Praxisbuch Trauerbegleitung: Trauerprozesse verstehen, begleiten, verwandeln [1. Aufl.] 978-3-662-59099-7;978-3-662-59100-0

Mit diesem Fachbuch erhalten in der Trauerarbeit tätige Menschen eine praxisnahe Einführung in grundsätzliche Aspekte de

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German Pages VIII, 94 [100] Year 2019

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Praxisbuch Trauerbegleitung: Trauerprozesse verstehen, begleiten, verwandeln [1. Aufl.]
 978-3-662-59099-7;978-3-662-59100-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema (Jutta Bender)....Pages 1-14
Trauerphasen erkennen und begleiten (Jutta Bender)....Pages 15-23
Trauerbegleitung in der Praxis (Jutta Bender)....Pages 25-70
Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung (Jutta Bender)....Pages 71-85
Anhang: Texte und Informationen (Jutta Bender)....Pages 87-92
Back Matter ....Pages 93-94

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Jutta Bender

Praxisbuch Trauerbegleitung Trauerprozesse verstehen, begleiten, verwandeln

Praxisbuch Trauerbegleitung

Jutta Bender

Praxisbuch Trauerbegleitung Trauerprozesse verstehen, begleiten, verwandeln

Jutta Bender Göppingen, Deutschland

ISBN 978-3-662-59099-7 ISBN 978-3-662-59100-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © shapecharge/Getty Images/iStock Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Geleitwort Im Mai 2007 lernte ich Jutta Bender bei einer Fortbildung zur Trauerrednerin kennen. Schon damals bemerkte ich ihre tiefe Zuwendung zum Menschen, ihr großes Interesse an der Persönlichkeit des Sterbenden bzw. an der Biografie des bereits Verstorbenen und bewunderte ihren selbstverständlichen, achtsamen Umgang mit der Trauer der Angehörigen. Im Jahre 2014 machte ich in der Bodenseeregion eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Hospizbegleiterin. Seitdem begleite ich mit großer Achtung vor dieser Aufgabe Menschen auf ihren letzten Lebenswegen. Dazu gehört unter anderem auch, die Angehörigen in ihrer Trauer zu stützen. Jutta Bender öffnet im vorliegenden Buch ihre große Schatzkiste und lässt den Leser an ihrem Wissen, ihren theoretischen und praktischen Kenntnissen und Erkenntnissen und vor allem an ihren reichhaltigen, wertvollen Erfahrungen als langjährige Begleiterin von Trauernden teilhaben. „Gebt dem Tod und der Trauer ihre Selbstverständlichkeit zurück!“ Das ist eines der großen Anliegen der Autorin. Wie es gelingen kann, den Tod und die Trauer zuzulassen und ganz selbstverständlich ins Leben hinein zu holen, dazu liefert Jutta Bender viele erhellende und ermutigende Beispiele. Ihr eigenes Vertrauen ins oft auch schwierige Leben, ihre pragmatische Klarheit, ihr tiefsinniger Humor und ihre einfühlsam zupackende Art unterstützen und geleiten den Trauernden. So kann er, liebevoll getröstet und begleitet, seinen eigenen Trauerweg selbst bis zu einem heilsamen Ende gehen. Kann man das lernen, dieses Verständnis für Tod und Trauer aufzubringen? Kann man das lernen, Trauernde achtsam auf ihrem Weg zu begleiten? Kann man das lernen, Trauerprozesse sinnvoll zu unterstützen? Ja, Sie haben mit diesem Buch beste Hilfe in der Hand. Gerdi Zidek-Morlok

Vorwort „Wie störend ist Trauer?“ So der etwas provokante Titel eines Fachkongresses. Die ­Referenten und das große Auditorium kommen aus unterschiedlichsten, oft sozialen Berufen, haben alle zahlreiche Berührungspunkte mit Trauer und Trauernden, und allen ist ein grundlegendes Bedürfnis gemeinsam: Sie wünschen sich, dass Trauer niemanden „stören“ solle, dass Trauernde und Begleitende immer besser und schließlich wieder ganz offen mit dem Thema umzugehen lernen. Wen also und wie könnte sie denn stören, die Trauer? Den Trauernden selbst oder jene, die es in der Familie, der Partnerschaft oder im Kollegium mit dem Trauernden aushalten müssen? Wo und wie stört sie, die Trauer? Senkt das Traurigsein womöglich das Leistungs-Niveau im Beruf? Oder ist der Trauernde überhaupt eine deplatzierte Figur im ach so coolen Alltags-Theater? Trauer verändert den Menschen, und selten ist der Betroffene selbst sich dessen so recht bewusst. Allen, die mit Trauernden zu tun haben, fallen spontan viele, wenn auch unterschiedlichste Episoden ein, die als Beispiele für die Stör- und Zerstörungskraft der Trauer ­gelten dürfen. Und doch gibt es „gute Trauer“. So schmerzhaft der Anlass auch ist: Gute Trauer ist derjenige Prozess, welcher hilft, dass der Schmerz allmählich abklingt und der Betroffene selbst sein Leben wieder als lebenswert betrachtet. Zuerst ist es darum an uns, den Außenstehenden, Trauer nicht als Störfaktor zu betrachten, sondern uns um ein Mitfühlen, Hineindenken und Begleiten des trauernden Mitmenschen zu bemühen und ihn zu ermuntern und zu ermutigen, mitzukommen zu lebendigen Gesprächen und Unternehmungen. Dieser Aufgabe sind meine nachfolgenden Ausführungen gewidmet. Das Buch ist aus meiner mehr als zwanzigjährigen Praxis als Trauerrednerin und Trauerbegleiterin entstanden. Es wäre freilich nicht ohne diejenigen zustande gekommen, die ich im Lauf meiner Arbeit begleiten durfte. Ihnen und ihrem Mut, ihren bewegenden Lebensgeschichten verdankt dieses Buch alles! Mein Dank gilt gleichfalls Irina Hradsky, Gerdi Zidek-Morlok und Dr. Christoph Schubert-Weller für ihre Beiträge. Dr. Christoph Schubert-Weller im Besonderen als Geburtshelfer und Lektor des Buches. Erlauben Sie mir, liebe Leserinnen und Leser, die althergebrachte Ausdrucksform ohne Geschlechtstrennung zu verwenden. Sie schreibt sich einfacher und, wie ich meine, liest sich auch besser. „Der Verstorbene, der Patient“, wie auch der „Leser und Begleiter“ meint freilich gleichermaßen wertgeschätzt immer auch die weibliche Person. Danke. Jutta Bender

Göppingen 1. Februar 2019

VII

Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Unser Ziel: Rückkehr ins Gleichgewicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Trauer ein Tabuthema? Längst nicht mehr!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Trauer: Fähigkeit und Notwendigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Trauer im Wandel der Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der Tod und seine Masken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Sterben müssen – sterben dürfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Abschied: Ohne Eile, ohne Aufschub. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Abschied – und Wiedersehen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zeitlosigkeit der Seele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Trauer also: Was ist das?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Trauerphasen erkennen und begleiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Merkmale und Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Mut zur Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Veränderte Konstellationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Risikofaktoren erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Komplizierte Trauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Weiterlebens-Strategien entwickeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Theorie und Praxis, Wissenschaft und Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Traurig oder krank? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Trauerbegleitung in der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3 3.1 Stationen im Trauer-Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2 Sind Sie (noch immer) bereit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.3 Gesamtschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.4 Leben, Tod und Sterben: Die Auseinandersetzung gibt Halt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.5 Unser Treffpunkt: Deine Traurigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.6 Mehrfacher Verlust, unterschiedliche Bindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.7 Moderationshilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.8 Erschwerung des Trauerverlaufs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.9 Unterstützende Voraussetzungen des Trauerverlaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.10 Einzelprobleme in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.10.1 Wut und Kampf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.10.2 Zweifel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.10.3 Trauer-Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.10.4 „Alleine schaffe ich das nie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.10.5 Die Trauer steckt in allen Gliedern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.10.6 Von Anfang an begleiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.10.7 Die Türe zur verletzten Seele öffnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.10.8 Zielgerichtet fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.10.9 Abschieds-Erfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.11 3.11.1 3.11.2 3.11.3 3.11.4 3.11.5 3.11.6 3.11.7 3.11.8 3.11.9 3.11.10

Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art. . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Trauerhaltestelle als neue Form des Gedenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Das fehlende Grab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Trost und Trostbedürfnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Erinnerungen -Trost oder Last?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Schuldgefühle und Selbstvorwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Bildhaftes Skizzieren des Umfelds. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Allgemein: Schreiben hilft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Ankerplätze, Rituale und Aktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Positiv mobilisierende Aktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Trauer ist Stress – Angebote zur Entspannung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2

Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Ein Wochenend-Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Vorbereitungen und erster Abend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Zweiter Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Dritter Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Kreative Trauerarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Ein Windspiel aus Erinnerungen basteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Das Trauer-Schatzkästlein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

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Anhang: Texte und Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Serviceteil Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

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Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema 1.1 Unser Ziel: Rückkehr ins Gleichgewicht – 3 1.2 Trauer ein Tabuthema? Längst nicht mehr! – 3 1.3 Trauer: Fähigkeit und Notwendigkeit – 4 1.4 Trauer im Wandel der Zeit – 4 1.5 Der Tod und seine Masken – 5 1.6 Sterben müssen – sterben dürfen – 7 1.7 Abschied: Ohne Eile, ohne Aufschub – 8 1.8 Abschied – und Wiedersehen? – 9 1.9 Zeitlosigkeit der Seele – 11 1.10 Trauer also: Was ist das? – 12

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Bender, Praxisbuch Trauerbegleitung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0_1

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

Die Trauer eines Mitmenschen zu begleiten verlangt vom Begleiter, dass er seine eigenen Gefühle und Emotionen zuzulassen vermag. Emotionen und Gefühle sind als Wegleitung auf diesem Feld mindestens so wichtig wie Verstand und Vernunft. Denn rein rational ist Trauer kaum vollständig zu verstehen und zu erfassen.

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» „Der Tod ordnet die Welt neu, scheinbar hat sich nichts

verändert, und doch ist die Welt für uns ganz anders geworden“ (Aus: Antoine de Saint Exupéry: Der kleine Prinz. Düsseldorf 1950 (zuerst frz. 1943)).

Auswirkungen des Todes auf die nächsten Angehörigen

Zeit und Raum sind vom Menschen geschaffene Maßeinheiten. Sie helfen uns, den Alltag und das Leben zu strukturieren. Innerhalb dieser Gesamtordnung ist unsere Vorstellung, wie lange ein Menschenleben dauern darf, und wann mit dem Lebensende zu rechnen ist, wie selbstverständlich weit weg auf die lange Bank der Zukunft geschoben. Eine der härtesten Erfahrungen für unser Gemüt ist jener Augenblick, wenn eine Lebens-Zeit durch Erkrankung zu wanken beginnt oder durch den Tod unwiderruflich zu Ende ist. Die Dauer eines Lebens ist ungewiss. Jeder weiß das eigentlich, doch um sorglos zu leben, gelingt es uns, das Nachsinnen darüber weitgehend zu vermeiden. Für den beim Tod zurückbleibenden Menschen scheinen sich im Trennungsschmerz Zeit und Raum aufzulösen. Mühsam und schwer ist der Weg in die nun veränderte Lebenswirklichkeit und neue Zeitrechnung. Jetzt gibt es in jeder Erinnerung ein Davor und Danach. Nicht selten wird versucht, an der bisher gelebten Beziehung krampfhaft fest zu halten. Zuweilen werden Verlust und Abschied für eine unbestimmte Dauer ganz verleugnet. Die Wahrnehmungen der Betroffenen reichen vom normalen Schmerz bis zu intensivsten, quälenden Trauerreaktionen, die physisch und psychisch empfunden werden. Unstillbare Sehnsucht ergreift den einen, Wut und Verzweiflung, begleitet von Schlaflosigkeit, fehlendem Appetit den anderen. Alltagsanforderungen bleiben unbeachtet. Zumindest zeitweise scheint das Vertrauen nach allen Richtungen verloren. Mancher Angehöriger hat sich selbst und seine Bedürfnisse ob all der Fürsorge für den anderen, den Kranken, den pflegebedürftigen Patienten vor dessen Tod gänzlich vernachlässigt und ist nun am Ende seiner Kräfte. Auf der Skala schwerer belastender psychischer Erfahrungen steht Trennung und Trauer ganz oben. Nicht selten ziehen sich die dem Tod vorausgegangenen oder vom Schock verursachten Stress-Reaktionen lange in die Trauerzeit hinein. Tief erfahrener Schmerz und Schockerlebnisse können im schlimmsten Fall traumatisieren. Wenn ein Verdacht in dieser Richtung besteht, muss ein Facharzt hinzugezogen werden. Er stellt die Diagnose, ihm allein obliegt die Behandlung.

1.2 · Trauer ein Tabuthema? Längst nicht mehr!

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1.1  Unser Ziel: Rückkehr ins Gleichgewicht

Gleich hier, sozusagen noch am Start unserer Arbeit, möchte ich das Ziel benennen, das gelungene Trauerarbeit herbeiführt: Das liebevolle Gedenken wird bewahrt, die seelische Auflehnung ist gestillt. Das Zeitempfinden ist ein psychologischer, subjektiver innerer Vorgang, der gerade in Umbruchsituationen störanfällig ist und ins Wanken gerät. Dann liegen „Vorher“ und „Nachher“ im Konflikt miteinander. Allerdings sollte ja das Erleben, sollten die Bilder von „Vorher“ und „Nachher“ friedlich zueinander finden, sollte der Graben dazwischen überbrückt werden. 5 Am Ziel also ist der Trauernde wieder in der zeitgebundenen Realität. Die Gegenwart, das Hier-und-Jetzt-Empfinden dominiert 5 Der Trauernde hat wieder im eigenen Leben Fuß gefasst. 5 Die Trauer-Last der Vergangenheit ist vor Anker gegangen und treibt nicht mehr weiter fort in die Gegenwart. 5 Die Gegenwart wird ergriffen, aktuelle Forderungen des Alltags werden erkannt und erfüllt. 5 Die Zukunft ist frei von furchtbesetzten Erwartungen, das Weiterleben ist deutlich erkennbar geworden und ist reich mit Plänen, Wünschen, frohen Hoffnungen und Zielsetzungen erfüllt. An welcher Stelle wir dem Trauernden begegnen, in welcher Phase seines Fortschritts auf dem Pfad zum Gleichgewicht, müssen wir herausfinden. Es wäre quälend, den Trauernden wieder in Gemütsverfassungen zu treiben, die er unter Umständen schon hinter sich gelassen hat. 1.2  Trauer ein Tabuthema? Längst nicht mehr!

Trauer ist kein Tabuthema mehr, vielmehr läuft der Begriff Gefahr, mehr und mehr „vermarktet“ zu werden. Gibt man etwa das Wort „Trauer“ in Suchmaschinen ein, landet man bei weitem nicht nur auf Portalen, die wirklich Hilfreiches zum Thema anbieten. Längst ist „Trauer“ auch ein Key-Word, das zusätzliche Klicks generiert. Öffentliche Trauer mit Bergen von Blumen und einem Meer von Kerzen samt allerlei Rührseligem wie Teddybären und Windrädchen am Ort eines oft grauenhaften Geschehens vermittelt zuweilen den Eindruck eines Events. Da geht man hin, auch wenn man eigentlich in keinem irgendwie gearteten Verhältnis zu den Opfern oder Angehörigen steht. In kritischen Fachkreisen ist bereits vom „Trauer-Voyeurismus“ die Rede. In

Der Tod löst Zeit und Raum

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

1 Trauervielfalt

einem Gespräch über dieses „Event-Trauern“ meinte ein Kollege: „Vielleicht ist das einfach eine Gelegenheit, unbewusst angesammelte, undefinierte eigene Trauer los zu werden!“ Fernab des Rummels allerdings in der stillen Kammer des tatsächlich unmittelbar Betroffenen, der einen geliebten Menschen verloren hat, ist der Trauernde oft ganz allein und auf sich selbst gestellt. Traurig sein, Tränen zeigen, und darum „schlecht drauf “ zu sein, verstehen die meisten Mitmenschen gerade mal ein paar Tage oder Wochen lang – aber bitte nicht länger! Woher also den Mut nehmen, auch Monate nach dem Abschied noch wiederholt in Tränen oder Wut auszubrechen? Wann ist jene Schonzeit vorbei, in der sich Trauernde unverstanden fühlen und einfach mal wieder einen Tag lang den Kopf hängen lassen dürfen? Vermeintliche Hilfe bieten immer mehr sogenannte Trauerportale. Doch tatsächlich kann das Foto „Zum immerwährenden Gedenken“, auf Ewigkeit in einem der unzähligen Web-Portale ins Internet-Universum gestellt, das Gefühl der Wehmut und den Schmerz des Verlustes wohl in den seltensten Fällen nachhaltig beruhigen. Eher bedarf der Betroffene aktiver Zuwendung. Denn Trauer greift tief ins Gemüt, verändert die Lebensumstände und nicht selten die Lebensqualität, besonders dann, wenn durch den Tod des Partners oder der Eltern plötzlich auch materielle Unterstützung oder alltäglich notwendige Hilfe wegbricht. 1.3  Trauer: Fähigkeit und Notwendigkeit

Trauern ist eine unserer ursprünglichsten Emotionen. Auch wenn sich der Trauer im 21. Jahrhundert der Jugend- und Machbarkeitswahn scheinbar entgegenstellt, bleibt sie ein in jedem Leben mehrfach gegebenes und durchlebtes Merkmal des Menschseins. Die Trauer, von der wir in diesem Buch sprechen, ist eine Reaktion. Ihr Auslöser ist der Tod eines anderen Menschen. Die damit verbundenen Gefühle verlangen Beachtung und intensiven Umgang mit der Trauer. Der Trauerprozess bringt, wenn er gut durchlaufen wird, den Betroffenen durch alle Nöte und Verwirrungen hindurch auf einen Weg nach vorn in eine wieder stabile Zukunft. Wenn Trauer im schmerzhaften Stillstand und im Blick zurück verharrt, drohen kränkende, körperliche und seelische Störungen, drohen Einsamkeit und Resignation. 1.4  Trauer im Wandel der Zeit

Schauen wir in Mitteleuropa zurück, so sind die Zeiten, als der Tod ständiger Begleiter der Menschen war, nicht so sehr weit entfernt. Überwiegend getragen vom Glauben und von

1.5 · Der Tod und seine Masken

kirchlicher, liturgisch-ritueller Begleitung war Trauer selbstverständlich akzeptiert. Hauptsächlich die Verwandten und die Seelsorger kümmerten sich um die Sterbenden und um die Angehörigen. Die mit den späten Fünfziger Jahren anbrechende Epoche des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs zwang das leidige Thema von Tod und Trauer vorerst in eine verschwiegene Ecke. Das passte irgendwie nicht in die moderne Gesellschaft. Lektüre darüber fand sich kaum. In den USA und in Mitteleuropa kam es dann nach einer Phase der Verdrängung wieder zu verständnisvoller Zuwendung zu diesem Thema. Zahlreiche Forscher und Gruppen arbeiten seit Ende der Sechziger Jahre wissenschaftlich an den Fragen rund um Tod und Trauer. Nachbarschaftliche und geistliche Betreuung verloren jedoch an Bedeutung. Die neue Zeit bedurfte einer neuen Disziplin: der Trauer-Begleitung, die sich zumindest nicht ausschließlich an vorgegebene Liturgien klammert. Die Menschen sind heute aufgeschlossen und umfassend informiert. Viele haben Erfahrungen mit Meditation, Yoga und Coaching und wissen um viele Möglichkeiten, Krisen zu lindern und zu bewältigen. Dieses Buch richtet sich also an jene, die bereits helfend tätig sind oder die nach selbst erfahrenem Leid aktiv werden und im menschlichen Miteinander etwas ändern und verbessern wollen. Willkommen also, liebe Leserin, lieber Leser! Schön, dass Sie die entsprechende Kraft in sich verspüren, schön, dass Sie außerdem die Zeit zur Trauerbegleitung aufbringen möchten.

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Trauer – zurück aus der Verdrängung

1.5  Der Tod und seine Masken

Alltäglich schauen uns die vielen Gesichter des Todes aus aller Welt ins Wohnzimmer. Ich meine nicht die Krimis, die viele freiwillig konsumieren, ich meine die Todesnachrichten aus der ganzen Welt: Terror, Krieg, Familiendramen, Naturkatastrophen – die Medien sind voller dramatischer Bilder. Es bleiben Momentaufnahmen, oft unmittelbar von weiteren Tragödien übertönt. Glücklicherweise graben sie sich nicht alle in unser Gemüt. Es wäre sonst unerträglich. Die Begegnung mit dem Tod im engsten Umfeld, der nahe miterlebte Sterbevorgang ist gänzlich anders und bemächtigt sich aller Gefühle und Gedanken. Als Trauerbegleiter dürfen wir den Tod, das Todesgeschehen nicht ausblenden. Das vorangegangene Todesereignis ist die Ursache der Trauer und Auslöser aller Trauerreaktionen und muss deshalb mit Sorgfalt in die Gestaltung der Trauererschließung mit aufgenommen werden. Bilder stellen den Tod als verkörperte, meist schrecklich anzuschauende, Furcht erregende Mannsgestalt dar. Der

Zentrales Thema Tod

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

„Gevatter Tod“ wird in einer Allegorie personifiziert, damit man sich den Tod bildlich vorstellen kann. Es ist gut, dass wir diese mittelalterliche Betrachtung hinter uns gelassen haben. Der Tod, oder besser gesagt, das, was im Todesereignis und anschließend mit dem Sterbenden geschieht, ist und bleibt uns voraussichtlich bis zum eigenen Lebensende völlig unbekannt. Vielerlei „Todesbilder“ und Spekulationen begegnen dem, der hier auf Suche ist. Die ältesten Beschreibungen des Todes finden sich in archaisch-magisch geschilderten Mythen und Totenbüchern. Etwas rationaler werden die Betrachtungen im 19. Jahrhundert durch die aufkommende Tiefenpsychologie. Wer mag, sollte es wagen, sich durch gründliches Erforschen einem eigenen Verständnis anzunähern. Ich bin davon überzeugt, dass die intensive Auseinandersetzung mit diesem, zugegeben schwierigen Thema, viele Impulse birgt, welche helfen, Trauernde zu unterstützen, und Trauer, die Trauernden und deren Reaktionen zu verstehen, zu mildern und zu wandeln.

» „Von Homer bis Tolstoi findet sich eine naive und spontane

Fügung ins Schicksal, den Willen der Natur oder Gottes, die den Tod wie jeden großen Wendepunkt des Lebens mit einer Zeremonie und Ritualen begeht. Dies endet jedoch schon Ende des 18.Jahrhunderts. Die Gemeinschaft bezeugt ihre Verbundenheit mit dem einzelnen, begleitet den Sterbenden und stellt ihre durch den Verlust eines ihrer Mitglieder geschwächte Einheit durch die Zeremonie wieder her. „Der Tod war mithin kein persönliches Drama, sondern eine Prüfung der Gemeinschaft, die sich verpflichtet fühlte, die Kontinuität der Gattung aufrecht zu erhalten.“ … „Daneben gewinnt seit dem 12. Jahrhundert die Vorstellung einer unsterblichen Seele als Sitz des Individuums und damit der eigene Tod an Bedeutung.“ Seit dem 19. Jahrhundert fürchtet die sich auf das Privatleben beziehende Gefühlswelt vor allem den Tod des anderen: Das Jenseits wird zum Ort der Wiedervereinigung mit dem nahen und geliebten Familienmitglied. Alle diese den Tod ausdrücklich thematisierenden Vorstellungen wirken noch heute, werden aber von einem neuen Umgang mit dem Tod überlagert: „Die Gesellschaft hat den Tod ausgebürgert“, sie legt wegen Todesfällen keine Pause mehr ein, unterbricht nicht länger ihren Gang. Die Lösung vom Toten verliert ihren Prozesscharakter“ (Aus: Sigbert Gebert: Sinn – Liebe – Tod. Philosophisch-soziologische Studien 2003).

» „Ich weiß, das Geheimnis des Todes würdet ihr gern kennen.



Es gibt nur einen Weg es zu finden; schaut in euer Leben.

1.6 · Sterben müssen – sterben dürfen



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In euch, doch wie in Meerestiefe, liegt stille Kenntnis vom Jenseits, eingebettet in eure Hoffnungen und Sehnsüchte. Und wie Samenkörner träumend unter Schnee verborgen, so ist eure Hoffnung vom neuen Leben. Nehmt diese Träume an, sie sind das verborgene Tor zur Ewigkeit“ (Aus: Khalil Gibran (Libanon) 1883–1931, 1923 vom New Yorker Verlag Knopf veröffentlicht Buch-Titel: Der Prophet „Von Tod“ u. A. Dtv 12. Auflage, 2017 Ausgabe 2003, S. 81 Übersetzung aus dem Englischen: Frank Maibaum – mit freundlicher Genehmigung von dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG).

1.6  Sterben müssen – sterben dürfen

Die weitgehend technisierte Versorgung kranker Menschen hat zwei Seiten. Da ist maximale Hilfe ein Segen, solange ein Mensch eine gute Chance hat, zu überleben oder gar gesund zu werden. Dagegen erlebt etwa die Familie die nicht enden wollende maschinen- und pharmagestützte Übertherapie am todkranken Angehörigen als schmerzhafte Qual. Tatsächlich sieht es leider zuweilen so aus: Der Sterbenskranke wird, solange es Medikamente und Maschinen hergeben, nicht in Frieden losgelassen, es sei denn, er hat rechtzeitig überzogenen Maßnahmen schriftlich in einer Patientenverfügung widersprochen. Am Sterbebett eines recht betagten, zuvor schon schwer herzkranken Patienten hörte ich einen Arzt zu der Tochter des Patienten sagen: „Wissen Sie, für uns Ärzte ist es immer ein Versagen, wenn ein Patient stirbt.“ Da hat der Arzt innerhalb seiner Disziplin wohl etwas falsch verstanden! Eine schlimm gebeutelte Ehefrau, deren Mann ein Jahr lang erst ambulant, dann klinisch versorgt wurde, klagte mir: „Mein Mann ist nicht an seiner Krankheit gestorben, sondern durch all die klinischen Maßnahmen, durch die Krankenhauskeime und Pilze.“ Sie war durch seinen körperlichen Verfall traumatisiert, den sie über Wochen hin miterleben musste. Jegliches Vertrauen war ihr geschwunden. Sie war zu der Überzeugung gelangt, ihrem Mann sei durch die Behandlung seine Würde genommen worden. Bei solch dramatischen Krankheitsverläufen beginnen der Kranke und der Nahestehende lange vor dem Tode miteinander zu trauern. Betrauert wird das Ende des guten, erträglichen bisherigen Miteinanders. Das Leben vorher, nachher und jetzt verknüpft sich zu großem Kummer.

Mit Achtung und Würde loslassen

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

1.7  Abschied: Ohne Eile, ohne Aufschub

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Ist der Tod zuhause oder in der Klinik eingetreten, wird der Bestatter oft dringlich gebeten, den Verstorbenen rasch abzuholen. In der Klinik soll das Bett bzw. Zimmer schnell wieder belegt werden. Zuhause wird der tote Mensch oft plötzlich als etwas ganz Fremdes empfunden. Nur wenige Menschen halten die Anwesenheit verstorbener Angehöriger für ein paar Stunden des Abschiednehmens zuhause aus. Zuweilen gibt es in den Bestattungswäldern, welche inzwischen sehr im Trend liegen, keine freien, zeitnahen Termine. Auch Krematorien sind immer wieder überlastet, zum Beispiel dann, wenn das Krematorium der Nachbargemeinde ausfällt. Diese „technischen“ Verzögerungen sind kaum zu beeinflussen. Jene, die durch familiäre und individuelle Terminwünsche entstehen, wären es eher. Die Trauerfeier wird bevorzugt auf ein „passendes“ Datum gelegt, einen Termin, zu dem sonst nichts versäumt wird und das könne bei einer Urnen-Beisetzung ruhig auch vier Wochen später sein: So meinen manche Bestatter und vermitteln es auch so. Doch viele Angehörige wissen es hinterher besser! In all der angespannten, übereilten oder überdehnten Zeit findet die Trauer keinen guten Anfang.

Abschied ohne Versäumnisse

Wäre es für den Scheidenden wie auch für die Zurückbleibenden nicht angemessen, diesem einmaligen letzten Lebensund Sterbeereignis mehr Würde zu verleihen? Für die letzten Wegstrecken des Lebens wünschen wir uns mehr Zeit und Muße, begleitet von liebevollen Gesten am Bett und über den Moment des Sterbens hinaus. Wir wünschen uns den von Schmerzen befreiten, physisch und psychisch bestmöglich versorgten Patienten, der in Ruhe und „abgestöpselt“ sterben darf, wenn es doch ganz offensichtlich Zeit ist. So kann ihm ein friedlicher Übergang gelingen – und den Angehörigen ruhige erste Schritte in die Trauer. An Bett oder Bahre noch zu verweilen, das Geschehen nachklingen zu lassen, die Veränderungen und den nun wahrnehmbaren Frieden zu spüren, die Stimmung zuzulassen: Das beschreiben Menschen, die dies erfahren durften, als wirklich gutes Abschiednehmen und persönliche Bereicherung. In einem „Denkanstoß“ beschreibt der Bestatter Pütz-Roth (1949 bis 2012):

» Bei uns werden Sie nie einen Satz hören, wie: „Sie sollten den

Toten so in Erinnerung behalten, wie er zu Lebzeiten war“. Diese Haltung ist falsch. Im Angesicht eines toten Menschen begreifen wir, was es heißt, zu leben. Und wir sind durch das Hinschauen und auch das Anfassen und Berühren des Verstorbenen in der Lage, den Toten wirklich wegzugeben und loszulassen, weil da kein Leben mehr in ihm ist. Wir laden

1.8 · Abschied – und Wiedersehen?

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Trauernde dazu ein, ihre Toten selbst anzuziehen und in den Sarg zu legen. Natürlich sind wir immer in der Nähe, wenn sie unsere Hilfe brauchen (7 https://www.puetz-roth.de/ denkanstoesse.aspx).

Vielerlei Gründe mögen wohltuende Handlungen oder das Hinschauen in einem Sterbefall verhindert haben. Das kann im Anschluss zu dem kummervollen Empfinden führen, etwas Entscheidendes für immer versäumt zu haben (siehe auch Fallbeispiel: Versäumtes – Ereignisse imaginativ nachholen, 7 Abschn. 3.11.6). 1.8  Abschied – und Wiedersehen?

Von alten Kulturen und Naturvölkern sind uns kulturell manifestierte rituelle Handlungen überliefert, die häufig über viele Tage hinweg dauerten. Gebete, Gesänge, Waschungen und Präparationen begleiteten Sterbende bei deren Übergang vom Leben in den Tod und weiter zu einer guten Ankunft und Versorgung im Totenreich (dem Jenseits, Paradies oder Nirwana). Spirituell geprägtes Handeln stärkte jene, die Abschied nahmen und diese Dienste vollbrachten. Die wohl bekanntesten und geläufigsten Darstellungen zu Totenkulten dürften jene aus dem alten Ägypten und aus dem Buddhismus sein. Es gibt kaum eine Kultur bzw. Religion, die nicht einen Ritus des Sterbens entwickelt hat, aus welchem sich die unterschiedlichsten Vorstellungen eines nachtodlichen Weiterlebens oder Auferstehens ableiten. Geburt und Tod, so spekuliert die Philosophie und so berichtet es die gegenwärtige Forschung, sind im Glauben einer Mehrzahl aller Menschen und Kulturen nicht Anfang und Ende, sondern Stationen im Kreislauf des ewigen Seins. Der tote Körper oder dessen Asche wird bestattet. Soweit können unsere Sinne dem Ende eines Lebens folgen. Die Seele dagegen ist dem einen spürbar, dem anderen kaum fassbar – und nirgendwo wissenschaftlich exakt beschrieben. Im Alten Testament erfahren wir, dass Gott den Menschen mit dem Geschenk seines Atems „beseelte“ und ihm somit das Leben schenkte. Aber eben dieses dem Leib innewohnende Lebendige, oder anders gesagt, das was wir als inneren Ausdruck unseres ganzen bewussten und überbewussten Gefühlswesens erspüren, mögen wir nicht sterben lassen. Nicht das eigene, nicht das des geliebten, verstorbenen Menschen! Was auch immer das Leben in unsrer Seele gebündelt hat, ist das, was der allgemeinen Vorstellung zufolge „hinüber“ in ein anderes Dasein geht. Das „Bild“ allerdings, das, was wir voneinander irgendwann wiedersehen könnten, und ob dieses jenseitige Wesen materielle Substanz hat oder nicht, wird je nach Zeitalter, Kultur

Ende oder Anfang? Kultur, Religion, Philosophie

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

oder Religion sehr unterschiedlich gedacht. Der Wunsch nach einem „Wiedersehen“ allgemein findet sich in vielen Formulierungen in Nachrufen, Traueranzeigen und Grabinschriften. Den Tod als einen Übergang zu begreifen, von etwas nach dem Tode Bleibendem überzeugt zu sein, mildert jedenfalls die Härte des Abschieds und tröstet in der Trauer. Seien Sie als Begleiter auf Äußerungen und Fragen von Trauernden in dieser Richtung vorbereitet. Vorhandene Vorstellungen sollten Sie nicht zerstören, es sei denn, diese wären völlig abwegig und gleichzeitig belastend. Antworten auf Fragen eines Interessierten können Sie am besten in gemeinsamer Suche finden. Unabhängig von jeder Theologie, jeder metaphysischen oder empirischen Forschung, von jeder Ausdeutung von Leben und Tod scheint es eine dem Menschen innewohnende Bestimmung zu sein, mit seinem Tod in ein neues Leben überzuleiten, sei es ein jenseitiges Dasein, sei es eine später folgende diesseitige wieder leibliche Existenz. Es fällt jedoch auf, dass es offenbar eines schmerzvoll erfahrenen Todes- oder Trauer-Ereignisses bedarf, jene in der eigenen Welt- und Nachwelt-Anschauung bereits vorhandenen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen und zuzulassen. Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung (1875–1961) ordnete dieses mögliche Wissen um das, was nach dem irdischen Tod noch sein kann, dem Kollektiven Unbewussten und darin dem überpersönlichen Bereich des Unbewussten zu. Er äußerte sich in einem Interview mit der BBC im Oktober 1959 so:

» Selbstverständlich ist es offensichtlich, dass wir alle sterben werden und dass dies das traurige Ende von Allem ist. Aber dennoch gibt es etwas in uns, das anscheinend nicht daran glaubt, und dies ist lediglich eine Tatsache, eine psychologische Tatsache (Aus: „Der Tod ist nicht das Ende“ (death is not the end)/Interview mit Carl Gustav Jung in ganzer Länge nachzulesen: 7 https://meditationch.files. wordpress.com/2016/11/22der-tod-istnicht-das-ende22deutsch-c-g-jung.pdf).

In der Literatur bieten sich uns endlose Bücherreihen und verheißungsvolle Titel mit kaum durch und durch erfassbaren Varianten des Glaubens oder auch der Spekulation zum ewigen Sein. Interessant ist das allemal, jedoch ist diese Lektüre keine Voraussetzung oder gar Bedingung zur allgemeinen Trauerbegleitung. Das Buch „Der Tod ist groß, wir sind die Seinen“ möchte dem Leser die Möglichkeit anbieten, „das eigene, in der Tiefe der Seele verborgene Wissen über das Sterben und den Tod zu entdecken.“ (Ralf T. Vogel: Der Tod ist groß, wir sind die Seinen. Ostfildern 2017.).

1.9 · Zeitlosigkeit der Seele

In seinem Buch „Der Tod ist nicht das Ende“ geht der Autor Milan Ryzl von der Unsterblichkeit geistiger Energie aus. Milan Ryzl „Der Tod ist nicht das Ende“ Genf 1995.) von der „Unsterblichkeit geistiger Energie“ (Untertitel). 1.9  Zeitlosigkeit der Seele

Goethe sagt:

» Jenseits meint ja eben jenseits des Todes (Aus: Hans Schäfer u. a.: Was ist der Tod? München 1969).

Lotte Ingrisch nennt in ihrer Jenseitskunde die Seele den „jenseitigen Menschen“. So gesehen tragen wir das Seelische, was später den toten Leib verlässt, immer schon in uns. Von Lernet-Holenia stammen die Worte: „Wenn wir gestorben sind, sind wir schon nicht mehr tot.“ Die Autorin Lotte Ingrisch fügt hinzu:

» „So einfach ist es in Wirklichkeit! Je unwissender wir sind, um so komplizierter erscheint uns die Welt. Erst der ausgereifte Geist findet wieder zur kindlichen Klarheit zurück“ (Lotte Ingrisch: Reiseführer ins Jenseits. München 1990, S. 43).

Gottfried Graf Degenfeld (1925–2005) hatte sich in seinem Vermächtnis keine Trauer-(Feier) gewünscht, sondern eine Feier für seinen ersten Geburtstag im Himmel.

» „Wie er gelebt hatte, so wurde er zur letzten Ruhe gebettet,

fröhlich und heiter, mit hintergründig-feinsinnigem Humor und in tiefer Gläubigkeit“ (Aus: NWZ Göppingen vom 2 Juni 2005).



„Trennung ist wohl Tod zu nennen, denn wer weiß, wohin wir gehn, Tod ist nur ein kurzes Trennen auf ein baldig Wiedersehen“ (Joseph von Eichendorff).



„Ich glaube, dass wenn der Tod unsere Augen schließt, wir in einem Lichte stehn, von welchem unser Sonnenlicht nur Schatten ist“ (Arthur Schopenhauer).



„Wenn wir aus dieser Welt durch Sterben uns begeben, so lassen wir den Ort, wir lassen nicht das Leben“ (Nikolaus Lenau).



„Ihr, die ihr mich geliebt habt, seht nicht auf das Leben, das beendet ist, sondern auf das, welches ich beginne“ (Augustinus).



„Der Gedanke der Unsterblichkeit ist ein leuchtendes Meer, wo der, der sich darin badet, von lauter Sternen umgeben ist“ (Jean Paul).



„Der Tod ist kein Abschnitt des Daseins, sondern nur ein Zwischenereignis, ein Übergang aus einer Form des endlichen Wesens in eine andere“ (Wilhelm von Humboldt).

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

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„Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen“ (Dietrich Bonhoeffer, aus dem Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“).



„Trennung ist unser Los, Wiedersehen ist unsere Hoffnung“ (Augustinus).

„Gleichwie ein Mann die alten Kleider ablegt und neue anzieht, so legt der Träger des Leibes die alten Leiber ab und geht in neue ein“ (Bhagavad Gita).

1.10  Trauer also: Was ist das?

Ausgrenzung, Schock, Blockade, Hilflosigkeit, emotionale Achterbahnfahrt, Sehnsucht, Wut, Verzweiflung, Schuldgefühle, Verbitterung, Angst vor dem Alleinsein. Angst haben, verrückt zu werden. Trübsal, Schwermut, Verwirrung, Erschütterung, Lebenswende, Welle des Schmerzes, Erlösung, Erfüllung, Befreiung, Beruhigung, Dankbarkeit, Zufriedenheit, Neuanfang.

» „Trauerarbeit ist nicht auf Restitution (Wiederherstellung)

schlechthin aus, sie bringt uns langsam dazu, die definierte Veränderung der Realität durch den Verlust des Objekts zu akzeptieren. … Das hat zur Folge, dass am Ende der Trauerarbeit das Individuum verändert, d.h. gereift, mit einer größeren Fähigkeit, die Realität zu ertragen, aus ihr hervorgeht“ (Aus: Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt/Main 1967).

Trauer – ein komplexes, hochemotionales Phänomen

Trauer ist ein komplexes, hoch emotionales Phänomen. Sie ist ein natürlicher psychologischer Ausdruck menschlichen Verhaltens. Trauer zeigt sich in Gefühlsreaktionen nach dem Bruch oder Verlust einer Bindung. Die Trauer um den Tod eines Nahestehenden ist dem Menschen angeboren. Der Begriff „Trauer“ bündelt freilich eine Reihe komplexer seelischer Vorgänge, von der Verleugnung zur Akzeptanz, das Zulassen und letztlich auch das Loslassen. Der jeweilige Verhaltenskodex zur Trauer hängt von Kultur und Religion ab. Trauer endet nicht, sie ist ein fortwährender, aber mit der Zeit abklingender Prozess. In manchen Phasen erinnert der Prozess an Phasen einer posttraumatischen Störung. Trauer verläuft meist unspektakulär. Jeder Mensch geht freilich mit Trauergefühlen anders um. Unterstützung bedürfen jene, die in eine bedrückende, betrübliche oder entmutigte Gemüts-Stimmung eingetaucht sind. Der Begriff der „normalen Trauer“ dient zur Unterscheidung und Abgrenzung gegenüber der komplizierten, krisenhaften (pathologischen) Trauer.

1.10 · Trauer also: Was ist das?

In akuter Trauer mangelt es an Lebensfreude und Hoffnung. Alles, was im „Trauerfall“ passiert, setzt Emotionen von großer Bandbreite frei. Der Abschied belastet, lähmt, weckt unstillbare Sehnsucht. Manchmal jedoch befreit Trauer aus vorheriger Enge und Bevormundung, dann bewegen sehr ambivalente Regungen das Gemüt. Immer bringt Trauer Umbruch mit sich. Trauer verlangt die Aufarbeitung aller vorangegangenen, oft dramatischen Ereignisse. Trauer ist eine zuvor nicht gekannte Grenzsituation. Goethe nennt sie „tiefste Erschütterung“. Trauer erfasst den Menschen in seinem ganzen Wesen. Bisher unbekannte peinigende Empfindungen, Verwirrung, Verzweiflung, Ängste tauchen auf und überfluten zumindest zeitweise die Realität und den Alltag. In den eigenen vier Wänden, die vor kurzem noch die gemeinsamen vier Wände waren, fühlt sich, wer jetzt allein ist, nicht mehr wirklich zuhause. In einer Familie ist nun ein Zimmer verwaist, ein Platz am Tisch nicht mehr besetzt. Allüberall sind schwarze Löcher! Gleichzeitig erwachsen fast über Nacht neue Verantwortungen und Herausforderungen. Tagesrhythmen, Aufgaben, Gewohnheiten verschieben sich zwangsläufig. Gemeinsame Aufgaben, gemeinsame Handlungsstereotype, „Rituale“ brechen ganz aus dem Alltag heraus. Vielfach fehlt jetzt der gewohnte Beistand, oder es entstehen existenzielle Versorgungs-Lücken. Mancher Mensch fühlt sich selbst nicht mehr ganz lebendig: Der Tod hat auch einen Teil von ihm, dem Überlebenden genommen, was maßgeblich seine bisherige persönliche Lebensgeschichte ausmacht. Kaum jemand kann oder will seine Trauer nach außen verbergen. Was früher stets üblich war, ist auch heute noch vielen Menschen ein Bedürfnis: ihre Trauer durch schwarze Kleidung zu bekunden. Jeder Verstorbene lässt eine ganze Reihe von Menschen zurück, die über diese endgültige Trennung traurig sind. Trauernde können sich gegenseitig beistehen, verstehen einander besser, als Außenstehende. Trauer kann auch allein durch Erinnerungen lange Zeit nach dem Verlust wieder aufflammen. Trauer bezeichnet den über eine gewisse Zeit sich entwickelnden Prozess des Abschiednehmens und des Annehmens aller damit einhergehenden Veränderungen, gerade auch in der eigenen Biografie. Wer den unmittelbar zu spürenden Schmerz der Trauer nicht zulässt, läuft Gefahr, ihn unbenannt als diffuse Kümmernis oder Angst sehr lange in sich zu behalten. Ähnlich wie tief empfundene Liebe setzt Trauer sehr intensive und lang andauernde Empfindungen frei. Verluste sind allgegenwärtig. Sie bieten auch jenen, die noch keinen nahestehenden Menschen verloren haben, die Erfahrung trauriger Empfindungen mit all ihren Auswirkungen auf seelischer und körperlicher Ebene. Welches Kind hat nicht schon

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Wahrnehmung einschneidender Veränderungen

Verwandlung bedingt vorheriges Zulassen dessen was ist

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Kapitel 1 · Tod und Trauer – Eine Hinführung zum Thema

bitterlich geweint, weil ein heiß geliebtes Spielzeug, vielleicht sogar die Lieblingspuppe verloren ging. Ich bin sicher, ein jeder könnte nach kurzem Nachsinnen eine umfangreiche Verlust-Liste erstellen. Die meisten Verluste sind jedoch materieller Art und lassen hoffen, dass man irgendwann, irgendwie einen Ersatz bekommt, vielleicht sogar etwas Gleichwertiges. Nicht so bei der Trennung durch den Tod! Kein noch so heftiger Kampf bringt den Verstorbenen zurück. Der Tod hat alle Macht. Da bleibt nur ergebene Hinnahme mit allen Folgen. Manchem vielleicht bleibt aber auch die Hoffnung an ein „Wiedersehen irgendwann in einer anderen Dimension“. Anna Luz de Léon (7 http://berlinmittemom.com/2016/05/ 24/ein-meer-voll-ungeweinter-traenen-ueber-trauer-undverwandte-gefuehle) erzählt davon, wie „die Trauer in die Seele einsickert und sich dort einnistet, ganz allmählich und mit einer langsamen Bewegung, weil sie weiß, sie hat alle Zeit der Welt. Sie ist gekommen, um zu bleiben. … Es dauert, solange es dauert, manchmal ein Leben lang“.

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Trauerphasen erkennen und begleiten 2.1 Merkmale und Aufgaben – 16 2.2 Mut zur Trauer – 17 2.3 Veränderte Konstellationen – 18 2.4 Risikofaktoren erkennen – 19 2.5 Komplizierte Trauer – 20 2.6 Weiterlebens-Strategien entwickeln – 20 2.7 Theorie und Praxis, Wissenschaft und Alltag – 21 2.8 Traurig oder krank? – 21

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Bender, Praxisbuch Trauerbegleitung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0_2

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Kapitel 2 · Trauerphasen erkennen und begleiten

2.1  Merkmale und Aufgaben

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Nachfolgend einige Stichworte, die in der Trauerbegleitung helfen 5 den Faden nicht zu verlieren 5 die „Wo-sind-wir?-Station“ zu orten 5 den Fortschritt zu erkennen 5 einen Fortgang zu initiieren und zu bestätigen. 1. Zulassen, benennen, klagen 5 Der Trauernde darf ungeschönt das Geschehen und seine derzeitige Gemütslage beschreiben. 5 Der Trauernde taucht bewusst in den Schmerz ein, lässt Tränen und Wut zu. 5 Ein Symbol für die Trauer, ein Bild, ein Gegenstand kann gefunden werden. 2. Tragen, aushalten, annehmen 5 In Gesprächen erreichen wir, dass der Trauernde äußere wiederkehrende Auslöser, „Angriffe“ als solche erkennt … 5 … und den souveränen Umgang mit diesen erübt. 5 Auslöser sind beispielsweise Sehnsuchts-Schlagertexte aus dem Radio …, 5 … Dinge im Supermarkt-Regal, die man häufig für den Partner gekauft hat … 5 … Rückfragen von Freunden: „Na, wie geht es dir so?“ Das Radio auszuschalten oder Freunden klar zu signalisieren: „Jetzt mag ich gerade nicht darüber reden, ist in der Trauer aktiver, notwendiger Selbstschutz“. 3. Umbenennen und Verwandeln 5 Wir definieren „Damals“ als Vergangenes, so nicht Wiederkehrendes und ordnen es ganz bewusst als ausgewogenes Gedenken in den Hintergrund. 5 „Ich leide schrecklich“ war gestern. Heute heißt es vielleicht: „Ich habe schrecklich gelitten, ich bin immer noch sehr traurig.“ 5 Wir klären, dass die Besorgnis, zu vergessen, gegenstandslos ist. Eventuell unterstützen hier wohl dosierte, kreativ verwandelte Andenken (7 Abschn. 4.2). 5 „Jetzt“ zündet man neue Lichter und setzt neue Wegmarken, entwickelt von Grund auf ganz Eigenes, etwa dass man endlich tut, was zuvor nicht möglich war. 5 Wiederkehrende Daten erhalten neue Definitionen. Aus Todestagen werden Jahrestage. 5 Für Jahresfeste (Weihnachten) werden vorausschauend Pläne entwickelt, wie sie unter den gegenwärtigen Umständen durchführbar sind. 5 Das Symbol, das in der Phase des Zulassens, Benennens und Klagens gefunden wurde, kann schon jetzt durch ein neues, helleres, beglückenderes Symbol ersetzt werden.

2.2 · Mut zur Trauer

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4. Ankommen 5 Das Ende der „Umlautstraße“ (Hätte, wäre, könnte) ist erreicht. 5 Als Begleiter gilt es, den Betroffenen darin zu bestätigen, dass er jetzt in seiner neuen Lebens-Position angekommen ist. 5 Das, was seit der Zeit des Abschieds vom Betroffenen selbstständig erreicht bzw. bewältigt wurde, kann als „Beweis“ dafür genommen werden, dass das fortgesetzte Lamentieren des Trauernden mit allem „Wenn und aber“ nun einer gewachsenen Entscheidungsfähigkeit gewichen ist. 5 Der Trauernde mit seinem Selbst im Mittelpunkt hat sein soziales Umfeld neu geordnet und angenommen. Zu 1. und 3.: Ein Beispiel für die Ersetzung eines düsteren Symbols durch ein helleres – der schwere Stein wird gegen die glänzende Perle getauscht – findet sich in 7 Die siebente Übung: Das Schwere zurücklassen – Muschel und Perle, 7 Abschn. 4.1.3. 2.2  Mut zur Trauer

Trauer zuzulassen ist ein mutiger Prozess. Erstaunlicherweise muss man viele Menschen geradezu auffordern, Trauer zuzulassen, weil Trauern angeblich nicht mehr zeitgemäß sei. Die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Trauer zu vermeiden oder zu verbergen, heilt die inneren Wunden nicht. Solche Vermeidung führt eher zu bleibender Seelenlast. Diese sinkt mit der Zeit ins Unbewusste ab, ist aber im schlimmsten Fall mit schmerzhaften Auswirkungen zur Unzeit wieder voll präsent. Dem Tod und der Trauer ihre Selbstverständlichkeit zurückzugeben ist ein wichtiger Teil unserer Aufgaben. Trauernde fühlen sich ständig gefordert, sich und ihre Trauer und das damit verbundene Denken und Handeln im „normalen Alltagsgeschehen“ zu verteidigen und zu erklären. Hier dürfen wir Mut machen: „Deine Trauer ist deine Wegbegleitung für eine gewisse Zeit. Lass sie zu, zeig sie, verstecke sie und dich nicht!“ Wir dürfen im Umfeld des Trauernden klären helfen, welche Mitmenschen des Trauernden echte Helfer sind, bereit, Empathie und Zuwendung zu zeigen, und welche anderen lediglich von Neugier und geschwätziger Aufdringlichkeit getrieben sind. – Es ist nicht immer leicht für den Betroffenen, das für ihn Zuträgliche zu erspüren. Und doch könnte ihm ehrliches Mitgefühl, der Wille zur Unterstützung seitens ihm zugewandter Freunde oder Kollegen wirklich gut tun. Wo also sich öffnen und wo energisch ablehnen? Wägen Sie gemeinsam ab. Trauernde suchen oft Schutz hinter ihrer grundsätzlichen Ablehnung. Das Leid, das der Abschied brachte, zu spüren und zu zeigen, bedeutet noch lange keine Depression oder Anpassungsstörung,

Die Selbstverständlichkeit der Trauer

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Kapitel 2 · Trauerphasen erkennen und begleiten

sondern es ist Ausdruck dafür, dass der Betroffene „auf dem Weg ist“: auf dem Pfad, der aus dem Kummer führen soll. Diese Wanderung über steinige Berge und tiefe Täler und durch ein Meer von Tränen kennt keine vorbestimmte Dauer. Als Begleiter dürfen wir keine Schablonen anlegen oder Grenzen ziehen. Eher ist es wie auf einem Bild von George Mailler: Es zeigt einen Menschen in Bewegung auf dem Hochseil. Die begleitende Person hält lediglich die offene Hand schützend und doch mit Abstand unter dem Hochseilartisten. (Aus: „What is it“ Artist: George Mailler, Austria. Designer Beni Schalcher, CH-Lausanne, published by Farhad Hormozi, CH-Bern 1987).

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2.3  Veränderte Konstellationen

Neue Positionierung im sozialen Gefüge

Wir helfen dem Betroffenen, einen neuen und selbstbestimmten Platz innerhalb der veränderten Beziehungen und Konstellationen zu finden. Der Trauernde darf und soll sich neu orientieren. Die bisherige gesellschaftliche Stellung eines Paars wird von dem verwitweten Alleinstehenden häufig als negativ verändert wahrgenommen. So mag manche alltägliche, eigentlich ganz nebensächliche Bemerkung unverhofft verletzend sein. Beispielsweise sagt die Nachbarin, „Ach ja, das Auto tanken, das macht zum Glück immer mein Mann!“ Unbeabsichtigt, aber gedankenlos sticht sie damit in die empfindliche Wunde der Nachbarin. Die betroffene Witwe hat ihn nicht mehr, ihren Mann. So wird immer wieder klar: bei mir ist jetzt alles ganz anders. Nicht jeder bringt die hier eigentlich notwendige Anpassungsfähigkeit mit. Die Zeit, in der man ein Paar, eine Familie oder in Freundschaft war, ist endgültig vorbei. Und oft wird es so empfunden, als wären mehr als „Einer von Zweien“ gegangen. Bei Partnern und Kindern ist es wie „ein Teil von mir selbst“. Der Verlust wird gleich einer Amputation empfunden. Eltern, die ihr einziges oder eines der Kinder verloren haben, blicken lange Zeit mit flauem Gefühl und Wehmut auf Gruppen spielender Kinder. Nun müssen die trauernden Eltern den Umgang mit Geschwistern, Nichten und Neffen für sich selbst wieder neu gewichten. „Habe ich jetzt das Patenkind meines Mannes und die Verantwortung geerbt?“ So lautete eine an mich gerichtete, wirklich sorgenvolle, ernsthafte Frage. Begleitung bedeutet, beim Erkennen sich ergebender Konstellationen zu helfen. Ob von außen gesteuerte neue Hierarchien vom Betroffenen angenommen oder abgelehnt werden, entscheidet er selbst. Wir unterstützen dabei. In der Folge kann der Trauernde nun seine eigene Position innerhalb seines sozialen Gefüges selbstbewusst identifizieren, benennen und stärken. Zur Neuorientierung gehört nun auch die neue Rolle und Gewichtung des Verstorbenen. Die meisten Men-

2.4 · Risikofaktoren erkennen

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schen, denen ich in der Trauerarbeit begegnet bin, wünschen, dass der Verstorbene weiterhin als „Beschützer“ oder „Ratgeber“ in ihr Leben integriert ist. Schließlich sollte geprüft werden, ob „eingeschlafene“ Freundschaften und Kontakte aus längerer Vergangenheit neu belebt werden können. Sie können helfen, eine Brücke zu schlagen. 2.4  Risikofaktoren erkennen

„Die Zeit heilt alle Wunden“, sagt der Volksmund. Irgendwie trifft das auch auf die Trauer zu, allerdings verheilt manche Wunde eben nicht ganz von allein so richtig gut und dauerhaft. In Zeiten von Krieg, Seuchen und Hungersnöten wurde über Trauer selten und kaum öffentlich gesprochen, da wurde nicht nur der Leichnam, sondern zugleich auch die Trauer still begraben. Jeder Betroffene musste zusehen, wie er allein zurecht kam. Trauer durchlebte man ganz auf sich gestellt – oder bestenfalls auf religiösen Glauben und geistliche Wegweisung. Die Versorgung, Begleitung und Bestattung Verstorbener ist heute allgemein auf qualitativ hohem Niveau. In einer Zeit kleiner Familien, durchschnittlich recht hoher Lebenserwartung und sich stetig verändernder Trauerkultur sind wir allerdings schon wieder an einem heiklen Wendepunkt angelangt. Ein Grab zu pflegen, war bei einer ansässigen Großfamilie keine Frage. Eine öffentliche Feier ermöglichte es jedem, teilzunehmen. Heute hören Bestatter von Angehörigen zuweilen den Wunsch: „Ohne großes Brimborium!“ Ein Abschied „in aller Stille“ kann für einen kleinen Kreis sehr schön gestaltet werden. Demjenigen allerdings, der nicht teilnehmen darf, ist der tröstliche Beginn eines guten Trauerverlaufs verwehrt. Glücklicherweise verläuft Trauer meist „normal“ und nur in seltenen Fällen „kompliziert“. Trauer ist keine Krankheit, für manchen Trauernden fühlt sie sich aber durchaus ähnlich schmerzhaft an. Traurig zu sein ist keine psychische Störung, dennoch „stört“ dieses Empfinden durchaus ein gleichmütiges Fortschreiten derer, die zurückbleiben, der verwaisten Geschwister oder der Eltern verstorbener Kinder, der besten Freunde und Partner auf ihrem eigenen Lebensweg. Dennoch erleiden die Betroffenen dabei nicht zwangsläufig einen dauerhaften körperlichen oder seelischen Schaden. Allgemein stufen wir die Trauer-Prozesse bei durchschnittlich beschwerten Lebensumständen durch Verlust als normale Trauer ein.

Trauerempfinden – normal bis pathologisch

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Kapitel 2 · Trauerphasen erkennen und begleiten

2.5  Komplizierte Trauer

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Gravierende Störungen im Trauerverlauf tauchen zuweilen ohne ersichtliche Erschwernisse auf. Meist jedoch geht einem schwierigen Trauerverlauf ein traumatisches Ereignis voraus. Naturkatastrophen, Krieg und jegliche Gewalt durch brutale Menschenhand, medizinische Versäumnisse oder Fehler sind solche völlig unannehmbare Ursachen. Solch plötzlich eintretende gewaltsame Todesgeschehnisse, die der nun Trauernde hautnah miterlebt hat, sind schwer zu ertragen, sie begleiten den Betroffenen noch lange bei Tag und in den Träumen bei Nacht.

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Die Ursachen der komplizierten Trauer basieren auf mehreren Faktoren. Neuropsychologische Studien haben gezeigt, dass es identifizierbare Risikofaktoren für eine unangemessene Trauerreaktion gibt. Dazu zählen z. B. Veränderungen im Belohnungssystem, die im funktionellen Hirn-Kernspin (MRT) nachgewiesen werden können, Abnormalitäten des autobiografischen Gedächtnisses und neurokognitive Funktionen. Aber auch andere Gesundheitsprobleme können assoziiert sein: Schlafstörungen, Substanzabbau, Suizidgedanken und Immunsystemveränderungen. Herzkreislauferkrankungen und Krebs können negativ zur Gesamtsituation beitragen (Vgl. 7 https://www.gyn-depesche. de/nachrichten/prolongiertestrauersyndrom/).

Körperliche Trauer-Reaktionen zeigen sich unter anderem in der Veränderung von Atmung, Puls und Blutdruck, ja selbst in den biologischen Funktionen der autonomen und endokrinen Systeme. 2.6  Weiterlebens-Strategien entwickeln

Die sprachliche Benennung und der allgemeine Umgang mit den elementaren Empfindungen nach einem schweren Verlust, sind eine Notwendigkeit. Formulieren und annehmen, „was ist“, sind notwendige Bedingungen, um dauerhaft wieder das eigene Leben und die Gegenwart anzunehmen und darin standfest zu werden. Den Weg dorthin und weiter hinaus in eine lebenswerte Zukunft betrachte ich gewissermaßen als eine Art des Experimentierens mit der Wiederaufnahme alter und neuer Aufgaben und der Entwicklung persönlicher Ziele. Auch hier gibt es kein Patentrezept. Jeder hat seine eigene Geschichte und seine individuellen Fähigkeiten und Vorstellungen. Siehe dazu Die sechste Übung: Eine Brücke bauen, 7 Abschn. 4.1.2. Trauer setzt eine weite Schwingungsfähigkeit der Seele frei, und so kann sie auch ungeahnt Schöpferisches hervorbringen.

2.8 · Traurig oder krank?

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Nicht selten haben Menschen durch einen Trauer auslösenden Lebens-Umbruch Fähigkeiten und Kräfte entwickelt, die ihnen zuvor kaum erträumte Möglichkeiten eröffneten. Trauerarbeit, wenn sie durchschnittlich gut verläuft, ist Rekonvaleszenz. Sorgen, wie auch liebevolle Erinnerung, Wut, aber eben auch Hoffnung begleiten das Vorankommen. Dieses Auf und Ab ist es, das den Trauernden tatsächlich gestärkt in das neu zu gestaltende eigene Leben führt. Schließlich ist die Welt wieder

offen für neue Bindungen, Erfahrungen und Erkenntnisse.

Nicht selten führen Trauerwege auch und gerade dann, wenn sie dem eigenen Gemüt viel abverlangen, hin zu mehr Lebenstiefe, mehr Selbstvertrauen und positiv gestalteten Lebensplänen. 2.7  Theorie und Praxis, Wissenschaft und Alltag

Erste Samen für die später sich entwickelnde breit gefächerte professionelle Trauerbegleitung legte in den Fünfziger Jahren im deutschsprachigen Raum die Psychiaterin und Ärztin Elisabeth Kübler-Ross, geb. 1926 in Zürich. Empirische Studien beleuchten und befruchten seither und zunehmend das Thema von allen nur denkbaren Seiten. Begegnen wir durchaus mit Respekt und Anerkennung diesen mittlerweile so zahlreichen Forschungen und Lehrmeinungen zur Trauer! Scheinbar wird immer wieder Neues entdeckt, werden Fallstudien aufgerechnet, statistisch erfasst oder wird zumindest Altbekanntes neu benannt, werden gleichzeitig zuvor gewonnene Erkenntnisse wieder verworfen. Das hält uns jedenfalls wach am Thema! 2.8  Traurig oder krank?

» „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei

der Melancholie ist es das Ich selbst.“ – „Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert“ (Sigmund Freud: Kleine Schriften II – Kapitel 4, Trauer und Melancholie (1917), zit. n. 7 http://gutenberg.spiegel.de/buch/ kleine-schriften-ii-7122/4).

Trauerarbeit ist Rekonvaleszenz

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Kapitel 2 · Trauerphasen erkennen und begleiten

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Maß der Bedrückung erkennen und relativieren

Der Gefühlszustand eines Trauernden, den Sigmund Freud Melancholie nannte, wird heute vielleicht oft zu schnell zur Diagnose Depression. Allgemein führte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Trauer erst einmal dazu, sie zu dramatisieren. Wie schon erwähnt, schaffen es die meisten Menschen ganz ohne therapeutische Hilfe einen Abschied und die damit verbundene Traurigkeit gesund zu durchleben. Dazu zähle ich auch jene, die, um mit ihrem Kummer nicht ganz allein zu bleiben, eine Trauer-Gruppe aufsuchen und diese gestärkt wieder hinter sich lassen. Unterschiedliche Theorien der Trauer-Forschung haben allerdings gewisse Gefühlsäußerungen, die auch ohne Trauer im Alltag erfahrbar sind, auf die Ebene behandlungsbedürftigen, krankhaften Trauer-Verhaltens verschoben. Dramatische Trauerverläufe gibt es in der Tat. Sie fehlen auch in diesem Buch nicht. Aber solche hinter jeder Träne zu suchen ist nicht redlich. Der anhaltende Kampf um die kassenärztliche Anerkennung nachstehender Diagnosen wird das Drama hoffentlich nicht noch weiter steigern. Im Umlauf sind derzeit die folgenden Vorschläge: 5 „KT“ = komplizierte Trauer, „anhaltende Trauer“ 5 „Anhaltende komplexe Trauerreaktion“ und „Anpassungsstörung“

» „Ein Forschungsbereich auf dem Holzweg: Nicht Trauer ist

das Problem sondern die wissenschaftliche Sichtweise. … In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Psychologie fast ausschließlich darauf konzentriert zu erforschen, ob, wann und warum Trauer als psychische Störung betrachtet werden kann“ (Leeat Granek: „Ein Forschungsbereich auf dem Holzweg: Nicht Trauer ist das Problem sondern die wissenschaftliche Sichtweise“, in: „Trauerforschung im Fokus“. Oktober 2014, 15.Newsletter, 7 https://d-nb. info/1059948656/34).

> Der Weg der Trauer ist keinesfalls immer nur düster

und kalt. Auch am Rande dieses Weges blühen Blumen, begegnet man Trost und gewinnt neue Freunde!

Während Trauerforscher ein ständig zunehmendes Gewicht auf krankhafte Folgen der Trauer legen, gibt es auch erfreulichere Botschaften, wie zum Beispiel in dem Buch von George A. Bonanno „Die andere Seite der Trauer“. Die dieser Schrift vorausgegangenen Forschungen möchten das Gegenteil belegen. A. Bonanno und seine Forscherkollegen zeigen mit ihren Studien und anhand zahlreicher konkreter Beispiele:

2.8 · Traurig oder krank?

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» „Traumata können überwunden werden und Trauer macht

produktive Verarbeitungsprozesse möglich, weil die meisten Menschen über Resilienz, eine natürliche Überwindungskraft verfügen“ (George A. Bonanno: Die andere Seite der Trauer. Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden. Bielefeld 2015).

Es kann auch und gerade die Hühnersuppe der Nachbarin, der gemeinsame Einkaufsbummel mit der Freundin oder der Kaffeeklatsch bei der Tante hilfreicher sein als anspruchsvolle Therapiestunden beim Psychiater. Nur bei einem kleinen Prozentsatz der Trauernden ist medizinisch-therapeutische Hilfe angezeigt. Bleibt jener große Teil derer, die auf ihrem Weg des Abschiednehmens Orientierung, Gespräch und Begleitung und ein paar praktikable Hilfestellungen schätzen. Diese sind Ihr Klientel, liebe künftige Trauerbegleiter (Fallbeispiel: In der Trauer stark geworden). Fallbeispiel

In der Trauer stark geworden Ich war noch sehr jung, als eine Nachbarsfamilie auf dem Weg in die Ferien nach Italien schwer verunglückte. Der Vater, ein Arzt, der den Wagen fuhr, war sofort tot, die Mutter, Beifahrerin saß nach Monaten der Rekonvaleszenz für immer im Rollstuhl. Die 4-jährige Tochter starb im Krankenhaus, und der Sohn, 9 Jahre jung, überlebte leicht verletzt. Eine Oma, die länger schon in Venezuela lebte, kam Hals über Kopf angereist und war mit der Aufgabe konfrontiert, den Enkel, den sie ja kaum kannte, und sich selbst aus dem Schock zurück in den beschwerlichen Alltag zu führen. Der Junge ging einen unvergleichlich starken Weg. Oft schob er seine ja auch noch junge Mutter im Rollstuhl fröhlich durch den Stadtpark, oft zum Friedhof. Nach seinem Abitur und Studium wurde er Arzt. Für mich ist das ein Beweis: Wenn die inneren Anlagen vorhanden sind, können auch Mehrfach-Verluste und schwere Schockerlebnisse stark machen und müssen nicht grundsätzlich schwächen.

Unkomplizierte Hilfe und natürliche Überwindungskraft

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Trauerbegleitung in der Praxis 3.1 Stationen im Trauer-Verlauf – 27 3.2 Sind Sie (noch immer) bereit? – 28 3.3 Gesamtschau – 29 3.4 Leben, Tod und Sterben: Die Auseinandersetzung gibt Halt – 30 3.5 Unser Treffpunkt: Deine Traurigkeit – 31 3.6 Mehrfacher Verlust, unterschiedliche Bindung – 32 3.7 Moderationshilfen – 33 3.8 Erschwerung des Trauerverlaufs – 34 3.9 Unterstützende Voraussetzungen des Trauerverlaufs – 35 3.10 Einzelprobleme in der Praxis – 35 3.10.1 Wut und Kampf – 35 3.10.2 Zweifel – 36 3.10.3 Trauer-Arbeit – 36 3.10.4 „Alleine schaffe ich das nie“ – 37 3.10.5 Die Trauer steckt in allen Gliedern – 38 3.10.6 Von Anfang an begleiten – 38 3.10.7 Die Türe zur verletzten Seele öffnen – 41 3.10.8 Zielgerichtet fragen – 41 3.10.9 Abschieds-Erfahrungen – 43

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Bender, Praxisbuch Trauerbegleitung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0_3

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3.11 Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art – 44 3.11.1 Die Trauerhaltestelle als neue Form des Gedenkens – 46 3.11.2 Das fehlende Grab – 47 3.11.3 Trost und Trostbedürfnis – 48 3.11.4 Erinnerungen -Trost oder Last? – 50 3.11.5 Schuldgefühle und Selbstvorwürfe – 51 3.11.6 Bildhaftes Skizzieren des Umfelds – 52 3.11.7 Allgemein: Schreiben hilft – 66 3.11.8 Ankerplätze, Rituale und Aktionen – 67 3.11.9 Positiv mobilisierende Aktionen – 68 3.11.10 Trauer ist Stress – Angebote zur Entspannung – 70

3.1 · Stationen im Trauer-Verlauf

In meiner ersten Ausbildung übten wir an einem Trauer-Phasen-Modell, das sowohl Verena Kast, Jahrgang 1943, und ähnlich schon Elisabeth Kübler-Ross, Jahrgang 1926, aufgestellt hatten. Diese beiden werden gelegentlich als überholt beurteilt, sind deshalb aber nicht falsch. 3.1  Stationen im Trauer-Verlauf

Trauermerkale nach Verena Kast 1. 2. 3. 4.

Die Schockphase/Nicht-wahr-haben-wollen Kontrollierte Phase/aufbrechende Emotionen Regression/Trennung und Suche Adaption/Anpassung, Rückkehr in den Alltag

(Aus: Verena Kast: Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Erw. Ausg. Freiburg 2013).

Trauermerkale nach Elisabeth Kübler-Ross 1. 2. 3. 4. 5.

Phase: Leugnen, nicht-wahrhaben-wollen und Isolierung Phase: Aggression, Zorn und Ärger Phase: Verhandeln Phase: Depressive Phase Phase: Akzeptanz, Zustimmung

(Nach: Doreen Oelmann: Das Fünf-Phasen-Modell zum Sterbeprozess. Leipzig 2008. – Elisabeth Kübler-Ross/David Kessler: Dem Leben neu vertrauen. Stuttgart 2006).

Diese Stadien im Fortschreiten eines Trauerprozesses zu erforschen und zu verstehen, war und ist für manche Generation von „Trauerbegleitern“ eine gute Übung, um Begleitung und Hilfe weiter zu entwickeln. Auch Ihnen werden immer wieder neue Phasen-Modelle begegnen. Diese Modelle weichen nicht unbedingt gewaltig voneinander ab. Allerdings, so lehrt es die Praxis, taugen die Befindlichkeitsund Reaktions-Beschreibungen etwaiger einzelner Phasen hauptsächlich dazu, um eben die Stationen an sich zu benennen und zu verstehen, nicht aber, um eine Gewissheit von genau so aufeinanderfolgenden Ereignissen oder Abläufen zu begründen oder gar im Sinn einer Prognose vorher zu sehen.

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

3.2  Sind Sie (noch immer) bereit? Verständnis und Selbstschutz

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Empathie, Respekt, notwendige Distanz

Sie sollten sicher sein, dass Sie die nachfolgend aufgezählten „Lasten“, die schwierigen Mitbringsel Ihrer Schützlinge aushalten, ohne sich selbst damit zu quälen: 5 Leid 5 Wut und Zorn 5 Ablehnung 5 Misstrauen 5 Die Neigung zum Redeschwall oder zum „Schweigeschwall“, nämlich zum beharrlichen Schweigen 5 Die stetige Wiederholung und Vehemenz der Berichte 5 Unverhoffte Schwierigkeiten 5 Versuche, Sie gänzlich in Beschlag zu nehmen. In diesem Zusammenhang rate ich Ihnen, sich regelmäßige Supervision zu gönnen. Wie oben schon erwähnt, steht am Beginn der Beziehung zwischen Trauerndem und Begleiter ein persönliches Aufeinander zugehen, Kennenlernen und gegenseitige Option auf Akzeptanz. Als begleitende Person haben Sie die Fäden in der Hand. Bleiben Sie aber bitte unaufdringlich und behutsam. „Ich weiß, wie du dich fühlst“, ist so ein Spruch, den die meisten Betroffenen zurecht nicht hören möchten. Das eigene Fühlen, Leiden, Erinnern ist ein sehr intimes Geschehen! Die emotionale Beteiligung des Begleiters oder Therapeuten ist notwendig, darf aber nicht übergreifen. Begleiten bedeutet nicht, zu fühlen wie der Trauernde, sondern mit respektvollem Abstand Anteil zu nehmen, also „mit“-fühlen, ohne zu „be-mit-leiden“. > „Ich kann nicht fühlen, was du fühlst, aber ich möchte

versuchen, dich und deine Traurigkeit zu verstehen.“

Diese Worte zeigen Empathie und Respekt und bewahren notwendige Distanz.

Jetzt gilt es, den Betroffenen und sein Umfeld kennenzulernen, nachzufragen und achtsam zuzuhören. Die Erfahrung

bestätigt, dass die meisten Trauernden – Frauen mehr, Männer weniger – ein großes Mitteilungsbedürfnis an den Tag legen. In ihren Berichten neigen sie oftmals dazu sich beständig wiederholend um dieselben Begebenheiten zu drehen, eben um jene Ereignisse, die gerade in den letzten Wochen oder Monaten besonders quälend oder bedrohlich erlebt wurden. In dieser Weise sich die quälenden Belastungen „von der Seele zu reden“, ist befreiend. Begleiter sollten das aushalten, zumal wir wissen, dass das berufliche und private Umfeld dergleichen nicht lange auszuhalten vermag!

3.3 · Gesamtschau

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Um den besten Weg zu finden, auf welche Weise und bei welchen Geschehnissen wir gemeinsam Erleichterung finden,

bedarf es möglichst der ganzen Geschichte, also zurück bis in die ehemals gemeinsame Lebenszeit, die Zeiten möglicher Erkrankungen bis zum Todesereignis selbst. 3.3  Gesamtschau

Grundsätzlich wirken die unterschiedlichsten Faktoren, die den Tod und die Zeit davor betreffen, an Schmerz und Ausdruck der Trauer mit. Dazu gehören die Art und Intensität der Beziehung,

die der Verstorbene und der Trauernde hatten. Friede oder Unfriede in der vorherigen Bindung sowie im verbliebenen

Umfeld (etwa der Familie). In vielen Fällen, in denen sich ein Trauerprozess als besonders belastend darstellt, sind andere Probleme gleichzeitig akut. Weitere Einzelheiten finden Sie in 7 Abschn. 3.8 und 3.9. An dieser Stelle gilt es, behutsam die Wahrheit zu erforschen, um sie von einer möglichen Interpretation zu unterscheiden. Lang gehegte Ängste im Vorfeld des Ereignisses neigen dazu, sich mit real Erlebtem zu vermengen. Die angesammelten Verlustoder Frust-Ereignisse beim Namen zu nennen, bedeutet auch, sie voneinander zu trennen. Diese Entwirrung bietet eine Struktur, mit deren Hilfe jedes Thema, jedes Zerwürfnis dort eingeordnet werden kann, wo es hingehört, und dann neu, möglichst positiver bewertet werden kann. Jeweils die ganze Tragweite zu erkennen ermöglicht es uns Helfern, zu entscheiden, auf welchem Weg der Erschließung, mit welchem Ansatz wir mit dem Betroffenen eine Entwicklung anstoßen können. Bei diesem Prozess sollte sich auch erspüren lassen, wie man den besten Zugang zum Trauernden findet und welche nahestehenden Menschen, Familie, Freunde, eventuell zu Gesprächen oder auf sonstige Weise unterstützend hinzugezogen werden können. Ich wurde einmal gefragt, wie ich selbst mit Trauer umgehe, ob mir persönlich all die Studien, Gespräche und Erkenntnisse helfen? Ja, kann ich antworten, inzwischen schon. Aber damals, als meine geliebte Großmutter ganz plötzlich starb und ich sie im Koma am Boden liegend vorfand, war ich völlig unvorbereitet. Das war meine erste und zugleich schlimmste Trauer-Erfahrung. Es gab diesbezüglich keinerlei Begleitung oder Nachsorge. Ich wandelte mit einem Schock und täglich wiederkehrenden Träumen von eben dieser Todesszene noch Monate lang mehr neben mir selbst und unbeachtet von meiner sehr beschäftigten Familie durch mein junges Leben. Damals wurde mir auch bewusst, dass ich nie in Erwägung gezogen hatte, die Großmutter könne bei ihrem fortgeschrittenen Alter einmal nicht mehr da sein.

Trauer – Sammelstelle vieler Sorgen

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) schrieb dem Freund Eckermann, als dieser in Trauer war:

» „Der Tod ist doch etwas so Seltsames, dass man ihn,

unerachtet aller Erfahrungen, bei einem uns teuren Gegenstande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes eintritt. Er ist gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser Übergang, aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewaltsames, dass es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht“ (Aus: Thomas Moellenbeck/Berthold Wald: Tod und Unsterblichkeit. Erkundungen mit C.S. Lewis und Josef Pieper. Münster 2015).

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3.4  Leben, Tod und Sterben: Die

Auseinandersetzung gibt Halt

Der Tod gehört zum Leben

Der Tod und das Sterben sind jene Themen, die wir uns frühzeitig im Leben erschließen sollten. Je mehr wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen, desto mehr Halt haben wir, wenn der Fall eintritt. In den Familien gäbe es genug Gelegenheit, es so zu machen wie damals bei den Großeltern. Die heute Betagten erinnern sich zumindest an Erzählungen: Die tote Oma lag noch ein, zwei Tage zuhause in ihrem Bett, und die Kinder spielten drum herum … und begriffen: Die Oma ist jetzt tot. Daran war nichts Abschreckendes, auch nicht für die Kinder. Der Verstorbene, in der Mitte der Familie verweilend, nahm dem Geschehen zumindest das Schaurige und gab Gewissheit. Doch hierfür scheint es heute weder Zeit noch Raum zu geben. Schade. Wenigstens von solchen Erinnerungen zu berichten, wäre schon eine kleine Vorbereitung, ein Steinchen im Mosaik des Todes-Verständnisses und des wohlwollenden Umgangs mit den Toten. Vielerlei auch kindgerechte Literatur ist inzwischen auf dem Markt. Dort finden sich Bilder und Geschichten, die ein gesundes Interesse an dem doch so Geheimnisvollen und scheinbar Unbegreiflichen am Ende eines Erdenlebens erwecken können. Nicht zuletzt sehe ich das Tor, das in tröstliche Gedanken-Gefilde führt, eben dort, wo man frühzeitig um das Thema Tod ringt und sich damit ein persönlich passendes Verständnis vom Tod erwirbt. Doch meist geht es anders herum. Erst nach einem Abschied durch den Tod im engsten Kreis kommen die Fragen: Gibt es im Sterben und danach noch irgend eine Art von Wahrnehmung? Ist dann alles vorbei? Oder „leben und wirken“ unsere Toten aus der geistigen Welt irgendwie weiter? Wir können und müs-

3.5 · Unser Treffpunkt: Deine Traurigkeit

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sen als Begleiter keine Antwort wissen, und Dogmen verbieten sich von vornherein. Aber wir sollten offen sein für die eigene Philosophie des Trauernden. Wenn Sie spüren, dass ein Mensch dieses Neuland betreten will, verhelfen Sie demjenigen zu entsprechender Lektüre oder, noch besser, Sie lesen diese Bücher dann gemeinsam. 3.5  Unser Treffpunkt: Deine Traurigkeit

Es gilt, den Trauernden an eben seinem Platz im Schmollwinkel oder auf dem von ihm selbst gelegten Glatteis abzuholen. Wir sind gehalten, seine Erkenntnis, seine Kompetenz, seine Wahrnehmung der Ereignisse an- und aufzunehmen. Die Ausgangs-Situation unseres Vorgehens beruht immer auch auf der Lebens-Reife und dem Spektrum der Befindlichkeits- und Verhaltensmuster beim Trauernden. Welche helfenden Impulse förderlich sind, welche nicht, erfährt der Begleitende aus der Wahrnehmung, welche geistige Sicht, welche Vorstellungen über den Tod und das Sterben beim Trauernden angelegt ist. Wichtige Schlüsselerlebnisse liegen in den Ereignissen, den Momenten, den Tagen, während derer der Angehörige liebevoll begleiten konnte, oder als sich im schlimmsten Fall die Dinge unausweichlich zum Drama entwickelten. Da ist der Einschnitt, das Ungewöhnliche: Hier war der Betroffene vielleicht hilflos und überfordert. Im positiven Fall ist im privaten Umfeld schon konstruktive und zeitnahe Unterstützung geschehen. Professionelle Begleitung ist gewährleistet, wenn die in Sorge stehenden Angehörigen begleitet und auf das Geschehen hin geführt werden. Das gelingt beispielsweise, wenn ein Angehöriger nach einem Aufenthalt in einem Hospiz oder auf einer gut geführten Palliativ-Station stirbt. Als Palliativ-Medizin, vom lateinischen „pallium“, „Schutzmantel“ abgeleitet, bezeichnet man diejenige Medizin, deren Ziel nicht mehr die Wiederherstellung der normalen Körperfunktionen ist, sondern eine rein schützende und schmerzlindernde Versorgung des im allgemeinen unheilbar kranken und an der Schwelle des Todes stehenden Patienten. Der Abschied ist ein Wegweiser in die Trauer, eröffnet oder behindert eine gute Bewältigung der Trauer. In Deutschland haben Betroffene seit dem Jahr 2015 dank des Hospiz- und Palliativgesetzes einen Rechtsanspruch auf eine geeignete Versorgung am Lebensende (vgl. 7 www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/h/hospiz-undpalliativgesetz.html). Ferner beeinflusst die kulturelle und religiöse Herkunft der Menschen abweichende Voraussetzungen und Vorstellungen dessen, was „richtig“ ist. Wir treffen auf Trauernde mit einem weiten

Den Trauernden abholen

Geschütze Räume: PalliativStation und Hospiz

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Horizont an Bildung und Spiritualität, oder auch auf solche, die alles Geistige rundweg ablehnen, oder auf die, die schlicht ausgedrückt eben „sehr einfach gestrickt“ sind. Egal, ihre Not ist unsere Aufgabe.

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3.6  Mehrfacher Verlust, unterschiedliche

Bindung

Tatsächlich sind mir Menschen begegnet, die binnen kurzem den Tod dreier Generationen von Familienangehörigen zu beklagen hatten. Sie hatten ein Paket voll Trauer geschnürt, ohne sich die Trauer beim einzelnen Verstorbenen ausreichend gestattet und erschlossen zu haben. Jeder neue Abschied läuft Gefahr, einfach zusätzlich „oben aufgeladen“ zu werden, bis es völlig unmöglich erscheint, nun ganz allein weiter zu leben. Unfälle oder Naturkatastrophen führen zum Verlust ganzer Gruppen von Freunden und Bekannten aus dem eigenen Lebensumfeld (. Abb. 3.1). Wie gelingt es, sich da „heraus zu trauern“? Um zu entlasten, heißt es jetzt, das Paket aufzuschnüren. > Jede Trennung bedarf eines gesonderten, ganz individuell

auf die jeweilige Person und auf deren spezielle Bindung bezogenen Lösungs- und Trennungsprozesses.

Der Abschied durch den Tod ist immer schlimm, aber es ist ein Unterschied, ob ich ein Kind zu Grabe trage, eine Schwester oder den Bruder, ob es der Ehe- oder Lebenspartner oder die Großmutter, der Großvater ist.

Drei Unfallopfer = Trauer mal drei mein Bruder Patrick

Patricks + mein Freund Tom

Toms Sohn, mein Patenkind Marc . Abb. 3.1  Drei Unfallopfer

ich trauere um

ich trauere mit

Patricks + meine Freundin Ute Toms Schwester Suse

Mary, Toms Ehefrau und der Mutter von Marc

3.7 · Moderationshilfen

Warum ist das ein Unterschied? Weil die Beziehung, das was mir der andere und was mir meine Wegstrecke mit ihm bedeutete, sich unterscheiden. Das ist keine Frage größerer oder geringerer Trauer, aber jetzt sind die Lebensumstände nicht mehr, die ich genau mit diesem und nur mit diesem Menschen habe erfahren und erleben dürfen. Da gibt es womöglich Vermächtnisse, vererbte Talente, erlernte Fähigkeiten, die geblieben sind. Sich deren bewusst zu werden, sie anzunehmen, ist Trost und kann zur Ich-Stärkung beitragen. Selbst eine Befreiung aus dem Reglement eines allmächtigen Vaters oder einer herrschsüchtigen, egoistischen Mutter bedarf einer achtsamen Hinwendung. Es gilt, sich auch innerlich für den weiteren eigenen Lebensweg von der nicht mehr existierenden Last bewusst zu befreien. „Es war schwierig mit dir“, oder auch: „Ich kann dir vergeben.“ So könnten Ansätze zum Beispiel für einen Brief an jenen Verstorbenen sein. In der nachträglichen, späten Aufarbeitung eben eines derartigen „Trauerpakets“ ergibt sich die Reihenfolge des Vorgehens aus der Berichterstattung des Betroffenen und den darin erkennbaren Gewichtungen. Lassen Sie sich erzählen, was es über jeden Einzelnen an Besonderheiten und über die jeweilige persönliche Bindung zu berichten gibt. 3.7  Moderationshilfen

Um in diesem Fall die Verstorbenen als Gruppe und zugleich die Einmaligkeit des Einzelnen zu veranschaulichen, bieten sich verschiedenfarbige auf dem Tisch ausgelegte Moderationsblätter in A4-Größe. Jedes trägt alsbald den Namen einer verstorbenen Person aus der Gesamtgruppe. Nun können aus den Erzählungen des Betroffenen Stichworte zur Person, zum gegenseitigen Verhältnis usw. gefunden und gesammelt werden. Sie werden auf unterschiedliche kleine Textcontainer aus runden und ovalen Post-its notiert. Im Verlauf der folgenden Erschließungsarbeit benennen wir für jede einzelne Person den jeweiligen Wirkungs-, Bindungs- oder Beziehungsgrad zum Trauernden und zur gemeinsamen Geschichte. Vielleicht bedarf es eines gesonderten, nachgeholten Abschieds, der aus der Gruppe herausgelöst vollzogen wird. Nach solcher ausführlicher Hinwendung zu den einzigartigen Biografien bleibt beim Trauernden der Eindruck, alle bedacht und verabschiedet zu haben. Wo es zum Trauernden passt, könnte auch ein ganzes Päckchen Abschiedsbriefe entstehen, die dann alle miteinander in einer eindrucksvollen Aktion verbrannt werden.

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

3.8  Erschwerung des Trauerverlaufs

Summierung emotionaler Spannungen

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5 Ängste, Verwirrung, Unbehagen 5 Organ-Entnahme in Unkenntnis einer vorhandenen Einwilligung des verstorbenen Ehepartners, Verzögerung des Sterbeprozesses. 5 „Ich kann nicht auf den Friedhof.“ 5 Allgemeine Angst vor allem was mit dem Tod zu tun hat, nicht selten vagabundierende Gruselgeschichten aus der Kindheit. 5 Das Gefühl etwa bei Suizid, bestraft worden zu sein. 5 Dem Verstorbenen „nicht begegnen“ wollen, nachtragend sein, vorausgegangenes Tun oder Lassen strafen. 5 Dramatische Erfahrungen 5 Im Krankenhaus, beim Bestatter während der Trauerfeier, mit Versicherungen, innerhalb der Familie usw. 5 Unfalltod – „Warum habe ich überlebt, er/sie aber nicht?“ 5 „Ich war nicht da!“ Die Zeit, welche sich die Nahestehenden am Krankenbett, zur Sterbebegleitung und den Tagen des Abschiednehmens nicht nehmen (konnten), manifestiert sich oft als „schlechtes Gewissen“. 5 Trennung ohne Abschied 5 Plötzlicher, unerwarteter Unfalltod, Suizid, tödlicher Infarkt. 5 Nach einem Zerwürfnis oder Streit, ohne versöhnt zu sein. 5 Ungeklärt und gewaltsam (oft fehlt der Leichnam) 5 Katastrophen, Gewalt, Krieg, Naturereignisse. 5 Zweifel an der Wahrheit von Informationen. 5 Unklarheit zu geschehender Organentnahme. 5 Überlastung 5 Lange intensive, kraftraubende Pflege und Betreuung. Koma, Demenz. 5 Trennung nach vorausgegangenen zwischenmenschlichen Konfliktsituationen. 5 Trennung zur Unzeit 5 Tod eines Kindes, Tod eines Ungeborenen. 5 Trennung kurz nach einer positiven Lebenswende, wie Hochzeit, Neubezug eines eigenen Hauses usw. 5 Trennung aus einer heimlichen Beziehung 5 Heimliche Partner-Beziehung, aus ehelichen oder religiösen Gründen oder aus Standesdünkel im Verborgenen gebliebene Beziehung. 5 Gefühl der Perspektivlosigkeit 5 Verhinderte, unterdrückte Gefühle und Bedürfnisse. 5 Verlust von Gegenwarts- und Zukunftsorientierung. 5 Totaler Rückzug, Isolation, fehlende Kontakt- oder Bindungsfähigkeit. 5 Flucht in eine Scheinwelt

3.10 · Einzelprobleme in der Praxis

Manchmal begegnen uns sehr weltfremde Vorstellungen und Aussagen, geboren im ersten Schmerz Trauernder. Doch keine noch so irrige, noch so naive Äußerung sollte der Begleitende gleich verneinen oder kommentieren. Auch eigene Überzeugungen sollten nicht „übergestülpt“ werden. All dieses in den ersten Turbulenzen Gesagte ist zugleich der Beginn der zurückgebliebenen Angehörigen, Trauer für sich selbst zu erschließen. Mit etwas Geschick bietet jede Fantasie einen Ansatzpunkt, um auf einen guten Weg zu begleiten. Vergleichen Sie dazu auch das Fallbeispiel: Verirrter Trost, 7 Abschn. 3.11.6. 3.9  Unterstützende Voraussetzungen des

Trauerverlaufs

5 Lebensmut, Selbstvertrauen 5 Neue Beziehungen und Aktivitäten sind möglich. 5 Nicht nur Verlust, auch neue Freiheiten werden erkannt. 5 Positive Lebenserfahrungen 5 „Bisher ging immer wieder eine Türe auf.“ 5 Der Trauernde ging aus bisherigen Krisen stark hervor. 5 Akzeptanz des Unabänderlichen 5 Realistisches Gegenwarts-Bewusstsein. 5 Neu gestaltete Verbundenheit gegenüber dem Verstorbenen entsteht, er wird zum verinnerlichten, vertrauten Helfer. 5 Der Trauernde bringt nun den Mut auf, gewisse, bisher gemeinsame Verantwortung nun allein zu übernehmen (Familie, Betrieb usw.). 5 Zufrieden mit dem Glück des Gewesenen 5 Erinnerung bleibt wirklichkeitstreu und tröstet. 5 Gemeinsam Geschaffenes kann bewahrt bleiben. 3.10  Einzelprobleme in der Praxis 3.10.1  Wut und Kampf

Zuweilen entstehen während einer Pflegephase oder im Erbfall zwischen den Angehörigen oder anderen Verantwortlichen heftige Konflikte. „Ich habe nicht nur meinen Mann verloren,

sondern mit ihm alles, was wir gemeinsam aufgebaut haben.“

So lautete die Aussage einer 35 Jahre alten Frau, die ohne Ehe-, Besitz- und Erbschaftsregelung den Partner verlor. Hier müssen gegebenenfalls Fachleute, also Juristen, Schlichtungsstellen usw. mit einbezogen werden. Fragen Sie, ob Sie den Betroffenen zu einem ersten Termin begleiten sollen, allein finden entmutigte Betroffene vielleicht nicht die Kraft zu solch einem Schritt.

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Für die „Wut im Bauch“ sind unter anderen folgende Übungen hilfreich. 5 Im Wald schon am Boden liegende Äste klein brechen. 5 Ein paar alte Teller im Keller zerschlagen. 5 Einen Wut-Brief schreiben und diesen dann an sicherem Ort verbrennen oder vergraben. 5 Aktivitäten wie Sport, Holzhacken, Keller entrümpeln, usw. 5 Mediation (Vermittlung durch professionellen Coach) 5 Entspannungsübungen.

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3.10.2  Zweifel Grenzen des Verkraftbaren

Nach einem Unfall oder Brand, wenn davon abgeraten wird, den Leichnam anzusehen, fehlt das „Bild“ des leblosen Angehörigen. In der Erinnerung gibt es ihn nur als lebendigen Menschen. Hier bedarf es des langen Atems, sich gemeinsam in der Zeit noch einmal zurück zu denken. Jetzt mit Abstand, mit inzwischen gemildertem oder überwundenem Schock kann das gelingen. Ergo: Fakten suchen und diese immer wieder benennen: Was geschah damals? Betrachten wir die „Zeugnisse“ des Ablebens sowie der Bestattung: Polizeibericht, Notarzt- oder Klinikbericht, Zeitungsartikel, Todesurkunde, Unterlagen des Bestatters, des Krematoriums sowie die Todesanzeige. Fragen Sie, welcher Sarg, welche Bestattungsform, welcher Bestattungsort seinerzeit gewählt wurde. Führen Sie den Trauernden imaginativ zurück in die Tage, als das alles ausgesucht und entschieden wurde. Unterstreichen Sie im Gespräch: „Ja, das ist Tatsache!“ Begleiten Sie den Trauernden zum Friedhof oder in den Trauerforst. Einbezogen werden können Nachbarn, die das Geschehen mit verfolgen und darüber berichten können. Mittrauernde, die den Verlust auch beklagen, unterstützen sicher gern, indem sie mit ihrer eigenen Wahrnehmung beitragen. Auch im Nachhinein können all diese Bemühungen eine klare, zuvor nicht erreichte Gewissheit schaffen und damit erlösende Trauer endlich zulassen. 3.10.3  Trauer-Arbeit

Der Begriff Trauer-Arbeit beruht auf ersten Hinweisen Sigmund Freuds (1856–1938) zur Trauer-Bewältigung. Ich möchte den Begriff der „Bewältigung“ gern durch „Umwandlung“ ersetzen. Wir helfen Trauer ohne Gewalt zu verwandeln: vom Schmerz hin zur wohltuenden Erinnerung. Trauer vergeht nie, sagen viele Menschen Jahre nach einem Verlust und bestätigen gleichwohl, dass sie immer besser mit der Trauer zurecht gekommen sind.

3.10 · Einzelprobleme in der Praxis

Es geht also nicht darum, dem Betroffenen die Trauer aus- oder wegzureden, es gilt, den Prozess so zu gestalten, dass der Betroffene bald weitgehend unbelastet damit leben kann. Wenn der Trauernde die Transformation vom „Nur Weh tun“ der Trauer zum „Auch Gut tun“ der Trauer durch positiv gespürte Erinnerung vollzogen hat, kann der Verstorbene auch weiterhin eine, wie auch immer von Einzelnen erwartete oder auch schon erfahrene hilfreiche und liebevolle Rolle im Leben des Nahestehenden einnehmen.

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Umwandlungsprozess – sich der neuen Wirklichkeit stellen

„Trauer-Arbeit“ ist der Oberbegriff all dessen, was der Trauernde in der schweren Zeit unternimmt, um seine Befindlichkeit zu verbessern. Die „Arbeit“ des Begleiters ist, egal wie wir sie benennen, den Betroffenen zu einer aktiven Beschäftigung mit der Realität des Verlustes und aller begleitenden Konsequenzen hin zu führen. Wir helfen dabei, auf einem gangbaren Weg

zu bleiben. Weder eine nachträgliche Glorifizierung des Verstorbenen, noch eine weitere Dramatisierung der Vorkommnisse verhelfen zu einer „heilen“ Trauer. R.M. Smeding war meine Ausbilderin in Trauerbegleitung. Sie hat den Begriff der „Trauer-Erschließung“ entwickelt. (vgl. Ruthmarijke Smeding/Margarethe Heitkönig-Wilp (Hrsgg.): Trauer erschließen. Eine Tafel der Gezeiten. 2005, sowie 7 www.trauer-erschliessen.de). Dieser Begriff lässt den Gedanken zu, dass etwas von der Trauer, nämlich die Erinnerung an den Verstorbenen sowie die Wertschätzung des einst Gemeinsamen, ein inzwischen süßer Schmerz bleiben darf. Wie wir es auch nennen, es ist wahrhafte Anstrengung! Es ist die eine unbestimmt lange Zeit dauernde, psychische und praktische Auseinandersetzung mit weitgehend unabänderlichen Bedingungen der neuen Wirklichkeit. Der Trauernde steht, wenn wir ihm begegnen, wie an einer Lebenskreuzung mit einer scheinbar dauernd roten Ampel. Alle Bemühungen des Trauernden und seines Begleiters zielen auf „freie Fahrt“ in ein streckenweise ganz neu gestaltetes Leben. 3.10.4  „Alleine schaffe ich das nie“

Nach dem Verlust der großen, wahren Stütze, die mit dem Verstorbenen verloren ging, dürfen wir den Trauernden an seine eigenen Ressourcen erinnern und zur Mobilisierung ermutigen, etwa durch Rückbesinnung auf die eigene bisherige Lebensleistung, auf Talente und Erfolge. Gestaltungsmöglichkeiten und Perspektiven lassen sich dort, wo Prozesse zum Stillstand gekommen sind, leichter gemeinsam finden. Es gilt, die Fähigkeiten, die zuletzt nicht mehr wahr-

genommen wurden, aufzufinden und den Trauernden zu neuer Initiative zu motivieren, bevor Resignation und Selbstaufgabe drohen. Bei vielen „Aufgaben“, die zuvor ein Partner oder

Familienmitglied erfüllt hat, stellt der Trauernde fest: „Das kann

Motivation – Fähigkeiten auffinden

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

ich auch!“ oder „Das kann ich lernen.“ Für andere Aufgaben lassen sich befreundete oder professionelle Helfer finden. Nutzen Sie die Unterstützung eines großen Bogens Papier und verschiedenfarbiger Filzstifte, um Ideen und Lösungen festzuhalten.

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3.10.5  Die Trauer steckt in allen Gliedern

Trauer-Stress speichert sich auch im Körper ab. Man spricht von einer „Gedächtnisfähigkeit“ des Leibes. Häufiges Zittern und zuvor nicht gekannte körperliche Unsicherheit sind einige erkennbare Symptome. Helfend bewährt haben sich als Therapien und Übungen Yoga, MBSR (Stress-Reduktion durch Achtsamkeits-Meditation), Progressive Muskelentspannung, Heileurythmie, Kreistänze in der Gruppe. Auf ausgedehnten Spaziergängen erreichen wir zweierlei, es lässt sich gut reden und erzählen, die frische Luft und die Bewegung stärken und geben ein positives Körperempfinden. 3.10.6  Von Anfang an begleiten

Wo beginnt der Weg des Abschieds? Trauer beginnt sehr oft schon lange vor dem Todesereignis. So löst die Übermittlung einer Diagnose mit wenig oder keinen Heilungschancen schon einen beginnenden Abschiedsschmerz aus. Frühzeitig stützend begleiten könnte bedeuten, den Familien, den zueinander gehörenden Menschen möglichst noch vor dem Tod ihres Angehörigen zu begegnen. Was bei plötzlichen Ereignissen nicht geschehen kann, wäre bei vorhersehbarem Eintritt des Sterbens in vielen Fällen besonders hilfreich. Damit komme ich zu Beispielen aus meiner Praxis als Trauerbegleiterin und Trauerrednerin. Alle Fallbeispiele und Berichte sind zugunsten der Übersichtlichkeit auf die wesentlichen Inhalte gekürzt, Namen sind selbstverständlich geändert. Fallbeispiel

Der Hausbesuch als erster Schritt zur Begleitung Ein Blick ins Angesicht des scheidenden Menschen

Gerufen war ich, um ohne Eile mit der ganzen Familie eine Trauer-Ansprache zu entwickeln. Der Familienvater lag im Sterben. Ich empfand es als ganz besonders hilfreich für mich selbst, alle Familienmitglieder, Ehefrau und drei erwachsene Kinder samt zweier Schwiegerkinder zu diesem Zeitpunkt in ihrem privaten Umfeld kennen zu lernen. Der schwer kranke Vater und Ehemann, ein ehemals erfolgreicher Geschäftsmann – noch bei Bewusstsein – war auf seinen

3.10 · Einzelprobleme in der Praxis

­ evorstehenden Tod vorbereitet. Ich wurde in das geräumige Schlafb zimmer an sein Bett geführt. Als ich ihm dort von seiner Frau vorgestellt wurde, öffnete er die Augen und lächelte. Ein Blick ins Angesicht des scheidenden Menschen, die Umgebung, die Familie und nicht zuletzt seine Aussicht in den Garten, die man ihm durch die richtige Ausrichtung des Bettes geschaffen hatte, boten mir reichhaltige Erkenntnis, nicht nur für die passenden Worte zur Trauerfeier. Ich konnte mir so auch ein Bild darüber machen, aus welchen Lebensgewohn­heiten hier ein Mensch hinaus ging und welche Risse sich im Leben der Zurückblei­ benden auftun würden.

Fallbeispiel

Weihnachtsfest mit der Verstorbenen Die im Alter von 80 Jahren verstorbene Ehefrau und Mutter erwachsener Kinder und Großmutter sollte über Weihnachten in der Familie bleiben. Ich wurde am Tag vor Heiligabend vom Familienvater gerufen. Die Ehefrau war am Vortag aus der Klinik heimgekehrt. Sie schlief spät in derselben Nacht in ihrem Bett zuhause ein. „Meine Frau, die Mutter und Oma bleibt natürlich über Weihnachten bei uns“, hatten alle gemeinsam beschlossen. Um jeglichen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, verzichtete die Familie darauf, gleich den Bestatter zu benachrichtigen. „Das eilt uns nicht!“ Ein stilvolles Sofa war in die Mitte des „Studierzimmers“ gerückt worden. Nachdem die Frauen der Familie die Verstorbene gewaschen und neu gekleidet hatten wurde sie dort mit einer weißen Wolldecke umhüllt gebettet. Durch das einen Spalt geöffnete Fenster, vor dem gekippten Fensterladen, erreichte ein Hauch Frischluft den Raum. Eine große Kerze, in einer überdimensionalen Glasvase sicher untergebracht, brannte neben dem Diwan. Anwesend waren zu meinem Besuch der Ehemann im dunklen, feinen Anzug, beide Söhne mit Ehefrauen, vier Kinder und drei Enkel. Ich wurde, um die Oma „kennen zu lernen“, für einige Minuten in diesen Raum geführt, wo ich mit ihrem Ehemann, dem alten, aufrechten Herrn, stumm verweilte. Das Vorgespräch zur Trauerfeier führten wir am ersten darauffolgenden Werktag nachmittags, nachdem der Bestatter die Dame abgeholt hatte. Selbstverständlich kam ich ein zweites Mal ins Haus. Vier Wochen nach der Beisetzung trafen wir uns erneut. „Ich möchte mit Ihnen über all das reden, was mich bewegt“, sagte der Witwer. „Das tue ich freilich auch mit den Kindern, aber die sind ja nun wieder über alle Berge. Ich habe lieber jemanden, der mir dabei gegenüber sitzt.“ Wir sprachen über die Dauer von vier Monaten miteinander, jede Woche etwa eine Stunde. Dem Witwer bedeutete es viel, dass ich seine Frau noch gesehen hatte. Das, so betonte er immer wieder, mache es ihm leichter, mit mir über seine Ehe, die Erkrankung der Frau und all seine jetzigen Entbehrungen zu sprechen. So ideal vorbereitet allerdings wie in diesen beiden vorstehenden Berichten begegnet uns, den Begleitern die Möglichkeit, frühzeitig dabei zu sein, leider selten.

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Professionelle Palliativ-Begleitung

» „In der Palliativversorgung sprechen wir von der unit of 3



care und meinen damit, dass wir nicht nur PatientInnen, sondern auch deren unmittelbares soziales Umfeld betreuen. Nehmen wir diesen systemischen Ansatz ernst, so können wir die Versorgung nach dem Tod des Patienten nicht beenden. Doch wie könnte eine sinnvolle Begleitung der An- und Zugehörigen nach dem Versterben einer nahen Bezugsperson aussehen? Gesprächsgruppen oder Trauercafés sind Angebote, die von einer überwiegend weiblichen Minderheit der Hinterbliebenen genutzt werden, und sie haben eine relativ hohe Schwelle, da sie aktiv aufgesucht werden müssen. Der Ambulante Palliativdienst des Hospiz Luise in Hannover hat vor dem Hintergrund dieser Problematik ein Konzept niedrigschwelliger nachgehender Trauerbegleitung entwickelt. Jeder nahe An- oder Zugehörige eines betreuten Patienten wird in der Regel drei bis sechs Monate nach dem Tod der Bezugsperson von einer Mitarbeiterin angerufen, die bisher nicht in der Versorgung involviert war. Profitiert der Angehörige von diesem Gespräch, wird der telefonische Kontakt bis zum Jahrestag des Versterbens fortgesetzt. Positive Rückmeldungen und eine hohe Akzeptanz zeigen, dass Zurückbleibende sich durch diese Kontakte gestützt und gehalten fühlen. Die Pflegenden schätzen diese Intervention, da sie sich in dem Wissen, dass es noch einen Kontakt geben wird, leichter aus der Versorgung zurückziehen können. Teil des Konzeptes ist auch eine kurze Information der Pflegenden über die Themen der Gespräche, dazu gehören auch Feedbacks über die Versorgungsqualität. Mehr als zehn Jahre Erfahrung mit diesem Konzept zeigen: Der eher distanziert erscheinende telefonische Kontakt mit einer außen stehenden Person ermöglicht relativ schnell eine große Tiefe des Gesprächs und er kann zeitlich unmittelbar an die Bedürfnisse des Gesprächspartners angepasst werden“ (Vgl: Reimann, Was wollen Sie denn – mein Mann ist doch gestorben! Palliativmedizin 2016; 17(05): 1–59 7 https://doi. org/10.1055/s-0036-1594088 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart)

Wenn Sie weder in der Pflege noch bei der Trauerfeier oder zuvor schon Kontakt zu den zugehörigen Betroffenen knüpfen konnten, werden Sie häufig auf jene treffen, die erst nach geraumer Zeit bemerken, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen möchten.

3.10 · Einzelprobleme in der Praxis

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3.10.7  Die Türe zur verletzten Seele öffnen

Ich setze voraus, dass Ihnen zu diesem Zeitpunkt bekannt ist, wer verstorben ist und aus welcher Art von Beziehung der Trauernde herausgebrochen ist. Als Begleiter versuchen wir, das innere Schweigen und die eventuell erkennbare Passivität des Trauernden zu beenden. Hier geht es um die Ermutigung zu emotionaler Ausdrucksfähigkeit. Viele Menschen scheinen in dieser Zeit davon überzeugt, dass sie ja doch keiner versteht. Auch Weinen ist erlaubt, das signalisiere ich immer mit bereitgelegten „Tränentüchern“, nämlich Papiertaschentüchern. Den Trauernden aus der Sprachlosigkeit zu locken, kann über ein Fotoalbum gelingen. Begleiten Sie den Trauernden zum Friedhof, oder an Orte, die einen hohen Erinnerungswert haben. Auch dort finden sich Themen und Erlebnisse, die gern erzählt werden. Ergreifend für mich und entschlüsselnd für eine junge Witwe entwickelte sich unser Kirchgang an einem Nachmittag mitten in der Woche. „Wir haben uns im Kirchenchor kennen gelernt, wir heirateten in dieser Kirche und unser Kind ist hier getauft – gehen Sie doch bitte mit mir dorthin.“ Gern folgte ich dieser Aufforderung. Wir setzten uns in ein Seitenschiff in eine hintere Bank. Dem Ort Respekt zollend erzählte mir die Trauernde mit leiser Stimme das gemeinsame, glückliche Leben bis zu dem tragischen Unfall, der ihr den Vater ihres Kindes und den Ehemann nahm. Allein die Örtlichkeit brachte so viele Erinnerungen, bedeutete ihr Schutz und Trost.

Über einige Wochen trafen wir uns dort, immer am Mittwochvormittag für etwa eine halbe Stunde. „Es hat mir so gut getan, Ihnen gerade hier so viel erzählen zu dürfen.“ Ein paar wenige Anregungen, was sie in ihrem Leben nun verändern könnte, nahm die junge Frau dankbar an. Als wir uns trennten, hatte sich der Alltag bei ihr wieder eingespielt. „Danke, ich komme gut zurecht.“

3.10.8  Zielgerichtet fragen Allgemeine Fragen an und Ansatzpunkte für den Trauernden

sind zum Beispiel: 5 Erzählen Sie von den Themen und Unternehmungen, die Sie und den Verstorbenen auf besondere Weise im Leben verbanden. 5 Stichworte: Sport, Kunst, Haustiere, Reisen, Kochen, Garten, Wandern usw. 5 Was haben Sie am Kranken- bzw. Sterbebett miteinander gesprochen? 5 Welche Gedanken quälten, welche trösteten Sie?

Aus der Sprachlosigkeit abholen

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

5 Erzählen sie von den Besonderheiten, auch Ecken und Kanten, der verstorbenen Person. 5 Wie haben Sie die Trauerfeier, die Beisetzung erlebt? Fragen bei Tod nach Krankheit oder im hohen Alter:

5 Erinnern Sie sich an die jüngeren Lebensjahre des Verstorbenen, was bestimmte damals sein Leben und Wirken? 5 Wie ging der Verstorbene als Patient mit seinem Schicksal um? 5 Was prägte die letzte Zeit? 5 Wie sehen Sie Ihre Rolle an seiner Seite über die Jahre?

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Fragen bei unerwartetem, tragischem Tod:

5 Schildern Sie die gemeinsam erlebten Wochen, den ganz normalen Alltag vor dem Ereignis. 5 In welcher Situation, zu welcher Zeit erreichte Sie die schlimme Nachricht. 5 Wer war in diesem Augenblick bei Ihnen? 5 Welche Pläne des Verstorbenen blieben unerledigt? Wollen Sie diese aufgreifen? Verdrängte Bilder tauchen auf – erzählen entlastet

Liebevoll und schwärmerisch erzählte Geschichten und heftige Gefühlsausbrüche, Erschütterung, Wut und Unverständnis zum Beispiel gegenüber Ärzten, Heimen oder gar gegenüber Familienmitgliedern werden diese Gespräche begleiten. Bisher verdrängte, unausgesprochene und von Angst besetzte innere Bilder finden, da der Begleiter ausdrücklich nachfragt, vielleicht endlich den Weg über die Lippen. Das halten wir aus! Hören Sie zu und notieren Sie sich Stichworte, um später in der Erschließung anknüpfen zu können, ohne dass Sie jetzt unmittelbar unterbrechen. In der Regel ist es

für den Trauernden befreiend, all das, was in ihm umgeht, auch wütend oder weinend erzählen zu dürfen. Wir fordern nicht

dazu auf, „doch nicht mehr zu weinen“. Tränen wollen und sollen nach draußen, das entlastet. Erzählt wird von der Freude der Schwangerschaft bis zum Entsetzen der Fehlgeburt, vom gemeinsamen Leidensweg bei Erkrankungen, von der Intensivstation, vom Notarzt, von Helfern, vom Sterbebett und der Trauerfeier. Oft erleben wir, dass gewisse Erfahrungen auch vielfach wiederholt erzählt werden, so lange eben, bis die Seele erleichtert ist. Begleiter lernen so ganz nebenbei das zugehörige Umfeld und die verschiedenen Personen kennen. Das hilft beim Verständnis und bei Lösungen familiärer Konflikte. Erschwerte Trauer entsteht dann, wenn zuletzt im Krankenhaus, im Heim oder im Familienkreis Versäumnisse, Ungeschicklichkeiten oder grobe Fehler passiert sind, wenn Absprachen übergangen, oder Lügen das Geschehen begleitet

3.10 · Einzelprobleme in der Praxis

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haben. Auch von Dritten verschuldete Unfälle und damit einhergehende Gerichtsverfahren erschweren oder verzögern das zeitnahe Eintreten in die Wahrnehmung der Trauer. 3.10.9  Abschieds-Erfahrungen

Mehrfach durfte ich die letzten Stunden sterbender Menschen begleiten. An meine erste, diesbezügliche Erfahrung, die ich während eines Ferienjobs (man hatte in der Schule um Schülerinnen dafür geworben) im Alter von 15 Jahren im örtlichen Krankenhaus machte, will ich mich nur deshalb erinnern, weil sie mir vermutlich den ersten Impuls gab, mich dann, viel, viel später, mit darum zu bemühen, dass es anders wird! Es war wirklich unsäglich, welche unschöne Abfertigung ein sterbender alter Herr und seine Angehörigen erleben mussten abgeschoben aus dem Krankenzimmer und in eine Art Besenkammer verbannt. Es war schlimm für mich, Derartiges völlig unvorbereitet miterleben zu müssen. Glücklicherweise hat in dieser Hinsicht in den Krankenhäusern wirklich ein entscheidendes Umdenken Platz gegriffen. Nicht nur in Hospizen oder anthroposophisch und privat geführten Kliniken, auch in den örtlichen oder überregionalen Krankenhäusern wird inzwischen die Begleitung Sterbender und deren Angehöriger meist mit viel Respekt, Umsicht und unterstützender Begleitung gemeistert. Nachträglich wird es von Angehörigen als sehr beruhigend empfunden, „gut“, das heißt auch in wohltuendem Ambiente ohne Hast und Unruhe den ersten Abschied genommen zu haben. Zuhause ist das besonders dann möglich, wenn ­mehrere Familienmitglieder sich gemeinsam darum bemühen. Im Heim oder Krankenhaus ist dieser „gute Abschied“ dann möglich, wenn der Sterbende bzw. Verstorbene gebührend gepflegt in seinem Bett im Heim bzw. Krankenzimmer ruhen darf, damit die Nahestehenden in aller Stille und in angemessener Dauer Abschied nehmen können. Fallbeispiel

Abschied von einer Freundin Sehr beeindruckend und im Gefühl guter Obhut durfte ich einen Abschied in einer Privatklinik mit erleben. Doris, eine Schulfreundin, lag dort im letzten Stadium ihrer Krebserkrankung. Ihrem Ehemann Konrad hatte das Krankenhaus mitgeteilt, dass die Medikamente bei der schwer kranken Frau, wie zuvor vereinbart und erwünscht, nun abgesetzt wurden und dass ihr Sterben in den nächsten ein, zwei Tagen zu erwarten sei. Doris hatte vor Wochen schon um meine

Würdevolles Ambiente „guter Abschied“

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Begleitung gebeten. Ihr Mann, den ich nur flüchtig kannte, war jetzt froh, nicht allein zu sein. Abwechselnd lasen wir Doris Gedichte ihres Lieblings-Autors vor. Sie war sehr schwach, sie wusste, dass es zu Ende ging, war ruhig und gefasst. Wenn sie kurz die Augen öffnete, lächelte sie und erkannte uns. Kaum noch hörbar und doch verständlich sagte sie, dass sie froh sei, uns hier bei sich zu haben. Am anderen Tag während ihrer letzten Atemzüge blieb eine Stationsschwester im Zimmer anwesend, hielt sich aber abseits des Bettes auf. Sie hatte Zeit! Der Ehemann und ich konnten uns ganz auf die Sterbende konzentrieren und waren doch nicht ohne Hilfe, hätten wir derer bedurft. Nach den letzten, nun eher unruhigen Atemzügen der Sterbenden trat die Schwester zu uns und führte Konrads Hand, damit er seiner Frau die Augen schlösse. Wenige Minuten später kamen einer der behandelnden Ärzte und eine zweite Stationsschwester hinzu. Eine Kerze wurde auf den Nachttisch gestellt und angezündet. Der Arzt sprach eine kurzes, sehr liebenswertes Gedenken an die „geduldige, immer freundliche und so kluge Patientin“. Dann öffnete er das Fenster einen Spalt: „um der Seele den Weg frei zu machen“, wie er ruhig zu uns gewandt sagte. Aus der Vase am Tisch entnahm eine der Schwestern eine noch sehr frische Blume und legte sie in die Hände der Toten auf die Bettdecke. Nach kurzer Vergewisserung, ob es uns recht wäre, sprachen die Klinik-Mitarbeiter, der Arzt und die Schwestern mit uns ein Gebet. Mit einem Händedruck und Worten der Anteilname verabschiedete sich der Arzt. Die Schwestern baten uns für ein paar Minuten aus dem Sterbezimmer. Als wir wieder hereingerufen wurden, war die Verstorbene „gerichtet“, hatte nochmals eine frische Bettdecke bekommen, und es blieb für uns so viel Zeit, wie gewünscht, um still Abschied zu nehmen.

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Örtlichkeiten, Abschiedsräume

I n manchen Kliniken gibt es Abschiedsräume oder kleine Kapellen, in denen Angehörige in beruhigender, freundlicher Atmosphäre bei dem Verstorbenen verweilen können, bevor der Bestatter sie übernimmt. Wir dürfen jedoch nicht übersehen, dass es viele Umstände gibt, die einen guten Abschied im Augenblick des Sterbens oder kurz darauf verhindern. Und manche Menschen meiden vorsätzlich den Kontakt mit Sterbenden, aus Furcht, eine solche Konfrontation nicht zu verkraften. 3.11  Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und

der Bestattungs-Art

Das letzte Fest, die Trauerfeier, sowie der Bestattungsort-Ort haben eine bis zum Eintritt des „Trauerfalls“ oft unterschätzte Bedeutung.

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„Heute scheint sich erstmals eine Kultur zu etablieren, deren Totengedenken diffus geworden ist, ohne festen Ort bleiben muss, und deren Trostquelle zu versiegen droht“ (Aus: picture alliance/dpa/Uwe Zucchi, Livestream Deutschlandfunk 09/2016).

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

Es braucht einen Ort der Stille, einen Ort zu trauern, einen Platz nachtodlicher Begegnung. Der Weg zum Grab bedeutet einen „Besuch abstatten“, ein „Wiedersehen“ und immer wieder erneut ein „Abschiednehmen“. Jenen, die dies selbst entschieden auf sich nehmen, ist das nicht eine Pflicht, sondern ein wirkliches Bedürfnis. Dass Friedhöfe aus der Mode kommen, schulden wir dem Zeitgeist. Freilich, unsere Emotionen sind eben alteingesessene Gesellen unseres Gemüts und bedürfen sicherer Orte und fester Rituale und Handlungen. Ein solches Ritual kann durchaus der wöchentliche Gang zum Grab sein, auch, um dort „nur“ die Blumen zu gießen. Zumindest in den ersten Monaten vermag das guter Trauer den Weg zu bereiten. Betätigung in dieser Weise bietet der Bestattungswald nicht, doch gibt es inzwischen endlich auch da und dort eine Bank, um zu verweilen. Anonyme Gräberfelder mögen dann angebracht sein, wenn es keine Nachkommen gibt, oder wenn tatsächlich niemand wirklich trauern wird, einfach weil es keine engen Bindungen mehr gibt. Oft schon sind zu Lebzeiten entsprechende Vorgaben getroffen. Wenn das nicht der Fall ist, ist es zuweilen für die Angehörigen schwierig, sich auf die Wahl eines Ortes zu einigen.

» Immer am Grabe

Immer am Grabe wird die Erinnerung wach, stellt sich ein verlegen ein Zeichen der Dankbarkeit, wagt das Gefühl sich endlich hervor. Immer am Grabe kommen sie, die ungesagten Worte, die Tränen, kommt sie, die Liebe, zu spät (Aus: Lothar Zenetti: In Seiner Nähe. Texte des Vertrauens (Topas Taschenbücher, Band 1018) © Mathias Grünewald Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2015. 7 www.verlagsgruppe-patmos.de).

Auf vielen Friedhöfen stehen ehrwürdige Denkmale für unsere bekannten und die unbekannten Soldaten zweier Weltkriege. Was erst noch Schule machen muss, was uns Trauer-Begleitern eine Aufgabe sein sollte, ist die Anregung von Gedenkstätten „für die nicht anwesenden Toten“, für Vermisste, Ertrunkene, für zu betrauernde Föten, einfach für alle, die keinen geordneten Platz, keine bekannte Ruhestätte gefunden haben. Für derartige Anregungen in Ihrer Gemeinde mag der folgende Artikel hilfreich sein.

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Es bedarf eines Gedächtnisortes

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

3.11.1  Die Trauerhaltestelle als neue Form des

Gedenkens

Das Kuratorium Deutsche Bestattungskultur fördert Erinne­ rungskultur im öffentlichen Raum.

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» In

einer sich wandelnden Trauerkultur wächst der Wunsch nach neuen Formen der Trauer und des Gedenkens. Die öffentliche und auch die individuelle Trauer verändern sich und tragen den Entwicklungen einer interkulturellen Gesellschaft Rechnung. „Die Trauerhaltestelle“, konzipiert von den Architektinnen Solveig Schacht und Mareile Höring, ist ein Beispiel für die Umsetzung dieses Gedankens im öffentlichen Raum. Initiiert hat das Projekt Oliver Wirthmann, Geschäftsführer des Kuratoriums Deutsche Bestattungskultur. Konfessionsübergreifender Trauerort. Die Trauerhaltestelle ist für den Stadtraum, den Friedhof oder in die freie Natur geeignet. Sie misst ca. 5x9 Meter, spielt mit Lichteinfällen und thematisiert Vergänglichkeit, indem die Trauernden Inschriften hinterlassen können, die witterungsbedingt wieder verschwinden. So bietet die Trauerhaltestelle einen konfessionslosen Ort zum Trauern, Erinnern und Innehalten, in Stille aber auch in Gemeinsamkeit. Sonderausstellungen in Frankfurt und Münnerstadt. Einen ersten Auftritt hatte die Trauerhaltestelle in einem Modell in Originalgröße im Rahmen der Ausstellung „DENK MAL. Erinnern im Medienwandel“ im September 2014 in der Matthäuskirche in Frankfurt. Beim Architekturwettbewerb „Trauer braucht Raum“ des Kuratoriums Deutsche Bestattungskultur, des Bundes Deutscher Innenarchitekten in NRW (BDIA) und der „db deutsche bauzeitung“ 2012 in Berlin erhielt der Entwurf der „Trauerhaltestelle“ bereits einen Sonderpreis. Das Modell in Originalgröße steht seit November 2014 noch bis Anfang Juni 2015 an der Auferstehungskirche im fränkischen Münnerstadt, das mit dem Bundesausbildungszentrum der Bestatter (BAZ) bereits eine bundesweite Institution beheimatet, die sich der Förderung der Bestattungskultur in hohem Maße verpflichtet fühlt. Ausblick auf die praktische Umsetzung. Die praktische Erprobungsphase ist damit abgeschlossen: Nun werden Orte oder Anlässe gesucht, für die die Trauerhaltestelle zum Fixpunkt der Erinnerung werden kann. Denn es zeigt sich, dass unsere Erinnerungskultur immer wieder solcher symbolischer, aber auch konkreter Trauerorte bedarf wie beispielsweise bei den jüngsten Flugzeugkatastrophen. Wer Interesse hat, die Trauerhaltestelle als Ort für gelebtes öffentliches Gedenken bei sich zu realisieren, kann sich jederzeit an das Kuratorium

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art



Deutsche Bestattungskultur wenden. Hier ist auch eine Mappe mit der Projektdokumentation erhältlich. Kuratorium Deutsche Bestattungskultur. In Zeiten einer zunehmenden und fragwürdigen Entsorgungsmentalität versteht sich das Kuratorium Deutsche Bestattungskultur als Förderin, Hüterin und Begleiterin einer würdigen und auch modernen Zeiten angemessenen Sepulkralkultur. Wie eine Gesellschaft mit Sterben, Tod und Trauer umgeht, spiegelt ihr Menschenbild, ihre Werte und ihr Selbstverständnis. Der Beginn menschlicher Kultur ist dort zu finden, wo Menschen vor Urzeiten begonnen haben, ihre verstorbenen Angehörigen zu bestatten, zu betrauern und nicht einfach auf freiem Felde liegen zu lassen. Abschiedsrituale, Trauerfeiern, Trauermusik und Bestattungszeremonien sind also ein wichtiger Teil unserer Kultur.

Oliver Wirthmann,: 7 https://www.bestatter.de/kuratorium/trauerhaltestelle/. 3.11.2  Das fehlende Grab

Nicht selten klagen Trauernde dass ihnen ein Grab für ihre Trauer fehlt. Manchmal konnten die Betroffenen zuvor nicht selbst entscheiden, was die Wahl der Bestattungsform betraf. Oder sie vermochten es zum Zeitpunkt der Wahl nicht, das Ganze zu überschauen. Am Ende sind sie mit der Entscheidung unglücklich und enttäuscht. Oder das Grab fehlt buchstäblich. 5 Die Urne ruht in einem anonymen Gräberfeld – aber wo genau? 5 Suizid durch „Über Bord gehen“. 5 Verschollen und für tot erklärt. 5 Gekentert, ertrunken, nicht wieder aufgetaucht. 5 Frühgeburt durch die Klinik „entsorgt“. 5 „Keiner sagt mir, wo …“ – Die „heimliche Geliebte“ ist von allen Informationen ausgeschlossen. 5 In weiter Ferne in der Heimaterde beigesetzt: Der verstorbene muslimische Freund einer in Deutschland lebenden, von der Familie nicht akzeptierten jungen Frau.

» „Der sichere Ort garantiert die Existenz des geliebten

Menschen in unserem Fühlen, Denken und Imaginieren“, betont der Psychotherapeut Roland Kachler in seinem Sammelband „Meine Liebe findet Dich“. Und weiter: „Deshalb ist das Finden eines sicheren Ortes – meist ist dies das Grab – für die Trauerarbeit so entscheidend. … Es ist ein von der übrigen Welt abgegrenzter Raum, in dem für die Angehörigen nicht mehr die physikalischen Gesetze von Raum und Zeit

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

gelten. Hier bleibt die Zeit stehen, und hier kann der Raum in andere Welten geöffnet und durchschritten werden“ (Aus: Roland Kachler: Meine Liebe findet Dich. Freiburg/Brsg. 2015). Fallbeispiel

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Ein Ort, um zu trauern

Äquivalent zum Friedhof

Harald B. war seit seiner Konfirmation mit seiner späteren Frau glücklich zusammen. Marianne starb im Alter von 41 Jahren bei einem Flugzeugabsturz. Sie war auf dem Weg zu einem Kongress. Die Maschine zerschellte, es gab keine Überlebenden. Eine Identifizierung ihrer buchstäblichen sterblichen Überreste brachte niemand aus der Familie fertig, schien aber von Behördenseite aufgrund vieler Indizien durchaus gelungen. Ganz plötzlich, ein Jahr nach der Beisetzung des Sarges am heimischen Friedhof, flammten bei Harald ganz große Zweifel auf, dass „da unten“ auch nur irgendetwas von seiner Frau läge. Als wir uns begegneten, lag Mariannes Todestag 14 Monate zurück. Harald B. hatte sich inzwischen mit Literatur über den Tod beschäftigt. Das bot uns eine gute Grundlage für unsere intensiven Gespräche über das, was ist, was bleibt und was wir von unseren Toten an welchem Ort, auf welcher Ebene vermuten oder gar spüren. Eine Fortdauer „von so etwas wie einer Seele“ sagte Harald, könne er sich vorstellen. Anlässlich eines ersten Hausbesuches ließ ich mir Fotos und Kleider seiner Frau zeigen. Er hatte ihren Kleiderschrank bis dahin nicht geöffnet. Einige Wochen später räumten wir ihre Kleider und persönlichen Dinge zu dritt, gemeinsam mit seiner Schwester aus. Sie hatte sich angeboten Kleider und Schuhe einem guten Zweck zuzuführen. „Aber bitte sorge dafür, dass mir nichts davon hier irgendwo begegnet!“ hatte Harald noch vehement verkündet. Miteinander suchten wir für ein zuvor besprochenes Ritual zwei sehr schöne Stücke aus: einen pinkfarbenen Seidenschal und eine geblümte Voile-Bluse. Ich legte die Bluse ordentlich zusammen und legte den Schal so um das Teil, dass ich vorn eine Schleife binden konnte. Ausgerüstet mit einer Grabschaufel gingen wir dann zu einem lauschigen Winkel seines Hausgartens. Das kleine Bündel wurde begraben. Eine Buschrose fand gleich anschließend auf der rund abgestochenen Fläche ihren Standort. Sehr behutsam hatte ich ihm diesen Vorschlag schon vor Wochen unterbreitet und er war jetzt sehr glücklich darüber, einen für ihn besseren Ort der Trauer zu haben und zu wissen, dass etwas, was sie oft getragen hatte, wirklich von ihr war. Das bestimmte diesen Ort des Gedenkens. „Das Beet am Friedhof werde ich auch weiterhin pflegen, das ist den anderen ein wichtiger Ort. Meinen ganz privaten Gedächtnisort, den braucht ja sonst keiner zu kennen!“

3.11.3  Trost und Trostbedürfnis

Trauernde haben ein Bedürfnis, getröstet zu werden. Sie haben aber auch ein feines Gespür dafür, welches Trostwort wirklich ehrlich gemeint ist. Trauernde haben auch das Recht,

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

Hilfsangebote abzulehnen. Geduldige bemühte Helfer nehmen dann gelegentlich einen neuen Anlauf. Taten, die im Alltag unterstützen, sind oft auch wohltuender als alle Worte. Freilich, Trost geben ist keine einfache Sache. „Sag mir, warum gerade sie, warum so früh, wie soll es jetzt weitergehen?“ Eigentlich sind das keine Fragen. Der, der sie ausspricht, erwartet nicht wirklich eine Erwiderung im Sinne einer Antwort oder Lösung. Diese Klage und die vielen ähnlichen Klagen sind Hilferufe in einer augenblicklich großen Verzweiflung. Diese Trauernden bedürfen hauptsächlich einfühlender Zuwendung. Das ist ein erster Trost. In Danksagungen wird neben den „trostvollen Worten“ gerade auch der „stille Händedruck“ gewürdigt. Selbst habe ich oft um Formulierungen des Trostes gerungen, wenn es einfach kein angemessenes Wort gab. Im Augenblick einer dramatischen Situation klang alles nur banal und beschwichtigend und damit unwahr! Aus der Notfall-Psychologie abgeschaut ist die archaische Handlung einer spontanen Umarmung. Zugegeben, ich habe erst lernen müssen, bis ich es fertig brachte, meinen Arm um eine mir bis dahin fast unbekannte verzweifelte, weinende Person zu legen oder diese je nach deren Erwiderung und Reaktion eine Weile fest zu umarmen. Tatsächlich beruhigt die von Herzen kommende Umarmung den Körper und das Gemüt, nimmt das Zittern oder die Steifheit und lässt den verstörten und schockierten Menschen wieder ruhiger atmen. Meine Umarmung kam stets gut an.

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Klagen sind Hilferufe

> Gesten ungeteilter Zuwendung und Präsenz taugen mehr

als Worte

Überschwängliches oder betont frommes Wortgeklingel wird meist nicht als Trost empfunden. Eine junge Mutter klagte nach dem Tod ihres Kindes: „Ich ersticke in der Flut gut gemeinter Sprüche, ich kann sie nicht ertragen, mir ist nicht danach!“ Ein halbes Jahr später sagte sie: „Jetzt erst kann ich diese Dinge ohne aufkommende Wut lesen.“ > Vermeiden Sie um alles in der Welt schreckliche Platituden

wie „Alles wird gut!“

Ich weigere mich, mehrere davon niederzuschreiben, jeder Leser kennt sie! Worte können unendlich wehtun, viele Redewendungen sind inakzeptabel, weil sie nicht beruhigen, sondern das Empfinden der Betroffenen herunterspielen und mit Füßen treten. Gelungener Trost vermittelt in wenigen Worten und passen- Ehrliche Worte, liebevolle den Gesten die ernsthafte, unaufdringliche Anteilnahme, tätige Gesten Unterstützung, Verständnis, Vertrauen, Ruhe, Nähe, Zuversicht und Verbundenheit. Jede Annäherung bedarf sorgfältiger Prüfung, ob der Betroffene zum Kontakt bereit ist. Solange der Schmerz überwältigend und ganz frisch im Herzen sitzt,­

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

wünschen viele Trauernde keinen Trost, keine Ablenkung. Sie möchten jetzt die Trauer und Verzweiflung für und bei sich haben und sich dieses Gefühl nicht wegreden lassen. Trauer ist auch Liebe, heißt es, und schließlich ist dieser Schmerz auch ein Stück engster Verbundenheit mit dem Verstorbenen. Was hat denn nun wirklich getröstet? Hier sagen Betroffene etwa: 5 „Unsere“ Musik zu hören. 5 An gemeinsamen Orten guter Erinnerung zu verweilen. 5 Den Verstorbenen aus seinem Leid erlöst zu wissen. 5 Beten. 5 Jemanden um sich zu haben. 5 Darüber reden zu dürfen. 5 Gleichfalls Betroffenen zu begegnen (Trauer-Café oder Trauergruppe). 5 Tagebuch oder Briefe zu schreiben, zum Beispiel auch einen Brief an den Verstorbenen 5 Kreatives Tun, wie etwa Tanzen oder Chorsingen. 5 „Unser“ Bänkchen im Garten. 3.11.4  Erinnerungen -Trost oder Last?

Eine Locke im Amulett, ein Haar im Kristallblock, Asche zu einem funkelnden, geschliffenen Kunstdiamanten verwandelt, Puppen aus Kleidungsstücken von Verstorbenen, ein Händeabdruck in Gips, ein Kinderschuh als Kupfer-Objekt: Was hilft wem und wie lange? Trauer-Dienstleister bieten auf vielerlei Weise an, Erinnerungen materiell festzuhalten. Sie richten sich an die Gefühlswelt Trauernder und können zuweilen zumindest vorübergehend Herzenstrost schenken. Da ist noch etwas „zum Anfassen“ geblieben. Auf einer Fachausstellung entdeckte ich wirklich hübsch gemachte kleine puppenartige Geschöpfe, „Muppets“ nennen sie die kreativen Schöpfer. Diese Puppen sind aus T-Shirts, Jacken oder Hosen Verstorbener gefertigt. Freilich, wer kennt das nicht? Man bewahrt eine Mütze, einen Schal auf, man drückt ihn ab und an ans Herz. Das kann gut tun – oder auch nicht. Wenn aus Jacke und Hose des Verstorbenen nun ein kleines „Wesen“ entstanden ist, nett anzusehen, ist es dann leichter mit dem Schmerz oder der Erinnerung umzugehen? Doch was geschieht mit dem „Brillanten“ aus Mutters Asche? Wird er vom Juwelier gefasst am Finger oder um den Hals getragen? Verhilft er dazu, wohltuende Bindung zu bewahren, oder spürt man vielleicht irgendwann eine Pflicht, ihn „in Ehren zu halten“? Eine Einschätzung, ob derlei Dinge helfen oder nicht, fällt schwer. Soll man zuraten oder abraten. Es kommt ganz auf das Wesen und die Empfänglichkeit des einzelnen Trauernden

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

an. Dem einen mag es gut tun, etwas nachträglich Verbindendes vor Augen oder in der Hand zu haben. Beim anderen reißen solche „Andenken“ die Wunde immer wieder auf. Und wann ist es an der Zeit, sich zu trennen? Wann traut man sich, diese Trostsymbole, Trauerfetische wegzuräumen und wohin? Hier zu unterstützen ist keine leichte Aufgabe. Zuweilen werden die schönen Dinge leider auch zu einer Art Ersatz, an dem krampfhaft festgehalten wird. Solche lieb gewordenen Objekte sind insofern kritisch zu bewerten, als sie die Lösung aus der eigentlichen Bindung verzögern oder im schlimmeren Fall, bei Verlust des betreffenden Gegenstandes, sogar ein weiteres, wiederum trauriges Entbehren verursachen. Nun, den meisten Trauernden gelingt es nach einer gewissen Zeit, solche Erinnerungsstücke aus dem Blickfeld, aus dem Museum des Schmerzens zu räumen. Das ist dann auch gut so. Jedenfalls dürfen wir als Helfer motivieren, das Zuhause, das von einer Person, von einem Partner, einem Kind für immer verlassen wurde, nun allmählich aus- bzw. auf- oder umzuräumen. Das „Museum des Schmerzes“ belastet auf Dauer – die nicht mehr genutzten Alltags-Gegenstände, die ganz persönlichen Besitztümer, von der Gitarre bis zum Wintermantel. Ein Teddy freilich könnte bleiben oder vom Ehemann eine Mütze und ein Schal samt Foto ganz dekorativ in einem großen Glasgefäß ausgestellt. Ein solches Arrangement kann von einem Regal her als liebevolles Gedenken in den Raum wirken und bleiben, solange man es mag. Doch alle Kleider, Spielsachen, Bettzeug und ganze Kleiderschränke unberührt zu lassen, heißt, im Museum des Schmerzes weiter zu leben. (Siehe auch 7 Abschn. 4.2). 3.11.5  Schuldgefühle und Selbstvorwürfe Beispiel „Hätte ich nicht … warum habe ich das versäumt … ich bin schuld weil … ich habe versagt …“

Sich hinterher eine Schuld oder Verantwortung, ein Unterlassen vorzuwerfen, begegnet uns häufig bei Betroffenen. Auch dies ist ein Ventil des Trauerns. Wirkliche Schuld findet sich jedoch höchst selten. Zur Klärung oder Auflösung von Selbst-Vorwürfen sollten alle Abläufe noch einmal gedanklich rekonstruiert und erörtert werden. Die oft überstürzt eingetretenen Geschehnisse werden entwirrt und eventuell neu bewertet (. Abb. 3.2). Solches Zurückdenken, welches das vergangene Leid, das da seine Schatten wirft, wieder vergegenwärtigt, belastet ­freilich momentan. Aber die Selbst-Vorwürfe so stehen zu ­ lassen,

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Museum des Schmerzens

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Helga stirbt an einer Überdosis Tabletten. Vorausgegangen: Eine OP, geblieben: Schmerzen! Ich wusste um ihren sorglosen Umgang mit Schmerz- u. Schlafmitteln. Wir standen in relativ engem, freundschaftlichem Kontakt.

Schuldgefühle und Trauer um Helga

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Ich mache mir Vorwürfe, – hätte intensiver warnen müssen – hätte sie öfter besuchen sollen – hätte öfters anrufen sollen – habe vergeblich Mithilfe gesucht – Kein Kontakt möglich !

Wir überlegen: wer, außer mir hatte Einblick oder Verantwortung? fester Freund Uwe (Fußball wichtiger!) Helgas Tochter und Mitbewohnerin ( „kann den Jammer nicht mehr aushalten!“ ) Eltern und Familie der verschreibende Hausarzt Operateur und Team

! Wir alle konnten es nicht verhindern. Ich habe Verantwortung gespürt und eingesetzt ich hatte keine Möglichkeit das Geschehen zu verhindern. Ich kann das Schuldgefühl Ioslassen.

. Abb. 3.2  Schuldgefühle und Trauer um Helga

birgt die Gefahr, dass sich die Dinge weiter dramatisieren. Unerledigtes, Ungeklärtes oder nicht Ausgesprochenes bringt sich als Last in Erinnerung. Hier ist Korrektur notwendig und möglich: 5 War es wirklich genauso, wie es nun im Selbstvorwurf erinnert wird? 5 Hätten die realen Bedingungen und das Umfeld ein eigenes Eingreifen zugelassen? 5 Wäre denn eine weitere Aktion oder eine andere Handlungsweise überhaupt möglich und hilfreich gewesen? 5 Wer hatte zu welcher Zeit in welchem Vorgehen die Verantwortung? Schon nach diesen Fragen wird häufig eine Korrektur möglich, die wiederum eine neue bzw. freiere Sichtweise erlaubt. 3.11.6  Bildhaftes Skizzieren des Umfelds

Schuldgefühle eindämmen, Notwendigkeiten akzeptieren, Verantwortungen aufteilen

Bei einer solchen Skizze steht der Verstorbene (Name) in der Mitte eines Papierblatts der Größe A4 Hinzugefügt ist ein Stichwort für die Situation (also etwa Intensivstation) und der zu der Zeit relevanten Aktionen (etwa: fixiert am Bett) Diese Notizen werden in einem Kreis umschlossen. Außerhalb des Kreises finden die Namen maßgeblich verantwortlicher Angehöriger oder möglicher Kontrahenten ihren Platz. Dem Einzelnen kann nun wiederum in Stichworten seine

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

Kompetenz und Aufgabe, seine Entscheidung oder sein Fehlverhalten zugeordnet werden. Auch der Trauernde, den wir begleiten, erhält mit einem ICH seinen Platz und wir finden Stichworte, die seine Versuche zu helfen, seine Möglichkeiten oder vorgegebene Einschränkungen, zum Beispiel keine Information, kein Zutritt benennen. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen an Dritte, sondern um nachträgliche Klärung der Situation, auf die sich eventuelle Selbstvorwürfe beziehen. Bei solch einer grafischen Skizze fallen wichtige Ereignisse und Gegebenheiten wieder ins Gedächtnis: 5 Weitere Angehörige und deren Maß an Verantwortung, 5 Bisher unbeachtete, verbindliche Patienten – und Vollmachts-Verfügungen, 5 Ärztlich-medizinische unabwendbare Gegebenheiten, 5 Äußere oder länger schon vorangegangene Ereignisse/Vorerkrankungen, 5 Wirklichkeitsfremder Wunderglaube, Quacksalberei, vom Patienten willentlich Erwirktes, sowie Verdrängung, Uneinsichtigkeit des Patienten selbst. > Nachträgliche Korrektur ist notwendig und möglich.

Zumindest kann es gelingen, das schwerwiegende Urteil „Schuld“ in ein wesentlich milderes Empfinden, nämlich das des Bedauerns zu wandeln. „Schade, dass ich das nicht wusste …, dass es mir nicht gelang …“ usw. Wo die Düsternis vermeintlicher Schuld oder echter Versäumnisse mit dem bildhaften Skizzieren nicht erhellt und korrigiert werden kann, wo unwandelbare Sorgen bleiben, benötigen wir Aktionen die das Gemüt beeindrucken. Das kann ein Brief mit der Bitte um Vergebung sein oder eine Spende von Zeit oder Gut, beispielsweise an eine gemeinnützige Institution, die besonders sorgfältige Pflege des Grabes usw. Zuletzt ist die Versöhnung mit sich selbst, dem Verstorbenen und der Vergangenheit erreicht. Fallbeispiel

Suche nach der eigenen Schuld Der Ehemann, herzkrank zwar, aber eigentlich medikamentös gut eingestellt, war plötzlich in der Nacht verstorben. Linda, 49 J. alt, erzählte mir: „Ich habe nun den Mülleimer im Garten schon zweimal ausgeleert. Ich fürchtete, vielleicht bei der Verabreichung der täglichen Pillenration nicht aufgepasst zu haben.“ Um das zu kontrollieren, hatte sie zwischenzeitlich, vom Schachtel-Inhalt ausgehend die Tage und Menge nachgerechnet. Anhand der verbrauchten, aus dem Eimer wieder herausgesuchten Tabletten-Kärtchen wollte sie das prüfen. Wenn nicht, hätte in den Kärtchen welche schon entsorgt gewesen waren, noch einige Pillen vorhanden sein müssen. Sie fand auch bei der wiederholten Aktion nur ganz entleerte M ­ edikamentenpackungen, was die richtige, ausreichende

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Verabreichung bestätigte. Sie hatte alles richtig gemacht und den Beweis dafür. Ihre Feststellung darüber wirkte auf mich, als sei sie enttäuscht, hatte sie doch bei sich keine Schuld finden können! Hätte ihr denn der Beweis einer Schuld in ihrer Trauer irgendwie geholfen? Das scheint paradox. Die Ehefrau hatte gern und über Jahre mit viel Zuwendung einen großen Teil Verantwortung für den Patienten übernommen. Jetzt musste sie erkennen, dass der Tod ihr die Verantwortung aus den Händen genommen hatte. Die Suche nach ihrer Schuld war möglicherweise Teil ihrer Verzweiflung darüber, nun keinerlei Sorge für sein Wohl mehr übernehmen zu können. Wir lasen gemeinsam die letzten Arztberichte, welche ihr erneut vor Augen führten, dass der Verstorbene zuvor doch schon lange sehr geschwächt war. Ich stellte jetzt ihre aufopfernde Fürsorge und „erwiesene“ Sorgfalt in den Mittelpunkt, und sie konnte dies, wie auch ihre Anwesenheit während seiner letzten Versorgung beim Bestatter als stärkende Tatsachen annehmen. „Gut, dass ich all die Jahre die Kraft hatte, ihn zu versorgen, gut, dass es mir möglich war, bis zuletzt dabei zu sein!“

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Fallbeispiel

Wut und Kampf

Familien-Feindseligkeiten

Ein eng verbundenes Paar, Jens und Maria, hatte gemeinsam ein Haus gebaut. „Wenn alles fertig ist“, wollten die beiden heiraten. Bei der Anlage des Gartens erlitt Jens, der offizielle Bauherr, einen Herzinfarkt. Seine Familie verlangte den Auszug der Partnerin und sprach ihr jeglichen finanziellen Ausgleich ab. Als wir einander begegneten, war Maria T. in allergrößter Verzweiflung. Sie hatte den geliebten Mann verloren und fühlte sich gleichzeitig obdachlos, obwohl sie das gemeinsame Haus ja noch bewohnte. Ich fand heraus, dass sie und ihr Partner mit einem jungen Paar aus der Nachbarschaft gut befreundet waren. Es gelang mir, diese beiden Menschen zur Mithilfe zu gewinnen. Ich traf mit meinem Vorschlag, sie möchten sich täglich bei Maria im Haus wenigstens für eine gewisse Zeit treffen, auf offene Herzen. Die beiden Frauen erledigten dann manches im und ums Haus gemeinsam. Allmählich wich bei Maria die Angst, dass plötzlich jemand vor der Tür stünde, um sie hinauszuwerfen. Zum Glück konnte Maria den größten Teil ihres Kapital-Einsatzes beim Hausbau nachweisen. Wir bemühten offizielle Stellen zur Unterstützung einer Klage. Maria fand einen ausgezeichneten Anwalt, aber es dauerte drei Jahre, bis das Finanzielle geklärt war – und zwar schließlich zu Marias Gunsten. Marias Eltern halfen derweil der jungen Witwe. Als klar war, dass das Haus verkauft würde, zog sie vorübergehend zurück ins Elternhaus. Die Erben, Jens‘ Familie, musste ihr das eingesetzte Geld samt Zinsen zurückzahlen. Dafür behielten sie das Haus, dem Maria nach all dem Hin- und Her nicht nachtrauerte. In vielen Gesprächen war es uns gelungen, dem verstorbenen Partner „die Schuld an seiner furchtbaren Familie“ zu nehmen. Endlich lösten Trauergefühle die Wut und Verzweiflung ab. Erst jetzt konnte sie auch wieder unbeschwert zum Friedhof gehen. Mittlerweile hatte sie viele Briefe an ihren geliebten Jens geschrieben und war zuletzt sicher, dass er ihr „von oben aus“ geholfen hatte. Ich hatte mich als „Briefkasten“ angeboten, und sammelte diese Schriftstücke für sie. Zwei Jahre später erhielt ich auf Nachfrage den Auftrag, diese Post zu entsorgen.

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Fallbeispiel

Vorwürfe und Schuldzuweisung Kurt A., 72 J. alt, jedoch wesentlich älter wirkend, der bis dahin seine Ehefrau ordentlich für seine diversen Arzt- und Therapie-Besuche, wie auch für unterschiedlichste Handreichungen eingespannt hatte, („Sie musste mich doch immer fahren …, ich kann doch nicht …“), steigerte sich nach deren Tod und in seiner Überzeugung, dass die Verstorbene nicht alles getan hätte, um selbst gesund zu bleiben, in eine große Wut hinein. Wenn er jetzt doch niemanden mehr habe, der sich um ihn kümmerte, müsse er eben auch sterben. Wenn es so komme, dann sei sie schuld, weil sie ihn mit ihrem Tod „in seiner Not einfach allein gelassen hat!“ Hier musste ich erkennen, dass wir Helfer und Begleiter nicht immer zum Ziel kommen. Tiefenentspannung war das einzige Mittel, das ich bei ihm erfolgreich einsetzen durfte. Nach diesen Sitzungen war er entspannt und atmete ruhig und regelmäßig. Seine einmal gefasste Meinung, seine verzerrte Sicht der Dinge, seine Vorwürfe gegen die Verstorbene wollte der 72-jährige nicht loslassen. Alle Versuche, ihm zur Unterstützung seines Alltags einen Umzug in ein betreutes Wohnen schmackhaft zu machen, blieben erfolglos. Als Erben seines Hauses und Vermögens gab es nur einen Neffen. Den mochte er auch nicht! Seine Gefühle galten niemals der Verstorbenen oder einem einst guten Miteinander. Er badete vielmehr in Selbstmitleid und immer wiederkehrenden Schuldzuweisungen an die verstorbene Ehefrau und deren Ärzte. Schließlich hätten diese sie am Leben halten müssen! Ausführlich, aber ohne jegliches Mitgefühl schilderte er mir die Krankengeschichte seiner Frau. Dass sie eine Patientenverfügung verfasst hatte, welche zuletzt tatsächlich eine von ihm gegenüber dem Notarzt geforderte Lebenserhaltung verhinderte, konnte er nur als Frevel ihrerseits begreifen. Weil ich aber doch nun gar nicht in die Melodie einstimmte, seine verstorbene Frau zu verurteilen, brach er seine Besuche eines Tages unvermittelt und ohne Terminabsage ab. Eine Absicht der Verstorbenen, den Partner im Tod zu strafen, war im oben geschilderten Fall sicher nicht gegeben. Hingegen ist der Versuch, einen Angehörigen oder eine Gruppe von Angehörigen zu strafen, bei Tod durch Suizid leider nicht selten wirklich gegeben. Manchmal empfindet der Betroffene auch nur so. Zuweilen wird der Suizid drohend angekündigt oder die Verantwortung wird in einem Abschiedsbrief an Angehörige weiter gereicht. In jedem Fall müssen Schuldzuweisungen und Verantwortungsübertragung hinterfragt und zurecht gerückt werden. Der, der es im Leben nicht mehr ausgehalten hat, hat – wie auch immer – keinen anderen „Ausweg“ gesehen. Gründe, Verantwortung, Schuld: Da weist mancher Verstörter und Verzweifelter denen, die doch scheinbar „gut leben“ und ihn nie verstanden haben, die Schuld an seinem selbst gewählten Tod zu, gerade so, als wolle er selbst eben ohne Schuld gehen. – In der Aufarbeitung wird eine umfängliche Klärung der vorangegangenen Beziehungs-Schieflage helfen.

In Egomanie gefangen

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Fallbeispiel

Auf Suche nach einer Weiterlebens-Strategie Tendenz zur Aufgabe

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Martin, Teilnehmer einer Wochenend-Trauergruppe, berichtete: „Es war alles genau so, wie es sein musste, alles gut! Wir hatten ein prima Leben und beruflich so viel erreicht, jetzt geht nichts mehr. Ich bin vollkommen hilflos.“ Diese Aussagen wirkten bei dem sportlichen, stattlichen Mann fast unglaubwürdig. Seine Frau war bei einem Autounfall schwer verunglückt und auf der Intensivstation gestorben. Martin S. zählte zu diesem Zeitpunkt erst 55 Lebensjahre. Er kam mit regelrechter ­Todessehnsucht in die Trauergruppe. Die Gruppe brachte Erfahrungen unterschiedlichster Todesereignisse zusammen und war altersmäßig bunt gemischt. Martin schockierte die Anwesenden bei der kurzen Vorstellungsrunde mit seinem Statement. „Es gibt für mich doch nur einen Weg, ich möchte meiner Frau folgen. Ohne sie kann ich nichts mehr mit dieser Welt anfangen.“ Dass Martin dennoch in eine Gruppe gekommen war, forderte von mir als Leiterin hohe Verantwortung, förderte aber auch meine Hoffnung. Ich schloss daraus, dass er eigentlich doch irgendwie Hilfe suchte. Ich ging kurz auf die allgemeine Beklemmung der anderen Teilnehmer ein und erklärte, an die ganze Gruppe gewandt, dass Verzweiflung und Resignation durchaus normale Reaktionen seien. Sie bringen auch eine gewisse Erleichterung, wenn man das entsprechende Ventil öffnet. Ziel unserer Gespräche und Aktionen in der Gruppe sei es, jedes Einzelnen Betrübnis und Sorge zu mindern und das Licht im Dunkel zu erkennen. Martin S. schien einverstanden. Ich hatte seine dramatischen Worte nicht ignoriert, war aber auch nicht explizit darauf eingegangen, was gegenüber den anderen Teilnehmern zu einem Ungleichgewicht geführt hätte. Wir setzten die Vorstellungsrunde in großer Aufmerksamkeit fort. Gemeinsame von Musik begleitete Bewegungs-Übungen mit rituellem Charakter füllten den Rest des Abends. Alle Teilnehmer der ersten Vorabendrunde erschienen am folgenden Samstag früh, und fast wie ein Wunder wirkte auf mich die intensive und doch unproblematische Teilnahme von Martin S, an allen Gesprächen und Übungen. Noch am ersten Abend war es mir gelungen, mit ihm zu telefonieren und ihm eine zusätzliche Einzelbegleitung nach dem Wochenende zu empfehlen, was er offensichtlich erleichtert annahm. Zu Beginn begleitete ich ihn zu einem Besuch in seine Herkunftsfamilie, wo wir Pläne schmiedeten. Die Mutter und eine Schwester halfen ihm nun regelmäßig zuhause, auch um die Alltagsgegenstände der verstorbenen Frau auf- und auszuräumen. Da er neben seinen Bürozeiten seinen Hund zu versorgen hatte, führten wir viele Gespräche auf Spaziergängen. Wir fanden heraus, dass es so manche Hobbys gab, die er hatte einschlafen lassen. Nun wollte er sich diesen wieder zuwenden. Erst nach vielen Monaten griff er die Idee auf, doch mal wieder alte Freunde in sein Haus einzuladen. Es wurde eine Einladung zum ersten Todestag seiner Frau. Ich durfte Martin helfen, diesen Tag zu gestalten. Viele Fotos lagen auf, ihre Lieblingsblumen hatte er im ganzen Haus verteilt, und er gab bekannt, dass er seine Firma nun verkauft habe und erst mal ein Jahr auf Pilgerreise gehen würde. Sein Trauerweg und sein Empfinden nahmen eine positive Wendung.

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Fallbeispiel

Eine Ehe zerbricht am Tod des Kindes Uschi M., eine junge Mutter, bat mich um Begleitung, nachdem ihr erstes Kind im Alter von fünf Jahren an einem Herzfehler recht plötzlich verstorben war. Der Ehemann Sven kam zur ersten Vorstellung nicht mit, „so was brauche er nicht“. Acht Monate des Auseinanderlebens waren vorausgegangen. Der 30-jährige Ehemann erlaubte keinerlei Veränderungen im Kinderzimmer. Ein weiteres Kind wolle er auf keinen Fall, vorsorglich brach er alle intime Nähe ab. Er lief jeden Tag ein oder zwei Mal zum Friedhof und warf seiner Frau vor, dass sie viel zu selten zum Grab des Kindes gehe. Einladungen zu Freunden wurde nur noch ganz selten wahrgenommen, dann seinerseits gar nicht mehr. Uschi M. konnte ihren Ehemann und seine Hoffnungslosigkeit kaum noch ertragen. Er sprach von Scheidung. „Und dabei war er zuvor ein so lebenslustiger, hoffnungsfroher Mensch!“ – In unseren Gesprächen kam zutage, dass es bezüglich der Familienplanung auch schon vor dem Tod des Kindes immer wieder zu Zerwürfnissen gekommen war. Sicherlich beschwerte dieser nicht gelöste Konflikt zusätzlich die Trauer beider Partner. Tatsächlich brachten wir nur ein einziges Treffen zu dritt zustande, nämlich anlässlich meines Hausbesuchs. Ich wurde auch in das Kinderzimmer geführt. Dieser helle Raum bot sich mir völlig unberührt. Uschi hätte gern „alles irgendwie in Kartons verpackt, um es aus meinem täglichen Blickfeld zu schaffen“. Aber ihr Mann bestand darauf, dass das Zimmer so belassen wurde, wie es beim Tod der Tochter eingerichtet war. Sven besuchte auf mein Anraten dann doch ein Angebot „Trauerseminar für Männer“ in einem Kloster. Anschließend kam er allein noch zu ein paar Sitzungen und erklärte, dass er einfach nicht mehr zurück könne in die Ehe. Er werde ausziehen. Seine verstorbene Tochter, „sein Mädchen“ hatte er voll und ganz verinnerlicht. „Wenn ich allein lebe, kann ich, wann immer ich will, mit meinem Mädchen reden, ohne die vorwurfsvollen Blicke von Uschi!“ Die Ehe war also nicht zu retten. Das Paar trennte sich. Das Haus wurde verkauft, die Einrichtung des Kinderzimmers untereinander aufgeteilt. Beide starteten jeweils in einer neuen Wohnung neu in ihre „Zeit danach“. Uschi M. kam gut zurecht und war an ihre vorherige Arbeitsstelle zurückgekehrt. Sie zeigte sich offen für „eine neue Beziehung, gelegentlich, ich möchte schon noch einmal ein Kind.“.

Fallbeispiel

Verirrter Trost Evi G., 39 Jahre alt, kinderlos in einer losen Beziehung lebend, war nach Tablettenmissbrauch zeitweise stationär betreute Patientin in der Psychiatrie. Ihr Zustand ist seit Jahren stabil. Sie ging einer befriedigenden Halbtags-Arbeit in einer Gärtnerei nach. Beide Eltern, in Krisenzeiten die engsten Vertrauten, verstarben kurz nacheinander. Trotz des fortgeschrittenen Alters ihrer Eltern und diverser, auch klinisch versorgter Erkrankungen, nannte sie den Tod der Eltern, die im Abstand von drei Monaten verstorben waren, einen „plötzlichen, ganz unerwarteten Verlust“. Den ersten Schmerz um den Tod des Vaters teilte sie noch mit der Mutter. Als die auch starb, empfand sie das wie ein „Auf immer Verlassen sein.“ Dass ihre beiden Geschwister

Männer und Väter haben es (fast immer) schwerer

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

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Auffinden eigener Kompetenz – Weg aus der Verirrung

schon lange den Kontakt zu ihr abgebrochen hatten, verstärkte dieses Empfinden noch: „Ich habe keine Familie, niemanden mehr!“ Dabei blieb Evis Freund ganz auf der Strecke. Von neurologischer Seite wollte man ihr „vorsichtshalber“ Neuroleptika verschreiben, was sie aber ablehnte. Sie selbst wähnte sich nicht krank, sie schaffte ihre Tagesaufgaben. Sie weinte auch über den Tag sehr viel. Ihr Freund, der erst wenige Monate bei ihr wohnte, hatte ihr zum Trost zwei Stubenhäschen samt Käfig für die Wohnung gekauft. Eines Morgens konfrontierte Evi ihren Freund mit der Behauptung, dass sie ganz sicher sei: „Musch und Peter, da stecken doch meine Eltern drin, Musch hat doch dieselben Augen wie die Mama!“ – Evi hatte quasi über Nacht zweifelhaften Trost gefunden. Sie steigerte sich in diese Geschichte leider immer tiefer hinein. Ihr Freund fand das anfänglich „witzig“. Doch es dauerte nicht lange, bis er und die Nachbarn ihr bestätigten, sie sei doch „krank“. Als sie begann, mit ihrem Freund zu streiten, weil er ihre Vorstellung nicht teilte, wandte der sich um Hilfe an mich. Evi willigte in eine Kontaktaufnahme mit mir ein, um die Beziehung zu retten. Für ein erstes Kennenlernen traf ich mich mit ihr zu einem kleinen Spaziergang in der Nähe ihrer Wohnung. Wir entdeckten, dass wir beide einst in derselben Grundschule gewesen waren. Beide hatten wir unter einem bestimmten Lehrer gelitten. Ich erfuhr viel aus Evis zurückliegenden Lebensjahren, Tod und Abschied blieben noch unbenannt. Beim zweiten Treffen berichtete sie von vielen Verlusten. Sie erzählte, dass die Trennung von einem sehr guten Freund vor vielen Jahren schon die Ursache ihrer Tabletten-Sucht gewesen war. Zuletzt kam eher zufällig noch ihr fester katholischer Glaube zum Ausdruck. Alle Berichte erschienen mir stimmig und nur noch wenig emotional überlastet. Unser drittes Treffen war am Grab von Evis Eltern. Die Feststellung, dass beide Eltern im Sarg, also bei einer Erdbestattung ins Grab gelegt waren, lenkte ich zu der Frage, wie sie sich das denn vorstelle, was mit Leib und Seele passiert. In ihrem katholischen Glauben war sie davon überzeugt, dass die Seele bei „Gott im Himmel“ sei und dass der Leib irgendwann auferstehe, dann gehe die Seele da wieder hinein. Beim Nachhauseweg kehrten wir zu einer Tasse Tee ein. Wie beiläufig rätselte ich mit ihr, wie lange es denn dauern würde, bis ein Mensch „wiederkomme“. Ihre Antwort kam ganz spontan, das werde doch erst am „jüngsten Tag“ geschehen. Das alles ließ ich nun erst einmal ruhen. Meine Hoffnung war, dass mir noch eine Idee käme, momentan hatte ich keine! Unser viertes Treffen war in meinen Räumen. Bei der Frage nach den Trauerfeiern für die Eltern konnte Evi sich tatsächlich an Textteile und Lieder und das Gebet erinnern. Ohne zu wissen, worauf das hinauslaufen könnte, rief ich in Ermangelung eines Gesangbuchs die von ihr genannten Liedtexte im Internet auf. Ich blieb, sicher das Richtige gefunden zu haben, bei folgender Zeile hängen, die ich notierte: „In dir, Herr, lass mich leben und bleiben allezeit, so wirst du mir einst geben des Himmels Wonn‘ und Freud.“ – Christus, der ist mein Leben. V.7. Ewigkeitslied zu Philipper 1,21. Diesmal bat ich Evi, bis zu unserem nächsten Treffen, den Text in ihrem Gesangbuch nachzulesen und darüber nachzudenken. Ich war sicher, hier eine ihrer passenden und hilfreichen Kompetenzen entdeckt zu haben.

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

Unser nächstes Treffen war in Evis Wohnung. Ihre eigentlich unkomplizierte Sicht, die fest in ihrem Glauben verankert war, gestattete mir im Verlauf unseres Gesprächs die Frage, warum Gott ihren Vater und ihre Mutter so schnell nach deren Tod und ausgerechnet als Hasen und nicht als Menschen auferstehen ließ. Sollten sie nicht wie in dem Lied erst „des Himmels Wonn‘ und Freud“ erfahren dürfen? Nach einem Schulterzucken kamen ein paar Tränen. Sie wandte sich von mir ab und schaute mich erst nach einer Weile wieder an. „Ja, das kann ja eigentlich nicht sein…oder“? Nein, das kann nicht sein, versicherte ich ihr. Sie schluchzte. „Aber es fühlt sich halt so gut an, wenn die (Hasen) mich anschauen, wenn die an mich hinkuscheln … Aber es kann nicht sein, das habe ich mir nur eingebildet, oder?“ Mit dem erneuten „oder“ ließ sie sich immer noch einen Spalt offen zu ihrer Wunschvorstellung. Ich bin ganz sicher, nein, entgegnete ich ihr. Ich holte weit aus, auch mit ein paar Beispielen, und beschrieb ihr, dass es bei tief empfundenem Trennungsschmerz immer wieder zu unrealistischen, bittersüßen Fantasien und Wunschvorstellungen kommen kann, und dass sie nicht „verrückt“ sei, wie es ihr Freund in seiner Hilflosigkeit geäußert hatte. Nicht zuletzt machte er sich Vorwürfe, die Hasen überhaupt ins Haus gebracht zu haben! Ich ließ mir dann noch ein Fotoalbum zeigen und mir von den Eltern und den vielen gemeinsamen frohen Tagen auf dem Campingplatz erzählen. Sie nahm die Häschen auf den Schoß, und ich riet ihr, doch den Eltern von den beiden süßen Mitbewohnern zu erzählen, wenn sie wieder zum Grab ginge. Die Idee gefiel ihr. Zu einem vorerst letzten Treffen bat ich den Freund hinzu. Gemeinsam fanden wir als „Erklärung“ für das, was Evi geschehen war, die Sehnsucht nach der in den letzten Jahren so besonders engen Verbundenheit und der räumlichen Nähe zu den Eltern. Evi richtete ganz aus eigenem Antrieb ganz herzliche Worte an ihren Freund, dass er doch „bitte wieder gut sein möge – mit ihr, mit Musch und Peter, und bitte, bitte, die Hasen könnten doch auch nichts dafür.“ Wir gingen alle drei mit dem sicheren Gefühl auseinander, dass die Trauer wieder auf einem gutem Wege war. Den Lösungsansatz bot in diesem Falle gerade das, was die Trauernde immer schon gestärkt hatte, ihr Glaube und die von ihrem Glauben gegebene Wegleitung. Noch ein Hinweis: Steht der bisher begleitete Mensch wieder auf festen Füßen, sollte der Begleiter sich verabschieden. Es ist nicht gut, wenn eine neue, eine „Ersatzbindung“ entsteht. Ich biete als „letztes“ immer noch einen weiteren „Kontrolltermin“ an. Er heißt offiziell: Ein Abschluss mit Kaffee in drei Monaten.

Fallbeispiel

Versäumtes – Ereignisse imaginativ nachholen Rosi M., eine Mutter im 42. Lebensjahr, konnte nicht umfassend von ihrer Tochter Abschied nehmen. Die Tochter starb mit 20 Jahren. In einem ersten Gespräch, noch vor der Trauerfeier, ließ ich mir all die Gründe für das (von ihr so benannte) „Versäumte“ berichten. Rosi war in Kanada, als ihre Tochter hier in Deutschland schwer verunglückte. Nach einer Notoperation verstarb die Tochter zwei Tage darauf im Krankenhaus.

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

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Achtsam geführt, Wichtiges nachgeholt

Daraufhin hatte der Vater gehandelt, wie es die Klinikseelsorgerin und der Bestatter ihm geraten hatten. Die Mutter kam mit dem nächstmöglichen Flug zwei Tage später. Die junge Frau lag versorgt und angekleidet im Sarg aufgebahrt in einer Kühlzelle. So konnte die Mutter den Leichnam sehen. „Aber alles war getan, bevor ich kam.“ Sie sagte, sie habe die Tochter angeschaut, aber es sei ihr eigentlich nicht klar geworden, dass sie tot sei. Ausführlich beschrieb Rosi das „Loch“ zwischen dem letzten Zusammensein und dem Blick in den Sarg. Dann begann sie, mir ein umfassendes Bild vom Leben ihrer verstorbenen Tochter zu vermitteln. Vom Kindergarten über das Studium bis zum Kauf einer eigenen Wohnung. Voll Stolz und Bewunderung und in ungewöhnlicher Ausführlichkeit erzählte sie über eine Stunde lang. Sie blieb mit ihren Worten ganz in der Vergangenheit, kein Wort vom Tod, keine Träne. Mit dem Krematorium klärte ich, ob und wie lange der Sarg noch offen sein könne. Ich begleitete Rosi M. am nächsten Tag, die Beisetzung sollte am Nachmittag sein, vormittags zu dem noch offenen Sarg. Nach ein paar stillen Minuten konnte Rosi der Tochter wie von mir angeregt, die Wangen und die Hände streicheln. Wir verweilten 15 min am Sarg, bis er geschlossen wurde. In diesem Moment schien die Trauer bei ihr angekommen zu sein. Sie weinte. Ich erkundigte mich, welche Handlungen sie denn selbst für die Tochter zuvor noch gern vollzogen hätte. Wir beschlossen, später ausführlich darüber zu reden. Vier Tage nach der Beisetzung: Mein Angebot zielte auf das Nachholen des Versäumten in einer geführten Imaginations-Übung. Um Rosi ein Gefühl für diese Technik zu vermitteln, um zu sehen, ob sie das mögen und ob sie „mitgehen“ würde, schob ich am selben Tag eine erste Fantasiereise für sie in unser Gesprächsprogramm ein. Ich arbeite mit einer Technik, die am ehesten mit der inzwischen bekannten MBSR, der Mindfullness Based Stress Reduction vergleichbar ist. Die Anwendung dieser Technik bedarf einer vorherigen Ausbildung! In bequemer Haltung, angelehnt und eventuell zum Schutz in eine leichte Decke gehüllt, wird der Trauernde mit Worten durch seine Körperregionen geführt. So stimuliere ich die Fähigkeit, sich weitgehend zu entspannen, um dann den Bildern der „Reise“ besser zu folgen. Danach berichtete sie mir, dass die „Reise“ gut war und dass sie sich die Blumenwiese wie auch den Rosenbogen, unter dem ich sie imaginativ hindurchführte, gut vorstellen konnte. Ja, sie habe die Rosen sogar riechen können. Es galt nun, sie bei einem nächsten Termin durch all die versäumten Handlungen zu führen, die ihr so wichtig gewesen wären. Wann immer sie selbst den Zeitpunkt für richtig hielte, wollten wir das tun. „Ja, das kann ich mir schon vorstellen, ich möchte das bald machen.“ Am vereinbarten Tag dann brachte Rosi eine Menge Fotos von ihrer Tochter mit. Ich ließ sie noch einmal erzählen, bis sie mir emotional ganz nah am Wesen der jungen Frau schien. Ich hatte mir „die Geschichte“, den doch heiklen Text ausführlich aufgeschrieben. Als sie ihre Sitzposition gefunden hatte, schloss sie von selbst die Augen. Genau wie sie es schon kannte, führte ich sie behutsam durch das Körperempfinden in zunehmende Entspannung, was diesmal etwas mehr Zeit in Anspruch nahm, denn ihre Anspannung ließ nur langsam nach. Mit kurzen Unterbrechungen, bei denen ich immer wieder nach Rosis Befindlichkeit fragte, schilderte ich langsam und sehr ruhig gesprochen das bildhafte Erleben am Krankenbett, erst auf der Intensivstation, dann im Kranken- und Sterbezimmer. Meine

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Zwischenfragen, ob sie „das sehe, ob sie jenes spüre“, beantwortete sie mit sehr leisem Ja. Ich führe sie mit meinen Worten durch das Zimmer: „Da stehen die Blumen am Tisch, die Sie aus dem Garten mitgebracht haben.“ Ich spreche auch als Arzt, der ihr die Botschaft vermittelt, dass die Tochter nur noch wenige Stunden leben wird. Ich beschreibe, wie sie die Hand der Tochter hält und am Bett verweilt. Ich schildere, wie sie mit einer Krankenschwester zusammen den ganz ruhigen Augenblick des Todes der jungen Frau wahrnimmt, ihre Stirn streichelt und die Augen schließt. Die notwendigen Pausen zwischen meinen Sätzen werden von leiser, meditativer Musik im Hintergrund getragen. Dann schilderte ich, wie sie die Pflege der Verstorbenen bis zum Anlegen der von zuhause mitgebrachten Kleidung vornahm. Für die tatsächliche Pflege vor der Trauerfeier hatte der Vater glücklicherweise eine Lieblingsbluse der Tochter gefunden, welche man ihr nun angezogen hatte. Meine Ausführungen beschränkten sich ausschließlich auf jene Handlungen, die Rosi zuvor als „ihr fehlend“ angesprochen hatte. Während der 20 min, in denen wir in der geführten Imagination weilten, blieb die Trauernde ganz ruhig, nur einige Tränen kullerten ihr die Wangen hinab. Zum Abschluss waren wir bei jenem Bild angelangt, das sie bei ihrer Rückkehr vorgefunden hatte, die junge Frau im Sarg, drei Tage vor der Trauerfeier und der Erdbestattung. Dann führte ich sie aus der Szene in weitere Momente entspannten Körperempfindens und zuletzt zurück ins „Hier und Jetzt“. Tief berührt verweilten wir beide einige Minuten, nachdem sie wieder die Augen geöffnet hatte. Tatsächlich, das berichtete sie mir jedoch erst Tage darauf, hatte die Trauernde das Gefühl, ganz wichtige Augenblicke nachgeholt zu haben.

Fallbeispiel

Wie finde ich meine Trauer? Marianne K., 44 Jahre alt, bittet um ein Gespräch. Sie hat ein paar Fragen, bevor sie ein Trauerseminar bucht. Sie weiß zudem nicht recht, ob sie da hinein passt. Unser erstes von vier Treffen fand bei mir statt. Ihre Mutter, mit der die ledige Frau in einem Haushalt zusammen lebte, war im 63. Lebensjahr nach einer zuerst nicht erkannten Lungenentzündung recht unerwartet gestorben. Die Beerdigung lag zum Zeitpunkt unseres Kontakts 6 Monate zurück. Mariannes Bericht: „Eigentlich war sie nie krank und bis zuletzt fit. Meine Mutter meisterte den gemeinsamen Haushalt komplett. Wissen Sie, ich hatte dadurch viel Zeit, auch für meine Hobbys, für ein paar Nachhilfe-Schüler und meinen Sport. Die Beisetzung habe ich ordnungsgemäß abgewickelt, doch am Grab konnte ich der allgemeinen Erwartung, nun hemmungslos zu weinen, nicht nachkommen. Die beste Freundin meiner Mutter erklärte mir mehrmals, dass ich jetzt sehr traurig sei. Ich habe ihr nicht widersprochen, aber mich gefragt warum ich es nicht bin. Seither warte ich darauf, ich bin es meiner Mutter doch schuldig, das muss man doch merken, in Trauer zu sein. Aber ich fühle es nicht.“ Ich ließ sie noch eine Zeit lang berichten. Ich vermisste jegliche Emotion oder einen Ausdruck von Gefühlen überhaupt. Nie war mir jemand im Berichten von einem Abschieds- und Trauergeschehen so geordnet und rational begegnet.

Trauer braucht Empfindsamkeit

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Um sie besser einschätzen zu können, stellte ich nun einige Fragen: Sie sind Single, mussten Sie denn auch schon einen Partner betrauern? „Nein, ein paarmal habe ich Beziehungen versucht, aber das hat nie geklappt.“ Waren Sie hinterher traurig? „Nicht wirklich!“ Was ist mit Freundinnen, Kolleginnen, anderen Beziehungen? „Geht alles prima, aber so arg nahe lasse ich niemanden an mich ‚ran. Meine Mutter sagte immer, da sei ich wie mein Vater, den ich allerdings fast gar nicht kannte. Er starb, als ich sieben Jahre alt war.“ Weinen Sie bei einem traurigen Film? „Soaps schaue ich gar nicht erst an.“ Ähnlich trocken antwortete sie auf weitere Fragen. Mir wurde allmählich klar, dass sie mit Gefühlen nicht umgehen konnte und ihnen weiträumig aus dem Weg ging. Für unser nächstes Treffen gab ich ihr – sie war Lehrerin für Mathematik und Physik – eine Hausaufgabe, nämlich die Anfertigung einer Gegenüberstellung des gemeinsamen Alltags mit der Mutter zum Alltag jetzt ohne die Mutter, in Stichworten. Zusammenfassend stellte Marianne K. beim nächsten Treffen fest: „Wenn ich das analysiere, kommt Selbstmitleid auf, ja, sie fehlt hinten und vorne, mir fehlen ihre Hilfe, ihre Zuwendung und unsere guten Gespräche.“ Da waren also doch Gefühle! Sie vermissen Ihre Mutter? „Ja!“ – Jetzt erst, im Nachhinein konnte sie die Beziehung zu ihrer Mutter als „sehr eng“ beschreiben. Tatsächlich hatte sie nie darüber nachgedacht. „Meine Mutter hat mich geliebt – na ja, ich sie auch, selbstverständlich!“ Wie fühlt sich Liebe an? „Gut, warm!“ – Es wurde eine fast fröhliche Deutschstunde, als wir anhand ihrer Stichwort-Liste „Mit der Mutter“ Ausdrucksweisen für angemessene Gefühle suchten. Was löst es für Gedanken und Empfindungen aus, dass die Mutter jetzt keine Lieblingsspeise mehr kocht? Ergebnis: „Freudige Erinnerung, es war immer ein Genuss. Aber auch Bedauern, Wehmut, dass dies nie wieder geschieht.“ Tatsächlich entwickelte Marianne eine Art Gefühls-Lexikon. Zuletzt gelang es ihr, für einige Gefühle und Empfindungen auch noch ein echtes, dazugehöriges Körpergefühl nachzuempfinden. Über dieser Arbeit gewann ich die Einsicht, dass Mariannes bisher eigene, wenig gefühlsbetonte Art doch auch Trauer sei, nur eben anders als erwartet. „Können Sie mich jetzt in Ihrer Gruppe gebrauchen?“ Das bestätigte ich ihr gern. Ich gab ihr noch die Empfehlung mit auf den Weg, sich stärker mit dem Thema Gefühle auseinanderzusetzen.

Fallbeispiel

Trost der Musik „Die Musik den Kranken macht leichte Gedanken, vertreibet das Gift. Oft haben die Saiten in schweren Krankheiten viel Gutes gestift“ (Laurentius von Schnifis (1633–1702)). Wohl die meisten Sterbebegleitungen sind zugleich Begleitung der Angehörigen. Der Sterbende wird bereit zum Übergang. Die Angehörigen werden bereit, den Sterbenden gehen zu lassen und ihr Leben neu auszurichten. Ich begleitete das Ehepaar B., das zwei Appartements in einem Seniorenheim bewohnte. Sie, die weitaus Jüngere mit Anfang Siebzig war die unheilbar und zum Tod Erkrankte. Er ging auf die Neunzig zu.

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

Sie war bei vollem Bewusstsein, war aber wegen ihrer Krankheit ans Bett gefesselt. Er bewegte sich im Rollstuhl, sehr flink, sehr achtsam, ganz liebevoll und immer ein wenig zwanghaft bemüht, das „Richtige“ zu machen. Meine Begleitung begann mit einem Ratschlag zu dritt unter der Frage „Was können wir für meine Frau noch tun?“ Der Ehemann hatte Schweres in einer langen Kriegsgefangenschaft erlitten, war dann als Ingenieur sehr erfolgreich gewesen, hatte Ehe und Familie hinter sich gebracht und war schließlich seiner Altersliebe begegnet, die sich nun auf den Tod vorbereitete. Die Krankheit hatte einen Strich durch alle Rechnungen gezogen, die vielleicht auf eine liebevolle Pflege des greisen Mannes durch seine jüngere Frau aufgemacht worden waren. Beide trugen gefasst ihr absehbares Schicksal. Immerhin, Geld spielte keine Rolle, der wirtschaftliche Erfolg des Ehemannes garantierte beiden die bestmögliche Pflege. Ich schlug vor, Märchen und Geschichten vorzulesen. Beide stimmten sofort zu, und so kam ich regelmäßig mittwochs am späten Nachmittag und las vor: Grimm’sche und andere Märchen, aber auch orientalische Märchen wie das von Aladin und der Wunderlampe und die köstliche Geschichte von Abu Kasims Pantoffeln. Die erste Viertelstunde war ich mit der Kranken allein, dann kam ihr Ehemann dazu, das Vorlesen konnte beginnen. Das ging so über zehn Monate, bis eines Nachmittags die Kranke sagte, ihr stehe nicht mehr der Sinn nach Vorlesen. Das war ein deutliches Signal. Ich ahnte unvermittelt, dass Frau B. an der vorletzten Wegbiegung stünde. – Wenn Reden nicht mehr hilft und Schweigen Angst macht, kann Musik noch trösten. Ich schlug vor, dass ich beim nächsten Mal meine Geige und ein paar Lieder mitbrächte. „Aber wir sind völlig unmusikalisch“, erklärte der Ehemann entsetzt. „Sie müssen keine Melodien wiedererkennen oder gar singen, darauf kommt es nicht an“, versuchte ich zu beruhigen. Nach einigem Bedenken wurde mein Vorschlag angenommen – wir könnten ja einen Versuch machen und dann weitersehen. Bei meinem nächsten Besuch sprach Frau B. schon nicht mehr. Das war ein weiteres klares Signal. Ich hatte meine Geige mitgebracht. Ich spielte einige Volkslieder, leitete über zu langsamen irischen und englischen Tänzen, spielte erneut Volkslieder. Es wurde still im Krankenzimmer. Als ich zu spielen aufhörte, lächelte Frau B. unter Tränen. Und ihr Mann hatte ohne Schwierigkeiten die Lieder wiedererkannt. Von Unmusikalität war fortan keine Rede mehr, Herr B. war tief berührt, und ich sollte nur bald mit der Geige wiederkommen. Noch zweimal habe ich Frau und Herrn B. besucht. Mit der Geige. Wenige Tage nach meinem zweiten Besuch schlief Frau B. friedlich und getröstet ein. Christoph ­Schubert-Weller

Fallbeispiel

Trost vor der Beisetzung – eine kreative Begleitung Für das nachfolgende Beispiel einer gelungenen Trauerbegleitung noch vor der Beisetzung danke ich Irina Hradsky (Pirna). Dezember. Anna C., eine junge Mutter und Ehefrau, hatte vor 4 Wochen ihr drittes Kind entbunden. Sie stillte das gesunde Baby und schien selbst stabil. Der Verdacht auf ein schweres Kreislaufproblem veranlasste die dringende Einweisung in die Klinik. Es folgte ein Zusammenbruch und Organversagen. Die Reanimation brachte sie

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Wenn Reden nicht mehr hilft

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

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Eine Blumenwiese zum Abschied, letztes Geschenk

nur kurz ins Leben zurück. Anna starb in den Armen ihres Mannes. Ehemann Paul, das Baby und die Mädchen: Mia, 3Jahre und Josi, knapp 6Jahre alt, hatten das Liebste und Wichtigste verloren. Ein junger, engagierter Bestatter brachte den Familienvater Paul C., 33 Jahre alt, mit der Idee, sich an der Sarggestaltung zu beteiligen, auf den Weg zu Irina H. Paul war in seiner verzweifelten Stimmung froh, irgendetwas unternehmen zu können, ohne dass er genau wusste, was ihn erwartete. Er traf Irina. Die Künstlerin bemalt seit vielen Jahren Särge und gestaltet Urnen. Sie ist Gärtner-Meisterin und war als Friedhofs-Meisterin tätig. Sie hat ein liebevoll offenes Wesen und ein ganz großes, mitfühlendes Herz. Die begnadete Künstlerin ist auch für die Begleitung Trauernder ausgebildet. Ihre Wirkungsstätte, Atelier und Wohnhaus, ist umgeben von einem großen Gartenparadies, welches in den Sommermonaten zusätzlichen Raum für bewegende Gespräche und still tröstendes Naturerleben bietet. An jenem Tag kurz nach Neujahr war es draußen kalt. Irina empfing Paul mit einer Tasse heißen Tees. Er durfte erzählen, fragen und sich in Ruhe umschauen. Dann stand er an einem der zwei Holzsärge im Atelier, er streichelte mit der Hand über das unbehandelte Holz. Seine Frau war sehr naturverbunden gewesen, „den hätte sie gemocht“. Für Irina galt es in dieser Zeit zu erfassen, wie die Gestaltung gewünscht wurde, welche Bezüge zur Partnerschaft, zur Familie und nicht zuletzt zum Charakter der Verstorbenen die Gesamtschau bestimmen würde. Ein ruhiger Austausch, der freilich nicht nur um die Sarggestaltung kreiste, war die eigentliche Trauer-Begleitung. Paul hatte auf Irinas Bitte ein paar Fotos mitgebracht, auch sein Hochzeitsfoto, auf dem die Künstlerin eine sehr hübsche, zarte Persönlichkeit an seiner Seite erblickte. Viel Zeit ist nicht, wenn eine Erdbestattung bevorsteht! Die Nacht und der Sonntag sind ausgefüllt mit Schliff, Grundierung und der von Pinsel und Farbe geschaffenen bunten Blumenwiese. Irina lässt bewusst markante Stellen noch frei. Am Montagvormittag treffen sich im Atelier: der Vater und seine Töchter Mia und Josi, ein Freund von Paul sowie eine Assistentin, die sich vornehmlich um die Kinder kümmert. Irina nimmt sie allesamt unter ihre Fittiche. Die den Besuchern zugewandte Seite des Sarges ist fertig. Eine grüne Wiese mit vielen sehr natürlich gemalten Blumen und zarten Blüten. Am Kopfende des Sarges ist ein großer Schmetterling in Umrissen vorgemalt. Erst wird die zögernde Hand des Kindes von Irina geführt, dann malt das Mädchen mit bunten Acrylstiften selbstständig und immer sicherer weiter, der Ehemann übernimmt das Ausmalen. Immer wieder gelingt es Irina, mit kleinen Gesten, wie beispielsweise vier Punkte auf den Flügeln des Schmetterlings, sinnbildliche Beziehungen zu schaffen und diese auch als Trost vermittelnde Zeichen zu benennen. Fünf Gänseblümchen, vier starke, ein schwaches, stehen nebeneinander in der Blumenwiese, sie symbolisieren die Familie. Paul schreibt darunter ein „In ewiger Liebe“ samt einem Datum, das seine Frau und ihn verbindet. Josi braucht Zeit und Zuspruch, bis sie dann doch beherzt beide Hände auf eine Palette in die Farbe legt, um dann die Abdrücke am Fußende des Sarges anzubringen, wo zuletzt alle Kinderhände bunt neben- und übereinander Zeichen setzen. Jetzt aufgetaut bemalt das Mädchen die freie, zweite Seite des Sarges fast selbstständig. Das ältere Mädchen steht dann auf einem Hocker, und die kleinere wird einfach hoch gehalten. So helfen sie zuletzt am Deckel des Sarges mit. Es entsteht dort ein blauer Himmel mit weißen, bewegten Wolken.

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

Fotos dokumentieren den Fortschritt und beteiligte Personen. Mit Sicherheit sind das sehr wertvolle Erinnerungen. Bis ins Erwachsenenalter hinein werden sie helfen, trösten und begleiten, zumal die Kinder noch nicht die ganze Tragweite des Geschehens zu erfassen vermögen. Anna hatte vor Weihnachten ihren drei Kindern allen gleiche Kleidchen für ein Foto-Shooting genäht. Sicher ist da etwas Stoff übrig, fragte Irina und regte an, ein kleines Kissen damit zu beziehen. Es fand sich rasch eine liebe Freundin, die das über Nacht schuf, und so konnte der Mutti dieses dann beim Einsargen unter den Kopf gelegt werden, wieder eine liebevolle Verbindung, die in Erinnerung bleiben darf. Zuletzt gibt es für alle noch ganz viel zu lachen. Der erschöpfte Paul hat sich versehentlich mit seiner guten Hose auf einer Farbpalette, die auf dem Stuhl lag, niedergelassen! Ein ausgedehnter Vormittag war vergangen, getragen von liebevoller Begleitung. In wohltuendem Ambiente mit Tee und wärmenden Kerzen war etwas ganz Besonderes entstanden. Dem Sarg, in dem die Mutter und Ehefrau ruhen würde, welcher ihre letzte Stube sein würde, war derweil jeglicher bedrohlicher Charakter genommen. Ein bisschen wehmütig ist in solch einem Augenblick auch Irina zumute, sie spricht von einem 24-Stunden-Kunst­werk, das am Tag darauf in der Erde liegt. Beruhigend zu wissen: In den Herzen der Trauernden, auch der Eltern und Geschwister, die nicht direkt an der Aktion beteiligt waren, wird der Tag der Bestattung immer mit dem besonders persönlich gestalteten Sarg tröstend in den Herzen bleiben.

Fallbeispiel

„Ich kann nicht auf den Friedhof“ Elena T.’s Vater, der Suizid begangen hatte, und die später verstorbene Mutter lagen in ein und demselben Grab, das die Tochter, die den Vater damals im Treppenhaus hängend vorgefunden hatte, nicht zu besuchen vermochte. „Ich habe nur Wut und Chaos im Bauch, wenn ich an ihn denke, aber ich habe auch so ein schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber, weil ich nie mehr am Grab war.“ Mit diesen Worten begann unsere gemeinsame Arbeit. Elena T. redete sich den ganzen angesammelten Frust ihrer Vater-Erfahrung von der Seele. Nie hatte das jemand anhören wollen. „Mein Mann sagt immer nur Halt! Aufhören! Das gehört nicht in unsere Ehe!“. Fünf Sitzungen lang erzählte Elena nur. Ich notierte all die sicher gerechtfertigten Vorwürfe gegen den Vater und die hilflose Mutter in Stichworten. „Jetzt wissen Sie alles, was machen wir nun?“ So begann Elena selbst unser sechstes Treffen. Wir verwandten einige Zeit darauf, ihres Vaters Herkunftsfamilie, seinen Werdegang, die Ehe der Eltern und sein Abdriften in den Alkohol zu entschlüsseln. Ich staunte, als die Tochter nahezu verständnisvoll erklärte, „dass er ja kaum eine Chance im Leben gehabt habe.“ Zwischenzeitlich widersprach sie sich dann selbst und schließlich kam in einer Sitzung der bemerkenswerte Satz: „Ich glaube, ich habe jetzt genug Abstand. Irgendwie fühlt es sich nicht mehr so grausig an.“ Ich plante mit ihr einen Gang zum Friedhof, damit sie dort sich selbst und Vater und Mutter vergeben konnte. Gemeinsam erarbeiteten wir ein Schriftstück. Diese Arbeit lag ihr erst gar nicht. Ich bestand

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

Das Elterngrab: Ort des Schmerzens und Verzeihens

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aber darauf, dass sie mithalf, so zu formulieren, dass es nicht meine, sondern ihre Sprache wäre. Schließlich gelang das. Seit Beginn meiner Unterstützung waren drei Monate vergangen. Im warmen Licht der Herbstsonne, ausgerüstet mit zwei weißen Grabkerzen und einem bunten Blumenstrauß samt Steckvase begleitete ich Elena zum Friedhof. Wir fanden das Grab nicht gleich. Obwohl ich mich nach dem Standort erkundigt hatte, wollte ich Elena das „Entdecken“ nicht nehmen. Noch zögernd entzündete sie die mitgebrachte Kerze und stellte diese auf das Grab. Ich holte derweil Wasser für die Vase und ließ mir Zeit. Als ich zurückkam, weinte Elena. Das war das erste Mal, wie sie mir später erzählte. Leise, kaum hörbar schaffte sie es, ihren Brief vorzulesen. So waren die Worte nun auch ausgesprochen und mitgeteilt. Elena hatte in der Auflösung ihrer Not ein Wegstück des Trostes zurückgelegt. – Den Brief wollte sie nicht dort im Grab, sondern an einem der nächsten Tage im Wald hinter dem Elternhaus vergraben. Und so lautete dieser Brief: Brief an die verstorbenen Eltern Hallo Vater, ich habe dich gehasst, ich habe dich nicht verstanden. Du hast mir und Mama so oft so schrecklich weh getan. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum. Warum hast du dir das Leben genommen? Warum musste ich dich finden? Ich höre jetzt auf zu fragen. Ich möchte mein Leben endlich auf einen guten Weg bringen. Ich möchte dir einfach und ohne Warum verzeihen. Ich habe schon damit begonnen. Ich bin hier, um zu bitten, dass du mir die viele Wut und den Hass auch vergibst. Ich habe inzwischen nicht alles, aber vieles besser verstanden. Ganz früher, als ich ganz klein war, warst du ein guter Vater, das weiß ich noch. Also, lass uns wieder gut sein. Ich wünsche dir jedenfalls, dass du deinen Frieden gefunden hast. Hallo Mama, sei mir bitte nicht böse, dass ich nie hier am Grab gewesen bin. Verzeih mir meinen Dickkopf. Verzeih mir, dass ich dich damals, als ihr so viel gestritten habt, nie verstanden habe. Verzeih mir. Ich war nicht stark genug. Ich möchte ab heute für immer dich, Mama, und dich, Vater, in Ruhe und Frieden wissen und mich dabei gut fühlen. Vielleicht könnt ihr mir dabei irgendwie helfen, von dort, wo ihr jetzt seid. Danke! Ich komme wieder, ich komme jetzt öfters an euer Grab.

3.11.7  Allgemein: Schreiben hilft

Dem Verstorbenen einen Brief zu schreiben, hilft eigene Gedanken zu klären. 5 Zuerst legen wir Thema und Inhalt des Briefs fest. Welches Geschehen, welcher Konflikt ist noch ungeklärt. Wir notieren Stichworte.

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

5 Wenn der Betroffene den Brief allein schreiben möchte, ist das sehr gut so. Andernfalls formulieren wir gemeinsam. 5 Die Schriftstücke können zur Flaschenpost werden. Sie werden in einem kleinen Ritual verbrannt, mit der Vorstellung, dass die Flamme oder der Rauch die Botschaft verbreitet und „in alle Winde trägt“, oder sie werden im Garten oder im Wald der Natur übergeben. 5 Das Schreiben und die Aktion an sich sind die helfenden, entlastenden Handlungen. Bei solchen Briefen zur Entlastung geht es 5 darum, sich selbst etwas klar zu machen, 5 darum, Belastendes aus Herz und Gemüt zu Papier zu bringen, statt endlos zu grübeln, 5 um Vergebung, 5 um nachträglichen Dank, 5 um nachträglich bezeugte Liebe, 5 darum, Unausgesprochenes doch noch zu sagen, 5 darum, sich Wut von der Seele zu schreiben.

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Von der Seele schreiben

3.11.8  Ankerplätze, Rituale und Aktionen

Gemäß dem Duden ist ein Ritual ein „wiederholtes, immer gleich bleibendes regelmäßiges Vorgehen nach einer (oft religiös) festgelegten Ordnung. Rituale werden auch als strukturierende, kommunikative Handlungen bezeichnet. Sie regeln das zwischenmenschliche Miteinander zu wichtigen Jahrestagen oder Ereignissen (Taufe, Trauung usw.). Viele Menschen haben, was den Sterbeprozess angeht, mehr Berührungsängste als Nähe-Bedürfnis. Andere allerdings bedauern nachträglich sehr, dass sie entweder keine Möglichkeit hatten, selbst an dem Abschied teilzunehmen, oder dass beim Abschied jene eindrucksvollen rituellen Handlungen fehlten. Festgelegte Rituale aus Tradition und Brauchtum, die zu früherer Zeit als Halt gebende Gewohnheiten alle wichtigen Lebensstationen, so auch den Sterbeprozess und die Verabschiedung begleiteten, sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Beispiele solcher Rituale sind: Kranken- und Totensalbung, Schließen der Augen, Falten der Hände des Verstorbenen, Aussegnung, Totenwaschung, Totenwache, das Öffnen eines Fensters, Totenklage und Gedenktage mit dazugehörigen Gebeten und Gottesdiensten. Rituelle Handlungen wurden in der Gemeinschaft vollzogen und verbanden so die trauernden Angehörigen untereinander. Selbst jetzt, da der Begriff des Rituals heute weitgehend seines religiösen und säkularen Kontexts entkleidet ist, bleiben Wunsch

Halt finden in nicht alltäglichen Handlungen

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

und Verlangen nach Ritualen. Es wird immer noch so empfunden, dass bestimmte nicht alltägliche Handlungen gerade in Zeiten der Veränderung, des Umbruchs Halt und Befriedigung verleihen. In einer Zeit aufgelöster religiöser Bindungen, in einer Zeit, da „Angehörige“ sich oft nicht mehr einander zugehörig fühlen, entbehrt Trauer weitgehend praktizierter Traditionen. Totenklage und Totengedenken fließen im besten Fall noch auf andere Weise in eine Predigt, oder weltlich gehaltene Trauerfeier ein. Rituale helfen, Grenzsituationen zu überwinden, Vergangenes abzuschließen, Abstand zu gewinnen und Wegmarken zu setzen. Feierlich zelebrierte und ausgestaltete Symbole, Gesten, Handlungen und Fürbitten helfen, das Außergewöhnliche sinngebend in den eigenen Lebenslauf und in die Weltordnung zu integrieren. Etwas zu tun, auch Inszeniertes, ist kraftvoller als nur Gedanken zu bewegen, weil Handlungen tiefere Ebenen unserer Wahrnehmung berühren. Vielleicht ist der Begriff Ritual zuweilen zu hoch gegriffen. Ich verwende ihn dennoch für die folgenden Anregungen, die in der Begleitung als Mittel der Interaktion hilfreich eingesetzt werden können. Manches, wie etwa ein Kreistanz, taugt nur für eine Trauer-Gruppe, anderes, wie ein Gang zum Friedhof, um dort einen Vergebungsbrief am Grab vorzulesen, ist wieder nur für die Einzelbegleitung geeignet. Kerzen sind nicht nur wundervolle Auslöser sinnlichästhetischen Empfindens, sondern sie bringen auch im übertragenen Sinne Licht in die Dunkelheit, Wärme in die fröstelnde Seele. Immer, wenn ich mit Trauernden spreche, sei es bei mir in der Praxis, sei es in deren Zuhause, lasse ich sie vor Beginn des Gesprächs eine Kerze entzünden. Ein gemeinsamer Spaziergang kann einen Abstecher in eine Kirche mit Opferkerzentisch einschließen. Nicht nur Gedenktage, auch die düsteren Novembertage allgemein laden dazu ein, eine Kerze am Grab aufzustellen. Von einer immerwährend brennenden Kerze daheim rate ich grundsätzlich ab. Die Brandgefahr ist selbst im Windglas nicht ausgeschlossen. Und wenn das „ewige Licht“ dann doch ausgeht, wird das gern als schlechtes Omen gewertet. 3.11.9  Positiv mobilisierende Aktionen

Gewohntes bietet Schutz und Geborgenheit. Der Verlust eines Menschen zwingt uns in ungewollte Lebens- und Umfeld-Veränderungen, raubt uns Mut und Kraft. Was nicht bleiben kann, wie es war, muss nun als Verändertes angenommen werden. Gern rate ich dazu, die nun einmal gegebenen Umbrüche durch selbst initiierte, wohltuende Aktionen und Kreationen zu

3.11 · Die Bedeutung des Bestattungs-Ortes und der Bestattungs-Art

bereichern. Äußerer Zwang kann auf diese Weise in mancher Hinsicht ein freundliches Gesicht bekommen. Selbst gewählte Veränderungen stärken das Selbstbewusstsein und machen Mut, nach vorn zu schauen. Begleiter dürfen mannigfache Impulse geben, etwa:

5 Trauer-Bastel-Arbeiten anfertigen: zum Beispiel die TrauerBox, das Trauer-Schatzkästlein (siehe Anhang) 5 Eine Wand in der Wohnung neu, vielleicht ganz bunt bemalen 5 Schon seit längerem ungeliebte Möbel entsorgen oder umstellen 5 Erinnerungen mal ganz anders „verpacken“ und immer wieder neu und anders präsentieren 5 Vorhänge von den Fenstern nehmen und dafür einen Blumenkasten oder große Dekor-Elemente auf das innere Fenstersims stellen 5 Räume und Funktionen wechseln, etwa aus dem Schlafzimmer, ein Studio, einen Hobbyraum gestalten, das längst verlassene Kinderzimmer zum neuen Gästezimmer deklarieren und entsprechend möblieren 5 Bilder, Kunstwerke abhängen, neue suchen, finden, aufhängen 5 Eine ganz neue Aktivität beginnen – Sport, Gärtnern, eine Fremdsprache oder eine neue Fertigkeit erlernen Möglichkeiten gibt es viele, Ideen finden sich auch in den Programmangeboten von Volkshochschulen oder Sportvereinen. „Endlich kann ich zu Weihnachten den ganzen Garten und das Haus mit Lichterketten erstrahlen lassen“, verkündete mir eine hochbetagte Witwe. „Wissen Sie, mein Mann hat das nicht erlaubt.“ – Eine WG-Freundin über die verstorbene Mitbewohnerin: „Ihr uraltes Lieblingssofa kommt jetzt weg, dafür stelle ich zwei Designer-Sessel auf. Die hätte sie nicht wollen. Es ist vielleicht ein komischer Trost – aber mir was Gutes tun, tröstet mich!“

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Kreativ auf neue Wege

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Kapitel 3 · Trauerbegleitung in der Praxis

3.11.10  Trauer ist Stress – Angebote zur

Entspannung

Alle Übungen zur Entspannung, vom schweigsamen Spaziergang bis zur geführten Meditation, sind geeignet, Spannung zu lösen und damit neue Kraft zu spenden. Scheint einmal ein Tag gar nicht geeignet, um beim Thema Fortschritte zu machen, eignet er sich sicher für Entspannung! 5 Eine Geschichte vorlesen, z. B. die Geschichte vom Stein (vgl. Anhang) 5 Eine Meditation mit einer Gedankenreise durch die Natur sprechen 5 Den Rücken massieren 5 Gemeinsam einen Tee zelebrieren 5 Zusammen ein Mandala ausmalen, oder mit Vogelsand aus der Zoohandlung und einem alten, groben Kamm einen japanischen (Tisch-) Garten gestalten

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Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung 4.1 Ein Wochenend-Seminar – 73 4.1.1 Vorbereitungen und erster Abend – 75 4.1.2 Zweiter Tag – 77 4.1.3 Dritter Tag – 82

4.2 Kreative Trauerarbeit – 83 4.2.1 Ein Windspiel aus Erinnerungen basteln – 84 4.2.2 Das Trauer-Schatzkästlein – 84

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Bender, Praxisbuch Trauerbegleitung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0_4

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Kapitel 4 · Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung

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Gruppen erfordern Mut

Struktur durch zeitliche Begrenzung

In der Trauerarbeit und ohnehin in der Forschung werden Angehörige sinnvollerweise unterschiedlichen Gruppen zugeordnet. Wir unterscheiden zum Beispiel verwaiste Eltern und verwaiste Geschwister, wir wenden uns Witwen oder trauernden Männern zu. Bei vorausgegangenen Gewalttaten, bei Kriegseinwirkungen oder Katastrophen freilich wird wiederum anders gewichtet. Überregionale Angebote in Klöstern und Seminarhäusern beispielsweise bringen zuweilen ausreichend Teilnehmer einer speziellen Zielgruppe zusammen. Trauernde möchten jedoch gern im heimatlichen Umfeld bleiben und, wenn möglich, jetzt oder zeitlich nahe eine Gruppe finden. Das Angebot einer Trauer-Gruppe fern von Großstädten und außerhalb von Seminarhäusern führt kaum jemals wirklich zu einer homogenen Gruppe. Die „bunte Truppe“ mit ganz unterschiedlichen Verlusterfahrungen und Traueranlässen ist natürlich schwieriger: Gegenseitiges Misstrauen kann aufkommen oder gar Konkurrenzdenken. Eine 60-jährige Witwe stellte in einem meiner Seminare das Ende der 40 Ehejahre mit ihrem lieben Mann als harten Verlust vor, weit härter als der Verlust einer jungen Mutter, deren Kind doch nur ein Jahr bei ihr war, bevor es starb. Da gab es für mich als Kursleiterin zunächst viele Wogen zu glätten! Dennoch möchte ich Ihnen Mut machen, Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Bindungen getrennt wurden, in einem Seminar zusammenzuführen. Trauergruppen sind für Betroffene ein Ort, wo andere ausdrücken, was man selbst nicht sagen kann, wo es anderen auch nicht besser geht, wo man traurig sein darf. Etabliert haben sich fortlaufende Treffen, die meist alle 14 Tage stattfinden. Initiatoren sind Kirchen, Familieneinrichtungen oder Hospize. Angenehm wird von den Betroffenen die Begleitung und das Miteinander über mehrere Wochen empfunden. Workshops über mehrere Tage oder ein Wochenende können Sie, wenn Sie geeignete Räume finden, ganz in eigener Verantwortung initiieren. Regionale Anbieter organisieren Treffen, die über ein halbes oder ein ganzes Jahr lang regelmäßig an bestimmten Wochentagen stattfinden. Diese sollten unbedingt durch einen verbindlichen Anfang und ein klares Ende bestimmt sein. Trauercafés und fortlaufenden und immer wieder für neu hinzukommende Menschen offenen Gruppen fehlt bald jegliche Struktur. Es werden immer wieder zu einzelnen Terminen Leute fehlen oder einfach ganz wegbleiben. Bereits abgehandelte Themen werden erneut aufkommen, eine kontinuierliche Entwicklung ist schwierig. Bessere Erfahrungen haben Kollegen und ich mit kompakten, zeitlich begrenzten Angeboten gemacht. Wägen Sie dabei behutsam ab. Einer meiner Ausbilder, Jorgos Canacakis, erübte mit uns, seinen Schülern, wirklich eindrucksvolle und zum Teil tiefgehende

4.1 · Ein Wochenend-Seminar

Übungen. Sie waren als heilende, kommunikative Gesten gedacht; sie sollten in Trauer-Seminaren von Teilnehmern einzeln oder auch untereinander ausgeführt werden. Ich war damals von den meisten derartigen Übungen begeistert, manche habe ich gern übernommen. Doch im Unterschied zu späteren Trauernden waren wir als Schüler bestens vorbereitet. Nach allen Seiten offen und ohne aktuell in Trauer zu sein, macht einen Unterschied in der Empfindlichkeit und Empfänglichkeit. Später lernte ich, abzuwägen, mit welcher Gruppe, welche Übungen und Handlungen möglich sein würden und mit welchen Teilnehmern eher nicht. Ein körperlicher und seelischer „Mindestabstand“ muss bei jeder Übung gewahrt bleiben. Als ich eines meiner ersten Trauerseminare in der örtlichen Tageszeitung ankündigte, erhielt ich den Anruf einer älteren Dame: „Ich rufe wegen des Seminars an. Wen haben Sie denn bereits verloren, wer ist bei Ihnen gestorben?“ So war ihr unmittelbarer Einstieg ins Gespräch. Als ich meine Verblüffung überwunden hatte, antwortete ich ihr sachgemäß und zählte auf: zwei Omas, die eine davon hat mich maßgeblich groß gezogen, einen Opa, eine allerbeste Freundin war mit einem Flugzeug abgestürzt – und einen sehr guten väterlichen Freund und Lehrer. „Danke, das reicht, ich wollte nur erfahren, ob Sie wissen, was Trauer ist oder ob Sie nur angelesenes Wissen verbreiten. Ich werde teilnehmen!“ 4.1  Ein Wochenend-Seminar

Nachfolgend beschreibe ich modellhaft, wie man ein Trauer-Seminar über ein Wochenende hin führen kann: Übersicht 5 Freitag 17 bis 20 Uhr, Samstag 10 bis 18 Uhr, 1 h Mittagspause, Sonntag 10 bis 14 Uhr. 5 Beginn: Freitagnachmittag oder früher Abend: drei bis maximal vier Stunden, die überwiegend dem gegenseitigen Kennenlernen dienen. 5 Zum Samstag gehört ein gemeinsamer Mittagsimbiss, der drei bis vier Vormittagsstunden und ebenso viele Nachmittagsstunden trennt. 5 Am Sonntag endet das Seminar nach vier bis fünf Stunden am frühen Nachmittag. 5 Das Seminar ist auf 8 bis 10 Teilnehmer ausgelegt. Mehr Teilnehmer benötigen auch mehr Zeit. Mehr als 15 Teilnehmer sollten es nicht sein.

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Kapitel 4 · Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung

Organisation, Ankündigung, Umfang

Gestalten Sie eine ansprechende Einladung, einen Handzettel, den Sie an geeigneter Stelle auslegen oder aufhängen können. Ein Text-Vorschlag könnte so lauten: Dein einsamer Weg der Trauer: Lass Dich ein Stückchen begleiten!

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Ein Wochenende für Menschen, welche ihre Trauer besser verstehen und gern verändern möchten. Ob Sie den Anlass Ihrer Trauer ganz akut erfahren haben, oder ob der Abschied schon länger zurückliegt – vielleicht ist jetzt gerade der richtige Zeitpunkt, behutsam korrigierend die Trauer aus dem schmerzhaften Empfinden zu lösen, ohne gute Erinnerungen zu verlieren. Ich freue mich auf Ihr Kommen.

Die Rückseite des Blattes benennt Datum, Zeiten und die benötigte „Ausstattung“, nämlich eine Wolldecke, kleines Kopfkissen, bequeme, flache Schuhe, Schreibzeug, vielleicht ein, zwei Fotos. Die einzelnen Themen und Übungen sind für insgesamt 14 bis 16 h einschließlich Pausen entwickelt und eignen sich für zwei halbe und einen ganzen Tag (Wochenende). Ein zweites Beispiel: Wochenende für Trauernde Trauer ist keine Krankheit! Doch nie im Leben fühlen wir uns so voll Schmerz, so weh, so leid, wie nach dem Verlust eines uns nahestehenden Menschen. „Da musst Du durch“ – diesen „Rat“ haben Sie schon vernommen. – Aber wie durchfinden? Geborgen in der Runde ebenfalls Betroffener geben wir dem Unsagbaren Raum und Ausdruck. Ziel des Wochenendes ist es, den Schmerz zu lindern, aus dem Ruder Gelaufenes zu ordnen. Behutsam geführt begeben wir uns auf einen erprobten Weg der Trauer-Erschließung. Alle Übungen, Betrachtungen und Ereignisse des Wochenendes werden wir auch abschließen. Unser Seminar hat ein Ende, die Trauer nicht. Doch wenn alles gut läuft, wenn Sie als Teilnehmerin/Teilnehmer bereit sind, mitzumachen, dann besteht die Aussicht, dass Sie danach Ihren Weg der Trauer unter geringeren Schmerzen gehen, dass Sie freier sind, ohne den Verlust zu vergessen oder zu verdrängen. Es kann schon vorkommen, dass wir miteinander weinen, ganz sicher werden wir aber auch miteinander lachen! Die Teilnehmerzahl ist begrenzt auf höchstens 10 Personen. Gerne gebe ich vorab Auskunft, rufen Sie einfach an.

4.1 · Ein Wochenend-Seminar

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4.1.1  Vorbereitungen und erster Abend

Wir benötigen einen ausreichend großen, freundlichen Raum, der auch Bewegungs-Übungen erlaubt (Gemeindehaus, Schule, VHS-Raum). In der Raummitte wird ein Aktions-Mandala gestaltet. Ein Mandala bezeichnet einen symmetrisch gestalteten Kreis. Oft ist das ein religiöses Bild oder ein Mosaik. Dort finden sich zum Beispiel folgende Dinge ansprechend ausgelegt: 5 Auf einem bunten Tuch steht in der Mitte ein Blumenstrauß oder/und eine große weiße Kerze im hohen, schweren, sicheren Wind-Glas. 5 Ausgelegt ist eine jeweils ausreichende Anzahl von Bildern in Postkartengröße. Motive sind Natur, Einzel-Portraits (traurige, oder fröhliche Gesichter), Himmel, Wasser, Stillleben usw. 5 Flusskiesel, gerade so groß, dass sie in eine Hand passen 5 Große, weiße Kunst-Perlen jeweils in eine offene Muschel gelegt. Beides ist in Bastelgeschäften erhältlich. 5 Sehr schöne unbeschriebene Namensschilder für die Namen der Verstorbenen) 5 Ein großes Wollknäuel von mindestens 150 m Länge, aus unterschiedlichen Farben bzw. Restwolle zusammengeknüpft 5 Teelichter in Gläsern, noch nicht angezündet In einem weiten, großzügigen Kreis um das Mandala stehen so viele Stühle wie Teilnehmer angemeldet sind und zusätzlich ein Stuhl für die Seminarleitung. Auf jeden Teilnehmer wartet sein schon beschriftetes Namensschild, das an der Kleidung angebracht werden kann. Wir nennen uns beim Vornamen, bleiben aber beim Sie, um zumindest zu Beginn einen respektvollen Abstand zu signalisieren. Wenn alle anwesend sind und im Kreis einen Platz eingenommen haben, folgt die Begrüßung durch die Seminarleitung (nachfolgend abgekürzt mit SL) sowie eine erste kleine Zeremonie, die alle einschließt. SL zündet die große Kerze an: „Für unsere Verstorbenen“, dann ein erstes der Teelichter: „Für Sie alle, liebe Teilnehmer zur Begrüßung. Ich zünde Ihnen ein Licht an, schön, dass Sie da sind!“ Jetzt sind die Teilnehmer der Reihe nach aufgefordert. Ein erster holt ein Teelicht und entzündet es. Es ist für den links von ihm sitzenden Stuhl-Nachbarn gedacht, auf den er jetzt zugeht. „Ich habe für Sie, Ingrid, ein Licht entzündet. Schön, dass Sie hier sind!“ Dabei wird das Teelicht im Glas überreicht. Die begrüßte Person stellt ihr Licht vor ihrem Stuhl ab und wiederholt die Begrüßung bei ihrem wiederum links sitzenden Stuhl-Nachbarn, so wie sie es eben selbst erfahren hat. Wenn dann alle solch ein kleines Licht erhalten haben, stellt jeder sein Licht selbst in die gestaltete Mitte. Wir sind angekommen.

Utensilien und Gestaltung

Willkommen

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Kapitel 4 · Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung

Die erste Übung: Das Netz, das uns trägt

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Sicherheit vermitteln

Wir sitzen im Kreis, SL nimmt das große Wollknäuel und befestigt ein Stück des abgewickelten Wollfadens vor sich mit Klebeband (später leicht wieder abzulösender Malerkrepp) am Boden. Dann wird das Knäuel vorsichtig, immer am Mandala vorbei (aber nicht hindurch) zu einer weiteren Person im Kreis gerollt. Diese klebt wiederum den Faden vor sich am Boden fest und lässt anschließend das Knäuel zu einer nächsten Person möglichst weit durch den Stuhlkreis rollen (aber, wie gesagt, nicht durch das Mandala). Allmählich entsteht am Boden eine Art „Netz und doppelter Boden“. Wenn dieses Gebilde dicht genug ist, wird der Faden abgeschnitten, das gemeinsam gewebte Werk bleibt für diesen Tag am Boden liegen. Jeder, der gerade im Besitz der Wollkugel ist, hält diese kurz bei sich und benennt, das wird zuvor vereinbart, etwas von sich, wie und was er mag: Namen, Alter, Wohnort, oder einfach auch nur seine Lieblingsspeise. Alles ergibt sich, es bleibt ungezwungen. Der Wollball wird zum Nächsten gerollt, mancher kommt zwei, dreimal zum Zug, und so lernen wir uns kennen. Zuletzt ist ein buntes Netz am Boden entstanden. SL moderiert: „Wir arbeiten ab sofort mit Netz und doppeltem Boden. Wir wollen aufeinander Rücksicht nehmen, einander zuhören, einander stärken, jeder darf sich sicher fühlen.“ Da dieses Netz auch betreten wird, ist es sinnvoll, es noch an weiteren Stellen zu fixieren.

Die zweite Übung: Füreinander empfindsam werden Alle Teilnehmer suchen sich je eines der ausliegenden Bilder/ Fotos aus. Der Reihe nach berichtet jeder, was er darauf sieht und was ihm das Abgebildete gerade heute oder in der Vergangenheit bedeutet. So lernen SL und ebenso jeder Teilnehmer etwas von der Empfindungswelt der jeweils anderen kennen.

Die dritte Übung. Wir stellen unsere Verstorbenen vor

Begrüßung auch der Verstorbenen

Dazu dienen die noch unbeschriebenen Namenskarten. Jeder notiert den Namen des Menschen, um den er trauert, auf solch ein Kärtchen. Beklagt er zwei Menschen, beschriftet er zwei Karten. Diese liegen dann im Kreis um die Blumenvase zwischen den Kerzen. Unsere Verstorbenen haben einen Platz in unsrer Mitte. Vor dem Ablegen des Namensschildes soll der Verstorbene mit ein paar Worten beschrieben werden: in seiner Art, seinem

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Charakter, Aussehen und Auftreten, in welcher Beziehung er zum Teilnehmer stand, vielleicht seine Hobbys usw., aber jeweils nur mit wenigen Sätzen. Etwa so: „Margarete, meine langjährige Freundin. Sie starb bei einem Unfall vor fünf Monaten. Sie war eine große, sportliche Frau, immer aktiv, gern auf Reisen und sehr tierlieb …“ – „Ich trauere um Papa, sein Name ist Kurt, er fehlt mir so sehr.“

Die vierte Übung: Der Quellentanz Für diese Übung müssen wir unserem „Netz“ ausweichen und eventuell in einen anderen Raum gehen. Die Übung beendet den ersten Nachmittag oder Abend am ersten Seminartag (Freitag). Es ist ein Kreistanz, der „Quellentanz“, wie ich ihn erlernt habe und weitergebe. Diese leichte Übung ist jedem Teilnehmer möglich. Ich bezeichne diesen Reigen als „Tanz zum Ort der Stärkung“, als Quelle der Kraft und Erneuerung. Eine Schale mit etwas Wasser und einer frischen Blüte darin ist in der Kreismitte das Symbol der Quelle (Vgl. zur Diskographie: „Der Quellentanz“ ESPE „Tänze von Anastasia“ CD, RSCD6 – keltische Tradition).

Symbolhafte Bewegung in Gemeinschaft

4.1.2  Zweiter Tag

Das Netz wird zuvor entfernt, aber SL weist darauf hin, dass wir uns das Netz weiterhin vorstellen und wissen: Hier in diesem Raum sind wir geschützt und sicher. An diesem zweiten Tag ist es ganz offensichtlich für alle angenehm, dass man sich bereits kennt. Die erste Übung: Wir tragen unsere Last und werden uns dieser bewusst Jeder nimmt einen der Steine vom Mandala mit auf den Weg. Wir stellen uns vor, dass der Stein viel, viel schwerer ist als tatsächlich, und tragen ihn in dieser Vorstellung vor uns her. Es darf hart aufgetreten werden. Wir bewegen uns in schwerem Gang, bewusst ein wenig gebeugt, langsam und achtsam Schritt für Schritt im Kreis oder jeder, wie er mag, durch den Raum. Eine eindrucksvolle, passende Melodie begleitet diese Übung. Nach etwa 5 min legen wir die Steine außerhalb des Kreises an einen dafür vorgesehenen Platz (Korb, Kiste, kleiner Tisch) – ein wenig „aus den Augen“ (Vorschlag zur Melodie: „Vangelis 1492, 2 Conquest Of Paradise“).

Tragen und Loslassen

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Nunmehr üben wir auf eine frohe, beschwingte Melodie ohne Last den „leichten Gang“. Dazu dürfen die Schultern und Arme sich locker mit im Takt bewegen (Vorschlag zur Melodie: Klarinette/Giora Feidmann). Auf einem Zettel notiert jeder Teilnehmer anschließend, welche Lasten er symbolisch zusammen mit dem Stein abgelegt hat. Wer mag, darf berichten, was er als Last abgelegt hat, wer nicht, faltet den Zettel einfach für sich zusammen.

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Die zweite Übung: Noch einmal der Quellentanz Wir üben erneut die Schritte für den oben schon vorgestellten Kreistanz, bis sie klappen. Hier die gesamte Choreografie. 5 Alle Schritte und Gesten zählen auf jeweils 4 Takte. 5 Die Teilnehmer bilden einen losen, weiten Kreis. 5 Mit Beginn der Musik stehend 4 mal oder 8 mal den Körper nach links und rechts wiegen, dabei das Gewicht vom einen auf den anderen Fuß verlagern. Auf jeweils weitere 4 Takte 5 gehen alle gleichzeitig 4 Schritte zur Mitte, 5 nun nach unten in die Hocke, 5 bleiben in der Position und schöpfen mit beiden Händen, die nach oben geöffnet eine Schale bilden, Kraft aus der imaginären Quelle im Zentrum des Kreises, 5 richten den Körper wieder auf und halten die Hände vor der Brust. 5 4 Schritte rückwärts zurück in die Ausgangsposition schreiten 5 dort die Hände auseinander nehmen, die Arme nach oben und zur Seite heben, und seitlich ausbreiten. Den Körper leicht nach rechts und links wiegend, mit der Geste des Gebens das zuvor empfangene Gute aus den Händen in den Raum spenden. Dieser Ablauf kann beliebig wiederholt werden. – Es gibt auch abweichende Abläufe. Die hier vorgeschlagene Choreografie hat sich in meinen Gruppen bewährt.

Die dritte Übung: Quellen der Kraft im Alltag Gegenseitige Ermunterung

Wir tauschen Ideen aus, wo man im Alltag Quellen der Kraft findet. Da reichen die Vorschläge von einem Gebet in der Kirche über den Malkurs bis zu einem Besuch im Thermalbad.

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Manchmal finden sich spontan Teilnehmer zusammen, die dann in Zukunft eine gemeinsame Unternehmung starten möchten.

Die vierte Übung: Entspannung Körper und Geist zu entspannen ist eine hilfreiche Übung, um Gedanken und Sorgen abklingen zu lassen. Ich führe in eine erste 15-minütige Entspannungsübung ein. Die Teilnehmer liegen auf einer Iso- oder Gymnastik-Matte, oder sie sitzen, jeder wie er mag und kann. Jetzt kommen Wolldecke und Kopfkissen, die jeder mitbringen sollte, zum Einsatz. Für die erste Entspannung wähle ich meist eine von mir gesprochene Fantasiereise durch eine frühlingshafte Naturszene. Eine CD mit Vogelgezwitscher und leise fließendem Wasser kann als Begleitmelodie im Hintergrund abgespielt werden.

Die fünfte Übung: Das Labyrinth. Dem Ziel so nahe und doch wieder fern Ein Einwegelabyrinth (. Abb. 4.1) ist ein eindrucksvolles Symbol für einen langen, möglicherweise verwirrenden Weg, und dabei das Ziel, den Mittelpunkt des Labyrinths vor Augen. Wir wähnen uns kurz davor, aber dann kommt, gerade wie auf unseren Trauerwegen auch, wieder eine Kehre. Es scheint, als gingen wir zurück statt voran. Wo es die Räumlichkeiten gestatten, begehen wir nacheinander ein Einwegelabyrinth (mit einem Durchmesser von immerhin rund 6 Metern, auf eine gut aufliegende Plane gedruckt). Wenn ein solches Requisit nicht vorhanden ist, findet die „Begehung“ eben auf der A4-Kopie eines Labyrinths statt: schlicht nur mit dem Finger oder einem Buntstift. So oder so, die Übung beeindruckt immer stark. Am besten eignet sich eine Schwarz/Weiß-Kopie des Labyrinths von Chartres. Das Labyrinth zeichnet einen verschlungenen, aber verzweigungsfreien Weg, dessen Linienführung unter regelmäßigem Richtungswechsel zwangsläufig zum Ziel, dem Mittelpunkt gelangt. Es gibt auch eine CD mit dem Titel: „CHARTRES, Mythos der Rose“ LC9064. Sie ist als musikalische Begleitung zur schweigend ausgeführten Begehung geeignet. Nach der Begehung des Labyrinths besprechen wir die Wahrnehmungen der Teilnehmer und übertragen diese auf die Erfahrungen des bisherigen Abschieds- und Trauer-Weges.

Symbol des Trauerweges

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. Abb. 4.1  Labyrinth © Fiedels/stock.adobe.com

Die sechste Übung: Eine Brücke bauen

Über den Fluss der Trauer zu neuen Ufern

Ein Vordruck in der Größe A4 oder A3 liegt vor (. Abb. 4.2). Es handelt sich um die Frontalansicht einer Brücke aus zwei dicken Pfeilern. Große, aufeinander geschichtete Quader, gezeichnete, innen freie Kästchen, lassen jeweils Raum, um ein, zwei Wörter hinein zu schreiben. Jeder Teilnehmer beschriftet die Bausteine seiner eigenen Brücke auf dem Blatt vor sich. Zuerst erarbeiten wir die linke Seite, den linken Brückenpfeiler, er symbolisiert das, was vor der Trennung war. Hier sammeln sich also Stichworte der verloren gegangenen Lebens-Realitäten: „Unsere Spaziergänge, unsere Gartenarbeit, Kuscheln, Sport, dein Rat, deine Hilfe, Unterstützung, Liebe usw.“ Es darf auch Nachteiliges, Belastendes benannt werden, etwa „deine Bevormundung, deine Aggressivität“ usw. Sodann bearbeiten wir den eigentlichen Übergang, er symbolisiert die Hinwendung zum zukünftigen Leben, er ermöglicht oder verlangt die bewusste Trennung. Auf dem Weg zur anderen Seite (über den Fluss des Schmerzes) kann der Betroffene sich entscheiden, was bleibt, was er von all dem Guten aus dem linken Pfeiler mitnehmen mag, mitnehmen kann, zum Beispiel Gartenarbeit, „du wirst dort

4.1 · Ein Wochenend-Seminar

. Abb. 4.2  Eine Brücke aus Quadern

bei mir sein“; Kochkunst, „ich lerne deine Rezepte“; Geplantes, „ich vollende dein Werk“ usw. Dann sind wir am rechten Brückenpfeiler angekommen, am neuen Lebens-Ufer. Hier bauen wir mit Zukunftsvisionen, und zwar so formuliert, als wäre die Planung schon verwirklicht, zum Beispiel das Haus, „unser Haus ist fertig gebaut“; Business, „ich führe jetzt dein Geschäft“; Italienisch, „ich habe einen Sprachkurs belegt“; Freiheit, „ich genieße es, ungebunden zu sein“; Aktion Patenkind, „ich bin jetzt Patentante deines Patenkindes“ usw. Bei der Besprechung (. Abb. 4.3) werden erfahrungsgemäß untereinander noch Ideen ausgetauscht. Diese Übung beansprucht, je nach Teilnehmerzahl, etwa 90 min. Eine Alternative: Wo sich viel Raum bietet, könnte man auch mit Hilfe von Klebestreifen eine gemeinsame Brücke an einer Wand errichten, dazu werden dann A5-Blätter mit den gemeinsam entwickelten Themen über- und nebeneinander verbaut.

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. Abb. 4.3  Die Theorie zum Brückenbau

Die Stimmung muss einfühlend wahrgenommen werden. Das betrifft vor allem eine eventuelle Anspannung oder Erschöpfung der Teilnehmer. Vielleicht ist eine Pause fällig? Ohnehin sollte alle 90 min eine mindestens kleine Pause eingeschoben werden. Mittags ist eine Stunde Pause, um Mitgebrachtes zu essen oder sich die Beine zu vertreten. Atemübungen, Entspannungsübungen, Bewegung baue ich dort ein, wo dies nach zuweilen aufgewühlten Beiträgen wieder zur Ruhe führt. 4.1.3  Dritter Tag

Bevor ich zur letzten Übung überleite, gibt es ein abschließendes Gespräch. Es sollen keine Fragen, die unser gemeinsames Tun betreffen, offen bleiben. Wer mag, darf berichten, ob und was sich für ihn während der vergangenen zwei Tage verändert hat. Die siebente Übung: Das Schwere zurücklassen – Muschel und Perle

Symbolhafter Tausch – ein Verwandlungsprozess

Nach einem letzten Kreistanz nehmen wir alle noch einmal einen Stein auf. Das Schwere aus dem eigenen Gemüt, symbolisiert durch den Stein, darf hier am Seminar-Ort zurückgelassen werden. Dieses Loslassen gestalten wir durch das nun sehr bewusste Ablegen des Steins außerhalb unseres Stuhlkreises. Jeder Teilnehmer macht sich einzeln auf den Weg zu dem dafür vorbereiteten stabilen Gefäß. (z. B. Blecheimer, Holzkiste). Der Stein wird darin abgelegt. Wer mag, spricht die Worte: „Ich kann loslassen!“ Die Hand ist nun frei, um das Namensschild des jeweiligen Verstorbenen vom Mandala wieder auf und an sich zu

4.2 · Kreative Trauerarbeit

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nehmen. Auf die andere, freie Hand wartet eine der weißen Perlen in einer geöffneten Muschelschale. Diese Perlen liegen auf einem geschmückten Tisch im Raum zwischen Kerzen. Das Schwere, mit dem Stein als Symbol also darf hier bleiben, die Perle darf mit heim genommen werden. Ein Tausch hat stattgefunden, er steht für die Verwandlung des Schmerzes in liebevolle Erinnerung. Die Muschel haben wir zuvor im Gespräch als Symbol für einen aus dem Meer der Tränen geborgenen Schatz benannt. Die Perle, eine ewige Träne, symbolisiert das von der Muschel zuvor Umschlossene, Kostbare, Unsterbliche. Darin ist all das, was vom Verstorbenen in unser eigenes Leben hinein gewirkt hat und was uns nie ganz verloren geht. Die Perle, bisher verborgen, verschlossen in der Muschel tritt erst mit dem Verlust ihrer Hülle, der Muschel, in Erscheinung. Die Perle ist hier Sinnbild der Seele des Menschen. Sie webt sich im Sterben aus dem Lebenskleid heraus, hinüber in die Zeitlosigkeit. Zwei Texte zum Thema Perle und Muschel, der eine von Ralph Waldo Trine, der andere von Khalil Gibran, finden Sie auf S. „92“. Es ist eine schöne Geste, den einen oder anderen Text auf einem illustrierten Blatt zu gestalten und am Ende des Seminars als Giveaway anzubieten.

Die achte Übung: Schlussrunde In der Schlussrunde versuche ich zu klären, ob alles was wir erübt, besprochen und gestaltet haben, auch so, als zu einem Ende gebracht, empfunden wird. Keiner soll mit offenen Fragen oder Zweifeln heimgehen. Das Angebot, mich später kontaktieren zu können, soll noch eine gewisse Sicherheit mit auf den Weg geben. Gelegentlich werden untereinander Adressen ausgetauscht. Nach einem letzten Kreistanz nehmen wir uns im Kreis an die Hände und sagen so miteinander und zueinander ade.

4.2  Kreative Trauerarbeit > Trennung und Trauer nicht passiv erleiden, sondern aktiv

gestalten.

Etwas tun, die Trauer irgendwie „anfassen“, sie für eine Zeit aus dem ewigen Hin und Her der Gedanken herausnehmen: Das heißt aktiv werden, und das tut gut. Die eigenen vier Wände, das gemeinsame „Nest“ umzugestalten und damit auch zu

Gefühle und Gedanken begreifbar machen

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Kapitel 4 · Seminare und Workshops in der Trauerbegleitung

„reanimieren“, ist auch ein Schritt in das „eigene neue Leben“. Nicht jeder wird sich sofort zu solchem Tun motivieren lassen. Doch wenn sich eine Freundin findet, die mitmacht, kann es mit Freude gelingen. 4.2.1  Ein Windspiel aus Erinnerungen basteln

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Schau in deinem Garten, im Stadtpark oder bei einem Waldspaziergang nach einem hübschen Ast, nicht zu dick, nicht zu dünn, etwa 60 cm lang. Er dient der Befestigung kleiner Erinnerungen aus der Zeit der Gemeinsamkeit: 5 Ein Knopf vom alten Wintermantel, 5 Ein paar Muscheln aus dem letzten Urlaub, 5 Ein Manschettenknopf und ein Anhänger, 5 Eine Vogelfeder aus dem Garten, 5 Eine durchbohrte Münze von der ersten gemeinsamen Reise, 5 Ein durchbohrter Golf- oder Tennisball, 5 Eine Krawattennadel, Modeschmuck 5 Das Glöckchen vom letzten Schoko-Osterhasen, 5 Ein Kofferanhänger Es wird sich sicher vieles finden. – Fädle die Objekte auf einen Woll- oder Kunststofffaden und knüpfe eines neben das andere an den Ast. Nun fehlt noch die Aufhängung, aber da bietet sich eine hübsche Schnur, an beiden Ast-Enden fest verknotet. Das Windspiel kannst du vor ein Fenster hängen, in den Wintergarten oder auf den Balkon. Wenn ein leiser Luftzug zarte Töne, behutsame Bewegungen in dein Windspiel zaubert, bedenke, dass all deine Erinnerungen sich bewegen möchten, damit auch dein Herz wieder tanzen und singen lernen mag. 4.2.2  Das Trauer-Schatzkästlein

Kummer und Trost in Einem

Das „Kästlein“ an sich kann ein Schuh- oder anderer Karton sein, der mit Fotos, Bildern oder eigener Malerei verziert wird. Wie es sinnvoll zum Einsatz kommt, erzählt der Betroffene hier jenem, den er nun vermisst: Ich habe ein Schatzkästlein für meine Traurigkeit, für mein Tränen-Tüchlein und den Schmerz. Ein Schatzkästlein für deinen Lieblingskuli und deinen kleinen Skizzenblock. Für die Kastanie, die ich neben deinem Grab fand, für das Engelchen, das mir meine beste Freundin schenkte. Ja, das alles ist mir Trost und Kummer in Einem. Es tut mir gut, ab und zu etwas in die Hand zu nehmen, aber ich muss es auch wieder und wieder loslassen. Ich möchte meine Trauer nicht wegstecken, oder

4.2 · Kreative Trauerarbeit

gar verlieren. Ich möchte ab und zu ganz alleine sein mit dir, den Erinnerungen und meiner Traurigkeit. Etwas von dir wird immer mal wieder bei mir sein, das weiß ich. Und doch – du verstehst, etwas Irdisches festhalten, das tut mir so gut. Solange die Trauer so nah bei mir ist, begleitet mich mein Geheimnis, meine kleine Schatulle. Wenn ich hinausgehe, wenn ich unter den Anderen bin, weiß ich meine Trauer gut bewahrt in meinem kleinen Trauer-Schatzkästlein zuhause. So fühle ich mich dann etwas mutiger und freier.

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Anhang: Texte und Informationen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Bender, Praxisbuch Trauerbegleitung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0_5

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Arbeitsblätter und Texte, wie zuvor erwähnt. Geschichten zum Vorlesen. Texte als Schmuckblatt aushändigen. z „Perle und Muschel“

(Aus: Ralph Waldo Trine, In Harmonie mit dem Unendlichen. Wie Gedanken Wirklichkeit werden. Leipzig 2006 (zuerst engl. 1897)). Zum Frieden kommen:

» „Wenn

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wir einen Freund durch jenen Übergang verlieren, den wir Tod nennen, so wird das einer Seele keinen Schaden bereiten, die zu der höchsten Einsicht gekommen ist, dass es so etwas wie Tod gar nicht gibt, weil wir alle an dem unendlichen Leben nicht bloß vorübergehen, sondern ewig teil haben: das bloße Abfallen des stofflichen Leibes berührt das wahre Leben der Seele in keiner Weise. Mit ruhigem Geiste, der Frucht eines hohen Glaubens, vermögen wir es zu erkennen und den Schwächeren gegenüber auszusprechen: Seid klar, ihr liebevollen Herzen, trocknet die Tränen ab von allen euren Augen. Was auf der Totenbahre liegt, das ist keine einz‘ge Träne wert. Es ist nur eine Muschel, der die Perle entrissen ward; die Muschel ist nichts wert, drum lasst sie liegen; ist uns doch die Perle, die Seele, für die Ewigkeit gerettet.“

z Die Perle

(Aus: Khalil Gibran. Der Wanderer. München 2009 (zuerst engl. 1932)) Eine Auster sprach zu ihrer Nachbarin: „Ich trage großen Schmerz in mir. Schwer ist er und rund, und ich habe große Not.“ Die andere Auster antwortete mit überheblicher Selbstzufriedenheit: „Gelobt sei der Himmel und das Meer, denn ich habe keine Schmerzen. Es geht mir gut, innen und außen.“ In diesem Augenblick kam ein Krebs vorbei und hörte die beiden Austern. Daraufhin sagte er zu derjenigen, die innen und außen unversehrt war: „Ja, Dir geht es wohl gut; doch der Schmerz, den Deine Nachbarin in sich trägt, ist eine Perle von hinreißender Schönheit.“ z Ein Angebot

Ein gestaltetes Blatt/ Flyer lädt ein sich Ihnen anzuvertrauen

Ich begleite dich. Ich möchte dich treffen, auf deinem schweren Weg an deiner Seite gehen. Dabei will ich mir bewusst sein, dass deine Füße dich tragen und meine Füße mich tragen. Ich möchte dich auch auf ungewohnten Wegen begleiten. Wenn wir es schaffen, in dieselbe Richtung zu gehen, ist es gut. Wenn du rasten willst, sag es mir, dann raste ich mit dir.

5 · Anhang: Texte und Informationen

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Wenn du in den Abgrund blickst, will ich es verstehen und ertragen, dass du es tust. Ich will dich behutsam weiterführen, nicht wegreißen. Ich kann den Schlag deines Herzens hören, nicht dein Herzensleid dir abnehmen. Aber ich kann dir mein Herz zur Seite stellen. Dein Kummer ist nicht übertragbar auf mich aber ich kann dich halten wenn er dich schüttelt. Ich kann nur ahnen, wie du dich fühlst, und ich hoffe, du weißt, dass ich da bin, wenn du es willst. z Wie lange noch?

Frag einen Indianer vom Stamm der Navaho, und er wird sagen, dass vier Tage genug sind, um die Toten zu beweinen. Sprich mit einem Angehörigen der Zulu in Südafrika, und er wird sagen, dass Witwen ein Jahr zu trauern haben, abseits der Gemeinschaft, in schwarzen Kleidern. Bitte einen erfahrenen Trauerbegleiter um Rat, und er wird erklären, dass es richtig und falsch nicht gibt, wenn es um Abschied und Verlust geht. Dass die einen lange brauchen und die anderen kurz, dass niemand vorher sagen kann, wie es sein wird (vgl. Dr. Eva-Maria Schnurr 2012 (Ausschnitt) „Ein unzeitgemäßes Gefühl“ DER SPIEGEL, 7 http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelwissen/d-89209217.htm). Trauern ist ein langer Pfad, der für jeden Menschen seinen eigenen, einzigartigen Verlauf nimmt, und dieser kann durch schnelle oder einfache Lösungen weder vermieden noch gestoppt werden. Doch es ist immer ein Weg … und Menschen, die helfen und begleiten. z Ein Stein auf seinem Lebensweg Wenn Sie diese Übung selbst lesen: Nehmen Sie einen schönen runden Kiesel aus Ihrem Garten, und halten Sie ihn, während Sie lesen, in der Hand: Er erzählt:

Gerne dürfen jene, denen es vorgelesen wird, sich in eine bequeme Haltung, sitzend oder liegend begeben.

» „In Ihren Händen halten Sie einen glatten Stein. Verbinden



Sie sich mit ihm auf freundschaftliche Weise. Lassen Sie ihn sanft in der weichen Umhüllung ihrer Hände liegen. Wenn Sie möchten, schließen Sie die Augen und lauschen Sie seiner Geschichte. Als die Erde, auf der wir leben, gerade entstanden war, war ich Teil eines gewaltigen Feuersturmes. An einem unbedeutenden

Von abgebrochenen „Ecken und Kanten“ auf dem Lebensweg. Eine meditative Übung

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Kapitel 5 · Anhang: Texte und Informationen



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Ort im Universum glühte ein roter Feuerball, wie Millionen andere auch. Äonen von Jahren vergingen, und das Feuer wurde kalt, es erlosch. Die Oberfläche dieser glühenden Kugel wurde hart, die Materie verfestigte sich. Es entstanden Berge und Täler. Wind und Wasser, Regen und Sonne formten die Erdoberfläche. 4800 Meter über dem Meer ragte der schroffe Gipfel in den Himmel, der Gipfel, dessen Teil ich war. Eisregen und Schneestürme kleideten mich das ganze Jahr in grelles, glänzendes Weiß, das im Sonnenlicht blendete. Es gab Zeiten, da war mein Berg unter mir bis tief ins Tal in dichtes Eis gehüllt. Es gab andere Zeiten, da schmolz die ganze Pracht bis hinauf zum Gipfel, und viele Tiere bewohnten das Revier. So kamen und gingen die Jahrtausende. Immer wieder prägte sich das Bild, das sich unter meinem Gipfel bot, neu. Für das, was ihr Menschen Zeit nennt, habe ich kein großes Verständnis, daher verlangt von mir nicht diese Begrenzung. Wohl aber bemerke ich, dass nicht immer alles gleich bleibt, auch ich nicht. Einmal, irgendwann zwischen früher und jetzt gab es ein gewaltiges Erdbeben. Damals spuckte mich mein Berg einfach weg. Als kantigen Brocken schleuderte er mich zu Tal. Dort brach ich in viele Teile und blieb für eine sehr, sehr lange Zeit liegen. Wieder gab es Perioden mit Eis und Schnee, wieder gab es Sonne, Wind und Regen. Mir wuchsen grüne Haare, Moos und Algen nennen das die Menschen. Auf einer Seite gurgelte das Wasser an mir vorbei, nachdem es wild an mich geklatscht war. Manchmal war es viel Wasser, manchmal war es lange ganz trocken. Einmal kam soviel Wasser, und es kam so wild dahergebraust, dass wieder ein Teil von mir abbrach und ich, einiges leichter geworden, wie ein Ball von den Fluten mitgerissen wurde, bis ich eines Tages wieder einen neuen Platz auf einer Art Insel mitten im Strom gefunden hatte. Jetzt sah ich zum ersten Mal Menschen. Da ich schon einige meiner schroffen Kanten eingebüßt hatte, bot meine zum Himmel zeigende Seite, wenn sie trocken war, einen idealen Sitzplatz und ich konnte den Menschen bei den Geschichten zuhören, die sie sich erzählten, während sie Fische angelten. Das war eine sehr lebhafte Epoche, und ich habe ein wenig darüber gelernt, wie die Menschen denken und dass sie glauben, sehr wenig davon zu haben, was sie Zeit nennen. An einem Tage geschah es zum ersten Mal dass ich eine andere, als die Naturgewalt kennen lernte. Ein großes Ungeheuer aus Stahl, mit einem Rüssel und einer ganz großen Schaufel entriss mich meinem Platz und trug mich ungefragt davon. So geschah es mir und all den Kameraden um mich herum. Dann ging es mir an den Kragen. Spitze Meißel fraßen

5 · Anhang: Texte und Informationen





sich durch mich hindurch, trennten hier und da etwas von mir ab, bis ich zuletzt gerade so lang wie breit und hoch war. In dieser Form sah ich dann das Wasser wieder. Mit großer Mühe und Sorgfalt wurde ich mit vielen anderen Steinen, die jetzt alle genauso aussahen wie ich, zu einem Bauwerk aufgetürmt. Eine steinige, klebrige Masse drückte uns eng aneinander. Wir wurden zum Fundament einer Brücke. Viel, viel Wasser ist an mir seit dieser Zeit vorbei geflossen, tausende Kameraden, Steine, die nicht in Gefangenschaft waren, das Flussbett hinabgekullert. Immer habe ich still zugesehen. Eine Ewigkeit, würdet ihr sagen. Dann kam das Ende der Brücke und meiner Gefangenschaft. Gewaltige Detonationen rissen mich und die anderen Steine auseinander, die Brücke stürzte ein; ein gewaltiger Schlag sprengte mich in meiner Mitte auseinander, die Fluten trugen mich weg. Nun, da ich ein leichter Stein geworden war, beteiligte ich mich an der Wanderbewegung zum Meer. Dabei lernte ich viele Landschaften kennen, immer wieder andere Menschen standen am Ufer. Es wurde mir zunehmend leichter, mich zu bewegen, da ich immer runder und glatter wurde; die Zeit hatte alle Kanten abgeschliffen, ich eckte nicht mehr an. An einem warmen Sommertag hob mich eine Kinderhand aus dem Fluss. Ein ganz besonders schöner Stein sei ich, hörte ich das Kind sagen, und ich wäre so schön rund und weich – nun, ich bin sicher, dass ich immer noch ganz hart bin, aber wer weiß, vielleicht können Kinder ja in uns Steine hineinsehen. Ja, und dort in meinem Innern, in meinem Herzen bin ich auch ganz weich geworden. Ich habe nämlich vom Wasser gelernt, weich und zugleich stark zu sein. Das Wasser und die Zeit haben mich rund gemacht, jetzt gibt es nur noch wenig Widerstand an mir zu messen. Und doch ist mein weiches Herz fest umschlossen und kann nicht so leicht verletzt werden. Bisher habe ich viel von mir abgegeben, scheinbar wurde ich immer weniger, aber der Schein trügt, ich war nie so schön und klug wie jetzt und ich weiß, dass es immer weiter geht. Vielleicht werde ich mich noch weiter verwandeln, noch weiter reisen. Ohne zu wissen wohin, weiß ich doch, dass es kein Ende, nur stetes Verwandeln gibt – ich denke, so ist es auch in eurem Dasein, liebe Menschen! – So, das war es, was ich erzählen wollte“ (Jutta Bender).

z Kinder in Trauer

Die in diesem Buch angeführten Praxis-Beispiele, sowie die Lösungsansätze beziehen sich schwerpunktmäßig auf trauernde Erwachsene. Zur Betreuung von Kindern und jungen Jugendlichen bedarf es zusätzlich speziell entwickelter Herangehensweisen. Auf Kinder und Jugendliche speziell ausgerichtet sind

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Kapitel 5 · Anhang: Texte und Informationen

folgende Organisationen (eine kleine Auswahl, sicher nicht vollständig): 7 www.kindertrauer-akademie.de 7 www.kindertrauerbegleitung.org

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Young Supporters e. V. Am Ziegelofen 24 40668 Meerbusch Tel.: 02150–70 76 11 7 www.young-supporters.com E-Mail: [email protected] Nicolaidis YoungWings Stiftung Ridlerstraße 31 80339 München Telefon: 089 2488378–0 Fax: 089 2488378–88 E-Mail: [email protected] Internet: 7 www.nicolaidis-youngwings.de Hospizdienst der Malteser am Niederrhein Goch/Uedem – Xanten/Sonsbeck Mühlenstr. 40, 47589 Uedem Tel.: 02825–53860 Mobil: 0151–22 60 30 52 E-Mail: [email protected]

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Serviceteil Literatur – 94

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Bender, Praxisbuch Trauerbegleitung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59100-0

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Literatur

Literatur George A. Bonanno: Die andere Seite der Trauer. Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden. Bielefeld 2015. Sigbert Gebert: Sinn – Liebe – Tod. Philosophischsoziologische Studien. 2003. Khalil Gibran: Der Prophet : "Von Tod" u. A. Dtv 12. Auflage, 2017 Ausgabe 2003, S..81 Khalil Gibran: Der Wanderer. München 2009 (zuerst engl. 1932). Lotte Ingrisch: Reiseführer ins Jenseits. München 1990. Roland Kachler: Meine Liebe findet Dich. Freiburg/Brsg. 2015. Verena Kast: Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Erw. Ausg. Freiburg 2013 (zuerst Stuttgart 1982). Elisabeth Kübler-Ross / David Kessler: Dem Leben neu vertrauen. Stuttgart 2006. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt/Main 1967. Thomas Moellenbeck / Berthold Wald (Hrsgg.): Tod und Unsterblichkeit. Erkundungen mit C.S. Lewis und Josef Pieper. Münster 2015. NWZ Göppingen vom 2 Juni 2005. Doreen Oelmann: Das Fünf-Phasen-Modell zum Sterbeprozess. Leipzig 2008. Milan Ryzl: Der Tod ist nicht das Ende. Von der Unsterblichkeit geistiger Energie. Genf 1995. Antoine de Saint Exupéry: Der kleine Prinz. Düsseldorf 1950 (zuerst frz. 1943). Hans Schäfer u. a. (Hrsgg.): Was ist der Tod? München 1969. Dr. Eva-Maria Schnurr: "Ein unzeitgemäßes Gefühl", "Frag einen Indianer…" Ruthmarijke Smeding / Margarethe Heitkönig-Wilp (Hrsgg.): Trauer erschließen. Eine Tafel der Gezeiten. 2005, sowie 7 www.trauer-erschliessen.de. Ralph Waldo Trine: In Harmonie mit dem Unendlichen. Wie Gedanken Wirklichkeit werden. Leipzig 2006 (zuerst engl. 1897). Ralf T. Vogel: Der Tod ist groß, wir sind die Seinen. Ostfildern 2017. Oliver Wirthmann, Stiftung Deutsche Bestattungskultur, Düsseldorf „What is it“ Artist: George Mailler, Austria. Designer Beni Schalcher, CH-Lausanne, published by Farhad Hormozi, CH-Bern 1987.

Lothar Zenetti: In Seiner Nähe. Texte des Vertrauens (Topas Taschenbücher, Band 1018) © Mathias Grünewald Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2015. 7 www. verlagsgruppe-patmos.de Irina Hradsky Liebethaler Grund 22 01796 Pirna 7 www.gestaltete-urnen-saerge.de Internet

Leeat Granek: „Ein Forschungsbereich auf dem Holzweg: Nicht Trauer ist das Problem sondern die wissenschaftliche Sichtweise", in: „Trauerforschung im Fokus“. Oktober 2014, 15.Newsletter, 7 https:// d-nb.info/1059948656/34. 7 https://www.puetz-roth.de/denkanstoesse.aspx „Der Tod ist nicht das Ende“ (death is not the end) / Interview mit Carl Gustav Jung in ganzer Länge nachzulesen: 7 https://meditationch.files. wordpress.com/2016/11/22der-tod-ist-nichtdasende22-deutsch-c-g-jung.pdf (7 http://berlinmittemom.com/2016/05/24/einmeer-voll-ungeweinter-traenen-ueber-trauerundverwandte-gefuehle) 7 https://www.gyn-depesche.de/nachrichten/ prolongiertes-trauersyndrom/ Sigmund Freud: Kleine Schriften II - Kapitel 4, Trauer und Melancholie (1917), zit. n. 7 http://gutenberg. spiegel.de/buch/kleine-schriften-ii-7122/4 7 www.bundesgesundheitsministerium.de/service/ begriffe-von-a-z/h/hospiz-undpalliativgesetz.html) . 7 https://www.thieme-connect.com/products/ ejournals/html/10.1055/s-0036-1594088 7 https://www.bestatter.de/kuratorium/ trauerhaltestelle/ 7 http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelwissen/d89209217.htm Diskographie, Sonstiges

Picture alliance / dpa / Uwe Zucchi, Livestream Deutschlandfunk 0 9/2016. „Der Quellentanz“ ESPE „Tänze von Anastasia“ CD, RSCD6 – keltische Tradition. Vangelis 1492, 2 Conquest Of Paradise. CHARTRES, Mythos der Rose“ LC9064