Pressevertrieb in Ostdeutschland: Die wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau eines Pressegroßhandelssystems nach der Oktoberwende 1989 [Reprint 2010 ed.] 9783110968101, 9783598213199

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Pressevertrieb in Ostdeutschland: Die wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau eines Pressegroßhandelssystems nach der Oktoberwende 1989 [Reprint 2010 ed.]
 9783110968101, 9783598213199

Table of contents :
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
1. Einleitung
2. Funktionale Systemtheorie
3. Historische Ausgangsbedingungen
4. Aufbau des Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland nach der Oktoberwende 1989
5. Analyse der wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems
6. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlußfolgerungen
7. Quellen- und Literaturverzeichnis
8. Anhang
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

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Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung Band 56 Herausgegeben von Hans Bohrmann und Gabriele Toepser-Ziegert Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund

Bernd Klammer

Pressevertrieb in Ostdeutschland Die wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau eines Pressegroßhandelssystems nach der Oktoberwende 1989

K· G· Säur München 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Klammer, Bernd

Pressevertrieb in Ostdeutschland : die wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau eines Pressegroßhandelssystems nach der Oktoberwende 1989 / Bernd Klammer. - München : Säur, 1998 (Dotmunder Beiträge zur Zeitungsforschung ; Bd. 56) ISBN 3-598-21319-0

D6 ©

Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved «.G.Saur Verlag GmbH & Co KG, München 1998 Part of Reed Eisevier Printed in the Federal Republic of Germany Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Vertage ist unzulässig Druck/Binden: Strauss-Offsetdruck, Murienbach ISBN 3-598-21319-0

Inhaltsverzeichnis Danksagung

EX

Abkürzungsverzeichnis

X

Vorwort des Herausgeben

I

1. Einleitung

S

1.1. Gegenstand und Ziele der Arbeit

S

l .2. Forschungsstand

9

l .3. Materiallage und Quellen 2. Funktionale Systemtheorie

16 21

2.1. Einordnung des Themas in den publizistik- und kommunikationswissenschaftlichen Gesamtzusammenhang

21

2.2. Funktional-strukturelle Systemtheorie

30

2.3. Funktionale Analyse

36

2.4. Funktionen des Pressegroßhandels

40

2.4.1. Publizistische Funktionen

41

2.4.2. Wirtschaftliche Funktionen

44

2.4.3. Politisch-rechtliche Funktionen

46

3. Historische Ausgangsbedingungen

49

3.1. Struktur und Organisation des Pressevertriebs in der Bundesrepublik Deutschland

49

3.1.1. Strukturmerkmale des bundesdeutschen Pressevertriebssystems

60

3.1.2. Das bundesdeutsche Pressegroßhandelssystem

68

3.2. Exkurs

73

3.2.1. Der Fall „Presse-Vertrieb-Pfalz "

73

3.2.2. Der Fall „MAL"

78

3.3. Pressevertrieb in einem sozialistischen Gesellschaftssystem am Beispiel der DDR

79

3.3.1. Funktionen des Pressevertriebs

79

3.3.2. Struktur und Organisation des Pressevertriebs in der DDR

84

VI

4. Aufbau des Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland nach der Oktoberwende 1989 4.1. Erste Aktivitäten zum Aufbau eines Pressevertriebssystems

96 96

4.2. Die Verhandlungen zwischen den Großverlagen und der Deutschen Post

100

4.3. Die Phase der öffentlichen Verhandlungen

104

4.4. Erste rechtliche Regelungen und alternative Vertriebsmodelle

107

4.5. Die Verhandlungen der Großverlage mit dem Bundeskartellamt

112

4.6. Die Stellungnahme des Medienkontrollrates

118

4.7. Die Pressevertriebs-Verordnung vom 2. Mai 1990

121

4.8. Die Entwicklung nach der Pressevertriebsverordnung

125

4.9. Die Gründung von verlagsbeteiligten Pressegrossounternehmen

129

4.10. Die Deutsche Post als Partner und Konkurrent der Verlage

133

4.11. Das Bundeskartellamt übernimmt die Verhandlungsrührung

136

4.12. Der Weg zum Kompromiß

141

4.13. Der Kompromiß vom l. November 1990

145

4.14. Probleme nach dem Kompromiß im ostdeutschen Pressegrosso

150

4.15. Initiativen zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme

156

4.16. Das Ende der Kontroverse

160

5. Analyse der wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems

162

5.1. Die vier bundesdeutschen Großverlage

166

5.2. Die kleinen und mittelständischen Verlage der Bundesrepublik Deutschland

176

5.3. Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger

181

5.4. Der Verband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (seit 1992 Bundesverband)

186

5.5. Das Bundeskartellamt

190

5.6. Die Handlungsakteure des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland

197

5.7. Die Deutsche Post

203

5.8. Die neuen Akteure im medienpolitischen System der DDR

206

6.. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlußfolgerungen

213

7.. Quellen- und Literaturverzeichnis

218

Anmerkungen zum Quellen- und Literaturverzeichnis

218

7. I.Quellen

219

7.2. Literatur

223

8.. Anhang

236

Inhaltsverzeichnis und Quellennachweis des Anhangs

236

8.1. Übereinkunft zwischen drei DDR-Regierungsstellen und den vier bundesdeutschen Großverlagen vom 23. Januar 1990 in Berlin

237

8.2. Titelliste der vier Großverlage für den Vertrieb in der DDR

239

8.3. Aufteilung der DDR in vier Vertriebsgebiete durch die vier Großverlage

241

8.4. Organisation des Ministeriums für Medienpolitik

242

8.5. Verordnung über den Vertrieb von Presseerzeugnissen in der DDR

243

8.6. Aufteilung der 19 Vertriebsgebiete nach dem Kompromiß vom l. November 1990 245 8.7. Entwicklung der Presse-Verkaufsstellenzahl (Grosso) in den neuen Bundesländern 247 8.8. Veränderungen der Vertriebsgebiete in den neuen Bundesländern (1992)

248

8.9. Organisation der Fachgruppe Publikumszeitschriften des VDZ

249

8.10. Struktur des Pressegroßhandels

250

8.11. Verzeichnis der in der Arbeit erwähnten Personen und ihre Funktion bei der Kontroverse um den Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems (bis November 1990)

251

Werzeichnis der Abbildungen und Tabellen

256

Meinen Eltern

DC

Danksagung Das Thema der vorliegenden Arbeit, der Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems nach der Wende im Herbst 1989 in der DDR, war auch für mich zunächst eine terra incognita. Aufmerksam auf dieses Thema wurde ich durch ein viersemestriges Projekt mit dem Titel „Publizistischer Wandel in den fünf neuen Bundesländern", welches unter der Leitung von Dr. Arnulf Kutsch vom Sommersemester 1992 bis zum Wintersemester 1993/94 am Institut für Publizistik der Universität Münster angeboten wurde. Ich ahnte im Frühjahr 1993, als ich mit der wissenschaftlichen Recherche begann, noch nicht, welch interessantes und spannendes Thema mich erwartete. Die Beschäftigung mit einem Thema über einen Zeitraum von drei Jahren verlangt viel Disziplin und Stehvermögen, so daß ein interessantes und spannendes Thema zusätzlich motivieren kann. Am Zustandekommen der Arbeit wirkten viele Menschen mit, teils direkt, teils indirekt. Ihnen allen gebührt mein Dank. Besonders erwähnen möchte ich meine Familie, auf deren menschliche Hilfe ich immer bauen konnte. Für die nicht unwichtige Abwechslung und Ablenkung vom Studium und beim Anfertigen der Dissertation sorgten die Teilnehmer des bereits erwähnten Projektes am Münsteraner Publizistik-Institut. Mein besonderer Dank gilt Kai Sterzenbach, mit dem zu diskutieren stets ein Vergnügen auf hohem Niveau darstellt(e). Er, wie auch Sabine Tonscheidt und Oliver Reetz, lasen und korrigierten das Manuskript. Ermutigung und Unterstützung erhielt ich von vielen Freundinnen und Freunden besonders im Sommer 1995. Gedankt sei an dieser Stelle auch meinen Gesprächspartnern, deren Interesse an der Aufarbeitung des Themas ein nicht unwesentlicher zusätzlicher Motivationsfaktor gewesen ist. Herausheben möchte ich Herrn Gerd Kapp vom Bundesverband Presse-Grosso, Herrn Wolfgang Fürstner vom Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und Herrn Christian Christiansen als ehemaligen Sprecher des ostdeutschen Grossoverbandes, die mir einen umfassenden Einblick in ihre Akten erlaubten, ohne den diese Arbeit nicht zu realisieren gewesen wäre. Die veröffentlicht vorliegende Arbeit stellt eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Originals dar, wobei ich gegenüber dem Original Kapitel 2 überarbeitet und Kapitel 4 gekürzt habe. Die Anregungen gingen dabei von Prof. Dr. Hans Bohrmann und Frau Dr. Gabriele Toepser-Ziegert aus, in deren Schriftenreihe die Arbeit nun erscheint. Für ihre Geduld und Sorgfalt bei der Überarbeitung der Dissertation und ihre wohltuende Betreuung gegenüber dem Säur Verlag möchte ich mich an dieser Stelle nochmals bedanken. Mit dieser Arbeit hoffe ich, einen wenig beachteten Gegenstand der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ein Stück weit aus seinem Schattendasein herausgeführt und gleichzeitig damit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gedient zu haben. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber es hat auch Spaß gemacht. Münster im September 1997

Bernd Klammer

Abkürzungsverzeichnis Abs. Abt. ADN AHB Anm. d. Verf. Arch ASV BArch BDZV BE bes. BKO BMI BRD bzw. CDU DA DBD DDR d.h. DM dnv DP dpa DSU EDV EHASTRA FA FAZ FR GB1. Gesch.-Z. gez. GG GmbH GWB G+J HBV HDE Hrsg. hrsg. v. i.V.m. IVW KG KVM MBR Mio.

Absatz Abteilung(en) Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Außenhandelsbetrieb Anmerkung des Verfassers Archiv Axel Springer Verlag Bundesarchiv Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger Bauern-Echo besonders Bezugsregulierung für klein- und mittelauflagige Objekte Bundesministerium des Innern Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise Christlich-demokratische Union Demokratischer Aufbruch Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Republik das heißt Deutsche Mark der neue vertrieb (Zeitschrift) Deutsche Post Deutsche Presse-Agentur Deutsche Soziale Union Elektronische Datenverarbeitung Einzelhandelsstrukturanalyse Firmenarchiv Frankfurter Allgemeine Zeitung (Zeitung) Frankfurter Rundschau (Zeitung) Gesetzblatt Gcschäfts-Zeichen gezeichnet Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Grüner + Jahr Heinrich Bauer Verlag Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels Herausgeber herausgegeben von in Verbindung mit Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern Kommanditgesellschaft Koordiniertes Vertriebsmarketing Marktorientierte Bezugsregulierung Millionen

XI

Mrd. NBL NPV o.J. o.O. o. V. P PA PMV PZV RCR SBZ SED SMAD SPD stellv. SZ ti u.a. v. a. VA VDZ VEB VDV vgl. VGO VGS VZZG WAZ WBZ ZAW z.B. z.T. -:

Milliarden Neue Bundesländer Nationales Pressevertriebsunternehmen ohne Jahr(esangabe) ohne Ort(sangabe) ohne Verlag(sangabe) Potsdam Privatarchiv Arbeitskreis Pressemarkt/Vertrieb des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger Postzeitungsvertrieb Romane, Comics, Rätsel Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands stellvertretende(r) Süddeutsche Zeitung (Zeitung) text intern (Zeitschrift) unter anderem vor allem Verbandsarchiv Verband Deutscher Zeitschriftenverleger Volkseigener Betrieb Vertriebsgesellschaft Deutscher Verlage vergleiche Verkehrsgebiet Ost Verlagsgesellschaft Verband der unabhängigen Zeitungs- und ZeitschriftenGroßhändler der DDR Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Zeitung und Verlag) Werbender Buch- und Zeitschriftenhandel Zentralausschuß der Werbewirtschaft zum Beispiel zum Teil ohne Verfasser(angabe)

Vorwort des Herausgebers Die deutsche Wiedervereinigung und der ihr voraufgehende politische revolutionäre Prozeß in der DDR 1989/90 sind die bislang tiefgreifendsten Ereignisse in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Vereinigung ist außenpolitisch unumstritten, innerhalb der Bundesrepublik sind aber Ergebnisse und Entscheidungsabläufe, Handeln und Unterlassen bei Politikern, Managern aus Verwaltung, Wirtschaft und Verbänden, umstritten und werden unterschiedlich bewertet. Dabei geht die Diskussion kaum um die Ziele, die relativ breit akzeptiert sind und auch von der sonst als Fundamentalopposition agierenden PDS im Grundsatz nicht bestritten werden. Die Diskussion ist auch nicht rückwärts gewandt, sondern fast immer dreht sie sich um die mittel- und langfristigen Auswirkungen, die etwa dem Modus der Finanzierung, den Einzelmaßnahmen, der Privatisierung, der generellen Übernahme westdeutschen Rechts heute und künftig zuzusprechen sind. Es geht um unbeabsichtigte Folgen, die eintraten oder künftig eintreten könnten. Manchmal entsteht der Eindruck, als ob die auch bei politischen Revolutionen in anderen Ländern und Zeiten zu beobachtenden paradoxen Auswirkungen wichtiger genommen werden als Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, politische Selbstbestimmung für alle Deutschen. Die innere Wiedervereinigung ist also deutlich schlechter gelungen als deren außenpolitische Absicherung. Das hat viele Ursachen. Das Ereignis kam rasch und unvermutet auf die politische Tagesordnung und keine der handelnden politischen Seiten hatte konkrete Planungen, was zu tun sei. Das gilt auch für die Bundesrepublik, die trotz mancher Beiräte zur Wiedervereinigung, eines Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen und eines Gesamtdeutschen Instituts ohne Konzept dastand. Die Bevölkerung auf beiden Seiten der deutschen Grenzen steuerte zunächst, wie es selbstverständlich ist, Emotionen bei. Ganz offenbar gab es aber kaum Wissen voneinander. Selbst- und Fremdbilder waren unrealistisch, konkrete Erfahrungen, gerade auch durch die Absperrmaßnahmen des SED-Regimes, seltenes Gut. Das langjährig gepflegte Feindbild scheint zäher am Leben zu hängen als 1989/90 erwartet. Das, was durch Rundfunk und Fernsehen der jeweils anderen Seite hätte wahrgenommen werden können, beförderte realistische Einsichten wenig, weil auf der westlichen Seite praktisch keiner zusah und zuhörte, auf der östlichen Seite viele sahen und hörten, aber offenbar in den meisten Fällen nicht den Schlüssel zum

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Vorwort

Verständnis der wahren Verhältnisse besaßen. Woher sollte er auch genommen werden, wenn der persönliche Augenschein politisch gewollt unterbrochen war. Die politischen Konzepte beider Seiten waren, wie nicht anders zu erwarten, überraschend kurzatmig, lösten einander in schneller Folge ab. Nur das Bundeskanzleramt hat, so wird im Rückblick deutlich, offenbar sehr früh das Ziel der staatlichen Wiedervereinigung adoptiert und konsequent verfolgt. Die publizistischen Strategien, die in der Wahlkampagne 1990 gipfelten, waren kaum geeignet, Klarheit zu schaffen. Die politischen Parolen, die 1990 ausgegeben wurden und von der Wahlbevölkerung in Ost wie West offenbar geglaubt und für wahr gehalten wurden, haben heute kaum noch politischen Zahlungsweit. Die blühenden Landschaften, die Zahlung der Vereinigungskosten quasi aus der Portokasse und der Slogan: „Es wird keinem schlechter, aber vielen besser gehen", können heute eigentlich nur noch satirisch zitiert werden. Schuldzuweisungen sind in solcher Lage zu erwarten, einer Problemlösung aber nicht dienlich. Es geht vielmehr darum, detailliert zu argumentieren, um realistische Ansatzpunkte für neue Entscheidungen, soweit möglich, zur Korrektur bereits eingetretener schwieriger Lagen zu finden. Die Probleme stecken im Detail, doch ein genaues Hinsehen lohnt, weil es die Abläufe und ihre Ursachen deutlicher macht. Nur auf diese Weise kann unterschieden werden zwischen angestrebten und erreichten Zielen der unterschiedlichen handelnden Parteien. Nur so ist der Realitätsgehalt von geäußerten und zugrunde liegenden Überzeugungen zu ermitteln, nur so kann nachvollzogen werden, warum auch heute deutlich erkennbar, unrealistische Positionen behauptet worden sind und geglaubt werden konnten, mit gutem, mit getäuschtem oder gelegentlich auch schlechtem Gewissen. In den Fällen, in denen solche Fragen durchdekliniert wurden, hat sich regelmäßig gezeigt, daß Schuld, in welchem Sinne auch immer verstanden, nicht einseitig zu verteilen ist. Fehleinschätzungen sind offenbar auf allen Seiten gemacht worden, sie entsprangen unterschiedlichen Ursachen. Handelnde Personen waren für die zu entscheidenden Angelegenheiten nicht genügend qualifiziert, bei allen Seiten wurden aus dem jeweils internationalisierten Systemdenken ein Bündel Schlüsse gezogen, von dem sich eine ganze Reihe als falsch erwies. Schließlich spielte auch eine Rolle, daß die Mehrheit der Wiedervereinigungsbefürworter in Ost und West sich zweifellos schief auf die beiden Staaten verteilten. In der Bundesrepublik war die Begeisterung nicht allzu groß. Sich dem international durchaus begrüßten Trend der Wiedervereinigung anzuschließen, waren viele im Westen erst bereit, als sie erfuhren, daß es bei ihnen eigentlich so

Vorwort

3

weitergehen sollte, wie bisher, ging es ja nicht um die Vereinigung zweier deutscher Staaten, sondern lediglich um den Beitritt der neuen Länder zur alten Bundesrepublik. Die Formel des Beitritts hat eher verheerend gewirkt. Die größere Bundesrepublik ist und konnte nicht mehr sein, was sie vor 1989 war, und das nicht nur außen-, sondern vor allem innenpolitisch. Was das im einzelnen bedeutet, ist bis heute in vielen Bereichen kaum aufgearbeitet und noch weniger verstanden. Deshalb scheint es notwendig, daß sich die Wissenschaft intensiv der Einzelprobleme der Wiedervereinigung annimmt, um den Prozeß der Selbstverständigung zu fördern. Bernd Klammer hat in seiner Münsteraner Dissertation, die von Prof. Dr. Arnulf Kutsch (heute Universität Leipzig) betreut wurde, einen Teilbereich der publizistischen Wiedervereinigung intensiv untersucht. Klammers Arbeit steht am Münsteraner Institut in einer Tradition, die vor allem mit den Namen Arnulf Kutsch und Rolf Geserick verbunden ist. In Münster wurde die von Elisabeth Löckenhoff (FU Berlin) begründete Tradition einer konkreten empirischen Erforschung des Massenmediensystems der DDR nach LöckenhofFs Tod 1985 geistig übernommen. Damals war von Wiedervereinigung überhaupt keine Rede und die bundesdeutsche Kommunikationswissenschaft an dem, was publizistisch in der DDR ablief, so gut wie gar nicht interessiert. Der Pressevertrieb wird selten thematisiert. Die Fachliteratur ist übersichtlich gering. Die Schriftenreihe Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung hat bereits 1985 zwei Bände von Brummund und Schwindt zu Struktur und Organisation des Pressevertriebs1' vorgelegt, die durch die Arbeit von Klammer in praktischer Weise ergänzt und aktualisiert werden. Klammer beschreibt die Bemühungen zuerst beim Aufbau eines leistungsfähigen Pressevertriebs in der gewendeten DDR 1989 bis Oktober 1990 und dann dessen weiteres Schicksal im wiedervereinigten Deutschland. Es ist ihm gelungen, ein breites Quellenmaterial zu erschließen und zwar nicht nur aus den seit der Vereinigung frei zugänglichen staatlichen Aktenbeständen der DDR. Klammer hat die gedruckten Äußerungen aller am Prozeß Beteiligten intensiv ausgewertet und durch mündliche 1)

Peter Brummund: Der deutsche Zeitungs- und Zeitschriftengroßhandel, München: Säur 1985 (Struktur und Organisation des Pressevertriebs. T. 1) (Dortmunder Beitrage zur Zeitungsforschung. Bd. 40), und Peter Schwindt: Zeitungen und Zeitschriften im Einzelhandel, München: Säur 1985 (Struktur und Organisation des Pressevertriebs. T. 2) (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung. Bd. 41).

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Vorwort

Interviews mit handelnden Personen ergänzt. Er konnte Privatarchive nutzen. Dadurch ist ein detailreiches Bild der gesamten Entwicklung in einem Schlüsselsektor der Printmedienbranche entstanden. Der Pressevertrieb ist ein Bereich, der traditionell als Pressenebengewerbe bezeichnet wird. Er ist selbstverständlich nicht alles, aber ohne effektive Vertriebsorganisation gibt es keine leistungsfähigen Zeitungen und Zeitschriften. Bei Klammer ist nun nachzulesen, was richtig und falsch gelaufen, was zukunftsfähig oder auch rückwärtsgewandt war. Er zeigt insbesondere auch eine Drittwirkung der Vertriebsorganisationsgründungen in den neuen Bundesländern auf die alten Bundesländer auf und belegt, daß nur das zielgenaue Engagement des Bundeskartellamts, bevor und nachdem es zuständig wurde, eine einseitige Umgestaltung zugunsten der vier westdeutschen Pressegroßkonzerne verhindert hat. Das Modell eines Pressevertriebs unter maßgeblicher Beteiligung der Großverlage wurde nicht realisiert. Diese Organisationsform bleibt für die neue Bundesrepublik möglich, aber nicht systembestimmend. Anhand des Textes von Bernd Klammer läßt sich gut über das Paradox nachdenken, daß in der späten DDR gar nicht genug Zeitschriften, Wochenblätter, Zeitungen aus der alten Bundesrepublik angeboten werden konnten. Sie wurden den Verkäufern zunächst mehr oder weniger illegal von den Lastwagen aus verkauft und geradezu aus den Händen gerissen. Heute ist die Verbreitung überregionaler Zeitungen, Wochenblätter und Illustrierten im ganzen Printmedienangebot in den neuen Ländern stark unterrepräsentiert. In dem Medienverhalten offenbart sich sicher mehr als kurzfristige Verstimmung. Sie dürfte strukturelle Ursachen haben, die auch mit der Art und Weise zusammenhängen, wie die innere Wiedervereinigung gesteuert worden

ist.

Hans Bohrmann

Dortmund, Juli 1997

1. Einleitung

1. Einleitung 1.1. Gegenstand und Ziele der Arbeit

Die politische Wende in der DDR im Herbst 1989 führte zum Umbruch des gesamten gesellschaftlichen Systems und mündete schließlich am 3. Oktober 1990 in die staatliche Einheit Deutschlands. Zwischen diesen beiden Zeitpunkten lag ein Jahr umwälzender Veränderungen, die praktisch alle Lebensbereiche der ostdeutschen Bürger erfaßten. War die dortige Entwicklung zunächst noch getragen von Reformideen und der Möglichkeit eines eigenen Weges für die DDR, so wurde die Forderung nach einer Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten schon bald immer lauter. Spätestens nach der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 wurden denn auch die Weichen auf eine Vereinigung gestellt, wobei die Art und Weise und der Zeitpunkt dafür zunächst noch offen blieben. Allerdings bestimmten politische und wirtschaftliche Repräsentanten der Bundesrepublik zunehmend die Diskussion und ließen keinen Zweifel daran, daß die westdeutsche

Staats- und Wirt-

schaftsordnung nicht zur Disposition stand. Da es keine Pläne gab, die die Umwandlung einer zentralverwalteten Planwirtschaft in ein marktwirtschaftliches System theoretisch vorbereitet hatten, orientierte sich der Transformationsprozeß an bundesdeutschen Vorbildern und Standards. Auch das Pressesystem machte hierbei keine Ausnahme. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland waren in diesem gesellschaftlichen Teilbereich besonders deutlich. Zeitungen und Zeitschriften waren in der DDR fast ausnahmslos an politische Parteien oder staatliche Institutionen angebunden, ein Recht auf Pressefreiheit sah die Verfassung der DDR nicht vor. Die Unzufriedenheit vieler DDRBürger mit diesem Zustand rührte nicht zuletzt von einer „lebensfremden Medienpolitik" her und kam in der Forderung der Demonstranten nach Presse- und Meinungsfreiheit zum Ausdruck. Westdeutsche Verlage nahmen diese Forderung auf, zumal sich für sie mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze zugleich auch ein Markt mit über 16 Millionen potentiellen Lesern und Käufern ihrer Presseerzeugnisse öffnete. Als zentrales Element zur Erschließung dieses Marktes bot sich das Vertriebssystem an, das gleichzeitig über die Marktzutrittschancen entschied. Wer sich einen Einfluß auf dieses System sichern konnte, der saß damit an den Schalthebeln wirtschaftlicher Macht im ostdeutschen Pressesystem.

1. Einleitung Das Interesse der Verlage richtete sich dabei in erster Linie auf den Aufbau eines Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland, da dieser Absatzweg - gemessen am Umsatz - der bedeutendste für die Zeitschriftenverlage war. Mit einem Jahresumsatz von knapp 4,5 Mrd. DM1 erzielten die rund 80 bundesdeutschen Großhändler einen höheren Umsatz als z.B. das damals zweitgrößte deutsche, private Medienunternehmen, der Axel Springer Verlag. Durch die quantitative Ausweitung des Presseangebots - den rund 800 Zeitschriften in der DDR standen etwa 3.400 Titel in Westdeutschland gegenüber2 - mußte in der DDR ein völlig neues Vertriebssystem erst errichtet werden. Hierbei diente das bundesdeutsche Grossosystem3 als Vorbild. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, deren Pressegrossisten fast ausschließlich verlagsunabhängige, mittelständische Unternehmer waren, forderten die größten westdeutschen Verlage ihre Beteiligung an einem Grossosystem in Ostdeutschland. Diese Forderung führte zu einer Kontroverse, die von wirtschaftlichen und politischen Interessen bestimmt wurde und die eingebettet war in den Transformationsprozeß des gesellschaftlichen Systems der DDR. Grundsätzlich galt es bei dieser Auseinandersetzung abzuwägen zwischen der Gestaltungsfreiheit der Verlage hinsichtlich des Vertriebs ihrer Presseerzeugnisse und der Sicherung der Pressevielfalt durch ein wettbewerbsneutrales Großhandelssystem. Die Neuorganisation des Pressevertriebs in der DDR entwickelte sich dabei sowohl auf einer Diskussions-XSprachals auch auf einer Handlungsebene. Transformationsprozeß und Kontroverse über den Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems bilden den Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Beide Aspekte sollen zunächst in ihrer historischen Entwicklung beschrieben werden, um daran anschließend den Einfluß der beteiligten Akteure zu analysieren.

1 Vgl. Verband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (Hrsg.): Geschäftsbericht 1990. Köln: o.V. 1990. S. 128. Zugrunde gelegt werden die NettoAbgabepreise des Großhandels an den Einzelhandel. 2 Vgl. Treeck, Hans van (H.v.T.): Pressevertrieb ist Sache der Deutschen Post. In: der neue vertrieb, 42. Jg. (1990), Nr. 2, S. 9 und vgl. Verband Presse-Grosso (1990), Geschäftschäftsbericht.... S. 129. Bei der ersten Zahl handelt es sich um die Summe von Zeitungen und Zeitschriften, die über den Postzeitungsdienst der Deutschen Post vertrieben wurden, bei der zweiten Zahl um die Titelzahl der umfangreichsten Sortimente eines westdeutschen Pressegrossisten. 3 Die Begriffe „Grosso" und „Großhandel" werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet. Die in der Literatur vorzufindende unterschiedliche Schreibweise des Begriffes „Presse-Grosso" wird aus Gründen der Vereinheitlichung im folgenden durch die Schreibweise „Pressegrosso" oder „Pressegroßhandel" ersetzt. Lediglich bei wörtlichen Zitaten wird davon abgegangen. Schließlich soll, wenn vom Pressevertriebssystem die Rede ist, darunter das Pressegroßhandelsystem verstanden werden, es sei denn, andere Vertriebswege werden ausdrücklich erwähnt.

1. Einleitung Wie bereits erwähnt, fand der Aufbau des ostdeutschen Grossosystems nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern er wurde vor dem Hintergrund bundesdeutscher Erfahrungen diskutiert. Zum Verständnis des Untersuchungsgegenstandes ist es daher notwendig, die historischen Ausgangsbedingungen darzustellen, an denen die Neuorganisation des Pressevertriebs in der DDR anknüpfte. Dies betrifft sowohl das west- als auch das ostdeutsche Vertriebssystem vor dem Herbst 1989. Der Schwerpunkt des systemtheoretisch basierten Untersuchungsansatzes soll dabei auf einer funktionalen Betrachtung liegen, um den kommunikationshistorischen Befunden eine sozialwissenschaftliche Perspektive hinzuzufügen. Publizistik- und Kommunikationswissenschaft wird hierbei als Sozialwissenschaft verstanden, die - wie jede Wissenschaft - die Suche nach kritikanregenden Wahrheiten und die Bereitstellung von Lösungsvorschlägen für gesellschaftliche Probleme zum Ziel und zugleich zur Triebfeder ihrer Arbeit machen soll.4 Auch die vorliegende Arbeit reiht sich in diesen Zusammenhang ein und verfolgt dabei mehrere Ziele: - Neben der historisch-deskriptiven Herangehensweise soll der gesellschaftliche Transformationsprozeß analysiert werden, wobei einzelne Interessengruppen herausgearbeitet werden sollen, die auf der Handlungs- und Sprachebene die Entwicklung bestimmt haben. Mit Hilfe dieser Analyse sind Defizite und Fehlentwicklungen aufzuzeigen, die im Laufe des Transformationsprozesses zutage traten und die bei künftigen Entwicklungen im Medienbereich zu berücksichtigen sind. Dabei muß dies nicht auf den Pressevertrieb beschränkt bleiben. - Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist es interessant zu verfolgen, wie sich die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten praktisch vollzogen hat. Für einen kleinen Ausschnitt aus dem Pressebereich wird dieser Prozeß nachgezeichnet. Damit mag ein Baustein für eine umfassende historische Arbeit zu diesem Themenkomplex bereitgestellt werden. - Schließlich wird mit dem Pressevertrieb ein bislang wenig beachteter Gegenstand publizistikwissenschaftlicher Forschung in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt. Es geht dabei indirekt auch um die Frage, welchen Beitrag der Pressevertrieb zur Schaffung von Pressevielfalt leistet. In der Arbeit sollen deshalb politische, publizistische, rechtliche und wirtschaftliche Aspekte integriert werden. Für den Bereich der Presse soll die Distributionsleistung im und für das Mediensystem in ihrer Bedeutung für die Schaffung und Aufrechterhaltung publizistischer Vielfalt herausgestellt werden. Dies erfolgt über den zentralen publizistikwissen4

Vgl. Ruß-Mohl, Stefan: Entzauberung der Wissenschaften - Forschung zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Eigendynamik. In: Universitas, 38. Jg. (1983), Nr. 9, S. 912.

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1. Einleitung

schaftlichen Begriff der „Zugänglichkeit". Der Verfasser erhofft sich davon, weitere Arbeiten zu diesem Themenkomplex anzuregen, um die Distributionsleistungen im Mediensystem stärker in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Um den komplexen Zusammenhängen des Themas Rechnung zu tragen und es aus forschungsökonomischen Gründen inhaltlich stärker abzugrenzen, müssen einzelne Aspekte im Rahmen der vorliegenden Arbeit vernachlässigt werden. Die Arbeit konzentriert sich auf den Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems, während alternative Vertriebsformen und Absatzwege weitgehend ausgespart bleiben. So findet z.B. die Gründung von Lesezirkelunternehmen in Ostdeutschland keine Erwähnung, obwohl in den einschlägigen Fachzeitschriften gelegentlich über solche Unternehmen berichtet wird. Bedeutsamer ist hingegen die Vernachlässigung des Abonnementvertriebs, da dies die überwiegende Vertriebsform in der DDR gewesen ist. Allerdings treten bei der Untersuchung dieses Sachverhaltes forschungsrelevante Schwierigkeiten auf, da die Organisation des Abonnementvertriebs weitgehend einzelbetriebliche Belange betrifft und Verlagsunternehmen nur selten ihre Dokumentationen und Archive für wissenschaftliche Arbeiten öffnen. Eine an Fallbeispielen orientierte Forschungstätigkeit, die über Einzelphänomene zu empirisch erhärteten Erkenntnissen gelangt, scheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, wird von der vorliegenden Arbeit aber nicht geleistet. Durch die erwähnte Abgrenzung des Themas werden auch Sonderentwicklungen auf dem ostdeutschen Pressemarkt - gedacht wird hierbei an die Herausgabe von Sonntags- und Kaufzeitungen in den neuen Bundesländern - nicht weiter berücksichtigt. Obwohl das Vertriebssystem z.B. dazu beitrug, daß sich die eigens für den ostdeutschen Markt konzipierte „Super!Zeitung" nicht durchsetzen konnte5, wird auf diese Entwicklungen nicht näher eingegangen, da sie zeitlich später einsetzten und die Kontroverse nicht direkt beeinflußten. Eine weiterer Aspekt, der nur marginal erwähnt wird, ist die Bedeutung des Anzeigenmarktes für die Printmedien. Zeitungen und Zeitschriften werden grundsätzlich auf zwei verschieden Märkten abgesetzt: Erstens als Quelle der Information und Unterhaltung für Rezipienten auf dem Vertriebsmarkt, zweitens als Anzeigenraum für Inserenten auf dem Anzeigenmarkt. Presseunternehmen erlösen den Großteil ihrer Umsätze heutzutage aus den Werbeeinnahmen. Bei den Abonnementtageszeitungen beträgt dieser Anteil rund zwei Drittel des Anzeigen- und Vertriebs5

Vgl. Purer, Heinz, Johannes Raabe: Medien in Deutschland, Band 1: Presse. München: Ölschläger1994, S. 462.

1. Einleitung Umsatzes. Bei Zeitschriften treten sowohl innerhalb der verschiedenen Zeitschriftengattungen als auch innerhalb des Segmentes der Publikumszeitschriften erhebliche Unterschiede bei der Zusammensetzung der Umsätze auf.6 Vertriebs- und Anzeigenerlöse sind eng verknüpft, da die Anzeigenpreise in Abhängigkeit von der Verkaufsauflage festgelegt werden. Der Pressegroßhandel spielt dabei durch seine Verkaufs- und Remissionsmeldungen an die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) eine wichtige Rolle. Diese ökonomischen Zusammenhänge sind zu beachten, wenn es mit dem Aufbau eines Vertriebssystems auch um die Erschließung und Aufteilung des ostdeutschen Anzeigenmarktes geht. Auf sie wird im folgenden nicht mehr eigens eingegangen.

1.2. Forschungsstand

Der Pressevertrieb als Gegenstand publizistik- und kommunikationswissenschaftlicher Forschungsarbeiten fristet insgesamt ein Schattendasein. Selbst zu Zeiten, in denen der Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften noch die tragende wirtschaftliche Säule des Verlagsunternehmens war, erschienen nur selten Arbeiten zu diesem Thema. Da sich die Strukturen des heutigen Pressevertriebssystems erst nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland langsam herausgebildet haben, können ältere Darstellungen jedoch vernachlässigt werden. Seit der Hochzeit der Diskussion über Pressekonzentrationsprozesse in der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren beschäftigen sich auch Arbeiten jüngeren Datums mit dem Pressevertrieb.7 Enno Dreppenstedt widmet dem Absatz von Zeitungen und Zeitschriften in seiner Monographie aus dem Jahre 1969 über den deutschen Pressemarkt ein ausführliches Kapitel, in dem er Organisation, Strukturen 6

Die im Medienbericht '94 für die (unterhaltenden) Publikumszeitschriften ausgewiesenen 58 Prozent Vertriebsumsätze dürfen deshalb nur als grober Durchschnittswert verstanden werden. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Medien in der Bundesrepublik Deutschland 1994. Medienbericht '94. Bundestage-Drucksache 12/8587 vom 20. Oktober 1994, S. 92 und 109. (Künftig zitiert als: Medienbericht '94...). Die Umsatzzahlen für die Zeitungen und Zeitschriften beziehen sich auf das Jahr 1991. 7 Es bleibt dennoch bemerkenswert, daß in der Aufgabenstellung weder der Michel- noch der Günther-Kommission der Pressevertrieb als Teilbereich des Pressemarktes berücksichtigt wurde. Lediglich im Schlußbericht der Günther-Kommission wird auf diesen Teilaspekt kurz hingewiesen. Vgl. Kaiser, Joseph H.: Vorwort. In: Menke-Glückert, Peter: Der Medienmarkt im Umbruch. Ein aktueller Leitfaden. Frankfurt a.M.: Alfred Metzner 1978, S. 5.

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1. Einleitung

und Funktionen des Presseabsatzsystems beschreibt.' Umfangreiches Zahlenmaterial kennzeichnet diese Arbeit, das allerdings heute, über ein Vierteljahrhundert später, nur noch geringe Aussagekraft besitzt. Zudem werden die in den späten 60er Jahren gegründeten Nationalen Distributionsuntemehmen, die den Vertrieb kleiner und mittlerer Verlage organisieren, bei Dreppenstedt noch nicht berücksichtigt. Im gleichen Jahr erscheint ein vom Grossisten-Verband in Auftrag gegebenes Gutachten von Olaf Triebenstein, das sich mit volkswirtschaftlichen Aspekten des Pressegroßhandels, insbesondere mit dem Verhältnis zwischen Verlagen und Großhandel, beschäftigt.9 Er stellt dabei die Bedeutung des selbständigen Pressegrossos für die Pressefreiheit und die publizistische Vielfalt heraus und bescheinigt dem Grosso, daß es „die ihm gestellte Absatzaufgabe einwandfrei erfüllt".10 Daraus folgert er, daß eine andere Vertriebsorganisation volkswirtschaftlich gesehen nicht sinnvoll ist. Die erste sozialwissenschaftlich orientierte Arbeit über den Pressevertrieb ist die 1974 erschienene Dissertation von Reinhard Möstl, in der er das Absatzsystem basierend auf einem systemtheoretischen Erklärungsansatz analysiert." Der Schüler des Nürnberger Kommunikationswissenschaftlers Franz Ronneberger untersucht Funktionen und Dysfunktionen des Pressevertriebssystems und wählt statt einer normativ-wertsetzenden eine empirisch-analytische Vorgehensweise. Für Möstl steht das Pressevertriebssystem unter dem Primat des Wirtschaftssystems, so daß er seine Untersuchung auf dieses gesellschaftliche Teilsystem bezieht. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß das bundesdeutsche Presseabsatzsystem in hohem Maße leistungsfähig ist und sich auf veränderte Umweltbedingungen sehr schnell einstellen kann. Dysfunktionen, die durch wirtschaftlich beeinflußte Entscheidungen hervorgerufen werden, können seiner Meinung nach durch rechtliche Maßnahmen verhindert werden.12 Ausgelöst durch das Vordringen einzelner Verlage auf die Absatzstufe des Großhandels erscheinen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre mehrere rechtswissenschaftliche Arbeiten speziell zum Pressegroßhandel, die durchweg die Positio8

Dreppenstedt, Enno: Der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt. Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung 1969, bes. S. 202-278. 9 Triebenstein, Olaf: Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Zeitungs- und ZeitschriftenGroßhandels in der BRD. Gutachten am Schweizerischen Institut für gewerbliche Wirtschaft an der Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. St. Gallen: o.V. 1969. 10 Ebenda, S. 55. 11 Möstl, Reinhard: Der Absatz von Zeitungen und Zeitschriften als Kommunikationsmittlerleistung. Erlangen-Nümberg: (Dissertation) 1974. 12 Vgl. ebenda, S. 370.

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nen einerseits der Grossisten, andererseits der Verlage beziehen. Joseph H. Kaiser arbeitet in seiner Untersuchung die Stellung des Pressegroßhandels unter verfassungs- und kartellrechtlichen Gesichtspunkten heraus und leitet daraus sowohl das Recht auf Alleinauslieferungsgebiete als auch indirekt die Forderung nach einer Bestandsgarantie für das verlagsunabhängige Grosso ab.13 Dieser Rechtsstandpunkt bleibt durch die Verlage nicht unwidersprochen, und so beauftragen die Verlegerverbände ihrerseits Juristen damit, zum Verhältnis zwischen Verlag und Großhandel Stellung zu nehmen. Im Auftrag des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) untersucht Karl Egbert Wenzel das Problem des Belieferungsanspruches der Grossisten und verneint denselben.14 Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) gibt gar zwei Arbeiten in Auftrag, die sich näher mit der Beziehung vom Verlag zum Pressegroßhändler befassen. Hans Peter Ipsen greift die Arbeit von Kaiser direkt auf und weist dessen Rechtsstandpunkte zurück, indem er in seiner Abhandlung die hervorgehobene und autonome Stellung der Verlage gegenüber dem Großhandel betont. Von diesem Standpunkt aus setzt er sich mit der verfassungsrechtlichen Dimension des Grossos auseinander und kommt zu dem Schluß, daß die Rechtsbeziehungen zwischen Verleger und Grossisten in erster Linie durch das Zivilund Wettbewerbsrecht bestimmt sind. Daraus folgert er, daß der Großhandel keine durch Artikel 5 des Grundgesetzes (GG) geschützten Ansprüche geltend machen kann. Darüber hinaus kommt Ipsen zu dem Ergebnis: „Verfassungsrechtlich sind die Verleger nicht gehindert, unter Ablösung bisherigen Grosso-Vertriebs eine eigene Großhandels-Organisation einzurichten oder sich an Grosso-Unternehmen zu beteiligen."15 In der zweiten Auftragsarbeit des VDZ befaßt sich Bodo Börner intensiver mit den vertraglichen Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen Verlag und Grosso in zivil-, Wettbewerbs- und verfassungsrechtlicher Hinsicht. Auch er setzt sich kritisch mit der Arbeit von Kaiser auseinander und kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie zuvor Ipsen.16 Allerdings legt Börner auch Vertragsbestimmungen im Sinne der Grossisten aus, indem er auf deren Ausgleichsanspruch im Zusammenhang mit unbegründeten und nicht durchdachten Kündigungen durch die Verlage hinweist.17 13

Kaiser, Joseph H.: Das Recht des Presse-Grosso. Baden-Baden: Nomos 1979. Wenzel, Karl Egbert: Rechtsprobleme des Presse-Grosso. In: Archiv für Presserecht, 10. Jg. (1979), Nr. 4, S. 380-389. 15 Ipsen, Hans Peter: Presse-Grosso im Verfassungsrahmen. Berlin: Duncker & Humblot 1980, hier: S. 84. 16 Börner, Bodo: Der Vertrag zwischen Verlag und Pressegrossisten. Zivilrecht - Kartellrecht - Verfassungsrecht. Berlin: Duncker & Humblot 1981. 17 Vgl. Börner, Bodo (1981), Der Vertrag zwischen..., S. 66-67. 14

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1. Einleitung

Nicht in diese Reihe der eindeutig interessengeleiteten Erörterungen rechtlicher Probleme des Pressegroßhandels gehört die Arbeit von Michael Roggen aus dem Jahre 1983.1" Roggen beschäftigt sich mit dem gesamten bundesdeutschen Pressevertriebssystem und fragt nach dem Einfluß kartellrechtlicher Bestimmungen auf das Presseabsatzsystem. Ausführlich stellt er dabei die Wettbewerbsverhältnisse auf dem Presseabsatzmarkt dar und untersucht sie im Zusammenhang mit der Vertriebs- und Verwendungsbindung durch die Verlage. Als Resultat hält Roggen fest, daß dieser Markt eine in anderen Branchen nicht vorfindbare „Strukturverfestigung im Zwischenhandelsbereich"19 aufweist, die zu einer Zeit eingeleitet wurde, als das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) noch nicht wirksam war. Auch durch wettbewerbsrechtliche Gesetzgebung wird der verschlossene Presseabsatzmarkt seiner Meinung nach nicht aufgebrochen werden, vielmehr fuhrt das Kartellrecht zu einer weiteren Strukturverfestigung des Absatzmittlersystems. Nach diesen zahlreichen rechtswissenschaftlichen Untersuchungen zum Pressevertrieb oder speziell zum Pressegroßhandel, erscheinen 1985 die beiden zusammengehörenden Arbeiten von Peter Brummund und Peter Schwindt.20 Michael Schenk erläutert dazu: „Erst seit Anfang der 80er Jahre werden wieder vermehrt Studien zu betriebswirtschaftlichen Problemen der Printmedien publiziert. Exemplarisch sind die Untersuchungen von BRUMMUND und SCHWINDT zu nennen, die exakt und umfassend Struktur und Organisation des Pressevertriebs analysiert haben."21 Beide Arbeiten betrachten den Themenkomplex „Pressevertrieb" vorwiegend aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive. Brummund befaßt sich in seinem systematisch angelegten Teil speziell mit dem Pressegroßhandel, beschreibt aber zugleich den Aufbau des gesamten bundesdeutschen Presseabsatzsystems. Seine detailreiche Arbeit basiert auf der Auswertung zahlreicher einschlägiger Fachzeitschriften. Zudem verfugt der Autor über persönliche Erfahrungen, die er durch verschiedene Tätigkeiten im Pressevertrieb gesammelt hat. Das umfangreiche Werk kann als grund18 Roggen, Michael: Pressevertrieb und Kartellrecht. Eine Darstellung des Presseabsatzsystems in der Bundesrepublik Deutschland und der kartellrechtlichen Problemlagen im Vertriebsmarkt. Berlin: Duncker & Humblot 1983. Der Autor arbeitet heute für den Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler. 19 Vgl. Roggen, Michael (1983), Pressevertrieb und Kartellrecht..., S. 218. 20 Brummund, Peter: Struktur und Organisation des Pressevertriebs. Teil 1: Der deutsche Zeitungs- und Zeitschriftengroßhandel. München u.a.: Säur 1985; Schwindt, Peter: Struktur und Organisation des Pressevertriebs. Teil 2: Zeitungen und Zeitschriften im Einzelhandel. München u.a.: Säur 1985. 21 Schenk, Michael: Einführung in die Medienökonomie. In: Schenk, Michael, Joachim Donnerstag (Hrsg.): Medienökonomie. Einführung in die Ökonomie der Informations- und Mediensysteme. München: Reinhard Fischer 1989, S. 8. (Hervorhebungen im Original).

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legend erachtet werden, zumal da der Verfasser neben betriebswirtschaftlichen auch alle zuvor geäußerten rechtswissenschaftlichen Stellungnahmen in seiner Arbeit kritisch würdigt. Eine Ergänzung erfährt Brummunds Arbeit durch die Darstellung von Schwindt, der sich mit dem Verhältnis zwischen Pressegroß- und -einzelhandel beschäftigt. Auch in seiner Monographie stehen wirtschaftliche und kartellrechtliche Fragen im Mittelpunkt. Seine zusammenfassenden Ergebnisse sind ebenso wie die von Brummund dazu gedacht, die Organisation und Struktur des Pressevertriebs kritisch nach ihren Stärken und Schwächen zu hinterfragen und kontinuierlich über eine Optimierung des Systems nachzudenken. In Teilen sind die Arbeiten von Brummund und Schwindt durch die Diplomarbeit von Thomas Neuhauser aktualisiert worden.22 In der vom Mainzer Publizistikwissenschaftler Jürgen Wilke betreuten Untersuchung bemüht sich Neuhauser um eine empirisch erhärtete Zustandsbeschreibung der einzelnen Absatzwege der Presseerzeugnisse. Anhand der Geschäftsberichte der Verbände des Bahnhofsbuchhandels, des Lesezirkels, des Presse-Grossos und des Werbenden Buch- und Zeitschriftenhandels und mit Hilfe der amtlichen Pressestatistik stellt er das Pressevertriebssystem quantitativ dar. Im zweiten Teil seiner Arbeit referiert Neuhauser die verfassungs- und kartellrechtlichen Überlegungen, indem er die Untersuchungen der oben genannten Autoren komprimiert wiedergibt. Das von Neuhauser zusammengetragene Zahlenmaterial bietet Anknüpfungspunkte für eine neuerliche Beschreibung der Struktur des Pressevertriebssystems. Allerdings fehlt auch der Eichstätter Diplomarbeit weitgehend eine publizistikund kommunikationswissenschaftliche Einbindung. Sieht man einmal von der Arbeit Möstls ab, ist diese Forschungslücke bis heute durch keine entsprechende wissenschaftliche Untersuchung geschlossen worden. Gleiches gilt auch für den Pressevertrieb in der DDR, der in den Darstellungen des DDR-Mediensystems zumeist nur als Randnotiz auftaucht.23 Viele Bedingungen des ostdeutschen Pressesystems lassen sich aber nur durch das Vertriebssystem erklären, so daß eine Aufarbeitung dieses Themas angezeigt ist.

22

Neuhauser, Thomas: Entwicklung und gegenwärtige Struktur des Pressevertriebs in Deutschland. Eichstätt: (unveröffentliche Diplomarbeit) 1988. 23 Die wohl bislang umfassendste Arbeit zum DDR-Mediensystem bis 1989 von Rolf Geserick, weist ebenfalls nur kurz auf das Postvertriebsmonopol hin. Vgl. Geserick, Rolf: 40 Jahre Presse, Rundfunk und Kommunikationspolitik in der DDR. München: MinervaPublikationen 1989, hier: S. 51.

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1. Einleitung Der konkrete Gegenstand der vorliegenden Arbeit, der Aufbau eines Presse-

großhandelssystems in Ostdeutschland, ist bereits vereinzelt beschrieben worden. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die im Geschäftsbericht des Verbandes Presse-Grosso 1990 erstellte Dokumentation zu nennen, die in den Geschäftsberichten der beiden nachfolgenden Jahre fortgesetzt wird.24 Sie enthält die Entwicklung des Aufbaus und legt dabei besonderen Wert auf die Aktivitäten des Grosso-Verbandes. Auch die Stellungnahmen anderer Verbände und Institutionen finden sich in dem Geschäftsbericht wieder. Diese Geschäftsberichte bilden auch die Grundlage einer am Institut für Publizistik und Kommunikationspolitik der Freien Universität Berlin entstandenen Seminararbeit bei Axel Zerdick.25 Wissenschaftlich interessant ist die Seminararbeit besonders dadurch, daß die Verfasser Gespräche mit dem Mitglied der Geschäftsleitung der Heinrich Bauer Vertriebs KG, Lothar Scheuer, und dem Referenten des Bundeskartellamtes, Markus Wagemann, geführt haben und damit originäre Quellen verwendet werden. Der Aufbau des ostdeutschen Presse-Großhandelssystems war auch Gegenstand des Zehnten Wissenschaftlichen Gespräches der Bundesregierung im Sommer 1992. Der dazu von Walter A. Mahle herausgegebene Tagungsbericht enthält einen kurzen Beitrag des bereits erwähnten Kommunikationswissenschaftlers Jürgen Wilke zum Thema Pressevertrieb in den neuen Bundesländern.26 Darin benennt er die Problemfelder, die sich aus der Organisation und Struktur des Pressegrossos in Ostdeutschland ergeben. Seine knappen Ausführungen reichen bis zum Sommer 1992, enthalten damit aber noch nicht den endgültigen Abschluß der Kontroverse über das ostdeutsche Pressegroßhandelssystem. In seinem Resümee sieht Wilke die staatliche Medienpolitik in der Pflicht, zur Sicherung eines funktionierenden Pressevertriebs in das ansonsten staatsferne Pressesystem ordnend einzugreifen.27 Dem Aufbau des 24

Verband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (Hrsg.): Geschäftsbericht 1990, Köln: o.V. 1990, S. 94-127. Verband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (Hrsg.): Geschäftsbericht 1991, Köln: o.V. 1991, S. 75-99; Bundesverband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (Hrsg.): Geschäftsbericht 1992, Köln: o.V. 1992, S. 143-160. Der Verband Presse-Grosso hat sich im September 1991 auf Beschluß der Mitgliederversammlung umbenannt und heißt seitdem Bundesverband Presse-Grosso. 25 Bücker, Gesche, Jens-Volker Schmidtke: Chronik der Entwicklungen im PresseGroßhandel auf dem Gebiet der Neuen Bundesländer seit dem 9. November 1989 und Versuch einer Bewertung. Seminararbeit in der Veranstaltung „Ökonomische Probleme der Presse: Pressevertrieb" von Axel Zerdick. Institut für Publizistik und Kommunikationspolitik der Freien Universität Berlin: Oktober 1991. 26 Wilke, Jürgen: Der Pressevertrieb in den neuen Bundesländern. In: Mahle, Walter A. (Hrsg.): Pressemarkt Ost. Nationale und internationale Perspektiven. München: Ölschläger 1992, S. 51-59. 27 Vgl, ebenda, S. 58.

1. Einleitung

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Grossosystems ist auch ein eigenes Kapitel in der historisch-deskriptiv angelegten Monographie der beiden Münchener Kommunikationswissenschaftler Heinz Purer und Johannes Raabe über das bundesdeutsche Pressesystem gewidmet.28 Die beiden Autoren zeichnen darin die wesentlichen EntwickJungslinien des Aufbaus nach und benennen in Anlehnung an Wilke verschiedene Problembereiche. Schließlich beschäftigt sich ein vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebener Forschungsbericht mit dem Titel „Entwicklungschancen und strukturelle Probleme der Zeitschriftenpresse in den neuen Bundesländern" ausführlich mit dem Aufbau des ostdeutschen Vertriebssystems.29 Johannes Ludwig, der für das Kapitel über den Pressevertrieb verantwortlich zeichnet, beschreibt chronologisch - zum Teil sehr detailliert - den Aufbau des Grossosystems und bewertet die Auseinandersetzung um dieses System in Ostdeutschland als „einen Anschlag auf die Pressefreiheit"30. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen die Auswirkungen des gesellschaftlichen Umbruchs auf den ostdeutschen Zeitschriftenmarkt, wobei er konkret der Frage nachgeht, welche Auswirkungen die Transformation des Vertriebssystems auf das Angebot an ost- und westdeutschen Zeitschriftentiteln hat. Ihre Beantwortung bleibt allerdings offen, da das Vertriebssystem häufig nur einer von zahlreichen Faktoren war und ist, die den Zeitschriftenmarkt beeinflussen. Die genannten Arbeiten zum Thema Pressevertrieb können durch Beiträge in fachwissenschaftlichen oder fachjournalistischen Zeitschriften allgemein und aktuell ergänzt werden. Bei den fachwissenschaftlichen Zeitschriften ist besonders das „Archiv für Presserecht" zu nennen, das gleich mehrere Aufsätze zur damals aktuellen Diskussion der rechtlichen Probleme beim Aufbau eines Ost-Grossos veröffentlichte.31 Darüber hinaus stellt „der neue vertrieb" als fachjournalistische Zeitschrift eine wichtige Sekundärquelle zum Verständnis des Gesamtzusammenhanges dar, da 28

Purer, Heinz, Johannes Raabe (1994), Medien in Deutschland..., S. 431-434. Haller, Michael, Johannes Ludwig, Hartmut Weßler: Entwicklungschancen und strukturelle Probleme der Zeitschriftenpresse in den neuen Bundeslandern. Forschungsbericht für den Bundesminister des Innern. Band l: Der Zeitschriften markt Ost. Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig im Oktober 1994. 30 Ebenda, S. 43. 31 Kuli, Edgar: Schritte und Rückschritte auf dem Weg zur Medienfreiheit in der DDR. In Archiv für Presserecht, 21 .Jg. (1990), Nr. 2, S. 81-84; Spiller, Hans, Harald Koppenele: Zur Rechtslage des Grosso-Vertriebs von Presserzeugnissen im Gebiet der DDR. In: Archiv für Presserecht, 21 .Jg. (1990), Nr. 3, S. 169-173; Bullinger, Martin: Die Entwicklung der Medien und des Medienrechts in den neuen Bundesländern. In: Archiv für Presserecht, 22.Jg. (1991), Nr.2, S. 465-472; Hoffmann-Riem, Wolfgang: Die Entwicklung der Medien und des Medienrechts im Gebiet der ehemaligen DDR. In: Archiv für Presserecht, 22.Jg. (1990), Nr.2, S. 472-481. 29

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1. Einleitung

sie als Verbandsorgan des Großhandels, des Bahnhofsbuchhandels, des Lesezirkels sowie des Werbenden Buch- und Zeitschriftenhandels die Entwicklung in ihren Beiträgen begleitet und Stellungnahmen Beteiligter enthält. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es durchaus wissenschaftliche Arbeiten gibt, die sich mit dem Themenkomplex Pressevertrieb oder Pressegroßhandel beschäftigt haben. Sie behandeln aber bis auf wenige Ausnahmen durchweg rechtsund wirtschaftswissenschaftliche Aspekte des Forschungsgegenstandes und sind zudem häufig als Gutachten einseitig interessengeleitet.

Eine publizistikwissen-

schaftliche Einordnung ist bislang weitgehend unterblieben. Was das konkrete Thema „Aufbau eines Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland" anbetrifft, so kann bereits auf einige Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Es ist in einem weiteren Schritt auf zusätzliches, noch nicht erschlossenes Material aufmerksam zu machen.

1.3. Materiallage und Quellen

Der Gegenstand, der mit der vorliegenden Arbeit untersucht wird, umspannt im wesentlichen den Zeitraum von November 1989 bis Ende 1990, umfaßt darüber hinaus aber auch Entwicklungen, die bis ins Jahr 1992 angedauert haben. Somit handelt es sich nach geschichtswissenschaftlichem Verständnis um einen Gegenstand der Zeitgeschichte. Entgegen der üblichen Schwierigkeit historischer Forschung, bei der über einen Zeitraum von 30 Jahren der Zugang zu Regierungsakten und sonstigen amtlichen Unterlagen in den Staatsarchiven erschwert oder unmöglich gemacht wird, ist der Zugriff auf das Aktenmaterial der beiden letzten DDR-Regierungen möglich. Hierbei sind besonders die Bestände des Presse- und Informationsdienstes der Regierung der DDR, des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen, des Ministeriums für Kultur sowie die Bestände des unter der Regierung de Maiziere eingerichteten Ministeriums für Medienpolitik von Bedeutung. Die Aktenbestände sind inzwischen vom Bundesarchiv Koblenz übernommen worden und werden in dessen Abteilungen Potsdam verwaltet. Die Akten selber befinden sich in verschiedenen Außenstellen und können dort eingesehen werden. So liegen die Unterlagen des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen in Coswig, die Unterlagen des Presse- und Informations-

1. Einleitung

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dienstes und des Ministeriums für Medienpolitik in Berlin. Die Akten des Kulturministeriums sind für die vorliegende Arbeit nicht ausgewertet worden, da dieses Ministerium nur für den Zeitraum bis etwa Anfang Februar 1990 an den Vorgängen um den Aufbau eines Pressegroßhandelssystems beteiligt war, und das Aktenstudium keinen forschungsökonomisch vertretbaren Erkenntnisgewinn versprach. Bei der Auswertung des Materials erwies es sich als problematisch, daß große Teile der Aktenbestände bis heute noch nicht vollständig erschlossen und archiviert sind und somit in den Findhilfsmitteln auch noch nicht verzeichnet werden. Auch lassen die Dokumente keine Systematik erkennen, die zusammenhängende Sachverhalte bündelt oder sie zumindest chronologisch ordnet. Da viele Entscheidungen in der DDR im administrativen Bereich zudem nur mündlich gefällt wurden, ist „die Überlieferung des Schriftgutes [...] äußerst fragmentarisch".32 Schließlich werden Akten, die nach dem 3. Oktober 1990 datiert sind, nicht mehr zugänglich gemacht, so daß die dadurch entstehenden Lücken durch andere Quellen geschlossen werden müssen. Dazu bieten sich die Aktenbestände bei den verschiedenen an der Diskussion beteiligten Akteuren an, wobei besonders die Verbandsgeschäftsstellen zu erwähnen sind. Sowohl der Bundesverband Deutscher Buch-, Zeitungs- und ZeitschriftenGrossisten (Verband Presse-Grosso) mit Sitz in Köln als auch der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) in Bonn archivieren zahlreiche Aktenordner, die Schriftwechsel, Presseerklärungen und Aktennotizen beinhalten, mit deren Hilfe eine Rekonstruktion der damaligen Verhandlungen erleichtert wird. Dieses Material ist dem Verfasser umfassend zugänglich gemacht worden. Gleiches trifft auch auf das Firmenarchiv der West-Berliner Unternehmensberatung Christiansen & Partner zu. Der Inhaber, Christian G. Christiansen, leistete seit Anfang 1990 ostdeutschen Unternehmern Hilfestellung beim Aufbau von Grossobetrieben und vertrat als Sprecher des „Vereins zur Förderung eines unabhängigen Vertriebs von Presseerzeugnissen in der DDR" den Verein und späteren Verband der unabhängigen Grossisten in der DDR nach außen. Seine Tätigkeit wird in zahlreichen Akten belegt, die er zu Dokumentationszwecken in seinen Berliner Büroräumen archiviert. Allerdings sind die Unterlagen aller genannten Verbands- oder Firmenarchive ohne erkennbare Ordnung gesammelt und nur teilweise unter bestimmten Oberbegriffen systematisiert worden, so daß eine Auswertung aufgrund des Materialumfanges nur unvollständig vorgenommen werden konnte. In der bereits angesprochenen Dokumentation des Verban32

Holzweißig, Gunter: Medienlenkung in der SBZ/DDR. Zur Tätigkeit der ZK-Abteilung Agitation und der Agitationskommission beim Politbüro der SED. In: Publizistik, 39. Jg. (1994), Nr. 1, S. 59.

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1. Einleitung

des Presse-Grosso, die der Verband in seinen Geschäftsberichten der Jahre 1990 bis 1992 veröffentlicht hat, sind die Akten zumindest ansatzweise ausgewertet und bearbeitet worden. Zudem befinden sich die Unterlagen des ostdeutschen Grossistenverbandes inzwischen ebenfalls in der Kölner Geschäftsstelle. Damit ist eine zweite bedeutsame Quelle genannt, die die zu untersuchenden Entwicklungen dokumentiert. Bei der Einschätzung und Bewertung dieser Quellen muß jedoch berücksichtigt werden, daß sie möglicherweise gerade an den Stellen unvollständig sind, die für den jeweiligen Verband kritische Fragen aufwerfen. Da ein Teil der Unterlagen aber in verschiedenen Verbands- und Firmenarchiven zu finden und so ein Vergleich der schriftlichen Quellen möglich ist, können die geprüften und verwendeten Unterlagen mit großer Wahrscheinlichkeit als authentisch angesehen werden. Ferner ist zu bedenken, daß aus Aktualitäts- oder anderen Dringlichkeitsgründen verschiedentlich telefonische Gespräche gefuhrt wurden, deren Inhalte zum Teil nur mittelbar Eingang in die Dokumente gefunden haben. Zu den an der Diskussion beteiligten Akteuren gehören ferner auf westdeutscher Seite Vertreter der Bundesregierung und anderer staatlicher Stellen, der politischen Parteien, der kleinen und mittleren Verlage sowie des Bundeskartellamtes. Auf ostdeutscher Seite zählen die Deutsche Post, der Runde Tisch, der Medienkontrollrat und der „Verein zur Förderung eines unabhängigen Vertriebs von Presseerzeugnissen in der DDR", aus dem der spätere Grossisten-Verband der DDR hervorging, dazu. Deren Stellungnahmen sind zum Teil aus der einschlägigen Fachpresse zu entnehmen, zum Teil haben sich einzelne Akteure auch auf Anfrage direkt zu speziellen Problemen geäußert. Vom Medienkontrollrat liegen zum Beispiel Kurzprotokolle der Sitzungen vor, die durch eine Bewertung über die Arbeit dieses Gremiums von Heinz Odermann, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Medienkontrollrates, ergänzt werden. Stellungnahmen des Bundeskartellamtes und der Monopolkommission zu den Entwicklungen beim Aufbau eines ostdeutschen Pressegroßhandelssystems liegen in Form von Tätigkeitsberichten als Bundestage-Drucksache vor. Schließlich sind auch Gespräche mit Experten geführt worden, die an der Diskussion über den Aufbau eines Pressegroßhandelssystems direkt beteiligt waren. Dazu gehören Wolfgang Fürstner als Geschäftsführer der Fachgruppe Publikumszeitschriften beim VDZ, Ralf Bachmann als stellvertretender Regierungssprecher unter der Regierung Modrow und späterer Mitarbeiter des Ministeriums für Medienpolitik sowie Bernd Lützow (Axel Springer Verlag) und Bernd Meyer (Grüner + Jahr Verlag) als Vertreter der Großverlage und speziell für den Vertriebsbereich ihrer Unter-

1. Einleitung

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nehmen zuständig. Weiterhin sind Gespräche geführt worden mit dem bereits erwähnten westdeutschen Unternehmensberater Christian G. Christiansen, Dieter Hoffbauer, ehemals Stellvertreter des Leiters des Zeitungsvertriebsamtes in OstBerlin und Karl Udo Wrede, persönlich Bevollmächtigter des Verlegers Thomas Ganske vom Jahreszeiten-Verlag. Diese Gespräche wurden aufgezeichnet und liegen als Tonbanddokument beim Verfasser. Befragt wurden auch Gerd Kapp, Geschäftsführer des Verbandes Presse-Grosso, und Klaus-Eberhard Schmidt von der 6. Beschlußabteilung des Bundeskartellamtes, die für Fragen des Pressevertriebs in Ostdeutschland zuständig gewesen ist. Über diese Gespräche liegen vom Verfasser nachträglich erstellte Zusammenfassungen vor. Bei einem Vergleich der gemachten Aussagen mit den zur Verfügung stehenden Unterlagen zeigte sich vereinzelt, daß eine exakte Rekonstruktion der Geschehnisse allein aus der Erinnerung heraus, für die Gesprächspartner nicht immer möglich war und es zu nicht belegbaren Aussagen kam. Dies wird auf den zeitlichen Abstand zum Gegenstand zurückgeführt, zumal das Pressegeschäft eine hohe Tagesaktualität besitzt und die einzelnen Experten zum Zeitpunkt der Befragung bereits wieder andere Probleme beschäftigten. Sofern solche Widersprüche zwischen den Aussagen der Gesprächspartner und dem vorliegenden Aktenmaterial erkannt wurden, ist das Aktenmaterial als forschungsrelevant berücksichtigt worden, während die Informationen aus den Gesprächen vorzugsweise zur Bestimmung der jeweiligen Interessen genutzt worden sind. Ergänzt wird das originäre Material dadurch, daß die in der Fachpresse zum Thema veröffentlichten Beiträge ausgewertet worden sind. Aufgrund der Aktualität der Ereignisse, die für den historisch-deskriptiven Teil der Arbeit bedeutsam ist, sind besonders Zeitschriften mit 14-täglicher, wöchentlicher oder mehrmals wöchentlicher Erscheinungsweise für die Auswertung genutzt worden. Dazu wurden in erster Linie die Fachdienste „text intern", „dpa-Informationen", „Horizont", „kress report" sowie „BDZV intern" nach entsprechenden Artikeln durchgesehen. Hierbei war zu berücksichtigen, daß die einzelnen Fachdienste zum Teil Verbänden oder Verlagsunternehmen nahestehen und ihre Artikel möglicherweise bestimmte Interessen stärker betonen. Hinzu kamen Beiträge aus überregionalen Tageszeitungen, wobei die Erfassung dieser Zeitungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht allein zu bewältigen war. Es ist deshalb auf den Ausschnittsdienst des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung zurückgegriffen worden, der die Artikel zahlreicher Tageszeitungen

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1. Einleitung

nach bestimmten Kriterien aussucht und sammelt. Auch wenn hierbei ebenfalls berücksichtigt werden muß, daß keine vollständige Erfassung aller bedeutsamen Beiträge gewährleistet ist, so umfassen diese Artikel doch zusätzliche Aspekte, die der Beschreibung des Aufbaus eines Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland die-

nen. Obwohl damit umfangreiches Quellenmaterial zur Verfügung steht, können einzelne Aspekte der Kontroverse über den Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems nur rudimentär durch Quellenarbeit belegt werden. So ist besonders der fehlende Einblick in die Unterlagen der Verlage zu beklagen, da sich so möglicherweise Einseitigkeiten in der Darstellung der Handlungsmotive ergeben könnten. Auch die Verhandlungen zwischen dem Bundeskartellamt und den Großverlagen sind nur zum Teil überliefert und lassen damit Forschungsfragen offen, die für das Verständnis der Zusammenhänge durchaus bedeutsam sein können. Der Gefahr einer einseitigen oder unvollständigen Darstellung der einzelnen Handlungsakteure und ihrer Ziele soll durch ein möglichst breites Quellenstudium entgegengewirkt werden. Gerade zu diesem Zweck sind Interviews mit Verlagsvertretern geführt worden, die allerdings nicht immer den erhofften Erkenntnisgewinn brachten und daher nur sehr zurückhaltend in der Arbeit zitiert werden.

2. Funktionale Systemtheorie

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2. Funktionale Systemtheorie 2.1. Einordnung des Themas in den publizistik- und kommunikationswissenschaftlichen Gesamtzusammenhang

Das Forschungsinteresse der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft richtet sich speziell auf den Massenkommunikationsprozeß, zu dem auch die Distributionsleistung vom Kommunikator zum Rezipienten gehört. Sie wird von den verschiedenen Massenmedien unterschiedlich erbracht. In der Bundesrepublik Deutschland waren im Bereich der audiovisuellen Medien Fernsehen und Hörfunk die Sender lange Zeit vorwiegend auf die technischen Anlagen der Post angewiesen, um ihre Rundfunkproduktionen terrestrisch verbreiten zu können. Beim Medium Film sorgen Verleihfirmen für eine Verteilung der Produktionen auf die Lichtspielhäuser. Der Vertrieb von Presseerzeugnissen schließlich erfolgt über verschiedene Absatzwege, von denen der Pressegroßhandel für den Zeitschriftenmarkt, gemessen am Umsatz, der bedeutendste ist. Historisch betrachtet oblag die Distribution weitgehend der staatlichen Gewalt, die über diesen logistischen oder technischen Aspekt direkt oder mittelbar Einfluß auf den Kommunikationsprozeß nehmen konnte. Mit zunehmender Liberalisierung der westlichen Gesellschaften wurden solche Sanktionsmöglichkeiten des Staates nach und nach eingeschränkt. Dennoch blieb gerade der „Vertrieb" von Fernseh- und Hörfunkangeboten durch die Deutsche Bundespost zunächst noch einer staatlich kontrollierten Einrichtung übertragen. Erst die Entwicklung neuer Übertragungstechniken wie Satellit oder Kabel ließ hierbei allmählich den staatlichen Einfluß geringer werden, ohne das Problem des Zugangs zu den Distributionssystemen zu lösen. Die gegenwärtig geführte Diskussion über die Kabelbelegungspläne der - inzwischen privatisierten - Deutschen Telekom belegen dies ebenso wie die Szenarien über den künftigen digitalen Fernsehmarkt und die damit verbundene Frage nach den Zugangsmöglichkeiten für Programmveranstalter.33 Nicht zuletzt vor diesem aktuellen Hintergrund erscheint eine Untersuchung der wirtschaftlichen und politischen Interessen beim Aufbau eines Vertriebssystems - im vorliegenden Falle für die Printmedien - geeignet, um Argumente zusammenzustellen, die das Für und Wider verschiede33

Vgl. Lob. Susanne: Wem gehört der Kunde? Wie die Telekom künftig auf dem digitalen Femsehmarkt mitmischen will. In: Frankfurter Rundschau, 53. Jg., Nr. 99 vom 29.4.1997, S. 9.

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2. Funktionale Systemtheorie

ner Distributionsmodelle aufzeigen können. Diese Modelle müssen sich letztlich daran messen lassen, inwieweit sie geeignet sind, publizistische Vielfalt herzustellen und zu sichern, und zwar bezogen auf jedes einzelne Medium für sich und auf das gesamte Spektrum aller (Verbreitungs-)Medien. Für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ergibt sich hieraus die Möglichkeit, einen bisher stark vernachlässigten Forschungsbereich zum Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses zu machen und damit der bislang dominierenden wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Betrachtungsweise eine weitere Perspektive hinzuzufügen, die besonders den gesellschaftspolitischen Aspekt betont. Dies kann auch dazu beitragen, die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft als eigenständige Disziplin stärker herauszustellen, da sie sich als relativ junge Wissenschaftsdisziplin häufig noch gegenüber anderen Wissenschaftszweigen behaupten muß. Die Anfänge des Faches liegen in der Zeitungskunde, für die 1926 in Leipzig erstmals ein Lehrstuhl eingerichtet wurde; sie entwickelte sich über die vorwiegend historisch und kulturwissenschaftlich betriebene Zeitungswissenschaft zu einer heute fast ausschließlich sozialwissenschaftlich ausgerichteten Disziplin.3" Allerdings ist das Themenspektrum, mit dem sich das Fach beschäftigt, inzwischen sehr breit geworden und deshalb kaum noch unter einem Begriff zu fassen, so daß eine weitere Ausdifferenzierung der gegenwärtig unter der Bezeichnung Publizistik- und Kommunikationswissenschaft firmierenden Disziplin durchaus möglich erscheint.35 Es soll daher kurz an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, das breite Spektrum der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft begrifflich genauer festzulegen, um daran anschließend den Gegenstand der vorliegenden Arbeit in einen entsprechenden Gesamtzusammenhang zu stellen. Von einem ersten Standpunkt aus kann Kommunikationswissenschaft als eine Grundlagendisziplin verstanden werden, die sich dabei primär mit dem übergeordneten Grundbegriff „Kommunikation" beschäftigt, der wiederum die Basis wissenschaftlicher Tätigkeit darstellt. Sozial-, geistes- aber auch naturwissenschaftliche Teildisziplinen nähern sich dem Begriff an und versuchen, ihn aus jeweils verschiede-

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Die Entwicklung des Faches in Deutschland wird grob nachgezeichnet in: Purer, Heinz: Einführung in die Publizistikwissenschaft. 4Systematik, Fragestellungen, Theorieansätze, Forschungstechniken. München: Ölschläger 1990, S. 9-15. 35 Eine solche Entwicklung zeichnet sich bereits mit der Gründung verschiedener praxisorientierter Joumalistikstudiengänge neueren Datums ab. Vgl. dazu ebenda, S. 15.

2. Funktionale Systemtheorie

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nen Perspektiven zu beschreiben.36 Neuere Konzepte, wie sie etwa die Neurophysiologie und Kognitionswissenschaft entwickelt haben, richten ihr Forschungsinteresse in erster Linie auf die mit der Kommunikation verbundenen Denk- und Verstehensprozesse und tragen damit zu einem tieferen Verständnis des komplexen Kommunikationsprozesses bei. Zugleich wirken die Ergebnisse dieser neuen Forschungsbereiche direkt oder indirekt auf das Wissenschaftssystem zurück. So haben die Resultate der Kognitionswissenschaft zum Beispiel im Konstruktivismus Eingang in den (fach-)wissenschaftlichen Diskurs gefunden, wobei der Konstruktivismus seinerseits von einer Reihe von Wissenschaftlern bereits wieder als neues erkenntnistheoretisches Paradigma bezeichnet wird.37 Ohne diese Auffassung gleich teilen zu müssen, bleibt doch festzuhalten, daß die fortlaufend entstehenden Erkenntnisfortschritte über den Kommunikationsprozeß dazu fuhren mag, den Standort der Kommunikationswissenschaft als Grundlagendisziplin künftig neu zu bestimmen. So ist es zum Beispiel vorstellbar, daß die Kommunikationswissenschaft als eine Art Sammelbecken die Resultate der einzelnen Teilwissenschaften zusammenführt und interdisziplinär vermittelt. Denkbar ist aber auch eine Kommunikationswissenschaft, die - wie bisher schon - sich sowohl dem individuellen als auch dem gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß mit ihren eigenen Fragestellungen nähert, um ihn zu beschreiben und zu erklären. Von dieser Grundlagendisziplin soll der ältere Begriff der Publizistik oder Publizistikwissenschaft abgegrenzt werden. Hierunter werden alle

Forschungs-

gegenstände vereinigt, die sich mit Medien im allgemeinen und mit Verbreitungsmedien im speziellen befassen. Publizistik wird dabei auf einige wenige Felder beschränkt, die sich aus der Tradition der Disziplin ergeben haben.38 Dabei sind die verschiedenen Forschungsfelder durch die Lasswell-Formel treffend bezeichnet worden, die zwar als Kommunikationsmodell Schwächen offenlegt, sich als Ordnungsprinzip aber immer noch eignet und in dieser Hinsicht auch weiterhin bedeutenden Einfluß

36

Die Forschungsdiskussion über den Grundbegriff „Kommunikation" soll hier nicht weiter vertieft werden. Eine ausführliche Darstellung bietet Merten. Klaus: Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozeßanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag 1977. Der Autor führt allerdings selber an, „daß die Kommunikationsforschung (zumindest Ende der 70er Jahre, Anm. d.Verf.) selbst erst auf dem Wege ist, eine Wissenschaft zu werden." Ebenda, S. 13. 37 Zu einer groben Beschreibung des Konstruktivismus' als erkenntnistheoretisches Konzept vgl. Weischenberg, Siegfried: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommuni-kation. Band 1: Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992. S. 60-61 und 170. 38 Zur grob skizzierten Entstehung und Entwicklung der (internationalen) Zeitungs-, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft vgl. Schreiber, Erhard: Repetitorium Kommunikationswissenschaft. München: Ölschläger^1990, S. 44-50 und S. 51-64.

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2. Funktionale Systemtheorie

auf die Publizistikwissenschaft hat.39 Allerdings besteht eine Schwierigkeit dieser Systematisierung darin, daß einzelne Aspekte des Kommunikationsprozesses

nur

grob durch die Formel abgedeckt werden. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß bestimmte Forschungsbereiche bei wissenschaftlichen Untersuchungen häufig vernachlässigt oder gar nicht beachtet werden. Auch der Gegenstand der vorliegenden Arbeit, der Pressevertrieb, läßt sich keinem der klassischen Forschungsfelder eindeutig zuordnen.40 Der Pressevertrieb wird als ein Teilbereich der Printmedien verstanden und als solcher wissenschaftlich behandelt. Ein verschwindend geringer Teil Publizistik- und kommunikationswissenschaftlicher Arbeiten versucht das Defizit dieser nur unzureichenden Einordnung und Systematisierung der Distributionsleistung auszugleichen, indem sie sich ausschließlich dem Vertriebsaspekt widmen. Deshalb soll im folgenden der Versuch unternommen werden, den Pressevertrieb in die publizistikwissenschaftliche Systematik einzuordnen. Anknüpfungspunkte bietet dabei die grundlegende Monographie über die Zeitungswissenschaft von Otto Groth, der dort vier Merkmale für das Medium Zeitung herausstellt und systematisch beschreibt: Aktualität, Periodizität, Publizität und Universalität."1 In seinem ontologisch geprägten Verständnis bilden diese Merkmale das Wesen des Mediums Zeitung, die immer unveränderlich mit dem Medium verbunden sein werden. Mit seiner Systematik „ungegenständlicher Phänomene""2 stellt er den Gegenstand seines Interesses als etwas in sich Geschlossenes dar und spricht deshalb den Merkmalen jeweils eine räumliche oder zeitliche Dimension zu, die sich entweder auf die Form oder auf den Inhalt bezieht. Damit entwirft Groth eine Systematik, die sich in Form der Abbildung l darstellen läßt.

39

Die Lasswell-Formel lautet: „Who says what in which channel to whom with what effect?". Zitiert nach Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. Wien. Köln: Böhlau 1983. S. 244. Die Forschungsfelder, die aus der Formel abgeleitet wurden, umfassen die Gegenstände Kommunikatorforschung, Inhalts- und Aussageanalyse, Medienforschung. Publikums- und Rezipientenforschung sowie Medienwirkungsforschung. "° Lediglich bei der Frage .in which channel" wird der Blick auch auf den Pressevertrieb gerichtet, doch geht es dem Forschungsfeld „Medienforschung" eher um das Medium allgemein; der Vertrieb stellt nur einen winzigen Teilaspekt dar. "' Vgl. Groth, Otto: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). Bd. 1: Das Wesen des Werkes. Berlin: de Gruyter & Co. 1960, S. 102. Groth war im übrigen aber nicht der erste, der diese vier Zeitungsmerkmale herausgearbeitet hat. "2 Vgl. Schreiber, Erhard (31990), Repetitorium Kommunikationswissenschaft..., S. 153.

2. Funktionale Systemtheorie

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Abbildung l Systematischer Überblick über Zeitungsmerkmale nach Otto Groth"3

Inhalt

Form

r3umlich

Universalität

Publizität

zeitlich

Aktualität

Periodizität

Dimension"

Dieser Systematik bedient sich auch die heutige Publizistik- und Kommunikationswissenschaft noch, wenn sie sich mit dem Medium Zeitung beschäftigt. So tauchen alle vier Merkmale zum Beispiel in der noch heute maßgebenden zeitungsstatistischen Definition von Walter J. Schütz auf. Danach werden bei seinen Stichtagssammlungen als Zeitungen „nur solche Blätter angesehen, die der primär aktuellen und universellen, also nicht thematisch begrenzten kontinuierlichen Nachrichtenübermittlung dienen und mindestens zweimal wöchentlich erscheinen."44 Dieser traditionellen Charakterisierung des Mediums Zeitung in der Publizistikwissenschaft, die sich weitgehend erfahrungswissenschaftlichen Untersuchungen entzieht, soll ein erweitertes Konzept gegenübergestellt werden, das neuere, sozialwissenschaftlich orientierte Theorieansätze stärker berücksichtigt. Dazu werden die vier Merkmale begrifflich präzisiert und in einen Bedeutungszusammenhang mit dem mehrdimensionalen Begriff der Zugänglichkeit gestellt und schließlich neu definiert. Die sozialwissenschaftliche Orientierung des Konzeptes soll dadurch unterstrichen werden, daß darauf hingewiesen wird, wie die Merkmale in qualitativer oder quantitativer Hinsicht empirisch bestimmt werden können. Bereits etymologisch zeigt sich, daß der Begriff Publizität eine zentrale Bedeutung für die Publizistikwissenschaft besitzt. Dementsprechend soll Publizität als An41

Vgl. Groth, Otto (1960), Die unerkannte Kulturmacht.... S. 345-350. Schütz, Walter J.: Zeitungsstatistik. In: Dovifat, Emil (Hrsg.): Handbuch der Publizistik. Bd. 3: Praktische Publizistik 2. Teil. Berlin: Walter de Gruyter 1969, S. 354. Auch das Statistischen Bundesamt arbeitet aktuell noch mit dieser pressestatistischen Definition der Zeitung. Vgl. dazu: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Fachserie 11: Bildung und Kultur; Reihe 5: Presse. Stuttgart: Metzler-Poeschel 1992, S. 6. 44

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2. Funktionale Systemtheorie

spruch auf generelle oder auch allgemeine Zugänglichkeit definiert werden. Damit unterscheidet sich diese Definition nur unwesentlich vom Publizitäts-Begriff von Groth, der darunter ebenfalls eine allgemeine Zugänglichkeit verstanden wissen will, Publizität aber auch mit Öffentlichkeit gleichsetzt.'15 Der für die Publizistikwissenschaft bedeutsame, aber bislang unbefriedigend bestimmte Begriff der Öffentlichkeit soll hier jedoch ersetzt werden durch ein Verständnis von Öffentlichkeit als das Herstellen einer Öffentlichkeit.*5 Publizität wird mit Zugänglichkeit gleichgesetzt und dabei als zentraler Begriff verstanden, aus dem sich die anderen Merkmale der Zeitung ableiten. Für den Pressevertrieb bedeutet dies konkret, daß eine allgemeine Zugänglichkeit zu Presseerzeugnissen gewährleistet sein muß, indem weder räumliche noch zeitliche noch inhaltliche Grenzen einen möglichen Zugang behindern, oder positiv ausgedrückt: Innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, die sich zum Beispiel aus dem Produktionszyklus der Printmedien oder der Infrastruktur des Einzelhandels ergeben, muß jede Zeitung und Zeitschrift zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort potentiell erhältlich sein. Empirisch zu ermitteln wäre die allgemeine Zugänglichkeit als Summe der räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen. Diese drei Dimensionen stellen einzeln jeweils eine notwendige und in ihrer Summe eine hinreichende Bedingung für die Zuschreibung der allgemeinen Zugänglichkeit dar. Der Anspruch auf räumliche Zugänglichkeit wird mit dem Begriff Ubiquität oder Überallerhältlichkeit bezeichnet, der den weiten Publizitäts-Begriff von Groth präzisiert und ersetzt. Diesen so definierten Anspruch auf räumliche Zugänglichkeit machen einerseits die Verlage geltend, die ihre Zeitungen und Zeitschriften möglichst breit gestreut auf dem Markt anbieten wollen, und andererseits die Rezipienten, die ihre Lesebedürfnisse möglichst immer und überall befriedigen möchten. Somit läßt sich Ubiquität weiter unterteilen in Präsenz, die die Verlage beanspruchen, und Erhältlichkeit, auf die die Rezipienten Wert legen. Empirisch ließe sich diese Größe an der Zahl der eingeschalteten Einzelverkaufsstellen je Titel bestimmen. Unter Periodizität wird traditionell verstanden, daß Zeitungen in regelmäßigen Abständen kontinuierlich erscheinen, wobei mit Kontinuität sowohl das stets wie-

45

Groth unterscheidet dabei weiter zwischen potentieller und aktueller Publizität. Unter letzterer versteht er die „Verbreitung und Bekanntheit des Gegenstandes", erstere hat die auch in der vorliegenden Arbeit verwendete Bedeutung einer „allgemeinen Zugänglichkeit". Vgl. Groth, Otto (1960), Die unerkannte Kulturmacht..., S. 207-208. 46 Diese Definition findet sich bereits bei Franz Ronneberger, der darunter eine politische Funktion versteht. Vgl. Ronneberger, Franz: Kommunikationspolitik l. Institutionen, Prozesse, Ziele. Mainz: v. Hase & Koehler 1978, S. 102 und vgl. Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft..., S. 144.

2. Funktionale Systemtheorie

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derholte als auch das unbegrenzt fortgesetzte Erscheinen gemeint ist.47 Abstrakter formuliert kann Periodizität als Anspruch auf zeitliche Zugänglichkeit definiert werden. Dies beinhaltet, daß die einzelne Ausgabe eines Titels für einen festgelegten Zeitraum zugänglich ist, der Titel selber über einen unbestimmten Zeitraum angeboten wird. Wie schon bei der räumlichen Zugänglichkeit können auch in der zeitlichen Dimension die Ansprüche der Verlage einerseits und der Leser und Käufer einer Zeitung oder Zeitschrift andererseits durch die Unterscheidung von Präsenz und Erhältlichkeit noch weiter differenziert werden. Die empirische Bestimmung dieser Größe hätte durch eine Messung der Zahl der Ausgaben über einen zuvor festgelegten Zeitraum zu erfolgen. Eine Differenzierung von Verlag und Leser/Rezipient entfällt hingegen bei der inhaltlichen Dimension, da die Bedeutung eines Inhalts nicht unabhängig vom Rezipienten besteht, sondern von ihm erst zugeschrieben wird und somit ein subjektives Element enthält. Die Merkmale Aktualität und Universalität beziehen sich im traditionellen Verständnis auf die Inhalte der Zeitung, wobei Aktualität die Neuigkeit, das gegenwärtig Bedeutsame meint, während mit Universalität des Inhalts auf die Themenvielfalt abgestellt wird.48 Aktualität und Universalität sollen hier aber in Analogie zu den bisherigen Definitionen als Anspruch auf inhaltliche Zugänglichkeit verstanden werden - trotz der oben angesprochenen Schwierigkeit hinsichtlich subjektiver Bedeutungszuweisungen. Um die beiden Begriffe dennoch für die Einordnung des Pressevertriebs nutzbar zu machen und sie vom Rezipienten zu trennen, wird Aktualität dabei als ein Anspruch auf thematische Nähe verstanden, wobei mit Nähe wiederum ein raum-zeitlicher Begriff verwendet wird.49 Universalität schließlich meint einen Anspruch auf thematische Offenheit, das heißt, daß theoretisch alle denkbaren Themen in einer Zeitung aufgegriffen werden können. Für den Pressevertrieb ist diese inhaltliche Dimension nur insofern von Bedeutung, als der Rezipient diesen Anspruch auf thematische Nähe und Offenheit durch ein vielfaltiges und umfangreiches Titelangebot in jeder Einzelverkaufsstelle erfüllt sehen möchte. Um die 47

Vgl. Wilke, Jürgen, Elisabeth Noelle-Neumann: Pressegeschichte. In: Noelle-Neumann, Elisabeth, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg.): Das Fischer Lexikon. Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 417-418. 48 Vgl. Hagemann, Walter: Grundzüge der Publizistik. Münster: Regensberg 21966, S. 31 und vgl. Dovifat, Emil: Zeitungslehre l. Theoretische und rechtliche Grundlagen, Nachrichten und Meinung, Sprache und Form (neu bearbeitet von Jürgen Wilke). Berlin, New York: deGruyter 6 1976, S. 23. 49 Dieser raum-zeitliche Zusammenhang ist nicht zwingend. So verwendet z.B. Merten einen Aktualitäts-Begriff, der sich aus den Kategorien Relevanz (Bedeutung) und Überraschung (Neuigkeit) zusammensetzt. Vgl. Merten, Klaus: Aktualität und Publizität. Zur Kritik der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik, 18. Jg. (1973), Nr. 3, S. 220.

28

2. Funktionale Systemtheorie

Erfüllung dieses Anspruches empirisch zu bestimmen, müssen die Titelangebote in qualitativer wie quantitativer Hinsicht ausgewertet werden, so daß sowohl die Zahl der Titel in einem Zeitschriftensegment als auch die verschiedenen Zeitschriftentypen zu berücksichtigen sind. Entsprechend dieser abgewandelten BegrifFsdefinitionen wird die Systematik von Groth in Abbildung 2 modifiziert. Abbildung 2 Dimensionen von Zugänglichkeit

Dimension

publizistikwissenschaftlicher Begriff

allgemein

Publizität __________ — Präsenz

räumlich zeitlich

Ubiquität "

— Erhältlichkeit .—— Präsenz

Periodizitat "

— Erhälüichkeit

Aktualität inhaltlich Universalität

Die bisherigen Ausführungen beschränken sich allein auf das Medium Zeitung. Obwohl eine Übertragung der Systematik auch auf die Zeitschrift wünschenswert wäre, um sich den beiden klassischen Pressemedien mit gemeinsamen publizistikwissenschaftlichen Begrifflichkeiten zu nähern, werden die beiden Medien wissenschaftlich als eigenständig betrachtet und zumeist getrennt voneinander analysiert. Die Eigenständigkeit geht dabei wohl auf die beiden inhaltlichen Dimensionen (im Sinne Groths) zurück, da sich Aktualität und Universalität nicht so eindeutig als Merkmale der Zeitschrift bestimmen lassen.50 Diese Schwierigkeit läßt sich auch daran erkennen, daß es in der Publizistikwissenschaft noch keine anerkannte Definition der Zeitschrift gibt. Die amtliche Pressestatistik behilft sich deshalb mit einem Definitionsver50

Groth spricht deshalb beim Medium Zeitschrift auch von der „Begrenzten" - im Sinne einer Begrenzung der einzelnen Zeitungsmerkmale - und spielt damit auf das Fehlen mindestens eines der beiden inhaltlichen Merkmale an. Vgl. Groth, Otto (1960), Die unerkannte Kulturmacht..., S. 396-440. Vgl. dazu auch Wilke, Jürgen, Elisabeth Noelle-Neumann, Pressegeschichte (Fischer Lexikon Publizistik)..., S. 427 und vgl. Pätzold, Ulrich, Horst Röper: Medienanbieter und Medienangebote vor dem Start des Lokalfunks in NordrheinWestfalen. Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 57-58.

2. Funktionale Systemtheorie

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such, nach dem als Zeitschriften „alle periodischen Druckwerke mit kontinuierlicher Stoffdarbietung angesehen [werden], die mit der Absicht eines zeitlich unbegrenzten Erscheinens mindestens viermal jährlich herausgegeben werden, soweit sie keine Zeitungen sind."51 Zeitschriften werden hierbei nicht als eigenständige Kategorie definiert, sondern nur in Abgrenzung zum Medium Zeitung, also in Form einer Negativ-Definition. Beschränkt auf den Pressevertrieb ist eine Differenzierung der inhaltlichen Merkmale jedoch nur von nachrangiger Bedeutung, da die notwendigen und die hinreichende Bedingung für die allgemeine Zugänglichkeit erfüllt sind. Ubiquität und Periodizität lassen sich zweifelsfrei auch bei der Zeitschrift feststellen, ebenso wie es (zumindest) eine inhaltliche Dimension gibt. Obwohl sich die Distribution von Zeitungen und Zeitschriften in weiten Bereichen sowohl bei der Vertriebsform als auch bei der Wahl der Vertriebswege unterscheidet, sind die drei Dimensionen von Zugänglichkeit bei beiden Printmedien vorzufinden. Festzuhalten bleibt, daß mit Blick auf die Einordnung des Pressevertriebs in einen publizistikwissenschaftlichen Gesamtzusammenhang der Begriff Zugänglichkeit eine zentrale Rolle spielt. Trotz dieser Bedeutung ist dem Gegenstand bislang nur wenig wissenschaftliches Interesse entgegengebracht worden. Zudem betrachten gerade Vertreter der Kommunikationswissenschaft die Zugänglichkeit eher als ein technisches Problem, besonders im Zusammenhang mit der Verbreitung von Fernseh- und Hörfunkprogrammen. Bei den Printmedien werden dementsprechend eher logistische und organisatorische Probleme berücksichtigt. Daß mit dem Begriff zugleich auch wirtschaftliche, rechtliche und politische Aspekte verbunden sind, dazu soll diese Arbeit einen Beitrag leisten. Ansatzweise sind bereits einige Anmerkungen zu einer genaueren Erfassung des Themenkomplexes gemacht worden, die im Zusammenhang mit der Bestimmung der publizistischen, wirtschaftlichen und politischen Funktionen des Pressegroßhandels weiter ausgeführt werden sollen.52

51 52

Statisches Bundesamt (Hrsg.): Fachserie 11: Bildung.... S. 6. Vgl. Kapitel „2.4. Funktionen des Pressegroßhandels", S. 36.

30

2. Funktionale Systemtheorie

2.2. Funktional-strukturelle Systemtheorie

Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft wird vom Selbstverständnis der in ihr arbeitenden Forscher heute fast ausschließlich als Sozialwissenschaft betrieben. In dieser Tradition sollten die Untersuchungsgegenstände dieser Teildisziplin in einen übergeordneten theoretischen Rahmen gestellt werden, der gesellschaftliche Entwicklungen in ihrer Gesamtheit zu erklären versucht. Zu den großen Gesellschaftstheorien zählen dabei unter anderem die Kritische Theorie, der Marxismus, unter dem Oberbegriff Handlungstheorien zusammengefaßte Einzeltheorien und die Systemtheorie. Da in der vorliegenden Arbeit die verschiedenen, am Aufbau des Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland beteiligten Organisationen und Gruppen hinsichtlich ihrer Ziele und Interessen analysiert werden sollen, bietet sich dafür die funktional-strukturelle Systemtheorie53 als erkenntnisleitende Theorie an. Denn dabei können die einzelnen Organisationen54 als Systeme aufgefaßt werden, deren Handlungsstrategien darauf ausgerichtet sind, ihre Ziele funktional - im Sinne einer Bestandserhaltung und Ausweitung ihres jeweiligen Einflußbereiches - zu erfüllen. Zudem sprechen weitere Gründe für die Anwendung der Systemtheorie:55 - Systemtheoretisches Denken hat den Anspruch, zur Klärung grundsätzlich aller sozialwissenschaftlichen Fragen beizutragen. In der vorliegenden Arbeit sollen die unterschiedlichen Ziele herausgearbeitet werden, die einerseits das politische, andererseits das wirtschaftliche System beim Aufbau eines Pressevertriebssystems

in

Ostdeutschland anstrebten. Da sich das Erklärungspotential der Systemtheorie nicht nur auf einzelne Aspekte soziologischer Forschung beschränkt, können mit ihrer Hilfe zum einen die Strategien der einzelnen beteiligten Organisationen analysiert werden, mit denen sie ihre Ziele erreichen wollten. Zum anderen können so auch die Strukturen und Machtverhältnisse erläutert werden, die für eine Erklärung der Ge-

53

Grundlegend hierfür sind: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21988 und Willke, Helmut: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme. Stuttgart, Jena: Gustav Fischer 41993. Zum leichteren Verständnis des Theoriegebäudes bietet sich an: Kneer, Georg, Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung. München: Fink 1993. 54 Der Organisationsbegriff, wie er hier verwendet wird, wird von Luhmann zur Bezeichnung eines Handlungssystemtyps benutzt. Als weitere Typen von Handlungssystemen nennt er Interaktions- und Gesellschaftssysteme. Vgl. Luhmann, Niklas (21988), Soziale Systeme..., S. 551-592. 55 Vgl. zum folgenden: Stöckler, Markus: Politik und Medien in der Informationsgesellschaft. Ein systemtheoretisch basierter Untersuchungsansatz. Münster: Lit 1992, S. 5-6.

2. Funktionale Systemtheorie

31

schehnisse herangezogen werden müssen. Die Systemtheorie beansprucht somit eine „fachspezifische Universalität", ohne dabei andere Theorieansätze von vornherein abzulehnen. - Ferner hat die Systemtheorie Eingang in sehr viele Wissenschaftsdisziplinen gefunden. So bietet sie auch für jede gesellschaftswissenschaftliche Disziplin einen gemeinsamen Forschungsansatz und gewährleistet damit die Möglichkeit einer multidisziplinär ausgerichteten Untersuchung. Im vorliegenden Fall sind zum Beispiel das politische und wirtschaftliche System mit ihren jeweils eignen (systeminternen) Zielvorstellungen zu berücksichtigen. - Schließlich hat sozialwissenschaftliche Forschung es stets mit komplexen, interdependenten Sachverhalten zu tun. Die Systemtheorie stellt mit der funktionalen Analyse eine Methode zur Untersuchung wechselseitiger Prozesse zur Verfügung, die auch hinsichtlich des gesellschaftlichen Transformations- und Integrationsprozesses beim Aufbau des ostdeutschen Pressegroßhandelssystems hervortraten. Auch die Systemtheorie bildet nur ein Dach, unter dem sich sehr viele verschiedene Spielarten systemtheoretischen Denkens versammeln. Ältere Vorstellungen gehen davon aus, daß die Strukturen eines Systems bereits (unveränderlich) festgelegt sind. Deshalb fragen die Vertreter dieses Ansatzes nach den Funktionen, die den Bestand eines Systems mit festen Strukturen gewährleisten. ** Da in der DDR mit der Neuorganisation des Pressevertriebs und speziell der Etablierung eines Pressegroßhandels eine neue Struktur erst geschaffen wurde, greift die vorliegende Arbeit auf ein systemtheoretisches Konzept zurück, das es erlaubt, die Struktur als nicht vorgegeben aufzufassen. Dieses Konzept wurde in den 70er Jahren und zu Beginn der 80er Jahre vom Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann vertreten und hat unter der Bezeichnung funktional-strukturelle Systemtheorie Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden.57 Aus dieser Bezeichnung gehen bereits die beiden Grundkategorien der Luhmannschen Systemtheorie hervor: Funktion und Struktur. Struktur im funktional-strukturellen Systemverständnis meint dabei eine Ordnung innerhalb eines Systems, die die Beziehungen der einzelnen Elemente zueinan55

Als wohl bekanntesten Vertreter dieses sogenannten strukturell-funktionalen Ansatz ist der amerikanische Soziologe Talcott Parsons zu nennen, der diesen Ansatz weitgehend entwickelt hat. Vgl. dazu Willke, Helmut (41993), Systemtheorie..., S. 5. 57 Seit Mitte der 80er Jahre richtet Luhmann sein Interesse verstärkt auf die Theorie autopoietischer Systeme, indem er soziale Systeme als autopoietisch, das heißt sich selbst erzeugend, auffaßt. Ohne weiter darauf einzugehen, sei als einführende Lektüre in den neuen systemtheoretischen Ansatz auch hier auf Kneer, Georg, Armin Nassehi (1993), Niklas Luhmanns Theorie... verwiesen.

32

2. Funktionale Systemtheorie

der bestimmt. Aber nicht so sehr sie, die Struktur, als vielmehr die Anforderungen an das Großhandelssystem, die Leistungen58, die von der Umwelt, hierbei besonders vom wirtschaftlichen und politischen System, nachgefragt werden, sollen in dieser Arbeit betrachtet werden. In der systemtheoretischen Konzeption Luhmanns wird der Funktionsbegriff dem StrukturbegrifF vorangestellt und danach gefragt, welche Funktionen Systeme haben. Konkret für den zu untersuchenden Gegenstand bedeutet dies zu fragen, welche Funktionen muß das Vertriebssystem beispielsweise aus Sicht der Verlage oder der Regierung der DDR erfüllen. Allgemein gesprochen ist die Funktion der Systembildung selbst die Reduktion von Umweltkomplexität. Komplexität bedeutet wiederum Unüberschaubarkeit und damit verbunden ein größeres Risiko störender Einflüsse, das durch eine Systembildung, eine Ordnung, vermindert werden soll. Beim Pressevertrieb wäre hierbei zum Beispiel an rechtliche Regelungen zu denken, die das Handeln der verschiedenen Interessengruppen beeinflussen. Die Systemtheorie geht von der Formulierung einer SystenWUmwelt-Differenz aus und unterstellt dabei, daß „die Umwelt nicht nur als bedingender, sondern als konsumtiver Faktor der Systembildung betrachtet wird."59 Dies hat bedeutenden Einfluß auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen, denn die isolierte Betrachtung eines Untersuchungsgegenstandes wird ersetzt durch eine eher ganzheitliche Analyse, bei der der Gegenstand immer im Zusammenhang mit seinem Kontext verstanden werden muß. Es reicht also nicht aus, beispielsweise nur die Handlungsstrategien der politischen Entscheidungsträger zu untersuchen, um den Aufbau des ostdeutschen Pressevertriebssystems zu erklären. Vielmehr sind deren jeweilige wirtschaftspoltischen Grundpositionen zu bedenken (also ob sie zum Beispiel die Bildung und/oder Förderung eines Mittelstandes in Ostdeutschland anstreben), genauso wie ihre Beziehungen zu verschiedenen wirtschaftlichen Interessengruppen zu berücksichtigen sind (ob es möglicherweise persönliche Verflechtungen zwischen Vertretern des politischen Systems und Repräsentanten einzelner wirtschaftlicher Verbände gibt).

58

Der Begriff .Leistung" findet in systemtheoretisch orientierten Arbeiten keine einheitliche Verwendung und wird sogar häufig mit dem Begriff .Funktion" gleichgesetzt. Dabei beinhaltet der Begriff »Leistung" eine normative Komponente, die eine Unterscheidung in funktionale und dysfunktionale Leistungen sinnvoll macht. Da aber die Systemtheorie gerade nicht mit normativen Erklärungsansätzen arbeiten will, existiert hier ein Widerspruch. In der vorliegenden Arbeit soll auf den Begriff .Leistung" weitgehend verzichtet werden. .Leistung" soll hier nur dann benutzt werden, wenn die Umwelt eine Leistung von einem System nachfragt, worauf dieses mit einer Funktion antwortet. Zur unpräzisen Begriffsverwendung vgl. auch das Schaubild bei: Merten, Klaus: Wirkungen von Kommunikation. In: Merten, Klaus. Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 293. 59 Willke, Helmut (41993), Systemtheorie..., S. 7.

2. Funktionale Systemtheorie

33

Für die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft ist, nach Luhmann, eine funktionale Differenzierung charakteristisch, bei der die sich bildenden Teilsysteme mit ihren spezifischen Funktionen gegenseitig nicht substituierbar sind.60 Einzelnen Systemen können somit Funktionen eindeutig zugeordnet werden, wobei die Funktion das kennzeichnende Merkmal des einzelnen Systems ist und diesem von der Umwelt jeweils zugeschrieben wird: Ein System wird sozusagen über seine Funktionen definiert. Sobald ein System seine Funktionen nicht mehr ausreichend erfüllen kann, differenziert es sich in weitere Unter- oder Subsysteme aus und versucht auf diese Weise, neue Kapazitäten für die geforderten Problemlösungen zu entwickeln. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand wurden durch die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Oktoberwende 1989 neue Anforderungen an der Pressevertriebssystem der DDR gestellt, die es alleine nicht mehr bewältigen konnte. Subsysteme in Form neuer Interessengruppen entstanden, die zur Problemlösung beitragen wollten, zugleich aber auch ihre eigenen Ziele verfolgten, wodurch sich wiederum neue Probleme und Anforderungen entwickelten. Mit der weiteren funktionalen Ausdifferenzierung wird das System zugleich interne Umwelt für die neuen Subsysteme, so daß stets eine System-/Umwelt-Differenz besteht. Letztlich führt der Prozeß der Ausdifferenzierung zu einer Spezialisierung und damit gesteigerter Handlungsfähigkeit der einzelnen Systeme. Diese Spezialisierung versetzt das System in die Lage, auf Anforderungen der Umwelt mit Vorschlägen zur Problemlösung zu reagieren und sie der Umwelt schließlich wieder als Handlungsalternative zur Verfugung zu stellen. Allgemeiner gesprochen bedeutet dies, daß die Umwelt Leistungen nachfragt, die ein System nach internen Operationen funktional erfüllt. Abbildung 3 stellt diesen Vorgang stark vereinfacht dar.

60

Damit ist aber nicht gesagt, daß die Funktionen eines Systems nicht durch Alternativen ersetzt werden können. So kann die Funktion des Vertriebs von Zeitungen und Zeitschriften durch ein privatwirtschaftlich organisiertes oder durch ein öffentlich-rechtliches Vertriebssystem erfüllt werden. Luhmann hat für diese Alternativen den Begriff der „funktionalen Äquivalente" eingeführt. Vgl. dazu Kneer, Georg, Armin Nassehi (1993), Niklas Luhmanns Theorie..., S. 38-39.

2. Funktionale Systemtheorie

34

Abbildung 3 Skizzierte Svstem-/Umwelt-Beziehung61

Umwelt stellt Anforderungen fragt Leistungen nach systeminterne Operationen \ •^ zur Lösung des Problems

Im folgenden soll der gerade entworfene theoretische Rahmen als Erklärungsmuster für die soziale Realität des Pressevertriebs herangezogen werden. Dazu ist es zunächst einmal erforderlich, Systeme zu bestimmen. Die vorliegende, sozialwissenschaftlich orientierte Arbeit interessieren besonders die gesellschaftlichen Auswirkungen, die mit dem Aufbau eines ostdeutschen Pressegroßhandelssystems direkt oder indirekt verbunden sind. Entsprechend wird die funktionale Analyse mit Blick auf die Gesellschaft als umfassendstes soziales System durchgeführt, das sich wiederum in zahlreiche Teilsysteme ausdifferenziert. Aufgrund der Komplexität des systemtheoretischen Herangehens soll und kann die Analyse nur das wirtschaftliche, das politisch-rechtliche und das publizistische System einbeziehen. Die funktionale Analyse benötigt dabei ein Bezugssystem, auch fokales System genannt, von dem aus die Funktionen für die relevanten Umwelten hinterfragt werden. Als fokales System der vorliegenden Arbeit wird das System Pressegroßhandel festgelegt und von dort die Analyse begonnen. Abbildung 4 gibt einen Überblick über Teilsysteme, die für den Pressegroßhandel relevant sind.62 61

Zum Begriff „interne Umwelt" vgl. Luhmann, Niklas (21988). Soziale Systeme..., S. 37; zum Begriff .fokales System" vgl. Willke, Helmut (41993), Systemtheorie..., S. 58. 62 Möstl, der bereits in den frühen 70er Jahren diesen systemtheoretischen Ansatz zur Analyse des Pressevertriebssystems wählte, differenziert in seiner Arbeit das Gesell-

2. Funktionale Systemtheorie

35

Abbildung 4 Fokales System Pressegroßhandel und relevante Umwelten

Gesellschaft

wirtschaftliches System

publizistisches System

Medienwirtschaft

Presse

Pressewirtschaft

Pressevertrieb

Verlagswirtschaft

( Pressezroßhandel} ^" Pressezroßhandel*}

politisches System

Medienpolitik

Pressepolitik

Pressevertriebspolitik

Vertriebsabteilung

Der Erklärungswert dieses Überblicks besteht darin, daß neben dem fokalen System auch dessen relevante Umwelten benannt werden und damit der vielfach sehr allgemein gebrauchte Begriff Umwelt konkretisiert wird.63 Als relevante Umwelten werden dabei die Teilsysteme betrachtet, bei denen eine Veränderung mittelbar oder direkt Einfluß auf das fokale System hat. So kann zum Beispiel die Forderung nach veränderten Rahmenbedingungen der Eigentumsverhältnisse im System Pressewirtschaft durch das System Pressepolitik Auswirkungen auf den Pressevertrieb und damit auf den Pressegroßhandel haben.

Schaftssystem nur ansatzweise weiter aus. Vgl. Möstl, Reinhard (1974), Der Absatz von..., S. 36-37. 63 Die Übersicht der relevanten Teilsysteme für den Presse-Großhandel ist sicherlich nicht vollständig. So bleiben technische Entwicklungen unberücksichtigt, obwohl sie durchaus bedeutsame Auswirkungen auf das Großhandelssystem haben können. Auch das Rechtssystem wird in der Übersicht nicht eigens ausgewiesen, sondern wird mit dem politischen System verbunden. Dies erscheint möglich, weil das politische System seine Forderungen über Gesetzgebungsverfahren in positives Recht umsetzt. Somit entwickeln sich politisches und rechtliches System auch auf den einzelnen Systemebenen in Abhängigkeit voneinander, ohne aber gleichgesetzt zu werden. Dennoch soll das Rechtssystem zumindest in der Analyse teilweise mit einbezogen werden. Letzteres gilt auch für andere relevante Umwelten, wie sie der Presseeinzelhandel, der Lesezirkel als alternativer Absatzweg oder die werbetreibende Industrie darstellen.

36

2. Funktionale Systemtheorie Dieses Beispiel verdeutlicht einen weiteren Aspekt systemtheoretischen Den-

kens: Danach wird nicht nur Personen, sondern auch Systemen eine Handlungsfähigkeit zugeschrieben.64 Systeme bestehen unter anderem auch aus Personen, die nicht als Einzelpersonen, sondern als Mitglieder einer Organisation oder Gruppe Entscheidungen treffen und handeln, als Interessenvertreter nicht zuletzt gerade im Sinne ihrer Organisation. Diese Betrachtungsweise wird in der vorliegenden Arbeit genutzt, indem die Akteursgruppen, die am Neuaufbau des Pressegroßhandelssystems in Ostdeutschland beteiligt waren, als Systeme gedacht werden. Bei diesen Akteuren ist insbesondere an die verschiedenen Verlagsunternehmen, Verleger- und GrossistenVerbände, aber auch an Parteien und Regierungen zu denken, deren Geschäftsführer, Vorstandmitglieder oder Minister zwar Einzelpersonen sind, aber als Interessenvertreter ihrer jeweiligen Organisation oder Institution handeln. Somit können diese Gruppen, Organisationen oder Systeme unmittelbar als Handelnde aufgefaßt, beschrieben und interpretiert werden. Auch der in dieser Arbeit stark betonte historische Aspekt läßt sich schließlich systemtheoretisch beschreiben, da besonders die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in Ostdeutschland Gegenstand der Untersuchung sind. Die Systemtheorie bietet hierbei die Möglichkeit, Ausdifferenzierungsprozesse zu benennen und zu erklären sowie auf Handlungsalternativen bei getroffenen Entscheidungen hinzuweisen. Auf diese Weise kann wiederum indirekt auf die dahinterstehenden Handlungsstrategien einzelner Akteure geschlossen und zugleich können auch sich verändernde Einflußfaktoren oder Machtverhältnisse gegebenenfalls aufgezeigt werden.

2.3. Funktionale Analyse

Wie bereits erläutert wurde, stellt die Systemtheorie mit der funktionalen Analyse eine Methode zur Verfugung, um gesellschaftliche Veränderungsprozesse oder aber auch Entwicklungen in gesellschaftlichen Teilsystemen, etwa dem wirtschaftlichen oder rechtlichen, zu untersuchen.65 Auch der Aufbau des Pressegroß64

Vgl. Willke. Helmut ?·.. -jO

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246

8. Anhaig

8.7. Entwicklung der Presse-Verkaufsstellenzahl (Grosso) in den neuen Bundesländern

Bezirke und Kreise der el>