überhaupt. Was die positive Beziehung anbetrifft, würde ich höchstens die Vermutung wagen, daß Hegels spekulative Logik als eine mehrfach komplexe Logik begriffen werden kann, in der sowohl höhere Wertigkeiten als auch Relationen mit wechselnder Stellenzahl (z.B. Identität als zwei-, drei- oder mehrstellige Relation) und in wechselnder Kombination und Trennung zugelassen sind. Schließlich sei noch eine weitere Vermutung erlaubt, daß nämlich die Vernachlässigung des Unterschieds zwischen der Zweiwertigkeit als metalogischer Voraussetzung und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten bzw. dem Satz des Widerspruchs als Theorem der zweiwertigen Aussagenlogik Grund und Quelle ständiger Erneuerung des Vorurteils der Allgemeingültigkeit des Satzes des Widerspruchs sein dürfte. Im zweiwertigen Aussagen-Kalkül sind allerdings , ~ ( ρ Λ ~ ρ ' ) und , p v ~ p ' allgemeingültig. Unter dieser Voraussetzung ist es dann auch trivial zu behaupten, daß aus ,A' oder ,A = Α' , Α λ ~ Α ' oder ,Α φ A' nicht hergeleitet werden können oder daß ,A = B' aus ,A = A' so konstruiert werden kann, daß es im Unterschied zu ,A = ~ A' in nichtkontradiktorischem Verhältnis zu A steht. Nicht trivial, sondern ein folgenreicher Fehler ist es, die Bedingung dieser Zweiwertigkeit einfach zu vergessen und die Nichtkonstruierbarkeit des ,Α Λ ~ A ' usw. aus A oder des ,Α Φ A' aus ,Α = A' ganz allgemein dogmatisch zu behaupten. In diesem Fall ist, wie ich fürchte, auch Klaus Düsing (s. unten Anm. 206 a). Demgegenüber besteht Hegels Verdienst u. a. darin, den synthetischen, von der Setzung auch inhaltlicher Voraussetzungen abhängigen Charakter des Satzes des Widerspruchs erkannt und insbesondere gezeigt zu haben, daß sich die Reflexionsbegriffe der einfachen Identität, des Unterschieds, des Gegensatzes und des Widerspruchs nicht mit den einfachen Mitteln einer zweiwertigen Aussagenlogik konstruieren lassen, sondern nur durch deren Aufhebung', d. h. durch Kombination von Ausschluß- und Einschlußbeziehungen und deren Integration in übergreifende Einheiten, konstruiert oder begriffen werden können. 155

KrV Β 134.

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gleichrangigen, wenn nicht überhaupt wichtigsten - Fall nicht gezeigt, wie er a priori möglich ist bzw. wie seine Geltungsgründe aus der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption entwickelt werden können? Und wie steht es dann mit dem u. a. in der ProlegomenaVorrede so entschiedenen erhobenen Vollständigkeitsanspruch, er habe das Humesche Problem in seiner möglichst größten Erweiterung gelöst 136 ? Ein weiteres Problem ist in unserem Zusammenhang noch interessant: Wenn der Satz des Widerspruchs synthetisch ist, dann gilt auch für ihn, was Kant in der Einleitung der transzendentalen Logik von der Wahrheit ganz allgemein sagt: „ . . . daß . . . ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne. . . . von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach läßt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen, weil es in sich selbst widersprechend ist." (B 83)

Ist also der Satz des Widerspruchs synthetisch, dann kann auch für ihn ein a priori notwendiges, zugleich allgemeines und hinreichendes Kriterium nicht angegeben, seine Allgemeingültigkeit also nicht behauptet werden. Eben das aber tut Kant: In der Annahme, daß der Satz des Widerspruchs als ein Satz der Logik ,νοη allem Inhalt (Beziehung auf ein Objekt)' abstrahiere, behandelt er ihn jedenfalls so, als ob seine Wahrheit a priori auch unter Abstraktion von allem Inhalt feststehe; als ob es für ihn dank seines formalen Charakters ein a priori notwendiges und hinreichendes Wahrheitskriterium gebe - nämlich ihn selbst; als ob also seine Wahrheit aus seiner bloßen Form allein sowohl notwendiger - wie hinreichenderweise erkannt werden könne, er also ein analytischer Satz sei. U n d Kant tut dies auch nicht ohne Grund: Denn sonst - nämlich im Fall des nichtanalytischen, sondern synthetischen Charakters des Satzes des Widerspruchs überhaupt - könnte der nach Kants Meinung grundlegende Unterschied zwischen formaler und transzendentaler Logik 137 nicht mehr aufrecht erhalten werden.

136 137

IV 261, 6 ff. Vgl. dazu Hans Wagner, Zu Kants Auffassung bezüglich des Verhältnisses zwischen Formal- und Transzendentallogik. Kritik der reinen Vernunft A 5 7 - 6 4 / B 8 2 - 8 8 , in Kant-Studien 68, 1977, S. 7 1 - 7 6 und nochmals oben den Beitrag von Michael Wolff, S. 186.

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Es ist also festzustellen: Kant behandelt bzw. behauptet auch implizit den Satz des Widerspruchs als analytisch und als synthetisch zugleich. Dieser letzte hier festzustellende Widerspruch in der Kritik der reinen Vernunft ist nicht nur der systematisch grundlegendste - weil er die Möglichkeit der Unterscheidung einer „transzendentalen" von der „formalen" Logik überhaupt betrifft - ; er ist auch der interessanteste und wichtigste, weil seine Analyse unmittelbar zu Hegels Kritik der bisherigen Auffassung vom Widerspruch, der traditionellen Logik und der Transzendentalphilosophie hinführt. Dies ist im folgenden zu zeigen. Ein Ergebnis, in dem Hegel mit dem Befund in der Kritik der reinen Vernunft übereinstimmt, kann allerdings vorgreifend schon notiert werden: Auch nach Hegel ist der Satz des Widerspruchs analytisch und synthetisch und eben deshalb in sich widersprechend.

19. Hegel entwickelt seine Kritik an der bisherigen Fassung des Logischen, speziell der Identität, der Entgegensetzung und des Widerspruchs und der entsprechenden sog. allgemeinen Denkgesetze138 ursprünglich beginnend mit der Differenzschrift13' - in Auseinandersetzung mit ihm vorliegenden philosophischen Systemen und den in ihnen verhandelten inhaltlichen Probleme, nicht als eine für sich vorgetragene Kritik des Formalismus der bisherigen Logik. Dieser Zusammenhang der Erörterung von Formalproblemen mit ganz bestimmten Inhalten wird von Hegel auch in späteren Darstellungen, seien sie nun kritischer oder konstruktiver Art, gewahrt140; ja er ist nach Hegels fester Uberzeugung unauflösbar: Kernpunkt seiner Kritik an der bisherigen Auffassung von Logik und des herrschenden Verständnisses von Widerspruch und Widerspruchsfreiheit ist gerade dieser Formalismus bzw. die Uberzeugung, daß es möglich sei, eine Logik als Wissenschaft der bloßen

138

139

1,0

So die polemische Bezeichnung für die logischen Gesetze in der Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp-Ausgabe Band 3, S. 2 2 6 - 2 2 8 . G . W . F . Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. . . , 1801; in: Gesammelte Werke B d . 4 , Hamburg 1968; ich gebe im folgenden die Seiten nach dieser Ausgabe und die Seiten der Suhrkamp-Ausgabe (Band 2) an. Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie; Phänomenologie des Geistes; Enzyklopädie und insbesondere Wissenschaft der Logik, speziell die sogenannte Reflexionslogik.

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Formen unter Abstraktion von allen Inhalten141 überhaupt aufzubauen was allerdings auch nicht dahingehend mißverstanden werden darf, daß die Logik nach Hegels Meinung nun überhaupt nicht formal sei. Eine Erörterung von Hegels Auffassung vom Widerspruch, die in beschränktem Rahmen und mit der Absicht, die allgemeinen Grundzüge dieser Auffassung vorzustellen, veranstaltet wird und daher notwendigerweise abstrakt verfährt, steht daher von vornherein in einem problematischen Verhältnis zum Inhalt und systematischen Bezugsrahmen der von Hegel sog. Reflexionsphilosophie selbst. Es ist daher unbedingt erforderlich, diese inhaltlichen Bezüge, in denen Hegels Logikkritik ursprünglich entwickelt worden ist und auch später durchgängig steht, wenigstens in groben Zügen zu skizzieren. Hegel subsumiert die von ihm kritisierten Positionen insgesamt unter dem Titel „Reflexionsphilosophie". In „Glauben und Wissen" werden als die drei die systematisch überhaupt möglichen Varianten dieser Philosophie erschöpfenden Autoren Kant, Jacobi und Fichte genannt 142 ; in der Einleitung und im Schlußteil der Differenzschrift erscheinen als Vertreter einer solchen Philosophie außerdem Reinhold und, über ihn vermittelt, Bardiii143. Was alle diese Autoren nach Hegels Meinung verbindet, ist die gleiche - mangelhafte - Auffassung von Aufgabe, Gegenstand und Verfahren der Philosophie, der Hegel sein Programm einer wahren Philosophie oder Spekulation gegenüberstellt. Eines der zentralen Themen dieser Auseinandersetzung ist die von diesen Autoren vertretene falsche Auffassung von Identität, Widerspruchsfreiheit und Widerspruch; und umgekehrt ist Hegels eigenes, neuartiges Verständnis dieser Bestimmungen grundlegend für seinen Begriff vom Wesen der Philosophie und der Spekulation. -

141

1,2

143

144

G e g e n R e i n h o l d , der d e n G e i s t der P h i l o s o p h i e in e i g e n t ü m l i c h e n A n s i c h t e n z u f i n d e n h o f f e , m a c h t H e g e l den G e s i c h t s p u n k t geltend, d a ß „ . . . das A b s o l u t e w i e seine E r s c h e i n u n g , die V e r n u n f t , e w i g ein u n d d a s s e l b e ist" 1 4 4 , d a s W e s e n der P h i l o s o p h i e mithin g e r a d e i m

Genau dieses Verständnis der allgemeinen Logik ist ja auch für Kant und seine Idee einer besonderen transzendentalen Logik grundlegend. Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit dieser Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802). Differenzschrift S. 81, 89-91/121, 130 ff.; tatsächlich ist Bardiii schon von der Kritik in der Einleitung der Differenzschrift voll betroffen, in der Hegel allerdings nur Reinhold ausdrücklich zitiert. Ebd. S. 10/17.

Burkhard Tuschling

284

Verzicht auf Eigentümlichkeiten und der Erhebung der Vernunft zur Spekulation, der „Tätigkeit der einen und allgemeinen Vernunft auf sich selbst" bestehe, die in der Philosophie „das Absolute im Bewußtsein" konstruiere 145 . - Für das Verständnis von Hegels Kritik an den Reflexionsphilosophen, wie an den von ihnen vertretenen Auffassungen ist allerdings entscheidend, daß er sie von Anfang an als Erscheinungsweisen des Absoluten oder als Repräsentanten des Geistes146 und deshalb auch als notwendige Gestalten dieses Absoluten betrachtet. Hegel sieht die philosophischen Systeme aus der Entzweiung hervorgehen, die er auch als ,Bildung des Zeitalters' bezeichnet: „in der Bildung hat sich das, was Erscheinung des Absoluten ist, vom Absoluten isoliert und als ein Selbständiges fixiert" 147 . - Diese Gestalten sind Erzeugnis der „Kraft des Beschränkens" des Verstandes; zugleich aber macht sich in der Erscheinung ihr Ursprung, das Absolute als „Leben" oder „Vernunft" in den Beschränkungen selbst geltend. - Für den Verstand ist das Fixieren von Entgegensetzungen' oder Gegensätzen und das Verhaftetsein an sie charakteristisch, für die Vernunft das Interesse, „solche festgewordenen Gegensätze aufzuheben". Als solche Gegensätze werden „Geist und Materie, Seele und Leib, Glaube und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit usw." genannt, die „im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur und, für den allgemeinen Begriff, von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität übergegangen" sein sollen. Die Reflexion schließlich wird als ein Denken charakterisiert, das sich durch Aufhebung des Endlichen zur Vernunft zu erheben vermag, durch Fixierung des „Tuns der Vernunft" aber „sich wieder zum Verstand erniedrigt"14®. U n t e r R e f l e x i o n s p h i l o s o p h i e w i r d hier also ein Philosophieren verstanden, das in der Wirklichkeit des A b s o l u t e n v o r h a n d e n e E r s c h e i n u n gen u n d G e g e n s ä t z e in dieser ihrer E n t g e g e n s e t z u n g begreift u n d darü b e r hinaus einerseits in der einen o d e r anderen Weise das A b s o l u t e oder die V e r n u n f t z u erfassen v e r m a g , andererseits aber nicht in der L a g e ist, die G e g e n s ä t z e Gestaltungen, Unendlichkeit,

oder Entgegensetzungen insbesondere absoluter

den

in ihren

Gegensatz

Subjektivität

und

von

unterschiedlichen Endlichkeit

absoluter

und

Objektivität,

B e g r i f f u n d Sein, Bewußtsein und Bewußtlosem 1 4 9 w a h r h a f t a u f z u h e b e n . 145 146 147 141 149

Ebd. S. 11/19. Ebd. S. 12/19. Ebd. S. 12/20. Ebd. S. 13/21. S. 15/24, S. 17Í./27 u.ö.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

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Dabei werden die Einsichten der Reflexionsphilosophie nicht einfach für falsch erklärt, sondern als „Selbstreproduktionen der Vernunft" begriffen, die der „Objektivität des Absoluten" angehören, das sich „als eine objektive Totalität setzt" 150 . Die Kritik muß daher das zu bewahrende Notwendige und den zu überwindenden Mangel dieser Philosophie zeigen und verarbeiten. Das „Interesse der Vernunft", das Hegel gegen den ,Verstand' der Reflexionsphilosophie vertritt, ist deshalb auch nicht „gegen die Entgegensetzung und Beschränkung überhaupt" gerichtet; „denn die notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der höchsten Trennung möglich. Sondern die Vernunft setzt sich gegen das absolute Fixieren der Entzweiung durch den Verstand.. ."'51 Gegen dieses Verfahren der Fixierung der Gegensätze durch den Verstand macht Hegel die ursprüngliche Identität des Entgegengesetzten und Entzweiten im Absoluten geltend; und die Aufgabe der Philosophie ist dementsprechend „unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein Produzieren zu begreifen. In der unendlichen Tätigkeit des Werdens und Produzierens hat die Vernunft das, was getrennt war, vereinigt und die absolute Entzweiung zu einer relativen heruntergesetzt, welche durch die ursprüngliche Identität bedingt ist."'52 Damit sind die inhaltlichen Voraussetzungen für das Verständnis der Kritik an der üblichen Auffassung von Identität und Widerspruch, die Hegel zunächst am Beispiel der Grundsätze der Reinhold-Bardilischen Philosophie entwickelt, in den Grundzügen gegeben. Aus der Fülle der Hegeischen Überlegungen seien ergänzend noch folgende Punkte hervorgehoben: - Den Gegensatz von Verstand und Vernunft sieht Hegel nicht nur als innerphilosophischen Gegensatz von Reflexion und Spekulation: Das Verschwinden der „Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen" und das Anwachsen der „Macht der Entzweiung" ist Charakte-

150 151 152

S. 14/22. S. 13 f./21 f. S. 14/22.

286

Burkhard Tuschling ristikum des „ganzen Systems der Lebensverhältnisse", der „fortschreit e n d e ^ ) Kultur" 1 5 '. In diesen umfassenden Zusammenhang sind der „Kampf des Verstandes und der Vernunft" und des „Bedürfnis(ses) nach Wiederherstellung der Totalität" 154 einzuordnen, dessen Befriedigung Hegels Arbeit gilt. - D e m Gegensatz von Verstand und Vernunft, Standpunkt der Entzweiung und Standpunkt der Spekulation entsprechend unterscheidet Hegel zwei qualitativ verschiedene Formen der Aufhebung der Entgegensetzung: die bloß „gedachte Synthese", in der die Vereinigung von Subjektivität und Objektivität als Forderung fixiert, nicht in „echte Synthese aufgelöst" wird, während die „absolute Synthese" ein Sollen155 oder „ein Jenseits" 156 bleibt. Ihr tritt nun eben diese „absolute", „echte" oder „wahre" oder schließlich „höchste" 157 Synthese, die „wahre Aufhebung der Entgegensetzung und die höchste Auflösung der Antinomie durch Vernunft" 158 nicht etwa äußerlich gegenüber, sie geht vielmehr aus der Fixierung der Gegensätze durch den Verstand selbst, der damit das „Gesetz der Selbstzerstörung" 1 5 ' verwirklicht, hervor, vorausgesetzt, daß die Vernunft diesen Prozeß durchschaut. - Diesen für das Verständnis des Verhältnisses von Verstand und Vernunft, Notwendigkeit und Notwendigkeit der Negation des Widerspruchs, Falschheit und Wahrheit der formalen Logik, Reflexion und Spekulation usw. so wichtigen Prozeß der Fixierung der Gegensätze durch den Verstand, seiner darin realisierten Selbstzerstörung" 0 und ihrer Transformation in wahrhafte Aufhebung beschreibt Hegel u. a. wie folgt: „Fixiert der Verstand diese Entgegengesetzten, das Endliche und Unendliche, so daß beide zugleich als einander entgegengesetzt bestehen sollen, so zerstört er sich; denn die Entgegensetzung des Endlichen und Unendlichen hat die Bedeutung, daß, insofern eines derselben gesetzt, das andere aufgehoben ist. Indem die Vernunft dies erkennt, hat sie den Verstand selbst aufgehoben; sein Setzen erscheint ihr als ein Nicht-Setzen, seine Produkte als Negationen. Dieses Vernichten oder das reine Setzen der Vernunft ohne Entgegensetzen wäre, wenn sie der objektiven Unendlichkeit entgegengesetzt wird, die subjektive Unendlichkeit - das der objektiven Welt entgegengesetzte Reich der Freiheit. Weil dieses in dieser F o r m selbst entgegengesetzt und bedingt ist, so muß die Vernunft, um die

153 154 155 156 157 158 159 160

S. 1 4 Í . / 2 2 f. S. 1 5 / 2 4 . S. 4 5 / 6 8 . S.15Í./24. S. 2 3 / 3 5 . S. 4 6 / 7 0 . S. 1 8 / 2 8 vgl. auch die folgende Anmerkung. S . 1 7 , 2 7 f f . / S . 2 7 , 1 0 f f . ; S. 4 6 , 2 7 / S . 70,13; S. 82,18 ff./S. 123,2ff.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

287

Entgegensetzung absolut aufzuheben, auch dies in seiner Selbständigkeit vernichten. Sie vernichtet beide, indem sie beide vereinigt; denn sie sind nur dadurch, daß sie nicht vereinigt sind. In dieser Vereinigung bestehen zugleich beide; denn das Entgegengesetzte und also Beschränkte ist hiermit aufs Absolute bezogen."" 1 Hegel zeigt hier erstens die Ironie des Verfahrens des Verstandes: Durch Fixierung jeweils einer Seite des Gegensatzes intendiert der Verstand den Ausschluß der entgegengesetzten Bestimmung, schließt jedoch, in Umkehrung seiner Intention, die Kontradiktion nicht aus, sondern ein, jedoch ohne sich dessen bewußt zu sein. Denn die von ihm als bestimmt und begrenzt gesetzten Bestimmungen beziehen sich kraft dieser Begrenzung auf das, was sie ausschließen, und sind nur in dieser Beziehung oder insofern, als sie nicht die ausgeschlossenen Bestimmungen sind, oder eben nur ,als Negationen'. Zweitens: Das Bewußtsein (-machen oder -werden) dieser dialektischen Umkehrung des Widerspruchs zwischen dem antinomischen Inhalt des Satzes des Widerspruchs und seiner Form - und diesen Widerspruch nennt er eben das ,Gesetz der Selbstzerstörung' des Verstandes - bezeichnet Hegel als „Vernunft" ; und er gewinnt dieses Bewußtsein sowohl aus seiner Kritik der verschiedenen Formen von Reflexionsphilosophie, als auch im spekulativen Verfahren der Konstruktion absoluter Synthesen, die hier allerdings nur schematisch angedeutet und erst in den späteren Systementwürfen ausgeführt werden. Kritik und systematischer Konstruktion gemeinsam ist das Bewußtsein der Notwendigkeit der Auflösung der absoluten Gegensätze. Das wiederum impliziert die Idee eines ,reinen Setzens der Vernunft ohne Entgegensetzen', das jedoch nur - weil sich, formal ausgedrückt, die absolute Identität in relative Identitäten differenziert" 2 - im Durchlaufen verschiedener Stufen unvollkommener, die Entgegensetzung auf unterschiedlichen Niveaus nur reproduzierender Synthesen erreicht werden kann. Die letzte oder höchste Synthese, in der alle Bedingungen und Gegensätze wirklich beseitigt sind, beschreibt Hegel hier schematisch als „absolutes Negieren"" 3 oder Vernichten, das zugleich absolute Vereinigung und wahrhaftes Bestehen der Vernichteten ist. Absolute Vernunft ist das Bewußtsein dieser Bewegung dann, wenn es sie selbst als ihre eigene tätige Vereinigung der absoluten Subjektivität und Objektivität begreift. Drittens: In dieser Idee einer absoluten Vereinigung ohne Entgegensetzung ist auch in letzter Konsequenz allein der Widerspruch zwischen der Form des Satzes des Widerspruchs und seinem antinomischen 161 162 165

S.17Í./S.27. S. 27/41. S. 17/26.

288

Burkhard Tuschling Inhalt aufhebbar und spekulativ aufgehoben, und zwar dadurch, daß die absolute Synthese die diesem Inhalt allein angemessene, nicht mehr widersprechende Form gibt. - Die spekulative Differenzierung des Widerspruchsbegriffs ist mit einer Neufassung des Identitätsbegriffs verbunden, der mangelhaften Auffassung der Reflexionsphilosophie vom Widerspruch entspricht eine ebenso mangelhafte Auffassung der Identität als abstrakter Verstandesidentität. Als exemplarisch für ein in Entgegensetzungen verharrendes, nicht zur Vernunft gelangendes Verstandesdenken gilt Reinhold-Bardilis Begriff des Denkens und die darin enthaltene Auffassung von Identität. Und dies deshalb, weil er zur Verwechselung mit dem wirklich spekulativen Begriff von Identität Anlaß gibt: Der von Reinhold-Bardili angegebene „Charakter des Denkens als Denken", „die unendliche Wiederholbarkeit von einem und demselben als eines und eben dasselbe in einem und eben demselben und durch eines und eben dasselbe oder als Identität"164 ist jedoch nur scheinbar Vernunft und Aufhebung aller Entgegensetzung; realiter seiner eigenen „Anwendung" und einer absoluten Stoffheit entgegengesetzt"5 befestigt dieses Denken jedoch nur die absolute Entgegensetzung. Dieses „reine Denken", das „von aller Ungleichheit" und „von der Entgegensetzung" abstrahiert, nennt Hegel „in verständigen Sätzen sprechende Reflexionsphilosophie" oder Verstand; es ist dasjenige Denken, das in der formalen Logik wie in letzter Konsequenz auch in den verschiedenen Spielarten von Reflexionsphilosophie166 vorherrscht und dem absoluten Denken selbst absolut entgegengesetzt ist.

20. Unter diesen Voraussetzungen entwickelt Hegel erstmals167 seine Kritik an den Grundsätzen der Identität und des Widerspruchs. Zu diesem Zweck zitiert er aus Reinholds ,Beiträgen'168 die beiden, das Fundament der Reinhold-Bardilischen Philosophie bildenden Grundsätze, den des „reinen Denkens", ,A = A', und den des „Nichtden1H 165 166

167

168

S. 18/28f.; vgl. auch S. 26/40, S. 82/123, S. 87/129f. S. 18/29. Es kann deshalb auch ebensogut, statt mit Reinhold und Bardiii, mit Fichte, Jacobi oder Kant in Verbindung gebracht werden. Textgrundlage für das folgende ist insbesondere der Abschnitt S. 24,36 bis Seite 27,18/ S. 37,32 bis S. 41,20. Die Herausgeber der Suhrkamp-Ausgabe verweisen zu Seite 38 Zeile 12 ihrer Ausgabe sicherlich mit Recht auf Reinhold; ausdrücklich kritisiert wird auch dieser Teil der Reinholdschen Philosophie erst im Schlußabschnitt der Differenzschrift, dort übrigens wird dann auch Bardiii namentlich genannt.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

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k e n s " , , A = B ' . F ü r d a s Verständnis ihrer Kritik ist es nun sinnvoll, eine V e r s t a n d e s - (oder R e f l e x i o n s - ) u n d eine (spekulative oder) V e r n u n f t a n sicht dieser Sätze z u unterscheiden u n d die H e g e i s c h e K r i t i k als E n t w i c k l u n g der in der Verstandesansicht selbst enthaltenen V e r n u n f t z u begreifen. D i e Verstandesansicht charakterisiert H e g e l u . a . wie f o l g t : - In ,A = A' sieht der Verstand nur die von aller Verschiedenheit abstrahierende „Verstandesidentität", „reine Einheit" ohne Entgegensetzung 1 ". Als „Tätigkeit ausgedrückt" bezeichnet dieser Satz die ins Unendliche mögliche Setzung ein und desselben Etwas, die „unendliche Wiederholbarkeit des A als A " , das Denken als Abstraktion 170 . - In ,A = B' drückt sich die zweite Grundvoraussetzung von Reinhold und Bardiii aus, nämlich das Vorhandensein eines vom Denken wesentlich verschiedenen Stoffs, der Gegenstand der Anwendung für das Denken ist. Insofern wird in ihm eine Beziehung des Denkens auf ein ,Nichtdenken' gedacht, aber eben nur gedacht. Das „ = " in ,A = B' wird nach dem Muster der in ,A = A' ausgedrückten Verstandesidentität aufgefaßt; damit wird unter Abstraktion der in ,A = B' ausgedrückten Verschiedenheit171 auch in ,A = B' nur auf die darin gedachte Identität beider Seiten reflektiert172. - Eben darin ist auch bereits das von der Reflexionsansicht angenommene Verhältnis beider Grundsätze zueinander ausgedrückt, nämlich „eine gewisse Art von Beziehung beider aufeinander, welche eine Anwendung des Denkens heißt und eine höchst unvollständige" (oder auch: schwache) „Synthese ist"173. In dieser unvollkommenen Synthese ist „das Denken in der einzigen Form des ersten, dem zweiten entgegengesetzten Satzes mit dem Charakter einer abstrakten Einheit als das erste Wahre der Philosophie gesetzt" 174 . D i e s e die Widerspruchsfreiheit intendierenden Sätze sind nun nach H e g e l s A u f f a s s u n g j e d o c h ihrerseits „ w i d e r s p r e c h e n d e Sätze" 1 7 5 . Das bedeutet zunächst einmal, daß sie einander widersprechen 176 . Begründung: der zweite Satz widerspricht dem ersten deshalb, weil in ihm „die 169 170 171

172 175 174 175 176

S. 25,1 ff./S. 37,35 ff. S.26,25ff./S.40,1 I f f . Zunächst von A und B, darin enthalten aber von A und Nicht-A, wie weiter unten im Text gezeigt werden soll. S. 26,10 ff./S. 39,26 ff. S. 26,30 f./S. 40,18 f. S. 26,22/S. 40,4 ff. S. 16,10/S. 25,12. D a ß sie sich aus selbst widersprechen, d . h . den Widerspruch enthalten, soll weiter unten gezeigt werden.

290

Burkhard Tuschling N i c h t - I d e n t i t ä t . . . , die reine Form des Nichtdenkens" 177 , „Materie" 178 , „ein Mannigfaltiges" oder „ein absolut mannigfaltiger Stoff" 1 7 ' ausgedrückt ist, und zwar so, daß die reine Identität ausgeschlossen wird 1 ' 0 . Schon dieser W i d e r s p r u c h in dieser Beziehung der beiden Sätze

zueinander wird v o m „ b l o ß e n " Verstand nicht erkannt, und z w a r aus d e m oben, Seite 2 8 9 genannten Grund 1 8 1 . Hegels Kritik läuft auf den E i n w a n d hinaus, der „ V e r s t a n d " reflektiere nur die Identität, nicht die A n t i n o m i e , die sich in der Beziehung beider G r u n d s ä t z e ausdrücke 1 8 2 . E s fragt sich, was H e g e l damit nun genau sagen will. D a ß sich der erste und der zweite G r u n d s a t z wirklich k o n t r a d i k t o risch zueinander verhalten,

kann man sich klarmachen, w e n n

beachtet, daß beide „unbedingt" sein und alle Verschiedenheit

von

man sich

( d . h . alles v o n ihnen Differente, ihnen „ E n t g e g e n g e s e t z t e " ) uneingeschränkt ausschließen sollen. Das w i e d e r u m bedeutet: a) für den ersten Grundsatz: weil er ausschließlich die Identität ausdrükken soll, schließt er jede Form der Ungleichheit oder Nichtidentität aus, jedes Nicht-A, also auch B. Formal ausgedrückt besagt er deshalb: (1) (A = A) = [(A = Α) Λ (Α Φ Nicht-A)] D a nun der Teilausdruck ,(A Φ Nicht-A)' von (1) für beliebige Nicht-A erfüllt sein, also auch für Β gelten soll, so gilt (2) ( Α = Α )_ = (Α Φ Β ) b) für den zweiten Grundsatz: weil er ausschließlich Nichtidentität ausdrücken soll, schließt er jede Form der Gleichheit oder Identität aus; oder inhaltlich: weil er ausschließlich Nichtdenken, Stoff, Materie, Mannigfaltiges ausdrücken soll, schließt er alles Denken, jede Reflexionsgleichheit, Einheit und insbesondere die Sichselbstgleichheit oder abstrakte Identität ,A = A ' aus und besagt deshalb: (3) (Α =

177 178 179 180 181

182 183

Β) =

[(Α =

Β) λ ~

(Α =

A)]'83

S. 25,10/S. 38,11 f. S. 2 6 , 2 8 / 4 0 , 1 5 . S.27,11 ff./41,9ff. S.25,9ff./38,10ff. „Für den bloßen Verstand sagt Α = Β nicht mehr aus als der erste Satz; der Verstand begreift alsdann nämlich das Gesetztsein des A als Β nur als eine Wiederholung des A, d. h. er hält nur die Identität fest und abstrahiert davon, daß, indem A als Β oder in Β gesetzt, wiederholt wird, ein Anderes, ein N i c h t - A gesetzt ist, und zwar als A , also A als N i c h t - A . " ( S . 2 6 , 1 0 f f . / 3 9 , 2 6 f f . ) . S. 26,8 ff./39,23 ff. und S. 17,13 ff./41,12 ff. , = ' bedeutet wie üblich gleichbedeutend mit' oder äquivalent'; , λ ' steht für , u n d ' , , — ' steht für ,nicht'.

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Werden nun die beiden Grundsätze in dieser entwickelten Form verstanden, so ist ihr kontradiktorisches Verhältnis offensichtlich. Denn der erste Grundsatz enthält - sichtbar in der Form (2) - die Negation ,A Φ Β' des zweiten, ,A = B'. Und umgekehrt enthält der zweite Grundsatz in einem Glied der Konjunktion auf der rechten Seite von (3) die Negation des ersten. In der Verbindung beider Grundsätze tritt also eine Kontradiktion auf. Es ist Hegel damit gelungen zu zeigen, daß sich das auf Widerspruchsfreiheit bedachte ,Verstandesdenken' der Reflexionsphilosophie, indem es beide Grundsätze behauptet, notwendigerweise in Widersprüche verwickelt und damit gegen seine eigenen Voraussetzungen verstößt. Allerdings ist zu beachten, daß diese Notwendigkeit zunächst einmal eine bedingte ist: sie ist abhängig von dem Verständnis, das die Reflexionsphilosophie von diesen Grundsätzen - i.e. ihrer Unbedingtheit und absoluten Entgegensetzung - hat. Diese Kritik darf nun jedoch nicht mißverstanden werden: Hegel kritisiert das ,Verstandesdenken' nicht dafür, daß Widersprüche auftreten, sondern dafür, daß es sie nicht bemerkt; sich auch darin als ,abstrakt' erweist, daß es von diesen Widersprüchen abstrahiert; und sich daher auch nicht von dem damit verbundenen Verstoß gegen sein eigenes Prinzip, das der Widerspruchsfreiheit, Rechenschaft ablegen und reflektiert Konsequenzen daraus ziehen kann. Diese Bewußtlosigkeit kommt nun in verschiedenen Momenten zum Ausdruck: Erstens geschieht der Ubergang vom 1. zum 2. Grundsatz unreflektiert: Daß das „Setzen des Entgegengesetzten" 18 " überhaupt notwendig ist185, wird vom Verstand nicht gesehen. Die Vernunft postuliert diesen Übergang als Aufhebung der abstrakten Einheit des 1. Grundsatzes 186 . Dennoch ist dieses Vernunftpostulat nichts dem Verstand Äußerliches. Denn er ist es, der in seinem abstrakten Denken diesen Schritt tut. Doch geschieht ihm dieser Ubergang nur, und die Vernunft ist nichts als das Wissen von dem, was da im Denken des Verstandes geschieht. Oder schließlich: sie ist das an sich im Verstand selbst vorhandene Wissen von dieser Abstraktion. Zweitens: Da der Verstand auch diese absolute Entgegensetzung von abstrakter Einheit, Identität, Denken usw.187 einerseits, bloßer Entgegen184 185 186 187

S. 2 5 , 7 / 3 8 , 7 . S. 2 6 , 2 7 / 4 0 , 1 3 f. S.25,5ff./38,4ff. Diese Verbindung von logischen und inhaltlichen Momenten ist Hegel zunächst einmal durch seine Vorlage, nämlich durch die verschiedenen von ihm kritisierten Fassungen

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Burkhard Tuschling Setzung, Nichtidentität, Stoff usw. andererseits nun wiederum bloß abstrakt auffaßt, abstrahiert er im selben Atemzug auch wieder von dieser absoluten Entgegensetzung, indem er a) auch in der absoluten Verschiedenheit nur die einfache Gleichheit, in ,A = B' eben nur dasselbe wie in ,A = A' sieht1" und b) beim Versuch, seine eigene Vorschrift zu befolgen, denkend nur die unendliche Wiederholung des A als A zu realisieren und damit abstrakter Verstand zu bleiben, nicht umhin kann, sich doch auf das Nichtdenken zu beziehen, eben damit von der absoluten Entgegensetzung, die sein Ausgangspunkt war, zu abstrahieren und so die Identität dessen, was absolut entgegengesetzt sein sollte, zu denken. Dies ist nun zwar keine angemessene Form der Aufhebung der absoluten Entgegensetzung (die nach Hegel dem Verstand nicht möglich ist18'). Aber selbst diese „schwache Synthese" bedeutet einen neuerlichen Verstoß des Verstandes gegen seine Prinzipien: beim Versuch, „A = A" zu denken, wird „in der Anwendung" dieses Satzes „A zugleich als Nicht-A" gesetzt190.

Wiederum sieht es so aus, als trete der Widerspruch nur in der Beziehung des ersten auf den zweiten Grundsatz („in der Anwendung") auf, als sei mithin das ,reine Denken' in sich selbst, das Denken des ,A = A' als unendliche Wiederholbarkeit des Immergleichen und dementsprechend schließlich auch das Denken des zweiten Grundsatzes, der absoluten Verschiedenheit, widerspruchsfrei (möglich). U n d man ist versucht, Hegels Bestimmung des „Grundfehlers" des „formalen" oder „analytischen Wesens" - nämlich „daß in formaler Rücksicht auf die Antinomie des A = A und des Α = Β nicht reflektiert ist"1'1 - so zu verstehen, daß der Widerspruch ,als Antinomie', und d. h. eben: nur in der Konjunktion von ,A = A' und ,A = B', nicht jedoch in beiden Sätzen für sich genommen auftrete. Der Widerspruch wäre damit auf

188 189

191

von Reflexionsphilosophie vorgegeben. Er macht sie sich aber auch zueigen, da dies eben der Pointe seiner Kritik an dem bisherigen Verständnis von Logik konsequent entspricht. Im folgenden sind daher immer inhaltliche Momente wie Denken oder Subjektivität einerseits, Nichtdenken, Materie, Mannigfaltiges, Stoffheit andererseits zu den im engeren Sinne reflexionslogischen Bestimmungen der Identität oder Gleichheit bzw. Nichtidentität oder Entgegensetzung hinzuzudenken. Vgl. nochmals S. 26,10 ff./39,26 ff. Nach Hegel ist der Verstand gerade dadurch definiert, daß er, eben weil er von aller Antinomie abstrahiert, dazu nicht fähig ist. Vollzieht er die Aufhebung der absoluten Entgegensetzung bewußt, wird er zur Vernunft. S. 26,32 f./40,20 f. S. 27,13 ff./41,12 ff.

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einfache Weise vermeidbar: man brauchte eben nur die Konjunktion beider Sätze nicht zu setzen oder, wo gesetzt, aufzulösen. Die entscheidende Frage ist deshalb: Ist die Konjunktion auflösbar, der Widerspruch mithin zu vermeiden oder sind beide notwendig? Nun, ich bin fest davon überzeugt, daß nach Hegel das letztere der Fall ist, Konjunktion und Widerspruch daher beide unvermeidlich sind, und zwar deswegen, weil sie beide in jedem Glied der Konjunktion des ersten und des zweiten Grundsatzes auch für sich genommen auftreten, jeder Grundsatz also den anderen und damit die Kontradiktion nichteliminierbar enthält. Dies scheint mir die entscheidende Pointe von Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie und der bisherigen Logik schon in der Differenzschrift zu sein. Davon hoffe ich den Leser durch die folgenden Überlegungen zu überzeugen. Es hieße die bislang referierte Kritik Hegels mißverstehen, in der Kritik der Abstraktionen des ,Verstandesdenkens' auf halbem Wege stehenbleiben und eben deshalb den Fehler dieses Denkens wiederholen, wenn man annehmen wollte, der Widerspruch sei durch einfache Auflösung der Konjunktion der beiden Grundsätze zu vermeiden. Denn das würde - unter Berücksichtigung der inhaltlichen Interpretation der Grundsätze durch die ,Reflexionsphilosophie' - bedeuten, daß man das Denken in einfachen Identitäten selbst für widerspruchsfrei und, wie oben schon gesagt, nur die Anwendung auf einen als absolut verschieden angenommenen Stoff für widersprüchlich hält. Demgegenüber scheint mir Hegels neue Einsicht auch so formulierbar zu sein: eben dieser Gedanke — und mit ihm sein formaler Ausdruck ,A = A', sofern man diesen Satz als abstrakten Satz und nicht als Ausdruck des ,absoluten' Denkens nimmt - ist selbst widersprüchlich; der Widerspruch kann von der Abstraktion nicht abgehalten werden (weil er in ihr selbst enthalten ist). Seine Aufhebung kann daher auch nicht wiederum in der Abstraktion geschehen, d.i. nicht durch einfache Abtrennung des Inhalts von der Form (sie würden damit erneut fälschlicherweise als absolut verschieden gedacht), indem man eben ,A = A' und ,A = B' als in sich widerspruchsfrei annimmt und getrennt voneinander setzt. Und schließlich gilt nach Hegels Verständnis noch dies: So wenig Inhalt und Form, so wenig können ,Denken' und ,Anwendung des Denkens' als ,reines Denken' und Beziehung auf einen ,absolut verschiedenen Stoff' einander entgegengesetzt und eine Lösung von Widersprüchen auf diesem Wege gesucht werden.

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Daß dem so ist, kann man sich klarmachen, wenn man Hegel folgt und „in formaler Rücksicht auf die Antinomie des A = A und des Α = Β . . . reflektiert." Dabei wird sich u.a. ergeben, daß die oben in der Darstellung der Widerspruchsbeziehung zwischen dem 1. und dem 2. Grundsatz genannte Bedingung ihres Auftretens - nämlich die Voraussetzung des Verstandes, daß die Grundsätze und damit Identität und Nichtidentität einander absolut entgegengesetzt sind - selbst aufgehoben und der Widerspruch deshalb als unbedingt notwendig angesehen werden muß. Es kommt also alles darauf an, sich ein angemessenes Verständnis dieser neuen, nicht-abstrakten Form der ,Aufhebung' des Widerspruchs zu verschaffen. Hegel selbst kommt bei seiner ,Reflexion auf die Antinomie' beider Grundsätze zu folgenden Ergebnissen: Betrachtet man den zweiten Grundsatz vom Standpunkt des Verstandes, so sieht man seine Form als zufällige, subjektive Zutat an: es kommt dem Nichtdenken - der Nichtidentität, dem ,absoluten' Stoff - nicht notwendigerweise zu gedacht zu werden. Daher kommt ihm auch die Form ,A = A ' und speziell die durch , = ' symbolisierte Relation - die Form der Identität, des Beziehens, des abstrakten Denkens - , die allein dafür erforderlich ist, daß es gedacht werden kann, nicht notwendigerweise zu. Notwendigerweise kommt der Nichtidentität nur zu, Inhalt - Stoff, Materie usw. - zu sein. Der zweite ist also durch den ersten Grundsatz bedingt, „insofern er, um ein Satz zu sein, einer Beziehung bedarf." 1 ' 2 Ein Satz zu sein aber ist für den Inhalt des zweiten Grundsatzes durchaus zufällig.

Diese Reflexionen des Verstandes sind jedoch ihrerseits nur falsche Abstraktionen. Reflektiert man nämlich, wie gefordert, in formaler Rücksicht auf die Antinomie, d. h. die Konjunktion ,(A = Α) Λ (A = Β)', so ergibt sich, daß die Form der Identität oder des Beziehens für den zweiten Grundsatz nicht (nur) subjektiv-zufällige Zutat, sondern wesentlich ist; und daß sein Inhalt, nämlich Ungleichheit und Nichtidentität, absolut gedacht, auch absolute Nichtidentität und Ungleichheit mit sich selbst, d.h. absolute Gleichheit bedeutet. Dem vom Denken absolut unterschieden gedachten Stoff kommt also gerade in Konsequenz der Abstraktion von seiner Beziehung aufs Denken Identität - Gleichheit, Einheit, die Form des Denkens oder der Reflexion also zu. " 2 S. 2 5 , 1 2 ff. u n d 20 f f . / S . 38,14 ff. u n d 28 f.

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Dies kann man sich anhand der oben benutzten Schemata so klarmachen: In (3) ist der Ausdruck der wesentlichen Verschiedenheit der Nichtidentität von der Identität - des Stoffs von der F o r m , der Materie v o m Denken usw. - der Teilausdruck (A = A)'. D a nun kraft Voraussetzung dem Inhalt ,B' wesentliche Verschiedenheit von der Wiederholung des Immergleichen und von aller Identität - d. h. von ,A, A , . . A , . . . , A , A ' oder kurz von ,A = A ' - zugesprochen (oder eben die Relation , = ' abgesprochen) wird, kann dieser Teilausdruck auch durch (B = B)' oder durch ,Β Φ Β ' ersetzt werden. Zu demselben Ergebnis gelangt man natürlich auch aufgrund der im Formalismus als solchem angenommenen allgemeinen Ersetzbarkeit von ,A' durch ,B'. In jedem Fall läßt sich daher der Teilausdruck (Α = A ) ' von (3) entwickeln z u : (4) [ ~ ( Α = Α ) ] = [ ~ (Β = Β ) ] = (Β

Φ Β).

U n d schließlich könnte, da ,A = B', der bloßen F o r m nach und unter Abstraktion von seinem Inhalt, ein Fall von ,A = A ' ist, auch noch geschrieben werden: (5) ~ (Α = Α ) ξ (4) M i t t e = (4) rechte Seite = ~ (Α = B)

Also ergibt sich aus (5) und (3):

D a s aber bedeutet: D e m unter Abstraktion von allem Denken absolut gedachten Inhalt kommt selbst, als Inhalt, diejenige F o r m zu, die kraft Voraussetzung nur der F o r m als F o r m oder dem abstrakten Denken z u k o m m t . U n d das wiederum ist gleichbedeutend damit zu sagen: der zweite Grundsatz hat eine nichtzufällige Beziehung auf den ersten G r u n d s a t z ; die F o r m ,A = A ' ist mithin nicht eine zufällige, bloßsubjektive Zutat z u m zweiten Grundsatz, „von der, um seine Materie rein zu haben, abstrahiert werden m u ß " " 3 , sondern kommt ihm, gerade wenn man von seiner Beziehung zum Denken abstrahiert und das jNichtdenken' dem Denken absolut entgegensetzt, ebenfalls zu. D i e Antinomie bezeichnet deshalb nicht allein das Verhältnis oder die K o n 1,3

S. 25,27 f./S. 38,22 f.

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junktion der beiden Grundsätze, die Kontradiktion tritt vielmehr auch im zweiten Grundsatz für sich genommen auf, und zwar genau unter den vom ,Verstand' oder der ,Reflexionsphilosophie' gemachten Voraussetzungen. Formal betrachtet kommt das in der Konjunktion von ,A = B' mit seiner Negation in (6) zum Ausdruck. Man kann es aber aus der rechten Seite ,(A Φ Β)' von (6) ebensogut entwickeln: Denn da ,Α Φ Β' kraft Voraussetzung der absoluten Entgegensetzung des 1. und 2. Grundsatzes oder nach (2) gleichbedeutend mit ,(A = A)', ergibt sich schließlich (7) (Α = Β) Ξ (Α = Α) = [(Α = Α) λ ~ (Α = Β)] = {(Α = Β) Λ ~ (Α = B)] Das abstrakte Denken, das von der absoluten Entgegensetzung des ,Α = A' und des ,Α = B' ausgegangen war, widerspricht also dieser seiner Voraussetzung selbst oder hebt sie auf. Daher kann Hegel auch sagen: vom Standpunkt der Vernunft aus, die das Bewußtsein vom abstrakten Charakter der Abstraktionen des Verstandes und damit der ihnen immanenten Widersprüche ist, ist ,B' bzw. ,Α = B', die Nichtidentität, dem ,A' oder ,Α = A', nicht absolut entgegengesetzt, vielmehr sind sie absolut betrachtet identisch oder dasselbe. Diese absolute Identität kann nun aber nicht durch einfache Negation und damit durch falsche Abstraktion von den bleibenden Unterschieden der Entgegengesetzten ,A' und ,B' gewonnen werden; sie wäre sonst ihrerseits eine einfache Wiederholung der abstrakten Identität des ,Α = A'. Sie muß daher - dies ist wohl das wichtigste Ergebnis der Reflexion auf die Form der Antinomie - eine von der in ,Α = A' ausgedrückten abstrakten Identität verschiedene Gestalt haben, in der die Unterschiede als Unterschiede erhalten bleiben und ihr Zusammenfallen in unterschiedslose Sichselbstgleichheit verhindert wird. Sie kann daher nur als eine sich in der Verbindung von ,(A = Α)', ,(A Φ A)', ,(A = Β)', ,(A Φ Β)' usw. verwirklichende Identität gedacht werden, in der die Voraussetzung des abstrakten Denkens, die sich bewußtlos bereits selbst aufgehoben hat, auch bewußt aufgehoben wird: nämlich die Voraussetzung der absoluten Entgegensetzung von Identität und Nichtidentität. Die absolute - im Unterschied zur bloß abstrakten - Identität ist daher, bloß der Form der Antinomie nach betrachtet, die Identität der Identität und Nichtidentität (von A und Nicht-A, A und B)194. Die 194

Hegel gebraucht diese Formulierung in der Differenzschrift erst später, nämlich S. 64,13 ff./96,15 ff. in dem folgenden Satz: „Das Absolute selbst aber ist darum die

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Antinomie oder Kontradiktion ist die diesem Gedanken angemessene Form. - Dies ist durch die vorstehenden Überlegungen jedenfalls für den zweiten Grundsatz gezeigt worden, so daß von ihm gesagt werden kann: Der Widerspruch von Identität und Nichtidentität ist der - kraft Voraussetzung des Verstandes - absolut gedachten Nichtidentität selbst immanent. Die absolute Identität im eben beschriebenen Sinne ist daher die einzig angemessene Form der Aufhebung dieses Widerspruchs, weil die Befolgung des Satzes des Widerspruchs - nämlich den Widerspruch durch Abstraktion ausschließen zu wollen - nur zu seiner unendlichen und bewußtlosen Reproduktion führt. Und eben dies, daß das Verfahren des Abstrahierens von Kontradiktionen nichts als ihr bewußtloses Setzen ist, erlaubt es Hegel, mit Bezug auf den Satz des Widerspruchs von einem „Gesetz der Selbstzerstörung" der Reflexion zu sprechen. Da sich nun der Gedanke der absoluten Entgegensetzung von ,A' und ,B' - als Denken und Stoff des Denkens usw. interpretiert - , wie am zweiten Grundsatz gezeigt, als falsche Abstraktion erwiesen, nämlich sich selbst aufhebend zur gegenteiligen Annahme geführt hat, muß sich dasselbe auch am ersten Grundsatz nachweisen lassen. Oder dasselbe unter einem anderen Gesichtspunkt ausgedrückt: es muß gezeigt werden können, daß der Widerspruch oder die kontradiktorische Konjunktion des ersten und des zweiten Grundsatzes nicht nur der Seite des ,Stoffs', sondern auch der der ,Form', d.h. dem ersten Grundsatz für sich genommen immanent ist, sie also deshalb notwendigerweise (und nicht bloß durch äußerliche „Anwendung") auf das ihr Entgegengesetzte bezogen ist, weil diese Beziehung in Gestalt der Kontradiktion in ihr selbst enthalten ist. Hegel nennt dafür zwei (allerdings miteinander zusammenhängende) Gründe: Erstens bringt schon die Form der abstrakten Identität, das ,A = A', selbst und nicht erst ihre Anwendung auf einen von ihr absolut verschieden gedächten Stoff die Verschiedenheit des A von sich selbst Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm." Diese Formulierung kann aber m. E. legitimerweise zurückbezogen werden auf den hier diskutierten Kontext, in dem es um das Reflektieren auf die Antinomie in formaler Rücksicht geht. Ich zitiere deshalb nochmals S . 2 7 , 1 3 f f . / 4 1 , 1 2 f f . : „Der Grundfehler kann so vorgestellt werden, daß in formaler Rücksicht auf die Antinomie des A = A und des Α = Β nicht reflektiert ist. Einem solchen analytischen Wesen liegt das Bewußtsein nicht zum Grunde, daß die rein formale Erscheinung des Absoluten der Widerspruch ist - ein Bewußtsein, das nur entstehen kann, wenn die Spekulation von der Vernunft und dem A = A als absoluter Identität des Subjekts und Objekts ausgeht."

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das ,A = A' und das ,Α Φ A' - , und zwar durch den Unterschied der Stellung des A als Subjekt und des A als Prädikat, zum Ausdruck" 5 . Eben damit jedoch zerstört sich die Voraussetzung der Abstraktion von allen Unterschieden, und zwar bloß kraft der Form des Denkens, selbst. Zweitens kommt diese Selbstzerstörung der Abstraktion auch darin zum Ausdruck, daß der Unterschied der bloßen Stellung oder Wiederholung des A als A . . . A . . . A etc. ins Unendliche, der unter Abstraktion von aller Verschiedenheit gedacht werden soll, so nicht gedacht werden kann: die Wiederholung des A bedarf der Beziehung des A auf verschiedene B, C, D usw.196 Der Gedanke der bloßen Wiederholbarkeit des A, der das Nicht-A ausschließt, schließt daher den Gedanken der Beziehung des A auf das Nicht-A ebensosehr auch ein; d.h. das Denken der einfachen Identität in Form der Beziehung des ,A = A' ist nur in Verbindung mit dem Gedanken der Nichtidentität (,A = NichtA', ,A = B') möglich, und dies auch der Form des Denkens nach, unter Voraussetzung der Abstraktion von der Beziehung auf irgendwelche Inhalte. Das Denken von A schließt das Denken von Nicht-A oder Β ein. Daraus wiederum folgt: die Form der Verbindung von Identität und Nichtidentität kommt der im ersten Grundsatz absolut für sich gedachten Seite des Denkens ebenso zu wie der im zweiten Grundsatz gedachten Seite des absoluten Inhalts. Aufgrund der immanenten Entwicklung der Voraussetzungen des abstrakten Denkens also läßt sich die Identität beider Seiten nach Form und Inhalt sowie die Notwendigkeit der Beziehung beider aufeinander zeigen. Der Fehler der Verstandesreflexion läßt sich daher nach Hegel auch so ausdrücken: Falsch ist die vorausgesetzte Unbedingtheit beider Grundsätze, und dieser Fehler wiederholt sich in allen Formen der Reflexionsphilosophie 197 . Die Folge ist, daß die Identität des ,Α = A' und des ,Α = B', die jedenfalls in einigen Kontexten der Reflexionsphilosophie doch auch gedacht werden soll, nicht gedacht wird, die gesuchte „wahre Synthese" bleibt unerfüllte Forderung 198 . Eine solche „wahre Synthese", ein wirkliches Begreifen sowohl der Identität als der 1,5

1,7

198

S.26,5 f./39,20f. S.27,6ff./41,4ff. W e n n auch in unterschiedlicher Weise, ζ. B. in der Fichteschen anders als bei Reinhold (s. die nächste A n m e r k u n g ) . S. 33,21 ff./S. 50,9 ff. mit Bezug auf Fichte gesagt.

W i d e r s p r ü c h e im transzendentalen Idealismus

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Entgegensetzung 1 " ist nach Hegel nur möglich, wenn die falschen Voraussetzungen aufgehoben werden, und das heißt hier: wenn die Bedingtheit beider Grundsätze durch ihre wesentliche Beziehung aufeinander oder das Enthaltensein des einen im anderen begriffen wird, also eingesehen wird: Identität schließt Nichtidentität aus und ein; und umgekehrt schließt Nichtidentität Identität aus und ein. So erweisen sich Nichtwiderspruch und Widerspruch für das Denken von Identität und Nichtidentität als gleich notwendig. Und insofern nun Identität und Nichtidentität, ,absolut' betrachtet, identisch sind, können auch ihre formalen Ausdrücke ,A = A' und ,A = B' als identisch betrachtet werden: „ I n s o f e r n der zweite so ausgesprochen wird, daß der erste zugleich auf ihn b e z o g e n ist, so ist er der höchstmögliche A u s d r u c k der Vernunft durch den V e r s t a n d ; diese B e z i e h u n g beider ist der A u s d r u c k der Antinomie, und als A n t i n o m i e , als A u s d r u c k der absoluten Identität ist es gleichgültig, Α = Β oder A = A zu setzen, wenn nämlich Α = Β und A = A als Beziehung beider Sätze g e n o m m e n wird. A = A enthält die D i f f e r e n z des A als Subjekts und Α als O b j e k t s zugleich mit der Identität, s o wie Α = Β die Identität des A und Β mit der D i f f e r e n z beider."™

Der bloßen Form also ist nicht zu entnehmen, ob ein Denken, das sich ihrer bedient, abstrakt oder spekulativ ist. ,A = A' kann ebensogut als Ausdruck der einfachen wie als Ausdruck der „absoluten Identität" des Subjekts und des Objekts verstanden werden; doch nur das letzte führt nach Hegel zum spekulativen Verständnis des Widerspruchs als „rein formale(r) Erscheinung des Absoluten" 201 .

21. Hieraus ergeben sich nun Konsequenzen für den Satz des Widerspruchs. Es ist in der Tat auch nach Hegels spekulativem Verständnis des m

In der D i f f e r e n z s c h r i f t unterscheidet H e g e l n o c h nicht mit derselben D i f f e r e n z i e r t h e i t wie später in der W i s s e n s c h a f t der L o g i k z w i s c h e n den verschiedenen R e f l e x i o n s b e s t i m m u n g e n , i n s b e s o n d e r e nicht z w i s c h e n verschiedenen Stufen der Verschiedenheit E n t g e g e n s e t z u n g o d e r des U n t e r s c h i e d s . D i e G r u n d p o s i t i o n scheint mir in allen wesentlichen P u n k t e n in der D i f f e r e n z s c h r i f t s c h o n dieselbe zu sein wie später in der großen L o g i k .

200

S. 25,36 f f . / S . 39,13 ff. S. 27,15 f f . / S . 41,14 ff.

201

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Logischen notwendig, den Widerspruch oder Nicht-A von A auszuschließen. Denn ein solches Ausschließen oder das Festhalten der einfachen Identität ist Grundlage allen Bestimmens in allen Kontexten überhaupt. Und insofern - aber eben auch nur insofern - kommt der Form ,Α λ A' und ihren Varianten202 Allgemeingültigkeit zu. Diese aber ist nur bedingt. Denn wie an der Form ,Α Λ ~ ~ A'203 gezeigt werden kann, ist sie auf ihr Entgegengesetztes', die zu ihr kontradiktorische Form ,Α λ ~ A' selbst bezogen. Dieses Ergebnis seiner Überlegungen bringt Hegel auf die Formel, daß „der Widerspruch ebenso notwendig ist als der Nichtwiderspruch."204 Weil nun aber der Satz des Widerspruchs, nicht als Reflexionsform oder bloße Variante der einfachen Identität genommen, sondern als Satz der traditionellen Logik unbedingte Allgemeingültigkeit beansprucht, ist er falsch. Denn damit schreibt er ein Verfahren vor, das a) in allen Kontexten die Abstraktion von der Beziehung eines beliebigen , A ' zu , N i c h t - A ' verlangt, die doch jedes , A ' als ,A' notwendigerweise hat;

und b) weil die Abstraktion in letzter Konsequenz nicht möglich (nämlich umgekehrt die Beziehung oder Konjunktion von A und N i c h t - A uneingeschränkt notwendig) ist, und daher nur zur Selbstzerstörung und bewußtlosen Reproduktion der Kontradiktion führt.

Aufgrund von a) erweist er sich als Hindernis der Entdeckung der Wahrheit, die nur in einer angemessenen Erfassung der Beziehung von A zu Nicht-A oder Β besteht. Aufgrund von b) zeigt sich, daß der Satz des Widerspruchs auch als falsche Abstraktion das Sichtbarwerden der wirklichen Verhältnisse, nämlich der Konjunktion von A und N i c h t - A oder, was wie gezeigt dasselbe ist: der Konjunktion von ,Α λ ~ ~ A' und ,Α Λ ~ A' in jedem A oder ,A = A' - nicht definitiv verhindern kann. Weil er jedoch ein falsches Abstraktionsverfahren als universale Denkregel propagiert, ist er bzw. das sich in ihm manifestierende, in abstrakten Entgegensetzungen fixierte Denken (,der Verstand') ständige

202

203

204

Es ist letzten Endes gleichgültig, ob man , Α λ ~ ~ Α ' , ~ ( Α λ ~ Α ) , ~ (Α φ A) oder irgendeine andere Variante schreibt. Oder, was dasselbe ist: an der einfachen Identität, dem Satz des Widerspruchs, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. S.25,35f./39,llf.

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Quelle unangemessener Auflösungsformen der so reproduzierten Widersprüche; der bewußte und deshalb angemessen denkende Umgang mit ihnen wird dadurch unmöglich. Die unbedingte Geltung muß dem Satz des Widerspruchs also abgesprochen werden, es kann ihm und seinen Alternativformen, dem Satz der Identität und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten - höchstens bedingte Geltung zugesprochen werden. Aber was heißt das? Nach dem bisher Gesagten offenbar nicht mehr als dies: ,bewußtes Umgehen' mit der Antinomie heißt begreifen, daß in aller Identität selbst die Beziehung des einfach-identischen A auf (s)ein Nicht-A enthalten ist, daher unter anderem auch der Satz des Widerspruchs selbst enthält, wovon er abstrahiert. Jedes ,A' muß also als (c) Vereinigung der Beziehung (a) der einfachen Gleichheit mit sich unter Ausschluß eines jeden Nicht-A; und (b) der Ungleichheit gegenüber sich selbst unter Einschluß seiner nichteliminierbaren Beziehung zu Nicht-A begriffen werden. Die Abstraktion ist also notwendig, die Form ,Α Λ ~ ~ A' deshalb allgemeingültig; sie ist es aber nur bedingt, weil mit dem Setzen des einfachen ,A' selbst die wesentliche Beziehung zu Nicht-A und damit die Aufhebung der bedingt-allgemeingültigen Form, die der Satz des Widerspruchs als unbedingt allgemeingültig behauptet, verbunden ist. ,Α Λ ~ ~ A' enthält selbst sein Gegenteil, ,Α Λ ~ A', und ist deshalb nur Erscheinungsform der Antinomie oder ,absoluten' Identität. Weil nun aber der Satz des Widerspruchs der traditionellen Logik - und zwar schon aufgrund seiner Form als Satz - die unbedingte Allgemeingültigkeit der Reflexionsform ,A' oder ,Α Λ ~ ~ A' unter Ausschluß der Kontradiktion behauptet, ist er falsch und kann auch nicht in die neue spekulative Logik, die Hegel aufbauen will, übernommen werden. Denn als Allgemeingültigkeit beanspruchender Satz behauptet er, daß das Auftreten von Kontradiktionen als solches Gedanken, Aussagen usw. unwahr mache. Er fordert damit nicht nur, wie richtig und notwendig, die bedingte Abstraktion von der Beziehung des A zu Nicht-A, die, da bedingt, auch wieder aufgehoben werden kann und muß. Sondern er behauptet bzw. fordert den Ausschluß eines der beiden Glieder einer jeden zweigliedrigen Kontradiktion und damit nach Hegel etwas Unmögliches, weil die einfache Identität, die der Satz des Widerspruchs selbst setzt, jene Konjunktion enthält und daher in striktem Sinne ohne sie nicht gesetzt, gedacht, Bestand haben kann. Der Satz des Widerspruchs ist also - um eine andere Implikation

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sichtbar zu machen - falsch, weil er ein ,wenn auch bloß formales' Wahrheitskriterium zu liefern beansprucht. Gerade darin aber liegt der ,Grundfehler': wird der Satz des Widerspruchs als solches genommen und als Konsequenzregel für den Schluß auf die Unwahrheit des Gegenteils eines Gesetzten benutzt, führt er aus den genannten Gründen nicht zur Wahrheit, sondern zur Unwahrheit. Denn die Widerspruchsfreiheit, die, um ein bestimmtes A als Grundlage weiterer Bestimmungen zu fixieren, in legitimer Abstraktion von jeder Beziehung zu Nicht-A, behauptet wurde, wird ohne jeden Beweis in illegitimer Generalisierung auf die Verhältnisse, von denen abstrahiert wurde, zurückprojiziert. Tatsächlich jedoch kommt diesen Verhältnissen - wie an den reinen Formen der Identität und Nichtidentität von Hegel gezeigt - gerade das Gegenteil, die wesentliche Beziehung oder Verbindung von A und Nicht-A zu. Dem aber widerspricht die Widerspruchsfreiheit als Form und ist deshalb selbst unwahr. Wahrer Ausdruck aller Wirklichkeit ist der bloßen Form nach allein die Antinomie, die einfache Identität und Nichtwiderspruch zusammen mit Nichtidentität und Widerspruch als gleichnotwendige Momente in sich begreift. Es bleibt also die bedingte Allgemeingültigkeit dessen, was im Satz des Widerspruchs intendiert ist; das wiederum bedeutet: der Satz des Widerspruchs muß, um in seiner ,Wahrheit' begriffen zu werden, als Satz aufgehoben und in etwas Neues transformiert oder als etwas anderes verstanden werden, nämlich als das, was er ist: als Abstraktion des A von jeder Verschiedenheit des A von Nicht-A, die als Abstraktion eben das enthält, wovon sie abstrahiert. Aus diesem Grunde muß sie gesetzt, durch dieses Setzen selbst auch wieder aufgehoben und als Moment der übergreifenden Einheit begriffen werden. Allein dieser Gedanke also bleibt von den sogenannten Denkgesetzen und damit von der formalen Logik - in dem zur Zeit Hegels üblichen Verständnis von Logik genommen - übrig, eben der Gedanke der Notwendigkeit der Abstraktion und ihrer Aufhebung als Grundformen allen Bestimmens. Diese Wahrheit und mit ihr die formale Logik ,hebt' Hegel in seiner eignen spekulativen Logik auf. Aber mehr als dieser - sicherlich selbst notwendige - Gedanke ist es auch nicht. Irgendeine über ihn hinausgehende Bedeutung von ,bedingter Notwendigkeit' oder ,Allgemeingültigkeit' des Satzes des Widerspruchs und der übrigen Sätze der formalen Logik zu vermuten - etwa besondere Bereiche des Denkens anzunehmen, in denen sie nach wie vor als Wahrheits-

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kriterien und Schlußregeln Geltung besitzen - , hieße nur den von Hegel kritiserten ,Grundfehler' erneut reproduzieren. Die moderne symbolische Logik, als uninterpretierter Kalkül betrieben und verstanden, wird hiervon nicht berührt. In ihr mag das, was dem Satz des Widerspruchs der alten aristotelischen Tradition der Logik oder ,Reflexionsphilosophie' entspricht, kontextrelativ Allgemeingültigkeit zukommen oder nicht. Damit ist jedoch über die Legitimität des Schlusses vom Auftreten von Kontradiktionen auf deren Unwahrheit in beliebigen Interpretationen nicht das geringste gesagt. Denn von denen war ja gerade abstrahiert worden, um den Kalkül aufzubauen und damit die Beweisbarkeit der L-Wahrheit der dem Satz des Widerspruchs entsprechenden oder irgendwelcher anderer Formen zu ermöglichen. Diese Abstraktion dann jedoch wieder dadurch rückgängig machen zu wollen, daß die so gewonnene Form zu einer universalen Schlußregel stilisiert oder einfach faktisch so gebraucht wird, ist ein Verstoß gegen die eigenen Voraussetzungen, die den Aufbau des Kalküls allein ermöglicht haben, ein illegitimer Schluß auf die universelle Gültigkeit einer uninterpretierten Form für alle überhaupt möglichen Interpretationen. Oder schließlich: der in jeder Beziehung grundlose Schluß, daß ,alles' (überhaupt Mögliche) eine Interpretation dieser Form ist, sie erfüllt. Schließlich ist noch zu erklären, was Hegel meint, wenn er die ,absoluten' Grundsätze 205 oder die Sätze der Identität und des Widerspruchs 206 analytisch und synthetisch zugleich nennt: ,analytisch' ist der Satz des Widerspruchs ζ. B. deshalb, weil er aus der bloßen Form der Identität des A oder des ,A = A' entwickelt und eingesehen werden kann. Synthetisch' ist er, weil er die - oben ausführlich erörterte notwendige Beziehung zu seinem Gegenteil enthält206'. Deshalb kann Hegel im Skeptizismus-Aufsatz auch sagen: 205

In der Differenzschrift: S.24.3/S. 36,21 f. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, hrsg. von G. Lasson, 2. Teil Hamburg 1963, S. 30 und 32. 2Ma £)¡ e s e s Enthaltensein des Widerspruchs im Satz des Widerspruchs wird von Hegel in der Wissenschaft der Logik an der angegebenen Stelle S.32 ausdrücklich erklärt: „Es erhellt hieraus, daß der Satz der Identität selbst und noch mehr der Satz des Widerspruchs nicht bloß analytischer, sondern synthetischer Natur ist. Denn der letztere enthält in seinem Ausdrucke nicht nur die leere, einfache Gleichheit mit sich, sondern nicht allein das Andere derselben überhaupt, sondern sogar die absolute Ungleichheit, den Widerspruch ansich. Der Satz der Identität selbst aber enthält, wie angezeigt wurde, die Reflexionsbewegung, die Identität als Verschwinden des Andersseins." Von diesem Verständnis ausgehend möchte ich auf die zwei neueren Kritiken an Hegels Argumentation in der Differenzschrift Stellung nehmen, die von Reinhard Lauth und Klaus Düsing vorgetragen worden sind.

206

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Burkhard Tuschling „Der sogenannte Satz des Widerspruchs ist daher so wenig auch nur von formeller Wahrheit für die Vernunft, daß im Gegenteil jeder Vernunftsatz in Rücksicht auf die Begriffe einen Verstoß gegen denselben enthalten

N a c h Reinhard Lauth - Hegels spekulative Position in seiner „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie" im Lichte der Wissenschaftslehre, Kant-Studien 72, 1981, 4 3 0 - 4 8 8 - sind „B und A . . . einander insofern entgegengesetzt, als A nicht = Β , Β nicht = A . D o c h darum müssen sich diese „Entgegengesetzten" noch nicht widersprechen." (477) Lauth gibt aber außer einem Verweis auf eine Behauptung Fichtes und einem weiteren Verweis auf Klaus Düsing, dessen Argumentation er sich anschließt, keine weitere Begründung für seine These. Z u Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels L o g i k , B o n n 1976, S. 9 5 - 9 9 , wäre zu sagen: 1. D i e Argumentation im Haupttext (S. 9 5 - 9 7 ) scheint mir deshalb fehlzugehen, weil sie Hegels Kritik des formallogischen oder reflexionsphilosophischen Verfahrens in der Differenzschrift von vornherein als eine petitio principii hinstellt: D a die A n t i n o m i e nach Hegel Vereinigung bzw. absolute Identität voraussetze (95 unten) und da die absolute Identität auch inhaltlich den Maßstab bilde, ergebe sich, daß die einzelnen Glieder der Antinomie für sich genommen keinen Bestand und deshalb die A n t i n o m i e auch zum Seinsgrund hätten (96). U n d : D a die „einander Widersprechenden . . . durch eine vorausgehende Einheit (aufeinander bezogen sein müssen)" und da „diese Einheit durch den Widerspruch nicht aufgelöst wird, sondern ihm sogar zugrunde liegt, ist sie für Hegel absolute Identität." ( S . 9 7 ) Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß Hegel zwar in der T a t die absolute Identität voraussetzt und auch erklärt, nur ein von ihr ausgehendes Bewußtsein sei zur Einsicht in die A n t i n o m i e bzw. den Widerspruch als Erscheinungsform des Absoluten hin, daß aber eine solche gegenüber dem Verstandesdenken äußerliche Kritik, wie sie Düsing versteht, von Hegel nicht vorgetragen wird. D e r entscheidende Erkenntnisgrund für die Nichtgeltung des Satzes des Widerspruchs ist nicht die von der Spekulation vorausgesetzte absolute Identität, sondern der Umstand, daß der Verstand selbst gegen sein Prinzip der Widerspruchsfreiheit, das er als universalgültig behauptet, notwendigerweise und regelmäßig verstößt, es also selbst desavouiert. U n d erst zum Z w e c k e einer befriedigenden Erklärung auch dieses Umstandes behauptet Hegel dann die Notwendigkeit der absoluten Synthese als oberstem Erkenntnis- und Seinsgrund des Bestehens der Antinomie und ihrer Glieder. Alles k o m m t daher darauf an, o b Hegels Begründung für die Notwendigkeit des Verstoßes des Verstandes gegen sein eigenes Prinzip triftig ist. 2. Düsing vertritt die These, Hegel übersehe die Verschiedenheit von Hinsichten in ,A = A ' und , A = B ' . Berücksichtige man sie, dann zeige sich, daß der von Hegel behauptete Widerspruch zwischen beiden Sätzen gar nicht bestehe. Diese Argumentation trifft Hegel nicht, weil sie a) ihrerseits übersieht, daß das von Reinhold-Bardili mit ,A = A ' und , A = B ' verbundene Verständnis von D e n k e n als ständiger Wiederholung desselben Einfachen bzw. von einem vom D e n k e n absolut verschiedenen Stoff und schließlich ihrer absoluten Entgegensetzung für Hegels Argumentation entscheidend ist; b) deutlich macht, daß sie von unzulässigen Voraussetzungen ausgeht: wenn Düsing ausführt, , B ' könne als N o n - Α von A nur darum unterschieden werden, weil in Α = Β unter A nicht nur sein Inhalt, sondern auch dessen Stelle im ersten Satz zu verstehen ist; und wenn er ausführt, nur aus A = B , nicht aus A = N o n A k ö n n e der Satz A = A logisch hergestellt werden, wobei „B, das als v o m A

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muß; ein Satz ist bloß formell, heißt für die Vernunft: er für sich allein gesetzt, ohne den ihm kontradiktorisch entgegengesetzten ebenso zu behaupten, ist eben darum falsch. Den Satz des Widerspruchs für formell anerkennen heißt also, ihn zugleich für falsch erkennen."207 Ihn nicht für bloß formal, sondern auch für material, also als analytisch und synthetisch zugleich annehmen heißt dementsprechend, die in ihm enthaltene Beziehung auf sein Gegenteil erkennen und ihr Rechnung tragen: den Satz des Widerspruchs also als Form des Ausschließens und Einschließens der Beziehung von A und N i c h t - A , und eben daher auch nicht mehr als Satz begreifen. Was das wiederum in concreto bedeutet, kann a priori nicht gesagt werden. Welches wiebestimmte A in welcher Form der Abstraktion zunächst sein N i c h t - A ausschließt, um als A bestimmt und gedacht und so wieder auf sein N i c h t - A bezogen werden zu können - das kann ohne wirkliche Beziehung auf den jeweiligen bestimmten Inhalt nicht gesagt werden. U n d ebensowenig kann gesagt werden, wie der die Abstraktion wieder rückgängigmachende Uberschritt zum N i c h t - A im einzelnen Fall zu geschehen hat. D e n n die Art der Aufhebung der Abstraktion hängt von ihr selbst und ihrem spezifischen Inhalt ab. Darüber a priori urteilen zu wollen, wäre nur eine neuerliche Form der Reproduktion des ,Grundfehlers'. Die ,Wahrheit' der Sätze der traditionellen Logik aufhe-

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verschieden N o n - Α ist", „ . . . dabei etwas sein" müsse, „das als in A enthalten gedacht werden kann, z.B. als dessen Merkmal und insofern mit ihm identisch ist" (98, Anm. 87), so ist dagegen an Hegels Argument zu erinnern: da nach der von der Logik gemachten Voraussetzung aus A jede Verschiedenheit ausgeschlossen wird, können auch nicht die bei Düsing auftretenden Unterschiede verschiedener Stellungen von Begriffen in Urteilen oder von etwas, dem etwas anderes als sein Merkmal überhaupt zukommen kann, gemacht werden. Sollen sie also gemacht werden können, so muß vorausgesetzt werden, wovon die formale Logik abstrahiert bzw. was sie, und was Düsing mit ihr, gerade bestreitet, daß nämlich ,A' eben nicht nur einfache Identität mit sich selbst, sondern einfache Identität plus davon verschiedener Bestimmungen - B, die insoweit sie nicht identisch sind mit der einfachen Identität, N o n - Α sind beinhaltet. N u r unter dieser Voraussetzung kann ,A = B' aus ,A = A' hergestellt werden; unter ihr aber kann eben auch, wie oben gezeigt, ,A = N o n - Α ' aus ,A = A' und umgekehrt hergestellt werden. Es zeigt sich auch bei Düsing, daß vermeintlich bloß formallogische Argumentationen in materiale oder synthetische übergehen und damit Voraussetzungen gemacht werden, von denen doch die formale Logik abstrahieren soll (vgl. auch die oben Anm. 134). G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Band 4 Hamburg 1968, S. 208 f./Suhrkamp-Ausgabe Band 2, 230.

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ben heißt für Hegel: sich den Gedanken an schlechterdings universale formale Wahrheitskriterien und Schlußregeln aus dem Kopf schlagen. Denn dieser Gedanke selbst ist nur Ausdruck der Vorstellung, daß Formen etwas absolut von jedem Inhalt Trennbares und Selbständiges sind. Dieser Gedanke - so meint Hegel jedenfalls schon in der Differenzschrift und erst recht in der „Wissenschaft der Logik" gezeigt zu haben - ist seinerseits nichts als eine falsche Abstraktion: an der absolut gedachten Form selbst läßt sich das Gegenteil nachweisen, die Reflexionsbestimmungen der Identität und der Nichtidentität als selbständige - oder besser: verselbständigte - gehen ineinander über. Daß die ,Sätze' der üblichen Logik einander widersprechen, ist nur Erscheinungsform dieser ihnen selbst zugrundeliegenden Antinomie. Rückblickend ergibt sich somit das paradoxe Resultat: der Verstand, der mit der Universalität des Satzes des Widerspruchs Widerspruchsfreiheit realisieren will, gerät dadurch nur in für ihn selbst unauflösliche Widersprüche zu seinen eigenen Voraussetzungen. Statt den Widerspruch zu beherrschen wird er bewußtlos von Kontradiktion zu Kontradiktion getrieben. Damit freilich verwirklicht er ironischerweise den Satz des Widerspruchs als ,Gesetz der Selbstzerstörung des Verstandes' und geht in ,Vernunft', das Bewußtsein und den bewußten Vollzug dieser Widersprüche über. Dieser ständige, vernünftige Verstoß gegen den Satz des Widerspruchs ist es dann allein, der wirkliche Beherrschung des Widerspruchs und damit ein Denken, das nicht ständig gegen seine eigenen Voraussetzungen verstößt, sondern in sich konsistent und konsequent bleibt, möglich macht. All dies ist mitzubedenken, wenn man den folgenden Satz, in dem Hegel die Quintessenz seiner Überlegungen ausdrückt, begreifen will: „Die logische Erkenntnis, wenn sie wirklich bis zur Vernunft fortgeht, muß auf das Resultat geführt werden, daß sie in der Vernunft sich vernichtet, sie muß als ihr oberstes Gesetz die Antinomie erkennen." (82, 18ff./123, 2 ff.)

22.

Nach diesen ausführlichen Überlegungen ein Blick zurück zum Ausgangspunkt und - mit allen Vorbehalten - ein Versuch der N u t z a n wendung' auf die Widersprüche der Kritik der reinen Vernunft.

Widersprüche im transzendentalen Idealismus

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- Die erste „Analogie der Erfahrung" zeigt ,unsynthetisiert' die Glieder der Entgegensetzung: Der Gegenstand der empirischen Anschauung ist beharrlich und nichtbeharrlich, Dasein zu aller Zeit, nicht zu aller Zeit usw. usw. Die von Hegel .Dogmatismus' genannte Art des Umgangs mit der Antinomie bzw. ihrer Auflösung führt zu einem Setzen und Negieren im unendlichen Progreß; dies zeigt der Befund bei Kant, und es ließe sich auch ausführlicher aus der Kant-Interpretation belegen. Die theoretischen Gründe - und dies scheint mir die ausführliche Erörterung von Hegels Logik-Kritik zu rechtfertigen - für diesen Befund lassen sich nunmehr kurz so angeben: Es kommt zu diesen Kontradiktionen, weil in der ersten Analogie nur auf die abstrakte Identität der entgegengesetzten Bestimmungen geachtet und die Antinomie aus den Reflexionen Kants und vielfach auch der Interpreten eliminiert wird. - Tatsächlich zeigt die erste Analogie auch die „Wahrheit" dieser Verhältnisse: das in der Verschiedenheit von seinen Eigenschaften und Relationen Mit-sich-selbst-Gleichbleiben des empirischen Einzeldings, seine ,relative' Beharrlichkeit, das doch „Dasein zu aller Zeit" ist und nicht ist, sc. als Erscheinung einer zu aller Zeit in allem Wechsel der Erscheinungen „beharrenden" Daseins, das dennoch nichts anderes als die Totalität dieser Erscheinungen selbst, nichts ,hinter' ihnen Befindliches, etwas mit ihnen als einzelnen Identisches und Nichtidentisches und in dieser Funktion u. a. ,Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung' auch der empirischen Zeitverhältnisse. - Dasselbe, von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen: Der Begriff eines mit sich selbst Identischen und in allem Wechsel seiner Bestimmungen, bei aller Veränderung seiner Relationen mit sich identisch bleibenden Etwas oder Relatums ist ebenso notwendig wie der Versuch, dieses Etwas als von seinen immer auf anderes bezogen relativen Bestimmungen wesentlich Verschiedenes zu behaupten und in dieser Verschiedenheit zu fixieren, vergeblich ist. Das Ding, die endliche Substanz ist nichts als dies, sc. Fürsichsein und Für-anderes-Sein zugleich; es ist nichts anderes als der Inbegriff oder die Totalität der Relationen, so mit sich selbst identisch, ihnen wesentlich entgegengesetzt und in dieser Entgegensetzung mit sich selbst gleichbleibend, mit ihnen identisch und nichtidentisch. - Aus demselben Grunde ist sein Fürsichsein auch zeitlich bedingt und beschränkt: die (endliche) Substanz beharrt nur relativ, eben dies allerdings notwendigerweise, sonst gäbe es weder Dinge noch Individuen noch eine Welt noch Erkenntnis dieser Welt. Die oberste Bedingung aller Identifizierbarkeit solcher relativer Identitäten in ihrer Widerspruchs- und Entwicklungsstruktur ist ihr Zusammenhang in einer einzigen, allseitigen, durchgängigkontinuierlichen Totalität208: Identität und Einheit aller Übergänge aus 208

So schon die Differenzschrift, a . a . O . , S . 2 7 , 2 0 f f . / 4 1 , 2 2 f f . oder S.33,12ff./49,31 ff.

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B u r k h a r d Tuschling abstrakter Identität in Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch in einer einzigen Synthese ist Bedingung der Existenz und Erkennbarkeit aller relativen Identitäten, endlichen Substanzen oder Relata. D i e quantitativ-qualitative Identität dieser Totalität in all ihren Veränderungen, die U n w a n d e l b a r k e i t des Wandelbaren, ist oberste Bedingung der endlichen Identitäten und Individualitäten und manifestiert sich zugleich in ihnen als Erscheinungen ihrer selbst, der unwandelbaren, absoluten Identität der Totalität alles Wandelbaren. -

D i e Widersprüche im Verhältnis der ursprünglich-synthetischen E i n heit der Apperzeption lassen sich nunmehr begreifen als Ausdruck einer Gesamtbewegung, in der a) sich das Bewußtsein auf etwas von ihm wesentlich - als A n s c h a u ung, als gegebenes Mannigfaltiges, als Erscheinung eines an sich existierenden Substrats - Verschiedenes bezieht und dennoch in aller Entgegensetzung und diesem Sich-auf-anderes-Beziehen und V o n - s i c h - U n t e r s c h e i d e n mit sich selbst identisch bleibt; b) das B e z o g e n e , der Vorstellungsinhalt, durch das Bewußtsein als beziehendes V e r m ö g e n produziert und zugleich als in seinem Dasein objektiv vorhanden begriffen werden kann - eine E n t g e gensetzung, der nur dadurch ihre selbstzerstörerischen Implikationen g e n o m m e n werden k ö n n e n , daß das Produkt als zugleich subjektiv und objektiv produziert begriffen wird.

Gerade dieses Problem, den Gegenstand des Bewußtseins, Erkennens und Wissens als zugleich subjektiv und objektiv zu konstruieren, und die Einsicht in das Scheitern aller Versuche der „Reflexionsphilosophie", die Antinomie in diesem Punkt befriedigend aufzulösen, stellt sich in der Einleitung zur Differenzschrift als dominierendes Motiv für Hegels Unternehmen dar, die Widersprüche der beiden Reihen in einer absoluten Entgegensetzung von absoluter Objektivität und absoluter Subjektivität zu fassen und in einer höchsten Synthese „absolut" aufzuheben. Stellt man sich nun hypothetisch auf diesen Standpunkt - wie Hegel jedenfalls von seinen Lesern oder Interpreten verlangt - ; begreift man dementsprechend „das Subjekt als Produkt des Objekts" und „das Objekt als Produkt des Subjekts"; hebt man mithin „das Kausalitätsverhältnis . . . dem Wesen nach auf . . . , in dem das Produzieren ein absolutes Produzieren, das Produkt ein absolutes Produkt ist, d.h. indem das Produkt keinen Bestand hat, als nur im Produzieren, nicht gesetzt ist als ein Selbständiges, vor und unabhängig von dem Produzieren Bestehendes" 209 - , so kann man sich die im transzendentalen Idealis209

Ebd. S. 32,27 ff.748,36 ff.

W i d e r s p r ü c h e im transzendentalen Idealismus

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mus auftretende Antinomie im Verhältnis der Apperzeption zur Totalität ihrer Inhalte, ausgedrückt als „synthetische Einheit der Apperzeption aller Erscheinungen" oder als „Bedingungen a priori der durchgängigen und notwendigen Zeitbestimmung alles Daseins in der Erscheinung"210, hypothetisch dadurch aufgelöst denken, daß man im transzendentalen Handeln des endlichen erkennenden Subjekts in der Beziehung auf die Totalität seiner empirischen Vorstellungsinhalte das Wirken eines absoluten Subjekts-Objekts realisiert denkt oder - was vom Standpunkt der absoluten Synthese aus betrachtet dasselbe ist — dieses transzendentale Tun des erkennenden Subjekts als Verwirklichung dieser absoluten Tätigkeit des absoluten Selbst denkt, indem auch das endliche Subjekt mitsamt seinen Produkten „absolutes Produkt" ist und „keinen Bestand hat als nur im Produzieren usw."211 Die konstruktive Kühnheit dieser ,Versöhnung von Substanz und Subjekt' wie ihre konzeptionellen Vorzüge sind so wenig zu verkennen wie ihre spekulativen Fehlschlüsse notorisch sind, zumindest an den Extrempunkten des später von Hegel entwickelten Systems. Das Problem aller Positionen, die Hegels Theorie bezüglich Identität und Widerspruch, Widerspruch und Nichtwiderspruch, des analytisch-synthetischen Charakters der Sätze der Logik, der Abstraktion usw. ; kurz : Hegels Konzept einer spekulativen Logik in den Grundzügen für richtig und für einen wesentlichen Fortschritt über den transzendentalen Idealismus hinaus, zugleich aber auch für dessen eigene konsequente Weiterentwicklung halten - wie u. a. ich dies tue - , besteht deshalb darin anzugeben, wo die fortzuführende und zu bewahrende theoretische Leistung Hegels aufhört und die ideosynkratische Spekulation anfängt. Aber auch wenn man zuzugeben bereit ist, daß die Idee einer absoluten Vereinigung all dieser Widersprüche von Substantialität und Akzidentialität, Subjektivität und Objektivität, Relationalität und Relatcharakter von Sein und Bewußtsein in einer absoluten Totalität schon in der dritten „Analogie der Erfahrung", der Widerlegung des Idealismus, den MA, dem opus postumum und von hier aus rückblickend wiederum gesehen schon in der Idee einer ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption und der im Herzbrief skizzierten Idee einer Beziehung

210

2,1

Kritik der reinen Vernunft Β 264; hierin kommt auch die wichtigste Seite der Antinomie in der Fassung der zweiten und dritten Analogie der Erfahrung zum Ausdruck. Differenzschrift S. 32,32 ff./49,6 ff.

310

Burkhard Tuschling

des Vorstellungsvermögens a priori auf seine Gegenstände: kurz im ursprünglichen Systemkonzept des transzendentalen Idealismus selbst angelegt ist212, wird man doch auch zugeben: daß der Versuch einer Lösung dieses Problems den hier gesteckten Rahmen einer Kant-Interpretation endgültig sprengt. Weshalb ich hier abbreche und - vorläufig schließe.

212

Wie man sich das vorzustellen hat, könnte vielleicht aus Hegels Ausführungen am Anfang des Abschnitts „Transzendentale Anschauung" in der Differenzschrift, a. a. O . S.27f./41 f. entwickelt werden.

Diskussion im Anschluß an das Referat von Burkhard Tuschling

Vorbemerkung Der ursprüngliche Vortrag, auf den sich die Teilnehmer der nachstehend wiedergegebenen Diskussion beziehen, entsprach ungefähr dem, was in der oben abgedruckten überarbeiteten Fassung in den Abschnitten 1-11 enthalten ist. Die Überlegungen der übrigen Abschnitte der Druckfassung kamen nur sehr summarisch zur Sprache. Für die Diskussionsteilnehmer bildeten die beiden am selben Nachmittag gehaltenen und sich thematisch überschneidenden Referate von Michael Wolff und Burkhard Tuschling einen Bezugszusammenhang. Für das folgende ist deshalb durchgängig auch das Referat von Michael Wolff zu vergleichen. Konrad C R A M E R : Es wird kaum möglich sein, nach einem langen Arbeitstag und bei entsprechender Erschlaffung der Kräfte Ihren Versuch, Widersprüche in der „Kritik der reinen Vernunft" als zwingende Folgen des Theorieprogramms des transzendentalen Idealismus zu identifizieren, angemessen zu werten. Man wird auch jetzt nur kontingenterweise an das eine oder andere in Ihrem Vortrag anknüpfen können, was einen vielleicht nicht ganz überzeugt hat. Wenn ich das so tun darf, möchte ich noch einmal auf die von Ihnen angeführte wichtige Stelle der „Kritik" eingehen, an der Kant, wie er selber sagt, eine .Berichtigung' des Begriffs der Veränderung der ihm vorliegenden ontologischen Tradition des Rationalismus vorschlägt. Ich tue dies in der Absicht, plausibel zu machen, daß zumindest nicht alle von Ihnen als Widersprüche diagnostizierten Aussagen Kants widerspruchsvolle Aussagen sind. Wenigstens gewisse Aussagen Kants, die zueinander im Widerspruch zu stehen scheinen, lassen sich als widerspruchsfreie Aussagen rekonstruieren, wenn man eine entsprechende, von Kant nicht nur zugelassene, sondern sogar vorgeschriebene Interpretation der Semantik der in ihnen auftretenden

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Begriffe wählt. - Die Stelle lautet: „Auf dieser Beharrlichkeit gründet sich nun auch die Berichtigung des Begriffs von Veränderung. Entstehen und Vergehen sind nicht Veränderungen desjenigen, was entsteht oder vergeht. Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolgt. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend, und nur sein Zustand wechselt. Da dieser Wechsel also nur die Bestimmungen trifft, die aufhören oder auch anheben können, so können wir, in einem etwas paradox scheinenden Ausdruck, sagen: nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören, und andere anheben." ( A l 8 7 f . Β230f.) Wenn ich Ihre Ausführungen recht verstanden habe, imputieren Sie dieser Bemerkung Kants bereits die Voraussetzung, daß die erste Analogie der Erfahrung in ihrer starken Version gilt, nach der „alle Erscheinungen der Zeitfolge insgesamt nur Veränderungen, d. i. ein sukzessives Sein und Nichtsein der Bestimmungen der Substanz sind, die da beharrt, folglich das Sein der Substanz selbst, welches aufs Nichtsein derselben folgt, oder das Nichtsein derselben, welches aufs Dasein folgt, mit anderen Worten, daß das Entstehen oder Vergehen der Substanz selbst nicht stattfinde..." (B232f.) Die Beharrlichkeit, auf welcher sich die Berichtigung des Begriffs der Veränderung gründet, ist, so jedenfalls habe ich Sie verstanden, die Beharrlichkeit der Substanz zu aller Zeit, nicht nur die Beharrlichkeit der Substanz zu genau derjenigen Zeit, in der an ihr Bestimmungen wechseln oder zugleich sind. N u n ist es in der Tat einleuchtend, daß Kants Aussage, daß Substanzen wahrgenommen werden können, in kontradiktorischem Gegensatz zu der Bestimmung von Substanz als einer Entität steht, deren Entstehen oder Vergehen nicht stattfindet. Genauer gesagt: Daß gewisse Entitäten zu aller Zeit existieren, kann nicht durch Wahrnehmung bekannt sein. Und zwar einfach deswegen nicht, weil Wahrnehmung selber ein zeitlich begrenzter kognitiver Akt oder Zustand ist, der als solcher keine Schlüsse darauf zuläßt, ob sein intentionaler Gegenstand ein Gegenstand möglicher Wahrnehmung zu aller Zeit ist oder nicht. Nun ist es aber offensichtlich, daß Kants Berichtigung des Begriffs der Veränderung die starke Version der ersten Analogie der Erfahrung, nach der nur Bestimmungen an Substanzen, nicht aber Substanzen selber ins Dasein treten und aus dem Dasein treten können, nicht voraussetzt. Denn die Sätze: „Entstehen und Vergehen sind nicht Veränderungen dessen, was entsteht und

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vergeht" und „Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolgt" sind nach Kant in genauem Unterschied zu dem Satz „Aller Wechsel der Erscheinungen ist nur Veränderung (B 233), der von ihm als Äquivalent für die starke Version der ersten Analogie angeboten wird, keine synthetischen Urteile a priori, sondern analytisch wahre Sätze. Einen schlagenden Beleg hierfür findet man in der Reflexion 6403, die von Adickes ohne Fragezeichen auf die Phase ω1-3 (1790-95), also auf einen Zeitpunkt lange nach Abfassung der „Kritik der reinen Vernunft" datiert wird. Da heißt es: „In jeder Veränderung beharrt die Substanz, weil die Veränderung die Sukzession der Bestimmungen eines und desselben Dinges ist. Dies ist ein bloß logischer Satz nach den Regeln der Identität. Er sagt aber nicht, daß überhaupt die Substanz nicht entstehe oder vergehe, sondern nur während der Veränderung bleibe." (Hervorhebungen vom Vf.) Diejenige Beharrlichkeit der Substanz, die nach dieser Auskunft Kants analytisches Merkmal des Begriffs der Veränderung als solchen ist, ist die Dauer der Substanz während des Wechsels der Bestimmungen an ihr, nicht ihr Dasein zu aller Zeit. Die richtige Definition des Begriffs der Veränderung impliziert also nicht die Gültigkeit der ersten Analogie der Erfahrung, d. h. diese Definition ist, als solche, ohne weiteres kompatibel mit der (nach Kant allerdings aus anderen Gründen falschen) Behauptung: Es gibt auch einen Wechsel, d.h. ein Entstehen oder Vergehen von Substanzen. Sofern Bestimmungen von Etwas ins Dasein treten und aus dem Dasein treten, d. h. sofern an Etwas ein Wechsel seiner Zustände konstatierbar sein soll, muß freilich das beharren, mit Bezug worauf es allererst Sinn macht, von Zuständen an etwas und ihrem Wechsel zu reden. Nennt man dies Etwas eine Substanz, so beharrt jede Substanz im Wechsel ihrer Zustände. Daraus folgt aber nicht, daß jeder Wechsel als sukzessives Sein und Nichtsein von Etwas ein Wechsel von Zuständen an Etwas ist. Kants Berichtigung des Begriffs der Veränderung und der in ihr implizierte Gebrauch des Begriffs von ,Beharrlichkeit der Substanz' präjudiziert daher noch nichts über die Gültigkeit der ersten (und natürlich auch noch nichts über die Gültigkeit der zweiten) Analogie. Eine nicht ebenso leicht aufzulösende Schwierigkeit bietet allerdings der Text zwei Seiten vorher, mit dem schon Laas vor mehr als hundert Jahren nicht zurechtgekommen ist. In A184 und Β 227 wird der Satz „bei allen Veränderungen in der Welt bleibt die Substanz, und nur die

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Akzidenzen wechseln" von Kant als ein „so synthetischer Satz" bezeichnet. Gleich anschließend heißt es aber: „In der Tat ist der Satz, daß die Substanz beharrlich sei, tautologisch." Aber auch diese Behauptungen stehen nicht im Widerspruch zueinander, wenngleich der Nachweis ihrer Kompatibilität nicht ganz einfach ist. Sicher ist, daß der Satz: „Bei allen Veränderungen in der Welt beharrt die Substanz, und nur die Akzidenzen wechseln" von Kant als ein Äquivalent für die erste Analogie in ihrer starken Version aufgefaßt wird. Nun scheint es nicht so, daß die erste Teilaussage dieser Aussage, nämlich: „Bei allen Veränderungen in der Welt beharrt die Substanz" allein schon als Äquivalent für die starke Version der ersten Analogie gelten kann. Denn nimmt man den Begriff der Veränderung strikt, und das heißt hier: in der Definition, die Kant von ihm gibt, so ist Veränderung „Verbindung kontradiktorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges" (B291, vgl. B 4 8 , B 2 3 3 , A 2 0 6 , B 2 5 2 , B 2 9 0 , A 4 5 9 f . , Β 486 f. und die Reflexionen 3768, 3771, 3838, 4041, 4486, 5266, 5788, 5789, 5791, 5792, 5793, 5796, 5800, 5811), mithin der Wechsel von Bestimmungen an Etwas, das während des Wechsels der Bestimmungen an ihm beharrt. Da nun alle Veränderungen dieser Definition genügen, ist die erste Teilaussage dieses Satzes ein analytisches Urteil, und der Hinweis, daß es sich um alle Veränderungen „in der Welt" handelt, ändert daran nichts. Erst die zweite Teilaussage des Satzes, nämlich: „Und nur die Akzidenzen wechseln" macht den ganzen Satz zu einem synthetischen Urteil. Denn erst mit ihr ist behauptet, daß aller Wechsel Veränderung ist, d.h. daß nur dasjenige entsteht und vergeht, was als Zustand an etwas, das selber kein Zustand an etwas ist, identifiziert werden kann. Beweisbedürftig ist nach Kant daher nicht der Satz: „Bei allen Veränderungen in der Welt beharrt die Substanz", sondern der Satz: „Alle Ereignisse in der Welt sind nur Veränderungen" d.h. eben der Satz: „Nur die Akzidenzen wechseln", „und man hätte beweisen müssen, daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Daseins ist." Bevor Kant diese methodische Forderung formuliert, der er im Beweis der ersten Analogie nachgekommen zu sein meint, sagt er nun: „In der Tat ist der Satz, daß die Substanz beharrlich sei, tautologisch." Die Schwierigkeit, die dieser Satz dem Verständnis bietet, ist nun genau die, daß er offenbar nicht als Äquivalent des in der Tat tautologischen Satzes: „Bei allen Veränderungen in der Welt beharrt die Substanz" gelesen werden kann.

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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Das ergibt sich aus der von Kant angeführten Begründung für den analytischen Charakter dieses Satzes. Sie lautet nämlich nicht, daß in allen Veränderungen ex vi definitionis des Begriffs der Veränderung etwas dauert (beharrt), während etwas anderes an ihm entsteht bzw. vergeht (wechselt), sondern: „Denn bloß diese Beharrlichkeit ist der Grund, warum wir auf die Erscheinungen die Kategorie der Substanz anwenden" (und daraus folgt die oben mitgeteilte Passage, die mit „und man hätte beweisen müssen" beginnt). Das Argument für den tautologischen Charakter der Aussage „Die Substanz ist beharrlich" ist also nicht dies, daß der Begriff von etwas Beharrlichem im Wechsel Teil der Bedeutung des Begriffs der Veränderung ist, aus dem - mit dem oben vorgetragenen Argument - nicht folgt, daß aller Wechsel nur Veränderung ist, sondern vielmehr, daß der Begriff der Beharrlichkeit selber es ist, der den Grund dafür abgibt, daß wir den Begriff der Substanz auf Erscheinungen anwenden. Dieser Hinweis auf den Grund der Anwendung des Begriffs der Substanz auf Erscheinungen ist kaum anders als ein Hinweis darauf zu verstehen, daß wir den Begriff der Substanz „im reinen Sinn der Kategorie" als den Begriff von dem, was nur als Subjekt, aber nicht als Prädikat oder als Bestimmung anderer Dinge existieren kann (vgl. Β 149, Β 288), auf Erscheinungen als diejenigen Anschauungen, die uns unter der Bedingung unserer Anschauungsformen gegeben sind, nur als schematisierte Kategorien anwenden können. Kants Begründung für den analytischen Charakter des Satzes von der Beharrlichkeit der Substanz impliziert daher, daß das Verfahren der Schematisierung der Kategorie der Substanz selber ein analytisches Verfahren ist. Dieser Ansicht kann man nur unter Kautelen zustimmen. Versteht man nämlich unter ,Substanz' in der Aussage: „Die Substanz ist beharrlich" die Kategorie der Substanz als unschematisierte Kategorie, ist der Satz offensichtlich synthetisch. Denn ,Beharrlichkeit' ist nicht Teil der Bedeutung des Ausdrucks ,was nur als Subjekt, nicht aber als Prädikat existieren kann' und zwar einfach deswegen nicht, weil die Bedeutung dieses Ausdrucks - und damit die bloße Bedeutung der Kategorie der Substanz qua Kategorie - nicht im Rekurs auf Zeitbedingungen definierbar ist. Kants Behauptung, daß die in Frage stehende Aussage tautologisch ist, gilt daher nur von der Substanzkategorie unter der Bedingung ihrer Schematisierung. Das führt jedoch mit Bezug auf die zur Diskussion gestellte Stelle zu einer weiteren Schwierigkeit. Denn nun scheint es, daß unter der Bedingung, daß die Aussage „Die Substanz ist beharr-

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lieh" mit Rücksicht auf das Schema der Substanzkategorie als analytisch anzusehen ist, nicht mehr verstanden werden kann, weshalb die erste Analogie in ihrer starken Version als ein synthetischer Satz qualifiziert sein soll. Es heißt nämlich: „Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, d.i. die Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt. (Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren. Der Zeit also, die selbst unwandelbar und bleibend ist, korrespondiert in der Erscheinung das Unwandelbare im Dasein, d. i. die Substanz, und bloß an ihr kann die Folge und das Zugleichsein der Erscheinungen der Zeit nach bestimmt werden.)" ( A 1 4 3 , Β 183) Nach dieser Auskunft scheint es so, daß der Schematismus der Kategorie der Substanz schon das „Unwandelbare im Dasein" konnotiert. D e m steht jedoch entgegen, daß Kant aus der Kennzeichnung des tautologischen Charakters des Satzes von der Beharrlichkeit der Substanz unter der Bedingung ihrer Schematisierung gerade folgert, daß die erste Analogie in ihrer starken Version damit noch nicht bewiesen ist. U m diesen nun drohenden Widerspruch vermeiden zu können, muß man annehmen, daß Kant die Vorstellung des Schemas der Substanz mit Konnotationen überfrachtet hat, die in ihm als solchem noch gar nicht liegen. Anders gewendet: Kants Begründung für den tautologischen Charakter der Aussage „Die Substanz ist beharrlich" steht nur dann nicht im Widerspruch zu der behaupteten Notwendigkeit des Beweises der ersten Analogie, wenn diese aus jenem Satz nicht analytisch folgt. Soll das nicht der Fall sein, darf die Schematisierung der Kategorie der Substanz nur den Gedanken einer relativen Beharrlichkeit von etwas mit Bezug auf die Folge und das Zugleichsein von etwas anderem an ihm, nicht aber den der absoluten Beharrlichkeit dieses Etwas an die Hand geben. Denn sonst wäre die erste Analogie unter der Bedingung der Schematisierung der Substanzkategorie ein analytisch wahrer Satz. Und eben das ist nicht Kants Meinung. Nun will ich, Herr Tuschling, natürlich nicht behaupten, daß sich die Eliminierung von ,contradictiones apparentes' im Text der „Kritik der reinen Vernunft" in allen Fällen erfolgreich durchführen läßt. Prima facie besonders rätselhaft bleibt, weshalb Kant überhaupt eine Pluralität von Substanzen im Sinne von Entitäten, die „zu aller Zeit" existieren, zulassen zu müssen scheint und nicht die Konsequenz des Spinozismus zieht. Denn genau genommen identifizieren wir nach der Theorie der

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„Kritik der reinen Vernunft" ja nirgends Substanzen in Raum und Zeit, sondern nur Zustände in Raum und Zeit, nicht Kräfte als Formen der Kausalität von Substanzen, sondern nur deren Äußerungen. Sie sagen mit Recht, daß Kant die dritte Analogie nur unter der Voraussetzung einer Pluralität von Substanzen, die weder entstehen noch vergehen können, einführen und beweisen kann. Aber warum führt diese Analogie gleichwohl auch wieder zu der These von dem einem Substratum (im Singular) allen Wechsels überhaupt? Abschließend will ich darauf hinweisen, daß unsere Diskussion inzwischen deutlich durch die Bildung von Fraktionen bestimmt wird. Wir haben da die Tuschling-Wolff-Linie, die meint: Kant ist ein brauchbares Instrument zur Rekonstruktion von so etwas wie dem internen Rationalitätsgehalt der Hegeischen Dialektik. Und dann haben wir eine andere Fraktion, die eher meint: Nein, Nein, das geht überhaupt nicht. So Baum. Brandt? Und vielleicht auch ich. (Lachen) So will ich diesen Dissens einmal bezeichnen. Im übrigen: Kants Berichtigung' des Begriffs der Veränderung bezieht sich direkt auf die Wolff-Baumgartensche Definition des Begriffs der ,Mutatio' in der Ontologie. Diese Definition macht nach Kant genau den Fehler, sowohl das, was verändert wird, indem Zustände an ihm ins Dasein treten und aus dem Dasein treten, als auch diese Zustände selber, insofern sie ins Dasein treten und aus dem Dasein treten, als veränderlich (mutabile) anzusehen. Das liegt an der von Wolff und Baumgarten aufrechterhaltenen Vorstellung von „Dasein" als einem „realen Prädikat", und man muß zugeben, daß die Definition unter dieser Voraussetzung akzeptiert werden muß. Da diese Voraussetzung jedoch selber nach den Kantischen Argumenten unhaltbar ist, hat seine Berichtigung des Begriffs der Veränderung eine weitere systematische Pointe, der man nachgehen könnte. B u r k h a r d TUSCHLING:

Zur „Berichtigung des Begriffs von Veränderung": In der Tat setzt sie die - wie Sie es nennen - starke Version der ersten Analogie nicht voraus. Sie setzt nichts voraus als die bloß begriffliche ,Absonderung' dessen, was „im Dasein einer Substanz wechselt", von einem bleibenden ,Substrat' dieses Wechsels, eine ,Absonderung', die nach Kants Meinung „im logischen Gebrauch unseres Verstandes unvermeidlich" ist. Es ist

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evident, daß mit dieser bloß begrifflichen Unterscheidung nicht bewiesen ist, daß es etwas dieser Unterscheidung Entsprechendes, ,beharrliches Dasein' in den Erscheinungen überhaupt, und erst recht nicht, daß es ein ,in allem Wechsel der Erscheinungen' bleibendes Dasein zu aller Zeit gibt. Ich kann deshalb Ihrer Lesart, die durch Β 230 und Reflexion 6403 eindeutig belegt wird, nur zustimmen. 1 Ich hatte allerdings die „Berichtigung" auch nicht als Beleg für die von mir zuvor behaupteten Kontradiktionen der Wahrnehmbarkeit und Nichtwahrnehmbarkeit der Substanz oder für den Widerspruch zwischen der schwachen und der starken Version der Behauptung der Beharrlichkeit der Substanz, sondern nur als Illustration dafür zitiert, daß Kant hier der hegelschen Lehre von der Wandelbarkeit des Unwandelbaren, der Unwandelbarkeit des Wandelbaren, der Identität der Identität und Nichtidentität in diesem Verständnis nahekommt, wenn er sie nicht sogar unanalysiert behauptet. Aber ich muß das dahingestellt sein lassen, weil in dieser kantischen „Berichtigung des Begriffs von Veränderung" m . E . eine ganze Reihe von Problemen stecken, die ich hier nicht diskutieren kann. Dagegen kann ich Ihre nachfolgenden Ausführungen, vor allem Ihre Behauptung, Kants Begründung für den analytischen Charakter des Satzes von der Beharrlichkeit der Substanz impliziere, daß das Verfahren der Schematisierung der Kategorie der Substanz selbst ein analytisches Verfahren ist, nicht unwidersprochen lassen. Sie selbst halten diese Folgerung für problematisch, weil - ich verkürze - aufgrund von Β 183

1

Nr. 6403 belegt - wie übrigens andere Reflexionen derselben Zeit auch: vgl. 6311 ff. allerdings auch, daß Kant die Erhaltung der Substanz oder der Materie (die Gleichsetzung ist zulässig, wenn man XVIII 706, 15 mit KrV Β 321 verbindet) als konstitutive Bedingung der Möglichkeit aller äußeren Erfahrung und damit als transzendentale, mit der Apperzeption gleichrangige Voraussetzung behauptet. In Verbindung mit verschiedenen Formulierungen einer Widerlegung des Idealismus in Rfl. 6311 ff. ergibt sich dann, daß er hier den Grund der Beharrlichkeit oder der Erhaltung des Substrats allen Wechsels als ,Sache an sich' (XVIII 612, 8-14), als im „Intelligibeln" oder dem „Grund der Erscheinungen" liegend (ebd. Z. 17 f.) bezeichnet oder die Affektion durch .äußere Dinge', die selbst nicht ,nur Vorstellungen' (612, 25-613, 2, vgl. auch Z. 9 ff.) oder zwar ,Erscheinungen', aber doch ,wirkliche Dinge' sind (616, 19ff.), d.h. die transzendentale Idealität und transzendentale Realität des Substrats der Beharrlichkeit meint. - Im Kontext der genannten Reflexionen belegt Nr. 6403 also auch den von mir konstatierten Widerspruch von transzendentaler Idealität und Realität in Kants Konzeption von Substanz, Materie, Beharrlichkeit, Wechsel und schließlich auch von Raum und Zeit.

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der Widerspruch drohe, Kant behaupte den analytischen und synthetischen Charakter der ersten Analogie. Tatsächlich vermag ich - und das wird Sie, der Sie mich auf der Jagd nach Widersprüchen in der „Kritik der reinen Vernunft" vermuten, vielleicht verwundern - den von Ihnen befürchteten Widerspruch nicht zu sehen, jedenfalls nicht diesen Widerspruch oder den Widerspruch mit den von Ihnen angenommenen Bestimmungen. Ich glaube, daß Ihre Vermutung auf einem Mißverständnis beruht, das sich beseitigen läßt. Ehrlich gesagt kann ich mir unter dem Schematismus als a n a l y t i schem Verfahren' bei Kant nicht nur nichts vorstellen, es scheint mir Kants Absichten völlig zuwider zu sein. Das Privateigentum ist ein Verhältnis, das sich nach Kant aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen läßt, die praktische Vernunft muß sich dafür a priori synthetisch erweitern; Dasein ist kein Prädikat, deshalb ist das Dasein, sei es Gottes, sei es der oder einer Substanz oder wessen auch immer, aus dem bloße Begriffe dessen, dessen Dasein behauptet wird, nicht herauszubringen. Die Möglichkeit einer synthetischen Erweiterung der praktischen Vernunft ist nach Kant ein großes Problem, die der theoretischen Vernunft nicht. Denn sie kann sich, etwa bezüglich Existenzbehauptungen, dadurch synthetisch erweitern oder über den bloßen Begriff von etwas hinausgehen, daß sie sich auf Anschauungen, a priori also auf reine Anschauung bezieht, und dies geschieht durch die „Synthesis der Einbildungskraft" bzw. deren Vehikel, die Schemata, die also immer ein ,Hinausgehen über bloße Begriffe' oder ein synthetisches Verfahren darstellen. In gerader Umkehrung Ihrer Behauptung wird man deshalb sagen müssen: versteht man unter ,Substanz' in der Aussage „die Substanz ist beharrlich" die Kategorie als unschematisierte Kategorie, ist der Satz offensichtlich analytisch. Denn er sagt nichts mehr als dies: Veränderung ist nichts als Wechsel der Bestimmungen eines Etwas, das in diesem Wechsel bleibt oder beharrt' - und Sie selbst haben doch in Ihren einleitenden Ausführungen diesen analytischen Charakter der Beharrlichkeitsbehauptung aus der „Kritik der reinen Vernunft" oder der Reflexion 6403 schlagend unter Beweis gestellt. Versteht man dagegen die Kategorie als schematisierte Kategorie - d. h. als Begriff eines in allen Veränderungen identischen Etwas, der a priori auf Raum und Zeit, vermittelt über „die Vorstellung" des Realen „als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles

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andre wechselt" (B183), bezogen ist - , dann gerade wird aus der Tautologie ,die Substanz beharrt' dieser „so synthetische Satz", d. h. die erste Analogie. Denn dann stellt sich das Problem, worauf diese Beziehung des reinen Verstandes oder der Einbildungskraft auf Raum und Zeit a priori beruht, beruhen kann, ob sie also überhaupt gerechtfertigt ist. D . h . es stellt sich genau dasjenige Problem, von dem Kant Β227/28 an der zunächst so schwierig erscheinenden Stelle redet: es genügt nicht zu sagen, die reine theoretische Vernunft müsse sich a priori erweitern, damit etwas überhaupt Gegenstand für uns und damit Erfahrung ermöglicht wird; es genügt auch nicht zu sagen, die Beziehung des reinen Verstandes auf reine und empirische Anschauung werde über das Schema der Beharrlichkeit vermittelt. Sondern es muß darüber hinaus gezeigt werden, daß diese synthetische Erweiterung der reinen theoretischen Vernunft a priori in puncto dieser Kategorie legitim ist: das ist das Beweisproblem der ersten Analogie, das Kant Β 227/28 treffend so ausdrückt: „und man hätte beweisen müssen, daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Daseins ist". Denn diese Behauptung ist etwas, was man niemals aus bloßen Begriffen herausbringen kann. Ich lasse, schon aus Zeitgründen, dahingestellt, ob in der zuletzt zitierten Problemformulierung die schwache oder die starke Version intendiert ist. Denn - und hier muß ich Ihnen, Herr Cramer, nochmals widersprechen - die Behauptung der Beharrlichkeit der Substanz ist nach kantischen Begriffen auch dann synthetisch a priori, wenn die Schematisierung der Substanzkategorie nur den Gedanken einer relativen, nicht den einer absoluten Beharrlichkeit eines Substratum von Veränderungen involviert. Denn auch dann stellt sich das Problem, wie eine solche Erweiterung der theoretischen Vernunft über ihre Begriffe a priori hinaus gerechtfertigt werden kann. Das Ihren Ausführungen zugrundeliegende Mißverständnis läßt sich, wie ich meine, leicht beheben. Sie sagen, das Argument für den analytischen Charakter der Aussage „die Substanz ist beharrlich" sei nicht dies, daß ,Beharrlichkeit' im Begriff der Veränderung enthalten sei - das ist richtig, aber unerheblich. Das Argument sei - und auch das ist richtig und wird von Kant auch so gesagt - vielmehr, daß der Begriff der Beharrlichkeit selbst der Grund der Anwendung der Substanzkategorie auf die Erscheinung sei. Die Interpretation jedoch, damit weise Kant auf den Schematismus als ein analytisches Verfahren hin, ist aus den oben

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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genannten Gründen nicht zu halten. Diese Wendung ist m. E. aber auch ganz unnötig. Denn Kant will doch nichts weiter sagen als dies: die Beharrlichkeitsbehauptung ist deshalb tautologisch, weil der Begriff der Beharrlichkeit zwar nicht im Begriff der Veränderung, wohl aber in dem der Substanz selbst enthalten ist. Und weil er darin enthalten ist, ist der Substanzbegriff Kategorie, d. h. ein Begriff, zu Erscheinungen a priori einen Gegenstand zu denken und dadurch Erfahrung - von empirischen Zeitverhältnissen überhaupt, von Wechsel und Veränderung - möglich zu machen: das ist „der Grund, darum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz anwenden", der Grund also, weshalb es einer Schematisierung und des Nachweises der Rechtmäßigkeit einer solchen synthetischen Erweiterung der theoretischen Vernunft a priori überhaupt bedarf. Diese analytische Beziehung zwischen dem Prädikat der Beharrlichkeit und der unschematisierten Substanzkategorie haben Sie, so scheint mir, deshalb übersehen, weil Sie ,Substanz' ausschließlich mit der Bedeutung ,was nur als Subjekt, nicht aber als Prädikat existieren kann' verknüpft haben. Mindestens ebenso wichtig - und nach der Kant in Fleisch und Blut übergegangenen „notio" der Substanz der LeibnizWolff-Schule mit dem Subjektbegriff unzertrennlich verbunden - ist der Begriff der Beharrlichkeit. In Christian Wolffs Ontologia, §§768 ff. heißt es: „Subjectum perdurabile & modificabile dicitur Substantia. Ens autem, quod modificabile non est, Accidens appellatur. ... substantia est subjectum determinationum intrinsecarum constantium & variabilium... ... substantia est subjectum, cui insunt essentialia & attributa eadem, dum modi successive variant... ... Notio substantiae, quam dedimus, convenit cum notione substantiae communi." Diese „notio substantiae" (nicht umsonst nennt Kant die reinen Verstandesbegriffe „Notionen") hat Kant als Begriff wie so viele andere aus der Leibniz-Wolff-Schule unverändert übernommen. Er kritisiert nicht den Begriff, sondern nur, daß man allein tautologische Folgerungen aus ihm gezogen hat, wo man hätte beweisen müssen, daß es in allen Veränderungen beharrliches Dasein (das man aus diesen Begriffen nicht herausholen kann) gibt. Das glaubt Kant in der ersten Analogie bewiesen zu haben, und zwar

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bezogen auf die Totalität der Veränderungen, der Erscheinungen, allen empirischen Daseins überhaupt. Demgegenüber ist meine These, daß er es a) faktisch nicht bewiesen hat und daß er es b) nicht hat beweisen können. Wenn Sie mir zugestehen, wie Sie das freundlicherweise getan haben, daß dieser Totalitätsbezug in der ersten Analogie enthalten ist, dannkommt man zwingend zu dem Ergebnis, daß Kant die Grenzen apriorischer und transzendentaler Beweise überschritten hat. Reinhard B R A N D T : Ja, Herr Tuschling, mir kommt es so vor, als ob die Ebene, in der Sie Widersprüche bei Kant aufdecken, einfach dem Reflexionsniveau nach zu niedrig ist, als daß der Autor dieses Buches das nicht selber gemerkt haben sollte. Sie sagen z . B . einerseits: Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption hat also als synthetische Einheit der Apperzeption aller Erscheinungen eine a priori notwendige Beziehung auf die Totalität des Daseins. - , und auf der anderen Seite sagen Sie: Aber da liegt doch bloß eine distributive Beziehung vor, das ist doch ein Widerspruch. Also ich will mich zunächst auf einem ganz niederen Level der Argumentation aufhalten und sagen: das kann Kant doch nicht entgangen sein. Die Schwierigkeit liegt u. a. in dem Terminus des „Inbegriffs aller Erfahrung", den Kant in der Analytik immer schon vorsichtig benutzt. Natürlich muß man sich fragen: Was hat das in der Analytik zu suchen? Und da würde ich in die gleiche Richtung gehen wie Herr Baum und behaupten, daß schon in der Analytik Ganzheitsvorstellungen vorliegen. Das kommt ja expressis verbis vor und geht auch aus dem Raumbegriff und dem Zeitbegriff ganz klar hervor. Das Distributive ist nur aus einer Vorstellung des kollektiven Ganzen zu verstehen, die ich als Regelbegriff gebrauche. Das sind Regeln, nicht Festlegungen. Dies also auf der einen Seite bezüglich der Objekte der Erfahrung - und dann auf der anderen Seite bezüglich der subjektiven Apperzeption und des Ich, wo Sie z . B . sagen: „Dieselbe Struktur zeichnet aber auch die Apperzeption aus: sie ist einfaches Ich, mit sich identisches, insoweit leeres Bewußtsein..." Das kann man doch nicht sagen. Man kann doch nicht vom Selbstbewußtsein, dessen Identität nur deswegen möglich ist und erkannt werden kann, weil synthetische Akte vorliegen, diese loslösen und sagen: Da haben wir ein identisches Selbstbewußtsein; das

D i s k u s s i o n : W i d e r s p r ü c h e im transzendentalen I d e a l i s m u s ?

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ist zunächst einmal leer; dann gibt es auf der anderen Seite Objekte, und nun steht das leere Selbstbewußtsein als identisches diesen Objekten ganz fremd gegenüber. Das ist eine Interpretation gegen die Intention des Autors und gegen die Möglichkeit, mit relativ simplen Mitteln hier Konsistenz des Gedankens festzustellen. Von daher würde ich sagen: zunächst überzeugt mich die Konstruktion von Widersprüchen in dieser Weise nicht, und würde zunächst gegen Ihren Text daran festhalten, da, wo man Schwierigkeiten bei der Interpretation hat, bei Kant selber Hilfsmittel zu suchen. Etwa im Fall dieses leeren und identischen Selbstbewußtseins: Die Identität kann ich bei mir nur feststellen, nachdem ich synthetisch Akte geleistet habe. U n d damit entfällt doch das Problem. B u r k h a r d TUSCHLING:

Zu Ihrem ersten Punkt: Kant sind diese Widersprüche durchaus noch, nämlich spätestens im opus postumum, klargeworden. Dort wird sichtbar, daß er gesehen hat: Es ist nicht möglich, sich Substanz und Substanzerhaltung so vorzustellen, wie das in der „Kritik" geschieht. Der Bezug auf die Totalität des Daseins, ein absolutes Ganzes der Erscheinungen, ist mit der Idee der Substanzerhaltung unzertrennlich verbunden und kollidiert mit Grundannahmen des transzendentalen Idealismus. N u r steht man dann in der „Kritik" immer noch vor demselben Problem. Das gestehe ich ihnen zu. Ich würde nur sagen: Es wird verständlich, wenn auch nicht abschließend dadurch erklärt, daß man sagt: er ist vollkommen beherrscht von dem Gedanken, das Humesche Problem in seiner größtmöglichen Erweiterung, in systematischer Vollständigkeit aufzulösen. U n d deshalb ist diese Distributiv-Beziehung in der „Kritik" grundlegend. R e i n h a r d BRANDT:

Ja, er will Hume aufs Ganze, d. h. das Distributivische sozusagen auf eine Totalität beziehen, weil er sagt: das Humesche Problem ist sonst gar nicht lösbar. Aber das ist doch kein Widerspruch. B u r k h a r d TUSCHLING:

Es wird in dem Moment ein Widerspruch, wo er genötigt ist, die Totalität des Daseins des Mannigfaltigen mit einzubeziehen, nicht nur

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der Form nach. Wenn Sie dafür einen Beleg wollen, Herr Brandt, dann finden Sie ihn z . B . in der dritten Analogie (B260/261), wo von dem zwischen den Weltkörpern spielenden Licht die Rede ist. Damit soll eine mittelbare Gemeinschaft zwischen uns und den Weltkörpern bewirkt, das Zugleichsein der letzteren bewiesen werden „ . . . daß wir keinen Ort empirisch verändern (diese Veränderung wahrnehmen) können, ohne daß uns allerwärts Materie die Wahrnehmung unserer Stelle möglich mache, und diese nur vermittelst ihres wechselseitigen Einflusses..." usw. „Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (der Erscheinung im Räume) von der anderen abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, würde bei einem neuen Objekt ganz von vorne anfangen, ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhänge, oder im Zeitverhältnisse stehen könnte." Reinhard BRANDT: Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung! Burkhard TUSCHLING: Ja, Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung; aber das heißt doch, daß hier eine Kontinuität des Daseins verlangt wird und daß hier behauptet wird, diese Kontinuität werde a priori bewiesen von etwas, das doch als Eigentlich-Empirisches gerade nicht mehr Gegenstand des Beweisprogramms sein darf. Wenn man diese wichtige, konstitutive Unterscheidung, auf die Herr Baum zurecht heute morgen Wert gelegt hat, durchhalten will, dann darf man nicht so weit gehen, den leeren Raum aus dem Inbegriff möglicher Erfahrung a priori ausschließen zu wollen. Reinhard BRANDT: Wenn Erfahrung, dann ist allerdings eine leere Zeit nicht erfahrbar. Die fällt weg. Es geht nicht. Man kann die leere Zeit nicht erfahren. Man kann nicht sagen 1972, 1974. Burkhard TUSCHLING: Einverstanden. Aber das bedeutet doch: die Apperzeption kann nur dann funktionieren, Vorstellungen können nur dann objektive Erkenntnisse werden, wenn sich das Dasein des empirischen Mannigfaltigen an

D i s k u s s i o n : Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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sich als unter die Einheit von Raum und Zeit subsumierbar erweist. Und das ist etwas, was der transzendentale Idealismus nicht behaupten darf. M a n f r e d BAUM:

Ja, also mal eine Fußnote zum letzten, bevor ich das sage, was ich sagen wollte. Das mit der Nicht-Wahrnehmbarkeit des leeren Raumes und der leeren Zeit, das ist kein neues Problem. Damit argumentiert er ja in der ersten Antinomie. Das war eine Fußnote. Ich möchte zweierlei sagen. Einmal eine generelle Bemerkung und dann etwas zu einigen dieser Widersprüche. Also, ich glaube nicht, daß es bei Kant Widersprüche gibt, aber ich drücke mich vorsichtig aus, (Gelächter) denn natürlich habe ich nicht das Ganze immer durchdacht und verstehe auch vieles gar nicht, was da steht. D a mögen vielleicht Widersprüche schlummern, die mir noch nicht aufgegangen sind. Jedenfalls unter denen, die Sie vorgetragen haben, scheint mir keiner unauflöslich, aber ich kann das jetzt auch nicht vorführen. Ich werde aber gleich auf einige eingehen. Es gibt allerdings Schwierigkeiten, und das nicht im alltäglichen Sinne. Kant hat es z . B . von der Fernkraft Newtons gesagt: das ist eine Schwierigkeit, die Cartesianer haben dieses Konzept bekämpft, Leibniz hat das bekämpft. Das ist eine unüberwindliche Schwierigkeit des Newtonschen Systems: Wie kann etwas dort Wirkungen hervorbringen, wo es nicht ist? Man kann es nicht beantworten. So etwas mag es bei Kant auch geben. Die Alternative dazu scheint mir aber in keinem Fall Hegel zu sein. Es mag sein, daß diese Schwierigkeiten daraus entstehen, daß verborgenerweise ein Widerspruch besteht. Dann eben ist Kants Theorie falsch. Aber das heißt noch lange nicht, daß dann Hegels richtig ist. Umgekehrt, sagt Herr Cramer, und ich schließe mich ihm an: „Hegel sicher nicht, Kant vielleicht nicht." Ja, warum meine ich das? Ich glaube, daß man ein bißchen auf den Status der Theorie reflektieren muß. Kant behauptet nicht, die Lösung aller Welträtsel anzubieten, auch noch nicht einmal solcher Rätsel, die seiner Theorie sehr benachbart sind; und zwar einfach deshalb nicht, weil er keine Metaphysik schreibt und also mit anderen Worten auch keinen Monismus der Vernunft, die sich für alle Fragen zuständig

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erklärt, hier durchführen muß, sondern das Strickmuster aller möglichen Metaphysiken. So glaube ich auch nicht, daß ihn der materiale Idealismus Berkeleys wirklich schreckt, denn er sagt ausdrücklich: Ich habe den Grund dazu gehoben. Er sagt nicht: Ich habe ihn widerlegt. Und er hat ihn auch nicht widerlegt. Denn wenn einer sich partout darauf versteifen will, dann kann ihm das die „Kritik der reinen Vernunft" nicht ausreden. Kant gibt nur Antworten auf Fragen, die man anders lösen kann, und zwar so, wie er sie löst hinsichtlich des Idealismus. Weil Berkeley nicht auf die Idee kam, den Raum als eine reine Form der Sinnlichkeit aufzufassen, deshalb mußte ihm die Subjektivität des Räumlichen als ein Beweis dafür erscheinen, daß es keine objektiv gültigen primären Sinnesqualitäten gebe. Das läßt sich auch anders erklären, wie Kant zeigt. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, daß Berkeley widerlegt ist. Man kann das, was er an Argumenten mobilisiert, anders und besser erklären. Das heißt es. Ebenso würde Kant auch ein transzendentaler Materialismus nicht schrecken. Es ist doch klar, wenn er es offenläßt, was denn das letzte Subjekt des Denkens ist, daß das Denken ein Produkt der Materie sein kann. Das kann man zwar nicht behaupten, weil man nicht einsehen kann, wie aus den partes extra partes dieser Gedanke „ich denke" entstehen soll. Aber, widerlegen kann das kein Mensch, einen Beweis dafür führen, daß die Materie nicht denken könne, kann niemand. Und darin unterscheidet sich eben der kritische Philosoph von diesen metaphysischen Beantwortern letzter Fragen, nämlich, daß er sagt: Ich weiß es nicht. Also, das bringt es wohl mit sich, daß es da alternative metaphysische Gegensätze gibt, die sich auf dem Boden derselben kritischen - nicht Metaphysik, sondern - Theorie der Metaphysik oder Transzendentalphilosophie ergeben, die also von Kant nicht aufgelöst sind, weil er diese alternativen Positionen nicht bezieht. Jetzt noch zu konkreten Widersprüchen: Zunächst zur Frage: Ist die Materie in exklusive Päckchen verpackt und also individuell und heißt dann Substanz oder gibt es nur eine und dieselbe Materie? Er sagt es ja in den „Metaphysischen Anfangsgründen" so : das ist eine Frage der Redeweise. Wenn ich ein Stück ausgegrenzter Materie für sich genommen, weil sie sozusagen von allen Seiten unabhängig von anderer Materie ist, Substanz nennen will, dann steht mir das frei. Primär ist Materie das große Reservoir, in dem alles zusammenkommt. Das ist nicht irgendeine Erfindung, sondern das läßt sich einfach aus der Raumtheorie ableiten.

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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Und dafür spricht in der Tat eine erkenntnistheoretische Überlegung. Wenn ich nämlich sage, alle Teile des Wassers oder vielmehr alles Wasser oder alle Gewässer - das sind nur Teile eines und desselben großen Weltenozeans, dann mag ich damit rechthaben oder nicht. Ich kann mir aber auch ein Stück Wasser nehmen und trage es eben - sagen wir einmal - zum Jupiter. Und dann habe ich zumindest zwei Gewässer und nicht eines. Also ist es Zufall, ob es nur ein Wasser gibt oder mehrere. Dagegen ist es beim Raum anders. Alle möglichen Räume - d. h. alles, auf das das Prädikat „ist ein Raum" zutrifft - sind notwendigerweise Teile desselben Raums. Es ist also zwar beim Wasser möglicherweise so, daß alle Gewässer Teile desselben Wassers sind, beim Raum aber ist es notwendigerweise so, daß alle Räume Teile desselben Raumes sind. Und das ist ein großer Unterschied. Und wenn ich mir also jetzt vorstelle, wie der Raum erfüllt ist, ob es da ζ. B. Atome gibt oder nicht (was nämlich den leeren Raum impliziert) oder ob es eben nur Kräfte gibt, die den Raum erfüllen (und eben eine dynamische Raumerfüllung angenommen werden muß), da sagt er, darüber weiß der kritische Philosoph nichts, das sind metaphysische Antworten - das ist eine Weise des Offenhaltens einer Alternative, anders als bei dem von Kant selbst behaupteten Dualismus. Da hält er nichts offen, nicht wahr. Er sagt: ich bin Dualist. Und nur ein Fichte oder Hegel würde sagen, das sei eine Schande, ein Dualist zu sein. Mit Bezug auf die anderen Widersprüche würde man also sagen können: wenn es eine Konsequenz der Angewiesenheit des Denkens auf von außen gegebenes Material zu sein scheint, daß es Dinge an sich gibt, nämlich die Lieferanten dieses Denkmaterials, dann kann man natürlich ebensosehr sagen: Da das Material, an dem das Denken vollzogen wird, immer nur für das Denken Material ist, gibt es überhaupt keinen Grund, anzunehmen, daß die kontingente Bedingung des Stattfindens der Synthesis nicht auf eine unerklärliche Weise aus dem denkenden Subjekt selbst stammt, nämlich aus ihm unter dem Namen der Einbildungskraft. Warum sollte nicht - das ist ja im sogenannten Deutschen Idealismus auch behauptet worden - es sozusagen eine transzendentale Vorgeschichte des Bewußtseins geben, in der all diese Sachen produziert werden, die ich dann in irgendwelchen Synthesen versuche, zu verbinden. Das kann man mit Hilfe der kritischen Philosophie nicht widerlegen. Und das stört auch nicht, denn Kant verfaßt eine „Kritik der reinen Vernunft" und nicht ein Buch namens „Welträtsel".

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Burkhard TUSCHLING: Auch Sie haben doch heute morgen den Gedanken vertreten, daß es eine Welttheorie sein soll, und Herr Brandt hat es ja vorhin nochmals wie ich finde - völlig konsequent und richtig ins Spiel gebracht. Es scheint mir nicht möglich zu sein zu sagen, Kant habe Berkeley nicht widerlegen wollen. Schließlich s t e h t s . . . Manfred B A U M : . . . können! Burkhard TUSCHLING: Doch, er meint es gekonnt zu haben - Β 2 7 4 f f . : „Widerlegung des Idealismus". Manfred B A U M : Ja, richtig, auf dem Boden des transzendentalen Idealismus. Burkhard Ja-

TUSCHLING:

Manfred B A U M : Wenn der wahr ist, dann ist Berkeleys Idealismus falsch. Burkhard TUSCHLING: Gut. Und deshalb darf der transzendentale Idealismus auch nicht in die peinliche Lage geraten, so etwas behaupten zu müssen. Manfred B A U M : Ja, soweit kann ich zustimmen. Burkhard TUSCHLING: Über diesen Punkt brauchen wir uns also nicht mehr zu streiten. Und damit ist dann exakt das Problem bezeichnet, in das der transzendentale Idealismus gerät. - Zum „transzendentalen Materialismus": Es geht hier nicht um die Frage, ob die Materie denken kann oder nicht. Die „Kritik der reinen Vernunft" sagt darüber nichts. Und ich glaube, sie tut von ihren Prämissen her gut daran, darüber nichts zu sagen. Aber das ist nicht das Problem.

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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Das Ich muß sich da beziehen können auf etwas, was es synthetisieren kann. Da war mehrfach nachgefragt worden - wie ich fand, zurecht - was diesen Bezug garantiert. Nun sagen Sie, der transzendentale Idealismus behaupte gar nichts darüber, ob die Materie dynamisch oder atomistisch aufzufassen ist. In der Tat präsentieren die „Metaphysischen Anfangsgründe" das Problem in dieser Form, aber daran gehen sie eben auch kaputt. Der transzendentale Idealismus muß etwas dazu sagen, und er sagt auch was dazu. In der dritten Analogie sagt er: der leere Raum darf in der Totalität der Erfahrung nicht vorkommen. Der mag sein, wo er will, nur da darf er nicht vorkommen. Reinhard BRANDT: Das ist doch - genau - das ist die Erfahrungsbedingung. Burkhard TUSCHLING: Ja, Herr Brandt, aber damit haben Sie doch einen Weltbegriff, wo Sie ihn nicht haben dürfen, nämlich in der Analytik. Und damit ist doch klar, daß Substanz nicht mehr Kategorie sein kann, sondern Idee ist, das heißt Begriff von etwas, wozu keine korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, das aber als konstitutiv für Erfahrung behauptet wird. Hier sieht man erneut die Kontradiktionen, in die der transzendentale Idealismus gerät. Reinhard BRANDT: Man kann doch Kausalität nicht sehen, und trotzdem ist es bezogen auf Anschauung; genauso Substanz. Das ist doch kein Einwand. Burkhard TUSCHLING: Naja, Herr Brandt, ja, das ist kein Einwand. Die Frage ist bloß: „man hätte beweisen müssen, daß in allen Anschauungen etwas Beharrliches . . . " ist - heißt es da an der Stelle. Reinhard BRANDT: Das ist die Regel, unter der ich Erfahrung machen kann. Such! Sozusagen: Du mußt immer etwas Beharrliches wahrnehmen, sonst kannst du keine Erfahrung machen.

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Ganz tödlich für die „Kritik"! Ganz tödlich! (belustigte Aufregung im Publikum) Die Aussage von Weizsäckers und anderer, die erste Analogie besage nur: ,In allen physikalischen Systemen muß überhaupt irgendeine Erhaltungsgröße auftreten' - oder ,Erhaltungssätze überhaupt müssen sein', stimmt in der Tat mit vielen Sätzen des Kapitels über die erste Analogie überein. Mit bestimmten anderen Sätzen aber ist sie nicht zur Deckung zu bringen, sondern sie widerspricht ihnen, all denjenigen Sätzen nämlich, in denen Kant sagt, daß die Substanzen wahrnehmbar sind. Ihr Zugleichsein im Raum ζ. B. soll wahrgenommen werden können. Wenn das wahr ist, dann heißt das doch u. a., daß hier die notwendige Diskretheit des Daseins des empirischen Mannigfaltigen a priori bewiesen worden sein soll. Das aber ist starker Tobak, der eben mehr voraussetzt als das, was in der „Kritik" passiert. Voraussetzung für eine derartige Behauptung wäre eine transzendentale Materietheorie, über die die „Kritik" erklärtermaßen nicht verfügt, ja, die nach ihren Prinzipien nicht möglich ist. Deshalb arbeitet sich Kant an ihr auch im opus postumum so ab. Dort wird ja dann schließlich auch wörtlich gesagt, daß Raum, Zeit und Apperzeption einfach in der Luft hängen, wenn man nicht den Äther a priori beweisen kann. Noch einmal zurück zu Ihrer Frage: Hat er's nicht gemerkt? Ja, er hat's gemerkt. Ganz zwingend - seinen eigenen Konsequenzen folgend - ist er an diesen Punkt gelangt, um dann zu sehen: Man muß die Voraussetzung des transzendentalen Idealismus grundlegend revidieren oder aber ihn völlig aufgeben. Zu einer Lösung ist er nicht mehr gelangt. - Das opus postumum zeigt auch die reproduktive Struktur, die diese Widersprüche haben. Ich glaube, daran kommt man nicht vorbei. K o n r a d CRAMER:

Es ist klar - und Sie selber und andere haben das auch mit Erfolg zu zeigen unternommen - daß man, was die systematischen Haupttheoreme des opus postumum angeht, erklären muß, was Kant zu ihnen motiviert hat. Etwa die Selbstaffektion des Subjekts und das ihr korrespondierende Theorem von der Erscheinung der Erscheinung scheint im Kontext der „Kritik" ein sinnleerer Gedanke zu sein, muß aber doch auf Grund von Schwierigkeiten eingeführt worden sein, die sich aus dem Programm des transzendentalen Idealismus der „Kritik" ergeben, aber

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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von Kant in der „Kritik" noch nicht einmal bemerkt worden sind. Sie, Herr Tuschling, haben Entsprechendes für das Verhältnis des opus postumum zu den „Metaphysischen Anfangsgründen" darzutun versucht. Ein ,Chef d'oeuvre' hat Kant selber das opus postumum genannt. ,Das Eigentliche kommt erst. Es ist noch gar nichts wirklich geleistet. Die Transzendentalphilosophie steht noch aus': das war das Bewußtsein, das Kant am Ende seines Lebens hatte; und das muß nun wirklich Gründe haben, und zwar andere als den der Altersschwäche. Um aber Ihren Gedanken auf eine Formel zu bringen, die ihn mit dem Baumschen Interpretationsprogramm in Berührung bringt, will ich folgendes sagen: Sie vermuten, daß das Deduktionsprogramm der distributiven Einheit in Einem auf das Programm der Exposition der Bedeutung des Begriffs der kollektiven Einheit mitbezogen sein muß. Ich denke, man kann diese These stützen und genauer zeigen, wie diese Beziehung auszusehen hat. Demgegenüber behaupten Sie jedoch, wenn ich Ihren Gedanken einmal so formulieren darf, daß Kant in der Konstruktion dieser Beziehung die Semantik der Relate derselben verrutscht - und zwar aus Gründen, die sein Theorieprogramm zwingend vorschreibt, nämlich so, daß er die distributive Einheit an bestimmten Theorieknotenpunkten mit der kollektiven Einheit identifizieren bzw. als mit ihr äquivalent setzen muß. Und eben das widerspricht seinem ursprünglichen Programm der Bestimmung der Beziehung dieser beiden Begriffe von Einheit. Dies kann dann auch so ausgedrückt werden: Kant rutscht, ohne dies zu wollen und zu sagen, in Wahrheit schon in der Konstruktion der Analogien der Erfahrung, insbesondere in der Konstruktion der dritten, in die Antinomie im Weltbegriff. Dies aber so, daß man dann nicht mehr verstehen kann, weshalb es sich in der Exposition des Weltbegriffs um eine Antinomie der Vernunft handeln soll. Denn dann ist dieser Begriff selber konstitutiv für unsere Erkenntnis von Objekten in Raum und Zeit. Dasselbe - oder ein ähnliches - Problem ergibt sich bezüglich der Relation von Erkennen von Etwas und Anschauen von Etwas. Warum braucht Kant, so kann man fragen, ein Theorem des Inhalts, daß Substanzen als solche im Räume und als zugleich wahrgenommen werden? Das kann nicht nur eine flüchtige Redeweise sein; und eben deshalb hat die Strategie Ihrer Rekonstruktion hier wirklich etwas Uberzeugendes. Denn dann haben Sie einen sehr guten Grund - ich weiß natürlich nicht, was Herr Baum dazu noch sagen würde - für die Vermutung, daß es in der „Kritik der reinen Vernunft" theorieintern

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motivierte Aussagen über die Struktur unserer Erkenntnis einer objektiven Welt gibt, die, wenn man sie genauer ausarbeitet, nur in der Form von Kontradiktionen elaborierbar sind. Dann müssen diese Kontradiktionen aber nach Kants Uberzeugung auch aus der Theorie eliminiert werden können. Und dies mag dann die Folge haben, daß das Theorieprogramm als ganzes einer radikalen Veränderung bedarf. Und das ist dann - ganz abgekürzt gesprochen - Hegel. B u r k h a r d TUSCHLING:

Da kann ich voll zustimmen. K o n r a d CRAMER:

Und ich würde halt dagegen vermuten: Es ist der tote Kant, der uns das hätte sagen müssen, der Kant nach seinem Leben. M i c h a e l WOLFF:

Was wird Herr Baum dazu sagen? M a n f r e d BAUM:

Zunächst noch mal eine kurze Bemerkung: Ich meinte natürlich nicht, daß das, was Sie unter Transzendentalrealismus verstehen, das ist, was der dogmatische oder metaphysische Materialismus behauptet. Dieser behauptet vielerlei - ζ. B., daß die Materie denkt. Ich habe zu dem, was Sie transzendentalen Realismus nennen, gar nichts sagen wollen, weil mir da einfach die Entwicklung des Problems oder die Problemgeschichte bei Kant fehlt. So habe ich in der von Klaus Reich besorgten Ausgabe der „Träume eines Geistersehers" und der Raumabhandlung mit Erstaunen gelesen, daß er behauptet, Kant habe schon 1768 nicht mehr den leeren Raum behauptet, und schon damals sei er darin von Newton abgewichen. (Phil. Bibl. 286, S. X I , Anm. 2) Das ist mir neu, und ich habe dazu keine Meinung. Die andere Frage ist allerdings, ob sich nicht partielle Widersprüche eben tatsächlich daraus ergeben, daß einseitig Elemente des Kantischen Dualismus als einer Gesamtkonzeption absolut gesetzt werden, ob das nicht insofern vermeidbare Widersprüche sind. Ich glaube, was Sie aufgewiesen haben, ist ja keineswegs ein einzelner oder isolierter Widerspruch, sondern es scheint mir um diese Frage zu gravitieren: Ist der empirische Realismus mit dem transzendentalen Idealismus vereinbar oder nicht? Oder jedenfalls ein Teil dieser Widersprüche, die Sie angesprochen haben, hängt

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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damit zusammen. Also da sehe ich keine Widerspruchsgefahr. Insbesondere sehe ich nicht, was die Unterscheidung von distributiver und kollektiver Einheit an Widersprüchen verbergen mag. Wenn es wahr ist, daß sich auf Grund von Überlegungen a priori zeigen läßt, daß der Raum und die Zeit nur einig, also einzig sind, dann sind sie Individuen. Und das widerspricht doch nicht der Tatsache, daß sich in Raum und Zeit beliebig viele Individuen befinden mögen. Also das Wort „Das Einzelne" ist halt mehrdeutig: es kann eben das kollektive Ganze selbst ein Einzelnes sein, und es kann in ihm Einzelnes geben. Mir scheint auf dem Gebiete, das ich jetzt angesprochen habe, - das offenbar nicht das ist, was Sie meinten, daß da kein Widerspruch ist. Und das läßt sich wohl leicht zeigen, weil einfach der Gedanke der Individualität der der logischen Indeterminiertheit ist; und es schadet überhaupt nichts, ob die darin besteht, daß da die Summe alles möglichen Raumes versammelt ist oder ob eine durchgängige Determination durch Realität und Negation oder auch - wie beim ens realissimum - nur durch positive Bestimmungen gegeben ist. Das ist halt vielfältig möglich, ein solches Individuum. Meine Frage aber ist insgesamt: Wenn es so wäre, wie Sie sagen, daß sich hinsichtlich der Frage, ob die einzelne Substanz oder nur das kollektive Ganze das Beharrliche ist, bei Kant widersprechende Aussagen finden - wahrscheinlich lassen sich schlagende Beweise dafür finden, daß da widersprüchliche Aussagen vorliegen, wenn man die Entwicklung des Problems bei ihm insgesamt betrachtet - , wo finden Sie denn da was Positives? Was soll denn daran gut sein, daß er sich in diesem Punkt widerspricht? Was soll denn da zu Hegel führen? Es kann doch keine Metatheorie geben, die sagt: Daraus folgt, daß Hegel recht hat, - daß es nämlich notwendig ist für eine Philosophie, die Einheit der Gegensätze zu denken. Burkhard T U S C H L I N G : So will ich das auch nicht behauptet haben. Vorhin haben Sie auf die „Metaphysischen Anfangsgründe" bezogen zurecht gesagt: Kant meine, der Mechanismus habe bisher dominiert und nun komme er und zeige wenigstens die Möglichkeit einer anderen Erklärungsart - nämlich der Dynamik. Sie will er unter Zuhilfenahme empirischer Daten, die er dann aber doch unter Anwendung transzendentaler Prinzipien analysiert, plausibel machen.

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Darin stimmen wir überein. Meine These ist aber: das darf er nicht sagen. Das darf er deswegen nicht sagen, weil er und weil auch Sie ihm folgend gesagt haben: J a , dieser Totalitätsbezug ist natürlich da. Der Raum ist Einer.' Die dritte Analogie bzw. alle drei zusammengenommen sagen eben nicht nur, daß er als Anschauungsraum Einer ist, sondern daß er ein dynamisches Kontinuum und dies wiederum die Bedingung dafür ist, daß die Apperzeption unter allen empirischen Umständen und lückenlos Bestimmungsmaterial vorfindet. Das läuft auf einen Existenzbeweis a priori hinaus. Und das wiederum heißt doch: Wenn sich der transzendentale Idealismus nun auch noch anheischig macht, das Dasein des empirischen Mannigfaltigen a priori beweisen zu wollen, dann tut er doch genau das, was man nach seinen Prinzipien schlechterdings nicht tun darf. Also tragen Sie die Beweislast dafür, daß die ursprünglichen Prinzipien und der Existenzbeweis a priori doch miteinander vereinbar sind. Wo hier das Positive bleibt? Dazu kann ich nur noch sagen: Gerade diese Widerspruchsstruktur des transzendentalen Idealismus zeigt doch, daß die Unterschiede a priori - a posteriori, Anschauung-Begriff usw. offenbar in falscher Weise einander entgegengesetzt werden. Dieselben Probleme ergeben sich ζ. B. bezüglich der Auszeichnung der einzelnen empirischen Anschauung, des Daseienden als Etwas, was einzig Wahrheit hat. Hegel zeigt, wohin das führt, nämlich in einen Prozeß des Durchlaufens von Kontradiktionen, die sich zunächst mal in sich selbst bewegen. Will man aus ihnen herauskommen, muß man sich anders dazu verhalten, als der transzendentale Idealismus das erlaubt. Und, was ich eben so interessant finde, ist dies: Man kann die Punkte in der „Kritik der reinen Vernunft" genau angeben, wo die Widersprüche als notwendige auftreten - eben ζ. B. die drei Analogien, das Verhältnis der Apperzeption zu ihren Inhalten. Ähnliches ließe sich von den Problemen sagen, die Michael Wolff vorhin diskutiert hat. Das, was Kant hier über den Widerspruch sagt und vor allem, was er mit dem Satz des Widerspruchs anfängt, ist deshalb so interessant, weil er noch meint, ganz naiv die formale Logik voraussetzen und sich auf sie beziehen zu können. Ich meine, der Autor der „Kritik der reinen Vernunft" konnte nun nicht alle Probleme auf einmal lösen. Er mußte sich auf bestimmte Dinge konzentrieren und glaubte, sich auf anderes, z.B. die formale Logik verlassen zu können. Nun zeigt aber die Durchführung seines Programms, daß es selbst,

Diskussion: Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

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wenn man es ernst nimmt, eben die Pointe hat, daß der vermeintlich sichere Felsgrund der Wissenschaft, die seit Aristoteles ,den sicheren Gang einer Wissenschaft gegangen' ist, zerbröselt, auseinanderbricht. Ich will Ihnen recht geben: man soll natürlich immer zunächst einmal der Interpretationsmaxime folgen, nach Konsistenz zu suchen, wo man irgend kann. Insofern trägt man eine hohe Beweislast, wenn man Widersprüche behauptet. Die trivialen, die nur in Formulierungen liegen, sollte man gleich beiseiteräumen, so wie wir uns z . B . vorhin sehr schnell über Β 227 geeinigt haben. Beschäftigen muß man sich mit den nichttrivialen, und dazu gehören eben m. E. Aussagen wie ,Die Substanz ist Anschauung und sie ist nicht Anschauung' ,Sie ist das Feld allen Bestimmens überhaupt - und das können wir a priori beweisen - , und sie ist das diskrete Dasein' usw. Diesen Widersprüchen kann man nicht ausweichen, zu ihnen muß man sich bewußt verhalten. R e i n h a r d BRANDT:

Als Programm der Widerlegung der letzten beiden Vorträge würde mir vorschweben zu zeigen, daß in beiden Fällen Kant schon in Antizipation Hegelscher Positionen gelesen wird und der Satz vom Widerspruch schon bei Kant belastet wird mit einer Beweislast, die man bei Kant gar nicht tragen kann und deswegen scheitern muß; und daher dann sachlich notwendig eine andere Logik folgt. Und ich würde auch Ihnen entgegenhalten wollen, daß Formulierungen wie folgende in diese Richtung gehen, daß Sie nämlich sagen, daß man die Kontradiktionen der „Kritik der reinen Vernunft" ernst nehmen muß, d . h . in ihrer Notwendigkeit und sachlichen Begründetheit begreift. Das heißt: ein historischer Text wird hier mit seinen Widersprüchen belastet mit einer aus der Sache selber notwendig kommenden Problemlage. Sie charakterisieren dann in der Folge das Problem so, daß - ich meine: ganz eindeutig - Hegeische Antizipationen sich finden. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß Sie mit diesem leeren identischen Ich operieren. B u r k h a r d TUSCHLING:

Sie würden doch nicht bestreiten, daß dieser Vehikel-Charakter der Apperzeption, - dieses I c h . . . , I c h . . . , I c h . . . , diese analytische Einheit der Apperzeption, die allen Begriffen als solchen anhängen soll - wirklich nichts mehr ist als diese einfache Vorstellung eines Ich, das zunächst einmal keinen Inhalt hat.

336

Burkhard Tuschling u. a.

R e i n h a r d BRANDT:

Kant sagt ja, daß diese Identität des Ich, deren ich mir bewußt werden kann, erst folgt nach Akten der Synthesis. B u r k h a r d TUSCHLING:

Einverstanden. Ich sage nur: Man muß diese Vorstellung eines solchen abstrakten Ich mit der Konzeption desselben Ich als einer ursprünglich synthetischen Einheit zusammenbringen. Ich gebe Ihnen den antizipatorischen Charakter gewisser Formulierungen zu. Das war durchaus die Intention. N u r , Herr Brandt, ich glaube, ich brauche gar nicht zu antizipieren. Ich kann diese ganze Hegel-Rekonstruktion oder den Versuch, da weiterzukommen, erst mal abschneiden und sagen: jeder Interpret steht vor der Aufgabe, den Autor ernstzunehmen und ihn nicht dadurch zu retten, daß man eliminiert, womit man interpretatorisch nicht fertig wird. Damit tut man ihm de facto die Euthanasie an. Gerade beim Versuch, konsistent zu interpretieren, kommt man zur Entdeckung solcher Kontradiktionen. Und gerade die drei Analogien sind nicht zufälligerweise interessant. An ihnen müssen wir uns eben gemeinsam die Zähne ausbeißen. Mir ist schon klar, daß Sie sich an irgendwelchen Hegelrekonstruktionsversuchen nicht beteiligen wollen. Ich will Ihnen das auch gar nicht zumuten, sondern nur sagen: Wenn man im Sinne der Konsistenz-Forderung arbeitet und dann zu solchen Ergebnissen kommt, gibt es weitere Aufgaben. Man muß nicht immer in die „Phänomenologie" oder die „Wissenschaft der L o g i k " schielen, um das zu sehen, sondern es ist doch gerade umgekehrt; dort werden Hilfsmittel bereitgestellt, die es einem gestatten, zu befriedigenderen Interpretationsergebnissen zu kommen als diejenigen sind, zu denen man kommen kann, wenn man auf dem Standpunkt verharrt, den Hegel als abstraktes Verstandesdenken kritisiert. R e i n h a r d BRANDT:

N u n , das ist ja im Moment gar nicht diskutiert worden, ob das befriedigender ist oder ob die ganze Sache den Bach runter geht. B u r k h a r d TUSCHLING:

Naja, ich würde Ihnen zugestehen: Der transzendentale Idealismus geht - wenn Sie so wollen - in der Tat den Bach hinunter. Mindestens ist

D i s k u s s i o n : Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

337

eine Änderung des Systemkonzepts, eine Auflösung der Widersprüche erforderlich. Auf diesen Aspekt legt ja auch Michael Wolff im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Begriff des Widerspruchs immer wieder Wert. In diesem Punkt stimmt Hegels „Wissenschaft der L o g i k " mit der traditionellen überein, daß sie den Widerspruch als Skandal nimmt und ein Auflösungsprogramm exponiert. Die Frage, mit welchen Mitteln das zu geschehen hat, ist ein anderer Punkt. Sie mögen hoffen, daß Sie doch noch zu einer konsistenten Interpretation des transzendentalen Idealismus kommen. Dann aber tragen Sie die Beweislast dafür, wie Sie einen Existenzbeweis a priori und dazu noch auf die Totalität des Daseins bezogen führen wollen. Wenn Sie das erfolgreich begründen können, entsteht eine neue Situation. Aber solange das so steht - meine ich - , muß man sich dazu verhalten. M a n f r e d BAUM:

N u r eine Fußnote zum Gebrauch des Namens Hegel. (Lachen im Publikum) Der Gedanke, daß eine Annahme, die zu widersprüchlichen Konsequenzen führt, aufgegeben werden müßte, ist natürlich nichts Hegelsches, sondern das ist Zenon von Elea oder der ganze Eleatismus, das ist Kant, beispielsweise in der Antinomienlehre. B u r k h a r d TUSCHLING:

Sicher. M a n f r e d BAUM:

Wenn die Annahme, daß die Sinnenwelt ein Ding an sich ist, zu Widersprüchen führt, müssen wir sie aufgeben. Die Sinnenwelt ist kein Ding an sich. B u r k h a r d TUSCHLING:

Ja, es kann einem eben nur passieren, daß man dann plötzlich überhaupt nichts mehr in der Hand hat. Das ist eine etwas peinliche Situation u n d . . . M a n f r e d BAUM:

Ja, das ist ein mundus sensibilis, eine Erscheinung. Auch die Welt im Ganzen ist eine Erscheinung. Das ist die Lösung für dieses Problem.

338

Burkhard Tuschling u. a.

Deshalb kann man in ihr beliebig weit fortschreiten. So ist die Größe der Welt z.B. immer nur mit Bezug auf gemessene Abstände in ihr oder gehabte Erfahrungen hinsichtlich ihrer Größe bestimmbar. Aber ich will das jetzt gar nicht verteidigen. Ich will nur sagen: das denkt Kant sich so. Das ist nichts Hegel-Spezifisches, Hegel-spezifisch ist etwas ganz anderes - und ich würde mich doch sehr wundern, wenn jemand das freiwillig auf sich nehmen wollte, was der Hegel da sagt - nämlich... (Wolff, Tuschling und andere lachen) Burkhard T u s c h l i n g : Also: außer Hegel. Manfred Baum: Ja, außer Hegel - nämlich die Konzeption, daß es so etwas wie eine Bewegung in Begriffen gibt, ist allein Hegelisch in diesem Zusammenhang, Hegel-spezifisch. Das heißt, man kann es begriffshistorisch so sagen, daß es die Dialektik mit Bewegung zu tun habe, das hat vor Hegel nie einer behauptet. Und das liegt eben daran, daß Hegel meint, es gebe eine Bewegung der Begriffe. Michael W o l f f : . . . des Begriffs. Burkhard T u s c h l i n g : .. .des Begriffs; noch schlimmer, noch schlimmer! Katharina Kanthack: Das ist metaphysisch. Manfred Baum: Dann wird es erst richtig Hegelisch und, was das eigentlich heißt und was man dazu sagen kann, das ist ja klar, daß wir da jetzt wohl nicht einsteigen wollen - aber das - würde ich sagen - markiert so eine Grenze. Also alles andere ist common sense eher als Hegel. Und den hat der auch, den common sense. Katharina Kanthack: Ja, und das ist doch schlechthin metaphysisch...

D i s k u s s i o n : Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

339

Konrad C R A M E R : Nein, nein. Katharina KANTHACK: . . . diese Bewegung der Begriffe; - die Behauptung! Burkhard T U S C H L I N G : Sie sagen: nein, wollen Sie die Beweislast dafür übernehmen? Sehr schön! Konrad C R A M E R : Also dazu muß ich auch noch was sagen. (allgemeine Belustigung) Es könnte der Anschein entstehen, daß die eine Fraktion hier (gemeint sind die Herren Brandt und Baum und vielleicht auch ich) Herrn Wolff und Herrn Tuschling als der anderen Fraktion imputiert, daß sie Hegel an die Stelle von Kant setzen oder wenigstens setzen wollen. Daß ist ja gar nicht Ihr Programm. Das Programm ist ja genau dieses, mit Bezug auf interne Schwierigkeiten der Kantischen Theorie theoretische Motive zu lokalisieren und zu identifizieren, die es erlauben sollen, das, was Herr Henrich ,Hegels Grundoperation' nennt, verstehbar zu machen. Hegel behauptet emphatisch: Bedeutungen sind überhaupt erst als Bedeutungen interpretierbar, wenn man ihnen selber so etwas wie eine Bewegung imputiert. Das heißt: wir können gar nicht von Prädikaten sprechen, wenn wir nicht so etwas wie die Selbstbewegung des Begriffs annehmen. Das ist natürlich so formuliert eine schlechthin sinnlose Aussage. Man braucht Operatoren, die es erlauben, den Sinn oder den rationalen Gehalt dieser Forderung einzusehen. Hierfür braucht man vor allem anderen einen Operator, der es einem erlaubt, die Bedeutung der Hegeischen Form der Negation als negative Beziehung auf sich anzugeben. Das braucht man. Herr Wolff und Herr Tuschling unterscheiden sich nun von anderen Leuten, die uns die Dialektik präsentieren wollen, genau dadurch, daß sie aufklären möchten, was das bedeuten mag: negative Beziehung (der Negation) auf sich, und nicht damit operieren und so tun, als ob sich diese Formel von selbst versteht. Es gibt ja - so sagen viele - die realen Widersprüche. Und jetzt kommt die ganze Leier, mit der man theoretisch nichts, gar nichts anfangen kann. (Amusement im Publikum)

Burkhard Tuschling u. a.

340

Wir müssen zu verstehen versuchen . . . und ich meine (zu Herrn Baum gewandt): Du warst zu lange am Hegel-Archiv, als daß Dir das noch attraktiv erscheinen könnte. (Gelächter) . . . es ist wirklich eine Grundaufgabe nicht nur der Kantinterpretation, sondern auch der Interpretation dessen, was historisch auf ihn folgte und ohne ihn unmöglich gewesen wäre, Bedingungen einer philosophischen Dialektik wirklich anzugeben, und nicht nur auf begrifflich vage bleibende Weise als gegeben zu unterstellen. Man kann eben nicht - das sollte in Marburg auch einmal gesagt werden - wie Reich und Ebbinghaus den Standpunkt beziehen, daß die Kantische Philosophie die Wahrheit war. Das war sie auch nicht. Man muß schon eine Entwicklungsgeschichte des Idealismus zu schreiben versuchen, die nicht die ,Von Kant zu Hegel' im Sinne Kroners ist, sondern wirklich klar macht, was die interne Logik der ,dialektisch' genannten Operationen ist. Wenn dies mit Rekurs auf interne Motive der Kantischen Philosophie, — sagen wir ruhig: mit Rekurs auf interne Aporien des transzendentalen Idealismus gelingt, besitzt man ein Plädoyer für den Sinn, der dem Unternehmen Hegels innewohnt, wenngleich noch kein vollständiges Interpretament für die konkrete Durchführung von Hegels Theorie dessen, was Prädikate sind. Aber wir wissen bislang nicht wirklich, was der Sinn der Hegeischen Logik ist, und niemand wird mit völlig überzeugenden Gründen behaupten können, daß er dies weiß. Daher sind alle Versuche, Sachmotive für Hegels Grundoperation zu rekonstruieren, äußerst begrüßenswert. Denn niemand von uns wird auf der anderen Seite zu sagen bereit sein: Nun ja, die Hegeische Logik hat eben deshalb, weil sie die Gültigkeit des Satzes vom auszuschließenden Widerspruch aus der philosophischen Theoriebildung exportiert, den Wahrheitswert,Falsch'. Klappen wir sie also zu. So können wir auch nicht verfahren, diese Simplizität in der Formulierung des Sinnlosigkeitsverdachts können wir uns doch nicht zumuten. Und das (zu Herrn Baum) würdest Du ja auch noch zugeben. Manfred BAUM:

Dann muß ich aber was sagen. (Gelächter)

D i s k u s s i o n : Widersprüche im transzendentalen Idealismus?

341

Michael WOLFF:

Ich empfinde das als ein wunderschönes Schlußwort. U n d eine Fußnote kann natürlich dazu gemacht werden. (Weiteres Gelächter) M a n f r e d BAUM:

Gut. Also ich wollte sagen: Wenn das, was Herr Cramer sagt, möglich sein sollte, dann ist das allenfalls ein Programm, für etwas, was zu geschehen hätte. Das ist nirgendwo geleistet und - füge ich also als Philosophiehistoriker hinzu - das ist vor allem bei Hegel nicht geleistet. Hegel hat leider nicht einmal ein adäquates Textverständnis in seinen Polemiken gegen Kant. Und man kann nicht meinen, weil Hegel dazu etwas gesagt habe, sei dieser Ubergang schon als irgendwie zwingend oder auch nur naheliegend vollbracht worden. Es könnte sein, daß es so rauskommt. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich. Aber man kann nicht a priori behaupten, daß das nicht möglich sei. N u r historisch ist es so, daß diese Auseinandersetzung wirklich nicht auf einem adäquaten Boden stattgefunden hat. B u r k h a r d TUSCHLING:

Das kann man vielleicht sagen. Dem zuvor Gesagten aber muß ich nochmals widersprechen. Es ist m. E. nicht ganz richtig zu sagen, im Sinne des von Cramer geforderten Programms sei noch gar nichts geschehen. In seiner Arbeit über den „Begriff des Widerspruchs" hat Michael Wolff Schlagendes zum Thema gesagt und historisch - u.a. anhand von Überlegungen der „Kritik der reinen Vernunft" - wie systematisch zwingend gezeigt: Eine andere Art des Umgangs mit den Kontradiktionen ist geboten, und nur, wenn man anders mit ihnen umgeht, sie nicht mehr ausschließt, sondern einbezieht, dem Prinzip des eingeschlossenen Widerspruchs folgt, wird es interessant. Es bleibt abzuwarten, inwieweit man mit einer solchen Interpretation von Hegels Reflexionslogik Erfolg hat.

Namenregister"' Acta Eruditorum 13 Achenwall 88 Adam 238 Aristoteles 14, 64, 121, 139 Arnold 30 Auerbach 162

Descartes 3, 4, 7,10, 62, 91,121, 134, 238, 239, 251, 258, 325 Dryer 33 Dublin 1, 4 Düsing 280, 303 f., 305 Duhem 99, 108

Bardiii 283, 285, 288, 289, 304 Baum 28, 33 Baumgarten 149,152,153,154,155,255, 259, 317 Bayes 98, 101 Beck 106, 113, 193 Bennett 18, 19, 32, 236, 239 Berkeley 11, 165, 326, 328 Berlin 3 Bernoulli 125 Bieri 141 Borkowski 279 f. Brandt 3, 5, 6, 10 Brittan 113 Brouillet 35, 36, 37 Browne 4 Buchdahl 95 f., 100,104,106,113,121, 122, 126, 128, 138, 141, 245 Butts 126

Ebbinghaus 36, 340 Eberhard 182, 188 Euler 121

Cambridge 4 Campbell 138 Carl 33 Charmides 14 Cohen 142 Corke 4 Cramer, Κ. 261 f. Crusius 74 Davis 126 Davy 124 Demokrit 165

Faraday 124 Feyerabend 117 Fichte 283, 288, 298, 304, 327 Frege (203) Frischeisen-Köhler 162 Fulda 224 Gäbe 36 Galilei 163, 165, 166 Gawlick 162 Giere 124 Göttingen 88, (165) Guy er 35 Haering 253 Hamann 253 Hegel 192,197,198,199, 200, 201, 202, 207, 208,209,210, 211, 212,215, 216, 219, 223, 224,228, 231,255, 261,262, 277, 280, 282-306, 310, 317, 318, 325, 327, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341 Heideger 79, 254 Heidemann 3 Heimann 125 Heintel 113 Heinze 230 Helmholtz 124, 125

* Namen von Tagungsteilnehmern werden nur dann angeführt, wenn sie mit Publikationen zitiert werden.

Namenregister Hempel 99 Henkel 253 Henrich 33, 34, 35, 36, 37, 38, 55, 64, 69, 88, 224, 254, 339 Herder 13, 14, 253 Hertz 138 Herz 64, 164 Hesse 122, 127 Hobbes 7, 162, 163, 166 Höffe 10 Homer 2 Hoppe 131 Horstmann 17, 28, 141, 262 Hume 11,12,13,40,89,95,113,168, 228,229,238 f., 240,252,259,264, 268, 281, 323 Husserl 36, 79 Huygens 125

Mach 108, 138 Malebranche 9 Martin, G. 30 Maupertuis 109, 126 Mayne, C. 4 Mayne, Z. 4, 9, 14 Mellor 98 Meyerson 108 Mill 98, 109 Mohanty 98 Mossner 13 Musschenbroek 132 Nagl 113 Newton 98,102,107, 109,113,114,118, 120,121,122,123 f., 124,125, 126, 127,129,131,137,139,140,141, 165, 269, 325 Novotny 35

Jacobi 161, 283, 288 Kepler 166 Kiesewetter 183 King 13 Königsberg 3 Koppen 161 Kopernikus 164, 165, 166, 177 Krausser 60, 104 Kroner 340 Krüger 21, 33, 141 Kuhn 114, 123 Laas 313 Lagrange 138 Lakatos 108, 122, 123, 138 Lambert 132, 134, 135 Lasson 303 Laudan 138 Lauth 303 f. Law 13 Lehmann 230 Leibniz 2, 3,125,134,149,152,153,154, 155,194,226,227,228,229,254, 259,260,262,264,265,266,268, 269, 273, 274, 276, 321, 325 Linné 109 Locke 3 , 4 , 5 , 6 , 7 , 9 , 1 0 , 1 1 , 6 4 , 8 9 , 9 2 , 126,132,227,228,231,238,240, 252,254, 259,266,267,269, 271, 273, 278 Lukasiewicz 279

343

Oerstedt 124 Otto 161 Oxford 1, 4 Paton 91, 232, 233, 245 Paulsen 164 Piaass 116 Piaton 6, 14, 163, 164 Plutarch 163 Poincaré 121, 122 Popper 98, 140 Prauss 34, 55, 186, 188, 193, 233 Priestley 268 Protagoras 6 Quine 99, 111, 125, 279 Reich 18,33, 36,41,65,95, 96,182,184, 187, 199, 332, 340 Reichenbach 123 Reinhold 182,261,283,285,288,289, 298, 304 Ritter 124 Ritzel 3 Rorty 141 Roth 161 Rutz 279 Schelling 304 Schmid, C. C. E. 17 Schultz 3

344

Namenregister

Schwab 33 Schwan 88 Shahan 98 Sherlock 9 Spinoza 153, 242, 252 Strawson 18, 19, 32 Striker 33 Stuewer 97 Tannéry 238 Tetens 2,227, 228, 229, 253, 254, 255, 266-273, 277, 278 Theätet 6 Theunissen 224 Thiel 9 Thöle 33, 35, 72 Timaios 163 Tuschling 124, 127, 131, 142, 233 Vico 161, 162, 163 Viechtbauer 161 de Vleeschauwer 254, 267

Wagner 34, 37, 4 1 ^ 5 , 4 6 , 4 8 , 50, 66, 83, 186, 281

Walch 13 von Weizsäcker 233, 245, 330 Wellek 5 Westfall 124 Wetlaufer 35 Williams 124 Wolff, Chr. 3, 13, 14, 88, 149, 151, 152, 153,154,155,156,157,159,204, 205,227,228,229,238,252-254, 255,256-266,267,268,270,272,273, 274, 276f., 317-321 Wolff, M. 192, 223, 231 f., 278, 341 Wolff, R.P. 18, 32 Zeltner 30 Zenon 337 Zocker 30

Stellenregister zu Kants Schriften a) Kritik

der reinen

Kritik der reinen Vernunft, transzendentaler Idealismus (allgemein) 1,2,3,5, 15,16,19,46,61,62,66 f., 79, 80, 89,92,103,107,108,112,114,123, 140-142,161-167,179 f., 183,186, 187-191,192,196,197,202, 227-231,236,242 f., 244,245,248, 250,251,253,256,265,270,272 f., 273-278,307-310,316 f., 322 f., 325-327, 330-337 Transzendentale Ästhetik, Einheit von Raum und Zeit 16,17,20,21,38, 43-45, 58,60, 61, 62, 72, 74, 75, 79, 83, 84, 92, 93, 94, 96, 103, 165, 246 Transzendentale Analytik (allgemein) 58, 60,68,167-177,178-202,203-226, 229 f., 236,253-255,259,260,264 f., 270, 271 f., 278-282, 283, 322, 329 " Metaphysische und transzendentale Deduktion der Kategorien 15-33, 34-96,116f., 167,170,174 f., 230, 256, 270, 271 f., 272 f., 277 Analytik der Grundsätze (Schematismus, einzelne Grundsätze - unspezifische Bezüge) 18,46,68,72,84,93-96, 103-107,113,117, 120,121 f., 142, 147, 174 f., 189, 190, 228, 232, 272 f. Transzendentale Dialektik 192,196,214, 215, 220, 221, 223, 236, 272 f. Spezifische Belegstellen A IX: 89 A XII: 3 Β XII: 166 Β XIII f.: 139, 166 Β XVI: 164, 165 f., 177 Β XVIII: 166 Β XXV: 191 Β XXVI: 178, 185 Β XXVIII: 103 Β XXXVII: 16 Β XXXVIII: 16 Β 12-21: 229

Vernunft

Β 14: 181, 279, 280 Β 19: 103, 167, 220 Β 25: 260 Β 34: 176 Β 38: 21 Β 40: 23 Β 48: 314 Transzendentale Logik, Einleitung Β 78: 182 Β 79: 185, 213 Β 80: 25, 118, 213 Β 82: 186 Β 83: 186, 281 Β 84f.: 213 Β 93 f.: 194 §10: Β 102ff.: 27, 64, 65, 74 Β 104: 29 Β 105: 27, 29 Β 106: 235 Β 108: 103 Transzendentale Deduktion der Kategorien §13: Β 116ff.: 21, 25, 38, 87 Β 117: 21, 24, 25 Β 118: 22 Β 120: 118 Β 122: 32, 103 Β 123: 28, 58, 69 §14: Β 126: 24, 28 Β 128: 28, 190, 234, 236, 242 Α 98: 263 Α 9 9 f f : 93 Α 100: 263 Α 103: 263 Α 105: 236 Α 106: 236 Α 108-110: 236 Α 107: 93 Α 119f.: 60 Α 127: 113

346

Stellenregister zu Kants Schriften §15: 167, 168, 256 Β 129f.: 38, 75, 167, 168 Β 130: 104, 167, 168, (176) §16: 43,47,48,50,51-54,55,58, 61, 63, 64, 65, 67, 73, 75, 76, 77, 78, (229 f.), (236 f.), (246), (250), 253, 256, (267-273), (277) Β 131 f.: 50 Β 132 f.: 14 Β 133: 322 f., 335 f. Β 134: 1 , 6 4 , 1 8 7 , 1 8 8 , 1 9 9 , 2 0 9 , 2 1 9 , 229, 249, 264, 266, 280 Β 135: 188 §17: 50, 51, 52, 53, 54, 55, 58, 256 § 18: 50, 53, 63, 64, 65, 76, 256 § 19: 4 7 , 5 0 , 5 2 , 5 3 , 6 3 , 6 4 , 6 5 , 76, 256, 2 6 7 - 2 7 2 Β 142: 189 §20: 37, 38, 4 1 - 4 3 , 4 6 - 5 1 , 52, 53, 5 4 , 5 5 , 5 8 , 6 3 , 6 4 , 6 5 , 6 7 , 6 8 , 74, 75, 76, 78, 82, 83, 86, 190, 230 §21: Β 144: 37, 38, 42, 4 6 - 4 9 , 51, 63, 72, 74, 76, 77, 78, 82 Β 145: 81, 82, 83, 92 §22: 63, 67, 71, 77, 228, 256 Β 146: 71 Β 147: 234 §23: 63, 77, 228 ,256 Β 149: 315 § 24: 42, 6 3 , 6 4 , 72, 77, 7 9 , 1 7 0 f., 172, 228, 234, 256 §25: 63, 64, 77, 79, 228, 256 Β 158: 9 §26: 2 7 , 3 1 , 4 3 , 4 4 , 4 9 , 5 0 , 5 5 - 5 8 , 6 3 , 6 4 , 6 7 , 6 8 , 7 2 , 7 3 , 77, 8 1 , 8 2 , 83, 84, 8 6 , 9 2 , 9 5 , (176), 1 7 7 , 2 2 8 , 2 3 0 , 256 Β 159: 26, 31, 39, 41, 84 Β 160: 57, 59 f., 83, 103, (172 f.) Β 161: 55, (172 f.) Β 162: (172 f.) §27: Β 1 6 6 f . : 61, 74, 228 Β 168f.: 24 Β 169: 32

Analytik der Grundsatze Β 170: 191 Β 171: 190

Schematismus

der reinen

Verstandesbe-

gnff? Β Β Β Β Β Β Β System

177: 180: 182: 183: 185: 185f.: 187:

119 174 104, 133 174, 234, 235, 316, 3 1 8 - 3 2 0 189 234 133

der Grundsätze Β 189-191: 180, 2 7 8 - 2 8 2 Β 190: 1 8 0 , 1 8 5 , 2 0 3 - 2 0 7 , 2 0 9 - 2 1 1 , 217 f., 2 1 9 - 2 2 6 Β 191: 184 Β 192: 205 f. Β 196f.: 250 f. Β 197: 1 0 3 , 1 8 9 f . , 230, 246, 250 f., 273,274, 276,277, 308-310, 334 Β 202f.: 104 Β 204: 104 Β 208f.: 244 Β 209f.: 104, 134 Β 210: 105, 134 Β 211: 105

Analogien der Erfahrung Β 218ff.: 55,56,105,231,232-255, 277, 307 f., 309, 334, 336 Β 219: 95 Β 222: 106 1. Analogie Β 2 2 4 f f : 234 ff., 3 1 1 - 3 2 2 , 330 A 182: 235 Β 225: 234, 237 Β 226: 234, 235, 236, 237, 243, 275 Β 227: 232, 2 3 5 , 2 3 7 , 2 4 0 , 244, 274, 313 f., 315, 320, 329, 335 Β 228: 2 3 4 , 2 3 5 , 2 3 7 , 2 3 9 , 244, 274, 320 Β 229: 236, 239 Β 230f.: 3 1 2 f . , 3 1 7 f . 2. Analogie Β 232: 120 Β 232ff.: 144, (147), 312 Β 233: 313, 314 Β 234: 106 Β 2 4 2 f f : 246 Β 244f.: 274 f.

Stellenregister zu Kants Schriften Β 249-252: 241, 242 Β 251: 234 Β 252: 121, 137, 314 Β 255: 235 3. Analogie Β 256: 235, 247, 317, 334 Β 257: 247 Β 259: 247 Β 260ff.: 248 f., 250, 275, 324 Β 264: 247, 250, 274, 275, 309 Β 268: 30 Β 273: 240, 242, 273, 274 Β 274ff: 309, 328 Β 283: 137 Β 288: 315 Β 289f.: 159,252 Β 290: 314 Β 291: 151, 314 Β 292: 241 Β 294-315: 228 Β 303: 275 Β 308: 133 Β 309: 133 Β 320: 132 Β 321: 318 Β 348: 30, 186, (201) Transzendentale Dialektik: Β 377: 30 Β 384: 233, 275 Α 350: 234 Α 366: 250 Β 480: 144 Β 481: 148 Β 482: 145 Β 484ff.: 143-160 Β 484: 144, 145 f., 146 Β 485: 147

Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β

486: 146 f., 147, 149, 150 f., 314 488: 150 f. 518ff.: 227f. 525ff: 228 532: 178 545ff: 228 553f.: 234 567: 103 587-595: 228 589: 106 624: 215 670ff: 107-111 673: 139 675: 109 676: 110 678: 110 679: 110, 111 681: 109 682: 110 685: 109, 139 692: 108 693: 110 699: 111 702: 110 705: 110 707: 110 719f.: 98, 109 721: llOf. 725: 110 739: 187 745: 105

Methodenlehre Β 779f.: 87 Β 798: 100, 107 Β 799: 107 Β 800: 234

b) Andere „Wahre Schätzung" 134 „nova dilucidario" 182 f., 202, 238, 240 „monadologia physica" 268 f. „Über die Deutlichkeit..." 116,117,128, 129 „negative Größen" 132 Raumschrift von 1768 332 „De mundi intelligibilis" 2, 3, 64, 191

347

Schriften „Prolegomena" 16, 165, 209 IV 261: 15,264, 281,323 IV 263 f.: 16 IV 275-280: 229 IV 282f.: 228 IV 285f.: 228 IV 290-294: 228 IV 294: 230

348

Stellenregister zu Kants Schriften

IV 298: 56 f. 5 § 2 0 , 22: 106 IV 307: 232 IV 318: 229 5 3 8 : 139 §39: 16, 194, 202 IV 328: 336 §43: 26 /V 334: 8 IV 337: 228 / V 370: 166 „Grundlegung" 208 „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" 68, 85, 97-142, 237, 241,242, 245,246, 309, 326, 329, 331, 333 IV 468: 102, 112 f. IV 469f.: 98, 102, 103, 116 IV 470f.: 112,116,118,119,133, 257, 260 IV 472: 116, 128, 138, 260 IV 473: 119, 138 IV 474: 85, 141 IV 476: 119 IV 478: 114, 128, 140, 142 IV 480: 119 IV 482: 119 IV 486: 119 IV 496: 129 IV 497: 120, 129, 132, 136 IV 498: 102, 132, 134, 135 IV $02: 2 4 0 , 2 4 1 , 2 4 3 IV 503: 140 IV 508: 126, 130 IV 510: 104 f., 133 IV 511: 126, 131 IV 514: 126 IV 515: 125 IV 517: 114, 131 IV 518: 131 IV 520f.: 130, 136 IV 522f.: 114, 126, 130, 133, 135 IV 523f.: 2 4 1 , 2 4 3 IV 524: 129, 135, 136, 137, 243 IV 525: 123, 134, 136, 243 IV 532: 2 4 1 , 2 4 3 IV 533: 126, 134, 243 IV 534: 113 f., 136, 137, 241, 243

IV 535: 130 IV 536: 120 IV 537ff.: 233, 240, 242 IV 540: 242 IV 541: 243 IV 543: 120, 240 IV 544: 102 Kritik der praktischen Vernunft 71 f., 72 Kritik der Urteilskraft 108, 109 Erste Einleitung: XX 199: 99 XX 209: 111,115 V 185: 109 „Uber eine Entdeckung": 182,235, 242, 252 „Fortschritte der Metaphysik " 89, 167 f. Opuspostumum 6 8 , 1 2 4 , 1 2 7 , 1 3 1 , 233, 236, 237, 238, 241, 244, 248, 249, 250, 251, 252, 257, 309, 323, 330, 331 Briefe 6 4 , 1 3 1 , 1 6 4 , 1 8 2 , 2 2 8 f., 253, (259), (264), 265, 266, 309 f. Vorlesungen 230, 270 Reflexionen 3768: 314 3771: 314 3838: 314 4041: 149 f., 157, 314 4181: 151 f. 4406: 154 4486: 151, 314 4673: 62 4675: 253 5266: 314 5268: 154 5414: 113 5783: 154, 155 f. 5788: 314 5789: 314 5791: 152, 314 5792: 314 5793: 314 5796: 314 5800: 314 5803: 150 5811: 314 6311 f f : 318 6403: 313, 318, 319 Logik (Jaesche) 98, 99, 100, 107, 112

KANTSTUDIEN-ERGÄNZUNGSHEFTE MONIKA SÄNGER

Die kategoriale Systematik in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre" Ein Beitrag zur Methodenlehre Kants Groß-Oktav. XII, 259 Seiten. 1982. Ganzleinen DM ISBN 3 11 008883 5 (Band 114)

72-

CARL WILHELM HEINRICH BRAUN

Kritische Theorie versus Kritizismus Zur Kant-Kritik Theodor W. Adornos Groß-Oktav. XII, 311 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 88,ISBN 3110095416 (Band 115)

SVEND ANDERSEN

Ideal und Singularität Über die Funktion des Gottesbegriffes in Kants theoretischer Philosophie Groß-Oktav. XII, 278 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 7 2 ISBN 3 11 009649 8 (Band 116)

GÜNTER ZÖLLER

Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant Zur systematischen Bedeutung der Termini „objektive Realität" und „objektive Gültigkeit" in der „Kritik der reinen Vernunft" Groß-Oktav. XII, 322 Seiten. 1984. Ganzleinen DM 92,I S B N 3 11 009811 3 (Band 117)

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GERHARD LEHMANN

Kants Tugenden Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants Groß-Oktav. VI, 291 Seiten. 1980. Ganzleinen DM 1 1 2 , - I S B N 3 11 008295 0 Inhaltsverzeichnis Neue Perspektiven der Kantforschung - Hypothetischer Vernunftgebrauch und Gesetzmäßigkeit des Besonderen in Kants Philosophie - Zur Analyse des Gewissens in Kants Vorlesungen über Moralphilosophie - Kants Tugenden - Zur Problemanalyse von Kants Nachlaßwerk - Kants Entwicklung im Spiegel der Vorlesungen - Zur Frage der Systematik in Kants Metaphysikvorlesungen - Die Vorlesungen Kants in der Akademieausgabe Bemerkungen zu dem Brief Kants an Kiesewetter vom 27. März 1790 - Diaconus Wasianski. Unveröffentlichte Briefe - F. H. Jacobis Handexemplar der Kritik der Urteilskraft - Kant im Spätidealismus und die Anfänge der neukantischen Bewegung - Eine quaternio terminorum bei Kant? M. Aebis Kant-Widerlegung - Spontaneität und Zeitlichkeit - Eine Faksimile-Ausgabe von Kants erster Einleitung in die Kritik der Urteilskraft Nachwort - Die Schriften von Gerhard Lehmann - Quellennachweis - Personenverzeichnis.

GERHARD LEHMANN

Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants Groß-Oktav. VIII, 427 Seiten. 1969. Ganzleinen D M 102,ISBN 3110025612

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Die Philosophie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts 2 Teile. Teil 1: Klein-Oktav. 128 Seiten. 1957. Kartoniert DM 7,80 ISBN 3 11 006188 0 (Sammlung Göschen, Band 845) Teil 2: Klein-Oktav. 114 Seiten. 1960. Kartoniert DM 7,80 ISBN 3 11 0061902 (Sammlung Göschen, Band 850) Geschichte der Philosophie, Band 10 und 11

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