Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts 9783504380434

Aus dem Inhalt: Schön, Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts Mellinghoff, Zusammenwirken nationaler und europä

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Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts
 9783504380434

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Vorwort Fragen des internationalen Steuerrechts fordern die Steuerpolitik ebenso wie den Rechtsanwender. Hergebrachte Grundsätze der international relevanten Ausgestaltung von Steuersystemen sind zunehmend Gegenstand weltweiten Disputs, die europäischen Entwicklungen beeinflussen unser Steuerrecht nach wie vor, für Fragen der Besteuerungspraxis werden handhabbare Lösungen gesucht. Der vorliegende Tagungsband dokumentiert die Referate und Diskussionen der unter dem Generalthema „Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts“ stehenden 28. Hamburger Tagung zur internationalen Besteuerung am 2. Dezember 2011 des Interdisziplinären Zentrums für Internationales Finanz- und Steuerwesen (IIFS) der Universität Hamburg. Jens Peter Breitengroß, Vizepräses der Handelskammer Hamburg, betont in seinem Grußwort die Bedeutung angemessener steuerlicher Regelungen und insbesondere der Freistellungsmethode für die international ausgerichtete deutsche Wirtschaft. Jens Lattmann, Staatsrat der Finanzbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, verweist in seinem Grußwort auf die Bedeutung von Doppelbesteuerungsabkommen. Wolfgang Schön beleuchtet in seinem Grundsatzreferat Fragen der künftigen Entwicklung des internationalen Steuerrechts und namentlich der Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Staaten. Rudolf Mellinghoff behandelt die Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes durch die nationale Finanzgerichtsbarkeit im Zusammenwirken mit den europäischen Gerichten. Michael Lang geht den gelösten und ungelösten Fragen der Anwendung des europäischen Beihilferechts im Bereich der Besteuerung unter besonderer Berücksichtigung der Sanierungsklausel in § 8c KStG nach. Ulrike Wolff und Axel Eigelshoven berichten aus Verwaltungs- und Beratersicht über die Praxis internationaler Verständigungsverfahren in Steuersachen.

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Vorwort Prof. Dr. Jürgen Lüdicke

Christian Sistermann erläutert kritisch ausgewählte Problemfelder des Umwandlungssteuererlasses mit internationalem Bezug. Der vorliegende Tagungsband enthält die Referate sowie die daran anschließenden Podiumsdiskussionen zwischen Hans-Henning Bernhardt, Dietmar Gosch, Moris Lehner, Friedrich Loschelder, Gert MüllerGatermann und den Referenten. Hamburg, im Mai 2012 Prof. Dr. Jürgen Lüdicke

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Grußwort Sehr geehrter Herr Professor Lüdicke, sehr geehrter Herr Senator, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Namen der Handelskammer Hamburg begrüße ich Sie alle sehr herzlich zur 28. Hamburger Tagung zur internationalen Besteuerung. Es ist gut gelebte Tradition, dass diese hochrangige steuerliche Tagung in unserem Hause stattfindet. Da die Tagung jeweils am ersten Freitag im Dezember ausgerichtet wird, der immer auch wieder einmal auf den Nikolaustag trifft, ist die sogenannte Hamburger Nikolaustagung in der Börse seit nunmehr 28 Jahren ein in der Steuerwelt fest im Kalender vorgemerkter Termin. Meine Damen und Herren, ein kluger Mann hat einmal gesagt: „Wo Handel ist, dahin hat der Hamburger Kaufmann schon einmal seinen Fuß gesetzt.“ Das ist nicht übertrieben, sondern entspricht den Tatsachen! Die Hamburger Außenhändler kennen sich in der Welt aus und knüpfen gerade auch in schwierigen Ländern Verbindungen für die deutsche und europäische Industrie. Sie sind Pioniere, die in vielen Ländern als Erste vor Ort waren und seither die Verbindungen nicht haben abbrechen lassen. Letzteres setzt, wie wir wissen, gute Rahmenbedingungen für private Unternehmen im Investitionsland voraus. Außenhandel und Hafen sind das Rückgrat der Hamburger Wirtschaft. Unsere Stadt, deren Außenhandel – alles in allem – so groß ist wie der Außenhandel von Österreich, braucht den freien Welthandel wie der Fisch das Wasser. Lassen Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten, den Welthandel weiter zu intensivieren und Handelsschranken abzubauen. Das gilt auch für das Steuerrecht! Denn deutsche Unternehmen sind auf eine Präsenz an Standorten in aller Welt angewiesen. Die Kompliziertheit des Steuerrechts und die damit verbundene überbordende Bürokratie machen es aber gerade mittelständischen Unternehmen schwer, mit dem Steuerdickicht zurechtzukommen. Aber die Probleme werden noch größer, wenn Regeln über Grenzen hinweg beachtet werden müssen. Ihr heutiges Programm zeugt davon. VII

Grußwort Dr. Peter Jens Breitengroß

Sehr geehrter Herr Senator, das deutsche Steuerrecht darf die hiesigen Unternehmen nicht aus dem Markt katapultieren. Erlauben Sie mir, beispielhaft das Thema „Doppelbesteuerungsabkommen“ anzusprechen, bei dem dieser Grundsatz in letzter Zeit nicht immer beachtet wurde. Im Gegenteil, hier zeigt sich, wie es nicht sein darf. Dafür seien als aktuelle Beispiele das revidierte Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und die diesbezüglichen laufenden Gespräche mit Singapur genannt. Werden deutsche Unternehmen über eine Betriebsstätte im Ausland tätig, so unterliegen sie mit den dort erzielten Gewinnen der jeweils nationalen Besteuerung. Diese fällt jedoch im internationalen Vergleich bei den von mir herangezogenen Beispielen moderat aus. Der deutsche Fiskus greift auf diese Gewinne nicht zu, wenn diese im Rahmen der Freistellungsmethode von der deutschen Besteuerung ausgenommen und nur für die Berechnung des Steuersatzes bei der Einkommensteuer wirksam sind. Wir sprechen hier vom sogenannten Progressionsvorbehalt. Bei einem Übergang zur Anrechnungsmethode würde der deutsche Fiskus die im Ausland erzielten Gewinne voll der deutschen Besteuerung mit Einkommensteuer beziehungsweise Körperschaftsteuer sowie Gewerbesteuer unterwerfen – und allenfalls die vor Ort gezahlten, moderaten Steuern auf die deutsche Steuerzahllast anrechnen. Hierdurch wird die Steuerbelastung auf das deutsche Steuerniveau „heraufgeschleust“. Durch den Übergang zur Anrechnungsmethode und die Heraufschleusung des Steuerniveaus wären jedoch unsere Unternehmen nicht mehr gegenüber lokalen Unternehmen oder Unternehmen aus Staaten mit Freistellungsmethode wettbewerbsfähig. Denn diese profitieren weiterhin von den dort herrschenden günstigen steuerlichen Rahmenbedingungen. Wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit müssten deutsche Unternehmen den Standort im Ausland aufgeben – was nachhaltige Auswirkungen auch auf andere „emerging markets“ in der jeweiligen Region hätte. Es entsteht geradezu ein Domino-Effekt. Erste Erfahrungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit denen am 1. Juli 2010 die Anrechnungsmethode vereinbart wurde, zeigen deutVIII

Grußwort Dr. Peter Jens Breitengroß

lich die Folgen dieser Waffenungleichheit: Deutsche Unternehmen – gerade im Anlagenbau – sind gegenüber internationalen Konkurrenten nicht mehr wettbewerbsfähig. Sie verlieren Aufträge. Das wirkt sich zulasten des gesamten Wirtschaftsstandorts Deutschland aus. Ich kann Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Lüdicke, sowie Ihren Mitstreitern im International Tax Institute der Universität Hamburg nur dazu gratulieren, dass Sie für die heutige Veranstaltung einen interessanten Themenfächer ausbreiten. Sie haben hierzu wirklich renommierte Referenten und Diskussionspartner gewinnen können. Es bleibt mir noch, Ihnen, meine Damen und Herren, einen informativen Tag zu wünschen. Ich möchte Sie ausdrücklich ermuntern, die Gelegenheit zu nutzen, mit den Experten über die vielfältigen Aspekte internationaler Unternehmensbesteuerung zu diskutieren! Ich wünsche Ihnen aufschlussreiche Informationen und wertvolle Erkenntnisse, aber auch gute Begegnungen und Gespräche am Rande des Fachprogramms. Dr. Peter Jens Breitengroß Vizepräses der Handelskammer Hamburg

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Grußwort Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lüdicke, meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen des Senats darf ich Sie in Hamburg willkommen heißen. Und für die auswärtigen Gäste darf ich hinzufügen, willkommen in der schönsten Stadt Deutschlands! Besteuerung ist ein sehr wichtiges Thema, das im Spannungsfeld zwischen zwei Polen steht: Für die breite Bevölkerung hat dieses Thema eine negative Bedeutung, da ihr von ihrem Geld ein Teil zur Finanzierung der Allgemeinheit weggenommen wird. Auf der anderen Seite bilden Steuern die existenzielle Grundlage für den Bund, aber auch die Länder und Kommunen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Im letzten Jahr machten die Steuereinnahmen rund 80 Prozent der Einnahmen Hamburgs aus. Das zeigt, wie wichtig diese Einnahmequelle für die Stadt Hamburg ist. Zwar sind die Einnahmeseiten nur eine Seite des Haushalts und für dessen Konsolidierung, die zwingend erforderlich ist, sind beide Seiten des Haushalts zu betrachten. Dabei ist es unabwendbar, in erster Linie auf der Ausgabenseite zu prüfen, welche Aufgaben entfallen oder kostengünstiger erledigt werden können. Daneben muss der Blick aber auch auf die Einnahmeseite gelegt werden. Eine stabile Einnahmebasis ist unverzichtbar. Besonders für eine langfristige, solide Haushaltsplanung ist es erforderlich, dass die Steuereinnahmen konsequent und dauerhaft erhoben werden. Zwar legen wir mit unserem Finanzkonzept klar den Fokus auf die Ausgabenseite. Doch zur Erreichung unseres finanzpolitischen Ziels – eines ausgeglichenen Haushalts im Jahr 2020 – benötigen wir auch die Einnahmen. Nun gibt es im Bereich der Erhebung von Steuern viele Schwierigkeiten. Gerade im Bereich der internationalen Besteuerung, die Thema dieser Tagung ist, begegnet die Arbeit der Steuerverwaltung häufig besonderen Herausforderungen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, kurz einige Aspekte der Doppelbesteuerung anzutippen, die für die Steuerverwaltung von Bedeutung sind: XI

Grußwort Jens Lattmann

Im Rahmen der Globalisierung nehmen grenzüberschreitende Sachverhalte stetig zu. Die daraus resultierenden Einkünfte werden grundsätzlich nach dem Recht der beteiligten Staaten in beiden Staaten besteuert. Damit Unternehmen sowie natürliche Personen ihre Einkünfte nicht in beiden beteiligten Staaten im vollen Umfang besteuern müssen und eine sonst entstehende Doppelbesteuerung vermieden wird, ist Deutschland bemüht, dies durch nationale Vorschriften sowie über bi- bzw. multilaterale Verträge auszuschließen. Mit dem Abschluss entsprechender Abkommen (sog. DBA) wird grundsätzlich bereits die Entstehung der Doppelbesteuerung vermieden. Einseitige nationale Regelungen beseitigen eine bereits existierende Doppelbesteuerung. Deutschland hatte Anfang 2007 mit 104 Staaten DBA auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen und auf dem Gebiet der Erbschaft- und Schenkungsteuern abgeschlossen. Bis Anfang 2011 sind elf DBA hinzugekommen. In 2011 wurden mit weiteren Ländern Verhandlungen über den Abschluss oder die Veränderung von DBA auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen geführt. Um die einzelnen Mitgliedstaaten bei der Abfassung ihrer DBA zu unterstützen, wurde von der OECD ein Musterabkommen erarbeitet. Deutschland ist bestrebt, bei Verhandlungen über den Abschluss oder die Veränderung von Doppelbesteuerungsabkommen diese dem OECDStandard anzupassen. Dem OECD-Standard entsprechend beinhalten die neueren DBA i. d. R. eine sogenannte große Auskunftsklausel, nach der die beteiligten Vertragsstaaten für die Besteuerung bedeutende Informationen austauschen können (z. B. durch Auskunftsersuchen). Ältere Doppelbesteuerungsabkommen enthalten häufig nur die Möglichkeit, Informationen, die für die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens nötig sind, auszutauschen. Im Rahmen von Revisionsverhandlungen wird i. d. R. ein umfassender Informationsaustausch vereinbart. Unabhängig vom Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens trifft Deutschland zurzeit mit Staaten, die eine im Vergleich zu Deutschland günstige Besteuerung haben, zahlreiche Abkommen, in denen zur Vermeidung einer doppelten Nichtbesteuerung eine große Auskunftsklausel vereinbart wird. Nach den Doppelbesteuerungsabkommen sowie nach der EU-Schiedskonvention besteht die Möglichkeit, bei einer Doppelbesteuerung ein XII

Grußwort Jens Lattmann

Verständigungs- bzw. Schiedsverfahren zu beantragen. Die Anzahl der Anträge auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens ist in Hamburg erheblich angestiegen. Verständigungsverfahren werden häufig aufgrund einer Verrechnungspreiskorrektur im Rahmen einer Betriebsprüfung beantragt und i. d. R. auch eingeleitet. Sie sind ein wirksames Instrument zur Beseitigung von Doppelbesteuerung multinational tätiger Konzerne. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen: Das Thema der internationalen Besteuerung ist ein sehr komplexes. Es ist im Interesse der nationalen wie lokalen Steuerverwaltungen, Verfahren zu entwickeln, die es für beide Seiten, die Steuerverwaltungen auf der einen Seite und die Steuerpflichtigen auf der anderen Seite, einfacher macht, die Steuern ordnungsgemäß abzuführen und die Steuerprüfung vorzunehmen. Ihre Tagung leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Ich wünsche Ihnen interessante Vorträge und einen schönen Aufenthalt in Hamburg. Vielen Dank! Jens Lattmann Staatsrat der Finanzbehörde Hamburg

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Inhaltsverzeichnis* Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grußworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön, München Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Juristische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . C. Ökonomische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht – Kapitalimport, Kapitalexport und Kapitalinhaberschaft . . . . . D. Der Steuerwettbewerb als neues Paradigma internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Völkerrechtliche und europarechtliche Rahmenbedingungen . . F. Grenzen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . . . . . G. Der Kontinuitätsgrundsatz als Leitlinie internationaler Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Einzelfragen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . . I. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, Dr. Harald Schießl Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Zusammenarbeit von Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof und Finanzgerichte) und dem Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Europäisches Steuer-Richterrecht und seine Umsetzung . . . . . . D. Finanzgerichtsbarkeit zwischen unionsrechtlichem Anwendungsvorrang und nationaler Gesetzesbindung . . . . . . . .

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_____________ * Ausführliche Inhaltsübersichten jeweils zu Beginn der Beiträge.

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Inhaltsverzeichnis

E. Neue Entwicklungen beim Steuerrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . F. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Michael Lang, Wien Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. B. C. D.

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Der unionsrechtliche Begriff der Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidung der Kommission zu § 8c KStG . . . . . . . . . . . . Die Diskussion um das maßgebende „Referenzsystem“ . . . . . . Die Selektivitätsprüfung als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Würdigung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Axel Eigelshoven, Düsseldorf / Ulrike Wolff, Bonn Verständigungsverfahren – Praktische Erfahrungen und ungelöste Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. B. C. D.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrensrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materiellrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Verständigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion XVI

Inhaltsverzeichnis

Dr. Christian Sistermann, München Der neue Umwandlungssteuererlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Entstrickung bei Herausverschmelzung einer inländischen Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Downstream-Merger mit ausländischen Anteilseignern . . . . . . D. Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte bei Umwandlung von Kapitalgesellschaft in Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . E. Steuerliche Behandlung von neutralem Auslandsvermögen bei Umwandlung von Kapital- in Personengesellschaft . . . . . . . F. Verstrickung bei Hereinverschmelzung einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Der neue Umwandlungssteuererlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München*

Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 B. Juristische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . 4 I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip . 4 II. Das globale Äquivalenzprinzip . 5 C. Ökonomische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht – Kapitalimport, Kapitalexport und Kapitalinhaberschaft . . . . . . . . . . . . 7 D. Der Steuerwettbewerb als neues Paradigma internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 E. Völkerrechtliche und europarechtliche Rahmenbedingungen . . 10 F. Grenzen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . 11 I. Multilaterale oder bilaterale Koordination . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Keine Koordinierung der nationalen Steuerrechte . . . . . . 13

III. Die Bedeutung der Mehrwertsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 G. Der Kontinuitätsgrundsatz als Leitlinie internationaler Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 H. Einzelfragen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . I. Die Besteuerung grenzüberschreitender Lieferungen und Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die doppelte Bedeutung des Betriebsstättenbegriffs . . . . . . . III. Gleichbehandlung von Betriebsstätte und Tochtergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schachtelbeteiligungen und Portfolio-Besitz . . . . . . . . . . . . . V. Fremdkapital und Eigenkapital VI. Lizenzeinnahmen . . . . . . . . . . . VII. Besteuerung multinationaler Unternehmensgruppen . . . . . . .

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I. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

A. Einführung Das Regelwerk der internationalen Zuordnung von Steuerquellen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und in den Arbeiten des Völkerbundes, der OECD und der Vereinten Nationen seinen Nie_____________ * Vortrag auf der 28. Hamburger Tagung zur Internationalen Besteuerung am 2.12.2011; der Beitrag fasst Überlegungen zusammen, die der Verfasser in seiner Abhandlung „International Tax Coordination for a Second-Best World“ präsentiert hat (siehe 1 World Tax Journal (2009), 67; 2 World Tax Journal (2010), 65 und 227).

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Schön – Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts

derschlag gefunden hat, ist neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Herausforderungen speisen sich aus drei verschiedenen Quellen: – An erster Stelle steht der dauerhafte Disput zwischen klassischen Industriestaaten und Entwicklungs- oder Schwellenländern um die Besteuerungsrechte im grenzüberschreitenden Leistungsaustausch. Beispiele für diesen Disput bilden die Einforderung von Quellensteuern für Lizenz- oder Zinszahlungen sowie die Erweiterung des Betriebsstättenbegriffs in Richtung auf eine allgemeine Besteuerung von Serviceleistungen. Dabei erleben wir nicht nur ein zunehmendes Selbstbewusstsein der Schwellenländer – insbesondere der BRICStaaten – in internationalen Steuerdisputen, sondern zum Teil schon eine Umkehrung der Verhältnisse. Eine große Volkswirtschaft wie China tritt zunehmend nicht als Importeur, sondern als Exporteur von Kapital in Erscheinung. – An zweiter Stelle steht die zunehmende Bedeutung des Steuerwettbewerbs für die internationale Steueraufteilung.1 Das „alte Bild“ der internationalen Zuordnung von Besteuerungsrechten legte die Annahme zugrunde, dass jeder der an einem grenzüberschreitenden Wirtschaftsvorgang beteiligten Staaten seinen Anteil am „Kuchen“ vergrößern und damit auch sein Steueraufkommen erhöhen will.2 In Zeiten des internationalen Steuerwettbewerbs ist dies keine Selbstverständlichkeit mehr: Viele Staaten sind durchaus bereit, die Steuerlast auf inländische Investitionen ausländischer Unternehmen zu verringern, um dadurch die Attraktivität des Investments zu erhöhen. Höhere Steuern erhofft man sich dann von einer Steigerung der inländischen Beschäftigung und des inländischen Konsums – mithin von der Lohnsteuer und von der Umsatzsteuer, die aus diesen Investitionen resultieren. Beispiele für diese Wirkungen des internationalen Steuerwettbewerbs sind der weitgehende Wegfall von Quellensteuern auf abfließende Zinsen aus den Industriestaaten sowie die generelle Senkung der Unternehmenssteuern. Einen wich_____________ 1 Endres/Stellbrink, Wo steht Deutschland im internationalen Steuerwettbewerb?, StuW 2012, 96. 2 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt (Hrsg.), The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 55 (104): ”Whatever the theoretical justification for source-country taxation of business profits, in my opinion source countries will tax any business profits of non residents that they can tax effectively unless there is some good reason not to do so. The critical issue, therefore, is the practical enforcement of source-country taxation, not the theoretical justification for such tax.“

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Schön – Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts

tigen Extremfall des Steuerwettbewerbs bilden dabei die Steueroasen (tax havens), welche die Grenze zum „unfairen“ Steuerwettbewerb bereits berühren oder überschreiten.3 – An dritter Stelle steht die zunehmende Schwierigkeit, den Gewinn multinationaler Unternehmen nach objektiven Maßstäben auf die beteiligten Staaten aufzuteilen.4 Bei integrierten Wertschöpfungsketten steht das von der OECD seit Jahrzehnten praktizierte und ausgefeilte System des Fremdvergleichs von Verrechnungspreisen breitflächig unter Beschuss, namentlich im Bereich der Nutzung von Immaterialgütern und von konzerninternen Finanzierungen. Fragen der personellen Zuordnung und Bewertung von intangibles sind ebenso im Streit wie die privatautonome Verteilung von Risiken zwischen Konzerngesellschaften (etwa im Bereich von Kommissionärsstrukturen oder bei der Auftragsfertigung) oder die Aufteilung von Finanzgeschäften bei Kreditinstituten. Schließlich werden Funktionsverlagerungen unter die besondere Aufsicht der Steuerbehörden gestellt. Daher sehen viele Sachkenner zumindest für den Bereich der Europäischen Union in einer einheitlichen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage mit formelhafter Aufteilung der Besteuerungsbasis ein zukunftsorientiertes Konzept5. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, die internationale Aufteilung von Steuergütern auf eine neue – verlässliche – Grundlage zu stellen. Dabei spielt in einem ersten Schritt eine Rolle, ob und in welchem Umfang objektive rechtliche oder ökonomische Prinzipien dabei helfen können, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Dies gilt auch für die Rahmenbedingungen des Völker- und Europarechts. Dabei müssen auch die praktischen Grenzen internationaler Steuerkoordinierung gesehen werden. Soweit ein Spielraum für die Staaten verbleibt, wird man überlegen müssen, wie eine internationale Steuerpolitik mit einer gleichheitskonformen und missbrauchsresistenten Strategie aussehen kann. _____________ 3 Zur politischen Ökonomie von Steuerkoordination vs. Steuerwettbewerb zuletzt Griffith/Hines/Sorensen, International Capital Taxation, in The Institute for Fiscal Studies (Hrsg.), Dimensions of Tax Design (2010) 914 (933 ff.). 4 Vann, Taxing International Business Income: Hard-Boiled Wonderland and the End of the World, 2 World Tax Journal (2010) 291; Avi-Yonah, Between Formulary Apportionment and the OECD Guidelines: A Proposal for Reconciliation, 2 World Tax Journal (2010) 3. 5 Zum Diskussionsstand: Oestreicher/Spengel/Koch, How to Reform Taxation of Corporate Groups in Europe, 3 World Tax Journal (2011) 5.

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B. Juristische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip Als Leitstern für die Zuordnung von Steuergütern mag vielen in erster Linie das Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit in den Blick kommen. Dieses Prinzip hat sich nicht nur in Deutschland seit Jahrzehnten als Leitlinie etabliert, es findet auch in vielen anderen Staaten (namentlich des romanischen Rechtskreises)6 Anwendung und hat zum Teil sogar explizit Aufnahme in die Verfassung der jeweiligen Staaten gefunden7. Kann es vielleicht sogar bei der Aufteilung der internationalen Steuerbasis eine Rolle übernehmen? Schaut man näher hin, so ist die Leistungsfähigkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips im Internationalen Steuerrecht begrenzt. Versteht man das Leistungsfähigkeitsprinzip dahin, dass nur reales und kein fiktives Einkommen besteuert werden soll8 und dass bei der Bemessung des Einkommens auf der Ausgabenseite das objektive Nettoprinzip Beachtung finden muss9, so lassen sich immerhin begrenzte Folgerungen ziehen: „Vagabundierende Betriebsausgaben“ müssen vermieden werden, d. h., der Einmalabzug aller Kosten aus grenzüberschreitender Geschäftstätigkeit in einer der beteiligten Jurisdiktionen muss gesichert werden10. Gleiches gilt für den Abzug von Verlusten: Es muss vermieden werden, dass die Summe der steuerpflichtigen Einkünfte in den beteiligten Staaten den Gesamtbetrag des steuerbaren Einkommens einer Person übersteigt.11 Diese Maßnahmen sollen sichern, dass der aufteilbare „Kuchen“ nicht beliebig vergrößert werden kann. Sie helfen jedoch nicht, wenn es darum geht, diesen „Kuchen“ auf die beteiligten Länder zu verteilen. Zwar lässt sich sagen, dass die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit im Grundsatz auf das Gesamteinkommen einer Person angelegt ist und daher die Besteuerung im Wohnsitzstaat nach dem Welteinkommen _____________ 6 Musgrave, The Theory of Public Finance, (1959) 90 ff.; rechtsvergleichend zur Bedeutung der „Leistungsfähigkeit“ für das Steuerrecht: Lang/Englisch, A European Legal Tax Order Based on Ability to Pay, in Amatucci, International Tax Law, (2006) 251 (253 f.). 7 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung² (2003), Band 2, 488 f. 8 Vogel in Wendt, FS Friauf, 825 ff. 9 Zur Bedeutung für die Besteuerung von Unternehmen siehe etwa Hennrichs in Tipke/Seer/Hey/Englisch, FS Lang, 237 ff. 10 Schön, FR 2001, 381 ff. 11 Schaumburg, Internationales Steuerrecht³, Rz. 5.69 ff.

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mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip korrespondiert.12 Doch ist damit die Existenz von zusätzlichen Besteuerungsrechten des Quellenstaates nicht ausgeschlossen und die Konkurrenz zwischen Quellenstaat und Ansässigkeitsstaat nicht aufgehoben.

II. Das globale Äquivalenzprinzip Gerade für die Abgrenzung von Steuerhoheiten scheint auf den ersten Blick das Äquivalenzprinzip eine Rolle zu spielen, welches die Rechtfertigung des Steuerzugriffs auf den Genuss öffentlicher Güter durch den Steuerpflichtigen zurückführt13. Insbesondere für Investitionen im Ausland lässt sich die These vertreten, dass die beschränkte Steuerpflicht im Quellenstaat wesentlich durch den Äquivalenzgedanken gerechtfertigt werden kann. Dabei muss – wie in der Nachfolge von Klaus _____________ 12 Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper 3056, (1989) 22; Fleming/Peroni/ Shay, Fairness in International Taxation: The Ability-to-Pay Case for Taxing Worldwide Income, 5 Florida Tax Review, (2001) 299 (301 f.); Fleming/Peroni/ Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association, (2008) 35 (59 f.); Graetz/O’Hear, The ‚Original Intent‘ of U.S. International Taxation, 46 Duke Law Journal (1997) 1021 (1034); Auerbach/Devereux/Simpson, Taxing Corporate Income, in The Institute for Fiscal Studies (Ed.), Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 837 (881); Green, The Future of SourceBased Taxation of the Income of Multinational Enterprises, 79 Cornell Law Review (1993) 18 (29 f., 70 f.); McLure, Source-Based Taxation and Alternatives to the Concept of the Permanent Establishment, in Canadian Tax Foundation, World Tax Conference 2000, 6:1 (6:3); kritisch dazu Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part I, Intertax 1988, 216 (217 f.); Vogel, Über Besteuerungsrechte und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht in Kirchhof/Offerhaus/Schöberle, FS Klein, 1994, 361 ff. 13 Musgrave, The Theory of Public Finance (1959) 61 ff.; Schindel/Atchabahian, Source and Residence: New Configuration and Principles: General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 90a (2005) 21 (33); McLure, Source-Based Taxation and Alternatives to the Concept of the Permanent Establishment, in Canadian Tax Foundation (Hrsg.), World Tax Conference 2000, 6:1 (6:3 f.); Brown, An Equity-Based, Multilateral Approach for Sourcing Income among Nations, 11 Florida Tax Review (2011) 565; Shay/Fleming/Peroni, ‚What’s Source Got to DoWith It?‘: Source Rules and U.S. International Taxation, 56 Tax Law Review (2002) 81 (90 f.); Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part III, Intertax 1988, 393 (394 f.); Vogel, Which Method should the European Community Adopt for the Avoidance of Double Taxation?, 56 Bulletin for International Fiscal Documentation (2002, 4 (8).

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Vogel namentlich Moris Lehner und Christian Waldhoff betonen14 – von einer individuellen Äquivalenz i. S. von Leistung und Gegenleistung abstrahiert und die Gesamtäquivalenz des Steueraufkommens und der Gesamtheit öffentlicher Güter gesehen werden. Während dem Ausgangspunkt dieser These – Steuern sind der Preis öffentlicher Güter – im Grundsatz zugestimmt werden kann, so muss doch auch festgehalten werden, dass sie nicht konkretisiert werden kann, um einen einzelnen Steuerzugriff dem Grunde und der Höhe nach zu legitimieren. Die Schwierigkeiten sind vielfältiger Natur, wie sich am Beispiel der Erhebung von Körperschaftsteuer auf inländische Gewinne ausländischer Unternehmen belegen lässt. Ob und in welchem Umfang diese Körperschaftsteuer als „Gegenleistung“ für öffentliche Güter gelten kann, hängt zunächst vom jeweiligen Steuermix eines Staates, etwa dem Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern, ab. Es müsste auch geprüft werden, ob und in welchem Umfang diese Steuern nicht nur für öffentliche Leistungen, sondern auch für Zwecke der Umverteilung eingesetzt werden.15 Schaut man näher hin, wird man schließlich zwischen der Höhe des erzielten Einkommens und der jeweiligen Nutzung öffentlicher Güter keine strenge Relation entdecken können.16 Im Gegenteil: Ob eine Investition erfolgreich ist oder nicht, hängt im Grundsatz nicht von den öffentlichen Leistungen ab, sondern von der Verwirklichung von wirtschaftlichen Chancen und Risiken. Öffentliche Güter werden demgegenüber auch und gerade in Verlustsituationen in Anspruch genommen. Daher würde eine am Äquivalenzprinzip orientierte Besteuerung nicht am real erzielten Einkommen, sondern allenfalls an der Höhe der Investitionen oder deren fiktivem Durchschnittsertrag ansetzen müssen.17 Zu guter Letzt _____________ 14 Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 1 EStG Rz. A 169. 15 Kaplow, The Theory of Taxation and Public Economics, (2008) 179 f., 403 f. 16 Arnold/Sasseville/Zolt, Introduction: Perspectives on the Taxation of Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties, (2003) 1 (4); Fleming/Peroni/Shay, Fairness in International Taxation: The Ability-to-Pay Case for Taxing Worldwide Income, 5 Florida Tax Review, (2001) 299 (333 f.); Green, The Future of Source-Based Taxation of the Income of Multinational Enterprises, 79 Cornell Law Review, (1993) 18 (29 f.); Musgrave, Interjurisdictional Equity in Company Taxation: Principles and Applications to the European Union, in Cnossen, Taxing Capital Income in the European Union, (2002) 46 (52). 17 Shay/Fleming/Peroni, ‚What’s Source Got to Do With It?‘: Source Rules and U.S. International Taxation, 56 Tax Law Review, (2002) 81 (99 f.).

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aber erscheint es auch ganz unmöglich, die Aufteilung von Einkünften aus grenzüberschreitenden Aktivitäten zwischen den beteiligten Staaten im Verhältnis der jeweils von diesen Staaten gewährten öffentlichen Güter vornehmen zu können. Das Äquivalenzprinzip rechtfertigt den Steuerzugriff dem Grunde nach, aber es bietet keine näheren Konturen.

C. Ökonomische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht – Kapitalimport, Kapitalexport und Kapitalinhaberschaft Vor diesem Hintergrund ist man versucht, in diejenigen Kategorien auszuweichen, mit denen die ökonomische Betrachtung internationale Steuersysteme bewertet. Ausgangspunkt ist hier die Forderung nach der Neutralität der steuerlichen Rahmenbedingungen für die ökonomische Entscheidung über eine Investition18. Vor diesem Hintergrund hat sich namentlich in der US-amerikanischen Wissenschaft vor Jahrzehnten die Forderung nach „Kapitalexportneutralität“19 durchgesetzt, die eine gleiche steuerliche Belastung von Inlands- und Auslandsinvestitionen aus der Sicht des Ansässigkeitsstaates in den Mittelpunkt rückt. Es ist bekannt, dass diese Forderung nach Kapitalexportneutralität im Grundsatz durch die Besteuerung des Welteinkommens nach dem Wohnsitzprinzip gewahrt wird. Dies schiebt die Residualbesteuerung in Richtung Ansässigkeit. Andererseits kann Kapitalexportneutralität auch dann gewahrt werden, wenn im Investitionsstaat eine Quellenbesteuerung durchgeführt wird (für Betriebsstätten oder Tochtergesellschaften, für Zinsen oder Lizenzgebühren) und diese Quellensteuer im Wohnsitzstaat angerechnet wird.20 Die Aufteilung des Steuergutes zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat wird von der Forderung nach Kapitalexportneutralität nicht berührt. Lediglich dann, wenn die Quellen-

_____________ 18 Musgrave, United States Taxation of Foreign Income, Issues and Arguments (1969) 97 (108 f.). 19 Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper 3056 (1989) 22. 20 Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (45 f.); Graetz, The David R. Tillinghast Lecture: Taxing International Income: Inadequate Principles, Outdated Concepts and Unsatisfactory Policies, 54 Tax Law Review (2001) 261 (271).

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steuer die verrechenbare Steuer im Wohnsitzstaat übersteigt, funktioniert dieses System nur noch beschränkt21. Gerade aus deutscher Sicht ist dagegen häufig die „Kapitalimportneutralität“22 als Gegenmodell und als Grundlage der Befreiungsmethode präsentiert worden. Ihre ökonomische Grundlage liegt in der Vorstellung, dass die Auslandsinvestition – z. B. eine Betriebsstätte im Ausland – vor allem mit den im Belegenheitsstaat ansässigen Unternehmen konkurrieren müsse23 und daher diesen steuerlich auf der Basis des Steuerniveaus im Belegenheitsstaat gleichgestellt werden sollte. Die tatsächliche Grundlage dieses Denkens – nämlich die Identifikation von Staat und Markt – ist jedoch durch die Realität überholt (wenn sie denn je der Realität entsprach).24 Wenn die Volkswagen AG oder die Siemens AG eine Betriebsstätte oder Tochtergesellschaft in Polen oder Portugal gründen, dann tun sie dies nicht, um mit anderen polnischen oder portugiesischen Unternehmen um Kunden auf dem polnischen oder portugiesischen Markt zu konkurrieren. Sie tun dies, um im europäischen oder weltweiten Markt erfolgreich agieren zu können. Eine zwingende steuerliche Gleichbehandlung gerade mit den portugiesischen Unternehmen ist dafür nicht geboten.25 In jüngerer Zeit wird – angeführt von Mihir Desai und James R. Hines – ein neues Konzept diskutiert: Die Kapitalinhaberneutralität26. Danach _____________ 21 Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (107 f.). 22 Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part II, Intertax 1988, 310 (311 f.); Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper 3056 (1989) 22. 23 Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (46 f.). 24 Vgl. Schön, International Tax Coordination for a Second Best World, Part I, 1 World Tax Journal (2009) 67 (81). 25 Es wäre auch nicht praktikabel, die Kapitalimportneutralität auf Unternehmen zu beschränken, die nur mit lokalen Unternehmen konkurrieren, so Altshuler/ Grubert, Corporate Taxes in the World Economy: Reforming the Taxation of CrossBorder Income, in Diamond/Zodrow (Hrsg.), Fundamental Tax Reform: Issues, Choices and Implications (2008) 319 (332). 26 Desai/Hines, Evaluating International Tax Reform, 56 National Tax Journal (2003) 487 (494 f.); Griffith/Hines/Sorensen, International Capital Taxation, in The Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 914 (952 ff.).

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ist bei den steuerlichen Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Investitionen auch zu beachten, dass bestimmte Mutterunternehmen den unternehmerischen Wert bestimmter Tochterunternehmen besser heben können als andere – z. B. durch Nutzung von Synergieeffekten. Daher solle die Steuerbelastung nicht einzelne potenzielle Investoren höher treffen als andere potenzielle Investoren. Damit wird insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, dass bestimmte grenzüberschreitende Konzernverbindungen Synergien aufweisen, die nicht von jedem beliebigen Inhaber einzelner Konzernglieder genutzt werden könnten. Um erneut das Beispiel der Betriebsstätte in Polen oder Portugal zu nennen: Ein konzernfremder Eigentümer würde viele unternehmerische Chancen, welche die Zugehörigkeit zum VW-Konzern oder zu Siemens bietet, überhaupt nicht wahrnehmen können. Daher sollte diese Konzernzugehörigkeit nicht steuerlich belastet werden. Erneut führt dies zu einer Prävalenz der Befreiungsmethode. Unabhängig davon, welche Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung man wählt – die Frage nach der richtigen Allokation von Einkommen und Besteuerungsrechten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten wird dadurch nicht geklärt. Die Entscheidung zwischen Befreiungsmethode und Anrechnungsmethode legt nur fest, in welcher Weise ein Staat hinter dem anderen zurückzutreten hat, sie regelt aber nicht, welche Einkünfte primär dem einen oder primär dem anderen Staat zuzuweisen sind. Man muss festhalten, dass weder das Leistungsfähigkeitsprinzip noch das Äquivalenzprinzip und schließlich auch nicht die Neutralitätsforderungen der Volkswirtschaftslehre eine Antwort auf die Frage geben, welchem Staat welcher Anteil an der steuerlichen Bemessungsgrundlage internationaler Unternehmen gebührt.

D. Der Steuerwettbewerb als neues Paradigma internationalen Steuerrechts Hinzu tritt der Umstand, dass unter dem Einfluss des internationalen Steuerwettbewerbs das Interesse eines Staats an der Ausweitung seiner steuerlichen Zugriffsrechte nicht eindeutig definiert werden kann. Jeder Staat muss vielmehr seine eigenen spezifischen Interessen an einem bestimmten „Mix“ aus Investitionsattraktivität und Aufkommenshöhe definieren. Dabei kommt namentlich infrage, die steuerlichen Aufkommenseffekte aus grenzüberschreitenden Investitionen gerade nicht 9

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durch den Zugriff auf den korrespondierenden Unternehmensgewinn, sondern aus dem mittelbar generierten Lohnsteuer- und Umsatzsteueraufkommen zu erzielen. Man kommt damit zu dem Schluss, dass es keine „natürliche“ Aufteilung von Steuerhoheit im internationalen Steuerrecht gibt, die in konkrete Vorgaben für rechtliche Regelungen überführt werden kann. Alles ist im Grundsatz Gegenstand von Verhandlungen, in denen sich nicht nur die unterschiedliche Verhandlungsstärke der Parteien, sondern auch die jeweiligen Investitionsstrategien der Volkswirtschaften niederschlagen. Es kommt vor diesem Hintergrund darauf an, welcher Rahmen und welche Leitlinien sich für diese Verhandlungen erkennen lassen.

E. Völkerrechtliche und europarechtliche Rahmenbedingungen Wenn es schon den geschilderten juristischen und ökonomischen Prinzipien kaum gelingt, klare Leitlinien für die internationale Steuerkoordinierung zu formulieren, so wird man noch weniger Führung von den zwingenden Vorgaben des Völker- und Europarechts erwarten dürfen. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 GG auch vom deutschen Gesetzgeber Beachtung verlangen, setzen für den steuerlichen Zugriff im grenzüberschreitenden Verkehr lediglich voraus, dass ein „genuine link“27 zwischen dem Besteuerungsobjekt und der Staatsgewalt des besteuernden Gemeinwesens in territorialer oder persönlicher Hinsicht28 besteht. Dieses „genuine link“ kann auch schwach ausgeprägt sein und sich z. B. in der Nutzung lokaler Kundenmärkte29 oder auch in der mittelbaren Beteiligung an inländischen Gesellschaften erschöpfen. Ein Durchgriff durch Lieferketten oder mehrstufige Konzernstrukturen erscheint erlaubt. _____________ 27 Vogel, Einleitung, in Vogel/Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 5. Aufl. 2008, Rz. 10 ff. 28 Harris, Corporate/Shareholder Income Taxation and Allocating Taxing Rights between Countries (1996) 276 f.; Schindel/Atchabahian, Source and Residence: New Configuration and Principles: General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 90a (2005) 21 (28 f.); Seligman, Essays in Taxation9 (1921) 110 f.; Shay/Fleming/Peroni, ‚What’s Source Got to Do With It?‘: Source Rules and U.S. International Taxation“, 56 Tax Law Review (2002) 81 (93 f.). 29 McLure, Source-Based Taxation and Alternatives to the Concept of the Permanent Establishment, in Canadian Tax Foundation (Hrsg.), World Tax Conference 2000, 6:1 (6:3).

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Auch das Recht der Europäischen Verträge30 ist wenig geeignet, die internationale Aufteilung von Besteuerungsrechten inhaltlich zu prägen. Das Verständnis der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote verlangt zwar die Gleichbehandlung nationaler und internationaler Sachverhalte. Doch wird damit die Vorfrage der Aufteilung von Besteuerungsgrundlagen gerade nicht adressiert. Vielmehr betont der Gerichtshof in einer Vielzahl von Entscheidungen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union „kontrollfrei“ über die Zuordnung von Besteuerungsrechten befinden31 und dabei sogar – wie im Fall „Gilly“32 entschieden – nach der Staatsangehörigkeit der Steuerpflichtigen differenzieren dürfen. Zwar hat der Gerichtshof in mehreren jüngeren Entscheidungen eine untergründige Sympathie für eine „territoriale“ Besteuerung formuliert.33 Doch fehlt diesen Aussagen jeweils ein klares Verständnis dafür, welche Einkünfte „territorial“ einer bestimmten Jurisdiktion zugeordnet werden müssen. Erneut sind die Staaten auf Verhandlungslösungen verwiesen.

F. Grenzen internationaler Steuerkoordinierung I. Multilaterale oder bilaterale Koordination Für den Erfolg dieser Verhandlungsprozesse sollte in einem ersten Schritt gefragt werden, ob es Sinn ergibt, die gegenwärtigen bilateralen Strukturen durch multilaterale Regelungssysteme, z. B. multilaterale Doppelbesteuerungsabkommen, oder gar durch weiter reichende Instrumente wie die Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage zu ergänzen oder gar zu ersetzen. Es besteht kein Zweifel, dass solche multilateralen Regelwerke34 mehrere große Vorteile haben: Sie tragen der Realität Rechnung, dass die zugrunde liegenden grenzüberschreitenden Wirtschaftsaktivitäten häufig genug das Territorium von zwei Vertragsstaaten überschreiten. Die berühmten „Dreiecksfälle“ _____________ 30 Umfassende Übersichten zur Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der Grundfreiheiten finden sich bei Malherbe/Malhere/Richelle/Traversa, Direct Taxation in the Case-Law of the European Court of Justice (2008); Vanistendael (Hrsg.), EU Freedoms and Taxation (2006). 31 Siehe zuletzt EuGH v. 8.12.2011 – Rs. C-157/10 – Banco Bilbao, IStR 2012, 152 Rz. 31. 32 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-336/96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793. 33 EuGH v. 21.1.2010 – Rs. C-311/08 – SGI, IStR 2010, 144 Rz. 60; EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, IStR 2012, 27 Rz. 46. 34 M. Lang u. a., Multilateral Tax Treaties (1997).

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lassen sich oft durch Regelungen in bilateralen Abkommen nicht hinreichend erfassen. Multilaterale Instrumente sorgen weiterhin für eine „Teilharmonisierung“ und mildern den Steuerwettbewerb, vor allem aber reduzieren sie deutlich die Gefahr der Doppelbesteuerung oder der Keinmalbesteuerung. Dennoch bleiben Vorbehalte bestehen. Der erste Vorbehalt betrifft die Phase des Abschlusses von Abkommensregelungen. Wie bereits gesagt, spiegeln sich in den Abkommensregeln – in den Verteilungsnormen, in den Quellensteuerregeln, aber auch in der Wahl zwischen Befreiungsmethode und Anrechnungsmethode – individuelle wirtschafts- und steuerpolitische Abwägungen wider, die idealiter passgenau auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen zwei Ländern abgestimmt werden und dabei auch deren jeweilige ökonomische Situation und strategische Ziele abbilden. Dies lässt sich auf multilateraler Ebene schlecht durchführen, wenn man von Ausnahmen – wie z. B. dem Nordischen Steuerabkommen zwischen den wirtschaftlich und kulturell verwandten Staaten Skandinaviens35 – absieht. Mindestens so problematisch erscheint aber auch ein möglicher Versteinerungseffekt, der durch eine einmal gefundene multilaterale Lösung eintreten kann. Schlagendes Beispiel ist das Verbot der Quellensteuern auf konzerninterne Zinszahlungen nach der im Jahre 2003 verabschiedeten Richtlinie über Zinsen und Lizenzgebühren. Dieses Verbot verhindert seit Jahren eine sachgerechte Lösung des Problems grenzüberschreitender Zinszahlungen im Konzern, nämliche die Erhebung von Quellensteuern auf Erträge konzerninterner Darlehen – aber es bedarf der Zustimmung aller 27 Staaten der Europäischen Union, um hier einen neuen Anlauf zu nehmen. Bis dahin bleiben uns in vielen Staaten der Europäischen Union komplizierte Behelfslösungen – namentlich die Zinsschranke – erhalten. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch erhebliche Bedenken gegen das Projekt einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage nicht ohne Weiteres zurückstellen. Dabei möchte ich gar nicht davon reden, ob eine so weitreichende Harmonisierung in der Europäischen Union (oder einer Kerngruppe unter Führung Frankreichs und Deutschlands) überhaupt politische Chancen auf eine Verwirklichung besitzt. Man wird vorab überlegen müssen, ob die Mitgliedstaaten gut beraten wären, sich mit einem solchen Einheitsinstrument festzulegen. Zunächst einmal: Solange die GKKB für die Unter_____________ 35 Brauner, An International Tax Regime in Crystallization, 56 Tax Law Review (2003) 259 (318 f.).

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nehmen „optional“ ausgestaltet ist, werden die Mitgliedstaaten sich nach ihrem Inkrafttreten allen Problemen der jetzigen internationalen Besteuerung ausgesetzt sehen und zugleich alle Probleme der GKKB hinzuerwerben. Sinn ergibt die GKKB m. E. nur als verpflichtendes Instrument, das nur wenige Ausweichmöglichkeiten lässt. Dann aber werden die Staaten überlegen müssen, ob sie sich tatsächlich langfristig einer einheitlich festgelegten Bemessungsgrundlage und vor allem einem bestimmten Aufteilungsschlüssel unterwerfen möchten. Denn bei Verabschiedung der Richtlinie weiß naturgemäß niemand, welche Konsequenzen dieser Aufteilungsschlüssel nach einigen Jahren der Bewegung von Produktionsfaktoren innerhalb der Europäischen Union zeitigen wird. In jedem Fall sollten sich die teilnehmenden Länder das Recht zur Kündigung der GKKB für den Fall vorbehalten, dass die Anwendung nicht funktioniert oder die Ergebnisse den wirtschaftlichen Interessen der betroffenen Staaten deutlich entgegenlaufen.36

II. Keine Koordinierung der nationalen Steuerrechte Ein weiterer Gesichtspunkt, der vor einer „totalen Harmonisierung“ im internationalen Steuerrecht warnt, liegt in dem Umstand, dass die internationalen Instrumente ihrerseits nicht auf weitgehend harmonisierten nationalen Steuerrechtsordnungen aufbauen können. Es ist bemerkenswert, dass eine Vielzahl von Vorschlägen zur Reform des internationalen Steuerrechts zugleich weitgehende Reformen oder sogar Angleichungen der nationalen Steuerrechte voraussetzen. Dies gilt in besonderem Maße für die Reform der Körperschaftsteuer im nationalen und internationalen Kontext. Wenn z. B. in den Vorarbeiten für den vor wenigen Monaten im Vereinigten Königreich vorgelegten Mirrlees Review erwogen wird, die Gewinne von Kapitalgesellschaften nach dem Bestimmungslandprinzip37 nur noch in dem Staat der Körperschaftsteuer zu unterwerfen, in dem die Kunden dieses Unternehmens ansässig sind, so würde dies nicht lediglich eine Änderung der Besteuerungszuordnung im internationalen Verkehr mit sich führen, sondern den Charakter der Körperschaftsteuer insgesamt verändern. Gleiches gilt für die im Mirrlees Review befürwortete Einführung einer allowance for corporate _____________ 36 Schön, Perspektiven der Konzernbesteuerung, 171 ZHR (2007) 409 (443 f.). 37 Auerbach/Devereux/Simpson, Taxing Corporate Income, in The Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 837 (882 ff.), die für einen Wechsel zu einer „destination based corporate tax“ plädieren.

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equity38 nach dem Vorbild Belgiens, mit der eine weitgehende Gleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapitalerträgen erreicht werden soll – wer dies vorschlägt, wird massive Veränderungen in der Basis der nationalen Körperschaftsteuer in Kauf nehmen müssen. Man mag diese Veränderungen begrüßen, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass es bei realistischer Betrachtung nicht zu einer gleichzeitigen und gleichsinnigen Reform in allen wichtigen Staaten kommen wird.39

III. Die Bedeutung der Mehrwertsteuer Dies wird schließlich deutlich in der Bedeutung, welche die nationalen Steuerrechte der Existenz einer gewichtigen allgemeinen Verbrauchsteuer, nämlich der Umsatzsteuer, zuweisen. Bis auf die Vereinigten Staaten40 haben inzwischen sämtliche Mitgliedstaaten der OECD und viele weitere Staaten (zuletzt China) eine Mehrwertsteuer eingeführt. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, in welchem Umfang Elemente einer direkten Konsumsteuer in das US-Steuerrecht Eingang finden sollten, ganz anders gelagert als in Europa, wo eine indirekte Konsumsteuer seit langem zum Kernbestand der Besteuerungsordnung zählt.

G. Der Kontinuitätsgrundsatz als Leitlinie internationaler Steuerpolitik Wenn man zu der Erkenntnis gelangt, dass es keine klaren vorgegebenen Regeln zur Allokation von Steuergütern zwischen Staaten gibt und auch keine weitreichende Harmonisierung internationaler und nationaler Steuerregeln vor der Tür steht, dann wird man überlegen müssen, ob es zumindest Grundsätze „zweiter Ordnung“41 gibt, welche der Steuerpolitik eines Landes zugrunde liegen müssen. _____________ 38 The Institute for Fiscal Studies, Tax by Design: The Mirrlees Review (2010) 421 ff.; zu den Vorarbeiten siehe: Griffith/Hines/Sorensen, International Capital Taxation, in The Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 914 (973 ff.). 39 Dazu eine gründliche Analyse bei Roin, Taxation without Coordination, Journal of Legal Studies, Vol. 31 (2002) 61. 40 Siehe die Kritik bei Graetz, 100 Million Unnecessary Returns: A Fresh Start for The U.S. Tax System, 112 Yale Law Journal (2002) 261. 41 Bird/Wilkie, Source- vs. residence-based taxation in the European Union: the wrong question?, in Cnossen, Taxing Capital Income in the European Union (2002) 78 (98 f.).

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Dabei möchte ich folgenden Grundsatz vorstellen: Internationale Steuerregeln beeinflussen ökonomische Entscheidungen. Diese Entscheidungen betreffen Alternativen zwischen rechtlich unterschiedlich strukturierten Aktivitäten. Sowohl rechtliche als auch ökonomische Überlegungen stützen das Postulat,42 dass diese Entscheidungen durch die Rahmenbedingungen des internationalen Steuerrechts so wenig wie möglich beeinflusst werden sollen. Dies fördert nicht nur die Effizienz, es entspricht auch dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und verhindert schließlich Arbitragen in der internationalen Steuerpraxis. Vor allem dann, wenn sich zwischen verschiedenen Alternativen ein Kontinuum an Wahlmöglichkeiten43 aufspannt, würde es überzeugen, auch fließende Übergänge in den steuerlichen Rechtsfolgen einzurichten. Die Modifikation der steuerlichen Rechtsfolge sollte nahtlos der Modifikation der zugrunde liegenden wirtschaftlichen oder zivilrechtlichen Strukturen folgen. Dieser Kontinuitätsgrundsatz soll im Folgenden dargelegt werden an der Wahl zwischen: – grenzüberschreitenden Lieferungen und Leistungen und der Gründung einer Betriebsstätte – der Gründung einer Betriebsstätte und der Gründung einer Tochtergesellschaft – der Übernahme einer wesentlichen Beteiligung und dem Erwerb von Streubesitz – der Finanzierung von Unternehmen durch Fremd- oder Eigenkapital – der Investition in ein eigenes Unternehmen oder die Überlassung einer Lizenz – der Organisation der Wertschöpfungskette zwischen unverbundenen oder verbundenen Unternehmen.

_____________ 42 Musgrave, United States Taxation of Foreign Income, Issues and Arguments (1969) 97 (108 f.). 43 Schlunk, Little Boxes: Can Optimal Commodity Tax Methodology Save the DebtEquity Distinction?, 80 Texas Law Review (2002) 859 ff.

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H. Einzelfragen internationaler Steuerkoordinierung I. Die Besteuerung grenzüberschreitender Lieferungen und Leistungen Im Bereich der Einkünfte aus internationaler gewerblicher Tätigkeit kommt in erster Linie in den Blick, dass nach bisheriger Sicht die Erzielung von Einkommen aus der Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen an Abnehmer in einem anderen Staat nicht ausreicht, um ein Besteuerungsrecht des Sitzstaates der Leistungsempfänger zu begründen. Voraussetzung ist vielmehr nach Art. 5 und 7 OECDMA die Existenz einer Betriebsstätte im Kundenstaat. Vor diesem Hintergrund erklären sich die Versuche einer expliziten oder impliziten Ausweitung des Betriebsstättenbegriffs letztlich als Versuche des Empfängerstaates, Erträge aus Lieferungen und Leistungen an die auf dem eigenen Territorium ansässige Kundschaft zu besteuern. Dies gilt sowohl für die graduelle Erosion des Begriffs einer festen Einrichtung als auch für die Einführung der Service-Betriebsstätte im UN-Musterabkommen als auch für die Konstruktionen rund um den Begriff des abhängigen Vertreters und schließlich auch für die Diskussion zur internationalen Zuordnung von Einkünften aus electronic commerce. Schaut man näher hin, so lässt sich zunächst festhalten, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts kein Hindernis dafür bilden, sämtliche Erträge aus Lieferungen und Leistungen im Staat des Kunden zu besteuern. Ein genuine link ist nämlich in der Beziehung zum Markt des Quellenstaates ohne Weiteres gegeben. Andererseits muss beachtet werden, dass bei praktischer Betrachtung nicht jeder minimale grenzüberschreitende Kontakt herangezogen werden sollte, um ein Besteuerungsrecht zu begründen. Die Belastungen, die für Unternehmen daraus entstehen, dass sie in zwei Jurisdiktionen steuerliche Pflichten erfüllen, namentlich sich mit zwei Steuerverwaltungen auseinandersetzen müssen, können für den grenzüberschreitenden Verkehr mindestens so abschreckend wirken wie das zugleich entstehende Risiko der Doppelbesteuerung. Man benötigt daher aus wirtschaftspolitischen Gründen eine qualitative oder quantitative Schwelle für das Eingreifen des Besteuerungsrechts im Quellenstaat.44 Die abkommenspolitische Frage ist _____________ 44 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 55 f.; Sasseville, in Canadian Tax Foundation, World Tax Conference 2000, Abschn. 5:1 f.

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daher im Kern darauf gerichtet, ob die bisher gewählte Schwelle – der Betriebsstättenbegriff – ein zukunftsträchtiges Konzept verkörpert oder ob eher quantitative Grenzen – z. B. das Überschreiten bestimmter Umsatzgrenzen im Verkehr mit dem Empfängerstaat45 – herangezogen werden sollten. Mein Eindruck ist, dass sich das klassische Betriebsstättenkonzept immer weniger rechtfertigen lässt: Zum einen, weil der Gedanke der festen Geschäftseinrichtung immer weniger eine reale Grundlage im Wirtschaftsleben besitzt, zum anderen, weil der Anreiz, Leistungs- und Lieferungsbeziehungen um den Tatbestand der Betriebsstätte herum zu konstruieren, auch volkswirtschaftliche Kosten hervorruft. Auf lange Sicht sprechen m. E. die besseren Gründe dafür, das Eingreifen der Quellenbesteuerung im Kundenstaat von Umsatzschwellen abhängig zu machen. Diese sollten allerdings so hoch angesetzt werden, dass die daraus resultierenden Administrationskosten und Doppelbesteuerungsrisiken gut abgefedert werden können.46

II. Die doppelte Bedeutung des Betriebsstättenbegriffs Man muss sich bei diesen Überlegungen allerdings darüber im Klaren sein, dass der Begriff der Betriebsstätte im internationalen Steuerrecht gegenwärtig eine zweifache Funktion besitzt, die in der Diskussion regelmäßig nicht differenziert gesehen wird. Zum einen dient – wie bereits geschildert – der Betriebsstättenbegriff dazu, eine objektive Eingriffsschwelle für die Quellenbesteuerung im Belegenheitsstaat zu definieren. Insoweit kann er durch quantitative Grenzziehungen ersetzt werden. Zum anderen bildet die Betriebsstätte aber auch einen subjektiven Anknüpfungspunkt für bestimmte steuerliche Konsequenzen, bei _____________ 45 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 80 f.; Graetz, The David R. Tillinghast Lecture: Taxing International Income: Inadequate Principles, Outdated Concepts and Unsatisfactory Policies, 54 Tax Law Review (2001) 261 (316 f.); Skaar, Permanent Establishment: Erosion of a Tax Treaty Principle (1991) 557 f.; Vann, Reflections on Business Profits and the „Arm’s-Length Principle“, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 145; eine Unterscheidung zwischen standardisierten und einzeln angefertigten Gütern vornehmend: Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part III, Intertax 1988, 393 (400 f.). 46 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 93 f.

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denen sie wie eine fiktive Gesellschaft behandelt wird. Beispielhaft ist der Ansatz der OECD,47 bei der Gewinnermittlung von Betriebsstätten diese als „separate entity“ zu qualifizieren und ihnen einen eigenständigen unternehmerischen Gewinn wie bei einer Tochtergesellschaft48 zuzuweisen – ein Ansatz, der inzwischen auch Eingang in die deutsche Gesetzgebung gefunden hat49. Beispielhaft ist auch die Regelung in Art. 15 OECD-MA, welche die Besteuerung von Arbeitnehmern abhängig macht von der Existenz einer Betriebsstätte im Tätigkeitsstaat. Beispielhaft ist schließlich auch die steuerpolitische Forderung nach einer Zuweisung der Abkommensberechtigung an Betriebsstätten im Hinblick auf Einkünfte, die weder im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen noch im Belegenheitsstaat der Betriebsstätte erzielt werden, aber mit dieser wirtschaftlich verbunden sind.50 Schaut man näher hin, so stellt man fest, dass der Betriebsstättenbegriff in diesen Punkten weit anspruchsvoller ist als bei der Frage der beschränkten Steuerpflicht. Dies mag man schon daran feststellen, dass die OECD in der Frage der Existenz einer Betriebsstätte nach Art. 5 die Ansprüche immer weiter absenkt (das berühmte Anstreicher-Beispiel) und in der Frage der Gewinnermittlung einer Betriebsstätte nach Art. 7 die Ansprüche immer weiter hochschraubt. Es empfiehlt sich m. E., diese Funktionen deutlich voneinander zu trennen: Soweit die quasi-subjektive Steuerpflicht der Betriebsstätte angesprochen wird (Abkommensberechtigung, Art. 15 OECD-MA, separate entity approach), sollte man nur Einheiten mit organisatorischer Verselbstständigung und klarer örtlicher Lokalisierung in den Blick nehmen. Soweit die objektive Steuerpflicht im Belegenheitsstaat angesprochen wird, kann ein geringerer qualitativer oder quantitativer Schwellenwert genutzt werden.51

_____________ 47 Centre for Tax Policy and Administration, OECD, Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments, Part I: General Considerations (2006). 48 Baker/Collier, General Report: The Attribution of Profits to Permanent Establishments, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 91b (2007) 21 f. 49 § 1 AStG i. d. F. des Referentenentwurfs des JStG 2013 v. 5.3.2012; näher Baldamus, IStR 2012, 317. 50 Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik (2008) 49 f. 51 Dazu Schön, Permanent Establishment – One Word, Two Concepts, FS Murai (2012), 435.

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III. Gleichbehandlung von Betriebsstätte und Tochtergesellschaft Differenziert man auf diese Weise zwischen der „objektiven“ und der „subjektiven“ Seite der Betriebsstätte, so lässt sich auch eine weitere Fragestellung sinnvoll einordnen, nämlich die Frage nach der Gleichbehandlung von Tochtergesellschaft und Betriebstätte im internationalen Steuerrecht. Diese Gleichbehandlung ist in den vergangenen Jahren unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert worden: Einmal aus der Sicht des Europarechts – hier hat der Europäische Gerichtshof in einigen jüngeren Urteilen die Vorstellung einer strikten Gleichbehandlungspflicht auf der Grundlage der Europäischen Niederlassungsfreiheit entgegen gewichtigen Stimmen im Schrifttum eher zurückgedrängt.52 Zum anderen aus der Sicht des Internationalen Steuerrechts – hier haben Diskussion und Reform des Art. 7 OECD-MA durch Etablierung des separate entity approach einen deutlichen Schritt in Richtung einer solchen Gleichbehandlung unternommen.53 In der Tat sprechen gute Gründe dafür, die freie Wahl zwischen verschiedenen Niederlassungsformen – der unselbstständigen Zweigniederlassung sowie der selbstständigen Tochtergesellschaft – nicht durch spezifische steuerliche Vorteile oder Nachteile zu verzerren, soweit die Betriebsstätte eine vergleichbare wirtschaftliche und organisatorische Eigenständigkeit aufweist. Die Frage ist jedoch, in welchem Umfang die zivilrechtliche Haftungstrennung54 zwischen Tochtergesellschaft und Mutterunternehmen einer vollständigen Gleichbehandlung entgegensteht. Dies muss davon abhängen, ob bestimmte steuerliche Rechtsfolgen gerade mit dieser Haftungstrennung korreliert sind. Dabei kommen vor allem drei Gesichtspunkte in den Blick: die unmittelbare Besteuerung der Unternehmensgewinne beim Investor, die Verrechnung von Verlusten sowie die Anerkennung von Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte. Zur unmittelbaren Besteuerung von Unternehmensgewinnen leben wir in einer Welt, in der die in einer Betriebsstätte entstandenen Gewinne unmittelbar dem dahinter stehenden Unternehmen zugerechnet und _____________ 52 EuGH v. 4.4.2009 – Rs. C-439/07 und C-499/07 – KBC, DStR-E 2009, 1181. 53 Zur europarechtlichen Sicht umfassend Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, Schriftenreihe „Rechtsordnung und Steuerwesen“ Bd. 39, 2010. 54 Siehe eine historische Analyse bei Cheffins, Corporate Ownership and Control (2008).

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bei diesem im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht sowie gegebenenfalls der unbeschränkten Steuerpflicht im Ansässigkeitsstaat erfasst werden.55 Bei Tochtergesellschaften wird hingegen das Besteuerungsrecht in deren Sitzstaat ausgeübt und erst die Dividende erfasst. Ein Durchgriff des Sitzstaats der Muttergesellschaft auf den thesaurierten Gewinn der Tochtergesellschaft findet nur in eng begrenzten Fällen der Hinzurechnungsbesteuerung statt. Zwingend geboten ist dies nicht. Man muss vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass in der gegenwärtigen US-Diskussion ernsthaft vorgeschlagen wird, bei internationalen Konzernen sämtliche Tochtergesellschaften – also auch die gewerblich aktiven Gesellschaften – einer erweiterten Hinzurechnungsbesteuerung zu unterwerfen.56 Auf diese Weise soll der deferral (d. h. der Aufschub der steuerlichen Erfassung bis zur Gewinnausschüttung) abgeschafft werden. Zivilrechtlich lässt sich dagegen wenig einwenden, denn auch bei haftungsbeschränkten Personengesellschaften erscheint uns eine transparente und damit durchgreifende Besteuerung möglich. Steuerrechtlich ist dies jedoch systemwidrig. Wenn und solange das nationale Steuerrecht für nationale Konzerne keine Einheitsbesteuerung zwingend anordnet, sondern die Konzerngesellschaften jeweils einzeln besteuert, kann dies im grenzüberschreitenden Kontext nicht anders sein. Es würde jedenfalls – wie wir spätestens seit der Cadbury SchweppesEntscheidung57 wissen – gegen europäisches Recht verstoßen. Die andere Seite der Medaille besteht darin, dass aufgrund der Haftungstrennung in der Frage der grenzüberschreitenden Verrechnung von Verlusten kein Zwang zur Gleichbehandlung besteht. Während die grenz_____________ 55 United States, Petitioner v. Goodyear Tire & Rubber Company and Affiliates, 493 U.S. 132, 110 S.Ct. 462, 107 L.Ed.2d 449 (1989), Senator Smoot im Rahmen der Gesetzgebung im Jahr 1921 zitierend: ”A foreign subsidiary is much like a foreign branch or an American corporation. If the American corporation owned a foreign branch it would include the earnings or profits of such branch in its total income, but it would also be entitled to deduct from the tax based upon such income or profits taxes paid to foreign countries by the branch in question. Without special legislation, however, no credit can be obtained where the branch is incorporated under foreign laws“; vgl. auch Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts (1964) 94 (96 f.); Vogel, On Double Taxation Conventions3 (1997), Art. 10 OECD Model Rz. 76. 56 Hamill, The Story of the Limited Liability Company: Combining the Best Features of a Flawed Business Structure, in Bank/Stark (Hrsg.), Business Tax Stories (2005) 295 f.; Gravelle, Issues in International Tax Policy 57 National Tax Journal (2004) 773; Cummings, Consolidating Foreign Affiliates, 11 Florida Tax Review (2011), 143. 57 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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überschreitende Verrechnung von Verlusten aus gewerblichen Betriebsstätten ein Gebot der Besteuerung des Steuerpflichtigen nach der Leistungsfähigkeit darstellt58 (insofern bildet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Lidl Belgium59 nach wie vor ein Ärgernis), ist dies bei selbstständig steuerpflichtigen Konzerngesellschaften kein dringendes Gebot, sondern eher ein praktisches Zugeständnis. In jedem Fall gilt auch hier, dass eine entsprechende Regelung für inländische Konzerngesellschaften auch ohne direkten Druck aus Luxemburg möglichst auf grenzüberschreitende Fälle übertragen werden sollte. Wieder anders ist schließlich die Frage nach der Anerkennung von Leistungsbeziehungen zwischen Betriebsstätte und Tochtergesellschaft zu beantworten – hierzu ist daran festzuhalten, dass die Fiktion selbstständiger Verträge zwischen Stammhaus und Betriebsstätte einen Schritt zu weit geht und insbesondere Zuordnungen von Gewinnen und Risiken ermöglicht, die sich nicht in vergleichbarer Weise in den zugrunde liegenden wirtschaftlichen Sachverhalten nachweisen lassen.60

IV. Schachtelbeteiligungen und Portfolio-Besitz61 Zu den weiteren Elementen, mit denen im internationalen Steuerrecht eine weitgehende Gleichbehandlung von Betriebsstätten und Tochtergesellschaften hergestellt werden kann, gehört der Verzicht auf die Besteuerung von Dividenden aus Schachtelbeteiligungen, wie er in vielen DBA sowie in der Mutter-Tochter-Richtlinie der Europäischen Union niedergelegt ist. Die Kernelemente bestehen darin, dass bei Schachteldividenden einerseits der Quellenstaat keine Kapitalertragsteuer auf die Ausschüttungen erhebt und andererseits der Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft entweder die Dividenden freistellt oder bei der Erhebung der Körperschaftsteuer eine indirekte Anrechnung der zugrunde liegenden Körperschaftsteuer der Tochtergesellschaft vorsieht. Im Vergleich zu dieser Behandlung werden Portfolioaktionäre in vielen Staaten der Welt benachteiligt. Bei Streubesitz wird einerseits eine Quellensteuer durch den Sitzstaat der Beteiligungsgesellschaft erhoben _____________ 58 Kane, Risk and Redistribution in Closed and Open Economies, 92 Virginia Law Review (2006) 867 (888 f.). 59 EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. 60 Schön in Lüdicke, Besteuerung von Unternehmen im Wandel (2007) 71. 61 Vgl. z. B. Easson, Taxation of Foreign Direct Investment: An Introduction (1999) 2; Herman, Taxing Portfolio Income in Global Financial Markets (2002) 155 f.; Graetz, Foundations of International Income Taxation (2003) 372 f.

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und andererseits eine volle Besteuerung im Sitzstaat des Anteilseigners ohne Berücksichtigung der zugrunde liegenden Körperschaftsteuer vorgesehen. Deutschland liegt insoweit im Mittelfeld: Es ist einerseits dafür zu loben, dass die Befreiungen nach § 8b Abs. 1 KStG sowie die Regeln zur Abgeltungsteuer auch für ausländische Portfoliodividenden gelten. Es ist andererseits dafür zu tadeln, dass es eines Vertragsverletzungsverfahrens mit anschließender Verurteilung durch den EuGH62 bedurfte, um die Europarechtswidrigkeit der Quellensteuer auf abfließende Dividenden aufzugreifen. Die meisten anderen Staaten sind insoweit jedoch radikaler und belasten Portfoliodividenden mehrfach nachteilig im Verhältnis zu Schachtelbeteiligungen. Der Übergang zwischen 9,9 % und 10 % führt damit zu einem gewaltigen Sprung in der Steuerbelastung. Eine „stetige“, auf Kontinuität angelegte Ordnung des internationalen Steuerrechts müsste diesen – rein fiskalisch motivierten63 – Bruch im nationalen Recht sowie in der Abkommenspolitik der Staaten beseitigen.64 Die Mehrfachbelastung des Portfoliobesitzes durch Körperschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft, Quellensteuer auf die Dividende und abschließende Steuer beim Anteilseigner schreckt letztlich vom Erwerb ausländischer Wertpapiere ab. Eine weitgehende Steuerfreistellung der Dividenden würde letztlich zu einer gleichmäßigen Behandlung von Einkünften aus ausländischen Betriebsstätten (einschließlich Beteiligungen an gewerblichen Personengesellschaften), ausländischen Schachtelbeteiligungen und ausländischen Portfoliobeteiligungen führen. Die „Entscheidungsneutralität“ wäre weitgehend hergestellt.

V. Fremdkapital und Eigenkapital Sowohl die Errichtung von Betriebsstätten als auch die Gründung von Tochtergesellschaften und schließlich der Erwerb von Portfoliobesitz sind nach diesen Überlegungen im Kern der Körperschaftsbesteuerung _____________ 62 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09 – Kommission ./. Deutschland, IStR 2011, 840; BFH v. 11.1.2012 – I R 30/10, IStR 2012, 379 unter Aufgabe von BFH v. 22.4.2009 – I R 53/07, IStR 2009, 551. 63 Vann, General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 88a (2003) 47 (49) (einzelne Portfolio-Aktionäre betreffend): ”When viewed from the source country perspective, the case for the withholding tax on portfolio dividends is not strong, apart from its possible revenue implications and the fact that it is accepted as part of the international consensus set out in tax treaties.“ 64 Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper No. 3056 (1989) 32 (37).

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im Quellenstaat ausgesetzt. In allen diesen Fällen handelt es sich um eine Finanzierung mit Eigenkapital. Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, die Finanzierung mit Fremdkapital in ähnlicher Weise zu regeln.65 Daher wird vielfach vorgeschlagen, Zinsen auf Fremdkapitaltitel im Ausgangspunkt mit einer gewichtigen Quellensteuer im Sitzstaat des Darlehensnehmers zu belasten.66 Setzt man die Höhe dieser Quellensteuer auf Zinsen auf dasselbe Niveau wie die Körperschaftsteuer bei Tochtergesellschaften, so gelangt man in Ergebnis zu einer gleichheitskonformen Zuordnung der zugrunde liegenden Besteuerungsgüter im Quellenstaat. Der Sitzstaat des Investors mag dann entweder die Kapitalerträge freistellen oder die zugrunde liegenden Steuern anrechnen. Andere Vorschläge einer Gleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapital setzen weiter gehende Veränderungen des nationalen Einkommensteuer- und Körperschaftsteuerrechts voraus, z. B. die Comprehensive Business Income Tax, welche den Zinsen die Abzugsfähigkeit abspricht und sie damit wie Gewinne behandelt, oder die Allowance for Corporate Equity, die für eine Regelverzinsung des Eigenkapitals die Abzugsfähigkeit vornimmt und daher nur weiter gehende Gewinne der Körperschaftsteuer unterwirft67. _____________ 65 Eine grundlegende ökonomische Analyse des Problems der Quellenbesteuerung von Fremd- und Eigenkapital bei Miller, Debt and Taxes, 32 Journal of Finance (1977) 261 f.; Fama/French, Taxes, Financing Decisions, and Firm Value, 53 Journal of Finance, (1998) 819 f.; Gordon/Lee, Do Taxes affect corporate debt policy? Evidence from U.S. corporate tax return data, 82 Journal of Public Economics (2001) 195 f.; Graham, How Big are the Tax Benefits of Debt?, 55 Journal of Finance (2000) 1901 f.; McKie-Mason, Do Taxes Affect Corporate Financing Decisions, 45 Journal of Finance (1990) 1471 f.; Dwenger/Steiner, Financial Leverage and Corporate Taxation – Evidence from German Corporate Tax Return Data, DIW Discussion Paper No. 855 (2009). 66 Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions: A Rethinking of Models (2001) 430 ff.; Danon, Interest (Article 11 OECD Model Convention), in Lang/ Pistone/Schuch/Staringer, Source versus Residence: Problems Arising from the Allocation of Taxing Rights in Tax Treaty Law and Possible Alternatives (2008) 81 (83 f.); Schindel/Atchabahian, Source and Residence: New Configuration and Principles: General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 90a (2005) 21 (93 f.). 67 De Mooij/Devereux, Alternative Systems of Business Tax in Europe: An applied Analysis of ACE and CBIT Reforms, EC Taxation Papers, Working Paper 17/2009, 7 (10 f.); Bond, Levelling Up or Levelling Down? Some Reflections on the ACE and CBIT proposals, and the Future of the Corporate Tax Base, in Cnossen, Taxing Capital Income in the European Union (2000); hinsichtlich der belgischen Erfahrungen mit einer Allowance for Corporate Equity vgl. Gérard, A Closer Look at Belgium’s Notional Interest Deduction, Tax Notes International, 6.2.2006, 449 f.

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Tatsache ist jedoch, dass es bisher weder in den nationalen Steuerrechten noch auf der Ebene des Abkommensrechts zu einer wirklichen Gleichbehandlung von Eigen- und Fremdkapital gekommen ist. Die Gründe sind vielfältiger Natur. Meiner Ansicht nach liegt der wesentliche Grund darin, dass der Druck des internationalen Steuerwettbewerbs sich bei Eigenkapitalinvestitionen anders auswirkt als bei Fremdkapitalinvestitionen. Dafür muss man erkennen, dass in den vergangenen Jahrzehnten zwar die Quellensteuern auf abfließende Zinsen weitgehend verschwunden sind68, dass aber im selben Zeitraum die körperschaftsteuerliche Vorbelastung auf abfließende Dividenden nicht in gleicher Weise zurückgegangen ist. Offensichtlich ist Fremdkapital mobiler als Eigenkapital, es ist schneller kündbar und weniger auf die konkreten Chancen und Risiken eines bestimmten Investitionsstandorts zugeschnitten. Hinzu kommt, dass eine Absenkung oder gar Abschaffung der Quellensteuern auf abfließende Zinsen rechtstechnisch relativ leicht bewerkstelligt werden kann. Demgegenüber kann die Körperschaftsteuer in einem Land nicht unterschiedlich für inländische und ausländische Anteilseigner erhoben werden (jedenfalls nicht auf der Ebene der Körperschaft als solcher). Man wird daher zögern, aus Gründen des Steuerwettbewerbs eine Steuer abzuschaffen, die bei der großen Zahl bereits existierender inländischer Firmen nach wie vor erhebliches Aufkommen für den Staat generiert69. Mit der Existenz der nationalen Körperschaftsteuer ist daher die Belastung auch der ausländischen Anteilseigner vorprogrammiert. Solange Staaten ein Interesse haben, im Rahmen ihrer Standortpolitik Zinsen weitgehend belastungsfrei zu stellen und andererseits der internationale Steuerwettbewerb nicht so weit geht, dass die Körperschaftsteuer insgesamt abgeschafft werden muss, wird es zu diesen Differenzierungen kommen. Es ist daher nicht zu empfehlen, eine Angleichung der Besteuerung von Fremdkapital- und Eigenkapitalinvestitionen vor_____________ 68 Siehe eine aktuelle politische Beurteilung durch das Advisory Panel on Canada’s System of International Taxation, Enhancing Canada’s International Tax Advantage, Final Report (December 2008) 6.1 f.; Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik (2008) 136 f.; ein vergleichender Ansatz bei Khoo, Reducing withholding tax rates in double tax treaties: Trends and Implications, 24 Australian Tax Forum (2009) 597; Bittker/Lokken, Fundamentals of International Taxation (2008) 67.2.2. 69 Gravelle, The Corporate Income Tax: A Persistent Policy Challenge, 11 Florida Tax Review (2011) 75 (91 f.); ähnlich Keuschnigg, The Design of Capital Income Taxation: Reflections on the Mirrlees Review, 32 Fiscal Studies (2011) 437 (438), für den Übergang von der klassischen KSt zu einem ACE-System.

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zunehmen. Eine Ausnahme kann hingegen im Bereich von konzerninternen Darlehen gelten. Diese Darlehen werden nicht an internationalen Kapitalmärkten aufgenommen, sie dienen der spezifischen Finanzierung bestimmter Projekte und Untergliederungen des Konzerns. Sie sind daher in ähnlicher Weise wie Eigenkapitalinvestitionen mit dem jeweiligen Investitionsstandort verbunden und sollten auch in ähnlicher Weise im Quellenstaat erfasst werden. Die einfachste Lösung ist daher die Erhebung einer Quellensteuer auf konzerninterne Darlehen – aber gerade diese Lösung ist uns durch die Richtlinie über Zinsen und Lizenzgebühren im Konzern innerhalb der Europäischen Union verschlossen.

VI. Lizenzeinnahmen Ähnliche Konflikte stellen sich ein, wenn Einnahmen aus Lizenzzahlungen für gewerbliche Schutzrechte zwischen den beteiligten Staaten verteilt werden müssen. Stehen diese eher den Einnahmen aus einer gewerblichen Betriebsstätte gleich – dann sind sie im Quellenstaat zu erfassen – oder stehen sie den Zinserträgen gleich – dann wird eher der Ansässigkeitsstaat den Zugriff ausüben. Hier hilft es wenig, wenn man mit der aktuellen Diskussion darüber räsoniert, wo diese Erträge wirklich entstehen.70 Denn dafür kommen vier verschiedene Staaten in Betracht:71 Der Ansässigkeitsstaat des Kapitalgebers,72 der Ort der Forschung und Entwicklung, der Belegenheitsstaat der Produktionsstätte73 und schließlich auch die Jurisdiktion, in der die hergestellten Produkte unter dem Schutz eines Patents oder Gebrauchsmusters vertrieben werden können. Ein „genuine link“ besteht in jedem Fall – und auch wird jeder Staat für sich in Anspruch nehmen können, durch Bereitstel_____________ 70 Zu diesem Ansatz vgl. Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions: A Rethinking of Models (2001) 452 f. 71 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Lokken, The Sources of Income From International Uses and Dispositions of Intellectual Property, 36 Tax Law Review (1981) 233 (237 f.). 72 Pöllath/Lobeck in Vogel/Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 5. Aufl. 2008, Art. 12 OECD-MA Rz. 17 ff. 73 So Lokken, The Sources of Income From International Uses and Dispositions of Intellectual Property, 36 Tax Law Review (1981) 233 (238), der versucht, das „benefit principle“ auf IP-Einkünfte anzuwenden; Tadmore, Royalties (Article 12 OECD Model Convention), in Lang/Pistone/Schuch/Staringer, Source versus Residence: Problems arising from the Allocation of Taxing Rights in Tax Treaty Law and Possible Alternatives (2008) 107 (111).

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lung öffentlicher Güter (oder jedenfalls eines „Marktes“) zur Einkommenserzielung beigetragen zu haben. Die Aufteilung der Besteuerungshoheit74 in solchen Situationen muss letztlich den Gegebenheiten des Steuerwettbewerbs folgen. Es kommt auf die Marktstärke einer Jurisdiktion an, ob es ihr gelingt, auf Lizenzzahlungen Quellensteuern durchzusetzen. Dies hängt unter anderem davon ab, ob dem Lizenzgeber seinerseits alternative Lizenznehmer in anderen Ländern zur Verfügung stehen, sodass er in der Lage ist, die Lizenzgebühren der Höhe nach an eventuelle Quellensteuern anzupassen. Der Produktionsstaat wird daher sehr genau überlegen müssen, ob sich eine Quellensteuer in der Gesamtbilanz öffentlicher und privater Einnahmen als günstig oder weniger günstig darstellt.

VII. Besteuerung multinationaler Unternehmensgruppen Sämtliche genannten Themen greifen schließlich ineinander, wenn es um eine angemessene Besteuerung internationaler Unternehmensgruppen geht.75 Hier bieten sich vielfältige Gestaltungen an – die Wahl zwischen grenzüberschreitenden Leistungen versus die Gründung einer Betriebsstätte. Die Gründung einer Betriebsstätte versus die Gründung einer Tochtergesellschaft. Die Finanzierung einer Tochtergesellschaft durch Fremd- oder Eigenkapital. Die Vergabe von Lizenzen innerhalb eines Konzerns oder die Einrichtung von cost sharing arrangements76. Die Frage, auf die ich nur kurz eingehen kann, ist die, ob die Durchführung all dieser Transaktionen innerhalb eines multinationalen Unternehmens grundsätzlich anders besteuert werden soll als die Durchfüh_____________ 74 Für eine Aufteilung, einschließlich periodischer Neubewertung, vgl. Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part II, Intertax 1988, 310 (318); Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions: A Rethinking of Models (2001) 453; in der UN-Expertengruppe wurde sogar diskutiert, ob „alte“ (also amortisierte) IP-Rechte anders behandelt werden sollten als „neue“ IP-Rechte, bei denen die Abschreibung im Ansässigkeitsstaat eine wichtige Rolle spielen könnte (UN Model Double Taxation Convention, Commentary to Art. 12, Para. 6 f.). 75 Dazu ausführlich Schön, International Tax Coordination for a Second-Best World, Part III, 2 World Tax Journal (2010) 227 ff. 76 Grubert, Taxes and the Division of Foreign Operating Income among Royalties, Dividends and Retained Earnings, 68 Journal of Public Economics (1998) 269 f.; Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (44).

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rung derselben Transaktionen mit fremden Dritten. Damit ist nicht nur die Frage nach dem „Drittvergleich“77 angesprochen, sondern zugleich die Frage nach den Grundlagen für eine formelhafte Aufteilung der Besteuerungsgrundlagen78 i. S. einer Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage. Es ist nicht möglich, in diesem Vortrag die Vor- und Nachteile einer konsolidierten Steuerbasis sowie des formulary apportionment79 eingehend zu schildern. Aus der Sicht der These, dass die Regeln der internationalen Steuerkoordinierung keine plötzlichen Sprünge, keine ungerechtfertigten Brüche aufweisen sollten, bildet dieser Vorschlag jedoch ein Problem. Denn die Steueraufteilung, wie sie bei Geschäften zwischen unverbundenen Unternehmen vorgenommen wird, ist in diesem Modell eine ganz andere als die Steueraufteilung innerhalb verbundener Unternehmen. Das kann zu enormen Belastungsunterschieden führen. Nehmen wir die einfache Situation, dass ein großer Konzern ein unabhängiges Zulieferunternehmen aufkauft. Sonst ändert sich nichts. Die bisher nach den Verteilungsnormen der Doppelbesteuerungsabkommen vorgenommene Aufteilung der jeweiligen Einzelgewinne auf die Steuerpflichtigen wird dann von einem Tag auf den anderen durch eine formelhafte Aufteilung ersetzt. Jim Hines hat in einem Aufsatz anhand von konkreten Unternehmensfusionen nachgewiesen, dass in diesen Fällen der schlichte Anteilserwerb dazu führen würde, dass die Steuergüter zwischen den involvierten Staaten massiv umverteilt würden.80 Eine GKKB, die alleine an dem Tatbestand einer mehr oder weniger hohen Beteiligungsquote ansetzt, würde damit die steuerlichen Folgen des make or buy massiv verzerren. Eine andere Beurteilung kann mit zunehmender wirtschaftlicher Integration des Tochterunternehmens in _____________ 77 Art. 9 OECD-MA. 78 Li, Global Profit Split: An Evolutionary Approach to International Income Allocation, 50 Canadian Tax Journal (2002) 823 (844 f.), vertritt einen ähnlichen Ansatz („global profit split“), der mit dem des „global formula apportionment“ mehr übereinzustimmen scheint als mit dem des „profit split“ auf Transaktionsbasis. 79 Eine sorgfältige Analyse bei Schön/Schreiber/Spengel, A Common Consolidated Corporate Tax Base for Europe (2007); Lang/Pistone/Schuch/Staringer, Common Consolidated Corporate Tax Base, Series on International Tax Law No. 53 (2008); zu einer Übersicht über dieses höchst kontrovers diskutierte Thema siehe AgundezGarcia, The Delineation and Apportionment of an EU Consolidated Tax Base for Multi-Jurisdictional Corporate Income Taxation: A Review of Issues and Options, European Commission Taxation Papers, WP 9/2006. 80 Hines, Income Misattribution under Formula Apportionment, 43 European Economic Review (2010) 108 ff.

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den Gesamtkonzern eingreifen. Insofern gehen die auf der Ebene der OECD angesetzten Reformen der Verrechnungspreisrichtlinien, die eine Stärkung des profit split als einer alternativen Verteilungsnorm in multinationalen Konzernen vorsehen, in die richtige Richtung. Entscheidend sind aber gleitende Übergänge in einem Kontinuum mehr oder weniger zentralisierter Konzerne. In dem Umfang, in dem das Unternehmen voll integrierte Wertschöpfungsketten aufweist, treten auch formelhafte Aufteilungen zwischen den Konzerngliedern in den Vordergrund.81

I. Schlusswort Diese Ausführungen sind nicht dazu bestimmt, ein ideales System des internationalen Steuerrechts zu entwerfen. Sie dienen auch nicht dazu, steuerpolitische Entscheidungen von Staaten einem engen rechtlichen Korsett zu unterwerfen. Sie dienen vielmehr dazu, taugliche Argumente von untauglichen Argumenten zu trennen, die Interessenlagen der beteiligten Staaten und Unternehmen offenzulegen und schließlich die Optionen des politischen Verhandlungsprozesses aufzuzeigen. Dabei wird auch deutlich, dass einmal gefundene Lösungen nicht notwendig von Dauer sein müssen. Dennoch bleiben bestimmte Anforderungen erhalten: Wie auch immer die Aufteilung der Besteuerungsrechte vorgenommen wird – die Vertragsstaaten sollten so weit wie möglich versuchen, benachbarte wirtschaftliche und organisatorische Entscheidungen in ihren steuerlichen Folgen so wenig wie möglich zu verzerren. Dass dies nicht zwingend zu einem einheitlichen Steuersystem für alle Arten von Einkünften führt, zeigen die Beispiele der Fremdkapitalfinanzierung und der Lizenzeinnahmen. Vielleicht kann dieser Vortrag daher dazu dienen, die Diskussion über die Zukunft des internationalen Steuerrechts weiter zu rationalisieren.

_____________ 81 Zur steuerlichen Erfassung von Synergierenten siehe Schön, Transfer Pricing – Business Incentives, International Taxation and Corporate Law, in Schön/Konrad, Fundamentals of International Transfer Pricing in Law and Economics (2012) 47 ff.

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Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Schön, vielen Dank für Ihren beeindruckenden Ritt durch das internationale Steuerrecht, durch seine möglichen Entwicklungen in der Zukunft. Ich könnte mir vorstellen, dass der eine oder andere Zuhörer bei manchen Ihrer Voraussagen und Thesen überrascht oder sogar erschrocken war. Herr Müller-Gatermann, Sie waren bis vor Kurzem und sind jetzt noch im Verhältnis zu Frankreich in Verhandlungen mit anderen Staaten involviert. Werden die von Herrn Schön dargestellten Überlegungen im Vorfeld oder während solcher Verhandlungen angestellt? Müller-Gatermann Ich fand es außerordentlich spannend und interessant, diese Rahmenbedingungen nochmal umfassend zu hören. Die Praxis hat teilweise natürlich nicht nur mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern mit viel einfacheren und praktischen politischen Problemen zu tun. 29

Podiumsdiskussion: Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts

Ich habe mir einige Stichworte notiert, die Sie aus der rein rechtlichen Sicht angesprochen haben. Sie haben z. B. die Bedeutung der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, und China – angesprochen und dass sich in diesen Ländern etwas gewaltig ändert. Hier sehe ich für die weitere Entwicklung die große Frage, inwieweit sich diese BRIC-Staaten stärker an die OECD, sprich an die Industriestaaten, anlehnen. Bisher gibt es bereits eine intensive Zusammenarbeit, insbesondere mit Russland, Indien und China. Brasilien steht auch in diesem Punkt nicht nur Deutschland gegenüber etwas, sagen wir mal, zurückhaltender da. Als Alternative könnten sich diese BRIC-Staaten stärker als Wortführer in der UN engagieren. Dabei ist zu bedenken, dass die UN zwar ein Steuerkomitee hat, welches die steuerliche Entwicklung beobachtet, aber dies ist natürlich nicht so ein brain trust wie die OECD. Wir sollten natürlich ein Interesse daran haben, dass die von der OECD entwickelten Standards allgemein Gültigkeit haben. Vielfach haben wir damit zu kämpfen, wenn wir z. B. nur die Verrechnungspreise uns ansehen, dass dies für einen Entwicklungsstaat kaum zu handhaben ist. Deswegen sagt er, gebt mir lieber Quellensteuern, weil das einfacher zu handhaben ist, aber lasst mich in Ruhe mit Verrechnungspreisen. Man muss daran arbeiten, dass sich an diesen Standards im Kern nichts verändert. Wir haben z. B. eine Diskussion, dass die UN ein sog. Manual für Verrechnungspreise erstellt. Das soll natürlich ein bisschen auf Entwicklungsstaaten zugeschnitten sein. Da kommt Brasilien mit dem Vorschlag, dass feste Margen notwendig sind. Das ist schlicht das Gegenteil von Verrechnungspreisen. Da muss man zumindest den Unternehmen die Gelegenheit geben nachzuweisen, dass diese Margen in der Praxis nicht stimmen. Daran wird gearbeitet. Der Steuerwettbewerb ist ganz wichtig, wenn wir uns Europa angucken. Wir haben immer einen Steuerwettbewerb gehabt. Vor allem die kleineren Staaten, etwa die Niederlande, können hier wesentlich flexibler reagieren und versuchen, Investoren anzulocken. Dafür gibt es natürlich auch in der EU z. B. die Code of Conduct-Gruppe, die dieses ring fencing, welches vermieden werden soll, bisher immer im Blick gehabt hat. In der OECD gibt es etwas Ähnliches, ein Forum on harmful tax practice. Da beschäftigt man sich auch mit diesen Dingen. Man versucht natürlich, fair miteinander umzugehen. Das ist teilweise nicht ganz einfach zu handhaben, weil da jeder seine eigenen Interessen hat. M. E. muss der Blick in Europa, weil wir hier einen Binnenmarkt haben wollen, darauf gerichtet sein, dass man sich mehr als Teil eines europäischen Binnenmarktes als Standort versteht, der erfolgreich ist und 30

Podiumsdiskussion: Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts

sich gegenüber anderen Regionen, wie Asien, Amerika usw., durchsetzt. In dem Wettbewerb steht er. Und dann muss natürlich dieser Wettbewerb untereinander innerhalb Europas ganz klar zurückgedrängt werden. Ich möchte auch etwas zu den DBAs sagen. Auch hier stoßen Interessen aufeinander. Eine grundsätzliche Frage, die angesprochen worden ist, betrifft die Anrechnung und die Freistellung. Natürlich will Deutschland, das steht nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern ist eine jahrzehntelange Praxis, im Prinzip an der Freistellung festhalten. Was aber nicht ausschließt, dass man natürlich in einzelnen Fragen anders entscheidet. Da sind die Vereinigten Arabischen Emirate angesprochen worden, die keine Besteuerung kennen. Wir verhandeln sogar im Augenblick auch mit Katar, die auch keine direkten Steuern kennen. Wir wollen vermeiden, dass eine doppelte Nichtbesteuerung Platz greift. Ich sehe durchaus, dass ein ausländischer Wettbewerber gegenüber seinen deutschen Unternehmen wegen der Anrechnungsmethode Vorteile haben kann. Hier beißt sich die rein steuerpolitische mit der wirtschaftspolitischen Betrachtung. Das muss man ganz einfach abwägen. Das muss die Politik tun. Auch die Betriebsstätten hat Herr Schön mehrfach angesprochen. Auch hier gibt es eine sehr interessante Diskussion in der OECD. Übrigens ein Hinweis am Rande: Es gibt zwei Arbeitsgruppen, die sich mit der Betriebsstätte in der OECD befassen. Die eine entscheidet darüber, wann eine Betriebsstätte besteht, und die andere, wie hier aufgeteilt wird. Leider reden die Leute häufig nicht genug miteinander. Vor Kurzem ist mir das passiert. Da sollte etwas abgestimmt werden. Bis wir dann darauf hingewiesen haben, bitteschön, jetzt befasst doch mal wenigstens die andere Arbeitsgruppe damit, denn da gibt es auch noch andere Aspekte. Bei den Betriebsstätten geht es einmal um Verteilung, es geht aber auch um Bürokratie. Wir können kein Interesse daran haben, jede noch so kleine Aktivität zu einer Betriebsstätte zu erheben. Wir haben uns in der OECD aus deutscher Sicht damit nicht durchgesetzt. Es gibt jetzt wieder eine neue Diskussion in der OECD über Betriebsstätte und Subunternehmen. Wenn Sie ins Internet gucken, finden Sie bei der OECD die Vorstellungen niedergelegt. Wir müssen uns jetzt tatsächlich aus deutscher Sicht überlegen, ob wir gut daran tun, diesen engen Betriebsstättenbegriff auch weiterhin zu pflegen. Das heißt ja immer, dass die deutschen Unternehmen, die im Ausland tätig sind, dauernd mit dem Problem zu kämpfen haben, dass irgendein ausländischer Staat eine Betriebsstätte annimmt, wo wir noch lange keine an31

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nehmen würden. Aber umgekehrt, wenn ausländische Staaten in Deutschland sind, dann verneinen wir eine Betriebsstätte. Das muss man mittlerweile auch wegen der Haushaltswirkungen hinterfragen. Wenn Sie dann konkrete DBAs anschauen, gibt es ein zähes Ringen. Beim DBA mit der Türkei, das jetzt gerade unterschrieben ist, habe ich damals die Verhandlungen geführt. Da gab es ein wirklich zähes Ringen. Die Türkei wollte eine Dienstleistungsbetriebsstätte vereinbaren, Deutschland nicht. Dann fängt der Handel an. Wir haben schließlich der Dienstleistungsbetriebsstätte zugestimmt, aber gleichzeitig dafür gesorgt, dass wir an der Rentenbesteuerung teilhaben. Denn wenn Renten in Deutschland mit steuerlicher Wirkung aufgebaut worden sind, dann wollen wir natürlich auch daran beteiligt werden. Das sind Fragen, die im gegenseitigen Verhandeln ausgetragen werden müssen. Brasilien ist ein Problem. Wir haben nach wie vor kein Abkommen mit Brasilien. Und alle Versuche, diese Diskussionen wieder in Gang zu bringen, führen nicht weiter, weil Brasilien auf wahnsinnig hohen Quellensteuersätzen besteht. Das ist aus unserer Sicht völlig anachronistisch. Und sie haben auch ganz besonders eigenwillige Vorstellungen zu Verrechnungspreisen. Ich sprach es an. Dann komme ich zu multinationalen Abkommen. In der EU war das mal ein Thema, um auf diese Weise Treaty Shopping zu vermeiden. Aber die Diskussion ruht zumindest im Augenblick. Dann gibt es über die GKKB eine spannende Diskussion, die in Europa begonnen hat. Auch mit unseren Bundesländern haben wir eine Arbeitsgruppe. Natürlich, Herr Schön, da gebe ich Ihnen Recht, macht das nur als verpflichtende Regelung Sinn. Optional können wir uns da nicht für erwärmen. Es ist reizvoll, gleiche Rahmenbedingungen zu schaffen, weil das auch ein Standortvorteil für Europa sein kann. Und wenn wir uns die Eurokrise ansehen, die zeigt, dass es in einem Währungsraum nicht mehr möglich ist, über Wechselkurskorrekturen zu helfen, muss man sehen, dass die Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik gleichgeschaltet werden. Dafür ist diese GKKB eine gute Lösung. Aber ich wäre schon froh, wenn wir uns einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage nähern könnten. Bei der Konsolidierung, das haben Sie zu Recht angesprochen, da sind noch viele offene Fragen. In diesem Teil ist auch die Richtlinie, sagen wir mal, wesentlich schwächer als zum Teil der Bemessungsgrundlage. Da muss noch einiges geschehen.

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Als vorletzten Punkt möchte ich etwas zu Streubesitz sagen. Wir haben schon in anderem Zusammenhang darüber diskutiert. Ich hätte mir durchaus auch eine andere Entscheidung des EuGH dazu vorstellen können. Auf der anderen Seite muss ich sagen, ich habe jetzt in meinen Verhandlungen mit den Franzosen erfahren, dass diese auch eine Dividendenfreistellung und Veräußerungsgewinnfreistellung kennen, aber eine Mindestbeteiligung von 5 % verlangen. Wenn wir aufgrund dieser Entscheidung eine solche Grenze einführen würden, würde natürlich die Welt nicht zusammenbrechen, weil bei einer so kleinen Beteiligung das Ausschüttungsverhalten nicht von der Steuerbelastung abhängt. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass jede Mehrfachbelastung rein steuersystematisch nicht in Ordnung ist. Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf Fremdkapital und Eigenkapital. Ich könnte damit leben, dass die Gleichstellung von Fremdkapital und Eigenkapital nicht unbedingt kommt. Aber man muss natürlich Missbrauch in diesem Zusammenhang gezielt bekämpfen. Dabei halte ich persönlich – aber da unterscheide ich mich von vielen meiner Kollegen – die Zinsschranke nicht für die beste aller Lösungen. Aber auch das ist ein Thema mit den Franzosen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Bernhardt, es wird Sie sicher gefreut haben, dass Herr Schön gefordert hat, dass die Regelungen, wie immer sie auch kommen mögen, jedenfalls die Unternehmen nicht in ihren freien ökonomischen Entscheidungen behindern sollten. Aber es werden nicht alle Punkte so erfreulich gewesen sein. Bernhardt Da fange ich mit denen an, die mich gefreut haben. In der Tat kann man die Forderung nur voll unterstreichen, dass wir als Unternehmen in unserer Organisation und in der Weise, wie wir Geschäfte international tätigen, durch steuerliche Rahmenbedingungen möglichst nicht verzerrt und dann auch nicht in Entscheidungen behindert werden. Wenn ich auf einige andere Punkte noch eingehen darf, dann stellt sich natürlich die Frage, was für die Zukunft wirklich das Anknüpfungselement ist. Da kann ich dem Gedanken, den Herr Schön entwickelt hat, nur zustimmen: Es ist an der Kapitalinhaberschaft anzuknüpfen, um in Konzernen Synergien von Inlands- und Auslandsgesellschaften zu generieren und um die Freistellungsmethode damit zu untermauern. 33

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Das sieht man auch gerade in Situationen, wenn es um Bieterwettbewerbe bei M&A-Transaktionen geht. Dabei stellt sich die Frage, wer in welcher Art und Weise das zu erwerbende Unternehmen in seine steuerlichen Strukturen einbeziehen kann. Da ist dieser Punkt von entscheidender Bedeutung. Ich glaube, hier würde sich eine Parallelität des Wirtschaftslebens und der steuerlichen Anknüpfungselemente durchaus anbieten. Zum Thema Betriebsstätte möchte ich auch noch einige Anmerkungen machen. Man fragt sich manchmal, ob das Thema Betriebsstätte eigentlich für die Unternehmen wirklich von so großer Bedeutung ist. Ich frage mich das vor dem Hintergrund, ob man mit Betriebsstätten oder Tochterkapitalgesellschaften arbeitet. Das wird sicherlich in den Branchen sehr unterschiedlich gehandhabt. Wir haben uns kürzlich im Chemieverband im Steuerausschuss darüber ausgetauscht. Große deutschstämmige Konzerne neigen dazu, im Ausland mit Tochterkapitalgesellschaften zu arbeiten. Das kann man schon ganz einfach damit erklären, dass konzernintern in den IT-Strukturen und in vielen anderen Bereichen einfacher mit dem Organisationsmodell Tochterkapitalgesellschaften gearbeitet werden kann. So ist auch der mind set im Unternehmen. Ich habe manchmal bei steuerlichen Fachveranstaltungen den Eindruck, dass Betriebsstätten oft auch deswegen in einem gewissen Fokus stehen, weil sie steuerrechtlich etwas „sportlichere“ Ansprüche stellen. Das betrifft insbesondere diejenigen Betriebsstätten, die man nicht geplant hat, sondern in die man durch besondere Umstände oder auch „Unfälle“, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, hineingeraten ist, in die man also langsam hineinschlittert und bei denen man am Ende gar nicht genau weiß, ob man in einer Betriebsstätte angekommen ist oder nicht. In diesem Bereich werden die Probleme nicht abnehmen, sondern tendenziell zunehmen. Ich glaube, dass dort in der Tat Regelungen, die zu einer Gleichbehandlung führen, sehr angebracht sind, damit man letztlich von der Frage freigestellt wird, ob man eine Betriebsstätte oder eine Tochtergesellschaft gründen will. Man sollte die Entscheidung eigentlich aus eigenen organisatorischen Überlegungen treffen können. Die steuerlichen Fragen sollten nicht im Vordergrund stehen. Ich kann verstehen, Herr Müller-Gatermann, dass Sie die Gegenläufigkeit sehen, was wir in Deutschland machen und was umgekehrt im Ausland passiert, und dass Sie daher für eine Gleichbehandlung werben. Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Beim letzten Punkt weiß ich nicht genau, ob ich ihn befürworten soll oder ob es ein Thema ist, an dem man sich „überhebt“. Er betrifft die 34

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gemeinsame Bemessungsgrundlage des Konzerns mit der Fragestellung, ob ich dann am Ende für hoch integrierte Konzerne nur noch eine Bemessungsgrundlage habe, aber mit Problemen behaftet in Zulieferverhältnissen mit Dritten. Für sehr hoch integrierte Konzerne kann man sich das durchaus vorstellen. Wie man es gestalterisch hinbekommen soll, mit vielen Staaten zu derartigen Regelungen zu kommen, weiß ich noch nicht. Wenn man ganz visionär denkt, dann ist das ein Thema für die Zukunft. Konzernintern ist das im Denkansatz nachvollziehbar. Die Wirtschaft, die betreffenden Mitarbeiter in den Konzernen, denken in Konzernkategorien. Für sie sind die rechtlichen Grenzen und die Steuerjurisdiktion in den unterschiedlichen Ländern eher ein Hindernis und ein Thema der Steuerabteilung. Abschließend halte ich das für ein hochinteressantes Denkmodell. In meiner letzten Bemerkung stimme ich auch Herrn Müller-Gatermann zu. Die BRIC-Staaten sind immer mehr zu beachten. Wir neigen noch zu sehr dazu, den Schwerpunkt unserer steuerlichen Diskussionen auf europäische Aspekte zu setzen. Wir müssen diese Themen möglichst schnell zur Seite legen, denn die BRIC-Staaten haben eine wirtschaftlich viel größere Bedeutung. Selbstverständlich müssen wir zu einer einheitlichen Regelung in Europa kommen, denn Europa ist letztlich wie eine Jurisdiktion im Wettbewerb mit Russland, mit China und auch einigen anderen Staaten zu sehen. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Punkt, auf den ich zum Schluss noch hinweisen wollte. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Bernhardt. Bei Betriebsstätten, haben Sie so schön gesagt, entscheidet man sich, ob man eine haben will oder nicht oder doch eine Tochtergesellschaft. Ich glaube, wenn man diese Entscheidungsmöglichkeit hat, kann man sich fast glücklich preisen. Das größere Problem, so habe ich auch den Vortrag von Herrn Schön verstanden, ist, dass man sozusagen in die Betriebsstätte hineinschlittert, weil die Anforderungen für eine solche immer weiter abgesenkt werden. In anderen Branchen sind die Verhältnisse problematischer. So hat etwa Herr Kaeser kürzlich in einem Vortrag darauf hingewiesen, dass in einem Konzern mit dem Geschäftsspektrum von Siemens in einer Vielzahl von Staaten Hunderte von Betriebsstätten existieren, und zwar nicht nur solche der Konzernmuttergesellschaft, sondern, sozusagen kreuz und quer, auch von fremden Landesgesellschaften. Derartige, durch das operative Geschäft bedingte Betriebsstätten sind im Vorhinein oft kaum planbar und später nur schwer zu administrieren. 35

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Bernhardt Das Problem verkenne ich nicht. Ich habe nur gesagt, dass in der Grundentscheidung die Reaktionen der Staaten von Ihnen richtig beschrieben wurden und dass in der Tat die Anforderungen immer niedriger angesetzt werden, sodass man sich vermehrt gezwungenermaßen mit den von Herrn Schön beschriebenen Themen auseinandersetzen muss, wenn man mit dem Grundansatz Tochterkapitalgesellschaft losmarschiert. Das verkenne ich nicht. Ich will in diesem Punkt nicht missverstanden werden. Prof. Dr. Lüdicke Könnten Sie sich mit der von Herrn Schön ins Gespräch gebrachten „Liefergewinnbesteuerung ab bestimmten Schwellen“ anfreunden? Bernhardt Wenn das wirklich das Kriterium wäre und wenn man das hinbekäme, wäre das sicherlich ein praktikabler Angang. Der ist dann zumindest planbar. Prof. Dr. Lüdicke Die Besteuerung müsste allerdings wohl auf Nettobasis stattfinden. Bernhardt Ja. Das sind dann die nächsten Themen. Prof. Dr. Schön Wenn ich da etwas zu sagen darf: Das ist auch einer der Gründe, weshalb man an eine Betriebsstätte relativ hohe Ansprüche stellen muss, um überhaupt einen Anknüpfungspunkt für eine Nettoberechnung eines Einkommens zu haben. Aber das ist in der integrierten Wirtschaft immer schwieriger zu handhaben, weil man dann eine fiktive Eigenständigkeit der Betriebsstätte aufbaut und letztlich alle Probleme in die Verrechnungspreise zwischen Stammhaus und Betriebsstätte transferiert. Ich fühle mich im Übrigen, Herr Müller-Gatermann, sehr bestätigt durch das, was Sie beschreiben. Weil das, was Sie mit den unterschiedlichen und abwägenden Abkommenspolitiken, etwa der BRIC-Staaten, 36

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schildern – ob diese mehr auf der Seite der Industriestaaten oder auf der Seite der Entwicklungsländer stehen –, deutlich macht, dass wir hier kein Einheitstableau entwerfen und nach abstrakten Vorstellungen die Dinge zuschneiden können. Wenn es dann aber gelingt, innerhalb der Abkommen Stetigkeit zu erzeugen und eine gewisse Bruchlosigkeit, dass dann nicht wieder tausend Unklarheiten, Brüche, Gestaltungsschwierigkeiten etc. entstehen, dann wäre man schon gut. Insoweit bin ich da immer ein bisschen skeptisch, wenn ich höre, dass wir die Servicebetriebsstätte gegen die Rentenbesteuerung eingekauft haben. Das ist noch nicht das, was ich mir unter einer wirklichen Strategie vorstelle. Prof. Dr. Lüdicke Herr Loschelder, was stellen Sie sich als Strategie vor? Dr. Loschelder Ich möchte gerne gleich einhaken bei dem von Herrn Professor Schön aufgezeigten Ansatz einer Besteuerung von Lieferungen und Leistungen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass unterschiedliche Formen wirtschaftlicher Betätigung grundsätzlich gleich behandelt werden sollen. Es soll für die steuerlichen Folgen keinen Unterschied machen, welche Betätigungsform ein Unternehmer wählt. Oder umgekehrt: Der Unternehmer soll die Art und Weise seines wirtschaftlichen Handelns nicht an irgendwelchen steuerlichen Konsequenzen ausrichten müssen. Wenn ich mir dagegen den aktuellen § 49 EStG anschaue mit seiner verwirrenden Fülle unterschiedlicher Anknüpfungsmomente für die Begründung einer beschränkten Steuerpflicht im Inland und die schon ewig andauernde Diskussion um willkürliche Besteuerungsunterschiede zwischen den einzelnen Einkunftsarten und um Besteuerungslücken, die sich daraus ergeben, dann wäre ein solches Ergebnis sicherlich sehr erstrebenswert. Die erste Frage, die ich mir nun aber stelle, lautet: Wie lässt sich das praktisch umsetzen? Wenn ich Ihren Kontinuitätsansatz, Herr Professor Schön, richtig verstehe, wollen Sie kein völlig neues Konzept einer beschränkten Steuerpflicht, sondern Sie wollen auf dem bestehenden Konzept aufsetzen. D. h., wir würden beispielsweise § 49 EStG um einen weiteren Tatbestand „Besteuerung von Lieferung und Leistung“ im Abs. 1 Nr. 2 ergänzen. In diese Richtung weist auch Ihr Beitrag im vorletzten Heft der IStR, in dem es um die Besteuerung verbundener Un37

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ternehmen in Form von „Monopolrenten“ oder „Synergierenten“ u. Ä. geht.1 Die nächste Frage lautet dann: Welche Konsequenzen ergeben sich für den Gesetzesvollzug? Lieferungen und Leistungen sind sehr flüchtige Momente, die keinen dauerhaften Bezug zum Inland voraussetzen. Wie kann ich also bei einem entsprechenden Besteuerungstatbestand sicherstellen, dass solche Vorgänge steuerlich auch tatsächlich erfasst werden? Das Reizwort, das hier im Hintergrund lauert, ist die Gefahr eines strukturellen Vollzugsdefizits. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Problematik, wie ich in einem solchen System den einzelnen Einnahmen Aufwendungen zuordnen kann, wenn ich tatsächlich als einzigen Inlandsbezug des unternehmerischen Handelns eine Lieferung oder eine Leistung im Inland habe? Und schließlich: Wenn ich tatsächlich an solche Vorgänge anknüpfe, ist das, was Sie da entwerfen, Herr Professor Schön, eigentlich noch eine Einkommensteuer? Oder transformiert dann die beschränkte Steuerpflicht in eine – wie auch immer ausgeformte – Transaktionssteuer oder fast in eine Form von Umsatzsteuer? Prof. Dr. Schön Ich bin richtig glücklich über die Fragen, weil sie zeigen, dass die Botschaft angekommen ist. Aber schauen Sie mal, das Betriebsstättenprinzip kennen wir im § 49 EStG, viele andere Staaten kennen das nur auf DBA-Ebene. Die haben in ihren nationalen Steuerrechten einen Zugriff auf alle Einkünfte aus Lieferungen und Leistungen, die auf ihrem Territorium ausgeführt worden sind. Die USA sind dafür ein klassisches Beispiel. Der Betriebsstättenbegriff wirkt dort überhaupt erst auf DBAEbene. Wir besteuern auch ohne Betriebsstätte im Bereich künstlerischer, sportlicher, zum Teil auch beratender Leistungen. Die ganze Ausweitung des Bereichs der Servicebetriebsstätte ist doch eigentlich nur der Versuch, das durch die Hintertür einzuführen. Was ich mir nur wünsche, ist eine offene Diskussion darüber, worauf wir eigentlich hinauswollen. Wenn man sich zu einer Besteuerung grenzüberschreitender Leistungen versteht, ist die Frage der Nettoberechnung des Gewinns mit das größte Problem, weil insbesondere ganz viele overhead-Kosten und andere mittelbare Kosten eine Rolle spielen. Ich stelle aber nur fest, dass man zum Beispiel bei einer Ver_____________ 1 Schön, IStR 2011, 777–782.

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triebsbetriebsstätte dieselben Probleme antrifft, wenn die Eingangspreise berechnet werden. Die Umsatzsteuer ist insoweit sogar hilfreich, weil man möglicherweise an den nach dem Bestimmungsland im Inland steuerpflichtigen Umsätzen anknüpfen kann, um zunächst das Steuerobjekt festzustellen, aber man muss natürlich zu irgendeiner Form von Abzügen kommen. Aber das Problem haben wir auch bei grenzüberschreitenden Zinsen oder Lizenzgebühren. Das Problem ist nicht gelöst. Man muss sagen, das einfachste internationale Steuerrecht würde natürlich darin bestehen, dass man auf alle Arten von Quellensteuern und auf alle Arten von Belastungen verzichtet und nur bei der einen Person, dem einen Unternehmen die zusammengefasste integrierte Leistungsfähigkeit erfasst. Aber darauf werden sich die Quellenstaaten nicht einlassen. Und deswegen soll mein Ansatz helfen, eine gemeinsame Linie zu entwickeln. Prof. Dr. Gosch Nun ist ja schon so viel gesagt worden. Ich will nicht zu viel ergänzen. Herr Schön, mich hat der große Bogen beeindruckt, den Sie in den Positionen 2 bis 6 Ihrer Darbietung geschlagen haben. Dort haben Sie gesagt, dass wir all diese ganzen Prinzipien haben, das Leistungsfähigkeitsprinzip, das objektive Nettoprinzip, das Quellenprinzip, den Äquivalenzgedanken usw. Aber all diese Prinzipien sind sehr stark zu relativieren. Ich kann das aus Sicht der Rechtsprechung nur unterfüttern. Sie wissen, dass wir im BFH sehr nachhaltig darum ringen, was denn nun mit den Treaty Overrides passiert, was deren weiteres Schicksal ist. Da berührt ganz nachhaltig das Problem der Leistungsfähigkeit. Denn das Treaty Override baut auf der abkommensrechtlichen Freistellung auf. Da diese Freistellung eine virtuelle ist, droht eine sog. Keinmalbesteuerung. Das Treaty Override will durchweg eine solche Keinmalbesteuerung verhindern. Damit stellt es wiederum die Gleichbehandlung mit anderen unbeschränkt Steuerpflichtigen her, die mit dem Welteinkommen besteuert werden. Es wird allerdings außer Acht gelassen, dass jene Steuerpflichtigen in einem ganz anderen Regelungszusammenhang agieren. Sie arbeiten eben nicht im Ausland und ihnen steht keine Steuerfreistellung zu. Richtigerweise muss deswegen die Vergleichsgruppe eine andere sein: Derjenige Steuerpflichtige, der unter den Voraussetzungen des Freistellungs-DBA im Ausland arbeitet, muss mit eben solchen Personen verglichen werden. 39

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Man sieht daran, dass in der Tat starke Relativierungen vorzunehmen sind. Sie ziehen daraus die Konsequenz, Herr Schön, dass wir dann aber auf dem Grundsatz der Kontinuität versuchen müssen, den Boden zu finden. Man könnte natürlich auch ketzerisch sagen, dass, wenn man die Gewerbesteuer nicht hätte, auch die Bundesrepublik schon als eine Steueroase anzusehen ist. Vielleicht ließe sich auf die Körperschaftsteuer ganz verzichten und ein völlig anderer Weg einschlagen, etwa dadurch, dass man den Steuerzugriff auf Lieferungen und Leistungen erstreckt. Denn die Körperschaftsteuer ist von ihrem Aufkommen her klein geworden. Sie liegt derzeit, wenn ich das richtig sehe, in der Größenordnung der Tabaksteuer. Was die Umsetzung anbelangt: Wo greift man zu? Wo setzt man an? Sie haben es erwähnt und ich hatte es mir auch notiert. Der § 49 EStG ist in seinem Katalog weit über das hinausgegangen, was früher nur die Betriebsstätte als territorialen Zugriff ermöglicht hat. Ich denke nur an die Diskussion über das sog. floating income, also solche unternehmerischen Aktivitäten, die ohne konkrete inländische Betriebsstättenverortung daherkommen. Der Gesetzgeber hat darauf bekanntlich reagiert, indem er den Zugriffskatalog des § 49 Abs. 1 Nr. 2 EStG beständig ergänzt und fortschreibt. Wir haben dort, glaube ich, jetzt schon eine Position lit. g. Mit anderen Worten: Es geht darum, andere territoriale Zugriffsobjekte zu finden. Wenn Sie die Ausweitung des Betriebsstättenbegriffs im Rahmen des AOA ansprechen und auch die berechtigte Forderung stellen, dass es in gewisser Weise Sinn macht, Betriebsstätten und Tochtergesellschaften gleich zu behandeln, dann erlauben Sie mir nur anzumerken, dass das dann aber auch wirklich der Umsetzung im nationalen Recht bedarf. Denn das sind virtuelle Positionen, fiktive Positionen, und solche bedürfen nach Art. 20 Abs. 3 GG einer tatsächlichen Rechtsgrundlage, um den Eingriff zu rechtfertigen. Daran „hapert“ es häufig; die strikte und stringente Umsetzung derartiger Fiktionen in nationales Recht wird vernachlässigt oder misslingt aus gesetzeshandwerklicher Sicht. Manchmal scheitert der Gesetzgeber da schon bei einfacheren Versuchen. Ich sage nur § 50d Abs. 10 EStG, Herr Müller-Gatermann, den Sie natürlich jetzt gerne als Beispiel angeführt bekommen. Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, betrifft § 8b KStG und Streubesitz. Naturgemäß hat jeder damit gerechnet, wie der EuGH nun tatsächlich entschieden hat – außer, Herr Müller-Gatermann, außer vielleicht Ihnen. 40

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Müller-Gatermann Gerechnet habe ich damit. Prof. Dr. Gosch Ich will nur eines dazu sagen. Der BFH hat sich in seiner viel diskutierten und viel kritisierten Entscheidung I R 53/072 sicherlich ein wenig um das eigentliche Problem herumgewunden, indem er gewissermaßen einen „Ausweg“ über die sog. Amurta-Klausel gesucht und auch gemeint hat, diesen Ausweg in casu beschreiten zu können. Was besagt das und worin besteht konkret dieser Ausweg? Der EuGH3 belässt die Möglichkeit einer Rechtfertigung für den Verstoß gegen die Kapitalverkehrs- oder auch die Niederlassungsfreiheit für den Ausnahmefall, dass zwei Staaten sich bilateral auf die Verantwortung für die Gleichbehandlung, für die Entlastung von der Quellensteuer verständigen. Diese Verantwortung kann auf den anderen Vertragsstaat übertragen werden; der Quellenstaat kann sich auf diese Weise entpflichten. Wenn man das bilateral „ordentlich“ tut, dann geht das in Ordnung. Nur: Ordentlich tun, das ist gar nicht so einfach und lässt sich nicht ohne Weiteres bejahen. Es genügt hierfür nicht, dass man sich auf eine auf Höchstbeträge begrenzte Anrechnung verständigt. Der Ansässigkeitsstaat muss einen full tax credit gewähren, nicht bloß einen ordinary tax credit. Daran scheitert das zumeist. Aber wie dem auch sei: Die Entscheidung des EuGH gründet auf dem Prinzip der Kapitalverkehrsfreiheit. Und das bedeutet: Sie greift „worldwide“, also unter Einbeziehung sog. Drittstaaten, jedenfalls dann, wenn man die Kapitalverkehrsfreiheit bei prinzipiell „beherrschungsneutralen“ Regelungen, wie sie hier in Rede stehen, nicht als durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt ansieht. Ob Letzteres richtig ist, ist allerdings, das sei nicht verschwiegen, immer noch hoch umstritten. Die von mir vertretene Rechtsauffassung wird vom BFH4 geteilt, nicht aber von der Finanzverwaltung. So oder so relativiert der EuGH die Drittstaatenwirkung der Kapitalverkehrsfreiheit aber doch wieder, nämlich dadurch, dass er den Kreis der Rechtfertigungsgründe weiter zieht, beispielsweise durch den Aspekt einer umfassend verstandenen Steueraufsicht, eines umfassenden Informationsaustauschs. Bei ‚echtem‘ Streubesitz wird aber auch das kaum weiterhelfen. Bedarf es in einer solchen Situation tatsächlich besonderer Kon_____________ 2 BFH v. 22.4.2009 – I R 53/07, BFHE 224, 556, im BStBl. bislang nicht veröffentlicht. 3 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-379/05 – Amurta, Slg. 2007, I-09569, IStR 2007, 853. 4 BFH v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFH/NV 2009, 849.

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trollmechanismen oder besonderer steueraufsichtsrechtlicher Maßnahmen? Wahrscheinlich nicht. Wenn man das aber in Abrede stellt, wirkt der Freiheitsverstoß, wie gesagt, grenzenlos. Möglicherweise könnte das den Gesetzgeber veranlassen, die Steuerfreistellung nach § 8b KStG in breiter Front – also für In- wie Auslandskonstellationen gleichermaßen – zu reduzieren. Müller-Gatermann Zum Abschluss möchte ich noch etwas sagen, weil wir auch intensiv über DBAs gesprochen haben. Bei all diesen rechtlichen Überlegungen müssen Sie berücksichtigen, dass Sie sich über etliche Streitpunkte verständigen müssen. Das ist wie bei Verträgen im Wirtschaftsleben. Schließlich bleiben irgendwelche Dollpunkte auf beiden Seiten. Und dann können Sie sagen, wir kommen halt nicht zusammen, wir müssen ja auch keinen Vertrag haben, oder Sie sagen, wir raufen uns zusammen. So banal ist das. Die Alternative ist schlecht, denn die Alternative wäre, kein DBA zu haben. Prof. Dr. Schön Nur zwei Sätze: Als erstes, Herr Gosch, würde ich mich dagegen wehren, zwischen guten und schlechten Treaty Overrides zu unterscheiden. Die Verfassungsfragen, die dahinter stehen, sind weit diskutiert, aber zu sagen, der eine Treaty Override, den mögen wir, weil er irgendwie so ein bisschen leistungsfähigkeitsorientierter ist und der andere nicht, das wird nicht laufen. Das Zweite ist, da gebe ich Ihnen Recht, dass die Betriebsstättenproblematik dann nochmal stärker angegangen werden müsste, auch im nationalen Steuerrecht. Ich will nur nochmal darauf hinweisen, dass wir wirklich zwei Betriebsstättenbegriffe brauchen. Herr Lüdicke hat kürzlich in einem Vortrag gefragt, wie man eigentlich an diese ganzen winzigen Betriebsstätten, von denen jetzt geredet wird, überall den Art. 15 OECD-MA mit der inländischen Lohnsteuer der dabei Beschäftigten anschließen soll. Und das auf die Jahre rückwirkend festzustellen, das kann es nicht sein. Genauso, ich habe Herrn Sasseville5 mal gefragt, ob er eigentlich auch auf das berühmte Maler-Beispiel6 im Art. 5 OECD-MA den authorised _____________ 5 OECD. 6 Vgl. Tz. 4.5 OECD-MK zu Art. 5 OECD-MA.

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approach anwenden will. Das würde bedeuten, diesen Maler, und zwar nur für die Tage, an denen er sich im Staat, wo er malt, aufhält, wie eine selbstständige Körperschaft zu behandeln. Da hat er gesagt, das könne natürlich nicht sein bzw. das würde irgendwie ganz einfach auf Null gerechnet oder was auch immer. Aber das sind die Ergebnisse, zu denen man kommt. Herr Müller-Gatermann, Sie haben es gesagt, das ist das Ergebnis, wenn eine Arbeitsgruppe den Art. 5 OECD-MA macht und eine andere den Art. 7 OECD-MA macht.

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Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff1 und Dr. Harald Schießl2 Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 B. Die Zusammenarbeit von Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof und Finanzgerichte) und dem Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorlagepflicht des Bundesfinanzhofs und Vorlagerecht der Finanzgerichte . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung . . . . . . . . . 2. Durchsetzung der Vorlageverpflichtung vor dem Bundesverfassungsgericht . . II. Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufgabenteilung zwischen Bundesfinanzhof und Gerichtshof der Europäischen Union . . IV. Vorabentscheidungsersuchen und Vorlagepraxis des Bundesfinanzhofs . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Europäisches Steuer-Richterrecht und seine Umsetzung . . . . . . . . . . I. Vorgaben des EuGH und Spielräume der Mitgliedstaaten . . . . II. Methoden der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung in nationales Recht . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 10 EGV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Gebot des effektiven und äquivalenten Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Unionsrechtskonforme Auslegung, Rechtsfortbildung, Anwendungsvorrang . . . . . . . 55 D. Finanzgerichtsbarkeit zwischen unionsrechtlichem Anwendungsvorrang und nationaler Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Modifizierte Anwendung nationaler Normen – normerhaltende Reduktion – sachverhaltsbezogene Umsetzungen im Einzelfall . . . . . . . . . . . . II. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . III. Normerhaltende Reduktion im Spannungsverhältnis mit dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Neue Entwicklungen beim Steuerrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . II. Entscheidung des EGMR vom 1.4.2010 – 12852/08 . . . . . III. Anhängige Verfahren und Entscheidungen – Kurze Bestandsaufnahme . . . . . . . . . .

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F. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

_____________ 1 Präsident des Bundesfinanzhofs, München. 2 Wiss. Mitarbeiter beim Bundesfinanzhof.

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Mellinghoff/Schießl – Zusammenwirken nat. und europ. Gerichte im Steuerrecht

A. Einführung Das Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht realisiert sich insbesondere in den Vorlagen des Bundesfinanzhofs in Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg. Hingegen spielt das Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nur eine untergeordnete Rolle. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) dient das in Art. 267 AEUV geregelte Vorabentscheidungsverfahren „der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten“3. Der Bundesfinanzhof (BFH) erweist sich bei den Vorabentscheidungsersuchen unionsweit als Spitzenreiter. Er hat von 1952 bis November 2011 insgesamt 277 Ersuchen an den EuGH vorgelegt4, weit mehr als jedes andere Gericht in der Europäischen Union. Auf dem zweiten Rang folgt der Hoge Raad der Niederlande mit rund 200. Der Sinn des Vorabentscheidungsverfahrens ist es, die einheitliche Anwendung und Geltung des Unionsrechts zu gewährleisten, indem die Befugnis zur letztverbindlichen Auslegung und Ungültigerklärung von Unionsrecht allein der europäischen Gerichtsbarkeit zugewiesen ist. Die Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Union Juliane Kokott unterscheidet „drei Phasen der Zusammenarbeit“5: 1. Identifizierung der unionsrechtlichen Fragestellung im Ausgangsrechtsstreit und Formulierung des Vorlagebeschlusses. 2. Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH. 3. Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits durch das innerstaatliche Gericht unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH. In meinem Vortrag möchte ich – anknüpfend an die einschlägige Rechtsprechung – auf die Umsetzungsprobleme eingehen, die sich aus Sicht des Bundesfinanzhofs ergeben. _____________ 3 Vgl. u. a. EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-343/90 – Lourenço Dias, Slg. 1992, I-4673, Rz. 14; v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rz. 30 und die dort zitierte Rechtsprechung; sowie v. 18.3.2004 – Rs. C-314/01 – Siemens und ARGE Telekom, Slg. 2004, I-2549, Rz. 33; v. 21.2.2006 – Rs. C-152/03 – Ritter-Coullais, Slg. 2006, I-1171, Rz. 13. 4 Siehe das im Internet veröffentlichte Jahrbuch des Europäischen Gerichtshofes für 2010 unter der Adresse http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7000/ Punkt 20; Stichwort Deutschland und aktuelle Abfragen in juris. 5 Kokott/Henze, in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (280).

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B. Die Zusammenarbeit von Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof und Finanzgerichte) und dem Gerichtshof der Europäischen Union Das Vorabentscheidungsverfahren steht im Mittelpunkt des Zusammenwirkens von Bundesfinanzhof und EuGH. Für den Bundesfinanzhof besteht dabei unter bestimmten Voraussetzungen eine Vorlageverpflichtung, die von den Steuerpflichtigen erforderlichenfalls auch mithilfe des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt werden kann (I.). Auf zwei Ausnahmen von dieser Vorlageverpflichtung möchte ich besonders hinweisen (II.). Dem Vorlageverfahren liegt eine klare Aufgabenverteilung zwischen BFH und EuGH zugrunde (III.). Auf einige Schwerpunkte in der Vorlagepraxis möchte ich kurz hinweisen (IV.).

I. Vorlagepflicht des Bundesfinanzhofs und Vorlagerecht der Finanzgerichte 1. Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung Für die durch das Vorabentscheidungsersuchen erfolgende Kooperation zwischen dem EuGH und der Finanzgerichtsbarkeit sind feste „Spielregeln“ vorgesehen. Der BFH als letztinstanzlich entscheidendes Gericht6 muss danach den EuGH anrufen, wenn ihm in einem anhängigen Verfahren eine Frage gestellt wird – über die Auslegung der Verträge, – über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union und der Europäischen Zentralbank oder – über die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen, soweit diese Satzungen dies vorsehen und er eine Entscheidung über eine solche Frage zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält (sog. Entscheidungserheblichkeit).7 Die Vorlagepflicht soll verhindern, dass eine solche Frage „in einer nationalen Sackgasse endet“ und sich „in einem Mitgliedstaat eine Recht_____________ 6 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839, Rz. 16 f.; BFH v. 31.10.1990 – II R 176/87, BFHE 162, 374, BStBl. II 1991, 161. 7 Dazu und zum Folgenden siehe auch Spindler in Fachkongress 20.10.2006, Steuerberaterkammer Stuttgart, 9 (13 f.).

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sprechung bildet, die mit dem Unionsrecht nicht in Einklang steht“8. Eine Vorlagepflicht nur des BFH und nicht der Finanzgerichte genügt dazu in aller Regel9, weil der BFH die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Deutschland sichert. Im Eilverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO besteht für den BFH nur ein Vorlagerecht, aber keine Vorlagepflicht. Im einstweiligen Rechtsschutz wird geprüft, ob bei summarischer Prüfung ernstlich zweifelhaft ist, dass das von der Finanzbehörde angewandte Steuergesetz gegen das Unionsrecht verstößt. Hierbei handelt es sich um eine vorläufige Einschätzung und nicht um eine endgültige Entscheidung über die europarechtliche Frage.10 2. Durchsetzung der Vorlageverpflichtung vor dem Bundesverfassungsgericht Die Vorlageverpflichtung kann der Steuerpflichtige vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Solange II-Beschluss11 entschieden, dass der Gerichtshof der Europäischen Union gesetzlicher Richter i. S. d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für die Entscheidung über die Gültigkeit und Auslegung des Unionsrechts ist. Aber nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt einen Verstoß gegen das Grundgesetz dar12. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar, also willkürlich sind.

_____________ 8 EuGH v. 22.2.2001 – Rs. C-393/98 – Gomes Valente, Slg. 2001, I-1327, Rz. 17; v. 4.11.1997 – Rs. C-337/95 – Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rz. 25. 9 Zum Ausnahmefall der Ungültigerklärung von Unionsrecht siehe EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Rz. 15. Der EuGH hat allen Gerichten eine Vorlagepflicht auferlegt, wenn sie das Unionsrecht für ungültig halten. 10 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz Rz. 16 (Stand: Mai 2011). 11 BVerfGE 73, 339, unter B.I.1.a. 12 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NJW 2010, 3422; BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, BB 2011, 563.

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In der Literatur wird dieser Willkürmaßstab gelegentlich kritisiert, weil er den Fachgerichten einen zu weiten Spielraum gibt.13 Die Vorlageverpflichtung werde nicht wirksam durchgesetzt. Trotz dieser Kritik und auch mit Blick auf eine vereinzelte Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts14 hat der Zweite Senat in der HoneywellEntscheidung vom 6.7.201015 an diesem Maßstab festgehalten. Es würde auch der Aufgabenverteilung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit widersprechen, wenn das Bundesverfassungsgericht in jedem einzelnen Fall die steuerrechtliche Rechtslage voll überprüfen und seinen Wertungsspielraum an die Stelle des Fachgerichts setzen würde. Vielfach stellt sich die Frage, ob die Vorgaben des Europarechts dem nationalen Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum belassen, dessen verfassungsgemäße Ausfüllung vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen ist. Auch in diesem Fall fordert das Bundesverfassungsgericht, dass im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem Europäischen Gerichtshof die Entscheidung überlassen bleibt, ob ein solcher Auslegungsspielraum besteht. Ausgangspunkt für diese Entscheidung war die vom Finanzgericht Sachsen-Anhalt nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG erfolgte Vorlage des Investitionszulagengesetzes 1996 an das Bundesverfassungsgericht. Das Finanzgericht wollte eine Klärung, ob der in einer Norm vorgesehene rückwirkende Ausschluss der Gewährung einer Investitionszulage verfassungswidrig ist. Diesem Ausschluss lag eine Entscheidung der Europäischen Kommission zugrunde. Das Bundesverfassungsgericht verwarf die Vorlage des Finanzgerichts als unzulässig, da es die Rechtsschutzkompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht beachtet hat. Stellt sich einem Finanzgericht die Frage der Vereinbarkeit eines für sein Verfahren entscheidungserheblichen, aus dem Unionsrecht abgeleiteten Gesetzes mit den Grundrechten, ist es zunächst die Aufgabe des Fachgerichts – gegebenenfalls durch eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1 AEUV – zu klären, ob das Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt.16 Diese Vorlagepflicht gilt unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist. Erst wenn dieser Spielraum feststeht, kann das den Gestaltungspielraum ausfüllende Gesetz der _____________ 13 14 15 16

Vgl. z. B. Meilicke, BB 2000, 17 (21). BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268 (1269). BVerfGE 126, 286. BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, DStR 2011, 2141 auf die Vorlagefrage des FG Sa.-Anh. v. 20.2.2007 – 1 K 290/01, DStRE 2009, 940.

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Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen und damit überhaupt eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht in Betracht kommen.

II. Ausnahmen von der Vorlagepflicht Aber es gibt auch Ausnahmen von der an sich bestehenden Vorlagepflicht. Nach der Rechtsprechung des EuGH17 kann ein an sich vorlageverpflichtetes Gericht von einem Vorabentscheidungsersuchen zu einer entscheidungserheblichen Frage absehen, wenn – es feststellt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union eine Rechtsfrage bereits beantwortet oder Unionsrecht als ungültig verworfen hat (sog. acte éclairé), oder wenn – bei Auslegungsfragen die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (sog. acte clair). Der Bundesfinanzhof darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn er „überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“. Die ohnehin restriktiv formulierte zweite Ausnahme greift nur ein, wenn es um die Gültigkeit von Unionsrecht geht. Nationale Gerichte dürfen nur entscheiden, dass sie einen Unionsrechtsakt zweifelsfrei für gültig halten.18 Der Gerichtshof hat im Dezember 2005 klargestellt, dass die Verpflichtung, ihm eine Frage nach der Gültigkeit von Bestimmungen des Unionsrechts vorzulegen, selbst dann fortbesteht, wenn der Gerichtshof entsprechende Bestimmungen eines anderen, vergleichbaren Unionsrechtsakts bereits für ungültig erklärt hat und das nationale Gericht deshalb an der Ungültigkeit der von ihm zu beurteilenden Bestimmung keine Zweifel hat.19 Gosch hat auf die Praxisprobleme und Unsicherheiten des Richters mit der acte clair-Doktrin hingewiesen20 und beispielhaft berichtet, dass der Erste Senat des BFH in der Sache Lidl Belgium zunächst durch Gerichtsbescheid durcherkannt habe. Der BFH habe sich dazu berufen gefühlt, das zu Tochter-Kapitalgesellschaften ergangene EuGH-Urteil _____________ 17 18 19 20

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Grundlegend EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T. u. a., Slg. 1982, 3415. Vgl. EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 – IATA, NJW 2006, 351, Rz. 28 f. EuGH v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 – Gaston Schul, HFR 2006, 416. Gosch, Ubg 2009, 73 (76).

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Marks & Spencer eins zu eins auf Betriebsstätten umzusetzen. Der EuGH habe dies bestätigt, nachdem der BFH dann doch „auf Nummer sicher“ gegangen sei und den EuGH angerufen habe.

III. Aufgabenteilung zwischen Bundesfinanzhof und Gerichtshof der Europäischen Union Das Vorabentscheidungsersuchen ist ein Verfahren, das nicht auf einem hierarchischen Instanzenzug, sondern einer funktionsteiligen Zusammenarbeit gleichrangiger Rechtsprechungsorgane beruht: Das nationale Gericht entscheidet kraft der ihm durch das nationale Recht übertragenen Rechtsprechungsgewalt autonom über alle Rechtsfragen, die nicht dem EuGH vorbehalten sind, also z. B. – – – –

das anzuwendende nationale Recht, ob Unionsrecht entscheidungserheblich ist, über die Anwendung des Unionsrechts auf den Einzelfall und ob und wann es den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersucht.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hingegen entscheidet nach Art. 267 Abs. 1 AEUV autonom darüber, – ob das Unionsrecht gültig ist und – wie das Unionsrecht auszulegen ist.21 Eine – für die vorlegenden Gerichte erfreuliche – Konsequenz des vom EuGH erklärten „Geistes der Zusammenarbeit“ ist, dass sich der Gerichtshof zwar grundsätzlich für berechtigt hält, im Rahmen seiner Entscheidung auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 267 AEUV zu prüfen, weil es nicht seine Aufgabe sei, allgemeine oder hypothetische Fragen zu beantworten, sondern zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen.22 Er legt jedoch bei der Prüfung der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens einen sehr großzügigen Maßstab an. Im Regelfall geht er davon aus, dass „das vorlegende Gericht, das allein über die unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts verfügt, die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils am besten beurteilen kann“, und beantwortet selbst bei erheblichen Zweifeln an der Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsersuchens die gestellten _____________ 21 Dazu und zum Folgenden siehe auch Spindler in Fachkongress 20.10.2006, Steuerberaterkammer Stuttgart, 9 (13 f.). 22 EuGH v. 3.2.1983 – Rs. 149/82 – Robards, Slg. 1983, 171, Rz. 19.

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Fragen.23 Unzulässige Vorlagefragen formuliert er regelmäßig in zulässige Vorlagefragen um. Fragen nach der Anwendung des Unionsrechts oder des nationalen Rechts auf den Einzelfall lässt er in seiner Antwort offen, weil die Beurteilung entsprechender Fragen den nationalen Gerichten obliegt.24 Er lehnt es lediglich dann ganz ab, über eine von einem nationalen Gericht gestellte Frage zu befinden, wenn „offensichtlich“ ist, dass die Frage in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechts steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.25

IV. Vorabentscheidungsersuchen und Vorlagepraxis des Bundesfinanzhofs Der Bundesfinanzhof hat – wie bereits erwähnt – 277 Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.26 Thematisch betreffen 34 Vorlagen die direkten Steuern, 64 Vorlagen die indirekten und 179 Vorlagen das Zoll- und Marktordnungsrecht. Der Schwerpunkt liegt daher in den harmonisierten Rechtsbereichen der Umsatzsteuer und des Zoll- und Marktordnungsrechts. Die Finanzgerichte haben – seit die Vorlagen in juris dokumentiert werden, und damit seit 1967 – 298 Ersuchen an den Gerichtshof gestellt.27 Die Bedeutung des EuGH für das Steuerrecht wird auch anhand folgender Zahlen deutlich. Allein in den letzten 12 Monaten hat der EuGH europaweit unter Einbeziehung der Vertragsverletzungsverfahren 92 Finanzstreitigkeiten entschieden, davon 20 im Bereich der direkten Steuern, 34 im Bereich der indirekten Steuern, davon wiederum 29 im Bereich der Umsatzsteuer, und auf das Marktordnungsrecht, Verfahrensrecht und die sonstigen Steuern entfielen immerhin noch 16 Rechtssachen. _____________ 23 Vgl. z. B. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155, Rz. 43. 24 Z. B. EuGH v. 15.12.2005 – Rs. C-151/04, C-152/04 – Nadin-Lux u. a., Slg. 2005, I-11215, Rz. 32. 25 Vgl. z. B. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rz. 61. 26 Stand: 17.11.2011. 27 Stand: 17.11.2011. Die Anzahl bezieht sich lediglich auf die in juris dokumentierten Vorlagen der Finanzgerichte. Die wirkliche Gesamtzahl ist wohl größer.

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Aktuell ist beispielsweise ein Vorabentscheidungsersuchen des BFH zur Höchstbetragsberechnung gemäß § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG anhängig.28 Streitig ist, in welchem Umfang die ausländische Quellensteuer auf die deutsche Einkommensteuer angerechnet werden muss. Dem liegt vereinfacht folgender Sachverhalt zugrunde: Die Kläger erzielten im Streitjahr 2007 Kapitaleinkünfte u. a. aus Dividenden an ausländischen Beteiligungen. Im Ausland wurde eine Quellensteuer einbehalten. Die Kläger erzielen darüber hinaus auch anderweitige Einkünfte. Bei der Veranlagung wurden die Dividenden nach den entsprechenden Doppelbesteuerungsabkommen (vgl. Art. 10 OECD-Musterabkommen) in Deutschland, dem Ansässigkeitsstaat, besteuert. Gemäß § 34c Abs. 1 EStG rechnete das Finanzamt lediglich die anteilige ausländische Quellensteuer an. Nach § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG 2002 ist die auf die ausländischen Einkünfte entfallende deutsche Einkommensteuer in der Weise zu ermitteln, dass die sich bei der Veranlagung des zu versteuernden Einkommens – einschließlich der ausländischen Einkünfte – ergebende deutsche Einkommensteuer im Verhältnis dieser ausländischen Einkünfte zur Summe der Einkünfte aufgeteilt wird. Die Summe der Einkünfte errechnet sich gemäß § 2 Abs. 3 EStG 2002 aus dem Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Dabei beeinflussen Abzugsbeträge (Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen etc.) sowie der Grundfreibetrag die Höhe der deutschen Einkommensteuer. Diese Abzugsbeträge werden somit anteilig den ausländischen Einkünften zugerechnet und vermindern letztlich das Volumen der Berücksichtigung ausländischer Steuern. Ob diese verhältnismäßige „Teilhabe“ der ausländischen Einkünfte an den Abzugspositionen im Rahmen der Höchstbetragsberechnung zur Begrenzung der Anrechnungsbeträge (§ 34c Abs. 1 EStG) den europarechtlichen Anforderungen des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots uneingeschränkt standhält, hält der BFH für zweifelhaft.

C. Europäisches Steuer-Richterrecht und seine Umsetzung Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat einen weit reichenden Einfluss auf das nationale Steuerrecht. Auch wenn die Vor_____________ 28 BFH v. 9.2.2011 – I R 71/10 (Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH – Rs. C-168/11).

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gaben der Rechtsprechung darauf angelegt sind, Spielräume der Mitgliedstaaten zu bewahren (I.) hat der EuGH weit reichende Forderungen zur Umsetzung des Europäischen Unionsrechts aufgestellt (II.).

I. Vorgaben des EuGH und Spielräume der Mitgliedstaaten Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV (ex Art. 220 Abs. 1 EGV) sichert der Gerichtshof der Europäischen Union die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge EUV und AEUV. Er hat ein Auslegungs- und Interpretationsmonopol hinsichtlich des Unionsrechts. Die nationalen Gerichte sind zugleich europäische Gerichte mit eigener Verantwortung für die einheitliche und wirksame Anwendung des Unionsrechts.29

II. Methoden der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung in nationales Recht Über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, das Gebot des effektiven Rechtsschutzes und die Forderung nach unionsrechtskonformer Auslegung wirkt die Rechtsprechung des EuGH aber weitreichend auf das nationale Recht ein. 1. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 10 EGV) Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergreifen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen aus den Verträgen. Die Summe der aus Art. 4 Abs. 3 AEUV für die Mitgliedstaaten und damit auch für die Finanzgerichtsbarkeit resultierenden Pflichten lässt sich zusammenfassend mit dem Begriff „der Grundsatz der Unionstreue“30 charakterisieren. Aus dieser Norm wurde vom Gerichtshof zum Beispiel die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts und die Pflicht zum effektiven Vollzug des Unionsrechts hergeleitet. Im Zusammenhang mit der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass „die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EG [nun: Art. 4 Abs. 3 AEUV], alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder _____________ 29 Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633. 30 Vgl. Zuleeg, NJW 2000, 2846.

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besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt [obliegt], und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch den Gerichten“31. 2. Gebot des effektiven und äquivalenten Rechtsschutzes Aus Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 10 EGV) hat der Gerichtshof für den mitgliedstaatlichen Vollzug von Unionsrecht auch zwei Grundregeln entwickelt, die bei der Rechtsanwendung zu beachten sind: Zum einen das Äquivalenzprinzip und zum anderen den Effektivitätsgrundsatz. Unter Äquivalenzprinzip ist zu verstehen, dass der Vollzug des Unionsrechts genauso gehandhabt werden muss wie der Vollzug rein nationalen Rechts.32 Es dürfen keine Unterschiede gemacht werden. Nur so ist eine Gleichbehandlung der Betroffenen und eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts gewährleistet. Nach dem Effektivitätsgrundsatz darf die Anwendung nationalen Rechts die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dahingehend beeinträchtigen, dass dessen Verwirklichung übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich wird.33 3. Unionsrechtskonforme Auslegung, Rechtsfortbildung, Anwendungsvorrang Das Unionsrecht wirkt schließlich auf weiteren Wegen auf die nationale Finanzrechtsprechung ein. Bedeutsam ist zunächst das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung, das sich auf alle Rechtsakte des Unionsrechts einschließlich Empfehlungen bezieht.34 Danach „ist es Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche unionskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“35

_____________ 31 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 – Paola Faccini Dori/Recreb SRL, Slg. 1994, I-3325, 3357 Rz. 26. 32 EuGH v. 21.9.1983 – Rs. C-205/82 bis C-215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH u. a., Slg. 1983, 2633. 33 EuGH v. 21.9.1983 – Rs. C-205/82 bis C-215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH u. a., Slg. 1983, 2633. 34 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. C-322/88 – Grimaldi, Slg. 1989, 4407, Rz. 18. 35 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. C-157/86 – Murphy, Slg. 1988, 673, Rz. 11.

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Ein Fall zur unionsrechtskonformen Auslegung ist das Urteil Stauffer.36 Voraussetzung für die Steuerfreiheit einer in Deutschland beschränkt steuerpflichtigen italienischen Stiftung war, dass die Stiftung „staatlich beaufsichtigt“ im Sinne des § 62 AO a. F. sei. Unionsrechtskonform legte der BFH das Erfordernis „staatlich“ so zugunsten der Kläger aus, dass es sowohl die inländische als auch die ausländische staatliche Aufsicht umfasse, sofern sie der deutschen in ihren wesentlichen materiellen Vorgaben entspreche. Die Revision war begründet. Sie führte zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG, damit es die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachholen konnte. Die richtlinienkonforme Auslegung kann als Sonderform der unionsrechtskonformen Auslegung bezeichnet werden.37 Die Steuerrichter prüfen, ob das nationale Umsatzsteuergesetz dem Unionsrecht, insbesondere der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie oder vorher der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, entspricht. Wenn das nationale Recht unklar ist, wird es, wenn möglich, anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie richtlinienkonform ausgelegt. Tritt eine Kollision zwischen nationaler Steuerrechtsnorm und dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht auf, setzt sich das Unionsrecht durch.38 Beim Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Steuerrecht handelt es sich um einen Anwendungsvorrang, der die Gültigkeit von entgegenstehendem deutschem Recht unberührt lässt.39 Bei einem Verstoß gegen Unionsrecht kann eine Norm, soweit ihre Anwendung keinen Unionsbezug hat, weiter angewendet werden.

D. Finanzgerichtsbarkeit zwischen unionsrechtlichem Anwendungsvorrang und nationaler Gesetzesbindung Widerspricht eine steuerrechtliche Regelung dem Unionsrecht, stellt sich die drängende Frage, wie zu verfahren ist. Weil nationale unionswidrige Vorschriften nicht anwendbar sind, entsteht eine Regelungslücke im nationalen Steuerrecht. Mögliche Folgen wären die Nicht_____________ 36 BFH v. 20.12.2006 – I R 94/02, IStR 2007, 27, im Anschluss an EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-386/04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203, IStR 2006, 675. 37 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, 103. 38 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 – Costa/Enel, Slg. 1964, 1251. 39 Ehlers, DVBl 1991, 605 (608 m. w. N.).

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besteuerung von Einkünften in Deutschland und das Leerlaufen von Normkomplexen.40 Der EuGH lässt dem Steuerrichter zwar einen weitgehenden Gestaltungsspielraum. Das erfordert vielfach jedoch eine modifizierte Anwendung nationaler Steuerrechtsnormen.

I. Modifizierte Anwendung nationaler Normen – normerhaltende Reduktion – sachverhaltsbezogene Umsetzungen im Einzelfall Der EuGH gibt keine Anleitung oder „Gebrauchsanweisung“ für die Korrektur der nationalen Vorschrift41 und sieht die Schließung der Lücke im zu entscheidenden Fall als Aufgabe des Fachgerichts an. So führt der EuGH in den Urteilen Lück von 196842 und IN.CO.GE ’90 u. a. von 199843 aus: „[…] das nationale Gericht [ist] vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Unionsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen […].“

Günter Hirsch beschreibt diese schwierige Aufgabe der nationalen Gerichte wie folgt44: „Das Einpassen der normativen Wirkungen des Unionsrechts in nationale Gegebenheiten und Besonderheiten obliegt […] der Auslegungskunst des Richters bei der Entscheidung des konkreten Falls.“

Diesen Auftrag setzt der Bundesfinanzhof in einer „unionsrechtskonformen und normerhaltenden Auslegung“ unter Berücksichtigung des jeweiligen Normenkomplexes und der sachverhaltsbezogenen Umstände des Einzelfalls um.45 Neben der bereits erwähnten Rechtsprechung des EuGH spricht für eine solche Auslegung auch, dass die völlige Nichtanwendung nationaler Steuerrechtsnormen und das Leerlaufen ganzer Normkomplexe in derartigen Fällen erhebliche Inländerdiskriminierungen hervorrufen würde, was im Hinblick auf Art. 3 GG problematisch _____________ 40 41 42 43

Vgl. Gosch, DStR 2007, 1553 (1554 f.). Ebenso Hey, StuW 2010, 301 (303). EuGH v. 4.4.1968 – Rs. 34/67 – Lück, EuGHE 1968, 364. Vgl. EuGH v. 22.10.1998 – Rs. C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE ’90 u. a., EuGHE 1998, I-6307 Rz. 21. 44 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.4.2006, S. 8. 45 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, IStR 2006, 826.

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wäre.46 Die richterliche Anpassung der Steuervorschriften bewirkt weder eine stärkere Belastung der Steuerpflichtigen noch enttäuscht es schützenwertes Vertrauen.47 Letztlich führt die Rechtsprechung des BFH zu einer Erstreckung der Normen für den Inlandssachverhalt auf den Auslandssachverhalt, in Einzelfällen aber auch zur Ergänzung oder Korrektur der innerstaatlichen Steuerrechtsnorm oder gar zum gänzlichen Wegfall der Verpflichtung.48 Exemplarisch ist das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23.2.2006 (Rs. C-253/05) in Sachen CLT-UFA49 zu nennen. Darin geht es um die steuerliche Benachteiligung der Betriebsstätte eines luxemburgischen Unternehmens gegenüber selbstständigen Tochtergesellschaften. Die Betriebsstätten wurden auch im Fall des Gewinntransfers an das Stammhaus mit einem einheitlichen Steuersatz von 42 % belastet, während Tochtergesellschaften den reduzierten Ausschüttungssteuersatz von 30 % in Anspruch nahmen. Der EuGH sah in dieser Diskriminierung einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Allerdings hat der EuGH nicht die ihm auch vom BFH gestellte Frage beantwortet, welcher Steuersatz unter den gegebenen Umständen in unionsrechtskonformer Weise für die Klägerin anzusetzen sei. Er hat dazu geurteilt, es sei „Sache des nationalen Gerichts, den Steuersatz, der auf die Gewinne einer Zweigniederlassung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuwenden ist, nach Maßgabe des Steuersatzes zu ermitteln, der im Fall der Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft insgesamt anzuwenden gewesen wäre“. Der Bundesfinanzhof ist in der Folge zu der Erkenntnis gelangt, dass es geboten sei, die Klägerin einem Steuersatz von 33,5 % zu unterwerfen. Diese Gesamtsteuerbelastung ergab sich aus einer Zusammenschau von Ausschüttungssteuersatz von 30 % und der Kapitalertragsteuer von 3,5 %.50 Der Bundesfinanzhof hat sich zur Ermittlung des Steuersatzes an den bestehenden Regelungen orientiert und sieht _____________ 46 Ebenso Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (296). 47 Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (296). 48 Rust, IStR 2009, 382 (384). 49 EuGH v. 23.2.2006 – Rs. C-253/03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831, IStR 2006, 200. 50 Berechnung: Kapitalertragsteuer in Höhe von 5 % der Ausschüttungen bei der Muttergesellschaft. Da aufgrund der Körperschaftsteuer bei der Tochter nur 70 % der Gewinne zur Ausschüttung zur Verfügung stehen, ergab sich ein Steuersatz von 70 % x 5 % = 3,5 %. Die Erhebung einer 5-prozentigen Quellensteuer wurde von der Mutter-Tochter-Richtlinie nach dem 30.6.1996 untersagt.

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sich als berechtigt an, „diesen Steuersatz im Wege einer nach Maßgabe des EuGH-Urteils unionsrechtskonformen und normerhaltenden Auslegung der zitierten einschlägigen Tarifregelungen unbeschadet deren insofern entgegenstehenden Wortlauts unter Benennung bestimmter (höherer bzw. niedrigerer) Steuersätze anzusetzen, nicht zuletzt deshalb, um eine mangels entsprechender ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen anderweitig gänzlich entfallende Besteuerung von Betriebsstätten ausländischer EU-Kapitalgesellschaften im Streitjahr zu vermeiden“.51 Ein weiteres Beispiel stellt der Fall Glaxo Welcome dar: Dass danach eine Wertminderung von Anteilen durch Gewinnausschüttungen bei der Gewinnermittlung nicht zu berücksichtigen ist (§ 50c EStG 1990), verstößt im Grundsatz nicht gegen Unionsrecht. Dem Steuerpflichtigen ist jedoch im Wege einer geltungserhaltenden Reduktion des Wortlauts des § 50c Abs. 4 Satz 1 EStG 1990 die Möglichkeit einzuräumen, den Nachweis zu erbringen, dass die Anschaffungskosten der Anteile eine Abgeltung eines Körperschaftsteuerguthabens an den nicht anrechnungsberechtigten Veräußerer der Anteile nicht einschließen.52 Ebenso stellt der Fall Scorpio53 ein Beispiel dar: Nach dem BFH ist § 50a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG 1990 in unionsrechtskonformer Weise so zu verstehen: Dem Vergütungsschuldner mitgeteilte Aufwandspositionen sind in dem vorgenannten Umfang bereits bei Vornahme des Steuerabzugs oder in einem ggf. nachfolgenden Haftungsverfahren zu berücksichtigen. Ansonsten bleibt es für den Vergütungsgläubiger bei dem Erfordernis, ein Freistellungs- oder Erstattungsverfahren einzuleiten und innerhalb dieses Verfahrens seine beschränkte Steuerpflicht zu klären. Ein Grund dafür, das Abzugs- und Haftungsverfahren innerhalb der Europäischen Union gänzlich unangewandt zu lassen, besteht hingegen nicht.54 Es genügt, den Tatbestand des Gesetzes in normerhaltender Weise zu reduzieren, die einschlägigen Regelungen aber als solche weiter anzuwenden.

_____________ 51 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, IStR 2006, 826. 52 BFH v. 3.2.2010 – I R 21/06, BStBl. II 2010, 692 (Anschluss an EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-182/08 – Glaxo Welcome, IStR 2009, 691). 53 BFH v. 24.4.2007 – I R 39/04, BStBl. II 2008, 95 (Anschluss an EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04 – Scorpio, DStR 2006, 2071). 54 Ebenso Entscheid des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs v. 19.10.2006 – 2006/14/0109, Beilage zur Österreichischen Steuerzeitung 2007, 117.

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II. Fallgruppen Sieht man sich die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs im Zusammenhang mit der Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands im Einzelnen an, so lassen sich im Bereich der direkten Steuern bildlich zumindest vier Fallgruppen55 unterscheiden: Fallgruppe 1: Erstreckung einer steuerentlastenden Norm auf Auslandssachverhalte Bei der Schließung einer „Lücke“ kommt es häufig zur Erstreckung einer steuerentlastenden innerstaatlichen Norm auf Auslandssachverhalte. Dies ist dann der Fall, wenn für einen innerstaatlichen Sachverhalt eine steuerliche Begünstigung gewährt wird, aber grenzüberschreitende Aktivitäten davon europarechtswidrig ausgeschlossen sind. So konnte der in der Beschränkung des Sonderausgabenabzugs auf Schulgeldzahlungen an inländische Schulen für die Streitjahre 1998 und 1999 liegende Verstoß gegen das Unionsrecht nur dadurch geheilt werden, dass auch Zahlungen an Schulen im übrigen Unionsgebiet als Sonderausgaben abzugsfähig sind, sofern durch die Höhe der gezahlten Beträge keine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird. § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG alte Fassung war nach Ansicht des Bundesfinanzhofs56 wegen des Anwendungsvorrangs des EG-Rechts normerhaltend57 europarechtskonform auszulegen. Dies führte dazu, dass das „europarechtswidrige Tatbestandsmerkmal“ nicht zu beachten ist, dass also dann, wenn die Schule im EU-Ausland zu einem im Inland ohne Abstriche anerkannten Schulabschluss führt, der Abzug des für den Besuch dieser Schule gezahlten Schulgeldes, also ohne Beträge für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung, dem Grunde nach in Betracht zu ziehen ist.58 _____________ 55 In der Literatur werden von Hey, StuW 2010, 301 (313) und von M. Lang in Festschrift für Joachim Lang, Köln 2010, 1016 ff. jeweils vier Fallgruppen gebildet, während Rust, IStR 2009 2009, 382 (384 ff.) fünf Fallgruppen unterscheidet, die m. E. jedoch teilweise deckungsgleich sind. 56 BFH v. 21.10.2008 – X R 15/08, BFH/NV 2009, 559 und EuGH v. 11.9.2007 – C-76/05 – Schwarz/Gootjes-Schwarz, Slg. 2007, I-6849, IStR 2007, 703. 57 Im Sinne der EuGH-Entscheidung in Slg. 2007, I-6849, DStR 2007, 1670 (vgl. auch BFH v. 20.9.2006 – I R 113/03, BFH/NV 2007, 220 zum Abzug von Steuerberatungskosten eines niederländischen Steuerpflichtigen). 58 BFH v. 21.10.2008 – X R 15/08, BFH/NV 2009, 559 (Vorinstanz FG Köln v. 14.2.2008 – 10 K 7404/01, EFG 2008, 677).

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Die Generalanwältin Kokott hat in ihren Schlussanträgen vom 13.12.2007 in der Rechtssache Marks & Spencer59 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Folgendes ausgeführt: „73. Zwar hat ein Mitgliedstaat die Wahl, wie er einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung für die Zukunft beseitigen will. Grundsätzlich kann er die Belastung für die eine Gruppe aufheben oder diese in gleicher Weise auf die andere ausdehnen. Für die Vergangenheit dürfte die nachträgliche Ausweitung der Belastung dagegen im Allgemeinen dem Grundsatz des Vertrauensschutzes zuwiderlaufen. 74. Wie der Gerichtshof außerdem in Fällen unionsrechtswidriger Diskriminierungen wiederholt entschieden hat, kann, solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, der Gleichheitssatz nur dadurch gewahrt werden, dass die Vergünstigungen, die die Mitglieder der begünstigten Gruppe erhalten, auf die Mitglieder der benachteiligten erstreckt werden. In einem derartigen Fall ist das nationale Gericht gehalten, eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es ihre vorherige Aufhebung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der anderen Gruppe gilt.“

Durch die Erstreckung einer steuerentlastenden Norm auf einen bereits verwirklichten Auslandssachverhalt zugunsten des Rechtsschutzsuchenden wird das Unionsrecht effektiv umgesetzt. Dies ist ein europarechtliches Gebot.60 Für die Vergangenheit kann der europarechtskonforme Zustand nur durch Ausweitung der Vergünstigung auf den Auslandsfall herbeigeführt werden.61 Bei der normerhaltenden Reduktion nationaler Steuervorschriften unterscheidet der Bundesfinanzhof allerdings nicht zwischen Sozialzwecknormen und sonstigen Steuernormen.62 Der Bundesfinanzhof achtet darauf, dass die geltungserhaltende Reduktion nicht zu einer eingriffsverschärfenden Extension einer Norm führen darf.63 So bietet der Umstand, dass aufgrund des Unionrechts bestimmte Betriebsausgaben abgezogen werden können, keine Handhabe, _____________ 59 Kokott im Schlussantrag v. 13.12.2007 – C-309/06 – Marks & Spencer, Slg. 2008, I-2283, Rz. 74 (nicht zu verwechseln mit C-446/03, IStR 2006, 19, bei der es um die Nutzung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften ging). 60 Gleiche Ansicht: Hey, StuW 2010, 301 (315); kritisch dagegen Gosch, Stbg 2009, 73 (78 f.). 61 Ebenso Rust, IStR 2009, 382 (384); Hey, StuW 2010, 301 (315). 62 So auch Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (296). 63 BFH v. 5.5.2010 – I R 104/08, BFH/NV 2010, 1814 unter II.2.f.

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den gesetzlich festgelegten Steuersatz zu überschreiten. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann zwar – wie im Fall des § 50a Abs. 4 Satz 4 EStG 1997 – ggf. zur geltungserhaltenden Reduktion einer nationalen Steuernorm führen, nicht aber zur eingriffsverschärfenden Ausdehnung einer an diese Norm anknüpfenden anderen Vorschrift. Im Einzelfall kann auch auf die allgemeinen Regeln über Auslandssachverhalte zurückzugreifen sein, wenn speziellere, für bestimmte Auslandssachverhalte geltende Sondervorschriften gegen Unionsrecht verstoßen.64 Ein Beispiel hierfür ist der Fall Gerritse.65 Der Gerichtshof hat in der Bruttobesteuerung von Künstlern gemäß § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG, der nach § 50 Abs. 5 Satz 1 EStG 1996 Abgeltungswirkung zukam, einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gesehen. So darf der beschränkt steuerpflichtigen Person der Abzug von unmittelbaren Erwerbsaufwendungen nicht versagt werden, wenn sie diese Ausgaben dem Vergütungsschuldner mitteilt. Dagegen scheidet die wahlweise Beantragung eines Veranlagungsverfahrens wie bei Steuerinländern aber aus.66 Bei steuerlichen Sozialzwecknormen wäre die Ausdehnung contra legem auf Gebietsfremde allerdings problematisch.67 So hat der BFH entschieden, dass es unionsrechtlich nicht geboten sei, einem unbeschränkt Steuerpflichtigen mit Wohnsitz im Inland Eigenheimzulage für ein Zweitobjekt im EU-Ausland zu gewähren.68 Soweit die Versagung der Eigenheimzulage für das im EU-Ausland gelegene Zweitobjekt Grundfreiheiten des Klägers beschränke, sei diese Beschränkung gerechtfertigt. In diesem Urteilsfall wird daher bereits ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten verneint. Fallgruppe 2: Nur eingeschränkte Erstreckung einer innerstaatlichen Steuerrechtsnorm auf Auslandssachverhalte Der Erstreckung einer für den Inlandssachverhalt geltenden günstigeren Steuerrechtsnorm auf Auslandssachverhalte liegt jedoch kein Automatismus zugrunde und sie unterliegt daher Grenzen. _____________ 64 Siehe BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BStBl. II 2008, 22 und Rust, IStR 2009, 382 (386). 65 EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-234/01 – Gerritse, Slg. 2003, I-05933, Rz. 43, 48; IStR 2003, 458. 66 BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BStBl. II 2008, 22. 67 Gleiche Ansicht: Gosch, DStR 2007, 1553 (1556). 68 BFH v. 20.10.2010 – IX R 20/09, BStBl. II 2011, 342.

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Solche Einschränkungen für die Umsetzung können vom EuGH in seinen Urteilen vorgegeben werden. Ein Beispiel hierfür stellt der allseits bekannte Fall Marks & Spencer69 dar. Nach britischem Steuerrecht konnten Verluste innerhalb der Unternehmensgruppe verrechnet werden, während eine Verrechnung mit Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften versagt wurde. Der EuGH sah in diesem Ausschluss der Verlustverrechnung grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Der Ausschluss sei lediglich dann unverhältnismäßig, wenn „die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes […] vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat und wenn keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt werden“. In Umsetzung dieser EuGH-Entscheidung haben daher die Gerichte und Behörden eine Verlustverrechnung zu untersagen, solange eine Nutzung der Verluste der Tochtergesellschaft im Ausland noch möglich ist. Es werden damit sachverhaltsbezogene Umsetzungen im Einzelfall ermöglicht. Nur wenn die Vorgaben des EuGH erfüllt sind, kommt es zu einer Verlustnutzung über die Grenze und damit zu einer Erweiterung. Mittlerweise hat der BFH für das nationale Recht entschieden, dass solche „finalen“ Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft – allenfalls – im „Finalitätsjahr“ bei der Muttergesellschaft abgezogen werden können.70 Fallgruppe 3: Weiteranwendung einer inländischen Norm auf Unionssachverhalte unter Hinzufügung eines Tatbestandsmerkmals Beispielhaft kann hierfür das Folgeurteil des Bundesfinanzhofs71 zu Columbus Container Services genannt werden. Darin ergänzte er die Vorschriften zur Hinzurechnungsbesteuerung um einen Motivtest. Der Sachverhalt stellte sich vereinfacht wie folgt dar: Bei einer als Kapitalanlagegesellschaft beurteilten Kommanditgesellschaft belgischen Rechts mit Sitz in Belgien, deren Gesellschafter in Deutschland ansässig waren, bezog das Finanzamt die Einkünfte aus Gewerbebetrieb unter Versagung der Freistellung, aber mit Anrechnung der in Belgien er_____________ 69 Siehe EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837. 70 BFH v. 9.11.2010 – I R 16/10, BFHE 231, 554. 71 BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, BStBl. II 2010, 774.

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hobenen Steuer, in die Bemessungsgrundlage der Steuer mit ein. Voraussetzung für die nach Ansicht der Finanzbehörde anwendbare Umschaltklausel des § 20 Abs. 2 AStG a. F. ist die fiktive Steuerpflicht der Einkünfte nach der Hinzurechnungsbesteuerung. Die in §§ 7 ff. AStG a. F. vorausgesetzte Typisierung eines gestaltungsmissbräuchlichen Verhaltens widersprach nach Ansicht des Bundesfinanzhofs den Anforderungen der unionsrechtlich verbürgten Niederlassungsfreiheit, weil sie dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eines Gegenbeweises im Einzelfall vorenthielt.72 Der BFH schloss daraus: „Allerdings wirkt sich der unionsrechtliche Anwendungsvorrang nicht dergestalt aus, dass von der Hinzurechnungsbesteuerung gänzlich abzusehen ist. Die unionsrechtlichen Erfordernisse sind vielmehr in die betroffenen Normen hineinzulesen […]. §§ 7 ff. AStG a. F. sind deshalb unionskonform und im Einklang mit den regelungsimmanenten Wertungen […] dahin zu interpretieren, dass dem Steuerpflichtigen der unionsrechtlich gebotene ‚Motivtest‘ über seine tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivitäten im Einzelfall zu gewähren ist. Dies deckt sich letztlich mit der Vorgehensweise der Finanzverwaltung vor der Neuschaffung von § 8 Abs. 2 AStG n. F. im BMF-Schreiben in BStBl. I 2007, 99.“

Im Rahmen des „Motivtests“ ist zu prüfen, ob die Gesellschaft einer „wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ nachgeht und nicht als „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung“ anzusehen ist. Diesen Motivtest bestand die Klägerin zweifelsfrei, sodass die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung und damit der Methodenwechsel nicht anwendbar waren. Eine solche Tatbestandsergänzung des Bundesfinanzhofs, um die unionsrechtskonform eingeschränkte Weiteranwendung belastender Regelungen zu ermöglichen, wird in der Literatur kritisiert.73 Es werde die durch den Vorbehalt des Gesetzes geschützte Vorhersehbarkeit des steuerlichen Eingriffs nicht mehr gewährleistet.74 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass diese Ergänzung sich im dargestellten Fall im Ergebnis zugunsten des Rechtsschutzsuchenden ausgewirkt hat. Das klageabweisende Urteil wurde aufgehoben und die angefochtenen Bescheide waren antragsgemäß zu ändern. Die Rechtslage, die sich ohne Berücksichtigung des Unionsrechts ergeben würde, wäre für den Steuerpflichtigen nachteiliger als die, die sich aufgrund des unionsrechtlichen An_____________ 72 Siehe auch BFH v. 29.1.2008 – I R 85/06, BFHE 220, 398, BStBl. II 2008, 671 m. w. N. 73 Siehe die Kritik bei Hey, StuW 2010, 301 (313); vgl. auch Jochum, IStR 2006, 621 (623). 74 So Hey, StuW 2010, 301 (314).

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wendungsvorrangs ergibt, d. h., insgesamt verbessert sich die Lage zugunsten des Steuerpflichtigen.75 Fallgruppe 4: Wegfall der Verpflichtung in Gänze, ohne dass eine andere Regelung an deren Stelle tritt Tritt eine steuerrechtliche Beschränkung nur bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ein, dann hilft dem Rechtsschutzsuchenden bereits der Wegfall dieser faktischen Erschwerung. So im Fall Futura/Singer76: Das Luxemburger Steuerrecht gewährte auch beschränkt steuerpflichtigen Gewerbetreibenden einen Verlustvortrag, sofern die Buchführung in Luxemburg geführt wurde. Das Erfordernis einer Buchführung in Luxemburg stelle nach Ansicht des Gerichtshofs einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit dar, weil es eine zweifache Buchführung, in Luxemburg und dem Sitzstaat, erfordere. Folglich wurde der der luxemburgischen Steuernorm vergleichbare nationale § 50 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. von der deutschen Finanzverwaltung und den Gerichten nicht mehr angewandt. Die Abhilfe zugunsten des Rechtsschutzsuchenden tritt in dieser Fallgruppe bereits mit dem gänzlichen Wegfall der Verpflichtung ein. Eine Erstreckung der den Inlandssachverhalt regelnden Vorschrift auf den Auslandssachverhalt würde keinen Sinn ergeben.

III. Normerhaltende Reduktion im Spannungsverhältnis mit dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Vorbehalt des Gesetzes Die normerhaltende Reduktion durch den BFH steht im Spannungsverhältnis mit dem Gewaltenteilungsprinzip und der durch den Vorbehalt des Gesetzes geschützten Vorhersehbarkeit des steuerlichen Eingriffs. In der Literatur wird teilweise die Ansicht vertreten, dass sich die Rechtsprechung – verfassungsrechtlich dem nationalen Gesetzgeber zustehende – Rechtsgestaltungskompetenz anmaße. Den Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip möge man noch verschmerzen im Hinblick auf einen hypothetischen Willen des nationalen Gesetzgebers, dem die eingeschränkte Anwendung vermutlich lieber sei als die vollständige Nichtanwendung. Nicht gewährleistet sei vor allem die Vorhersehbarkeit des steuerlichen Eingriffs.77 Der europarechtliche Rechtsschutz werde entwertet, weil der Steuerpflichtige der Schlechterstel_____________ 75 So auch M. Lang in Festschrift für Joachim Lang, Köln 2010, 1003 (1023). 76 EuGH v. 15.5.1997 – Rs. C-250/95 – Futura/Singer, Slg. 1997 I, 2492 (2499 ff.). 77 Hey, StuW 2010, 301 (314).

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lung des Auslandssachverhalts nur entgehen könne, wenn er vorsorglich und quasi ins Blaue hinein jene Maßnahmen ergreife, die vom BFH im Nachhinein verlangt werden. So hat z. B. Heike Jochum in einem Aufsatztitel die Frage explizit gestellt: „Gestattet das europäische Unionsrecht eine „geltungserhaltende Reduktion“ des nationalen Steuerrechts?“78 Sie hat dies verneint. Dem wird entgegengehalten, dass es sich nicht um eine freie Rechtsschöpfung, sondern um methodisch gebundene Lückenfüllung handele. Kritisch mit der Rechtsprechung des BFH geht auch Gosch um.79 So führt er aus: „[…] im Irrgarten oftmals etwas sphinxhafter EuGH-Rechtsprechung und instabil gewordenen nationalen Rechts eine Schneise zu finden, die der acteclair-Doktrin Rechnung trägt und ein Höchstmaß an Regelungsbestand im Inland belässt und gleichwohl nicht im methodischen Niemandsland verschwindet. Ein Unterfangen, das kaum zu meistern ist. So ganz wohl ist mir dabei nicht. Vor allem die methodischen Ansätze sind grenzwertig und entspringen eher einer Staatsräson. Verträgt sich eine Regelungslage im Detail nicht mit europarechtlichen Anforderungen, dann greift der Anwendungsvorrang. Ob für eine abschmelzende Normerhaltung Raum bleibt, ist ungewiss. Eigentlich ist die Grenze dessen erreicht, was Rechtsprechung zu leisten in der Lage ist.“

E. Neue Entwicklungen beim Steuerrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Wenn man über das Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte spricht, sollte man den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht vergessen.

I. Allgemeines Der Gerichtshof ist allerdings bei der Begründung steuerlicher Rechte aus der EMRK bislang sehr zurückhaltend.80 Nach der Rechtsprechung des EGMR fallen öffentlich-rechtliche Ansprüche im Rahmen von Streitigkeiten über das Steuerschuldverhältnis nicht in den Schutzbereich des Art. 6 EMRK.81 Ebenso erlangten andere Artikel der EMRK _____________ 78 Jochum, IStR 2006, 621. 79 Gosch, Ubg 2009, 73 (76). 80 Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz, Rz. 63 (Stand: Mai 2011). 81 Siehe ausf. Seer/Krumm, StuW 2006, 346, 348 m. w. N.

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in der Rechtsprechung kaum Bedeutung. Das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK habe nach ständiger Rechtsprechung keine eigenständige Bedeutung und die durch die Besteuerung erfolgenden Eingriffe in das Recht auf Eigentum nach Art. 1 des Zusatzprotokolls werden regelmäßig als gerechtfertigt eingestuft.82 Da das Recht auf Wahl der einkommensteuerlichen Zusammenveranlagung mit der Folge der Anwendung des Splittingtarifs kein von der EMRK anerkanntes Recht darstellt, ist die Versagung dieses Rechts für den Kläger als eingetragenen Lebenspartner nicht völkerrechtswidrig.83

II. Entscheidung des EGMR vom 1.4.2010 – 12852/08 Neue Entwicklungen sind allerdings im Kindergeldrecht zu beobachten. In der Entscheidung des Gerichtshofs vom 1.4.2010 geht es um die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK in Kindergeldsachen nach dem EStG im Fall einer überlangen Verfahrensdauer. In dem zugrunde liegenden finanzgerichtlichen Verfahren machte der Beschwerdeführer einen Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter geltend. Er rügte die Dauer des Verfahrens von über 12 Jahren. Das Verfahren war von den Sozialgerichten an die Finanzgerichte verwiesen worden und durchlief jeweils zwei Instanzen in zwei Gerichtszweigen.84 Nach bisheriger ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehören Steuersachen zum Kernbereich hoheitlicher Befugnisse, wobei der öffentliche Charakter der Beziehung von Steuerzahler und Union überwiegt. Folglich fallen steuerrechtliche Streitigkeiten nicht in den Bereich der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen, obwohl sie notwendigerweise finanzielle Auswirkungen auf den Steuerzahler haben.85 Das Argument der Regierung, bei der Kindergeldsache nach dem EStG handele es sich um eine steuerrechtliche Angelegenheit, die nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK falle, überzeugte den Gerichtshof jedoch nicht. Das nach dem EStG gewährte Kindergeld kann als Sozialleistung charakterisiert werden. Es ging im innerstaatlichen _____________ 82 Vgl. EGMR, NJW-RR 2009, 1606; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz, Rz. 63 (Stand: Mai 2011). 83 Vgl. hierzu auch BFH v. 23.2.2006 – III B 44/05, BFH/NV 2006, 1297. 84 EGMR v. 1.4.2010 – 12852/08, juris. 85 Siehe Ferrazzini ./. Italien, [GK], Individualbeschwerde Nr. 44759/98, Rz. 29, ECHR 2001-VII.

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Verfahren allein um die Frage, ob dem Beschwerdeführer das monatlich gezahlte Kindergeld zustand; die Frage war nicht, ob dem Beschwerdeführer ein noch günstigerer Steuerfreibetrag zustand. Die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf Verfahren über ein solches Kindergeld ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn das Kindergeld – wie im vorliegenden Fall – aufgrund einer steuerrechtlichen Regelung gewährt wird bzw. im Nachhinein aus steuerrechtlichen Gründen ein noch günstigerer Steuerfreibetrag an seine Stelle treten kann.86

III. Anhängige Verfahren und Entscheidungen – Kurze Bestandsaufnahme Aktuell sind vier Verfahren im Bereich der direkten Steuern aus Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig: (1) Zum einen wurde wegen der Nichtgewährung des Haushaltsfreibetrags an Verheiratete nach § 32 Abs. 7 EStG für das Jahr 2003 eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK erhoben.87 Der Beschwerdeführer beruft sich auf das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens und das allgemeine Diskriminierungsverbot. (2) Zum anderen wird im Wege der Individualbeschwerde eine nicht sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung insoweit geltend gemacht, als dass der Entlastungsbetrag nach § 24b EStG zwar Alleinerziehenden gewährt wird, allerdings nicht Steuerpflichtigen, die die Voraussetzungen für eine Ehegattenveranlagung erfüllen.88 (3) Darüber hinaus wendet sich ein Beschwerdeführer mit Einkünften aus nicht selbstständiger Tätigkeit dagegen, dass die Vorschrift zur Steuerfreiheit der Abgeordnetenpauschale des § 3 Nr. 12 EStG nicht auch den Arbeitnehmern zugutekommt.89 (4) In einem weiteren Verfahren wird Rechtsschutz gegen die Pro futuroRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begehrt.90 Mit Beschluss vom 13.2.2008 hat das Bundesverfassungsgericht91 zu den Krankenver_____________ 86 87 88 89 90 91

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EGMR v. 1.4.2010 – 12852/08, juris. Az. beim EGMR 43576/09, juris. Az. beim EGMR 45624/09, juris. Az. beim EGMR 7258/11, juris. Az. beim EGMR 2795/10, juris. BVerfGE 120, 125–168.

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sicherungsbeiträgen entschieden, dass die Regelungen des Sonderausgabenabzugs (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 EStG in den ab dem Veranlagungszeitraum 1997 geltenden Fassungen) verfassungswidrig sind, soweit die erforderlichen Beiträge zu einer privaten Krankheitskostenvollversicherung und einer privaten Pflegepflichtversicherung nicht ausreichend erfasst werden, um dem Steuerpflichtigen und seiner Familie eine sozialhilfegleiche Kranken- und Pflegeversorgung zu gewährleisten. Um allerdings eine geordnete Finanzund Haushaltsplanung zu gewährleisten, hat das Bundesverfassungsgericht eine Fortgeltung der angegriffenen Vorschriften bis spätestens zum 31. Dezember 2009 angeordnet. Gegen diese Fortgeltung wendet sich der Beschwerdeführer.

F. Resümee Diese Darstellung zeigt, dass zwischen den europäischen Gerichten und der nationalen Finanzgerichtsbarkeit ein intensiver Dialog der Richter unter Einbeziehung der Ansichten der steuerberatenden Praxis, der Wissenschaft und aller Rechtsanwender stattfindet. So attestiert Seer92 dem BFH ausdrücklich: „Aus der Rechtsschutzperspektive […] ist anzuerkennen, dass sich der BFH als ‚europäisches Gericht‘ begreift und mit guten Erfolgsaussichten europarechtlichen Rechtsschutz gewährt.“

Das ist ebenso erfreulich wie Stellungnahmen in der Literatur, dass sich der BFH „methodisch auf sicherem Boden bewegt, wenn er das innerstaatliche Recht selektiv unangewendet lässt oder durch Rechtsfortbildung ergänzt, um die Entscheidungen des EuGH umzusetzen“.93

_____________ 92 Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz, Rz. 13 (Stand: Mai 2011). 93 Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (295).

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Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff Präsident des Bundesfinanzhofs, München

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Mellinghoff, haben Sie ganz herzlichen Dank. Ich habe während Ihres Vortrags an die Zeit vor etwa 10 oder 12 Jahren zurückgedacht. Wir waren damals in der „heißen“ Phase des Europarechts. Der EuGH hatte im großen Umfang angefangen, über Steuerrechtsnormen der verschiedenen Mitgliedstaaten zu entscheiden, weil ihm sehr viele Fragen nach der Bedeutung der Grundfreiheiten für das Steuerrecht vorgelegt worden waren. In diesem Saal hatten wir hitzige Diskussionen, auch ganz grundsätzliche darüber, ob denn eine solche Verlagerung der Entscheidungsgewalt über das Steuerrecht angängig sei. Viele hielten dies für eine schlimme Entwicklung; es wurde geradezu der Untergang des Abendlandes heraufbeschworen. Im Vergleich dazu klang das, was Sie vorgetragen haben, sehr unaufgeregt. Inzwischen sind wir offenbar zur Tagesordnung übergegangen.

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Podiumsdiskussion: Zusammenwirken nat. und europ. Gerichte im Steuerrecht

Herr Gosch, betreiben wir nur noch Tagesgeschäft? Sind die durch den EG-Vertrag, heute AEUV, aufgeworfenen dogmatischen Fragen aus Ihrer Sicht weitgehend geklärt oder ist da immer doch noch vieles im Schwimmen? Prof. Dr. Gosch Da schwimmt noch so manches. Es lassen sich zwischenzeitlich sicherlich gewisse Verfestigungen, gewisse Konturen feststellen, unbeschadet der nach wie vor gegebenen Sphinxhaftigkeit vieler EuGH-Entscheidungen – dieses begriffliche Zitat aus meiner Feder1 haben Sie, Herr Mellinghoff, freundlicherweise aufgegriffen. Gleichwohl und trotz dieser Konturen verbleiben immer noch etliche offene Flanken und man muss sich deshalb davor hüten, in der einen oder der anderen Sachfrage allzu leichtfertig eine sogenannte acte-clair-Situation anzunehmen. Das hätte nahezu zwangsläufig einen Versteinerungseffekt zur Folge; dem EuGH würde die Chance genommen, seine Positionen zu überdenken und weiterzuentwickeln. Andererseits sollten bestimmte Fragen aber auch als beantwortet und die Diskussion als beendet angesehen werden können; eine unionsrechtliche Diskussion kann nicht endlos geführt werden. Zuweilen ist die Einschätzung allerdings schwierig. Es ist für den nationalen Richter immer eine gewisse Gratwanderung, ob er eine Sache dem EuGH nun vorlegen will oder – beim BFH – muss, oder ob er durcherkennt. Grund dafür ist, dass der EuGH sich oftmals eben nicht hinreichend klar dazu versteht, ob er seine Rechtsprechung aufgibt, ob er sie modifiziert oder ob er sie weiterentwickelt. Das lässt sich den EuGH-Entscheidungen oft nicht hinreichend klar entnehmen. Das Ganze bewegt sich immer ein bisschen in Richtung Kaffeesatzlesen. Auf dieser Erkenntnisbasis sogleich zum ersten Punkt: Herr Mellinghoff, ich habe Sie so verstanden und das habe ich mir auch vor Kurzem selbst noch einmal klargemacht: Grundsätzlich bleibt es wohl dabei, dass das BVerfG dem Fachgericht eine Art Wahlfreiheit gibt, entweder nach Art. 100 GG im Wege einer Normenkontrolle zum BVerfG vorzugehen oder aber ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Das entnehme ich jedenfalls der Entscheidung, die gegen das FG Sachsen-Anhalt ergangen ist.2 Aber diese Wahlfreiheit wird wohl dann zurückgefahren, wenn man sich der unionrechtlichen Frage nicht sicher sein kann oder sich ihrer nur dann sicher sein kann, wenn der EuGH _____________ 1 Ubg 2009, 73. 2 BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, DStR 2011, 2141.

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dem nationalen Gesetzgeber einen hinreichenden Gestaltungsspielraum belässt. Belässt er einen solchen Spielraum und ist man sich dessen gewiss, dann kann man das bei der Vorlage an das BVerfG im Rahmen des Art. 100 GG als Vorfrage im Rahmen der Entscheidungserheblichkeit dartun. Weiß man nicht genau, ob ein solcher Gestaltungsspielraum in Rede steht, dann ist das nationale Fachgericht gehalten, zunächst an den EuGH heranzutreten und dessen Entscheidung einzuholen. Mit anderen Worten: In der letzteren Situation besteht für ein Gericht eine Vorlageverpflichtung, und zwar auch für ein unterinstanzliches Gericht, unbeschadet dessen, dass Art. 267 AEUV insoweit keine Pflicht statuiert. Erst nach Einholung des EuGH-Votums ist dann der Rechtsweg in der gebotenen Weise ausgeschöpft, um eine Normenkontrolle zu rechtfertigen. Wie verhält sich dieses Rangverhältnis nun aber zu der schon angesprochenen acte-clair-Doktrin und zu dem Gebot des „gesetzlichen Richters“? Da bin ich mir nicht ganz darüber im Klaren, wie das BVerfG vorgeht. In der Molkenbuhr-Entscheidung3 von vor zwei Jahren hat man relativ harte Bandagen angezogen. Das BVerfG hat dort gesagt, es sei nicht nur das Willkürverbot, das das nationale Gericht in dieser Situation vor Augen haben müsse. Es müsse bei Absehen von einem EuGH-Vorabentscheidungsersuchen nach Auswertung des Gemeinschaftsrechts eine vertretbare Begründung dafür geben, dass die richtige Antwort auf die maßgebliche Rechtsfrage durch den EuGH bereits entschieden oder dass die Antwort offenkundig ist. Um eine acteclair-Situation anzunehmen, müsse das Gericht sich sicher sein, dass in allen Gerichten aller Nationalstaaten, aller Mitgliedstaaten diese Entscheidung auch so getroffen worden wäre, wie das nationale deutsche Gericht dies für richtig hält. In der Mangold-Entscheidung4 hat man das aus meiner Sicht dann wieder relativiert; das BVerfG hat darin in der Abgrenzung zwischen einem acte clair und der verbotenen Grenzüberschreitung ultra vires doch einen recht großen Spielraum belassen. Ich wäre dankbar, wenn dieser Punkt in unserer Diskussion noch etwas vertieft werden könnte. Den nächsten Stichpunkt, Herr Mellinghoff, haben Sie anhand der Rechtsprechung des I. Senats entwickelt. Es geht um die geltungserhaltende Reduktion oder das abschmelzende Hineinlesen oder was sonst für wunderbare Begriffe verwendet werden, um die Staatsraison zu ihrem Recht kommen zu lassen, und man im Ergebnis eigentlich nur verhin_____________ 3 BVerfG v. 6.5.2008 – 2 BvR 2419/06. 4 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286.

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dern will, dass ein völliges Leerlaufen der Besteuerung produziert wird. Die Zweifel, die man daran haben mag, gründen in der Frage, ob ein Fachgericht sich mit diesem Vorgehen nicht doch allzu weit in den Bereich des Gesetzgebers hineinbewegt, jedenfalls über seine eigentliche Aufgabe der Gesetzesauslegung hinausgeht. Es mag zwar noch angehen und einleuchten, wenn die angegriffene nationale Norm infolge des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs schlicht unanwendbar bleibt. Die Dinge gestalten sich aber deutlich komplexer, wenn ein Gericht diese Norm umdefinieren oder in diese Norm etwas ganz anderes als das, was da drinsteht, abschmelzend „hineinlesen“ muss, um dem Anwendungsvorrang zu genügen. Solche Bedenken habe ich persönlich vor allen Dingen dann, wenn es sich um steuerliche Subventionen oder Sozialzwecknormen handelt. Denn bei Subventionsnormen hat das zur Folge, dass jedes „kleine“ Gericht ebenso wie jedes Bundesgericht das Füllhorn einer Steuervergünstigung auf alle ausgießt, auf alle – auch auf jene, die kraft Normbefehls davon an sich ausgeschlossen sind. Das muss man sich vor Augen führen. Oder aber das nationale Gericht verweigert sich einer solchen Eigenmacht schlicht dadurch, dass es die unionsrechtlichen, grundfreiheitlichen Anforderungen schlicht ausblendet. So hat der IX. Senat des BFH5 – noch vor Ihrer Zeit als dessen Vorsitzender, Herr Mellinghoff – aus meiner Sicht eine sehr mutige und eher kritisch zu sehende Entscheidung getroffen. Es soll danach aus Unionsrechtssicht unbeanstandet bleiben, dass durch die Eigenheimzulage – Stichwort: Sozialzwecknorm – nur Inlandswohnraum begünstigt wird. Das ruft zumindest Widerspruch und einiges Stirnrunzeln hervor. Aber von einer derartigen „umgekehrten Eigenmacht“ einmal abgesehen: Ich habe mit Interesse letzte Woche gelesen, dass das BVerfG6 sich besagtem Anwendungsvorrang jetzt selber unterwirft. Das Gericht hat nämlich eine unionrechtswidrige Grundgesetznorm erkannt, und zwar in Art. 19 Abs. 3 GG, der den Grundrechtsschutz nach seinem klaren Wortlaut nur auf inländische juristische Personen erstreckt. Das hält das BVerfG – wohl zu Recht – nicht mehr für unionsrechtskonform und das sieht er zugleich als so klar an, dass es einer EuGH-Vorlage nicht bedürfe. Man höre: Auch das BVerfG hätte andernfalls aber wohl nach Art. 267 AEUV verfahren müssen. Zum Stichwort der Inländerdiskriminierung: Mit der sog. Inländerdiskriminierung kommt ein heikler Punkt ins Spiel. Es dünkt schon _____________ 5 BFH v. 20.10.2010 – IX R 20/09, BFH/NV 2011, 467. 6 BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BFH/PR 2012, 142.

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seltsam, wenn der Ausländer besser behandelt wird als der Inländer. Und deshalb ist einer solchen Situation eigentlich Art. 3 GG auf die Stirn geschrieben, aber der BFH7 hat da bislang eher vorsichtig taktiert und angenommen, es handele sich um verschiedene normsetzende Urheber – hier den deutschen Bundestag, dort die EU – und der eine müsse sich nicht die Rechtssetzung des anderen als gleichheitsverletzend zurechnen lassen. Ich bin skeptisch, ob das auf Dauer wirklich so stehen bleiben kann. Praktische Beispiele gibt es jedenfalls zuhauf: die doppelte Buchwertverknüpfung, der EAV, wenn er denn tatsächlich unionsrechtswidrig ist, usf. Das Letzte, was ich noch ansprechen möchte, hat einen ausländischen Bezug und stellt eine Verbindung zum Vortrag von Herrn Lang her. Es geht um eine Rechtslage in Österreich. Sie betrifft das österreichische EStG, dort in § 3, und das, was dort geregelt ist, deckt sich im Kern mit dem deutschen Auslandstätigkeitserlass8. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden unter bestimmten Voraussetzungen keiner Besteuerung unterworfen, wenn es sich um einen inländischen Arbeitnehmer handelt, der von einem inländischen Arbeitgeber in das Ausland „auf Montage“ geschickt wird. Wegen des strikten Inlandsbezugs droht wiederum die Unionsrechtswidrigkeit. Das hatte auch der Österreichische Verwaltungsgerichtshof so erkannt und er hat – unter Annahme einer acte-clair-Situation – entsprechend entschieden. Damit aber nicht genug: Zugleich hat er die Sache dem Österreichischen Verfassungsgerichtshof vorgelegt9 und einen Gleichheitsverstoß gerügt. Die Begründung lautet wie folgt: Wird die inkriminierte Regelung geltungserhaltend ausgeweitet und erstreckt sie sich nicht nur auf inländische Arbeitnehmer inländischer Arbeitgeber, sondern auch auf ausländische Arbeitnehmer ausländischer Arbeitgeber, dann ist die Norm ihres Sinns – der steuerlichen Förderung bestimmter Auslandstätigkeiten mit Inlandsbezug – beraubt. Der Schutz des inländischen Arbeitsmarktes ist dann gar nicht mehr gewährleistet. Die Begünstigung ist dann aber willkürlich, sie ist nicht mehr folgerichtig ausgestaltet und gewissermaßen „telos-frei“. Das Ganze ist gegenüber einem Arbeitnehmer, der im Inland für einen inländischen Arbeitgeber arbeitet, gleichheitswidrig. Und was tut nun das oberste österreichische Verfassungsgericht? _____________ 7 Z. B. BFH v. 15.7.2005 – I R 21/04, BStBl. II 2005, 716; v. 19.10.2011 – X R 48/09, BStBl. II 2012, 200. 8 BMF v. 31.10.1983 – IV B 6 - S 2293 - 50/83, BStBl. I 1983, 470. 9 Österr. VwGH v. 22.3.2010 – A 2010/0013.

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Das stimmt dem vorlegenden Gericht zu und hält die Steuerbefreiung allgemein für unanwendbar.10 Denkt man an das zu Ende, dann öffnet sich ein weites Feld. Auch in Deutschland haben wir mit Gewissheit einige ähnliche Regelungen, ich verweise nur nochmals auf die Eigenheimzulage, die bei richtigem Verständnis wohl doch unionsrechtswidrig ausgestaltet war. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Gosch. Herr Müller-Gatermann, ist die Finanzverwaltung inzwischen im Frieden mit den europarechtlichen Entwicklungen? Müller-Gatermann Ja, ich erinnere mich natürlich auch noch an heftige Diskussionen, als der EuGH oder auch einige nationale Gerichte die Grundfreiheiten für sich entdeckt hatten und quasi jeder Schuss ein Treffer in Luxemburg war. Das hat sich in der Tat völlig beruhigt. Das ging allerdings teilweise auch so weit, dass wir in England bei einer Zusammenkunft mit allen Mitgliedstaaten überlegt haben, was wir mit der EuGH-Rechtsprechung machen. Die Bulgaren und die Rumänen waren auch schon dabei, obwohl sie noch offiziell nicht Mitgliedstaaten waren. Es waren nicht nur die deutschen Haushalte, die in Gefahr gerieten. Entscheidend ist, dass der EuGH zuletzt durch den Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Steuerhoheit die nationalen Gemüter beruhigt hat. Das muss man, glaube ich, schon sagen. Ich meine, wir haben jüngst ein paar interessante Entscheidungen, aus denen wir Konsequenzen ziehen müssen, etwa die Streubesitzentscheidung11 oder die Entscheidung zur Exit Taxation12 von vorgestern, die uns natürlich auch interessiert, obwohl es niederländisches Recht ist. Aber da müssen wir wahrscheinlich auch Konsequenzen daraus ziehen. Prof. Dr. Lüdicke Die Frage der Exit Taxation, der Entstrickungsbesteuerung, sollten wir heute Nachmittag diskutieren. _____________ 10 Österr. VfGH v. 30.9.2010 – G 29/10-6, G 30/10-6, G 31/10-6, G 32/10-6, G 33/ 10-6, G 49/10-8, G 50/10-6, G 51/10-6, AFS 10/2010. 11 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09 – Kommission ./. Deutschland, FR 2011, 1112. 12 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus B.V., FR 2012, 25.

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Müller-Gatermann Natürlich ist da die Diskussion zum AOA in der OECD. Da muss man darüber nachdenken, wie das mit der Exit Taxation zusammengeht. Manches ist natürlich, Herr Lüdicke, wie das auch schon gesagt wurde, im Fluss, z. B. die finalen Verluste, das ist ganz klar. Eine Frage, die geht auch ein bisschen in Richtung dessen, was Herr Gosch gesagt hat, betrifft die Inländerdiskriminierung. Ich frage mich in der Tat, wie trotz dieser loyalen Zusammenarbeit, die Herr Mellinghoff angesprochen hat, am Beispiel der besonderen Dokumentationspflichten, die z. B. den deutschen Steuerpflichtigen, der im Ausland tätig ist, besonders belasten, das Zusammenspiel zwischen EuGH und BVerfG funktioniert. Der EuGH kommt jetzt nur mal fiktiv dazu, dass es da keine Rechtfertigung für gibt, das sei Verletzung der Grundfreiheiten. Dann wäre jetzt der deutsche Gesetzgeber gefordert, an dieser Stelle tätig zu werden. Jetzt allerdings taucht ein Problem auf, Vollzugsdefizite, Inländerdiskriminierung, möglicherweise ein Verfassungsverstoß. Da frage ich mich, würde sich dann das BVerfG wegducken und sagen, dass das eben noch gerade im Rahmen einer loyalen Zusammenarbeit geht, oder könnte dann das Verfassungsgericht sagen, wenn ich hier diese Dokumentationspflichten für grenzüberschreitende Vorgänge aus EU-rechtlicher Sicht wieder abschaffen müsste, dann habe ich einen Verfassungsverstoß. Was gilt denn nun? Das ist für mich eine spannende Frage. Es ist sicherlich ein fiktiver Fall. Ich hoffe, es kommt nie zu einer solchen Kollision. Aber ausschließen möchte ich sie nicht. Dr. Loschelder Ich knüpfe gleich an die letzte Frage an: Was gilt denn nun? Wie geht man auf der Ebene der Finanzgerichte mit dem Nebeneinander von nationaler Gesetzesbindung einerseits und europarechtlichem Anwendungsvorrang andererseits um? Die Konsequenzen, die sich aus diesem Nebeneinander ergeben, sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Handlungsspielräume, die dem Richter jeweils eingeräumt werden, sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Halten wir ein Steuergesetz für verfassungswidrig, müssen wir die entsprechende Norm dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, im Wege der konkreten Normenkontrolle. Es gilt das sog. Verwerfungsmonopol des BVerfG. Der einfache Fachrichter darf nicht selbst über die Nichtanwendung bzw. die Nichtgeltung einer Norm entscheiden. Halten wir dagegen ein Steuergesetz für unionsrechtswidrig, gilt der Anwendungs77

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vorrang des Unionsrechts. Die jeweilige Norm ist nicht anzuwenden – und darüber entscheiden die nationalen Gerichte selbst. Das Unionsrecht gibt uns Fachrichtern also weitaus mehr Kompetenzen – und damit auch mehr Verantwortung – als die nationale Rechtsordnung. Zu welchen Konstellationen das führen kann, möchte ich gerne an einem Beispiel verdeutlichen: Der Zollsenat des FG Hamburg hatte vor einigen Jahren über die Rückforderung einer Ausfuhrerstattung zu entscheiden. Es ging konkret um die Verjährungsfristen für den Rückforderungsanspruch der Zollverwaltung13. Der Zollsenat ging zugunsten der Klägerin von einer kurzen Verjährungsfrist aus, gab der Klage statt und hob den damit verjährten Rückforderungsbescheid der Zollverwaltung auf. Der BFH ließ die Revision zu und rief den EuGH in einer Reihe von Fragen an, die sich allerding nicht auf die konkrete Dauer der Verjährungsfrist bezogen.14 Der EuGH beantwortete die aufgeworfenen Fragen.15 Und der BFH kam in der Folge auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis, dass im Streitfall von einer langen Verjährungsfrist auszugehen sei und hob die erstinstanzliche Entscheidung des FG Hamburg auf.16 Allerdings konnte der BFH nicht durchentscheiden, weil im Hinblick auf die von ihm vertretene Rechtsauffassung noch weitere Tatsachenfeststellungen zu treffen waren. Also musste der BFH den Streitfall zurückverweisen nach Hamburg. Was passierte nun? Die Kollegen des Zollsenats gelangten im 2. Rechtsgang zu der Auffassung, dass die konkrete Dauer der Verjährungsfrist eine europarechtliche Frage sei, und legten das Ganze erneut dem EuGH vor. Der EuGH stellte fest: Ja, ihr habt Recht! Und also gab das Finanzgericht der Klage im Juni 2011 – entgegen der Revisionsentscheidung des BFH – erneut statt.17 Dieses Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Der Vorrang des Unionsrechts hat hier also dazu geführt, dass die Bindung des Instanzgerichts nach § 125 Abs. 6 FGO an die rechtlichen Vorgaben des Revisionsgerichts ausgehebelt worden ist. Jetzt kann man sich fragen: Ist das die natürliche Folge der mangelnden Abgestimmtheit der unterschiedlichen Rechtssysteme? Stellt das Nebeneinander von nationaler und europäischer Rechtsordnung unsere gericht_____________ 13 FG Hamburg v. 21.4.2005 – IV 174/03, juris. 14 BFH v. 27.3.2007 – VII R 24/06, BFH/NV 2007, 1726. 15 EuGH v. 29.1.2009 – verbundene Rs. C-278/07 bis C-280/07 – Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., Slg. 2009, I-00457, HFR 2009, 534. 16 BFH v. 7.7.2009 – VII R 23/06, HFR 2010, 301. 17 FG Hamburg v. 22.6.2011 – 4 K 80/11 (rkr.), juris.

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liche Kompetenzordnung infrage? Oder hat der EuGH es schlicht versäumt, sich mit dieser Problematik zu befassen? Man hätte auch die Auffassung vertreten können, dass eine erneute Vorlage in einem solchen Fall unzulässig ist, weil das Revisionsgericht auch abschließend über alle europarechtlichen Fragen entscheidet. Jedenfalls ist dies ein weiterer Beleg dafür, was Sie, Herr Mellinghoff, angeführt haben: Dass es nicht mehr unbedingt auf den herkömmlichen hierarchischen Instanzenzug ankommt, sondern stattdessen auf eine funktionale Zusammenarbeit der Gerichte. Das löst dann allerdings unser bisheriges Verständnis von der Kompetenzstruktur der Gerichtsbarkeit auf. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Loschelder. Vielleicht noch eine Ergänzung zu diesem in der Tat auf den ersten Blick etwas eigenartigen Hamburger Fall. Am 20.10.2011 hat der EuGH in der Sache Interedil Srl18 ausdrücklich entschieden, dass eine erneute Vorlage an den EuGH durch ein Finanzgericht oder durch ein unterinstanzliches Gericht aus europarechtlicher Sicht zwingend ist, wenn das Gericht der Meinung ist, dass es ansonsten gegen die richtige, die materiell richtige Anwendung des Europarechts verstoßen müsste. Das heißt also, die Bedenken, die Sie haben, sind aus der Sicht des deutschen Revisionsrechts sicherlich berechtigt, aber der EuGH hat genau für eine solche Situation entschieden, dass er es für zwingend hält, entweder nach dem acte-clair-Grundsatz gegen die Revisionsentscheidung durchzuentscheiden oder gegen die Revisionsentscheidung nochmal vorzulegen. Bernhardt Ich habe heute eines für mich mitgenommen, nämlich dass der Spielraum der nationalen Gerichte deutlich größer ist als ich das bislang für mich abgespeichert hatte. Ich muss zugeben, dass ich mich im Tagesgeschäft nicht so intensiv mit diesen Fragestellungen beschäftige. Ich glaube, gerade der Beispielsfall, den Sie, Herr Loschelder, gerade aufgezeigt haben, macht das deutlich. Und es ist natürlich für den Steuerpflichtigen auch schwierig herauszufinden, worauf er sich dann einstellen muss. _____________ 18 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 – Interedil, ZIP 2011, 2153.

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Der zweite Punkt, den wir hier diskutiert haben, ist die von Herrn Müller-Gatermann aufgeworfene Frage: Was passiert eigentlich in Ihrem fiktiven Fall, der vielleicht gar nicht so fiktiv ist, wenn die Dokumentationspflichten wieder abgeschafft werden? Da stellt sich für den Steuerpflichtigen die Frage, worauf er sich dann einstellen muss. Wir erleben natürlich oft, dass etwas als Reflex auf uns zurückkommt und Planbarkeit und Strukturen tangiert. Solche Themen wie Dokumentationsanforderungen verursachen schon einen erheblichen administrativen Aufwand. Da stellt sich natürlich auch die Frage, ob man dann vorsorglich schon in anderen Bereichen Strukturen aufbaut, um auch Nutznießer möglicher, für den Steuerpflichtigen positiver Entscheidungen der Gerichte zu sein. Prof. Dr. Schön Ganz herzlichen Dank auch von meiner Seite an Herrn Mellinghoff für diese umfassende Darstellung, die doch zeigt, dass inzwischen ein recht konsolidierter Stand vorhanden ist. Ich will nur auf einen Punkt nochmal eingehen. Das ist die Frage, welche Rechtsfolge eigentlich eintritt, wenn ein Gleichheitsverstoß im europäischen Sinne eingetreten ist oder festgestellt worden ist. Da haben wir m. E. einen Unterschied zwischen Art. 3 des Grundgesetzes und den Gleichheitsgeboten europäischer Art. Bei Art. 3 GG, beim gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss oder bei der gleichheitswidrigen Belastung ist in der Tat im Prinzip offen, ob die Begünstigung auf alle erstreckt wird oder die Belastung auf alle erstreckt wird. Da sagt der Art. 3 GG nichts zu. Das europäische Recht ist anders: Die Grundfreiheiten kennen einen Regelfall und einen Ausnahmefall. Der Regelfall ist die Inländerbehandlung. Nach den Grundfreiheiten kann verlangt werden, dass der grenzüberschreitende Sachverhalt so behandelt wird wie der inländische Sachverhalt. Das bedeutet für mich auch, Herr Gosch, darüber haben wir früher schon mal diskutiert: Wenn für Inlandssituationen bestimmte Begünstigungen ausgesprochen worden sind, etwa hier das Beispiel, das bereits diskutiert worden ist, mit der Investitionszulage oder Eigenheimzulage, dann muss im Prinzip, wenn eine Diskriminierung festgestellt worden ist, dieser Regelfall auf den Auslandssachverhalt erstreckt werden. Ob der Gesetzgeber sich dann pro futuro entscheidet, das dann insgesamt abzuschaffen oder einzuschränken, wie er das etwa mit den Betragsgrenzen beim Schulgeld getan hat, ist dann wieder eine völlig andere Sache. Da ist der Gesetzgeber nicht 80

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gebunden. Ein anderer Fall, gewissermaßen der umgekehrte Fall, ist aus meiner Sicht der Fall der unionsrechtswidrigen Beihilfe. Da ist gewissermaßen die Beihilfe die Ausnahme. Und die Beihilfe ist das, was abgeschafft werden muss und was dementsprechend auch verwaltungsverfahrensrechtlich und gerichtlich nachvollzogen werden muss. Darauf wird Herr Lang in seinem Referat noch eingehen. Auch da haben wir eine relativ klare europarechtliche Aussage, wo es mit der Beseitigung der Diskriminierung hingehen soll. Insoweit glaube ich, dass hier eine stärkere Anleitung für das gegeben ist, was die Gerichte tun sollen, als es bei der verfassungsrechtlichen Situation des Art. 3 GG der Fall ist. Prof. Dr. Gosch Ganz kurz zu Herrn Schön. Ich sehe es im Ergebnis genau wie Sie. Das Problem, das ich bei Subventionsnormen habe, ist nur, ob man das kompetenziell nicht doch beim BVerfG ansiedeln müsste. Dass die Richterkollegen dort dann eben den nämlichen Schluss ziehen und die Subvention auf alle ausweiten, nun, das mag so sein und vielleicht muss es das auch. Nur ist die Situation eben keine andere, wenn ein Instanzgericht eine Steuersubvention losgelöst vom Unionsrecht als gleichheitswidrig einschätzt. Auch dann muss das BVerfG eingeschaltet werden und niemand käme auf den Gedanken, dass das Instanzgericht von sich aus durcherkennen könnte. Weshalb das beim unionsrechtlichen Anwendungsvorrang anders sein müsste, erschließt sich mir nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres. Prof. Dr. Schön Aber das BVerfG kann doch nur über die Verfassungsfragen urteilen und hier ist das Problem ein europarechtliches? Prof. Dr. Gosch Ja, aber ist es dann nicht doch eines auch des Art. 3 GG? Prof. Dr. Lüdicke Das letzte Wort hat der Präsident, Herr Mellinghoff.

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Prof. Dr. Mellinghoff Vielen Dank. Lassen Sie mich ganz kurz zu der Frage des Willkürmaßstabs oder nicht beim BVerfG eingehen. Die Kammer des I. Senats hat hier einen etwas strengeren Maßstab angewendet. Er ist ausdrücklich in der Honeywell19Entscheidung, ich will nicht sagen verworfen worden, aber es ist doch dahingehend präzisiert worden, dass der Willkürmaßstab anzuwenden ist. Infolgedessen hat sich dann auch der I. Senat in einer Senatsentscheidung ausdrücklich nochmal der Honeywell-Entscheidung angeschlossen.20 Man muss sich auch die Folgen überlegen, wenn das BVerfG in jedem einzelnen Fall, und das betrifft ja nicht nur das Steuerrecht, sondern die gesamte Rechtsordnung, die Europarechtsfrage nicht nur auf Willkür, sondern auch auf die Richtigkeit der einfachrechtlichen Auslegung hin überprüfen würde und dann im Einzelfall an die Stelle des jeweiligen Fachgerichts tritt. Für das Verfassungsgericht muss schon eine gewisse Evidenz vorliegen, die das BVerfG mit Willkürmaßstab gekennzeichnet hat. Zu der Frage der europarechtskonformen Auslegung möchte ich nur sagen, dass dies eine Frage des Zusammenwirkens der europäischen Rechtsordnung und der nationalen Rechtsordnung ist. Das BVerfG bemüht sich, die Frage, ob nach europäischem Recht ein Gestaltungsspielraum für den deutschen Gesetzgeber besteht oder nicht, dorthin zu bringen, wo sie entschieden werden muss. Allerdings geschieht dies nicht durch eine eigene Vorlage des BVerfG an den EuGH, sondern durch eine Verpflichtung der Instanzgerichte, die entsprechende Frage dem EuGH vorzulegen. Auch das hat natürlich einen Verfahrensbeschleunigungseffekt. Das BVerfG muss nicht noch eine eigene Vorlageentscheidung treffen, sondern das jeweilige Fachgericht soll unmittelbar den EuGH anrufen. Die Inländerdiskriminierung ist eine Frage, bei der sich das BVerfG mit Sicherheit nicht „wegducken“ würde, sondern es wäre eine spannende Frage, was passieren würde, wenn ein solcher Fall an das BVerfG gebracht werden würde. Ich würde das sehr begrüßen, und zwar auch deswegen, um diese Frage einmal verfassungsdogmatisch klären zu lassen. _____________ 19 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286. 20 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, BVerfGE 128, 157, HFR 2011, 585.

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Podiumsdiskussion: Zusammenwirken nat. und europ. Gerichte im Steuerrecht

Was hat Art. 3 GG für eine Wirkung in diesen Fragen? Das ist nicht entschieden. Und ein Letztes zu der Anregung von Herrn Gosch: Das BVerfG möchte doch sozusagen die normerhaltende Auslegung, oder wie auch immer diese wunderschönen Wortschöpfungen der kreativen Weitergeltung des Gesetzes heißen, beschließen. Das ist m. E. nicht Aufgabe des BVerfG, sondern des Gesetzgebers. Das Gewaltenteilungsprinzip sieht nicht vor, dass das BVerfG gesetzesschöpferisch tätig wird. Deswegen ist es in der Tat so, dass beim Anwendungsvorrang alle Gerichte die Möglichkeit haben, dieses durchzusetzen. Und wenn man in andere Rechtsordnungen und in andere Länder schaut, dann ist es nicht notwendigerweise so, dass ein oberstes Bundesgericht die Linie vorgibt. Auch da arrangiert man sich etwas. Ich denke mal, damit wird man in dieser Form weiterleben müssen und nur hoffen, dass es nicht zu allzu großen Friktionen kommt.

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Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang* Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, WU Wien

Inhaltsübersicht A. Der unionsrechtliche Begriff der Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 B. Die Entscheidung der Kommission zu § 8c KStG . . . . . . . . . . . . . 91 C. Die Diskussion um das maßgebende „Referenzsystem“ . . . . . . 93

D. Die Selektivitätsprüfung als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 97 E. Das EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar . . . . . . 103 F. Würdigung und Ausblick . . . . . . 115

A. Der unionsrechtliche Begriff der Beihilfe Im Mittelpunkt des unionsrechtlichen Beihilferechts steht Art. 107 Abs. 1 AEUV: „Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“ Beihilfen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Begünstigten einen unentgeltlichen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen1. Als Beihilfen kommen nicht nur Zuschüsse, sondern auch Steuerermäßigungen _____________ * Frau Mag. Martina Gruber danke ich herzlichst für die Unterstützung bei der Literaturrecherche, der Erstellung des Anmerkungsapparats, der Fahnenkorrektur und vor allem für wertvolle Anregungen. 1 Zu den Kriterien M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftlichen Beihilfenrechts auf das Steuerrecht, 17. ÖJT, Gutachten, Band IV/1, 2009, 10 ff.; Jaeger, Steuerliche Maßnahmen, in Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Band 3, Beihilfenund Vergaberecht, 2011, Rz. 4 ff.; Heidenhain, in Heidenhain (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, 2003, § 4 Rz. 1 ff.

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Lang – Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG

und Steuerbefreiungen in Betracht. Es kann keinen Unterschied machen, ob ein Mitgliedstaat ein Unternehmen der gewöhnlichen Abgabenlast unterwirft und ihm danach einen Zuschuss zukommen lässt oder ob er ihm von vornherein niedrigere Steuern vorschreibt2. Ebenso wenig kann es darauf ankommen, ob eine Steuerbefreiung vorliegt oder ob der Steuertatbestand so eng umschrieben wird, dass gar keine Befreiung erforderlich ist. Dies ist lediglich eine Frage der Gesetzestechnik3. Daher kann auch bereits die gesetzliche Umschreibung des Besteuerungsgegenstands eine Beihilfe bewirken4. Die aus dem früheren Art. 87 EGV und nunmehrigen Art. 107 AEUV abgeleiteten Kriterien, die GA Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rs. C-222/07, UTECA illustrativ zusammengefasst hat, sind daher auch dann heranzuziehen, wenn die maßgebenden gesetzlichen Vorschriften zum Steuerrecht gehören5: „Die Qualifizierung einer Maßnahme als Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags setzt voraus, dass jedes der vier kumulativen Kriterien erfüllt ist, auf denen Art. 87 Abs. 1 EG aufbaut (…). Dabei handelt es sich um die Finanzierung der Maßnahme durch den Staat oder aus staatlichen Mitteln (erstes Kriterium), das Vorliegen eines Vorteils für ein Unternehmen (zweites Kriterium), die Selektivität der Maßnahme (drittes Kriterium) und die Beeinträchtigung des

_____________ 2 Vgl. M. Lang, Die gesetzwidrige Begünstigung von Steuerpflichtigen als gemeinschaftsrechtswidrige Beihilfe?, in Beiser (Hrsg.), Ertragssteuern in Wissenschaft und Praxis, FS Doralt, 2007, 233 (234), mit Verweis auf Sutter, Beihilfen im materiellen Steuerrecht – Steuergesetze und Verwaltungshandeln der Steuerbehörden im Spannungsfeld zum EG-Beihilfenverbot, in Studiengesellschaft WiR (Hrsg.), Beihilfenrecht, 2004, 37 (37 f.); Jann, Nationale Steuern und das EG-Beihilfenverbot – ein Überblick, in Monti u. a. (Hrsg.), Wirtschaftsrecht und Justiz in Zeiten der Globalisierung, FS Baudenbacher, 2007, 419 (423 ff.); Jaeger, in Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Rz. 4 ff.; vgl. auch EuGH v. 23.2.1961 – Rs. 30/59 – De Gezamenlijke Steenkolenmijnen, Slg. 1961, Rz. 3 und 43; v. 15.3.1994 – Rs. C-387/92 – Banco Exterior de España, Slg. 1994, I-877, Rz. 13 f. 3 Vgl. Ruppe, Die Ausnahmebestimmungen des Einkommensteuergesetzes, 1971, 28 ff.; Stoll, Das Steuerschuldverhältnis in seiner grundlegenden Bedeutung für die steuerliche Rechtsfindung, 1972, 104; M. Lang, Doppelbesteuerungsabkommen und Innerstaatliches Recht, 1992, 75 f. 4 Vgl. M. Lang, Die Besteuerung von Körperschaften des öffentlichen Rechts aus dem Blickwinkel des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfenrechts, in König/Schwarzinger (Hrsg.), Körperschaften im Steuerrecht, FS Wiesner, 2004, 237 (240), mit Verweis auf EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-295/97 – Piaggio, Slg. 1999, I-3735. 5 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 4.9.2008 – Rs. C-222/07 – UTECA, Slg. 2009, I-1407, Rz. 122.

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Handels zwischen Mitgliedstaaten mit daraus resultierender Verfälschung des Wettbewerbs (viertes Kriterium).“

Nach dem ersten Kriterium sind jene Beihilfen unzulässig, die staatlich oder aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Neben den von Gebietskörperschaften eingeräumten Begünstigungen können daher auch Beihilfen, die von anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts finanziert werden, unter das Verbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV fallen6. Nach ständiger Rechtsprechung darf nicht danach unterschieden werden, ob eine Beihilfe direkt vom Staat oder von einer öffentlichen oder privaten Einrichtung gewährt wird, die vom Staat dazu bestimmt oder errichtet wurde7. Entscheidend ist für die Beihilfeeigenschaft, dass Vergünstigungen „zum einen unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden und zum anderen dem Staat zuzurechnen sind“8. Der Beihilfebegriff umfasst die einem Unternehmen gewährten Vorteile. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH umfasst der Begriff des Unternehmens im Wettbewerbsrecht jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung9. Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten10. Der Umstand, dass eine Einheit mit bestimmten im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben betraut ist, hindert nicht daran, _____________ 6 Dazu schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 10. 7 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-345/02 – Pearle, Slg. 2004, I-7139, Rz. 34; v. 7.6.1988 – Rs. 57/86 – Griechenland/Kommission, Slg. 1988, 2855, Rz. 12; v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 – PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099, Rz. 58; v. 20.10.2003 – Rs. C-126/01 – GEMO, Slg. 2003, I-13769, Rz. 23. 8 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-345/02 – Pearle, Slg. 2004, I-7139, Rz. 35; v. 21.3.1991 – Rs. C-303/88 – Italien/Kommission, Slg. 1991, I-1433, Rz. 11; v. 16.5.2002 – Rs. C-482/99 – Frankreich/Kommission, Slg. 2002, I-4397, Rz. 24; v. 20.10.2003 – Rs. C-126/01 – GEMO, Slg. 2003, I-13769, Rz. 24. 9 Vgl. u. a. EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90 – Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Rz. 21; v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751, Rz. 77; v. 12.9.2000, verbundene Rs. C-180/98 bis 184/98 – Pavlov et al., Slg. 2000, I-6451, Rz. 74; v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 – Wouters, Slg. 20052, I-1577; Rz. 46 f.; v. 10.1.2006 – Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Slg. 2006, I-289, Rz. 107; v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843. 10 EuGH v. 16.6.1987 – Rs. C-118/85 – Italien/Kommission, Slg. 1987, 2599, Rz. 7; v. 18.6.1998 – Rs. C-35/96 – Italien/Kommission, Slg. 1998, I-3851, Rz. 36; v. 12.9.2000, verbundene Rs. C-180/98 bis 184/98 – Pavlov et al, Slg. 2000, I-6451, Rz. 75; v. 10.1.2006 – Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Slg. 2006, I-289, Rz. 108; v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843.

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die fraglichen Tätigkeiten als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen11. Rechtsträger, die gegründet wurden, um bestimmte Forschungstätigkeiten auszuüben, fallen daher ebenfalls unter den Unternehmensbegriff12. Wer von der öffentlichen Hand gegründet wurde, kann ebenfalls Unternehmer sein13. Aufgrund des Umstands, dass der Begriff des Unternehmens unionsrechtlich zu interpretieren ist, wäre es Zufall, wenn die Grenzen des unionsrechtlichen Unternehmensbegriffs exakt so verlaufen wie jene zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Einkünften auf dem Gebiet des Einkommensteuerrechts. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass der Unternehmensbegriff in bestimmten Fällen auch Tätigkeiten erfasst, die für ertragsteuerliche Zwecke den außerbetrieblichen Einkunftsarten wie jener aus Vermietung und Verpachtung zugeordnet werden14. Denn auch ein Vermieter einer Wohnung bietet beispielsweise eine Dienstleistung am Markt an15. Die Begünstigung eines Unternehmens kann auch mittelbar erfolgen: So können etwa die Arbeitnehmer in formaler Hinsicht Empfänger einer Beihilfe sein. Wenn die Regelung aber für den Arbeitgeber von Vorteil ist, kann dennoch die Begünstigung eines Unternehmens vorliegen16. Eine steuerrechtliche Maßnahme qualifiziert nur dann als Beihilfe, wenn sie auch selektiv ist. Die Selektivitätsprüfung steht regelmäßig im Mittelpunkt der steuerrechtlichen Beihilfebeurteilung: Sie verlangt nämlich, zwischen – beihilferechtlich zulässigen – generellen Maßnahmen des Steuergesetzgebers einerseits und selektiven Begünstigungen andererseits zu unterscheiden17. Welche Absicht der Gesetzgeber verfolgt hat, ist dabei irrelevant18: Der EuGH geht davon aus, dass es auf die _____________ 11 Vgl. in diesem Sinne EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Rz. 21. 12 EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843, Rz. 35. 13 EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843, Rz. 32. 14 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 19. 15 Vgl. auch M. Lang, in König/Schwarzinger (Hrsg.), Körperschaften im Steuerrecht, FS Wiesner, 249. 16 Vgl. EuGH v. 23.2.1961 – Rs. 30/59 – De Gezamenlijke Steenkolenmijnen, Slg. 1961, 1, Rz. 3 ff. und 56. 17 Dazu schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 23 ff.; Jaeger, in Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Rz. 40 ff. 18 Vgl. Sutter, EG-Beihilfenverbot, 70; ebenso Quigley/Collins, EC State Aid Law and Policy, 2003, 16 f.; a. A. siehe Kurcz/Vallindas, Can General Measures be … Selective? Some Thoughts on the Interpretation of a State Aid Definition, CMLR 2008, 159 (181): ”In any event, it shows that the ECJ does not only focus on effects, but also cannot avoid taking into consideration the objectives of the measures analysed.“

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Wirkungen einer Regelung ankommt19. Das Gericht erster Instanz hielt fest, dass „weder der Abgabencharakter noch die wirtschaftliche oder soziale Zielsetzung oder die Ziele des Umweltschutzes oder der Sicherheit von Personen, die eine solche Maßnahme haben mag, dafür (genügen), dass diese von vornherein aus dem Anwendungsbereich des vorgenannten Artikels ausscheidet“20. Bei der Prüfung der Selektivität einer Maßnahme ist nach der Rechtsprechung entscheidend, ob die durch die betreffende Maßnahme eingeführte Unterscheidung zwischen Unternehmen bei Vorteilen oder Belastungen in der Natur oder im Aufbau des geltenden allgemeinen Systems angelegt ist21. Ist diese Unterscheidung auf andere als die mit dem allgemeinen System verfolgten Ziele zurückzuführen, wird grundsätzlich angenommen, dass die fragliche Maßnahme das in Art. 107 Abs. 1 AEUV vorgesehene Merkmal der Selektivität erfüllt22.

_____________ 19 EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 26 und 28; v. 13.2.2003 – Rs. C-409/00 – Spanien/Kommission, Slg. 2003, I-1487, Rz. 46; EuG v. 29.9.2000 – Rs. T-55/99 – CETM/Kommission, Slg. 2000, II-3207, Rz. 53; v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789, Rz. 106. 20 EuG v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789; vgl. in Bezug auf selektive Befreiungen von Sozialabgaben EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 27 f.; und v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 25; in Bezug auf eine selektive Zinsverbilligung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit Blick auf die Erneuerung des Nutzfahrzeugbestands im Interesse des Umweltschutzes und einer erhöhten Verkehrssicherheit EuGH v. 13.2.2003 – Rs. C-409/00 – Spanien/Kommission, Slg. 2003, I-1487, Rz. 46; EuG v. 29.9.2000 – Rs. T-55/99 – CETM/Kommission, Slg. 2000, II-3207, Rz. 53. 21 Mitteilung Unternehmensbesteuerung, ABl. C 384/3, 10.12.1998, Rz. 16; EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 34; v. 29.4.2004 – Rs. C-159/01 – Niederlande/Kommission, Slg. 2004, I-4461; v. 17.3.1993 – Rs. C-72/91 und 73/91 – Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887, Rz. 21; v. 20.9.2001 – Rs. C-390/98 – Banks, Slg. 2001, I-6117, Rz. 33; v. 26.9.2002 – Rs. C-351/98 – Spanien/Kommission, Slg. 2002, I-8031, Rz. 42; siehe auch EuG v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789, Rz. 152. 22 EuG v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789; vgl. in diesem Sinne bereits EuGH v. 2.7.1974 – Rs. C-173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 33; v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/ Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 33 und 39; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/ 99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 49.

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Dem Merkmal der – tatsächlichen oder potenziellen – Wettbewerbsverfälschung kommt hingegen nur untergeordnete Bedeutung zu23. Für manche ist die Wettbewerbsverfälschung überhaupt nur die logische Wirkung jeder selektiven Begünstigung24. Der EuGH verlangt jedenfalls nicht die Benachteiligung konkreter Wettbewerber: In seinem Urteil vom 3.3.2005 – C-172/03, Heiser wies er darauf hin, „dass Beihilfen, die ein Unternehmen von den Kosten befreien sollen, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Geschäftsführung oder seiner üblichen Tätigkeiten zu tragen gehabt hätte, grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen verfälschen (Urteil vom 19. September 2000 in der Rechtssache C-156/98, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-6857, Randnr. 30 und die zitierte Rechtsprechung).“25 Weiters wird von Art. 107 AEUV gefordert, dass eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels gegeben ist. In Lehre und Rechtsprechung wird dies im Sinne der Beeinflussung des internationalen Wirtschaftsverkehrs verstanden26. Die „Eintrittshürde“, die durch dieses Kriterium für die Beihilfeprüfung besteht, wird als nicht allzu hoch angesehen27. Gelegentlich sieht die Kommission zwar in Einzelfällen unter Verweis auf dieses Kriterium von einer Beihilfeprüfung ab28, beeilt sich aber dabei genau zu begründen, warum eine Nachfrage für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen im Ausland im konkreten Fall keineswegs in Betracht kommt. Gerade bei diesem Kriterium kommt die Dynamik des Binnenmarkts zum Tragen, da sich das Beihilfeverbot bei dessen Verdichtung weiter fortentwickelt29: In einem sich zunehmend verschränkenden Binnenmarkt liegt eine Beeinflussung des grenz_____________ 23 Dazu schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 50 f. 24 Vgl. z. B. Generalanwalt Capotorti, Schlussanträge 730/79 – Philip Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671 ff., Rz. 4; Generalanwalt Darmon, Schlussanträge C-72/91 – Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887, Rz. 61; Bleckmann, Das System des Beihilfeverbots im EWG-Vertrag, WiVerw 1989, 75 (76 f.). 25 EuGH v. 3.3.2005 – Rs. C-172/03 – Heiser, Slg. 2005, I-1627, Rz. 55. 26 EuGH v. 26.9.2002 – Rs. C-351/98 – Spanien/Kommission, Slg. 2002, I-8031, Rz. 30; Sutter, Beihilfenverbot, 136, mit Verweis auf die französische Sprachfassung, die von der „Beeinflussung des Wirtschaftsverkehrs“ spricht. 27 Vgl. z. B. Sutter, Beihilfenverbot, 138: „Bei den Anforderungen an die Prüfung der grenzüberschreitenden Handelsbeeinträchtigung sind die Gemeinschaftsgerichte tendenziell großzügig (…).“ 28 Vgl. Kommission v. 21.12.2000 – N 258/2000 – Deutschland/Freizeitbad Dorsten, ABl. C 172, 16.6.2001, Rz. 16. 29 Vgl. Wallenberg, in Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV II Art. 87 Rz. 6; Sutter, Beihilfenverbot, 43.

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überschreitenden Wirtschaftsverkehrs bei begünstigenden Maßnahmen eines Mitgliedstaates fast immer auf der Hand. In der Literatur wird die Wettbewerbsverfälschung und die Handelsbeeinträchtigung als untrennbar miteinander verbunden erachtet, da der innergemeinschaftliche Handel regelmäßig bereits dann als beeinträchtigt angesehen wird, wenn eine von einem Mitgliedstaat gewährte Finanzhilfe die Stellung eines Unternehmens gegenüber anderen Wettbewerbern im innergemeinschaftlichen Handel verstärkt30. Dementsprechend hat dieses Kriterium in der Rechtsprechung des EuGH auch kaum eine eigenständige Bedeutung bei der Eingrenzung des Beihilfebegriffs31.

B. Die Entscheidung der Kommission zu § 8c KStG Im deutschen steuerlichen Schrifttum ist dem Beihilferecht in den letzten Monaten große Aufmerksamkeit geschenkt worden32: Die Kommis_____________ 30 Vgl. Nowak, Die Entwicklung des EG-Beihilfenkontrollrechts in den Jahren 2001 und 2002, EuZW 2003, 389 (396); Nicolaides/Kekelekis/Buyskes, State Aid Policy in the European Community, 2005, 26; Mamut, The State Aid Provisions of the EC Treaty in Tax Matters, in Lang/Pistone/Schuch/Staringer (Hrsg.), Introduction to European Tax Law on Direct Taxation, 2008, Rz. 275. 31 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 59. 32 Siehe Jochum, Systemfragen zu Mantelkauf und Sanierungsklausel, FR 2011, 497 ff.; Drüen, Die Sanierungsklausel des § 8c KStG als europarechtswidrige Beihilfe – Anmerkungen zur Beihilfeentscheidung der EU-Kommission von 26.1.2010, DStR 2011, 289 ff.; Dörr, Steuerliche Sanierung gescheitert: EU-Kommission kippt § 8c Abs. 1a KStG, NWB 2011, 690 ff.; Ehrmann, Beihilfenrechtliche Zulässigkeit des § 8c Abs. 1a KStG – Zur voraussichtlichen Europarechtswidrigkeit der Sanierungsklausel, DStR 2011, 5 ff.; Cloer/Vogel, Die Sanierungsklausel auf dem Prüfstand, IWB 2010, 439 ff.; Dörr/Motz, Aussetzung der Vollziehung bei Versagung des Sanierungsprivilegs, NWB 2011, 3180; Dörr, Der Streit um das Sanierungsprivileg geht weiter, NWB 2011, 964 ff.; Burwitz, EU-Kommission: Unvereinbarkeit der Sanierungsklausel mit Beihilferegeln, NZG 2011, 259 ff.; Crezelius, Aktuelle Steuerrechtsfragen in Krise und Insolvenz, NZI 2011, 279 ff.; De Weerth, Die Sanierungsklausel des § 8c KStG und europäisches Beihilferecht, DB 2010, 1205 ff.; Siehe auch die Diskussion mit Rädler/Musil/Blumenberg/Welling, DB 2010, 17 ff.; Dorfmüller, Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG nicht mit den EU-Beihilferegeln vereinbar, StuB 2011, 147 ff.; Duss/Helbing, Sanierung der Zürcher Sanierungspraxis bei Forderungsverzicht?, Schweizer Treuhänder 2011, 527 ff.; Eilers/ Bühring, Sanierungssteuerrecht – Selbst ein Sanierungsfall?, StuW 2009, 246 ff.; Fritze/Heithecker, Insolvenzplansanierung und EU-Beihilfenverbot, EuZW 2010, 817 ff.; Herzig/Liekenbrock, Die Unternehmensbesteuerung, Ubg 2011, 313 (325 ff.); Hey, Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im nationalen Steuerrecht, StuW 2010, 301 ff.; Hierstetter, Steuerliche Risiken der Entschuldung der Kapitalgesellschaft in der Krise, DStR 2010, 882 ff.; M. Lang, Sanie-

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sion hat am 26.1.2011 beschlossen, dass die „auf der Grundlage von § 8c (1a) Körperschaftsteuergesetz gewährte staatliche Beihilferegelung, die Deutschland unter Verletzung von Artikel 108 Absatz 3 AEUV rechtswidrig gewährt hat, (…) mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ ist33. Die Kommission ist somit zur Auffassung gelangt, dass es sich bei der als Ausnahme vom Mantelkauftatbestand konzipierten Sanierungsklausel um eine dem Art. 107 Abs. 1 AEUV unterliegende Beihilfe handelt. Im Mittelpunkt der Ausführungen der Kommission steht dabei die Voraussetzung der Selektivität, deren Vorliegen offenbar als besonders begründungsbedürftig angesehen wurde. Nach Auffassung der Kommission ist „das deutsche Körperschaftsteuersystem in der derzeitigen Fassung, insbesondere die Vorschriften des § 8c (1) KStG über den Verlustabzug bei Körperschaften, bei denen es zu einem Beteiligungserwerb kommt, das Referenzsystem“. Sie wies darauf hin, dass nach dieser Regelung ungenutzte Verluste nicht mehr abziehbar sind, „wenn mehr als 50 % der Beteiligungsrechte an einer Körperschaft an einen Erwerber übertragen werden; sie gehen anteilig verloren, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 %, höchstens aber 50 % der Beteiligungsrechte übertragen werden. Daraus schließt die Kommission, dass die Verwirkung von Verlusten der Regelfall, d. h. im Falle eines Anteilseignerwechsels das Referenzsystem ist“34. _____________ rungsklausel der Regelung zur Verlustverrechnungsbeschränkung bei Körperschaften – Beihilfeverfahren zu § 8c Abs. 1a KStG, SteuK 2011, 135 ff.; Marquart, Die Möglichkeit der Verlustverrechnung als selektive Begünstigung sanierungsbedürftiger Unternehmen? – Wider die Beihilferechtswidrigkeit der Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG), IStR 2011, 445 ff.; Fiedler, Voraussetzung einer Nichtigkeitsklage gegen den Beschluss der Europäischen Kommission zur Sanierungsklausel, BB 2011, 2972 ff.; Hillmer, Verstößt die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG tatsächlich gegen Gemeinschaftsrecht?, BC 2011, 379; Linn, Rechtsbehelfe gegen Negativentscheidungen der Kommission im Beihilferecht – Handlungsmöglichkeiten betroffener Unternehmen am Beispiel der Sanierungsklausel, IStR 2011, 481 ff. 33 Vgl. Europäische Kommission v. 26.1.2011, K(2011) 275, C 7/2010 (ex CP 250/2009 und NN 5/2010) – „KStG, Sanierungsklausel“ Rz. 137; vgl. auch die beiden Schreiben der Europäischen Kommission v. 8.4.2010, C 90/8, Staatliche Beihilfe C 7/10 (ex NN 5/10) – „KStG, Sanierungsklausel“ Aufforderung zur Stellungnahme gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV; K(2010) 970, 24.2.2010, Staatliche Beihilfen C-7/ 2010 (ex NN 5/2010) – Bestimmungen des Körperschaftsteuergesetztes über den steuerlichen Verlustvortrag – Sanierungsklausel; sowie die Pressemitteilung des BMF v. 9.3.2011 – Nr. 4/2011; Die Bundesregierung wird gegen den Beschluss der EU-Kommission vom 26.1.2011 betreffend die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG Klage erheben. Die Klage zur Rs. T-205/11 wurde am 7.4.2011 beim EuG eingebracht. 34 K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 66.

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Die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG erachtete die Kommission als Ausnahme: „Abweichend vom Referenzszenario ist es nach § 8c (1a) KStG möglich, dass Unternehmen, die zum Zeitpunkt des zu Umstrukturierungszwecken erfolgenden Beteiligungserwerbs insolvent oder überschuldet bzw. von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedroht sind, ihre Verluste vortragen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.“ Vorschriften, die für alle Unternehmen in Schwierigkeiten gelten, sind nach Auffassung der Kommission selektiv und können eine staatliche Beihilfe darstellen35. In weiterer Folge wies die Kommission darauf hin, dass nach der „Rechtsprechung des Gerichtshofs (…) diese Voraussetzung der Selektivität jedoch bei einer Maßnahme, die zwar einen Vorteil für den Begünstigten darstellt, aber durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems, zu dem sie gehört, gerechtfertigt ist, nicht gegeben“ ist36. Dazu hielt die Kommission fest, „dass Deutschland selbst in seiner Stellungnahme zum Eröffnungsbeschluss ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es sich bei § 8c Abs. 1a KStG nicht um eine Maßnahme zur Verhinderung eines Missbrauchs des Steuersystems handele, sondern dass die Sanierungsklausel eingeführt worden sei, um notleidende Unternehmen in der Finanz- und Wirtschaftskrise zu unterstützen.“37 Sie kam daher zum Schluss, „dass das mit dieser spezifischen Steuermaßnahme verfolgte Ziel außerhalb des Steuersystems liegt. Nach einschlägiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein solches extrinsisches Ziel nicht zur Rechtfertigung der Maßnahme aufgrund der Natur bzw. des inneren Aufbaus des Steuersystems herangezogen werden“38.

C. Die Diskussion um das maßgebende „Referenzsystem“ Die – teils leidenschaftlich vorgetragene – Kritik an der Begründung der Kommissionsentscheidung entzündete sich in erster Linie an der Annahme des maßgebenden „Referenzsystems“39: Die Kommission wäre jede Begründung dafür schuldig geblieben, warum sie die Verlustvernichtungsvorschrift des § 8c Abs. 1 KStG als Referenzsystem herange_____________ 35 36 37 38 39

K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 68. K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 80. K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 88. K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 89. Vgl. Drüen, DStR 2011, 291 ff.; Jochum, FR 2011, 498; Musil, Warum die Sanierungsklausel keine Beihilfe ist, DB 2011, 19 (20); Ehrmann, DStR 2011, 7; Marquart, IStR 2011, 448.

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zogen hat. Einige Autoren hielten der Kommission entgegen, dass die Regelungen über den Verlustabzug, die einen interperiodischen Verlustausgleich ermöglichen, das zutreffende Referenzsystem wären40: Nach Drüen fiele das Ergebnis der beihilferechtlichen Würdigung anders aus, „wenn nicht § 8c KStG (…), sondern die tragenden Prinzipien des deutschen Ertragsteuerrechts zum Referenzsystem erhoben würden“41. Das als „Normalfall“ zu bestimmende Referenzsystem wäre „nicht der durch § 8c Abs. 1 Sätze 1 bis 3 KStG limitierte und konditionierte Verlustabzug bei Körperschaften, sondern der allgemeine, auch im Körperschaftsteuerrecht geltende Einkommensbegriff mit der interperiodischen Verlustberücksichtigung“. Den Kritikern ist zuzugestehen, dass die Annahme der Verlustvernichtungsvorschrift des § 8c KStG als Referenzsystem willkürlich erscheint. Nicht weniger zufällig ist es aber, die interperiodische Verlustberücksichtigung in den Mittelpunkt zu rücken. Mit gleicher Berechtigung könnte die im Kalenderjahr als Veranlagungsperiode zum Ausdruck kommende Abschnittsbesteuerung zum Ausgangspunkt der beihilferechtlichen Prüfung genommen werden42. Vor dem Hintergrund dieses Referenzsystems erschiene die Sanierungsklausel wiederum als eine der vorgesehenen Durchbrechungen des Systems, die aus diesem Grund begründungsbedürftig wäre. Bei der Suche nach dem maßgebenden „Referenzsystem“ wird im Schrifttum häufig auf das Leistungsfähigkeitsprinzip verwiesen43. Das Leistungsfähigkeitsprinzip würde den interperiodischen Verlustausgleich gebieten. Dieses Argument hilft in Wahrheit aber nicht weiter. Zunächst ist schon die Frage umstritten, ob das Körperschaftsteuerrecht in gleicher Weise wie das Einkommensteuerrecht das Leistungsfähigkeitsprinzip verwirklicht44. Selbst wenn man aber dieser Prämisse folgt, zeigt eine Analyse des geltenden Rechts, dass die ertragsteuerrechtlichen Vorschriften das Konzept der Abschnittsbesteuerung und _____________ 40 Vgl. Drüen, DStR 2011, 291 f.; so auch Ehrmann, DStR 2011, 7; Marquart, IStR 2011, 448; Hillmer, BC 2011, 379. 41 Vgl. Drüen, DStR 2011, 291 f. 42 Zuletzt hat Kube, Die intertemporale Verlustverrechnung – Verfassungsrechtlicher Rahmen und legislativer Gestaltungsraum, DStR 2011, 1781 (1781 ff.), die Bedeutung der Abschnittsbesteuerung betont. 43 Vgl. Jochum, FR 2011, 498; Musil, DB 2011, 20; Drüen, DStR 2011, 291 f.; und Ehrmann, DStR 2011, 7. 44 Vgl. Wiesner, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 14. ÖJT, Referate und Diskussionsbeiträge, Band III/2, 2000, 37 (41 f.).

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periodenübergreifende Zielsetzungen miteinander kombinieren: Die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer verlangen die Ermittlung des im Kalenderjahr bezogenen Einkommens. Die Härten des progressiven Einkommensteuertarifs, die dann zum Tragen kommen, wenn in mehreren Perioden erwirtschaftete Wertsteigerungen in einem Veranlagungsjahr schlagend werden, oder wenn überhaupt die Einkommenshöhe zwischen den Kalenderjahren schwankt, werden nur punktuell berücksichtigt. Auch im Verlustfall gibt es nicht die Möglichkeit, positive und negative Ergebnisse unterschiedlicher Perioden generell zu verrechnen. Vielmehr steht der Verlustrücktrag nur völlig eingeschränkt zur Verfügung. Der Verlustvortrag steht ebenfalls unter restriktiven Voraussetzungen. Daraus kann man entweder schließen, dass der Gesetzgeber das Leistungsfähigkeitsprinzip nur ungenügend umsetzt und damit möglicherweise den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Dann kann aber Maßstab für die beihilferechtliche Beurteilung auch nicht das Prinzip sein, dessen Umsetzung – auf welcher Grundlage auch immer – geboten wäre, sondern nur jene Regelungen, die das anzuwendende Steuerrecht konstituieren. Alternativ könnte man annehmen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip gar nicht die umfassende Berücksichtigung periodenübergreifender Verhältnisse verlangt, sondern es auch zulässt, wenn die im Jahreseinkommen und die im Lebenseinkommen zum Ausdruck kommende Leistungsfähigkeit miteinander kombiniert werden45. Dann hilft der Hinweis auf das Leistungsfähigkeitsprinzip aber erst recht nicht weiter, um zu klären, ob das Jahreseinkommen – und damit die Abschnittsbesteuerung – oder das Lebenseinkommen – und damit die Möglichkeit interperiodischer Verlustberücksichtigung – das maßgebende Referenzsystem sind. Falls daher tatsächlich das Ergebnis der beihilferechtlichen Würdigung vom zugrunde gelegten Referenzsystem abhängt, wäre die beihilferechtliche Beurteilung letztlich von nicht weiter nachprüfbaren Annahmen abhängig. Die Diskussion um § 8c KStG macht deutlich, dass die Wahl des Referenzsystems letztlich beliebig ist. Sie ist aber auch gar nicht notwendig. Hinter der Suche nach dem maßgebenden Referenzsystem steht das Bemühen, Regel und Ausnahme festzulegen. Wer die „Normalbesteuerung“ vom Ausnahmefall abgrenzt, in dem andere Steuervorschriften zum Tragen kommen, unterscheidet in Wahrheit zwischen _____________ 45 Siehe die Diskussion von M. Lang/Roessler/Beiser/Zorn/Gassner/Wiesner, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 14. ÖJT, III/2, 112 ff.

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zumindest zwei Vorschriften, die einen unterschiedlichen Anwendungsbereich haben und die unterschiedliche Rechtsfolgen vorsehen46. Nach welchen Kriterien lässt sich nun festlegen, welche dieser Vorschriften die Regel und welche die Ausnahme ist? Auf Zufälligkeiten der Rechtssetzungstechnik soll es wohl nicht ankommen47. Die Suche nach der Absicht des Gesetzgebers kann auch nicht ergiebig sein48: Ungeachtet der Terminologie, der sich die Gesetzes- oder die Materialienverfasser bedienen, geht es auch dem Gesetzgeber letztlich nur darum, dass unter bestimmten Voraussetzungen die eine und unter anderen Voraussetzungen die andere Rechtsfolge vorgesehen ist49. Wer schließlich danach fragt, welche Vorschriften den größeren und welche den kleineren Anwendungsbereich haben, um nach dieser Beurteilung die Regel von der zu rechtfertigenden Ausnahme zu unterscheiden, steht vor der Schwierigkeit, dass generelle Vorschriften den Kreis ihrer Adressaten abstrakt umschreiben und die Zahl der konkret betroffenen Steuerpflichtigen nicht vorhersehbar ist50. Die Frage nach der „Normalbelastung“ ist daher nicht sinnvoll, weil die Festlegung von Regel und Ausnahme letztlich willkürlich ist51. Sobald aber eine bestimmte Vorschrift als Regel angesehen wird, steht die von ihr abweichende begünstigende Ausnahme von vornherein unter „Beihilfeverdacht“. Wird der Prüfungsmaßstab von einer Vorentscheidung darüber abhängig gemacht, welche Vorschrift als Regel und welche als Ausnahme anzusehen ist, trägt dies somit nicht zu einem Gewinn an Rationalität bei, sondern dazu, dass bei einer Festlegung der Regel Wertungen unter der Hand vorgenommen und mit dem Schein der Rationalität bemäntelt werden52. Die Festlegung von Regel und Ausnahme sollte daher unterbleiben53. _____________ 46 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 25 f. 47 So auch Sutter, in Studiengesellschaft WiR (Hrsg.), Beihilfenrecht 37 (43). 48 Dazu M. Lang, Seminar J: Steuerrecht, Grundfreiheiten und Beihilferecht, IStR 2010, 570 (576); M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 26. 49 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 26. 50 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 2. 51 Ähnlich schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 28 f.; Sutter, EG-Beihilfenverbot 112; a. A. noch EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 56; Schön, CMLR 1999, 929 f. 52 So M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 29; M. Lang, IStR 2010, 577; vgl. auch Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, 189, in ihrer treffenden Kritik an der Rechtsprechung des VfGH, die bei der Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes vor vergleichbaren Problemen steht. 53 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 29 f.

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D. Die Selektivitätsprüfung als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung Die Rechtsprechung des EuGH zum Beihilferecht stellt aber keineswegs durchgehend auf die „Normalbesteuerung“ ab54: GA Mengozzi teilt in seinen Schlussanträgen in der Rs. C-487/06, British Aggregates/Kommission im Rechtsmittelverfahren zu diesem Urteil zwar nicht die weiteren Folgerungen des Gerichts erster Instanz, fasst aber die Rechtsprechung in ähnlicher Weise zusammen55: „Unter besonderer Bezugnahme auf staatliche Maßnahmen steuerlicher Art hat die Rechtsprechung (…) festgestellt, dass auch Maßnahmen, deren selektiver Charakter sich aus dem Umstand ableitet, dass sie eine Differenzierung zwischen Unternehmen vornehmen, sich einer Qualifikation als Beihilfe entziehen können, wenn diese Differenzierung durch die Natur oder den inneren Aufbau des Steuersystems, in das sich diese Maßnahmen einfügen, gerechtfertigt ist (…). Hieraus folgert der Gerichtshof, dass zur Beurteilung der Selektivität einer Maßnahme zu prüfen (ist), ob sie im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, begünstigt (…)“56. Diese Vorgangsweise ist kein Einzelfall57: In Presidente del Consiglio dei Ministri/Regione Sardegna prüfte der EuGH, „ob sich Unternehmen mit steuerlichem Wohnsitz außerhalb des Gebiets der Region im Hinblick auf die Merkmale der regionalen Landungssteuer unter Zugrundelegung des rechtlichen Bezugsrahmens in einer tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, die derjenigen der in diesem Gebiet ansässigen Unternehmen vergleichbar ist“58. Daran knüpfte der EuGH folgende Schlussfolgerungen59: „Wie sich aus den Randnrn. 36 und 37 des vorliegenden Urteils ergibt, ist festzustellen, dass sich (…) in Anbetracht _____________ 54 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 28. 55 Vgl. auch EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-487/06 – British Aggregates/Kommission, Slg. 2008, I-10515. 56 Generalanwalt Mengozzi, Schlussanträge v. 17.7.2008 – Rs. C-487/06 – British Aggregates/Kommission, Slg. 2008, I-10515, Rz. 83, mit Verweis auf EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 56; vgl. auch v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41. 57 Vgl. M. Lang, IStR 2010, 571. 58 EuGH v. 17.11.2009 – Rs. C-169/08 – Presidente del Consiglio dei Ministri, Slg. 2009, I-10821, Rz. 62. 59 EuGH v. 17.11.2009 – Rs. C-169/08 – Presidente del Consiglio dei Ministri, Slg. 2009, I-10821, Rz. 63.

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des Charakters und des Zwecks der genannten Steuer alle natürlichen und juristischen Personen, denen die Abfertigungsdienstleistungen in Sardinien zugutekommen, unabhängig vom Ort ihres Wohnsitzes oder Sitzes in einer objektiv vergleichbaren Situation befinden. Die Maßnahme kann folglich nicht als allgemeine Maßnahme angesehen werden, da sie nicht allgemein auf Betreiber von Luftfahrzeugen und Freizeitbooten, die in Sardinien landen, Anwendung findet. (…) Steuervorschriften wie die im Ausgangsverfahren fraglichen stellen somit eine staatliche Beihilfemaßnahme zugunsten der in Sardinien ansässigen Unternehmen dar.“ Die Selektivitätsprüfung besteht somit aus zwei Teilen60: Zum einen ist zu prüfen, ob eine selektive Maßnahme vorliegt. Zum anderen ist zu untersuchen, ob die selektive Maßnahme gerechtfertigt ist. Im ersterwähnten Schritt geht es darum, ob bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen durch steuerliche Regelungen anders – und zwar besser – behandelt werden. Es bedarf somit der Gegenüberstellung zweier Regelungen, der günstigen und der weniger günstigen, oder der Steuervorschrift und der Befreiung oder der Nichtregelung. Eine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder ganzer Wirtschaftszweige erfüllt aber nur dann das Selektivitätskriterium, wenn sich die nach den steuerlichen Vorschriften unterschiedlich behandelten Unternehmen „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“61. Die Selektivitätsprüfung erweist sich damit als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung62: Für Zwecke des Beihilfeverbots ist maßgebend, ob sich die nach den steuerlichen Vorschriften unterschiedlich behandelten Unternehmen „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“63. Ob eine Situation rechtlich oder tatsächlich vergleichbar ist, kann nicht isoliert beurteilt werden, sondern be_____________ 60 Dazu M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 25 ff. 61 EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 28 bis 31; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41. 62 Vgl. Schön, in Koenig/Roth/Schön (Hrsg.), Aktuelle Fragen des EG-Beihilfenrechts, Beihefter zu ZHR 2001, 111; außerdem Kube, Die Gleichheitsdogmatik des europäischen Wettbewerbsrechts – zur Beihilfenkontrolle staatlicher Ausgleichszahlungen, EuR 2004, 230 (244). 63 EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 28 bis 31; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41.

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darf eines Maßstabs. Für jede Gleichheitsprüfung kommt es nicht auf beliebige, sondern im jeweiligen Kontext wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede an. Entscheidend ist, wonach sich diese Wesentlichkeit bestimmt, was also das tertium comparationis ist, nach dem der Vergleich zu ziehen ist64. Beim unionsrechtlichen Beihilfeverbot handelt es sich um kein allgemeines Gebot der Gleichbehandlung, sondern um ein Verbot, Ungleichbehandlungen vorzusehen, die nach Maßgabe der Art. 107 f. AEUV Wettbewerbsverzerrungen herbeiführen können. Der Umstand, dass Art. 107 AEUV neben „bestimmten Unternehmen“ auch von „Produktionszweigen“ spricht, beschränkt die Selektivitätsprüfung nicht. Nach Auffassung des EuGH kommen beispielsweise auch alle Unternehmen einer bestimmten Region – unabhängig von ihrer Zuordnung zu einem „Produktionszweig“ – als „bestimmte Unternehmen“ in Betracht65. Vor diesem Hintergrund können daher alle Unternehmen, die sich in einem nach Art. 107 f. AEUV erheblichen Wettbewerbsverhältnis befinden, als vergleichbar angesehen werden. Damit wird die beihilferechtliche Vergleichbarkeitsprüfung noch zu keinem Automatismus: Ob ein Wettbewerbsverhältnis zwischen Unternehmen für Zwecke der Vorschriften der Art. 107 f. AEUV erheblich ist, bedarf der Interpretation. Es kommt auf die Intensivität des Wettbewerbsverhältnisses an. Deren Festlegung bedarf letztlich einer richterlichen Wertentscheidung66. Die Richtung der Vergleichbarkeitsprüfung ist damit aber vorgegeben. Nicht jede Differenzierung ist somit verpönt. Unternehmen, die sich nicht einmal in einem potenziellen Wettbewerbsverhältnis zueinander befinden, können unterschiedlich behandelt werden. Der Intensivität des Wettbewerbsverhältnisses ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen. Im Falle unterschiedlicher steuerlicher Rechtsfolgen spielt es keine Rolle, ob die günstigere Vorschrift die größere oder die kleinere Zahl der sich in einer vergleichbaren Situation befindlichen Unternehmen trifft67. Ist einmal die unterschiedliche Behandlung von Unternehmen erwiesen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, ist dies alleine _____________ 64 Vgl. Pöschl, Gleichheit, 155. 65 Zutreffend Arhold, Steuerhoheit auf regionaler oder lokaler Ebene und der europäische Beihilfebegriff – Wie weit reicht das Konzept von der regionalen Selektivität?, EuZW 2006, 717 (720). 66 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 27; vgl. außerdem M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfenrechts auf das Steuerrecht, 17. ÖJT, Referate und Diskussionsbeiträge, Band IV/2, 2009, 80 f. 67 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 26 und 28 f.

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nach der Rechtsprechung noch nicht schädlich: „Nach ständiger Rechtsprechung erfasst jedoch der Begriff der staatlichen Beihilfe staatliche Maßnahmen, die eine Differenzierung zwischen Unternehmen vornehmen und damit a priori selektiv sind, dann nicht, wenn diese Differenzierung aus der Natur oder dem inneren Aufbau der Lastenregelung folgt, mit der sie in Zusammenhang stehen (…)“68. Dies hat der EuGH folgendermaßen präzisiert: „Eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, kann durch die Natur und den inneren Aufbau des Steuersystems gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien seines Steuersystems beruht. Insoweit ist zu unterscheiden zwischen den mit einer bestimmten Steuerregelung verfolgten Zielen, die außerhalb dieser Regelung liegen, und den dem Steuersystem selbst inhärenten Mechanismen, die zur Erreichung dieser Ziele erforderlich sind“69. Die Zulässigkeit eines spezifisch steuerrechtlichen Rechtfertigungsgrunds ist nicht selbstverständlich70: Geht man nämlich davon aus, dass es für die Qualifikation als Beihilfe keinen Unterschied macht, ob ein Mitgliedstaat ein Unternehmen der gewöhnlichen Abgabenlast unterwirft und ihm danach einen Zuschuss zukommen lässt oder ob er ihm von vornherein niedrigere Steuern vorschreibt, dürfte ein Mitgliedstaat einen Vorteil, den er seinen Unternehmen im Wege steuerrechtlicher Begünstigungen gewährt, nicht durch Begründungen rechtfertigen – und auf diese Weise leichter den in Art. 107 f. AEUV vorgesehenen Rechtsfolgen entziehen – können, die ihm außerhalb des Steuerrechts verwehrt sind. Andererseits ist die Erheblichkeit von „Natur“ und „innerem Aufbau“ nicht auf das Steuerrecht beschränkt71. Der EuGH hat diese Rechtfertigungsgründe bereits auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts ins _____________ 68 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 52; vgl. in diesem Sinne v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 33; v. 15.12.2005 – Rs. C-148/04 – Unicredito, Slg. 2005, I-11137, Rz. 51. 69 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 81; zur Systemimmanenz vgl. ausführlich Mamut, Aktuelle Fragen im Bereich der Steuerbeihilfen – Mitgliedstaaten zwischen Steuerwettbewerb und Systemimmanenz steuerlicher Beihilfen, in Jaeger (Hrsg.), Jahrbuch Beihilferecht 2008, 2008, 177 ff. 70 Kritisch Birkenmaier, Die Vorgaben der Beihilfevorschriften des EG-Vertrages für die direkte Unternehmensbesteuerung, 2007, 100 ff. 71 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 31.

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Treffen geführt72. Schließlich soll nicht übersehen werden, dass der EuGH auf dem Gebiet der Grundfreiheiten – besonders im Zusammenhang mit dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz – ebenfalls Wertungen des nationalen Rechts berücksichtigt73. Versteht man das Beihilfeverbot als spezielle Ausprägung einer gleichheitsrechtlichen Prüfung, ist dies auch nicht ungewöhnlich: So wie der verfassungsgesetzliche Gleichheitsgrundsatz verlangt, die einfachgesetzlichen Wertungen auf ihre Konsequenz und Widerspruchsfreiheit hin zu durchleuchten – und zwar am Maßstab jener Wertentscheidungen, die der Gesetzgeber selbst getroffen hat74 – kann eine steuerliche Ungleichbehandlung von Unternehmen, die sich miteinander im Wettbewerbsverhältnis befinden, nur dann nicht als selektiv angesehen werden, wenn diese Differenzierung auf einer gesetzgeberischen Wertentscheidung beruht, die dieser widerspruchsfrei verwirklicht hat75. Die vom EuGH verwendeten Formulierungen machen deutlich, dass er nicht gewillt ist, auf dem Gebiet des Steuerrechts eine Bereichsausnahme von der beihilferechtlichen Kontrolle zuzugestehen76. Dies zeigt sich schon, wenn der EuGH vom Mitgliedstaat den Nachweis verlangt, dass eine Differenzierung „unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien des allgemeinen Steuersystems beruht“. Er weist darauf hin, dass „ein Handeln auf eine Politik der regionalen Entwicklung oder des sozialen Zusammenhalts gestützt ist, (…) für sich allein nicht aus(reicht), um eine im Rahmen dieser Politik erlassene Maßnahme als gerechtfertigt anzusehen“77. Der EuGH verlangt von der Regierung des Mitgliedstaats den Nachweis, „dass der Erlass der fraglichen Maßnahmen (…) für das Funktionieren und die Wirksamkeit des allgemeinen Steuersystems erforderlich war“78. Die vom EuGH gewählten Formulierungen lassen auf einen strengen Maßstab bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Rechtfertigung schließen: Der Gerichtshof spricht davon, dass die Maßnahmen zur Erreichung der vom Steuersystem verfolgten Ziele „erforderlich“ sein müssen. Die Maßnahme muss „unmittelbar“ auf _____________ 72 EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 33 und 35. 73 Dazu M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern – Welcher Spielraum bleibt den Mitgliedstaaten?, 2007, 54 ff. 74 Vgl. Pöschl, Gleichheit, 188. 75 Vgl. auch Birkenmaier, Die Vorgaben der Beihilfevorschriften des EG-Vertrages für die direkte Unternehmensbesteuerung, 120 ff. 76 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 32. 77 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 82. 78 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 83.

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den Grund- und Leitprinzipien des Steuersystems beruhen. Sie muss „für das Funktionieren und die Wirksamkeit des allgemeinen Steuersystems erforderlich“ sein. Die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips macht kaum „unmittelbar“ bestimmte selektive Begünstigungen „erforderlich“, ohne die „das Funktionieren und die Wirksamkeit“ des Steuersystems gefährdet wären79. Der Blick auf die gleichheitsrechtliche Dogmatik zeigt, dass nicht jede vom Gesetzgeber konsequent und widerspruchsfrei umgesetzte Wertentscheidung eine unterschiedliche Behandlung von in vergleichbaren Situationen befindlichen Unternehmen rechtfertigen kann. Der Gleichheitssatz ermöglicht es, die gesetzgeberischen Wertungen selbst zu problematisieren und erforderlichenfalls umzustoßen80. Wenn daher die Natur und der innere Aufbau eines Steuersystems geradezu darauf hinauslaufen, dass bestimmte Unternehmen oder Wirtschaftszweige gegenüber anderen begünstigt werden, scheidet dieses Argument als Rechtfertigung für eine differenzierende Behandlung von in vergleichbarer Situation befindlichen Unternehmen aus. Sonst hätte es ein Mitgliedstaat in der Hand, sich durch Schaffung einer auf die Herbeiführung von Wettbewerbsverzerrungen angelegten Steuerrechtsordnung der Beihilfekontrolle zu entziehen. Die Suche nach dem Referenzsystem hat bei der Diskussion um den Beihilfecharakter der Sanierungsklausel den Blick auf die eigentlich erheblichen Argumente verstellt. Die relevante Frage lautet nämlich, ob sich die von der Sanierungsklausel erfassten – und daher begünstigten – Unternehmen und andere vom Verlustabzugsverbot des § 8c KStG betroffenen Unternehmen „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“81. Der Maßstab dafür ist die Intensität des Wettbewerbsverhältnisses. In weiterer Folge ist dann zu fragen, ob sich dies legitimerweise aus den dem Steuersystem inhärenten Zielsetzungen rechtfertigen lässt. Die Kommission muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dazu beigetragen zu haben, dass die bisherige Diskussion über weite Strecken am Thema vorbeigegangen ist. Sie hat nämlich die Suche nach dem Referenzsystem in ihrer Entscheidungsbegründung in den Vordergrund ge_____________ 79 So auch Sutter, EG-Beihilfenverbot, 109 f. 80 Vgl. Pöschl, Gleichheit, 189. 81 EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 28 bis 31; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41.

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stellt und damit auch die Kritik auf diesen Aspekt gelenkt. Allerdings hat die Kommission auch selbst den gleichheitsrechtlichen Aspekt der Beihilfeprüfung betont, wenngleich dieser Teil der Entscheidungsbegründung oft übersehen wird82: „Deshalb kommt die Kommission zu dem Schluss, dass § 8c (1a) KStG zwischen Verluste schreibenden, aber ansonsten gesunden Unternehmen und insolventen oder überschuldeten bzw. von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedrohten Unternehmen unterscheidet, wobei letztere privilegiert werden. § 8c (1a) KStG unterscheidet folglich zwischen Unternehmen, die sich in Bezug auf den Zweck des Steuersystems in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.“

E. Das EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar Die Diskussion ist jüngst durch das Urteil des EuGH vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar83 belebt worden. Im August 2002 meldete das Vereinigte Königreich bei der Kommission die beabsichtigte Körperschaftsteuerreform der Regierung von Gibraltar an84. Diese Reform umfasste insbesondere die Aufhebung des alten Steuersystems und die Einführung von drei Steuern, die für alle Unternehmen in Gibraltar gelten sollten: eine Eintragungsgebühr für Unternehmen, eine Lohnsummensteuer und eine Gewerbegrundbenutzungssteuer (business property occupation tax, BPOT). Für die Lohnsummensteuer und die Gewerbegrundbenutzungssteuer war eine Obergrenze von 15 % der Gewinne vorgesehen. Die Kommission entschied im Jahr 2004, dass die angemeldeten Vorschläge zur Reform des Körperschaftsteuersystems in Gibraltar eine staatliche Beihilferegelung darstellten, die mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei. Die Vorschläge durften daher nicht umgesetzt werden. Die Kommission stellte unter anderem fest, dass die für die Lohnsummensteuer und die BPOT geltende Obergrenze von 15 % der Gewinne _____________ 82 K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 73. 83 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg. 84 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 9 ff.

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materiell selektiv sei85: Diese Obergrenze begünstige die Unternehmen, die in dem betreffenden Steuerjahr im Verhältnis zur Zahl ihrer Mitarbeiter und zur Nutzung von Geschäftsräumen niedrige Gewinne erzielten. Weiters wären nach Auffassung der Kommission die Lohnsummensteuer und die BPOT ebenfalls materiell selektiv, da diese beiden Steuern ihrem Wesen nach „Offshore-Unternehmen“ begünstigten, die in Gibraltar nicht tatsächlich physisch präsent und daher nicht körperschaftsteuerpflichtig seien86. Darüber hinaus sei die geplante Reform regional selektiv: Sie schaffe ein System, nach dem Unternehmen in Gibraltar allgemein niedriger besteuert würden als Unternehmen im Vereinigten Königreich87. Auf die Klagen der Regierung von Gibraltar und des Vereinigten Königreichs erklärte das Gericht erster Instanz am 18.12.2008 die Entscheidung der Kommission für nichtig88. Das Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass die Kommission in Bezug auf die materielle Selektivität des Reformvorhabens keine korrekte Prüfungsmethode angewandt habe. Die Kommission hätte, um den selektiven Charakter der fraglichen Steuerregelung zu beweisen, nachweisen müssen, dass bestimmte Bestandteile dieser Regelung Ausnahmen von der allgemeinen oder „nor_____________ 85 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 21; siehe auch EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 30; Europäische Kommission v. 30.3.2004, C(2004) 929, „on the aid scheme which the United Kingdom is planning to implement as regards the Government of Gibraltar Corporation Tax Reform“, Rz. 134 bis 141. 86 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 21; siehe auch EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 30; Europäische Kommission v. 30.3.2004, C(2004) 929, „on the aid scheme which the United Kingdom is planning to implement as regards the Government of Gibraltar Corporation Tax Reform“, Rz. 142 bis 144 und 147 bis 151. 87 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 20; siehe auch EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 30; Europäische Kommission v. 30.3.2004, C(2004) 929, „on the aid scheme which the United Kingdom is planning to implement as regards the Government of Gibraltar Corporation Tax Reform“, Rz. 127. 88 EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745.

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malen“ Steuerregelung von Gibraltar seien89. Dabei habe die Kommission nicht, wie sie dies in ihrer Entscheidung getan habe, allgemeine Steuermaßnahmen im Hinblick auf ihre Wirkungen als selektiv ansehen dürfen. Außerdem war das Gericht der Ansicht, der Bezugsrahmen für die Beurteilung der regionalen Selektivität der Reform entspreche ausschließlich den Grenzen des Gebiets von Gibraltar und nicht denjenigen des Vereinigten Königreichs90. Die Kommission und Spanien legten daraufhin beim Gerichtshof Rechtsmittel ein: Begehrt wurde die Aufhebung des Urteils des Gerichts. In der bisherigen literarischen Diskussion dieser Rechtssache wurde vor allem auch der regionalen Selektivität große Aufmerksamkeit geschenkt91: Leading case der jüngeren Rechtsprechung ist das – auf Vorjudikatur verweisende92 – Urteil des EuGH vom 6.9.2006 – C-88/03, Portugal/Kommission. Hier hatte der EuGH die Frage zu entscheiden, ob begünstigende steuerliche Maßnahmen, die sich nur deshalb auf bestimmte Unternehmen eines Mitgliedstaats auswirken, weil sie Gegenstand regional erlassener Steuervorschriften sind und daher nur die dort – nicht aber in anderen Regionen – tätigen Unternehmen betreffen, ebenfalls als selektiv einzustufen sind93. Der Feststellung, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, „bedarf es auch bei einer Maßnahme, die nicht vom nationalen _____________ 89 EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 144 f. 90 EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 67 ff. 91 Vgl. Glaser, Regionale Steuerautonomie im Fokus des EG-Beihilfenrechts, EuZW 2009, 363 ff.; Sutter, The Influence of the European State Aid Rules on National Tax Policy, in Andersson u. a. (Hrsg.), National Tax Policy in Europe, 2007, 138 ff.; auch Linn, Die Anwendung des Beihilfeverbots im Unternehmenssteuerrecht, IStR 2008, 601 ff.; siehe auch Bartosch, Materielle Selektivität und Europäische Beihilfenkontrolle – Ein Diskussionsbeitrag zum derzeitigen Stand der Gemeinschaftsrechtsprechung, EuZW 2010, 12 ff. 92 EuGH v. 14.10.1987 – Rs. 248/84 – Deutschland/Kommission, Slg. 1987, 4013, Rz. 17; v. 19.9.2000 – Rs. C-156/98 – Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-6857, Rz. 23. 93 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115; der EuGH lässt es aber zu, die als selektiv eingestufte Maßnahme zu rechtfertigen: vgl. dazu Mamut, in Jaeger (Hrsg.), Jahrbuch Beihilfenrecht 2008, 193 ff.

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Gesetzgeber, sondern von einer unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten Behörde erlassen wurde, da eine von einer Gebietskörperschaft und nicht vom Zentralstaat erlassene Maßnahme eine Beihilfe darstellen kann, wenn die Tatbestandsmerkmale des Art. 87 Abs. 1 EGV erfüllt sind (vgl. Urteil vom 14. Oktober 1987 in der Rechtssache 248/84, Deutschland/Kommission, Slg. 1987, 4013, Randnr. 17). (…) Der Bezugsrahmen muss dabei nicht zwangsläufig in den Grenzen des Staatsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats festgelegt werden, sodass eine Maßnahme, die nur für einen Teil des Staatsgebiets eine Vergünstigung gewährt, nicht schon deshalb selektiv im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EGV ist. (…) Es ist nicht auszuschließen, dass eine unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelte Einrichtung aufgrund ihrer rechtlichen und tatsächlichen Stellung gegenüber der Zentralregierung eines Mitgliedstaats so autonom ist, dass sie – und nicht die Zentralregierung – durch die von ihr erlassenen Maßnahmen eine grundlegende Rolle bei der Festlegung des politischen und wirtschaftlichen Umfelds spielt, in dem die Unternehmen tätig sind. In einem solchen Fall bildet das Zuständigkeitsgebiet der unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten Einrichtung, die die Maßnahme erlassen hat, und nicht das gesamte Staatsgebiet den maßgebenden Kontext für die Prüfung der Frage, ob eine Maßnahme einer solchen Einrichtung bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen begünstigt, die sich im Hinblick auf das mit ihr oder der betreffenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. (…) Zur Beurteilung der Selektivität einer Maßnahme, die von einer unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten Einrichtung erlassen wird, um, wie im Fall der in Rede stehenden Maßnahme, nur für einen Teil des Gebietes eines Mitgliedstaats einen niedrigeren Steuersatz als im übrigen Gebiet dieses Staates festzusetzen, ist, wie in Randnummer 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zu prüfen, ob die Maßnahme von dieser Einrichtung in Ausübung von Befugnissen erlassen worden ist, die gegenüber der Zentralgewalt ausreichend autonom sind, und gegebenenfalls, ob sie tatsächlich für alle im Zuständigkeitsgebiet dieser Einrichtung ansässigen Unternehmen oder dort vorhandenen Produktionszweige gilt.“ Der EuGH hat dann diese Voraussetzung in folgender Weise operationalisiert94: „Damit davon ausgegangen werden kann, dass eine unter solchen Umständen getroffene Entscheidung in Ausübung von ausreichend _____________ 94 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 67 f.

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autonomen Befugnissen erlassen wurde, muss sie, (…) von einer regionalen oder lokalen Körperschaft erlassen worden sein, der verfassungsrechtlich ein gegenüber der Zentralregierung eigener politischer und administrativer Status eingeräumt worden ist. Sodann muss sie getroffen worden sein, ohne dass die Zentralregierung die Möglichkeit hatte, ihren Inhalt unmittelbar zu beeinflussen. Schließlich dürfen die finanziellen Auswirkungen einer Senkung des nationalen Steuersatzes für die Unternehmen in der Region nicht durch Zuschüsse oder Subventionen aus den anderen Regionen oder von der Zentralregierung ausgeglichen werden. (…) Daher setzt eine politische und fiskalische Autonomie gegenüber der Zentralregierung, die in Bezug auf die Anwendung der Gemeinschaftsregeln über die staatlichen Beihilfen ausreichend ist, wie von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgetragen, voraus, dass die unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelte Einrichtung nicht nur befugt ist, in ihrem Zuständigkeitsgebiet Steuersenkungen ohne jede Rücksichtnahme auf das Verhalten des Zentralstaats zu erlassen, sondern überdies die politischen und finanziellen Auswirkungen einer solchen Maßnahme trägt.“ In seinem Urteil vom 11.9.2008 verbundene Rs. C-428 bis 434/06, UGT Rioja hatte der EuGH die Gelegenheit, diese Kriterien zu präzisieren. In dem nun vorliegenden Urteil vom 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P, sah der EuGH aber gar keine Notwendigkeit, das Thema der regionalen Selektivität aufzugreifen, denn er hielt die in Gibraltar geplanten Regelungen zumindest zum Teil bereits für materiell selektiv. In diesem Urteil hat der EuGH bestätigt, dass im Rahmen der Selektivitätsprüfung nicht die Suche nach dem Referenzsystem von Bedeutung ist. Der EuGH hat die maßgebenden Kriterien wie folgt herausgearbeitet: „Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff der Beihilfe weiter als der Begriff der Subvention, da er nicht nur positive Leistungen wie etwa die Subventionen selbst, sondern auch staatliche Maßnahmen umfasst, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen regelmäßig zu tragen hat, und die somit, obwohl sie keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen nach Art und Wirkungen gleichstehen. (…) Daraus folgt, dass eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Abgabepflichtigen, eine ‚staatliche Beihilfe‘ im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG ist. (…) Dagegen stellen die Vorteile aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 87 EG dar. (…)

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Es ist daher festzustellen, ob das Steuerreformvorhaben einen selektiven Charakter hat, da die Selektivität zum Begriff der staatlichen Beihilfe gehört. (…) Was die Beurteilung der Voraussetzung der Selektivität betrifft, muss nach ständiger Rechtsprechung gemäß Art. 87 Abs. 1 EG festgestellt werden, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, ‚bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige‘ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, zu begünstigen. (…) Im Licht dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob das Gericht Art. 87 Abs. 1 EG in der Auslegung durch den Gerichtshof verkannt hat, indem es befunden hat, dass keiner der drei durch die streitige Entscheidung festgestellten Bestandteile selektive Vorteile gewähre.“

Entscheidend ist somit nicht die Suche nach einem Referenzsystem, sondern nach den Unternehmen, die sich „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“. Im Urteil vom 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P – hat der EuGH diese allgemeinen Überlegungen in folgender Weise auf die vorgelegte Konstellation angewendet: „Das Gericht hat bezüglich der ersten beiden in der streitigen Entscheidung festgestellten selektiven Bestandteile der fraglichen Maßnahme, nämlich dem Umstand, dass eine Steuerschuld aus Lohnsummensteuer und BPOT nur entsteht, sofern der Steuerpflichtige Gewinne erzielt, und dass die Steuer gemäß diesen beiden Besteuerungsgrundlagen auf 15 % des Gewinns begrenzt ist, festgestellt, dass die Kommission nicht habe nachweisen können, dass diese Bestandteile selektive Vorteile gewährten. (…) Diese Folgerung des Gerichts ist nicht rechtsfehlerhaft. (…) Wie in Randnr. 73 des vorliegenden Urteils festgestellt, fallen unter den Begriff der staatlichen Beihilfe nur selektive Vorteile und keine Vorteile, die sich aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme ergeben. (…) Die Voraussetzung der Gewinnerzielung und die Begrenzung der Besteuerung des Gewinns sind als solche jedoch unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbare allgemeine Maßnahmen und können daher keine selektiven Vorteile verschaffen. (…) Die Feststellung der Kommission, dass das Kriterium der Gewinnerzielung der inhärenten Logik eines auf Lohnsummensteuer und BPOT beruhenden Besteuerungssystems fremd sei, bedeutet nicht, dass dieses an sich neutrale Kriterium selektiv wird. (…) Das Gericht hat rechtsfehlerfrei befunden, dass die Voraussetzung der Gewinnerzielung und die Begrenzung der Steuer auf 15 % des Gewinns keine selektiven Vorteile gewährten. (…) Die von der Kommission gerügten Vorteile, die sich aus Maßnahmen ergeben, die unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbar sind, nämlich aus der Voraussetzung der Gewinnerzielung, die den wenig gewinnbringend arbeitenden Wirtschaftsteilnehmern zugutekäme, und aus der Begrenzung der Be-

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steuerung, die den sehr gewinnbringend arbeitenden Wirtschaftsteilnehmern zugutekäme, erlauben nicht, die geprüfte Steuerregelung als Regelung anzusehen, die selektive Wirkungen enthält. Diese Wirkungen sind nicht geeignet, ‚bestimmte Unternehmen‘ oder ‚bestimmte Produktionszweige‘ im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG zu begünstigen, sondern nur Folge des zufälligen Umstands, dass der fragliche Wirtschaftsteilnehmer im Veranlagungszeitraum wenig oder sehr gewinnbringend arbeitet.“

In Hinblick auf die nicht vorgesehen gewesene Besteuerung von „Offshore-Unternehmen“ ist der EuGH zum gegenteiligen Resultat gelangt und hat die Auffassung vertreten, dass diesen Unternehmen, die naturgemäß keine physische Präsenz in Gibraltar hätten, selektive Begünstigungen zugutekämen95: „Erstens unterscheidet Art. 87 Abs. 1 EG nach ständiger Rechtsprechung nicht nach den Gründen oder Zielen der staatlichen Maßnahmen, sondern beschreibt diese nach ihren Wirkungen und somit unabhängig von den verwendeten Techniken. (…) Der Ansatz des Gerichts, der allein auf die Regelungstechnik des Steuerreformvorhabens abstellt, erlaubt es jedoch nicht, die Wirkungen der fraglichen steuerlichen Maßnahme zu prüfen, und schließt a priori die Möglichkeit aus, das Fehlen jeglicher Besteuerung der ‚Offshore-Unternehmen‘ als ‚selektive Begünstigung‘ zu betrachten. Daher verstößt dieser Ansatz gegen die in Randnr. 87 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung. (…) Zweitens verkennt der Ansatz des Gerichts auch die in Randnr. 71 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung, der zufolge das Vorliegen einer selektiven Begünstigung eines Unternehmens voraussetzt, dass die Belastungen, die dieses Unternehmen regelmäßig zu tragen hat, vermindert werden. (…) Der Gerichtshof hat zwar in Randnr. 56 des Urteils Portugal/Kommission festgestellt, dass der Bestimmung des Bezugsrahmens im Fall steuerlicher Maßnahmen eine besondere Bedeutung zukommt, da das tatsächliche Vorliegen einer Begünstigung nur in Bezug auf eine sogenannte ‚normale‘ Besteuerung festgestellt werden kann. (…) Gleichwohl ist entgegen der Argumentation des Gerichts sowie dem Vorbringen des Government of Gibraltar und des Vereinigten Königreichs nach dieser Rechtsprechung die Einstufung eines Steuersystems als ‚selektiv‘ nicht davon abhängig, dass dieses so konzipiert ist, dass die Unternehmen, denen möglicherweise eine selektive Begünstigung zugutekommt, grundsätzlich denselben steuerlichen Belastungen unterliegen wie die sonstigen Unternehmen, dass sie aber von Ausnahmevorschriften profitieren, sodass die selektive Begünstigung im Unterschied zwischen der normalen steuerlichen Belastung und der Belastung der erstgenannten Unternehmen erblickt werden kann. (…) Ein solches Verständnis des Kriteriums der Selektivität würde entgegen der in Randnr. 87 des vorliegenden Urteils

_____________ 95 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 63.

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angeführten Rechtsprechung voraussetzen, dass eine Steuerregelung, um als selektiv eingestuft werden zu können, nach einer bestimmten Regelungstechnik konzipiert ist, was dazu führen würde, dass nationale Steuervorschriften der Kontrolle auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen von vornherein aus dem bloßen Grund entzogen sind, dass sie auf einer anderen Regelungstechnik beruhen, obwohl sie rechtlich und/oder tatsächlich dieselben Wirkungen entfalten. (…) Dies gilt vor allem für ein Steuersystem, das, wie im vorliegenden Fall, statt allgemeine Vorschriften für sämtliche Unternehmen vorzusehen, von denen zugunsten bestimmter Unternehmen Ausnahmen gemacht werden, zu demselben Ergebnis führt, indem es die Steuervorschriften derart anpasst und verknüpft, dass ihre Anwendung selbst zu einer unterschiedlichen steuerlichen Belastung für die verschiedenen Unternehmen führt. (…) Drittens hat das Gericht der Kommission in den Randnrn. 184 bis 186 des angefochtenen Urteils zu Unrecht vorgeworfen, das Vorliegen einer selektiven Begünstigung der ‚Offshore-Unternehmen‘ nicht nachgewiesen zu haben, da sie in der streitigen Entscheidung keinen Bezugsrahmen für die Feststellung einer selektiven Begünstigung festgelegt habe. (…) Diesen Randnummern lässt sich nämlich entgegen den Feststellungen des Gerichts zu den Randnrn. 143, 144 und 150 der streitigen Entscheidung entnehmen, dass die Kommission das Vorliegen einer selektiven Begünstigung der ‚Offshore-Unternehmen‘ im Hinblick auf die fragliche Steuerregelung geprüft hat, die formell für alle Unternehmen gilt. In der streitigen Entscheidung wird diese Regelung daher offensichtlich als Bezugsrahmen festgelegt, im Hinblick auf den die ‚OffshoreUnternehmen‘ tatsächlich begünstigt wären. (…) Schließlich hat die Kommission in der streitigen Entscheidung entgegen den Feststellungen des Gerichts rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass den ‚Offshore-Unternehmen‘ im Hinblick auf diesen Bezugsrahmen selektive Begünstigungen im Sinne der in Randnr. 75 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zugutekommen. (…) Zwar fallen, wie das Gericht in Randnr. 146 des angefochtenen Urteils feststellt, mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Bestimmung der Besteuerungsgrundlagen und die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten, die über Steuerautonomie verfügen. (…) Gleichwohl hat das Gericht es versäumt, die fragliche Regelung insgesamt zu prüfen, und nicht die Gesichtspunkte berücksichtigt, die die Kommission ihrer Bewertung der fraglichen Regelung in der streitigen Entscheidung zugrunde gelegt hat. (…) In diesem Zusammenhang ist auf die charakteristischen Merkmale der fraglichen Regelung hinzuweisen, wie sie in den Randnrn. 21 bis 25 des angefochtenen Urteils beschrieben werden. (…) Kennzeichen dieser Regelung ist einerseits die Kombination von Lohnsummensteuer und BPOT als einzigen Besteuerungsgrundlagen, zu denen die Voraussetzung der Erzielung eines Gewinns hinzukommt, dessen Besteuerung auf 15 % begrenzt ist, und andererseits das Fehlen einer allgemein anwendbaren Besteuerungsgrundlage, die eine Besteuerung aller von dieser Regelung betroffenen Unternehmen vorsieht. (…)

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Angesichts ihrer in der vorangegangenen Randnummer aufgeführten Merkmale führt die streitige Regelung durch die Kombination dieser Grundlagen, auch wenn diese auf an sich allgemeinen Kriterien beruhen, in der Praxis offensichtlich zu einer unterschiedlichen Behandlung der Gesellschaften, die sich im Hinblick auf das mit dem Steuerreformvorhaben verfolgte Ziel, ein allgemeines Besteuerungssystem für alle in Gibraltar ansässigen Unternehmen einzuführen, in einer vergleichbaren Lage befinden. (…) Daher folgt aus der Kombination dieser Besteuerungsgrundlagen nicht nur eine Besteuerung, die von der Zahl der Arbeitnehmer und der Größe der genutzten Geschäftsräume abhängt, sie schließt vielmehr, da andere Besteuerungsgrundlagen fehlen, auch von vornherein jede Besteuerung der ‚Offshore-Unternehmen‘ aus, da diese keine Arbeitnehmer beschäftigen und auch keine Geschäftsräume nutzen. (…) Zwar kann nach der in Randnr. 73 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eine unterschiedliche steuerliche Belastung, die sich aus der Anwendung einer ‚allgemeinen‘ Steuerregelung ergibt, als solche nicht ausreichen, um im Rahmen von Art. 87 Abs. 1 EGV die Selektivität einer Besteuerung festzustellen. (…) Um als Kriterien angesehen werden zu können, die selektive Vorteile verschaffen, müssen die in einem Steuersystem als Besteuerungsgrundlage festgelegten Kriterien daher auch geeignet sein, die begünstigten Unternehmen anhand ihrer spezifischen Eigenarten als privilegierte Gruppe zu kennzeichnen, und damit die Einstufung eines solchen Systems als Regelung ermöglichen, die ‚bestimmte‘ Unternehmen oder ‚bestimmte‘ Produktionszweige im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EGV begünstigt. (…) Genau dies ist hier jedoch der Fall. (…) In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Umstand, dass die ‚Offshore-Unternehmen‘ nicht besteuert werden, keine zufällige Folge der fraglichen Regelung ist, sondern unvermeidliche Konsequenz der Tatsache, dass die Besteuerungsgrundlagen genau so konzipiert sind, dass die ‚Offshore-Unternehmen‘, die als solche keine Arbeitnehmer beschäftigen und keine Geschäftsräume nutzen, keine der in dem Steuerreformvorhaben enthaltenen Bemessungsgrundlagen aufweisen. (…) Der Umstand, dass die ‚Offshore-Unternehmen‘, die im Hinblick auf die in dem Steuerreformvorhaben enthaltenen Besteuerungsgrundlagen eine Gruppe von Unternehmen bilden, gerade aufgrund der typischen und spezifischen Merkmale dieser Gruppe nicht besteuert werden, erlaubt daher die Feststellung, dass diesen Unternehmen selektive Begünstigungen zugutekommen.“

Die Argumente des EuGH, auf die Annahme eines Referenzsystems zu verzichten, sind überzeugend. Der EuGH hat erkannt, dass alleine die Frage nach der tatsächlichen und rechtlich vergleichbaren Situation relevant ist. Die Suche nach der „normalen“ Besteuerung hat zu Recht keine Rolle gespielt. Während GA Jääskinen noch darauf beharrt hatte, dass das Vorliegen eines Vorteils und die Selektivität streng getrennt

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voneinander zu prüfen sind96, hat sich der EuGH offenbar der – auch von mir vertretenen97 – Auffassung angeschlossen, dass die Identifikation eines Vorteils in der Selektivitätsprüfung aufgeht. Ob die vom EuGH zur Prüfung des tatsächlichen und rechtlichen Vorteils entwickelten Kriterien tragfähig sind, ist aber eine andere Frage: Den Umstand, dass die Lohnsummensteuer und die Grundnutzungssteuer mit 15 % des Gewinns gedeckelt ist, hätte man nämlich auch als begünstigte Besteuerung einer Gruppe von Unternehmen mit „typischen und spezifischen Merkmalen“ qualifizieren können: Unternehmen, die über eine entsprechend hohe Lohnsumme und große Büroräumlichkeiten verfügen, profitieren nämlich insoweit, als sie ohne diese Deckelung höher besteuert würden. Umgekehrt hätte man wohl auch die Nichtbesteuerung von Unternehmen ohne Arbeitnehmer und ohne Büroräumlichkeiten als „zufällige Folge der fraglichen Regelung“ ansehen können, wonach das für Gibraltar vorgesehene Steuersystem eben nur an die Zahl der Arbeitnehmer und die Größe der Büroräumlichkeiten anknüpft. Die vom EuGH angebotenen Formeln scheinen sich beliebig füllen zu lassen. Entscheidend hätte die Intensität des Wettbewerbsverhältnisses sein müssen. Vor diesem Hintergrund stellt sich aber die Frage, ob nach diesem Maßstab die Ausklammerung der „Offshore-Unternehmen“ aus der Besteuerung zur Selektivität führt: Die in Gibraltar aktiven Unternehmen stehen mit jenen Unternehmen, die gar keine physische Präsenz in Gibraltar haben, in keinem anderen Wettbewerbsverhältnis als mit jedem anderen Unternehmen in jedem beliebigen anderen Land. Diese „Offshore-Unternehmen“ entfalten ihre wirtschaftliche Aktivitäten naturgemäß nicht in Gibraltar, sondern – wenn überhaupt – außerhalb. Alle anderen Unternehmen, die gleich von vornherein nicht in Gibraltar gegründet wurden und dort auch keine wirtschaftlichen Aktivitäten entfalten, stehen im selben Wettbewerbsverhältnis zu den in Gibraltar aktiv tätigen Unternehmen, ohne dass die fehlende Besteuerung dieser, überhaupt keinen Bezug zu Gibraltar habenden Unternehmen in Gibraltar den Beihilfetatbestand auslösen würde. _____________ 96 Generalanwalt Jääskinen, Schlussantrag v. 7.4.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 158; so auch Schön, 17. ÖJT, Referate und Diskussionsbeiträge, Band IV/2, 28 ff. 97 Siehe M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 17 f.

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Für den EuGH machte es möglicherweise einen Unterschied, ob die Begünstigung und deren Höhe für ein Unternehmen schon von Beginn an absehbar ist: Während die Höhe des Gewinns – und damit die in Gibraltar vorgesehene Deckelung der Steuerlast – von vornherein nicht abschätzbar ist, ist für Unternehmen, die keine Arbeitnehmer in Gibraltar beschäftigen und dort auch über keine Betriebsräumlichkeiten verfügen, klar, dass sie auch keiner Besteuerung unterliegen werden. Allerdings lässt sich auch bei Unternehmen, die in Gibraltar zunächst keine Arbeitnehmer beschäftigen und keine Räume haben, nicht ausschließen, dass sich dies ändern wird. Umgekehrt ist auch der zu erwartende Gewinn Gegenstand betriebswirtschaftlicher Planungsüberlegungen, sodass Prognosen über die Höhe des Vorteils nicht völlig unmöglich sind. Vor diesem Hintergrund könnte im Hinblick auf § 8c KStG versucht werden, den Beihilfevorwurf durch den Hinweis auszuräumen, dass es ein Unternehmen bei Aufnahme seiner Tätigkeit eben gerade nicht darauf anlegt, später die Voraussetzungen der Sanierungsklausel zu erfüllen. Zum Zeitpunkt des Beginns der Tätigkeit ist nicht abschätzbar, ob das Unternehmen überhaupt in späteren Jahren Verluste erleiden wird und – vor allem – ob es sich – um die Worte der Kommission zu verwenden – um ein Verluste schreibendes, aber ansonsten gesundes Unternehmen oder aber um ein insolventes oder überschuldetes oder von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedrohtes Unternehmen handelt. Die Auswirkungen des § 8c KStG ließen sich aus diesem Blickwinkel als „zufällige Folge der fraglichen Regelung“ beschreiben. Dagegen lässt sich aber einwenden, dass in dem Zeitpunkt, in dem die Anteile veräußert werden, schon eher beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen der Sanierungsklausel vorliegen werden. Im Veräußerungszeitpunkt lassen sich die unter die Sanierungsklausel fallenden Unternehmen daher möglicherweise nach „typischen und spezifischen Merkmalen“ qualifizieren. Die Wertungen, die dem EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P zugrunde liegen, können allerdings aus mehreren Gründen nur mit großer Vorsicht bei der Beurteilung anderer Konstellationen fruchtbar gemacht werden: Der von Gibraltar vorgelegte Gesetzgebungsvorschlag sollte offenkundig durch eine mehr oder weniger elegante Regelungstechnik sicherstellen, dass „Offshore-Unternehmen“ begünstigt werden, ohne dass dies der Vorschrift auf die Stirn geschrieben ist. Der Ausnahmecharakter der Regelung sollte nicht mit Händen zu greifen sein. Dennoch hätten die Regelungen dieselben Wirkungen haben sollen wie eine Vorschrift, die zwar alle in Gibraltar ansässigen 113

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Unternehmen in die Steuerpflicht einbezieht, die „Offshore-Unternehmen“ aber ausnimmt. Die Regierung von Gibraltar zielte also offenkundig darauf ab, sich einer Beurteilungspraxis der Kommission zu entziehen, die als Ausgangspunkt der Beihilfeprüfung nach der „normalen“ Besteuerung fragt. Die Richter erkannten vermutlich die hinter der vorgeschlagenen Regelung stehende Absicht der Regierung von Gibraltar, ließen sich aber richtigerweise nicht dazu hinreißen, eine auf subjektive Kriterien abstellende Beihilfeprüfung zu entwickeln. Ähnlich wie eine auf die Intention des Steuerpflichtigen abstellende Missbrauchsvorschrift immer problematisch ist, weil sich innere Vorgänge nicht beweisen lassen, würde auch in Beihilfekonstellationen eine auf die „Missbrauchsabsicht“ eines Staates abstellende Rechtsprechung nur dazu führen, dass jene Staaten profitieren, denen es gelingt, ihre eigentlichen Motive erfolgreich zu verschleiern. Der EuGH hat am Beispiel dieser Konstellation erkannt, dass eine auf die Normalbesteuerung abzielende Vorgangsweise nicht zielführend ist, sondern dass nach der rechtlichen und tatsächlichen Vergleichbarkeit von Situationen zu fragen ist. Um die von der Regierung von Gibraltar offenbar geplante Umgehung des Beihilfetatbestands zu vereiteln, musste er im konkreten Fall einen Maßstab anlegen, nach dem schon bei relativ geringer Intensität des Wettbewerbsverhältnisses Vergleichbarkeit der Situationen vorliegt. Ob der EuGH daher in weniger „missbrauchsverdächtigen“ Konstellationen denselben Maßstab anlegt, lässt sich nur schwer vorhersagen. Eng damit verbunden ist der allgemein-politische Hintergrund dieses Urteils: Der Kommission sind seit geraumer Zeit die in manchen Drittstaaten bestehenden Regelungen, die ausländische Gewinne bestimmter Gesellschaften nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einbeziehen, ein Dorn im Auge.98 So hat die Kommission die Steuervorschriften zahlreicher Schweizer Kantone zugunsten von Holdinggesellschaften, gemischten Gesellschaften und Verwaltungsgesellschaften als Form der staatlichen Beihilfe qualifiziert. Der Einwand, von Drittstaaten werde die Abschaffung solcher Besteuerungsregime verlangt, obwohl nicht gesichert ist, dass gegen ähnliche Regelungen in EU-Mitgliedstaaten mit Mitteln des Unionsrechts erfolgreich vorgegangen werden könne, konnte bisher nicht völlig entkräftet werden. Der EuGH hat nun der Kommission den Rücken gestärkt und ihr ermöglicht, gegenüber Drittstaaten glaubwürdiger aufzutreten: Die Rechtsprechung hat verdeutlicht, dass _____________ 98 Dazu M. Lang, Das Gibraltar-Urteil des EuGH: Neue beihilferechtliche Vorgaben für das Steuerrecht?, ÖStZ 2011, 593 (598).

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„Offshore-Steuerregime“ in der EU auch unionsrechtlich nicht hinzunehmen sind. Auch vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob der EuGH auch in anderen Konstellationen bei seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung denselben Maßstab anlegen wird.

F. Würdigung und Ausblick Das unionsrechtliche Beihilferecht wird von der Rechtsprechung des EuGH sukzessive zur Entfaltung gebracht. Die ersten Urteile, in denen der EuGH die Bedeutung des Beihilferechts für das Steuerrecht bestätigt hat, sind zwar noch vor dem Beginn der steuerlichen Judikatur des EuGH auf dem Gebiet der Grundfreiheiten ergangen. Dennoch ist die Zahl der vom Gerichtshof entschiedenen Fälle deutlich geringer. Dies hat nicht zuletzt mit der diametral entgegengesetzten Interessenkonstellation zu tun: Durch Berufung auf die Grundfreiheiten kann der Steuerpflichtige die Ausweitung einer ihm ursprünglich vorenthaltenen Begünstigung verlangen. Die Anwendung des Beihilfetatbestands bewirkt hingegen in aller Regel, dass dem Steuerpflichtigen ein ihm vom nationalen Gesetzgeber in Aussicht gestellter Vorteil versagt bleibt. Beihilferechtliche Fragestellungen gelangen daher auf dem Gebiet des Steuerrechts dann auf den Prüfstand des EuGH, wenn die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einleitet oder wenn ein vorlegendes Gericht den tatsächlichen oder vermeintlichen Verstoß gegen das Beihilfeverbot von Amts wegen aufgreift. Der EuGH hat allerdings auch schon begonnen, die Voraussetzungen für die Konkurrentenklage zu präzisieren. Mitbewerber könnten sich in Zukunft verstärkt bemühen, dass einem anderen Unternehmen eine zu Unrecht gewährte Begünstigung wieder genommen wird. Der Anreiz, gegen den Konkurrenten vorzugehen, ist aber dadurch gemindert, dass es dem Antragsteller im Regelfall nicht gelingen kann, dass er selbst in den Genuss des Vorteils kommt. Das Beihilfeverbot – von der Rechtsprechung weiter entfaltet – kann jedenfalls die steuerpolitischen Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten viel stärker begrenzen als es die Grundfreiheiten je vermochten. Die Möglichkeiten der Staaten, im Wege des Steuerrechts Wirtschaftspolitik zu betreiben, werden kleiner werden. Die geringer werdenden Spielräume nationaler Steuerpolitik könnten es den Mitgliedstaaten leichter machen, sich mit einer an Bedeutung gewinnenden EU-weiten Steuerharmonisierung und Verlagerung von Steuerkompetenzen an die Union abzufinden. 115

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Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, WU Wien

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Lang, haben Sie vielen Dank für Ihre umfassende Darstellung der Thematik. Sie bezieht ihre Aktualität nicht allein aus der vor zwei Wochen ergangenen Entscheidung des EuGH in dem Verfahren Gibraltar1. Vielmehr läuft am kommen Montag2 die Frist für Klagen betroffener Unternehmen gegen die Entscheidung der Kommission ab, wonach die sog. Sanierungsklausel in § 8c Abs. 1a KStG eine unzulässige Beihilfe darstellen soll. Herr Bernhardt, wie stark ist es im Bewusstsein verankert, dass gewisse steuerliche Regelungen, die im Einzelfall zunächst günstig erscheinen mögen, Risiken bergen können? Nämlich Risiken, dass man rück_____________ 1 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P. 2 5.12.2011.

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Podiumsdiskussion: EU-Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG

wirkend finanzielle Vorteile zurückgewähren muss, möglicherweise sogar ungeachtet nationaler Bestandskraft- und Vertrauensschutzregelungen. Bernhardt Das will ich gerne beantworten. Diese Problematik ist uns sehr wohl bewusst und ist ein nicht unbedeutendes Thema in unseren Erfahrungsaustauschen, weil es letztlich auch um Konkurrenz geht. Wenn wir nur einmal die Forschungsförderung ansehen, da haben wir einen richtigen Wettbewerb auch mit Nachbarstaaten in unserer ganz unmittelbaren Nähe. Gerade Frankreich hat, ebenso wie die Niederlande, ein exzellentes System, das sehr vorteilhaft für die Industrie ist. Wir haben im Augenblick wieder einmal eine politische Diskussion in Deutschland zu diesem Thema. Ob es eine Forschungsförderung mit steuerlichen Mitteln geben wird oder kann, auch wegen der haushaltspolitischen Restriktionen, muss man abwarten. Aber das Grundproblem für Unternehmen, die global aufgestellt sind, ist natürlich schon, wo man letztlich derartige Aktivitäten betreibt. Wenn man Allokationsentscheidungen bzw. Standortentscheidungen getroffen hat, muss man wissen, dass dann mögliche Aberkennungen und Rückforderungsansprüche schon ein erhebliches Thema sein können. In diesem Zusammenhang, darauf ist auch im Vortrag zu Recht hingewiesen worden, kann das Thema Konkurrentenklage eine gesteigerte Bedeutung erlangen. Denn man muss sich schon im Unternehmen die Frage stellen, ob man nicht irgendwas dagegen unternehmen kann, dass Wettbewerber in anderen Staaten bessere Bedingungen haben. Wenn ich noch ein oder zwei weitere Aspekte dazu beitragen darf. Ich sehe einmal von den eigenen Überlegungen im Unternehmen ab und schaue mehr auf das Ganze, auf die volkswirtschaftliche Komponente. Letztlich muss man natürlich sehen, was diese Beihilferechtsprechung und diese Entwicklung, die Trends, die wir dort sehen, für die Standortpolitik bedeuten. Was heißt das für die Frage, welche konjunkturpolitischen Maßnahmen ergriffen werden können? Wir haben das mit dem § 8c KStG ganz konkret gesehen. Was heißt das auch für Unternehmen, gerade kleine innovative Unternehmen, die in Probleme geraten können? Was heißt es für Umweltaktivitäten, die man fördern möchte, oder Arbeitsplatzschaffung? Es gibt eine ganze Palette von volkswirtschaftlich durchaus nützlichen und wünschenswerten Förderungsüberlegungen. Das ist auch nicht nur eine Frage der Unternehmen, die letztlich 118

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aus grundsätzlichen Überlegungen irgendwo begünstigt werden sollen. Es stellt sich die Frage an den Staat, an das Gemeinwesen, was kann man tun? Und zwar, was kann man berechtigterweise tun, ohne dass man das Risiko läuft, am Ende ausgebremst zu werden? Und eine Frage ist hier auch zu Recht gestellt worden: Muss man öfters notifizieren oder hieße das, schlafende Hunde zu wecken? Aber das Risiko, dass man hinterher sozusagen „ertappt“ wird, steigt. Das hat natürlich letztlich auch Auswirkungen auf die Begünstigten, die darauf aufbauen und dann am Ende sozusagen die Zeche zahlen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Müller-Gatermann, es ist teilweise diskutiert worden, ob durch die Beihilfeprüfungen des EuGH möglicherweise eine Art Systemgerechtigkeitsprüfung durch die Hintertür kommt. Referenzsystem klingt ein bisschen danach, dass man mal schaut, ob alles zusammenpasst. Wie wird im Bundesfinanzministerium das Problem der Beihilfe gesehen? Warum hat die Bundesregierung die Sanierungsklausel, die jetzt immerhin den EuGH beschäftigt, vorher nicht notifiziert? Wollte man keine schlafenden Hunde wecken oder hat man schlicht das Problem nicht gesehen? Fühlt man sich an einer neuen Ecke eingeengt, nachdem die Grundfreiheiten etwas aus dem Fokus geraten sind? Müller-Gatermann Ich habe in meiner Zeit im Finanzministerium ein einziges Mal in meinem Bereich, in der Unternehmenssteuer, eine Notifizierung erlebt. Das war in den 80er-Jahren. Da gab es eine kurze Zeit eine Vorschrift, ich glaube, es war § 6c EStG. Ich habe dabei gelernt, dass der Begriff der Beihilfe ein sehr breiter Begriff ist. Dann hat mich das Thema nicht mehr beschäftigt, bis jetzt hier bei dem § 8c KStG. Da ist unser Haus in der Tat der Auffassung, dass keine Selektivität vorliegt. Begründet wird das wohl damit, dass die Sanierungsklausel im Prinzip jedes Unternehmen treffen kann. Ob das letztlich trägt, da wage ich keine Prognose. Wir haben eine Nichtigkeitsklage eingelegt, die Entscheidung müssen wir abwarten. Die meiste Hoffnung hat mir dafür die Argumentation i. S. einer gleichheitsrechtlichen Prüfung gemacht, wonach die Sanierungsklausel als eine differenzierende Lösung den speziellen Fall der Sanierungsbedürftigkeit begründen kann. Mir leuchtet das jedenfalls ein. Aber man muss das abwarten. Wir sind wohl auch dabei, dass wir in einem Einzelfall in einem Verfahren eines Steuerpflichtigen, der 119

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den Vorteil zurückzahlen muss und der ja auch klagen kann, als Streithelfer mitwirken. Prof. Dr. Lüdicke Das, was die Bundesregierung in dem Verfahren bisher vorgetragen hat, ist öffentlich – jedenfalls insoweit, als es von der Kommission in ihrer Entscheidung wiedergegeben worden ist3. Da hat man den Eindruck, dass die Bundesregierung ein bisschen lieblos vorgegangen ist, wenn ich das so sagen darf. Das klingt alles nicht so richtig überzeugend. Nun weiß ich natürlich nicht, ob da auch der Stille-Post-Effekt eine Rolle spielt, weil die Kommission das alles nicht ganz richtig wiedergegeben hat. Aber wenn man als eins der vorgebrachten Argumente liest, die Sanierungsklausel sei auch damit zu rechtfertigen, dass sie Missbräuche verhindere, frage ich mich schon, wie das denn wohl gehen kann. Das kann man doch nicht ernsthaft vortragen. Müller-Gatermann Es wird teilweise in der Tat gelästert, dass man da ein bisschen lieblos mit umgegangen ist. Denn das kostet ja, wenn wir gewinnen würden, eigentlich den Fiskus nur Geld. Prof. Dr. Lüdicke … was aber der Gesetzgeber mal auszugeben bereit war. Müller-Gatermann Na gut, aber der Gesetzgeber wirkt letztlich auch beim Haushalt mit. Aber ich kann dazu eigentlich gar nichts sagen. Dass Haushaltsüberlegungen im Augenblick durchaus im Vordergrund sind, ist klar. Aber ich meine, wenn man gesetzlich eine solche Klausel einführt, muss man das mit vollem Herzen tun und dahinterstehen. Und man muss das dann auch überzeugend verteidigen. Ich bin nicht unmittelbar betroffen, deswegen kann ich nur berichten, was mir vorgetragen wurde. Aber wenn ich wieder nach Berlin gehe, würde ich in der Tat bei den Kollegen doch nochmal diese Argumentation von Herrn Lang mit der Gleichheitsprüfung anregen, denn da verspreche ich mir den größten Erfolg von. _____________ 3 Europäische Kommission, Beschluss v. 26.1.2011, ABl. EU 2011, L 235, 26–41.

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Prof. Dr. Lüdicke Herr Gosch, gibt es beim BFH schon Erkenntnisse zur Beihilfe? Prof. Dr. Gosch Sagen wir mal so, im I. Senat praktisch nicht, bis auf eine anhängige Sache, die aber nichts mit dem § 8c KStG zu tun hat, sondern mit der ebenfalls beihilfesensiblen und beihilferelevanten Förderung von Betrieben gewerblicher Art in § 8 Abs. 7 ff. KStG. Die Revision betrifft dauerdefizitäre Dauerverlustbetriebe, die bestimmte soziale, kulturelle oder ähnliche Aufgaben erfüllen und die unbeschadet ihrer immanenten Dauerverluste kraft gesetzlicher Anordnung gleichwohl außerhalb des Spektrums der verdeckten Gewinnausschüttung bleiben sollen. Der I. Senat hat diese Revision wegen der Frage zugelassen, ob sich daraus eine verbotene Beihilfe ergibt. Der klagende Steuerpflichtige, also der Betrieb gewerblicher Art, war naturgemäß anderer Auffassung, im Ergebnis ebenso wie die Finanzverwaltung. Das ist der seltene Fall, in dem der Fiskus und der Steuerpflichtige letztlich gemeinsam an einem Strang ziehen: Der eine gewährt den Vorteil, der andere will ihn behalten. Fraglich ist eben nur, ob gerade darin nicht die inkriminierte Wettbewerbsverfälschung liegt. Das zur aktuellen „Szene“. Aber was ich sehr spannend fand, Herr Lang, betrifft etwas anderes, nämlich den von Ihnen in den Vordergrund gestellten Gleichheitsaspekt. Sie erkennen zwar das beihilferelevante selektive Vorgehen des Gesetzgebers, stellen dieses aber zurück, wenn die betreffende Maßnahme – so wie bei der Gibraltar-Entscheidung – nicht nur eine relative, sondern eine absolute Eignung zur Beihilfe hat, obschon eine spezifische Gruppe begünstigt wird. Bei gewissermaßen neutralen Förderungen fehlt der Vergleichsbezugspunkt, der ohnehin mehr oder weniger beliebig ist, wie Sie ja sehr schön auch am § 8c KStG gezeigt haben. Was ist Henne und was ist Ei? Ganz genau wissen wir es nicht. Worin liegt der Grundsatz – ist das derjenige des unbedingten interperiodischen oder überperiodischen Verlustabzugs? Trifft das auch bei § 8c KStG zu? Oder ist hier die vermeintliche Ausnahme der Verlustbeschränkung die eigentliche Regel? Eine derartige Relativität nehmen Sie doch – so habe ich Sie verstanden – in der Gibraltar-Entscheidung an. Eine Gruppe, die, wie Sie es formuliert haben, infolge ihrer spezifischen Eigenheit als privilegierte Gruppe zu qualifizieren ist, ist dann bei einer solchen, formal neutral „daherkommenden“ Förderung das Maß der Dinge. Das ließe sich denn u. U. auch auf § 8c KStG über121

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tragen. Hier sind es die Sanierungsbetriebe, welche unbeschadet einer selektiven Vergleichbarkeit eine qualifizierte Gruppe bilden, die begünstigt werden. Nimmt man das an, dann bedarf es der besagten Henne-Ei-(oder besser Regel-Ausnahme-)Suche nicht mehr; allein schon aus ihrer Wirkung ergibt sich der Beihilfecharakter der Sanierungsklausel. Wobei das dem Gesetzgeber als Vater dieser Klausel keineswegs unbekannt gewesen sein dürfte, das sei ergänzend angemerkt. Bereits zuvor gab es den gesetzgeberischen Versuch, Wagniskapitalgesellschaften zu begünstigen. Dieser Versuch erweckte denn auch sofort den Argwohn der EG-Kommission. Man hat das dann zurückgezogen. Man hat überdies – allerdings, wenn ich das recht sehe, ohne vorige Beanstandung seitens der Kommission – die Nichtanwendung des § 8c KStG aufgrund des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes für Rettungsmaßnahmen des Sonderfonds zurückgezogen. Der Gesetzgeber hätte bei Schaffung der Sanierungsklausel also durchaus gewappnet sein müssen, dass Angriffe aus der „Beihilfeecke“ drohen, und er war das wahrscheinlich auch. Erlauben Sie mir noch ein Wort aus Rechtsschutzsicht, was die Konkurrentenklage anbelangt. In bescheidenem Maße, wenn auch nicht unbedingt auf die Beihilfe gerichtet, hatte damit auch der BFH schon zu tun. Nach meinem Verständnis erfordert eine solche Klage ggf. auch ein Auskunftsersuchen, gestützt auf entsprechende Zivilrechtsregeln und in Gestalt einer Stufenklage, die dem eigentlichen Anspruch vorzuschalten ist. Dessen bedarf es, um überhaupt herauszubekommen, wie weit Begünstigungen in concreto und in casu vorliegen. Sonst wird man meist mit der Nebelstange im Dunkeln herumtappen. Lässt man ein derartiges gestuftes Rechtsmittel aber zu, dann macht die Konkurrentenklage aus meiner Sicht Sinn, auch für den Praktiker. Prof. Dr. Lüdicke Gerade, was die Konkurrentenklagen betrifft, wird man möglicherweise auch nicht nur auf abweichende gesetzliche Regelungen, sondern auch auf tatsächliche Verwaltungspraxis abstellen müssen. Dr. Loschelder Ich glaube, dass in diesem Bereich einiges an Neuem auf die Finanzgerichte zukommen wird. Ich habe in meiner richterlichen Praxis mit einer solchen Konkurrentenklage bislang noch nichts zu tun gehabt. Wenn wir an Konkurrentenklagen denken, dann doch meist im Zusammenhang mit der Besetzung von Vorsitzenden-Stellen. 122

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Aber im Ernst: Das prozessuale Instrumentarium ist im Prinzip vorhanden. Wir können die Auskunftsansprüche, die Herr Gosch angesprochen hat, im Wege einer allgemeinen Leistungsklage geltend machen. Der Kläger muss hierzu eine potenzielle Wettbewerbsverletzung substanziiert und glaubhaft darlegen,4 das ist die erste Voraussetzung. Die zweite Voraussetzung ist, dass er sich auf eine drittschützende Norm berufen kann. Das kann auch eine Norm sein, die aus wirtschaftspolitischen Gründen den Konkurrenten begünstigt. Gegebenenfalls muss hier auf die drittschützende Wirkung von Art. 12 und Art. 14 GG zurückgegriffen werden. Letztlich entscheidend ist, ob eine konkrete Wettbewerbssituation vorliegt. Die Frage, wie man mit dem prozessualen Instrumentarium des finanzgerichtlichen Verfahrens Konkurrentenstreitigkeiten bewältigen kann, stellt sich besonders in Drei-Personen-Konstellationen, also dann, wenn der Steuerpflichtige mit einer sog. negativen Konkurrentenklage einem anderen die steuerliche Begünstigung, die diesem gewährt worden ist, aberkannt haben möchte. In einem solchen Fall wird man auf das Rechtsinstitut der Beiladung zurückgreifen, um die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung auf den Dritten zu erstrecken. Letztlich ist hier aber noch sehr viel offen. Prof. Dr. Schön Ich möchte zu drei Punkten etwas sagen. Ich bin sehr froh, dass Herr Lang diesen Vortrag hier gehalten hat. Er knüpft ein bisschen an sein wirklich sehr lesenswertes, sehr empfehlenswertes Gutachten für den österreichischen Juristentag 2009 an, in dem er diese Grundfrage des Beihilferechts aufgegriffen hat, was eigentlich der Tatbestand der Beihilfe ist. Was ist das Aufgriffskriterium? Sein Vorschlag, der sich in die allgemeine Dogmatik der Diskriminierungsverbote einfügt, ist, dass es doch in Wahrheit um ungerechtfertigte Differenzierungen geht, um die falschen Maßstäbe, um Wettbewerbsrelevanz etc. Das wäre eine schöne und elegante Lösung. Mein Eindruck ist nur, dass es nicht die Lösung des EU-Vertrages bzw. des AEUV ist. Der geht zunächst vom Tatbestand der offenen Subvention aus, bei der ein Geldbetrag gezahlt wird. Und die ganzen Steuerthemen kommen erst dann herein, wenn man fragt, wann der Verzicht auf eine bestimmte Besteuerung einer solchen offenen Subvention entspricht. Das ist die Grundsatzfrage des EuGH _____________ 4 Vgl. etwa FG Münster v. 7.12.2010 – 15 K 3614/07 U, DStR 2011, 172 (Rev. BFH VII R 4/11).

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seit bald 60 Jahren. Diese Antwort lautet dann immer: Es muss ein Vorteil gegenüber der Belastung gewährt sein, die Unternehmen normalerweise zu tragen haben. D. h., das erste Tatbestandsmerkmal, das im Vortrag gestreift wurde, ist gar nicht identisch mit dem der Selektivität, sondern ist das Merkmal des Vorteils. Und wenn der EuGH dann in so einer Beihilfeprüfung weitergeht, dann muss auch dieser Vorteil bewertet werden. Da müssen Beihilfeäquivalente bemessen werden. Dieser Vorteil muss hinterher verwaltungstechnisch zurückgewährt werden. Da steckt also schon ein Regel-Ausnahme-Verhältnis drin, von dem ich sofort einräume, dass es nicht leicht festzustellen ist. Der § 8c KStG ist ein Musterbeispiel für die Probleme, in die man läuft, wenn man RegelAusnahme-Verhältnisse definieren will. Da bin ich mit Michael Lang völlig einer Meinung. Ich glaube nur, die aktuelle Fassung des AEUV oder auch die frühere, der Wortlaut ist ja seit 1957 unverändert, gibt das so nicht her. Ein Sonderfall für mich ist der Fall Gibraltar. Die Jungs sind wirklich zu weit gegangen. Man muss sich einmal vorstellen: Sie erheben eine Körperschaftsteuer von 15 % und sagen, davon nehme ich aber alle Gesellschaften aus, die bei uns keine Büros haben und niemanden beschäftigen. Das ist eine klare Beihilfe, überhaupt keine Frage. Und jetzt kommt ein Schlaumeier bei ihnen in der Finanzverwaltung auf die Idee und sagt: Wir machen was anderes. Wir erheben eine Steuer auf die Lohnsumme von Beschäftigten und auf die Inanspruchnahme von Büroraum. Die deckeln wir aber bei 15 % des Gewinns, was in Wahrheit natürlich eine Körperschaftsteuer auf 15 % des Gewinns ist, nur nicht für die Unternehmen, die keine Beschäftigten und keine Büroräume haben. Auch da hat Michael Lang völlig Recht und der EuGH auch, an dieser Formulierung kann es nicht hängen. Ich glaube aber, dass trotzdem klar ist, dass da eine Ausnahme für die Offshore-Gesellschaften geschaffen wurde, aber dass der EuGH Schwierigkeiten hat, das gewissermaßen technisch korrekt zu begründen. Der dritte Punkt ist mir konkret der wichtigste bei § 8c KStG. Das Problem liegt doch in Folgendem: Gerade die Differenzierung zwischen den sanierungsbedürftigen und den nicht sanierungsbedürftigen Gesellschaften ist der Aufgreifpunkt für die Kommission. Und ich sage Ihnen voraus: Das ist auch der Grund, weshalb die Klage vor dem EuGH wahrscheinlich scheitern wird, weil der EuGH sehen wird, dass in einem wettbewerbsrelevanten Punkt Erleichterungen geschaffen werden. Es werden nämlich sanierungsbedürftige Unternehmen mit einer steuerlichen Regelung gestärkt, die der großen Zahl der nicht sanie124

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rungsbedürftigen Unternehmen nicht gewährt wird. Womit die deutsche Regierung glaubt, das Ganze rechtfertigen zu können – das ist doch eine gute Sache, wir helfen sanierungsbedürftigen Unternehmen –, das ist genau das, was wettbewerbsrechtlich alle roten Lampen aufgehen lässt. Ich kann nur sagen, wenn man etwas für die deutschen Unternehmen tun will, dann sollte man diesen Punkt nicht aufgreifen. Da würde mich Michael Langs Meinung auch sehr interessieren. Wenn seine Vorstellung ist zu sagen, wir gucken gar nicht auf Vor- und Nachteil, sondern wir gucken, ob eine Differenzierung da ist und ob diese Differenzierung wettbewerbsrelevant ist, dann wäre doch genau diese Frage, ob die Differenzierung zwischen sanierungsbedürftigen und nicht sanierungsbedürftigen Unternehmen, die das Gesetz vorsieht, eigentlich eine ist, die nach seiner Meinung dazu führen würde, dass die roten Lampen angehen. Oder ist das noch hinnehmbar? Prof. Dr. Lang In der Diskussion ist erwähnt worden, dass viele dieser staatlichen Beihilfen volkswirtschaftlich durchaus Sinn machen. Dem kann ich zustimmen. Aber das Beihilferecht schließt derartige Förderungen gar nicht generell aus. Vielmehr liegt unter bestimmten Voraussetzungen der Ball bei der Kommission. Der nationale Gesetzgeber darf eben nicht alle steuerpolitischen Maßnahmen alleine entscheiden. In bestimmten Fällen muss er vorweg die Zustimmung der Kommission einholen. Weiter ist die Systemgerechtigkeit angesprochen worden: Ist das Beihilferecht ein Motor, um mehr Systemgerechtigkeit ins Steuerrecht zu bringen? Da bin ich skeptisch, auch gerade im Hinblick auf die Gibraltar-Entscheidung. Der EuGH hat klar gesagt, dass es ihm darum geht, dass Regelungen neutral sind. Die Kappung der Steuer mit 15 % des Gewinns, obwohl eine derartige Regelung im Hinblick auf die Lohnsummensteuer und auf die Grundnutzungssteuer völlig systemfremd war, hat er hingenommen. Die Folgerichtigkeit der Regelung war nicht gefordert. Herr Gosch hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Beihilferecht vor dem Problem steht, dass Steuerpflichtiger und Behörde an einem Strang ziehen. Das ist letztlich auch genau der Grund, warum die Konkurrentenklage so wichtig ist. Die Behörde hat zunächst den Steuervorteil gewährt und der Steuerpflichtige war auch nicht undankbar dafür. Also hat keiner der beiden kein wirkliches Interesse, den Vorteil wieder zu beseitigen. Es bedarf daher letztlich eines Dritten, um das 125

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Beihilferecht scharf zu machen. Sonst ist das Beihilferecht bloß ein zahnloses oder zufällig wirkendes Instrument. Die Frage, inwieweit Auskunftsansprüche Dritter die Effektivität des Beihilferechts steigern können, haben wir am Österreichischen Juristentag 2009 mit Wolfgang Schön diskutiert. Hier gibt es zwei Probleme: Denken Sie an Unternehmen, die sich auf diese Weise Einblicke in die Steuerakte von Mitbewerbern verschaffen können. Sie wissen dann ganz genau über Anschaffungen und betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer usw. Bescheid. Dies kann missbrauchsanfällig sein: Wie kann ich verhindern, dass ein Unternehmen aufgrund der sich im Ergebnis möglicherweise als haltlos herausstellenden Behauptung, der Mitbewerber habe ungerechtfertigt Steuervorteile erhalten, zunächst einmal Einblick in die Interna des anderen Unternehmens erhält? Vor allem aber ist durch die Information noch nichts erreicht: Der benachteiligte Konkurrent braucht ja auch ein verfahrensrechtliches Werkzeug, um die widerstrebende Behörde im Ernstfall zwingen zu können, den Steuerbescheid eines tatsächlich begünstigten Unternehmens wieder zu korrigieren. Zum Thema Vorteil als Kriterium des Beihilfebegriffs: Wolfgang Schön sieht den Vorteil als eigenständiges Kriterium. M. E. geht der Vorteil aber im Selektivitätskriterium auf. Da unterscheiden wir uns. Ich sehe mich in meiner Auffassung durch das Gibraltar-Urteil des EuGH bestätigt, wo der Gerichtshof das Vorliegen eines Vorteils gar nicht isoliert prüft. Wenn der EuGH in seiner Rechtsprechung vom Vorteil spricht, meint er damit, dass dem Unternehmen ein Vorteil zugekommen sein muss, und grenzt damit den Beihilfetatbestand gegenüber dem beihilferechtlich unbedenklichen Vorteil Privater – etwa durch staatliche Familienleistungen – ab. Zu Gibraltar selber: Wolfgang Schön hat das Problem sehr gut umschrieben: In Wahrheit ist es um eine Konstellation gegangen, die wir vielleicht sonst als Missbrauch bezeichnen würden. Missbrauch bedeutet in dem Fall nicht Missbrauch durch den Steuerpflichtigen, sondern durch eine Regierung, die eben versucht hat, durch tatsächlich oder vermeintlich elegante Lösungen aus dem Beihilferegime herauszukommen. Genau dies macht die Beurteilung des Gibraltar-Urteils sehr schwer. Aus diesem Grund sollte man sich hüten, aus dem Gibraltar-Urteil zu weitreichende Konsequenzen zu ziehen. Diesen Umgehungsversuch haben die Richter natürlich auch gesehen: Sie haben gesehen, dass eine lokale Regierung letztlich unredlich vorgegangen ist. Auf die Intention der Regierung hat dann der EuGH dann – zu Recht – nicht abgestellt. 126

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Darauf sollte es auch nicht ankommen. Denn sonst wird es problematisch: Dann zählt nur noch das Tarnen und Täuschen, genauso wie oft sonst bei der Anwendung nationaler Missbrauchsvorschriften: Gelingt es dem Steuerpflichtigen, seine eigentlichen Absichten zu verschleiern und andere Motive in den Vordergrund zu stellen, kommt er durch. Schon im nationalen Recht ist das subjektive Kriterium höchst problematisch. Im Beihilferecht sollte daher keinesfalls gefragt werden, von welchen Absichten die Regierung geleitet war. Da kämen wir in ein höchst fragwürdiges Fahrwasser. Daher hat der EuGH zu Recht versucht, einfach die allgemeinen Beihilfekriterien anzuwenden. Die Richter konnten aber den Gedanken an den Umgehungsversuch offenbar nicht ganz ausblenden. Daher hatten sie schon das mögliche Ergebnis ihrer Entscheidung vor Augen gehabt, bevor sie überhaupt die einzelnen Kriterien des Beihilfetatbestands geprüft haben. So sind sie offenbar zu diesem Ergebnis gekommen, das sich nur argumentieren lässt, wenn man einen sehr weiten Wettbewerbsbegriff zugrunde legt. Wie man vor diesem Hintergrund § 8c KStG bewertet, ist schwierig. Im Gibraltar-Urteil hat der EuGH keine besondere Intensivität des Wettbewerbs verlangt. Betrachtet man die verlustleidenden Unternehmen, die in der von § 8c KStG angesprochenen Sanierungssituation sind, als bestimmte Unternehmen, die gegenüber anderen verlustleidenden Unternehmen begünstigt sind, wird es vor diesem Hintergrund für die Vorschrift beihilferechtlich eng. Für die Vorschrift könnte wiederum sprechen, dass die im Gibraltar-Urteil zum Tragen gekommenen Wertungen durch die besondere Situation dieses Falles bedingt sein könnten. Entscheidend könnte sein, wie man die Anreizwirkungen des § 8c KStG im Hinblick auf Gestaltungsüberlegungen beurteilt, ob die Regelung aus diesem Blickwinkel noch als „neutral“ durchgeht.

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Verständigungsverfahren – Praktische Erfahrungen und ungelöste Probleme Axel Eigelshoven Steuerberater, Dipl.-Kfm. Deloitte & Touche GmbH, Düsseldorf

Ulrike Wolff LL.M. (Edinburgh), M.R.F. (Osnabrück) Regierungsrätin im Bundeszentralamt für Steuern, Bonn

Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 B. Verfahrensrechtliche Aspekte . . I. Unklarheiten im zwischenstaatlichen Verfahren . . . . . . . II. Einhaltung von Fristen durch die Finanzverwaltung . . . . . . . III. Dreieckskonstellationen . . . .

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C. Materiellrechtliche Aspekte . . . . I. Personengesellschaften . . . . . . II. Folgewirkungen aus einer Gewinnkorrektur . . . . . . . . . . III. Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung . . .

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D. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

A. Einführung Mit der fortschreitenden Globalisierung nimmt auch die Anzahl der Besteuerungskonflikte zwischen den Staaten zu. Die Doppelbesteuerungsabkommen enthalten materiell-rechtliche Vorschriften zur Abgrenzung der Besteuerungshoheiten. Kommt es zu unterschiedlichen Auslegungen eines Doppelbesteuerungsabkommens, sollen gem. Art. 25 OECDMA die beteiligten Finanzverwaltungen auf Antrag des Steuerpflichtigen ihre Auslegungsdifferenzen im Rahmen von Verständigungsverfahren klären, um die Doppelbesteuerung zu beseitigen. Die deutschen Doppelbesteuerungsabkommen enthalten alle eine im Wesentlichen dem Art. 25 OECD-MA nachgebildete Vorschrift, die für die beteiligten zuständigen Behörden den formalrechtlichen Rahmen zur Durchführung eines Verständigungsverfahrens bildet.1 Das Verfahren wird von den Steuerpflichtigen inzwischen sehr umfassend genutzt. Die OECD _____________ 1 Vgl. Abkommensübersicht Lehner, in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 25 OECDMA Rz. 54.

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hat im Rahmen ihrer Statistik im Jahr 2010 mehr als 1.200 neue Verständigungsverfahren und mehr als 3.200 anhängige Verfahren verzeichnet. Die deutsche Finanzverwaltung hat im gleichen Jahr 150 neue Verfahren eröffnet und am Jahresende wurde noch ein Bestand von 484 laufenden Verfahren gemeldet.2 Die Ausübung der Funktion als zuständige Finanzbehörde ist an das Bundeszentralamt für Steuern delegiert, § 5 Abs. 1 Nr. 5 FVG. Die Durchführung von Verständigungsverfahren kann aber in der Praxis nicht selten auch auf Probleme stoßen. Die OECD beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit einer Verbesserung der praktischen Durchführung von Verständigungsverfahren. Die Bemühungen mündeten zunächst 2004 in einem Diskussionspapier. Daran anschließend wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Effektivität des Verfahrens zu verbessern: – In 2008 wurde Art. 25 OECD-MA um einen Absatz 5 erweitert, der ein obligatorisches Schiedsverfahren vorsieht.3 Demnach sollen die Staaten sich innerhalb von zwei Jahren auf Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung einigen. Gelingt dies nicht, soll der Fall im Rahmen eines Schiedsverfahrens entschieden werden. Die Erweiterung des Art. 25 wird ausführlich im OECD-MA-Kommentar erläutert.4 Schließlich hat die OECD auch einen Vorschlag für eine Musterverständigungsvereinbarung zum Schiedsverfahren erarbeitet, damit eine Reihe von Fragen zur Durchführung des Verfahrens zwischen den Staaten geklärt werden kann. Die OECD weist allerdings darauf hin, dass einige Staaten aus verschiedenen Erwägungen daran gehindert sein könnten, eine entsprechende Klausel in ihre Doppelbesteuerungsabkommen aufzunehmen.5 – Die OECD hat ein sog. Manual on Effective Mutual Agreement Procedures veröffentlicht.6 Ziel ist es, durch Handlungsempfehlungen die praktische Durchführung zu vereinfachen und die Transparenz für Finanzverwaltungen und den Steuerpflichtigen zu erhöhen. _____________ 2 Vgl. OECD-Statistik – Dispute Resolution: Country Mutual Agreement Procedure Statistics for 2010, www.oecd.org/document/20/0,3746,en_2649_37989739_48558 740_1_1_1_1,00.html. 3 Vgl. Nientimp/Tomson, IStR 2009, 615 ff.; Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 449 ff. 4 Vgl. insbesondere Rz. 63 ff. OECD-MA-Kommentar. 5 Vgl. Rz. 65 OECD-MA-Kommentar. 6 Vgl. www.oecd.org/document/26/0,3746,en_2649_37989739_36197402_1_1_1_1,00. html.

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– Zudem wurden auf der Website der OECD Länderprofile hinterlegt, anhand derer wichtige Eckdaten zur Durchführung von Verständigungsverfahren für den Steuerpflichtigen vereinfacht zugänglich gemacht werden.7 – Schließlich veröffentlicht die OECD jährlich länderbezogene Statistiken zur Anzahl von Verständigungsverfahren und Informationen zu Verfahrenslaufzeiten.8 Auch diese Statistik soll die Transparenz erhöhen und die Mitgliedstaaten zu einer zeitgerechten Durchführung der Verfahren anhalten. Für die deutsche Exportwirtschaft und für Deutschland als Investitionsstandort ist insbesondere die Vereinbarung von Schiedsklauseln in den Doppelbesteuerungsabkommen wichtig. Die Finanzverwaltung konnte in den letzten Jahren in einigen Doppelbesteuerungsabkommen entsprechende Klauseln vereinbaren. Insbesondere die Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA, Großbritannien, Österreich und der Schweiz sehen entsprechende obligatorische Schiedsklauseln vor.9 Bezüglich der Schiedsklauseln in den Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA und Großbritannien wurden darüber hinaus zusätzliche Verständigungsvereinbarungen geschlossen, die deren Anwendung und Durchführung ausführlicher regeln.10 Das Doppelbesteuerungsabkommen Österreich sieht vor, dass bei Auslegungsdifferenzen der EuGH den Fall entscheiden kann.11 Die Doppelbesteuerungsabkommen mit Frankreich, Kanada und Schweden beinhalten ebenfalls Schiedsklauseln, die Einleitung eines Verfahrens erfolgt aber nur im Einvernehmen zwischen den Staaten.12 Eine unmittelbare Verpflichtung besteht für die Vertragsstaaten nicht. _____________ 7 Vgl. www.oecd.org/document/31/0,3343,en_2649_37989739_29601439_1_1_1_1,0 0.html. 8 Vgl. www.oecd.org/document/20/0,3746,en_2649_37989739_48558740_1_1_1_1,0 0.html. 9 Kritisch zum obligatorischen Charakter des Schiedsverfahrens im DBA USA Puls/ Nientimp, RIW 2006, 673; Jacob, IStR 2011, 108. 10 Vgl. Art. 25 Abs. 5 DBA USA, Ergänzungsprotokoll v. 1.6.2006 sowie Verständigungsvereinbarung zur Konkretisierung der Durchführung eines Schiedsverfahrens vom 8.12.2008, BStBl. I 2009, 345; Art. 26 Abs. 5 DBA Vereinigtes Königreich sowie Verständigungsvereinbarung zur Regelung der Durchführung des Schiedsverfahrens v. 10.10.2011, BStBl. I 2011, 956; Art. 26 Abs. 5 DBA Schweiz, eingefügt gem. dem Revisionsprotokoll v. 12.3.2002, BGBl. II 2003, 67 f. 11 Vgl. Art. 25 Abs. 5 DBA Österreich. 12 Vgl. Art. 25a Abs. 1 DBA Frankreich, eingefügt durch das Zusatzabkommen v. 28.9.1989, BStBl. I 1990, 413; Art. 41 Abs. 5 DBA Schweden; Art. 25 Abs. 6 DBA Kanada.

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Die EU hat sehr frühzeitig das Problem des fehlenden Einigungszwangs erkannt, sodass bereits 1990 die EU-Schiedskonvention von den EUMitgliedstaaten ins Leben gerufen wurde.13 Die EU-Schiedskonvention war zunächst auf fünf Jahre befristet und vom 1.1.1995 bis zum 31.12.1999 gültig.14 Mit Protokoll vom 25.5.1999 wurde geregelt, dass die Schiedskonvention grundsätzlich automatisch um jeweils fünf Jahre verlängert wird, wenn kein Vertragsstaat Einwände erhebt.15 Nachdem das Protokoll in 2004 vom letzten Vertragsstaat ratifiziert worden war, ist sie rückwirkend zum 1.1.2000 in Kraft getreten. Die EU-Schiedskonvention, die in allen 27 EU-Mitgliedstaaten gilt, sieht vor, dass die EU-Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren eine Einigung erzielen, ansonsten soll ein Beratender Ausschuss den Fall entscheiden.16 Allerdings fehlten auch hier wichtige Umsetzungsregelungen zur Durchführung des Verfahrens. Die EU-Kommission hat daher im Jahr 2002 das EU-Verrechnungspreisforum ins Leben gerufen und damit beauftragt, an der Lösung von praktischen Fragestellungen bei der Anwendung der Verrechnungspreisvorschriften im Binnenmarkt und bei der Anwendung des Schiedsübereinkommens zu arbeiten.17 Das EU-Verrechnungspreisforum hat 2006 einen ersten Verhaltenskodex veröffentlicht.18 Der EU-Verhaltenskodex vom 27.6.2006 beinhaltet detaillierte Regelungen u. a. zu Fristen und zur praktischen Durchführung des Verständigungsund Schiedsverfahrens (z. B. hinsichtlich der Informationen, die vom Steuerpflichtigen bereitgestellt werden sollen, der Sprache der Verhandlungen und Regelungen zum Austausch von Positionspapieren). Der Kodex wurde am 30.12.2009 in einer überarbeiteten Fassung verabschiedet.19 Gegenstand der Überarbeitung war insbesondere die Frage, _____________ 13 Vgl. EU-Schiedskonvention vom 23.7.1990 – Übereinkommen 90/436/EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, BStBl. I 1993, 819. 14 Vgl. Art. 20 der EU-Schiedskonvention. 15 Vgl. Protokoll zur Anwendung des Übereinkommens vom 23.7.1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, Abl. EG 1999/C 202/01. 16 Vgl. Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention. 17 Vgl. Peters/Haverkamp, BB 2011, 1304. 18 Vgl. Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten v. 27.6.2006 zu einem Verhaltenskodex zur Verrechnungspreisdokumentation für verbundene Unternehmen in der Europäischen Union (EU TPD), Abl. EU 2006/C 176/01. 19 Vgl. Überarbeiteter Verhaltenskodex zur wirksamen Durchführung des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, Abl. EU 2009/C 322/01.

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inwieweit die EU-Schiedskonvention auf nationale Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung anwendbar ist, wie mit sog. Dreieckskonstellationen umgegangen werden soll und wann empfindlich zu bestrafende Verstöße vorliegen, die zu einer Ablehnung der Durchführung eines Verständigungsverfahrens nach der EU-Schiedskonvention führen können.20 Die Richtlinien des Kodex sind allerdings kein unmittelbar anwendbares Recht, sondern haben nur Empfehlungscharakter. Auch die EU veröffentlicht jährlich Statistiken zur Anzahl der Verständigungsverfahren nach dem EU-Schiedsübereinkommen und zu deren Verfahrenslaufzeiten.21 So waren zum 31.12.2009 insgesamt 123–251 anhängige Verfahren verzeichnet – Abweichungen zwischen den Angaben zu anhängigen Verfahren, die von den Mitgliedstaaten gemeldet wurden, resultieren aus Verfahren, die von einem Staat bereits als abgeschlossen betrachtet werden, während der andere beteiligte Staat dieses formal noch nicht beendet hat; zudem hat Frankreich zum 31.12.2009 keine Angaben übermittelt. Deutschland hat zu diesem Zeitpunkt aus deutscher Sicht einen Bestand von 83 anhängigen Verfahren und 33 Antragsneueingängen gemeldet. Von den zum 31.12.2009 gemeldeten Verfahren wurden nach deutscher Sichtweise 25 bereits vor 2007 initiiert und waren demnach bereits mehr als drei Jahre anhängig und überschritten somit die in Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention vorgesehene Zwei-Jahres-Frist. 2009 wurde hiervon ein Verfahren an einen Beratenden Ausschuss gem. Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention weitergeleitet.22

B. Verfahrensrechtliche Aspekte I. Unklarheiten im zwischenstaatlichen Verfahren Praktische Herausforderungen bei der Anwendung des Art. 25 OECDMA, d. h. der Durchführung von Verständigungsverfahren, ergeben sich unter verfahrensrechtlichen Aspekten insbesondere daraus, dass zahlreiche Fragen nicht geklärt sind. Als Beispiele sind hierfür die Beweislast, die Verfahrenssprache, der Ort der Verständigungstreffen oder auch die Besetzung des Schiedsgerichts im Fall einer Schiedsklausel, sofern _____________ 20 Vgl. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2010, 474. 21 Vgl. EU Joint Transfer Pricing Forum – 2009 update of the number of open cases under the arbitration convention, Doc: JTPF/004/BACK/2011/EN. 22 Vgl. EU Joint Transfer Pricing Forum – 2009 update of the number of open cases under the arbitration convention, Doc: JTPF/004/BACK/2011/EN.

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nicht eine entsprechende Verständigungsvereinbarung dies regelt, zu nennen. In der Praxis haben sich im internationalen Verkehr und zwischen den jeweiligen zuständigen Behörden zahlreiche praktikable Verfahrensweisen entwickelt.

II. Einhaltung von Fristen durch die Finanzverwaltung Die derzeitigen Verfahrensdauern zur Durchführung von Verständigungsverfahren werden als erhebliches Hemmnis von den betroffenen Unternehmen wahrgenommen.23 Die Statistiken der OECD machen deutlich, dass in Abhängigkeit der involvierten Staaten Verfahrenslaufzeiten häufig drei bis fünf Jahre betragen können. Grundsätzlich hat der Steuerpflichtige im Rahmen eines Verständigungsverfahrens keinen Rechtsanspruch auf Einhaltung einer bestimmten Frist zur Lösung seines Falls. Dies ist nur dann der Fall, wenn im betreffenden Doppelbesteuerungsabkommen eine obligatorische Schiedsklausel vorgesehen ist. Wie bereits dargestellt, versucht die OECD mit umfangreichen Handlungsempfehlungen zur Durchführung der Verständigungsverfahren und Erhebungen von detaillierten Statistiken zu den Verfahren und deren Laufzeit, die Staatengemeinschaft zu einem beschleunigten Verfahrensablauf anzuhalten. Aber auch bei der Durchführung der Verständigungsverfahren nach der EU-Schiedskonvention kann die zweijährige Frist zur Einigung vielfach nicht eingehalten werden.24 Gründe dafür waren aufseiten der Finanzverwaltung in der Vergangenheit zum Beispiel Unklarheiten bei verfahrensrechtlichen Fragen und personelle Engpässe bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Die Finanzverwaltung weist von ihrer Seite häufig darauf hin, dass Verfahrenslaufzeiten nicht eingehalten werden können, weil Informationen vom Steuerpflichtigen nicht oder nur verzögert bereitgestellt werden. Auch das Ruhen des Verständigungsverfahrens wegen gleichzeitig anhängiger Einspruchsverfahren oder finanzgerichtlicher Klagen bis zur Entscheidung der Rechtsbehelfsbehörde oder des Gerichts ist in der Praxis nicht selten. Die EU hat im Rahmen des Verhaltenskodexes versucht, Klarheit hinsichtlich verfahrensrechtlicher Fragen zu schaffen. In der Praxis hatten _____________ 23 Vgl. Baumhoff/Puls, IStR 2010, 803; Eilers in Debatin/Wassermeyer, Art. 25 OECD-MA Rz. 19. 24 Vgl. Schlussbericht des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums v. 14.9.2009, KOM(2009) 472, 4.

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Finanzverwaltungen beispielsweise geltend gemacht, dass die zweijährige Frist erst beginnt, wenn der Steuerpflichtige vollständige Informationen zur Verfügung stellt. Steuerpflichtige hingegen trugen vor, dass der Umfang der bereitzustellenden Informationen unklar war, oder machten geltend, dass sie erst sehr spät über die fehlenden Informationen informiert wurden, was erhebliche Verzögerungen zur Folge hatte.25 Tz. 5 b des EU-Verhaltenskodexes regelt nunmehr, dass die zweijährige Frist zur Einigung mit dem Datum des Steuerbescheids über die Einkommenserhöhung beginnt, allerdings beginnt die Frist nicht, bevor die Mindestinformationen, die in Tz. 5 a des EU-Verhaltenskodexes näher definiert werden, vorliegen. Die zuständige Behörde soll innerhalb von einem Monat dem Steuerpflichtigen den Eingang des Antrags bestätigen und die andere beteiligte Finanzverwaltung durch Übersendung einer Kopie des Antrags über das Verfahren informieren.26 Die Finanzbehörde kann darüber hinaus innerhalb von zwei Monaten nach Antragseingang spezifische Zusatzinformationen vom Steuerpflichtigen anfordern.27 Kritisch dürften dabei Fälle sein, bei der die Sachverhaltsermittlung auf Schwierigkeiten stößt, beispielsweise bei dem Nachweis der tatsächlichen Leistungserbringung oder von deren Nutzen bei Kostenumlageverträgen. Ob ein Nachweis erbracht wurde, wird häufig strittig zwischen dem Steuerpflichtigen und der Betriebsprüfung diskutiert. Zur Beschleunigung der Bearbeitungszeiten hat das EU-Verrechnungspreisforum im Rahmen der Durchführung des Verständigungs- und Schiedsverfahrens Fristen gesetzt. Leistet die Finanzverwaltung unilateral keine Abhilfe zur Beseitigung der Doppelbesteuerung, ist der Steuerpflichtige über die Einleitung eines Verständigungsverfahrens zu informieren. Die Finanzverwaltung soll dabei dem Steuerpflichtigen bestätigen, dass der Antrag fristgemäß gestellt wurde, und das Datum des Beginns des Verfahrens mitteilen.28 Die Finanzverwaltung, die eine Erstkorrektur vorgenommen hat, soll innerhalb von vier Monaten ein Positionspapier an die andere Finanzverwaltung übersenden; diese soll dann innerhalb von sechs Monaten nach Erhalt des Positionspapiers eine entsprechende Antwort abfassen.29 Die Mitgliedstaaten werden auch dazu aufgerufen, sich mindestens einmal im Jahr zu treffen, um _____________ 25 26 27 28 29

Vgl. Peters/Haverkamp, BB 2011, 1305. Vgl. Rz. 6.3. d) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.3. e) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.3. g) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.4. c, d) EU-Verhaltenskodex.

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die anhängigen Verfahren zu klären.30 Kurze Fristüberschreitungen (z. B. bei unmittelbar bevorstehender Lösung eines Falles, besonders komplexen Geschäftsvorfällen oder Dreieckskonstellationen) sind dabei unbeachtlich.31 Lösen die Finanzverwaltungen den Fall nicht innerhalb von zwei Jahren, so ist ein Beratender Ausschuss einzuberufen.32 Der Steuerpflichtige muss keinen gesonderten Antrag stellen. Leitet die Finanzverwaltung ein Schiedsverfahren nicht ein, so ist fraglich, ob der Steuerpflichtige hierauf einen Anspruch hat und wie er diesen durchsetzen kann, da er nicht unmittelbar Verfahrensbeteiligter ist. Soweit eine Finanzverwaltung den Beratenden Ausschuss nicht einsetzt, steht dem Steuerpflichtigen der Gerichtsweg offen, da die EUSchiedskonvention als innerstaatliches Recht der Rechtsprechungskompetenz der nationalen Gerichte unterliegt.33 Zu beachten ist jedoch, dass der Steuerpflichtige lediglich die jeweilige Finanzverwaltung durch ein nationales Gerichtsurteil binden kann. Wenn beide Finanzverwaltungen ein Verfahren nicht einleiten wollen, wäre dementsprechend in beiden Staaten die Einleitung des Schiedsverfahrens einzuklagen. In Deutschland käme gegebenenfalls eine allgemeine Leistungsklage gem. § 41 Abs. 2 FGO in Betracht, da der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 EU-Schiedskonvention von einer Verpflichtung zur Einsetzung des Beratenden Ausschusses nach Fristablauf ausgeht. In der Praxis macht die Finanzverwaltung allerdings auch häufig den Steuerpflichtigen für Fristverzögerungen verantwortlich, da Informationen nicht bereitgestellt wurden. In diesem Fall wäre eine Klage nicht erfolgreich. Eine derartige Klage auf Einsetzung des Beratenden Ausschusses ist allerdings bisher nicht erhoben worden. Im Verständigungsverfahren nach den Doppelbesteuerungsabkommen bestehen mit Ausnahme der o. g. DoppelbesteuerungsabkommenSchiedsklauseln mit den USA, Großbritannien, Österreich und der Schweiz keine festen Fristen. Die Durchführung des Verfahrens ist aber nicht ins Belieben der Finanzverwaltung gestellt, sie muss nach pflichtgemäßem Ermessen handeln. Der BFH hat entschieden, dass der Steuerpflichtige grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens hat.34 Der Steuerpflichtige kann aber gegen _____________ 30 31 32 33 34

Vgl. Rz. 6.4. f) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.1. d) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention. Vgl. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 271. Vgl. BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583.

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die Ablehnung der Steuerbehörden, ein solches Verfahren einzuleiten, vorgehen. Der BFH hat festgestellt, dass aufgrund des Grundgesetzes den Organen der Bundesrepublik „die Pflicht zum Schutze deutscher Staatsangehöriger und ihrer Interessen gegenüber fremden Staaten“ obliegt. Diese allgemeine Pflicht erfährt durch die Aufnahme einer Verständigungsklausel in ein Doppelbesteuerungsabkommen nähere Konkretisierung. Sofern die Einleitung des Verständigungsverfahrens aufgrund ihrer Formulierung als Kann-Vorschrift im Ermessen der Steuerbehörden liegt, darf der Steuerpflichtige daher dessen fehlerfreie Ausübung gerichtlich nachprüfen lassen. Der BFH hat aber auch festgestellt, dass im zwischenstaatlichen Bereich der Ermessensspielraum weit auszulegen ist, weil hier eine Vielzahl von Interessen zu berücksichtigen sei, die das Handeln der Behörden beeinflusst. Im entschiedenen Fall hat der BFH die Ablehnung des BMFs, das Verständigungsverfahren einzuleiten, als rechtmäßig beurteilt, weil das Verhalten der betroffenen Steuerpflichtigen von beiden Vertragsstaaten als steuermissbräuchlich bewertet wurde und die Erfolgsaussichten eines Verfahrens daher nur als gering einzustufen waren. Aber selbst wenn eine Pflicht zur Einleitung eines Verfahrens besteht, bleibt letztlich der Steuerpflichtige auf die Mithilfe der Finanzverwaltung angewiesen, da im Verfahrensablauf des Verständigungsverfahrens mit Ausnahme der oben genannten Doppelbesteuerungsabkommen keine Fristen vorgegeben sind und ein Einigungszwang fehlt. Beinhaltet ein Doppelbesteuerungsabkommen eine Schiedsklausel entsprechend Art. 25 Abs. 5 OECD-MA, kann der Steuerpflichtige nach Ablauf einer Frist von zwei Jahren ein Schiedsverfahren beantragen. Die Einleitung des Verfahrens ist nicht vom Ermessen der Behörden abhängig, der Steuerpflichtige hat hierauf einen Anspruch, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen.35 Im Gegensatz zum Verständigungsverfahren i. e. S. ist allerdings Antragsvoraussetzung, dass die Doppelbesteuerung nicht nur droht, sondern bereits eingetreten ist.36 Die Frist beginnt mit der Vorlage aller relevanten Informationen für den Fall.37 Der Schiedsspruch muss innerhalb von sechs Monaten, nachdem der Vorsitzende das Vorliegen sämtlicher erforderlichen Informationen bestätigt hat, ergehen.38 _____________ 35 Vgl. Herlinghaus, IStR 2010, 126. 36 Vgl. Art. 25 Ziff. 72 OECD-MA-Kommentar. 37 Vgl. Lehner in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 25 OECD-MA Rz. 215; Nientimp/ Tomson, IStR 2009, 616. 38 Vgl. Abs. 16 der Musterverständigungsvereinbarung, Anhang zu Art. 25 OECD-MA.

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III. Dreieckskonstellationen Schwierigkeiten kann auch die Gewinnkorrektur im sog. Dreiecksverhältnis bereiten, bei denen die gesellschaftsrechtlich bedingte Vorteilszuwendung nicht an die Muttergesellschaft, sondern an eine andere nahestehende Person erfolgt. Nach deutschem Recht erfolgt hier die verdeckte Gewinnausschüttung gegenüber der Muttergesellschaft – und nicht gegenüber der Schwestergesellschaft –, während die Muttergesellschaft eine verdeckte Einlage in die Schwestergesellschaft tätigt. Bei einem solchen Dreiecksverhältnis ist das Verständigungsverfahren sowohl nach Doppelbesteuerungsabkommen als auch nach der EUSchiedskonvention unmittelbar zwischen den Staaten zu führen, in denen die an der Transaktion, die der Gewinnkorrektur zugrunde lag, beteiligten Gesellschaften ansässig sind. Im Fall einer Gewinnkorrektur zwischen einer Betriebsstätte und einem verbundenen Unternehmen des Stammhauses ermöglicht darüber hinaus die EU-Schiedskonvention ein Verständigungsverfahren unmittelbar zwischen dem Betriebsstättenstaat und dem Staat, in dem das verbundene Unternehmen des Stammhauses ansässig ist,39 während nach Doppelbesteuerungsabkommen zwei getrennte Verständigungsverfahren – jeweils zwischen Betriebsstätte und Stammhaus sowie zwischen Stammhaus und verbundenem Unternehmen – erforderlich sind. Im überarbeiteten Verhaltenskodex zur EU-Schiedskonvention40 ist darüber hinaus die sog. EU-Dreieckskonstellation geregelt, d. h. der Fall einer Gewinnkorrektur bei einer Transaktion, die Teil einer Kette von Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen ist (vgl. Definition in Tz. 1.1. Überarbeiteter Verhaltenskodex zur EU-Schiedskonvention vom 30.12.2009: „Für die Zwecke dieses Verhaltenskodexes liegt eine EU-Dreieckskonstellation vor, wenn zwei zuständige Behörden in der EU die Doppelbesteuerung in einem Verrechnungspreisfall in der ersten Phase des im Schiedsübereinkommen vorgesehenen Verfahrens unter Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nicht gänzlich vermeiden können, weil ein verbundenes Unternehmen in (einem) anderen Mitgliedstaat(en) […] bei einer Kette von betroffenen Geschäftsvorfällen oder kaufmännischen finanziellen Beziehungen in einem erheblichen _____________ 39 Vgl. Art. 4 Abs. 2 EU-Schiedskonvention. 40 Vgl. Überarbeiteter Verhaltenskodex zur wirksamen Durchführung des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (2009/C 322/01), Abl. EU C 322/1 v. 30.12.2009.

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Umfang zu einem dem Fremdvergleichsgrundsatz nicht entsprechendem Ergebnis beigetragen hat […]“). Zum Beispiel hat eine Vielzahl von Konzernen in Europa eine zentrale Logistikgesellschaft, die die Waren der ausländischen Muttergesellschaft an die jeweiligen Landesorganisationen liefert. Macht die Finanzverwaltung bei einer Landesgesellschaft – z. B. aufgrund von Dauerverlusten – unangemessene Verrechnungspreise geltend, so kann sie gem. Art. 9 OECD-MA nur die Geschäftsbeziehungen zur zentralen Logistikgesellschaft aufgreifen. Der Staat der zentralen Logistikgesellschaft wird aber seinerseits geltend machen, dass die Marge der zentralen Logistikgesellschaft angemessen ist und dass die Einkunftskorrektur letztlich auf die ausländische Muttergesellschaft durchschlagen muss, von der die Waren bezogen wurden. Demnach müsste also zunächst ein Verständigungsverfahren zwischen dem Land der Landesgesellschaft und dem Land der zwischengeschalteten zentralen Logistikgesellschaft und in einem zweiten Schritt ein Verfahren zwischen dem Land der Logistikgesellschaft und dem Land der ausländischen Muttergesellschaft geführt werden. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Verfahren äußerst komplex und wenig effizient sind. Aus Gründen der Verfahrensökonomie hat das EU-Verrechnungspreisforum daher die folgenden Vorgehensweisen vorgeschlagen:41 (1) Sofortige und uneingeschränkte Beteiligung von allen betroffenen Behörden im Verfahren (multilateraler Ansatz); (2) Führung eines bilateralen Verfahrens zwischen den Staaten, in dem die verbundenen Unternehmen ansässig sind, die bei der Transaktionskette im erheblichen Umfang in ihren kaufmännischen und finanziellen Bedingungen nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprochen haben, mit Beobachterstatus des Drittstaates für das bilaterale Verfahren; (3) Führung mehrerer paralleler bilateraler Verfahren mit Beobachterstatus des Drittstaates für das jeweils andere bilaterale Verfahren. In der Praxis wird die Entscheidung der zuständigen Behörden, welche Vorgehensweise sie anwenden werden, von der jeweiligen konkreten Fallgestaltung abhängen. Die EU empfiehlt den Staaten, einen multilateralen Ansatz zu befolgen.42 _____________ 41 Vgl. Rz. 6.2 Überarbeiteter Verhaltenskodex zur EU-Schiedskonvention v. 30.12.2009. 42 Vgl. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2010, 476.

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Im Hinblick auf Dreieckskonstellationen unter Beteiligung von nicht in der EU ansässigen Unternehmen hat die EU-Kommission am 25.1.2011 als Lösungsansätze neben der Verbesserung und dem Ausbau des Netzwerks von Doppelbesteuerungsabkommen – einschließlich der Berücksichtigung von Schiedsklauseln – die rückwirkende Anwendung von Verrechnungspreiszusagen und die flexible Anwendung bestimmter Verfahren in Verbindung mit dem Verständigungsverfahren vorgeschlagen.43 Hierzu zählt die Durchführung von trilateralen Verständigungsverfahren gemäß Art. 25 Abs. 3 OECD-MA oder, sofern das spezifische Doppelbesteuerungsabkommen diesen nicht enthält, einem gesonderten und speziellen (bilateralen/multilateralen) Protokoll bzw. einem (zusätzlichen) Abkommen. Zudem wird die mögliche Ausweitung der EU-Schiedskonvention auf Drittstaaten auf Grundlage der Art. 35 und 36 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge angesprochen. In Anbetracht der bislang gesammelten praktischen Erfahrungen ist das EU-Verrechnungspreisforum der Auffassung, dass es die sich auf Diskussionsebene bietenden Möglichkeiten weitestgehend ausgeschöpft hat. Durch zukünftige Entwicklungen, die mit einer zunehmenden Erfahrung der Länder und Unternehmen in diesem Bereich einhergehen, kann das Thema jedoch erneut Gegenstand des Arbeitsprogramms des EU-Verrechnungspreisforums werden.

C. Materiellrechtliche Aspekte I. Personengesellschaften Die Personengesellschaft ist im internationalen Vergleich eine, vor allem im Mittelstand, weit verbreitete Rechtsform. Während das ausländische Recht in der Regel vergleichbare Rechtsformen kennt, wird sie dort überwiegend von kleineren Unternehmen gewählt. Aus der unterschiedlichen Behandlung im In- und Ausland sowohl unter zivil- als auch steuerrechtlichen Aspekten kann sich eine Reihe von Problemen ergeben mit der Folge einer bei Personengesellschaften höheren Gefahr der Doppelbesteuerung – oder auch Nichtbesteuerung – in den betroffe_____________ 43 Vgl. Anlage II zur Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Tätigkeit des EU-Verrechnungspreisforums im Zeitraum April 2009 bis Juni 2010 und die damit zusammenhängenden Vorschläge, KOM(2011) 16 endg. v. 25.1.2011, 32.

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nen Staaten.44 Während die Personengesellschaft in Deutschland zivilrechtlich als partiell rechtsfähig angesehen wird, ist sie steuerrechtlich „Gewinnermittlungssubjekt“, deren Gewinn auf Ebene der Personengesellschaft selbstständig ermittelt, jedoch für Zwecke der Ertragsteuern den Gesellschaftern zugeordnet und dort unmittelbar versteuert wird (Transparenzprinzip). Für die Gewerbe- und Umsatzsteuer ist die Personengesellschaft hingegen als Steuersubjekt anerkannt. Beispiele für im Ausland angewandte Konzepte sind die Behandlung der Personengesellschaft gleich einer Körperschaft als Steuersubjekt (Trennungsprinzip), die direkte Besteuerung der Gesellschafter oder ein Wahlrecht der Steuerpflichtigen. Qualifikationskonflikte können vor allem entstehen, wenn einer der beteiligten Vertragsstaaten das Transparenzprinzip anwendet, während der andere Vertragsstaat dem Trennungsprinzip folgt. Nach Auffassung der Finanzverwaltung und der h. M. in der Literatur richten sich die Qualifikation und die Zurechnung von Einkünften nach dem Recht des die Doppelbesteuerungsabkommen-Bestimmung anwendenden Vertragsstaates und damit unabhängig voneinander.45 Hinsichtlich ausländischer Gesellschaften erfolgt für Zwecke der deutschen Besteuerung ein Rechtstypenvergleich nach deutschem Steuerrecht, ob diese als Personengesellschaft oder Körperschaft einzuordnen sind.46 Bei Bestehen eines Doppelbesteuerungsabkommens stellt sich bei einer Personengesellschaft zunächst die Frage nach deren Abkommensberechtigung. Voraussetzung für die Abkommensberechtigung ist, dass es sich hierbei um eine in einem Vertragsstaat ansässige Person handelt.47 Auch wenn eine Personengesellschaft eine „Personenvereinigung“ und damit eine „Person“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1a OECD-MA darstellt, ist zu beachten, dass nicht alle Doppelbesteuerungsabkommen eine solche Regelung enthalten. Aus deutscher Sicht ergeben sich bei der Ansässigkeit einer Personengesellschaft Schwierigkeiten daraus, dass sie im Ergebnis in einem der Vertragsstaaten in einem der unbeschränkten Steuerpflicht vergleichbaren Umfang der Besteuerung unter_____________ 44 Vgl. Frotscher, Internationales Steuerrecht, Rz. 330. 45 Vgl. Anwendung der DBA auf Personengesellschaften, BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, Rz. 2.1.1, BStBl. I 2010, 354; Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, Art. 4 OECD-MA Rz. 106. 46 Vgl. Anwendung der DBA auf Personengesellschaften, BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, Rz. 1.2, BStBl. I 2010, 354. 47 Vgl. Art. 1 i. V. m. Art. 3 OECD-MA.

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liegen muss.48 Dies bedeutet, dass als ansässige und damit abkommensberechtigte Personen die Gesellschafter anzusehen sind.49 Die Abkommensberechtigung ist neben „klassischen“ Qualifikationskonflikten bei der Zurechnung von Einkünften auch bei Verrechnungspreiskorrekturen von Bedeutung, wenn diese eine Personengesellschaft betreffen und die Doppelbesteuerung im Wege des Verständigungsverfahrens beseitigt werden soll. Hier ist im Fall einer deutschen Personengesellschaft der Antrag durch deren Gesellschafter zu stellen.

II. Folgewirkungen aus einer Gewinnkorrektur Entspricht der Verrechnungspreis zwischen verbundenen Unternehmen bei einer grenzüberschreitenden Transaktion nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz, korrigiert der Ansässigkeitsstaat den Gewinn auf Grundlage seines innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes.50 Folgt aus einer solchen Gewinnberichtigung eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung, sieht Art. 9 Abs. 2 OECDMA hierzu die entsprechende Gegenberichtigung vor.51 Zu beachten ist jedoch, dass nicht alle Doppelbesteuerungsabkommen eine dem Art. 9 Abs. 2 OECD-MA vergleichbare Vorschrift enthalten.52 In diesem Fall verbleibt jedoch weiterhin die Möglichkeit der Gegenberichtigung im Rahmen eines Verständigungsverfahrens nach Art. 25 OECD-MA.53 Von diesen Berichtigungen zu unterscheiden ist die sekundäre Berichtigung.54 Mittels dieser soll der Zustand hergestellt werden, der bestünde, wenn die von der Erstberichtigung stammenden Übergewinne tatsächlich und nicht nur fiktiv übertragen und dementsprechend besteuert wären.55 Sekundärberichtigungen können somit über die Erstkorrektur hinaus eine Doppelbesteuerung auslösen. Sekundärberichtigungen, die zum Beispiel in Form von verdeckten Gewinnausschüttungen, verdeckten Kapitaleinlagen oder verdeckten Einlagen erfolgen können,56 rich_____________ 48 Vgl. Frotscher, Internationales Steuerrecht, Rz. 343. 49 Vgl. Anwendung der DBA auf Personengesellschaften, BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, Rz. 2.1.1, BStBl. I 2010, 354. 50 Vgl. Art. 9 Abs. 1 OECD-MA. 51 Vgl. Eigelshoven in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 9 OECD-MA Rz. 159. 52 Vgl. z. B. Art. 5 DBA Frankreich. 53 Vgl. Art. 9 Nr. 11 OECD-MA-Kommentar. 54 Vgl. Art. 9 Nr. 8 OECD-MA-Kommentar. 55 Vgl. Rz. 4.67 OECD-Leitlinien. 56 Vgl. Rz. 4.67 OECD-Leitlinien.

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ten sich nach dem Recht des Anwenderstaates. Das OECD-MA und die Kommentierung zu Art. 9 Abs. 2 OECD-MA enthalten keine Regelungen zu Sekundärberichtigungen,57 während die OECD-Verrechnungspreisgrundsätze lediglich die Finanzverwaltungen auffordern, bei Gewinnberichtigungen die Möglichkeit einer daraus folgenden Doppelbesteuerung zu minimieren.58 Ist in Bezug auf die Primärberichtigung eine Korrektur innerhalb der Bilanz nach den Grundsätzen der Bilanzberichtigung nicht möglich, ist bei Vorliegen der Voraussetzungen einer verdeckten Gewinnausschüttung eine außerbilanzielle Gewinnberichtigung vorzunehmen.59 Die Frage, ob die Primärberichtigung im Wege der Bilanzberichtigung oder der außerbilanziellen Gewinnkorrektur erfolgt, ist für die Steuerpflichtigen insofern von Bedeutung, als bei einer außerbilanziellen Korrektur hierauf unter Umständen Quellensteuer entsteht. Diese Quellensteuer kann, soweit nicht die Voraussetzungen der Mutter-Tochter-Richtlinie greifen oder das entsprechende Doppelbesteuerungsabkommen einen reduzierten Quellensteuersatz von 0 % ermöglicht, zur Doppelbesteuerung führen. So vollziehen zum Beispiel einige Staaten die Umqualifizierung der Gewinnkorrektur in eine verdeckte Gewinnausschüttung nicht nach und gewähren keine Beseitigung der Doppelbesteuerung mittels unilateraler Maßnahmen im Wege der Anrechnung oder des Abzugs. Auch bei einer Gewinnkorrektur im Dreiecksverhältnis, bei der die Beteiligung an der deutschen Gesellschaft von einer ebenfalls in Deutschland ansässigen Gesellschaft gehalten wird, werden 5 % der verdeckten Gewinnausschüttung gemäß § 8b Abs. 5 KStG als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben behandelt. Unabhängig davon kann es auch im Bereich der Zinsen eine zusätzliche Belastung für Steuerpflichtige geben, die in der Regel nicht Gegenstand der Verständigungslösung ist. Kommt es zu einer Erstberichtigung, können Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO entstehen bzw. Erstattungszinsen bei einer Gegenberichtigung. In der Praxis korrespondieren die Regelungen hinsichtlich Nachzahlungs- und Erstattungszinsen zum Nachteil der Steuerpflichtigen in den einzelnen Ländern meist nicht, sei es, dass grundsätzlich keine Erstattungszinsen gewährt werden oder die Zinshöhe oder die Berechnung des Zinslaufs abweichen. Unilateral _____________ 57 Vgl. Art. 9 Nr. 9 OECD-MA-Kommentar. 58 Vgl. Rz. 4.72 OECD-Leitlinien. 59 Vgl. Verwaltungsgrundsätze-Verfahren, BMF v. 12.4.2005 – IV B 4 - S 1341 - 1/05, Rz. 5.2 und 5.3, BStBl. I 2005, 570.

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ist jedoch ein Antrag auf Erlass der Nachzahlungszinsen im Wege der Billigkeit möglich, über den das zuständige Festsetzungsfinanzamt entscheidet. Stellt ein Steuerpflichtiger einen Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens, kann er auch die Aussetzung der Vollziehung beantragen, um die Zahlung der auf die Erstberichtigung fälligen Steuern zu vermeiden. Hält jedoch die Finanzverwaltung als Ergebnis des Verständigungsverfahrens die Gewinnberichtigung aufrecht, ist der geschuldete Betrag gemäß § 237 AO zu verzinsen. Die Steuerverwaltungen sämtlicher EU-Mitgliedsländer sind sich darin einig, dass während eines grenzübergreifenden Streitbeilegungsverfahrens – sowohl nach EU-Schiedskonvention als auch nach Doppelbesteuerungsabkommen – der Steuerpflichtige bezüglich der Zinsfestsetzungen und Rückzahlungen nicht benachteiligt werden soll. Daher wird empfohlen, dass die Gewährung von Zahlungsaufschub unter denselben Bedingungen wie nach den nationalen Regularien erfolgt. Zu folgenden Vorgehensweisen wird geraten: – Freigabe der Steuererhebung und Rückzahlung ohne Zinsen oder – Freigabe der Steuererhebung und Rückzahlung mit Zinsen oder – Einzelfallentscheidung über Erhebung bzw. Rückzahlung von Zinsen (möglicherweise im Laufe des Verständigungsverfahrens).60

III. Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung Ein zunehmendes Problem stellt auch die Besteuerung von Zinsaufwendungen dar. Eine Vielzahl von Staaten hat umfangreiche Bestimmungen in ihre nationalen Rechtsordnungen aufgenommen, die den Betriebsausgabenabzug für Zinsen beschränken. Die Staaten sehen in ihren Bestimmungen Missbrauchsvorschriften zur Vermeidung einer überhöhten Fremdkapitalausstattung, die bei einer wirtschaftlichen Betrachtung Eigenkapital darstellt. Für den Steuerpflichtigen ergibt sich daraus das Problem von sogenannten vagabundierenden Betriebsausgaben. Es _____________ 60 Vgl. Anhang zur Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Tätigkeit des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums im Zeitraum März 2007 bis März 2009 und einen Vorschlag für einen überarbeiteten Verhaltenskodex für die wirksame Durchführung des Schiedsübereinkommens, KOM(2009) 472 endg. v. 14.9.2009.

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stellt sich die Frage, inwieweit die Doppelbesteuerungsabkommen gegenüber dem nationalen Recht Schrankenwirkung entfalten. Einschlägig wäre hier Art. 9 OECD-MA, der als einzige Norm den Fall der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung regelt.61 Tatbestandsvoraussetzung von Art. 9 OECD-MA ist, dass verbundene Unternehmen in ihren kaufmännischen oder finanziellen Beziehungen an vereinbarte oder auferlegte Bedingungen gebunden sind, die von denen abweichen, die unabhängige Unternehmen miteinander vereinbaren würden. Bei der Bestimmung der Angemessenheit von Zinsaufwendungen findet die Überprüfung der Fremdüblichkeit auf zwei Ebenen statt: – Zum einen ist fraglich, ob die Zinsen der Höhe nach fremdüblich sind. Hier besteht in der Staatengemeinschaft weitgehend Einigkeit, dass diese Frage Gegenstand von Art. 9 OECD-MA ist. – Zum zweiten sind auch die kaufmännischen bzw. finanziellen Beziehungen hinsichtlich ihrer Angemessenheit zu überprüfen. Grundsätzlich sind die vereinbarten Verträge von der Finanzverwaltung zu respektieren.62 Die OECD sieht allerdings Ausnahmen unter bestimmten Voraussetzungen vor.63 Im Bereich der Finanzierung lässt sie eine Umqualifizierung der vertraglichen Beziehung zu, wenn die Einräumung eines Darlehens als Eigenkapital zu werten ist bzw. wenn ein fremder Dritter nicht bereit gewesen wäre, die Gesellschaft mit Fremdkapital auszustatten.64 Auch die EU spricht die Empfehlung aus, dass Art. 9 OECD-MA eine Sperrwirkung gegenüber innerstaatlichen Vorschriften zur Gesellschafterfremdfinanzierung entfalten sollte, wenn die Fremdfinanzierung als fremdüblich anzusehen ist. Allerdings hat eine Vielzahl von Staaten Vorbehalte

_____________ 61 Vgl. Eigelshoven in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 9 OECD-MA Rz. 6. 62 Vgl. Rz. 1.64 OECD-Leitlinien; Eigelshoven/Ebering in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Rz. 164. 63 Vgl. Rz. 1.65 OECD-RL; Eigelshoven in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 9 OECDMA Rz. 51; Eigelshoven/Ebering in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Rz. 167; Debatin in Debatin/Wassermeyer, Art. 9 OECD-MA Rz. 67. 64 Vgl. OECD-Kommentar (MA-Kommentar) zu Art. 9 Rz. 3; Eigelshoven in Vogel/ Lehner, Art. 9 OECD-MA Rz. 7; Tischbirek in Vogel/Lehner, Art. 10 OECD-MA Rz. 58; Pöllath/Lohbeck in Vogel/Lehner, Art. 11 OECD-MA Rz. 65 und 125; OECD, Bericht „Thin Capitalisation“ v. 26.11.1986, OECD, Issues in International Taxation, Bd. 2 (1987).

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angemeldet.65 Die deutsche Finanzverwaltung ist im Einzelfall bereit, in Fällen des § 8a Abs. 1 KStG a. F. entsprechende Verständigungsverfahren durchzuführen. Strittig ist die Anwendbarkeit des Art. 9 OECD-MA auf die Regelungen zur Zinsschranke. In der Literatur wird hier teilweise die Ansicht vertreten, dass Art. 9 OECD-MA auch gegenüber der Zinsschranke Sperrwirkung entfalten kann.66

D. Ausblick Verständigungsverfahren sind ein wirksames Instrument zur Beseitigung der Doppelbesteuerung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen. Die Finanzverwaltung ist hierbei um eine fristgerechte Bearbeitung und Beendigung der Verfahren bemüht. Zu begrüßen wäre angesichts der steigenden Zahl von Antragsneueingängen eine personelle Aufstockung der zuständigen Behörde. Weitere Maßnahmen zur effektiven Beseitigung der Doppelbesteuerung sind die zunehmende Einführung von Schiedsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen sowie die Erweiterung von verfahrensrechtlichen Vorschriften.

_____________ 65 Vgl. Rz. 1.2. EU-Verhaltenskodex zum Schiedsverfahren v. 30.12.2009; gegen die Anwendung der Schiedskonvention im Fall der Unterkapitalisierung haben Bulgarien, Griechenland, Italien, Lettland, Niederlande, Polen, Portugal, Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn Vorbehalte angemeldet. Die Niederlande haben allerdings ihren Vorbehalt dahingehend eingeschränkt, dass „The Netherlands will not invoke this reservation for adjustments made to the deductibility of interest regarding an individual loan in case the adjustment is based on the arm’s length principle“, vgl. Summary Record of the Twenty Ninth Meeting of the EU Joint Transfer Pricing Forum, Doc: JTPF/018/2010/EN. 66 Vgl. Kaminski in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG und DBA, Art. 9 OECD-MA Rz. 12; Förster in Gosch, KStG, Exkurs § 4h EStG Rz. 38; Peters/Haverkamp, BB 2011, 1307.

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Verständigungsverfahren Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Axel Eigelshoven Steuerberater, Dipl.-Kfm., Deloitte & Touche GmbH, Düsseldorf Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Ulrike Wolff, LL.M. (Edinburgh), M.R.F. (Osnabrück) Regierungsrätin im Bundeszentralamt für Steuern, Bonn

Prof. Dr. Moris Lehner Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Frau Wolff, vielen Dank, Herr Eigelshoven. Ich hatte während Ihres Vortrags den Eindruck, dass es in Bezug auf die Effektivität der Verständigungsverfahren neben vielem Licht doch auch noch immer einigen Schatten gibt. Allerdings schreibt Frau Becker, die früher beim BZSt war, in ihrer Kommentierung des Art. 25 OECD-MA1, dass mit einer Verfahrenszeit von zwei bis drei Jahren doch eigentlich alles in Ordnung sei. Bei Ihnen klang dies etwas anders.

_____________ 1

Haase, AStG/DBA, 2009, Art. 25 OECD-MA Rz. 18.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Herr Bernhardt, haben Sie – sei es in Ihrem Unternehmen oder über Ihre Industrieverbände – Erfahrungen oder möglicherweise auch Kritik an den Verständigungsverfahren? Bernhardt Zunächst einmal gibt es eine Fülle von Feedback. Im Grundsatz ist man mit dem Instrument als solchem zufrieden. In der Tat sind die Kernprobleme schon angesprochen worden, insbesondere der Engpass im BZSt und die Laufzeiten der Verständigungsverfahren. Der letzte Punkt gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass man in Unternehmen irgendwann Klarheit haben will. Diese Klarheit will man nicht nur für den konkreten Einzelfall, sondern – und das war in dem letzten gezeigten Slide gerade der entscheidende Punkt – für grundsätzliche Fragestellungen, selbst wenn das Verfahren darauf primär nicht ausgerichtet war. Dies könnte sein: „Habe ich mein Verrechnungspreissystem richtig aufgestellt oder muss ich es aufgrund einer konkreten Erfahrung mit einzelnen Ländern generell anpassen?“ Vor diesem zeitlichen Hintergrund wäre ein schnellerer Ablauf sehr zu wünschen. Man darf auch, denke ich, die verfahrensrechtlichen Details in den einzelnen Ländern – gerade die Anpassungsmechaniken – nicht unterschätzen. Verfahrensrecht ist immer lokales Recht. Gerade aus den ungleichen Laufzeiten von Zinsen, die bekanntlich betragsmäßig nicht zu vernachlässigen sind, ergibt sich noch eine Fülle von zusätzlichen Fragestellungen, die über die eigentliche materielle Frage der Vermeidung der Doppelbesteuerung hinausgehen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Müller-Gatermann, die Frage der Verzinsung ist häufig wirklich ein großes Problem, gerade wenn sich ein Verfahren lange hingezogen hat. Wenn man zunächst im „falschen Staat“ die Steuern bezahlt hat, sie dann dort mit mäßigen und vielleicht steuerpflichtigen Erstattungszinsen, möglicherweise auch ohne Zinsen, zurückbekommt und im anderen Staat, in dem man bisher nichts bezahlt hat, mit Nachzahlungszinsen belastet, zahlen muss, dann kann sich das Ganze sehr schnell zu einem Pyrrhussieg entwickeln. Ist da Abhilfe in Sicht, mit oder ohne Unterstützung der OECD?

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Müller-Gatermann Konkret ist mir nicht bekannt, dass sich an der Stelle etwas bewegt, obwohl uns diese Zinsproblematik bewusst ist. Das ist keine Frage. Bei den Verständigungsverfahren ist die Personalsituation im BZSt zwar aktuell verbessert worden. Die Steuerabteilung im BMF hat sich dafür eingesetzt, dass hier Verbesserungen eintreten. Aber die Personalsituation ist für mich noch nicht hinreichend befriedigend gelöst. Man muss weiter daran arbeiten. Man muss vor allem sehen, dass es, wenn die Bundes-Bp weiterhin wächst, noch mehr Fälle geben wird. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass sich in Zukunft irgendwann einmal zwei Referate mit entsprechender Personalausstattung im BZSt mit diesem Thema beschäftigen. Wir sind auch zur Unterstützung aufgerufen. Früher wurden die Verständigungsverfahren im BMF selbst gemacht. Wir haben das dann abgegeben, haben aber sowohl die Dienstaufsicht als auch die Fachaufsicht behalten, und müssen dafür sorgen, dass es funktioniert. Und das tun wir auch. Ich habe in einem Fall eine sehr gute Erfahrung gemacht. Mir wurde berichtet, dass es mit Japan faktisch nicht gelingt, ein Verständigungsverfahren positiv abzuschließen. Als wir dann eine japanische Delegation bei uns empfangen haben, haben wir uns ausgetauscht und seit der Zeit habe ich gehört, dass es deutlich besser geht. Man muss dranbleiben. Die Probleme sind uns bewusst und es wird daran gearbeitet. Prof. Dr. Lüdicke Darf ich direkt nachfragen, sei es an Sie, sei es auch an Frau Wolff? Inzwischen sind auch Mittelständler immer internationaler, aber bei ihnen sind die infrage stehenden Steuerbeträge unter Umständen nicht so groß. Trotzdem kann es zu internationaler Doppelbesteuerung kommen. Wie soll das eigentlich gelöst werden, solange solche Verfahren so aufwendig sind? Müller-Gatermann Jetzt muss ich meinem ehemaligen Dienstherrn sagen, dass es in seinem eigenen Interesse ist, dass er das Personal dort ansiedelt. Es geht um viel Geld. Es mag zwar im Mittelstand, je nachdem, wie man den Mittelstand definiert, im Einzelfall nicht um so hohe Summen gehen, aber uns wird vorgeworfen, dass wir in der Tat gutes Geld verlieren, weil wir uns nicht hinreichend darum kümmern. Da ist man dran. Das

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Problembewusstsein ist da, aber ich würde mir noch deutliche Verbesserungen wünschen. Und wenn Sie vorhin Frau Becker, mit der ich in den letzten zwei Jahren im BMF sehr intensiv zusammengearbeitet habe, zitieren, denke ich, dass sie das ähnlich kritisch sieht, wie die Kollegen das hier vorgetragen haben. Ich habe ihre Kommentierung aber nicht gelesen. Prof. Dr. Lüdicke Vielleicht war das nur ein bisschen schöngeschrieben. Lassen Sie mich, auch wenn die Thematik des Vortrags die Verständigungsverfahren waren, auch die APAs, die nur am Rande gestreift wurden, ansprechen. Kürzlich wurde beim Gesprächskreis Rhein-Ruhr2 beklagt, dass APAs zum Teil noch wesentlich länger als Verständigungsverfahren dauern, sodass man im Grunde kaum noch von einem „vorherigen“ Agreement sprechen kann. Eigelshoven Das ist leider auch unsere Beobachtung. Teilweise klären APAs nur vom Grundgedanken her alles im Vorhinein. Bis wir dann zum Abschluss gekommen sind, sind es dem Charakter nach eigentlich eher Verständigungsverfahren. Das sind schon sehr lange Verfahrensdauern. Man muss allerdings bedenken, dass man natürlich häufig mit komplexeren Fällen zum BZSt geht. Das mag dann ein Grund sein, dass die Verfahren längere Durchlaufzeiten haben. Aber es wäre wünschenswert, wenn die Verfahrenszeiten verkürzt würden. Wir haben in der Praxis sehr häufig mit Personalwechsel beim BZSt zu kämpfen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Müller-Gatermann, es ist eben angesprochen worden, dass die OECD jetzt den Art. 25 Abs. 5 im Musterabkommen vorsieht. Er betrifft verpflichtende Schiedsverfahren, die eine heilsame Wirkung auf das Verständigungsverfahren – und sogar schon auf das Besteuerungsverfahren, namentlich auf die Außenprüfung – haben können, weil man weiß, dass man sich zum Schluss einigen muss. Wie sieht die deutsche Position aus? Ist die grundsätzlich positiv? Gilt das auch gegenüber Entwicklungsstaaten? _____________ 2

Diskussionsveranstaltung am 11.11.2011 in Düsseldorf.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Müller-Gatermann Ich habe in anderem Zusammenhang berichtet, dass wir an einem deutschen DBA-Muster arbeiten, mit dem wir in die Verhandlungen einsteigen werden. Dort ist vorgesehen, dass wir prinzipiell Schiedsverfahren vereinbaren, damit über diese Schiedsverfahren letztlich der Druck in Verständigungsverfahren hineinkommt, zu einem Abschluss zu kommen. Das verschärft zwar möglicherweise – das muss man sehen, wenn die Personalausstattung sich nicht deutlich bessert – die Situation im BZSt, aber auf der anderen Seite würde das natürlich unsere Argumentation gegenüber der Personalabteilung verbessern. Und noch ganz kurz ein Wort in diesem Zusammenhang zu APAs. Das ist ein hochpolitisches Thema. Die Bundesregierung hat lange Jahre damit Reklame gemacht für den guten Standort Deutschland, dass man hier über APAs versucht, schnell Rechtssicherheit zu bekommen. Es gibt natürlich positive Beispiele. Ich erinnere daran, dass ein APA mit Airbus, welches sogar vier Länder betroffen hat, Frankreich, Spanien, UK und Deutschland, in einem Jahr verhandelt worden ist. Das ist relativ zügig gewesen. Da hat man nachdrücklich dran gearbeitet. Aber ich sehe auch, dass in unserem eigenen Interesse APAs letztlich viel schneller laufen müssen, als es tatsächlich passiert. Prof. Dr. Gosch Ich habe mir natürlich einiges an Despektierlichem notiert. Die Laufzeiten im BFH sind kürzer. Das war das Erste. Zu dem Problem der Nachzahlungszinsen, von dem auch die Verwaltung schon gehört hat, hätte ich beinahe gesagt, dass da wahrscheinlich eine andere Arbeitsgruppe am Werk war. Und die Personalsituation beim BZSt muss ohnehin aufgestockt werden, wenn sich herausstellen sollte, dass ihr nach der Entscheidung des EuGH3 zur Frage der Erstattung definitiver Kapitalertragsteuern an Steuerausländer die Sachzuständigkeit für die Quellensteuer gebührt. Aber das ist noch offen. Darüber entscheidet der BFH erst im Januar nächsten Jahres.4 Aber im Ernst: Der BFH hat mit Verständigungsverfahren naturgemäß eher weniger zu tun. Das ist eine reine Sache der Steueradministration. _____________ 3 4

EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09 – Kommission ./. Deutschland, FR 2011, 1112. BFH v. 11.1.2012 – I R 25/10, FR 2012, 524 ff.: in Bestätigung der ständigen Senatsrechtsprechung liegt die Entscheidungskompetenz weiterhin beim FA, nicht beim BZSt; noch anhängig: I R 30/10.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Wir hören manchmal bei mündlichen Verhandlungen, dass noch ein Verständigungsverfahren läuft. Die Ergebnisse eines solchen Verfahrens binden über § 175a AO an sich nur die Finanzbehörden. Sie verpflichten diese aber nicht nur zu einer Änderung „einfach“ bestandskräftiger Steuerbescheide. Vielmehr gilt Gleiches, wenn ein Urteil ergangen ist. Und so gesehen verrichtet die Justiz praktisch „ungestört“ von laufenden Verständigungsverfahren ihr Werk, wenn sie deren denn überhaupt gewahr wird. Aus Sicht der Rechtsprechung, so wie ich sie erlebt habe, stehen deswegen nicht das Verfahren oder die Dauer im Vordergrund des Interesses, sondern allenfalls die Wirkungen der Verständigungsvereinbarung. Dazu ist dann aber in der Tat noch das eine oder andere anzumerken. Zum einen betrifft das die materiellen Fragen, die verständigungswürdig oder gewissermaßen verständigungsvirulent sind. Man muss sich vor Augen führen, dass Verständigungen über nationales Recht von vornherein ausscheiden. Wenn der eine Staat in einem Sachverhalt nach seiner Steuerrechtsordnung eine Entnahme erkennt, der andere jedoch eine Dividende, dann gebietet dies allein das nationale Recht. Darüber kann man sich schlechterdings nicht verständigen. Man kann sich auch nicht darüber verständigen, ob eine Gesellschaft als Kapital- oder als Personengesellschaft zu qualifizieren ist. Auch das ist allein Sache des nationalen Rechts. Verständigen mag man sich in derartigen Zusammenhängen nur über die dadurch ausgelöste Doppelbesteuerung, allein dieser Doppelbesteuerungseffekt lässt sich qua Verständigung vermeiden. Die Vereinbarung stellt sich damit im Ergebnis als eine Art Billigkeitserweis dar, mittels dessen sie sich über das nationale Recht und die dadurch ausgelöste Rechtsfolge der Besteuerung im konkreten Einzelfall hinwegsetzt. Es gibt noch einen weiteren materiellen Aspekt. Sie haben in Ihrem Vortrag die Problematik von Art. 9 OECD-MA im Verhältnis zu hybriden Gesellschafterfinanzierungen, also zu § 8a KStG a. F., angesprochen, die Sperrwirkungen, die sich insofern aus Art. 9 OECD-MA für das nationale Recht ergeben. Solche Sperrwirkungen sind wohl uneingeschränkt anzunehmen. Das provoziert eine Anschlussfrage: Gilt das auch bezogen auf § 8 Abs. 3 KStG und dort im Hinblick auf die Sonderbedingungen für beherrschende Gesellschafter? Der BFH hat diese Frage bislang unbeantwortet gelassen.5 Sie ist aus meiner Sicht aber eindeutig zu bejahen. Die Sonderbedingungen für beherrschende Gesellschafter, _____________ 5

BFH v. 9.11.2005 – I R 27/03, BFH/NV 2006, 995.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

die national zur vGA führen bzw. solche generieren, sind keineswegs Gegenstand der Fremdvergleichspreisvereinbarung, wie sie im dealing at arm’s length- Grundsatz und damit in Art. 9 Abs. 1 OECD-MA vorgegeben wird. Erneut ergeben sich dann die schon benannten Schwierigkeiten im Falle einer abkommensrechtlichen Verständigung: Über den Effekt einer etwaigen Doppelbesteuerung mag man sich verständigen, aus meiner Sicht aber nicht über den Charakter der Sperrwirkung. Und das alles gilt gleichermaßen für die von Ihnen angesprochenen Verrechnungspreise. Auch darüber kann eine Verständigung immer nur über die zugrunde liegenden tatsächlichen Gegebenheiten erfolgen, nicht über die rechtlichen Grundlagen. Es verhält sich ähnlich wie bei einer sog. tatsächlichen Verständigung nach Maßgabe des nationalen allgemeinen Abgabenrechts. Lassen Sie mich noch zwei Punkte hervorheben: Zum einen möchte ich Ihren Blick auf die Bindungswirkung von Konsultationsabkommen im Sinne des Art. 25 Abs. 3 OECD-MA lenken. Eine solche Bindungswirkung hat der BFH verneint6 und Sie erinnern sich sicherlich, dass diese Rechtsprechung die Grundlage für die Neuschaffung des § 2 Abs. 2 AO war. Die Konsultationsabkommen sollen danach „zur Sicherung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung oder doppelten Nichtbesteuerung“ in bindende Rechtsverordnungen transformiert werden können. § 2 Abs. 2 AO soll dafür die Ermächtigungshandhabe geben. Ob das aber rechtstechnisch gelingt, ob eine Rechtsverordnung tatsächlich geeignet ist, gesetztes Recht in Gestalt der DBA „abkommensbrechend“ zu substituieren, dürfte vor dem Hintergrund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts alles andere als ausgemacht sein. Das Ganze ist aus meiner Sicht mehr als nur fragwürdig. Und zum anderen Punkt zwei. Er betrifft die unilateral abkommensübersteigende Rückfallvorschrift des § 50d Abs. 9 EStG. Diese Regelung betrifft sog. negative Qualifikationskonflikte zwischen zwei Vertragsstaaten sowie Fälle einer Nichtbesteuerung im anderen Staat mangels „hinreichender“ Tatbestandsmäßigkeit der beschränkten Steuerpflicht. Die Rückfallregelung lässt ausweislich ihres Satzes 3 § 50d Abs. 8 EStG sowie § 20 Abs. 2 AStG, aber auch DBA-Bestimmungen, „die die Freistellung von Einkünften in einem weiter gehenden Umfang einschrän_____________ 6

BFH v. 2.9.2009 – I R 90/08, BFH/NV 2009, 2041; v. 2.9.2009 – I R 111/08, BFH/ NV 2009, 2044.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

ken … unberührt.“ Etliche DBA-Rückfallklauseln sind neuerdings nun mit einer Verständigungsvereinbarung verknüpft: Der Besteuerungsrückfall wird nur dann ausgelöst, wenn eine Verständigungsvereinbarung damit im Zusammenhang steht und diese zum Ende geführt wurde. Die Frage, die sich stellt, ist jene nach dem Rangverhältnis derartiger abkommensrechtlicher Rückfallklauseln zu besagtem § 50d Abs. 9 EStG. Bejaht man den Anwendungsvorrang der Abkommensregelung, dann wäre § 50d Abs. 9 EStG insoweit aus dem Feld geräumt, und zwar allein aufgrund dessen, dass eine Verständigungsvereinbarung hat vereinbart werden müssen. Ich würde einen Anwendungsvorrang hingegen verneinen, weil eine solche DBA-Klausel eben nicht weiter gehenden Charakters ist und sie damit den Verdrängungsmechanismus gegenüber § 50d Abs. 9 EStG nicht auslöst. Die Wirklichkeit sieht aber offenbar anders aus, denn man muss mit gewissem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass zur neuen Regelung des DBA Deutschland-Irland in der dazu ergangenen Denkschrift7 gesagt wird, dass § 50d Abs. 9 EStG hinter einer solchen Rückfallklausel in Kombination mit Verständigungsvereinbarung zurücktritt. Das überrascht denn doch, weil gerade die unilateralen Rückfallklauseln einiges Steuerunheil stiften und ihrer erklärten Absicht nach wohl auch stiften sollen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank Herr Gosch. Das steht übrigens auch schon so in der Denkschrift zum DBA mit Großbritannien8. Prof. Dr. Gosch Da schau an. Prof. Dr. Lüdicke Wenn die DBA-Regelung dem § 50 Abs. 9 EStG insoweit nicht vorgeht, ergibt sich die zweifelhafte Situation, dass Deutschland mit dem Vertragspartner etwas vereinbart – nämlich die zwingende Durchführung eines Verständigungsverfahrens –, was jedoch bei Verweigerung der Freistellung schon nach § 50d Abs. 9 EStG überhaupt keine Bedeutung hat.

_____________ 7 8

BT-Drucks. 17/6258, 36. BT-Drucks. 17/2254, 38.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Wolff Ich möchte etwas zu § 175a AO sagen, und zwar zur Umsetzung des Verständigungsverfahrens. Ich denke, wir haben eine Regelung in Deutschland, die nicht in allen Ländern zu finden ist. Die Wirksamkeit der Verständigungslösung steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Steuerpflichtigen. Es gibt auch Länder, in denen das anders ist. Dem Steuerpflichtigen wird keine Verständigungslösung aufoktroyiert. Die Konsequenz daraus ist, dass der Steuerpflichtige, der mit der Verständigungslösung nicht einverstanden ist, die Möglichkeit hat, die Verständigungslösung abzulehnen und z. B. das nationale Gerichtsverfahren weiterzuführen. Prof. Dr. Gosch Der seltene Fall einer fehlenden „Zwangsbeglückung“ im Steuerrecht. Wolff Ja, das möchte ich doch unterstreichen im Vergleich zu anderen Ländern. Meine andere Bemerkung betrifft die Möglichkeit, inwieweit die Verständigungslösung überhaupt umgesetzt werden kann. § 175a AO sagt, dass die Verständigungslösung auch über die Bestandskraft des ursprünglichen Steuerbescheids hinaus ein Jahr ab Wirksamkeit der Verständigungslösung umgesetzt werden kann. Ein anderer Aspekt ist das Verhältnis zu finanzgerichtlichen Verfahren. In vielen Ländern ist es nicht möglich, dass die Verständigungslösung aufgrund der Gewaltenteilung ein Urteil überstimmt. In solchen Ländern, so sagt auch Art. 7 Abs. 3 der EU-Schiedskonvention, wird empfohlen, um die möglicherweise günstigere Verständigungslösung nicht zu unterlaufen, rechtzeitig das finanzgerichtliche Verfahren durch Rücknahme des Antrags zu beenden oder durch Verstreichenlassen der entsprechenden Fristen gar nicht erst zu beginnen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Lehner9, Sie möchten zu dem Verhältnis zwischen einem rechtskräftigen Gerichtsurteil und einer nachfolgenden Ände_____________ 9

Prof. Dr. Moris Lehner, Lehrstuhl für Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht und Leiter der Forschungsstelle für Europäisches und Internationales Steuerrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

rung des Steuerbescheids aufgrund einer Verständigungsvereinbarung etwas sagen. Prof. Dr. Lehner Dazu sage ich gleich etwas. Ich muss aber um Ihre Erlaubnis bitten, mit einem Satz kurz an das anzuknüpfen, was heute Vormittag gesagt worden ist, auch im Kontext zu dem, was wir jetzt verhandeln. Da war die Rede davon, dass es einen Konflikt zwischen dem Anwendungsvorrang und der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG gibt. Das ist so nicht richtig. Der Anwendungsvorrang ist Teil bzw. Folge der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG. Dies ergibt sich zwingend aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 59 Abs. 2 GG und im europarechtlichen Kontext ergänzend aus Art. 23 GG. Zum Schiedsabkommen will ich nur eines klarstellen. Wir sprechen zwar zutreffend von der EU-Schiedskonvention. Sie ist aber kein Produkt europäischer, d. h. unionsrechtlicher Rechtssetzung. Sie bildet weder primäres noch sekundäres Unionsrecht, vielmehr ist sie ein multilateraler Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Ursprünglich, Ende der 70er-Jahre, war das noch anders gewollt. Es gab einen Richtlinienvorschlag der EG-Kommission, der auf eine entsprechende Veränderung der dem Art. 25 OECD-MA entsprechenden innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen gerichtet war. Dieser Richtlinienvorschlag ist vor allem deshalb nicht zustande gekommen, weil die Mitgliedstaaten keine Entscheidungszuständigkeit des EuGH in Bereichen des Abkommensrechts haben wollten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, von der Wirkung der Grundfreiheiten einmal abgesehen. Meines Wissens gibt es nur eine Ausnahme in Art. 25 unseres Doppelbesteuerungsabkommens mit Österreich. Danach kann ein Schiedsverfahren beim EuGH anhängig gemacht werden, falls das normale Verständigungsverfahren ergebnislos bleibt. Dann will ich etwas zur Rechtskraftproblematik sagen. In dem Merkblatt „Verständigungsverfahren“ der Finanzverwaltung wird auf § 110 Abs. 2 FGO verwiesen.10 Das ist im Hinblick auf die daraus abgeleitete Möglichkeit einer Rechtskraftdurchbrechung nicht nachvollziehbar. Die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung kann durch ein Verständigungsergebnis nicht überwunden werden. § 110 Abs. 2 FGO lässt zwar die Bestimmungen über die Bestandskraft unberührt, doch steht _____________ 10 Merkblatt Verständigungsverfahren v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461 Tz. 13.1.4.

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dies unter der ausdrücklichen Bedingung des Einleitungssatzes: „… soweit sich aus Abs. 1 nichts anderes ergibt.“ Und § 110 Abs. 1 FGO normiert prominent und mit deutlichen Worten die Rechtskraftwirkung inter partes. Also keine Rechtskraftdurchbrechung durch eine Verständigungsentscheidung. Das zusätzliche Argument, das man aus dem Ministerium hört, ist immer: „Die Gerichte haben, außer der Möglichkeit, sich um Entscheidungsharmonie zu bemühen, keine Möglichkeit, sich mit dem Gericht eines anderen Staates abzustimmen.“ Das ist natürlich richtig. Die Finanzverwaltung hat diese Möglichkeit, aber es gilt immer noch der Grundsatz der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung der Verwaltung. Die Rechtskraft einer innerstaatlichen Gerichtsentscheidung kann durch eine Verständigungsvereinbarung nicht überwunden werden. Wenngleich der BFH diese Frage noch nicht ausdrücklich entschieden hat, folgt die von mir dezidiert vertretene Auffassung doch aus Entscheidungen, in denen der BFH feststellt, dass eine Entscheidung im Rechtsmittelverfahren einer Billigkeitslösung bei übereinstimmender Auffassung beider Staaten im Verständigungsverfahren nicht entgegensteht11. Dieser Hinweis wäre unnötig, wenn die Überwindung der Rechtskraft möglich wäre. Der durch die Ergänzung im Jahre 2008 in den Text des OECD-MA eingefügte Art. 25 Abs. 5 stellt dies in seinem Satz 2 zumindest für das dort vorgesehene Schiedsverfahren klar. Danach werden die im Verständigungsverfahren nicht gelösten Fragen „nicht dem Schiedsverfahren unterworfen, wenn zu ihnen bereits eine Gerichtsentscheidung in einem der Staaten ergangen ist.“ Ich habe noch einen Nachtrag zu der Problematik „Anspruch“ des Steuerpflichtigen. Es gibt einen Anspruch des Steuerpflichtigen auf eine abkommenskonforme Besteuerung, u. a. nach Art. 7 und Art. 9 OECDMA. Diesen Anspruch kann der Steuerpflichtige durchsetzen, wenn nicht im Verständigungsverfahren, dann eben bei den Finanzgerichten. Prof. Dr. Lüdicke Man kann natürlich sagen, wo kein Kläger, da kein Richter. Wenn die Finanzverwaltung auf Grundlage der Verständigungsvereinbarung tatsächlich abhilft und sich über die Rechtskraft hinwegsetzt, wird der Steuerpflichtige sich nicht beklagen. Die andere Frage ist, ob man sich darauf stützen kann. Ich glaube, das deuten Sie ja auch in Ihrer Kommentierung12 an, Herr Lehner, dass man die Maßnahme anschließend _____________ 11 BFH v. 1.2.1967 – I 220/64, BStBl. III 1967, 495 (497 l. Sp.). 12 Lehner in Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 OECD-MA Rz. 132 f.

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als eine Billigkeitsmaßnahme, also eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen, ansieht. Wäre das nicht eine praktikable Lösung, um sich mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Konflikt zu begeben? Prof. Dr. Lehner Sicher, diese Möglichkeit ist immer gegeben. Prof. Dr. Lüdicke So, jetzt erhält Herr Loschelder das Wort. Dr. Loschelder Erstens: Die Laufzeiten beim FG Hamburg sind noch kürzer. Zweitens: Zur Sperrwirkung – das haben wir gerade mit Urteil vom 31.10. dieses Jahres13 entschieden. Wir gehen davon aus, dass Art. 9 OECD-MA bzw. Art. 6 DBA Niederlande eine Sperrwirkung gegenüber § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG entwickeln, wenn es um Gewinnkorrekturen geht, die auf rein formalen Beanstandungen beruhen. Wir sind damit einem Urteil des FG Köln14 aus dem Jahre 2007 gefolgt. Das Urteil ist damals rechtskräftig geworden, obwohl die Revision zugelassen worden war. Wir haben ebenfalls die Revision zugelassen. Ob sie inzwischen eingelegt worden ist, weiß ich noch nicht. Wenn das der Fall sein sollte, dann erfährt Herr Gosch als Erster davon.15 Prof. Dr. Gosch Ich lasse offen, ob ich davon schon weiß. Dr. Loschelder Als Drittes möchte ich etwas zur Rechtskraftwirkung anmerken. Ich würde auch sagen, dass in solchen Fällen im Billigkeitswege korrigierend eingegriffen werden müsste. Möglicherweise käme man hier sogar zu einer Ermessensreduzierung „auf Null“. Denn die Situation als solche ist doch denkbar schräg: Es wird eine Empfehlung ausgesprochen, eine anhängige Klage zurückzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt ist noch _____________ 13 FG Hamburg v. 31.10.2011 – 6 K 179/10 (Rev. BFH I R 75/11), IStR 2012, 190. 14 FG Köln v. 22.8.2007 – 13 K 647/03 (rkr.), EFG 2008, 161. 15 Redaktionelle Anmerkung: Die Revision ist eingelegt worden und unter dem Az. I R 75/11 anhängig.

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völlig offen, ob Sie – als Kläger – nicht mit Ihrer Klage durchkommen. Unabhängig davon läuft das Verständigungsverfahren, das im Ergebnis dazu führen kann, dass Sie das von Ihnen angestrebte Ziel nicht erreichen. Und nun werden Sie aufgefordert, auf den rechtsstaatlich vorgesehenen gerichtlichen Rechtsschutz zu verzichten! Das kann doch eigentlich nicht richtig sein. Dann möchte ich noch einen letzten Punkt aufgreifen. Kann man die Durchführung eines Verständigungsverfahrens einklagen? Der BFH16 hat es im Jahre 1982 offengelassen, ob in diesem Fall eine Verpflichtungsklage zulässig ist. Entscheidend ist, ob hier überhaupt ein Verwaltungsakt vorliegt bei der Entscheidung, ob ein Verständigungsverfahren durchgeführt wird oder nicht. Denn zunächst ist dies eine verwaltungsinterne Entscheidung. Diese tritt erst – gegebenenfalls – nach Abschluss des Verfahrens in Gestalt des die Entscheidung umsetzenden Steuerbescheids dem Steuerpflichtigen gegenüber in Erscheinung. Aber auch dann, wenn man hier keinen Verwaltungsakt annimmt, bleibt die Möglichkeit, eine allgemeine Leistungsklage zu erheben. Wolff Die Ablehnung der Einleitung eines Verständigungsverfahrens ist ein Verwaltungsakt mit Rechtsbehelfsbelehrung, gegen den dann ggf. Einspruch eingelegt werden könnte, wobei wir auch Abhilfebehörde sind. Dann könnte gegen einen die Einleitung des Verständigungsverfahrens ablehnenden Bescheid auch Klage erhoben werden. Müller-Gatermann Ich habe noch eine kurze Bemerkung zur Rechtskraftwirkung. Ich bin völlig offen, wie man es rechtlich qualifiziert, und sei es als Billigkeitsentscheidung. Wir klagen aus deutscher Sicht, dass es Länder gibt, in denen keine Veränderung mehr möglich ist. Dann macht auch kein Schiedsverfahren mehr Sinn. Prof. Dr. Lüdicke Ja, jedenfalls wenn der Steuerpflichtige in dem anderen Staat ein Klageverfahren geführt und zum Abschluss gebracht hat. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage: Herr Wichmann17 hat kürzlich bei einer _____________ 16 BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583. 17 Ministerialrat Michael Wichmann, Bundesfinanzministerium, Berlin.

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Veranstaltung gesagt, dass es mit manchen Ländern gar keinen Sinn machen würde, im DBA überhaupt ein Schiedsverfahren zu vereinbaren, und zwar aus dem Grund, weil es später nicht mehr umgesetzt werden kann. Das, muss ich gestehen, habe ich nie verstanden. Denn es ist ja nicht gesagt, dass der Steuerpflichtige im anderen Staat vor Gericht zieht. Müller-Gatermann Das ist aber genau die Überlegung. Das mag in seiner Absolutheit nicht richtig sein. Aber Herr Wichmann ist immer derjenige, der auf diese Probleme hinweist, die es in anderen Staaten gibt. Dann kann ein Schiedsverfahren allenfalls bedingt Sinn machen. Prof. Dr. Lüdicke Es mag ja sein, dass es einzelne Fälle gibt, in denen einzelne Steuerpflichtige im anderen Staat den Klageweg ausgeschöpft haben und in denen das Schiedsverfahren in der Tat keinen Sinn mehr macht. Aber dann schon kein Schiedsverfahren im DBA zu vereinbaren und damit alle anderen Steuerpflichtigen, die gern ein Schiedsverfahren haben möchten, zu enttäuschen, finde ich nicht die angemessene Reaktion. Müller-Gatermann Um Ihre Sorge zu nehmen, kann ich Ihnen mitteilen, dass wir entschieden haben, dass wir im Prinzip anstreben, Schiedsverfahren zu vereinbaren. Ob das jeweils der andere Staat immer mitmacht, ist eine andere Frage.

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Der neue Umwandlungssteuererlass Umwandlungen mit Auslandsbezug Ausgewählte Problemfelder

Dr. Christian Sistermann, LL.M. International Tax (New York University) Rechtsanwalt, Steuerberater Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, München

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 B. Entstrickung bei Herausverschmelzung einer inländischen Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . I. Umwandlungsbedingte Entstrickung nach dem UmwStG II. Regelungen des Umwandlungssteuererlasses zu Entstrickungstatbeständen . . . . . 1. Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu in- oder ausländischen Betriebsstätten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wechsel der Steuerpflicht . III. Eigene Beurteilung . . . . . . . . . IV. Europarechtliche Einschränkungen einer Sofortbesteuerung im Falle der Entstrickung C. Downstream-Merger mit ausländischen Anteilseignern . . . I. Anwendung des UmwStG auf einen Downstream-Merger . . II. Regelungskonzept im Umwandlungssteuererlass . . . . . . III. Eigene Beurteilung . . . . . . . . . D. Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte bei Umwandlung von

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Kapitalgesellschaft in Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 I. Anteilige Aufstockung stiller Reserven . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Ermittlung des Übernahmeergebnisses bei anteiliger Aufstockung stiller Reserven . 172 E. Steuerliche Behandlung von neutralem Auslandsvermögen bei Umwandlung von Kapital- in Personengesellschaft . . . . . . . . . . I. Zuschlag für neutrales Vermögen nach § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erstmalige Steuerverstrickung des neutralen Auslandsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vermeidung einer Doppelbesteuerung? . . . . . . . . . . . . . .

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F. Verstrickung bei Hereinverschmelzung einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft . . . . . . . . 176 I. Ausgangssituation . . . . . . . . . 176 II. Verstrickung zum Buch- oder Teilwert? . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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A. Einleitung Das Umwandlungssteuergesetz (UmwStG) wurde durch das am 12.12.2006 in Kraft getretene SEStEG1 neu gefasst und (in nunmehr vollständiger Umsetzung der Fusionsrichtlinie) auch für grenzüberschreitende Umwandlungsmaßnahmen geöffnet. Die Durchführung steuerneutraler Unternehmensumwandlungen innerhalb der EU ist damit zwar grundsätzlich möglich, in der Praxis allerdings insbesondere im Hinblick auf die in das UmwStG aufgenommenen Entstrickungsvorschriften mit etlichen Unsicherheiten verbunden. Die dringend erforderliche Neufassung des Umwandlungssteuererlasses ließ mehr als fünf Jahre auf sich warten. Nach einem langwierigen Entstehungsprozess wurde nunmehr der neue Umwandlungssteuererlass zum Ende des Jahres 2011 veröffentlicht2 und ersetzt damit den Umwandlungssteuererlass von 19983. Unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Regelungen des Umwandlungssteuererlasses werden nachfolgend einige ausgewählte Fragestellungen im Zusammenhang mit der Einschränkung bzw. dem Ausschluss oder der erstmaligen Begründung deutscher Besteuerungsrechte aufgrund von Umwandlungen mit Auslandsbezug dargestellt.

B. Entstrickung bei Herausverschmelzung einer inländischen Kapitalgesellschaft I. Umwandlungsbedingte Entstrickung nach dem UmwStG Im Rahmen des SEStEG hat der Gesetzgeber neben den Entstrickungsvorschriften des UmwStG4 in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG sowie in § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG erstmalig auch allgemeine Entstrickungsvorschrif_____________ 1 Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Anwendung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782 ber. BGBl. I 2007, 68. 2 BMF v. 11.11.2011 – IV C 2 - S 1978 - b/08/10001 - DOK 2011/0903665, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass). 3 BMF v. 25.3.1998 – IV B 7 - S - 1978 - 21/98; IV B 2 - S 1909 - 33/98, BStBl. I 1998, 268 (Umwandlungssteuererlass 1998). 4 Vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG in Bezug auf die übertragenen Wirtschaftsgüter, § 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 UmwStG in Bezug auf das eingebrachte Betriebsvermögen sowie § 21 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 UmwStG in Bezug auf im Rahmen eines Anteilstauschs erhaltene Anteile an der übernehmenden Gesellschaft.

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ten normiert. Danach soll es dann zu einer gewinnrealisierenden Aufdeckung stiller Reserven kommen, wenn das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung eines Wirtschaftsguts ausgeschlossen oder beschränkt wird. Der BFH hat (nach Inkrafttreten des SEStEG, aber zu Sachverhalten vor SEStEG) in seinen Urteilen vom 17.7.20085 und vom 28.10.20096 unter Aufgabe der bis dahin geltenden finalen Entnahmetheorie7 entschieden, dass die Überführung von Wirtschaftsgütern in eine ausländische Betriebsstätte zu keiner Entstrickung führt, da eine Besteuerung auch nach Überführung der Wirtschaftsgüter sichergestellt ist. Umstritten war in der Folgezeit, wie die durch das SEStEG eingeführten gesetzlichen Entstrickungstatbestände (mit denen der Gesetzgeber die finale Entnahmetheorie gesetzlich verankern wollte) angesichts dieser BFHRechtsprechung auszulegen sind. Aufgrund der insoweit unklaren Rechtslage hat der Gesetzgeber im Jahressteuergesetz 20108 § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG durch Aufnahme eines Regelbeispiels dahingehend ergänzt, dass ein Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts insbesondere dann vorliegt, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist. Eine entsprechende Ergänzung der Entstrickungsvorschriften des UmwStG wurde allerdings nicht vorgenommen. Unklar blieb damit, in welchem Verhältnis die allgemeinen Entstrickungsvorschriften zu denen des UmwStG stehen. Aber auch wenn die umwandlungsbedingte Zuordnung eines Wirtschaftsguts zu einer ausländischen Betriebsstätte entscheidend für den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts sein sollte, stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien und zu welchem Zeitpunkt die maßgebliche Zuordnungsentscheidung getroffen werden muss.

_____________ 5 6 7 8

BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. BFH v. 28.10.2009 – I R 99/08, BFH/NV 2010, 346. Vgl. dazu z. B. Wied in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 4 EStG Rz. 477. Jahressteuergesetz vom 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768.

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II. Regelungen des Umwandlungssteuererlasses zu Entstrickungstatbeständen Nach Auffassung des Erlassgebers sind die gesetzlichen Grundlagen im UmwStG für eine Entstrickung im Lichte der durch das Jahressteuergesetz 2010 ergänzten allgemeinen Entstrickungsregelungen auszulegen (Rndr. 11.08 i. V. m. 03.18 Umwandlungssteuererlass). Dementsprechend kommt es immer dann zu einer Beschränkung oder einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte eines Rechtsträgers zuzuordnendes Wirtschaftsgut infolge einer Umwandlung einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist. 1. Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu in- oder ausländischen Betriebsstätten Zwar soll nach der Finanzverwaltung eine grenzüberschreitende Umwandlung die abkommensrechtliche Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu einer in- oder ausländischen Betriebsstätte grundsätzlich nicht ändern; die Zuordnung von Wirtschaftsgütern ist jedoch im Einzelfall anhand der Grundsätze des Betriebsstättenerlasses9 zu beurteilen (vgl. Rz. 11.09 i. V. m. 03.20 Umwandlungssteuererlass). Dabei soll auf die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des steuerlichen Übertragungsstichtags abzustellen sein (vgl. Rz. 02.15 Umwandlungssteuererlass). Der Betriebsstättenerlass orientiert sich bekanntlich bei der Zuordnung von Wirtschaftsgütern an der sog. Zentralfunktion des Stammhauses. Bei Beteiligungen an Kapitalgesellschaften geht der Betriebsstättenerlass dementsprechend davon aus, dass diese in der Regel dem Stammhaus zuzuordnen sind, sofern sie nicht der Tätigkeit einer Betriebsstätte dienen. Gleiches gilt grundsätzlich für immaterielle Wirtschaftsgüter, wenn sie nicht zur Nutzung oder Verwertung in einer Betriebsstätte bestimmt sind. Wird daher beispielsweise eine inländische HoldingKapitalgesellschaft, die über Anteilsbesitz sowie immaterielle Wirtschaftsgüter verfügt, auf eine im EU-Ausland ansässige Kapitalgesellschaft verschmolzen, sind die übergehenden Wirtschaftsgüter zum steuerlichen Übertragungsstichtag der übernehmenden Kapitalgesell_____________ 9 BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl. I 1999, 1076, zuletzt geändert durch BMF v. 25.8.2009 – IV B 5 - S 1341/07/10004 - DOK 2009/0421117, BStBl. I 2009, 888.

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schaft (mit im EU-Ausland befindlichem Stammhaus) zuzuordnen. Nach den Regelungen des Umwandlungssteuererlasses bestünde damit ggf. (aufgrund einer fingierten, rein steuerrechtlichen Organisationsänderung) das Risiko eines Ausschlusses des deutschen Besteuerungsrechts an den übergehenden Kapitalgesellschaftsanteilen und immateriellen Wirtschaftsgütern mit der Folge, dass in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Holding-Kapitalgesellschaft insoweit (gewinnrealisierend) die gemeinen Werte anzusetzen wären. Dies gilt auch für einen etwaigen Firmenwert, der – obgleich kein Wirtschaftsgut – nach Rz. 03.05 Umwandlungssteuererlass gemäß § 3 Abs. 1 UmwStG ebenfalls in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Kapitalgesellschaft anzusetzen wäre – jedenfalls sofern der gesamte Betrieb der übertragenden Holding-Kapitalgesellschaft entstrickt wird. 2. Wechsel der Steuerpflicht Eine umwandlungsbedingte Entstrickung kommt gemäß Rz. 03.20 Satz 3 Umwandlungssteuererlass ferner im Zusammenhang mit einem Wechsel der Steuerpflicht in Betracht. Unterhält die übertragende Kapitalgesellschaft beispielsweise eine Betriebsstätte in einem ausländischen Staat, mit dem kein DBA besteht, kommt es durch die Verschmelzung zum steuerlichen Übertragungsstichtag in Bezug auf das ausländische Betriebsstättenvermögen zu einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts, sodass insoweit eine steuerliche Gewinnrealisierung eintritt (vgl. Rz. 03.20 i. V. m. dem Beispiel in Rz. 03.19 Umwandlungssteuererlass).

III. Eigene Beurteilung Eine Entstrickung zum steuerlichen Übertragungsstichtag aufgrund einer Zuordnung von Wirtschaftsgütern nach Zentralfunktionsgesichtspunkten – wie im Umwandlungssteuererlass unter Rz. 03.20 Satz 1 durch den Verweis auf die Grundsätze des Betriebsstättenerlasses angelegt – stünde im Widerspruch zur erklärten Absicht des Gesetzgebers, betriebswirtschaftlich sinnvolle Umwandlungen auch im grenzüberschreitenden Kontext zu ermöglichen,10 und wäre zudem mit der abkommensrechtlichen Tendenz einer zunehmenden (fiktiven) rechtlichen _____________ 10 BT-Drucks.16/2710, 25.

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und wirtschaftlichen Verselbstständigung der Betriebsstätte11 schwerlich in Einklang zu bringen. Stellt man auf eine funktionale Betrachtung ab, sollte eine Zuordnung der übergehenden Wirtschaftsgüter (insbesondere von Kapitalgesellschaftsbeteiligungen und immateriellen Wirtschaftsgütern) zum Stammhaus aufgrund der von diesem in der Regel ausgeübten Zentralfunktionen vielmehr nur dann möglich sein, wenn die Zentralfunktionen auch insoweit zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt vom (neuen) Stammhaus und nicht weiterhin von der bisherigen Organisationseinheit (d. h. dem bisherigen Stammhaus der Überträgerin) ausgeübt werden12. Legt man nach Rz. 02.15 Umwandlungssteuererlass die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des steuerlichen Übertragungsstichtages der Beurteilung zugrunde, kann allerdings zu diesem Zeitpunkt noch keine Zuordnung der übergehenden Wirtschaftsgüter zum neuen ausländischen Stammhaus vorgenommen werden, wenn sich die für die funktionale Zuordnung entscheidenden tatsächlichen Verhältnisse zum steuerlichen Übertragungsstichtag nicht geändert haben. Dies hat indes zur Konsequenz, dass die zum steuerlichen Übertragungsstichtag für steuerliche Zwecke fingierte Übertragung des Vermögens der übertragenden Kapitalgesellschaft auf die übernehmende Kapitalgesellschaft (und damit eine neue oberste Geschäftsleitung) für sich alleine zu keiner Entstrickung in Bezug auf die übergehenden Wirtschaftsgüter führen kann. Eine spätere tatsächliche funktionelle Neuausrichtung (beispielsweise durch einen Umzug des bisherigen Managements der übertragenden Körperschaft ins Ausland oder eine Übernahme der Beteiligungsverwaltung durch das Management des ausländischen Stammhauses) führt dagegen jedenfalls zu keiner umwandlungsbedingten (rechtlichen) Entstrickung zum steuerlichen Übertragungsstichtag, sondern kann allenfalls eine (tatsächliche) Entstrickung nach den allgemeinen Entstrickungsvorschriften (§ 12 Abs. 1 Satz 1 KStG) zur Folge haben. Auch der Umstand, dass infolge der Umwandlung zum steuerlichen Übertragungsstichtag ein Wechsel von unbeschränkter zu beschränkter Steuerpflicht eintritt, kann an der Beurteilung nichts ändern; lediglich im Falle des Wegfalls einer (beschränkten oder unbeschränkten) inlän_____________ 11 Vgl. OECD-Betriebsstättenbericht vom 17.7.2008 (OECD-Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments), abrufbar auf der Homepage der OECD unter www.oedc.org. 12 So im Ergebnis wohl auch Benecke/Beinert, FR 2010, 1009 (1015 f.).

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dischen Steuerpflicht, wie im oben unter II.2 aufgezeigten Beispielsfall in Bezug auf das ausländische Betriebsstättenvermögen, führt die Umwandlung zu einem Ausschluss oder einer Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts mit der bereits aufgezeigten Konsequenz des Ansatzes der gemeinen Werte in Bezug auf das betroffene Vermögen in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft.

IV. Europarechtliche Einschränkungen einer Sofortbesteuerung im Falle der Entstrickung Vor dem Hintergrund der aktuellen Entscheidung des EuGH vom 29.11.2011 in der Rechtssache „National Grid Indus B.V.“13 stellt sich schließlich auch die Frage, ob eine umwandlungsbedingte Entstrickung zwingend eine Sofortbesteuerung der aufgedeckten stillen Reserven zur Folge hätte. Nachdem der EuGH in seinen Urteilen in den Rechtssachen „N“14 und „Lasteyrie du Saillant“15 für den privaten Bereich festgestellt hat, dass eine Sofortbesteuerung bei Wegzug grundsätzlich einen nicht gerechtfertigten Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellt, war umstritten, ob die in den genannten Entscheidungen aufgestellten Grundsätze auch auf den betrieblichen Bereich übertragen werden können.16 In der Rechtssache „National Grid Indus“ hat der EuGH nunmehr hierzu Stellung genommen und entschieden, dass zwar nicht die zwangsweise Realisierung stiller Reserven infolge eines Wegzuges einer Kapitalgesellschaft ins EU-Ausland, aber deren Sofortbesteuerung im Ausgangsland einen unverhältnismäßigen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellt. In dem Urteil ging es um die Verlegung des Gesellschaftssitzes einer niederländischen Kapitalgesellschaft nach Großbritannien. Die vom EuGH aufgestellten Grundsätze sollten indes auch auf eine Entstrickung infolge der Verschmelzung einer inländischen Kapitalgesell_____________ 13 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus B.V., IStR 2012, 27 Rz. 46. 14 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-470/04 – N, Slg. 2006, I-07409. 15 EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-02409. 16 Vgl. dazu z. B. Mitschke, IStR 2010, 95 (96 f.); IStR 2010, 211 (212 f.); Ubg 2010, 355 (357); Körner, IStR 2006, 109; IStR 2009, 741 (748); IStR 2010, 208 (210); FG Rh.-Pf. v. 7.1.2011 – 1 V 1217/10, EFG 2011, 1096; dazu Kessler/Phillip, DStR 2011, 1888.

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schaft auf eine ausländische EU-Kapitalgesellschaft übertragbar sein, was die Frage der Unionsrechtswidrigkeit der Entstrickungsvorschriften des UmwStG aufwirft. Zwar wären nach derzeitiger Gesetzeslage im Falle einer umwandlungsbedingten Entstrickung die hierdurch aufgedeckten stillen Reserven grundsätzlich sofort in Deutschland zu versteuern; die Finanzverwaltung könnte jedoch ggf. den Vorgaben des EuGH im Wege einer unionskonformen Auslegung der verfahrensrechtlichen Stundungsmöglichkeiten Rechnung tragen. Erwartungsgemäß äußert sich der Umwandlungssteuererlass hierzu nicht. Es bleibt daher abzuwarten, ob bzw. wie sich der Gesetzgeber oder zumindest die Finanzverwaltung der europarechtlichen Problematik annehmen wird.

C. Downstream-Merger mit ausländischen Anteilseignern I. Anwendung des UmwStG auf einen Downstream-Merger Die Finanzverwaltung vertrat vor Inkrafttreten des SEStEG die Auffassung, dass die Vorschriften der §§ 11 ff. UmwStG a. F. auf eine Abwärtsverschmelzung (Downstream-Merger) nur im Billigkeitswege auf übereinstimmenden Antrag aller Beteiligten anzuwenden sind.17 Im Rahmen der Neufassung des UmwStG durch das SEStEG hat der Gesetzgeber jedoch in § 11 Abs. 2 Satz 2 UmwStG eine Regelung zur Behandlung der Anteile der Überträgerin an der Übernehmerin getroffen und damit klargestellt, dass auch der Downstream-Merger im Grundsatz von den §§ 11 ff. UmwStG erfasst sein soll. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein Downstream-Merger gemäß § 11 Abs. 2 UmwStG auch hinsichtlich der Anteile an der übernehmenden Körperschaft steuerneutral vorgenommen werden kann und insbesondere, ob es sich bei den Anteilen an der übernehmenden Körperschaft um übergehende Wirtschaftsgüter im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 UmwStG handelt, war (und ist) indes angesichts der insoweit unklaren gesetzlichen Regelungen umstritten.

II. Regelungskonzept im Umwandlungssteuererlass Unter Rz. 11.18 Umwandlungssteuererlass wird zunächst noch einmal die Rechtsprechung des BFH18 bestätigt, dass der Downstream-Merger _____________ 17 Vgl. Rz. 11.24 Umwandlungssteuererlass 1998. 18 BFH v. 28.10.2009 – I R 4/09, BStBl. II 2011, 315.

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auch steuerlich nicht zu einem Durchgangserwerb eigener Anteile bei der übernehmenden Körperschaft führt. Zwar geht die Finanzverwaltung offenbar davon aus, dass es sich bei den Anteilen der übertragenden Körperschaft an der übernehmenden Körperschaft um übergehende Wirtschaftsgüter im Sinne des § 11 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 UmwStG handelt; es wird allerdings gleichwohl in Bezug auf diese Anteile eine Buchwertfortführung unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 UmwStG ermöglicht, wobei gemäß Rz. 11.19 Umwandlungssteuererlass insoweit jedoch nicht auf die übernehmende Körperschaft, sondern vielmehr auf die Anteilseigner der übertragenden Körperschaft abzustellen ist. Daher scheidet beispielsweise ein Buchwertansatz in Bezug auf die Anteile an der übernehmenden Körperschaft immer dann aus, wenn und soweit die Anteilseigner der (inländischen) Überträgerin in einem ausländischen Staat ansässig sind und das einschlägige DBA eine dem Art. 13 Abs. 5 OECD-MA entsprechende Regelung enthält. Auf Ebene der Anteilseigner der übertragenden Körperschaft bleibt es indes weiterhin bei der Anwendung von § 13 UmwStG (vgl. Rz. 11.19 Abs. 2 Satz 1 Umwandlungssteuererlass). Der Downstream-Merger kann daher für diese unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 UmwStG steuerneutral vollzogen werden. Insbesondere liegt auch hinsichtlich der unmittelbar auf die Anteilseigner übergehenden Anteile an der Übernehmerin keine partielle Aufwärtsverschmelzung (UpstreamMerger) vor, sodass es weder zu einer Wertverknüpfung zwischen dem Ansatz in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft und dem Ansatz der Anteile an der Übernehmerin bei den Anteilseignern der Überträgerin kommt (vgl. Rz. 11.19 Abs. 2 Satz 2), noch ein Übernahmegewinn nach § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG entstehen kann.

III. Eigene Beurteilung Der Wortlaut des § 11 UmwStG ist in Bezug auf die steuerliche Behandlung der Anteile an der Übernehmerin im Falle eines DownstreamMerger unklar und damit auslegungsbedürftig. Behandelt man die Anteile als (wenn auch nicht auf die übernehmende Körperschaft) übergehende Wirtschaftsgüter, wäre ein Downstream-Merger in Bezug auf die Anteile an der Übernehmerin nach dem Gesetzeswortlaut nie steuerneutral möglich, da diese nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UmwStG

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nur dann in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft mit dem Buchwert angesetzt werden können, wenn und soweit auch sichergestellt ist, dass sie später bei der Übernehmerin der Besteuerung mit Körperschaftsteuer unterliegen. Versteht man dagegen unter übergehenden Wirtschaftsgütern nur solche, die auf den übernehmenden Rechtsträger übergehen, mithin ihm steuerlich zuzurechnen sind, und behandelt § 11 Abs. 2 Satz 2 UmwStG als eigenständigen Absatz, würde der Downstream-Merger in Bezug auf die Anteile an der Übernehmerin immer zum Buchwert erfolgen, und zwar auch dann, wenn diesbezüglich das deutsche Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt wird.19 Beide Auslegungsvarianten sind – abgesehen von systematischen Schwächen – gesetzgeberisch offenkundig nicht gewollt. Gleiches gilt, würde man – wie ebenfalls im Schrifttum diskutiert20 – die Anteilseigner der übertragenden Körperschaft in Bezug auf die Anteile an der Übernehmerin generell als übernehmende Rechtsträger behandeln, mithin also insoweit einen partiellen Upstream-Merger annehmen mit der Folge der Buchwertverknüpfung nach § 12 Abs. 1 UmwStG und einer etwaigen Realisierung eines Übernahmegewinns nach § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG. Berücksichtigt man den mutmaßlichen gesetzgeberischen Willen, auch einen Downstream-Merger dem Grunde nach sowohl auf Ebene der beteiligten Körperschaften als auch auf Anteilseignerebene steuerneutral zu ermöglichen – jedenfalls sofern es hierdurch nicht zu einer Beschränkung oder einem Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte kommt und damit dem deutschen Fiskus Besteuerungssubstrat entzogen wird –, scheint die im Umwandlungssteuererlass niedergelegte Auffassung letztlich – wenn auch zum Teil im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut – gut vertretbar. Man darf allerdings bezweifeln, ob diese Auffassung auch in einem Finanzgerichtsverfahren standhalten würde. Letztlich ist daher der Gesetzgeber gefordert, durch entsprechende Anpassung des Wortlauts des § 11 UmwStG Rechtsklarheit zu schaffen.

_____________ 19 So z. B. Schmitt/Schlossmacher, DStR 2010, 673. 20 Vgl. Rasche, GmbHR 2010, 1188.

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D. Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte bei Umwandlung von Kapitalgesellschaft in Personengesellschaft I. Anteilige Aufstockung stiller Reserven Die Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft kann u. a. dann zu Buchwerten erfolgen, wenn und soweit das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung der übertragenen Wirtschaftsgüter bei den Gesellschaftern der übernehmenden Personengesellschaft nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist dabei nach Rz. 03.18 Abs. 1 Satz 2 Umwandlungssteuererlass bei den Gesellschaftern der übernehmenden Personengesellschaft – entsprechend der oben unter II. dargestellten Grundsätze – subjekt- und objektbezogen zu prüfen. Sind beispielsweise an einer übertragenden Kapitalgesellschaft sowohl ein inländischer als auch ein ausländischer Anteilseigner beteiligt, und unterhält die Überträgerin eine Betriebsstätte in einem ausländischen Staat, mit dem kein DBA besteht, kommt es bei einer Umwandlung der Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft nach der Finanzverwaltung insoweit zu einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts am ausländischen Betriebsstättenvermögen, als der ausländische Anteilseigner an der übernehmenden Personengesellschaft beteiligt wird, da er mit den ausländischen Betriebsstätteneinkünften nicht der beschränkten Einkommen- oder Körperschaftsteuerpflicht im Sinne des § 49 EStG unterliegt (vgl. die Beispiele unter Rz. 03.19 und Rz. 04.24 Umwandlungssteuererlass). Der Umwandlungssteuererlass geht dabei offenbar davon aus, dass die ausländischen Betriebsstätteneinkünfte immer unmittelbar dem ausländischen Anteilseigner der übernehmenden Personengesellschaft zuzurechnen sind. Ob indes angesichts der abkommensrechtlichen Selbstständigkeitsfiktion von Betriebsstätten auch eine Zurechnung ausländischer Betriebsstätteneinkünfte bei einer inländischen Betriebsstätte in Betracht kommen könnte, wird im Erlass nicht angesprochen. In entsprechendem Umfang sind somit die stillen Reserven im ausländischen Betriebsstättenvermögen aufzudecken. Demgegenüber ist eine Buchwertfortführung möglich, soweit die ausländischen Betriebsstätteneinkünfte zukünftig dem inländischen Anteilseigner zuzurechnen sind, da insoweit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 171

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UmwStG vorliegen (vgl. Rz. 03.13 Satz 2 Umwandlungssteuererlass). Soll daher die Umwandlung im Grundsatz zu Buchwerten erfolgen, sind in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft die der ausländischen Betriebsstätte zuzuordnenden Wirtschaftsgüter um die anteilig auf den ausländischen Anteilseigner entfallenden stillen Reserven aufzustocken und damit zu Zwischenwerten anzusetzen.

II. Ermittlung des Übernahmeergebnisses bei anteiliger Aufstockung stiller Reserven Der Betrag, um den die Buchwerte in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft aufzustocken sind, erhöht deren steuerbilanzielles Eigenkapital, das den Anteilseignern gemäß § 7 UmwStG im Verhältnis ihrer Nennkapitalbeteiligungen als Einnahmen aus Kapitalvermögen zuzurechnen ist. Im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses nach § 4 Abs. 4 UmwStG soll der Aufstockungsbetrag dagegen vollumfänglich dem ausländischen Anteilseigner, für den die Voraussetzung des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG nicht vorliegen, zugeordnet werden. Technisch geschieht dies dadurch, dass die aufgestockten Buchwerte in der steuerlichen Schlussbilanz der Überträgerin in der steuerlichen Gesamthandsbilanz der übernehmenden Personengesellschaft übernommen werden und sodann der Aufstockungsbetrag anteilig für den ausländischen Gesellschafter in einer positiven Ergänzungsbilanz und für den inländischen Gesellschafter in einer negativen Ergänzungsbilanz ausgewiesen wird (vgl. Rz. 04.24 Abs. 2 Umwandlungssteuererlass). Während der Aufstockungsbetrag somit nach § 7 UmwStG allen Anteilseignern entsprechend ihrer Beteiligungsquote zuzurechnen ist, führt er im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses lediglich bei dem ausländischen Gesellschafter zu einer Erhöhung des Übernahmegewinns oder einer Verminderung des Übernahmeverlustes. Infolgedessen kann es daher zu einer doppelten steuerlichen Erfassung der (aufgedeckten) stillen Reserven kommen, wenn der inländische Gesellschafter diese im Rahmen der ihm nach § 7 UmwStG zugerechneten Einkünfte aus Kapitalvermögen versteuert und sich zugleich ein steuerpflichtiger Übernahmegewinn des ausländischen Gesellschafters um dieselben stillen Reserven erhöht. Im Ergebnis dürfte dies immer dann der Fall sein, wenn

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– ein für den inländischen Anteilseigner der übertragenden Körperschaft bzw. Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft ermittelter Übernahmeverlust hinter den ihm nach § 7 UmwStG zugerechneten Einkünften aus Kapitalvermögen zurückbleibt, und – die dem ausländischen Anteilseigner der übertragenden Körperschaft bzw. Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft nach § 7 UmwStG zugerechneten Kapitaleinkünfte den für ihn ermittelten Übernahmegewinn übersteigen (vgl. § 4 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 i. V. m. Abs. 6 Satz 3 und 4 UmwStG). Um eine entsprechende Doppelbesteuerung zu vermeiden, müsste auch die (fiktive) Gewinnausschüttung nach § 7 UmwStG, soweit sie auf dem auf den ausländischen Anteilseigner entfallenden Aufstockungsbetrag beruht, richtigerweise ausschließlich (und damit disquotal) dem ausländischen Anteilseigner zugeordnet werden.21 Der Umwandlungssteuererlass äußert sich hierzu leider nicht.

E. Steuerliche Behandlung von neutralem Auslandsvermögen bei Umwandlung von Kapital- in Personengesellschaft I. Zuschlag für neutrales Vermögen nach § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG Wird eine Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft umgewandelt und verfügt die übertragende Kapitalgesellschaft über Wirtschaftsgüter, für die Deutschland kein Besteuerungsrecht hat, beispielsweise weil sie einer ausländischen Betriebsstätte in einem DBA-Staat mit Freistellungsmethode zuzuordnen sind (sog. neutrales Auslandsvermögen), sind diese Wirtschaftsgüter für Zwecke der Ermittlung des Übernahmeergebnisses für die Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft mit ihrem gemeinen Wert anzusetzen (§ 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG). Keine Auswirkungen ergeben sich dabei jedoch für die übertragende Kapitalgesellschaft. Diese kann (und muss) vielmehr sämtliche übergehenden Wirtschaftsgüter (einschließlich des neutralen Auslandsvermögens) in ihrer steuerlichen Schlussbilanz einheitlich mit dem gemeinen Wert, dem Buchwert oder einem Zwischenwert ansetzen. Da für das neutrale Auslandsvermögen vor der Umwandlung kein deut_____________ 21 So Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1125).

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sches Besteuerungsrecht bestand, kann ein solches auch nicht durch die Umwandlung ausgeschlossen oder eingeschränkt werden, sodass insoweit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG vorliegen (vgl. Rz. 03.18 f. Umwandlungssteuererlass). Der im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses vorzunehmende Zuschlag für das neutrale Auslandsvermögen (in Höhe der Differenz zwischen dem gemeinen Wert des Auslandsvermögens und dessen Wert in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft (vgl. Rz. 04.29 Satz 2 Umwandlungssteuererlass) führt somit bei den Gesellschaftern der übernehmenden Personengesellschaft zu einer entsprechenden Erhöhung eines Übernahmegewinns bzw. der Verminderung eines Übernahmeverlustes. Ohne eine entsprechende Regelung wären die stillen Reserven in den Anteilen an der übertragenden Körperschaft, soweit sie den Wert des neutralen Auslandsvermögens reflektieren, nach Wegfall der Anteile an der Überträgerin infolge ihrer Umwandlung in eine Personengesellschaft endgültig der deutschen Besteuerung entzogen. Letztlich handelt es sich somit bei § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG ebenfalls um eine Entstrickungsvorschrift, da bisher in dem für Kapitalgesellschaftsanteile geltenden Besteuerungsregime verhaftete stille Reserven infolge eines durch die Umwandlung in eine Personengesellschaft ausgelösten Besteuerungsregimewechsels zukünftig dem Zugriff des deutschen Fiskus entzogen sind.

II. Erstmalige Steuerverstrickung des neutralen Auslandsvermögens Der Zuschlag für neutrales Auslandsvermögen ist nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG unabhängig davon vorzunehmen, ob nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag weiterhin kein deutsches Besteuerungsrecht besteht oder aber durch die Umwandlung erstmalig ein solches begründet wird (beispielsweise bei Umwandlung einer EUKapitalgesellschaft in eine EU-Personengesellschaft, die in einem Staat ansässig ist, mit dem kein DBA besteht). Wird jedoch durch die Umwandlung bislang neutrales Auslandsvermögen in Deutschland steuerlich verstrickt, entfaltet § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG überschießende Wirkung, wenn die übertragende Körperschaft die übergehenden Wirtschaftsgüter (einschließlich des neutralen Auslandsvermögens) in ihrer steuerlichen Schlussbilanz einheitlich mit den Buchwerten ansetzt. Da die übernehmende Personengesellschaft die auf sie übergehenden Wirtschaftsgüter mit dem in der steuerlichen Schlussbilanz der Überträgerin 174

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angesetzten Buchwerten übernimmt, sind stille Reserven in den ausländischen Wirtschaftsgütern bei der Übernehmerin nämlich steuerverhaftet, obgleich sie sich bereits im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses steuerlich (zulasten der Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft) ausgewirkt haben.22

III. Vermeidung einer Doppelbesteuerung? Eine drohende Doppelbesteuerung bei späterer Veräußerung der ausländischen Wirtschaftsgüter durch die übernehmende Personengesellschaft lässt sich nach derzeitiger Rechtslage nur dadurch vermeiden, dass die Überträgerin die übergehenden Wirtschaftsgüter in ihrer steuerlichen Schlussbilanz einheitlich mit dem gemeinen Wert ansetzt. Werden indes auch inländische Wirtschaftsgüter übertragen, käme es in diesem Fall bei der Überträgerin zu einem steuerpflichtigen Übertragungsgewinn. Zudem hätte der Ansatz des gemeinen Werts eine Erhöhung des steuerbilanziellen Eigenkapitals und damit der den Anteilseignern der übertragenden Körperschaft nach § 7 UmwStG zuzurechnenden Kapitaleinkünfte zur Folge.23 Der Umwandlungssteuererlass enthält keine Aussage dazu, wie eine Doppelbesteuerung ohne eine solche durch die Umwandlung ausgelöste (vorgezogene) Steuerbelastung vermieden werden kann. Denkbar wären dabei insoweit folgende zwei Lösungsansätze: – § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG findet im Wege teleologischer Reduktion keine Anwendung, da bei erstmaliger Begründung des deutschen Besteuerungsrechts dem deutschen Fiskus gerade kein Wegfall von Besteuerungssubstrat (in Form stiller Reserven in den Anteilen an der Überträgerin) droht.24 – § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG findet im Wege teleologischer Reduktion keine Anwendung bzw. tritt hinter die allgemeinen Bewertungsvorschriften zurück, soweit für übergehende Wirtschaftsgüter bislang kein deutsches Besteuerungsrecht bestand. Die Verstrickung dieser Wirtschaftsgüter würde damit nicht zu dem in der Steuerbilanz der übertragenden Körperschaft angesetzten Wert, sondern zu ihren Teil_____________ 22 Vgl. dazu auch Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1123 f.). 23 So auch Bogenschütz, Ubg 2009, 604 (617). 24 So Pung in Dötsch/Jost/Pung/Witt, KSt, § 4 UmwStG Rz. 60 (Stand: Dezember 2011).

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werten nach § 4 Abs. 1 Satz 8 Halbs. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 EStG erfolgen.25 Eine teleologische Reduktion des § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG würde das Risiko einer überschießenden Besteuerung dabei allerdings nicht vollständig beseitigen. Die stillen Reserven im bislang neutralen Auslandsvermögen unterlägen nämlich bei einer späteren Veräußerung durch die übernehmende Personengesellschaft der vollen und nicht nach § 8b KStG bzw. § 3 Nr. 40 lit. a EStG begünstigten Besteuerung, obwohl sie vor der Umwandlung lediglich über die Anteile an der übertragenden Körperschaft und damit im günstigeren Besteuerungsregime für Kapitalgesellschaftsanteile steuerverhaftet waren. Richtig wäre es daher, die stillen Reserven im neutralen Auslandsvermögen lediglich im Rahmen des Übernahmeergebnisses zu erfassen und sodann zu Teilwerten auf die übernehmende Personengesellschaft zu übertragen.26

F. Verstrickung bei Hereinverschmelzung einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft I. Ausgangssituation Auch die Hereinverschmelzung einer EU-Kapitalgesellschaft auf eine inländische Kapitalgesellschaft führt ggf. zur erstmaligen Begründung eines deutschen Besteuerungsrechts an übergehenden Wirtschaftsgütern. Sofern die Verschmelzung im Ansässigkeitsstaat der übertragenden EU-Kapitalgesellschaft zu einer Gewinnrealisierung in diesen Wirtschaftsgütern führt (z. B. in Bezug auf Wirtschaftsgüter in einer Betriebsstätte in einem Staat, mit dem kein DBA besteht), kann es daher in Deutschland zu einer erneuten Besteuerung der bereits im Ausland (ggf. steuerpflichtig) aufgedeckten stillen Reserven kommen.

II. Verstrickung zum Buch- oder Teilwert? Die Finanzverwaltung geht davon aus, dass jede in- und ausländische übertragende Körperschaft verpflichtet ist, eine dem deutschen Steuerrecht entsprechende steuerliche Schlussbilanz aufzustellen, und zwar _____________ 25 Vgl. auch die Gesetzesbegründung, die zu Einbringungssachverhalten i. S. d. § 20 UmwStG eine entsprechende Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a EStG vorsieht; BT-Drucks. 16/2710, 43. 26 So wohl auch Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1126).

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unabhängig davon, ob sie in Deutschland unbeschränkt oder beschränkt körperschaftsteuer- oder buchführungspflichtig ist, oder überhaupt über inländisches Betriebsvermögen verfügt (vgl. Rz. 03.01 Satz 2 Umwandlungssteuererlass). Wie unter Rz. 11.02 Satz 2 Umwandlungssteuererlass ausgeführt, gilt dies insbesondere auch im Falle einer grenzüberschreitenden Hereinverschmelzung einer ausländischen übertragenden Körperschaft. Die Vorlage einer solchen steuerlichen Schlussbilanz soll nur dann nicht erforderlich sein, wenn sie für inländische Besteuerungszwecke nicht benötigt wird (Rz. 03.02 Satz 1 Umwandlungssteuererlass). Hieraus lässt sich jedoch keine gegenständliche Beschränkung der Verpflichtung zur Aufstellung einer steuerlichen Schlussbilanz auf im Inland steuerverhaftetes Vermögen (wie z. B. inländisches Betriebsstättenvermögen) ableiten. Vielmehr ist eine solche Beschränkung, wie die Verwendung des Wortes wenn statt soweit zeigt, seitens der Finanzverwaltung offenbar nicht gewollt. Die übergehenden Wirtschaftsgüter können gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 UmwStG grundsätzlich nur einheitlich mit dem Buchwert in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft angesetzt werden. Verfügt die Überträgerin über in Deutschland steuerverhaftetes Vermögen (z. B. in einer deutschen Betriebsstätte), wird sie regelmäßig beabsichtigen, in ihrer steuerlichen Schlussbilanz (einheitlich) die Buchwerte anzusetzen, um einen in Deutschland steuerpflichtigen Übertragungsgewinn zu vermeiden. Abgesehen davon, dass die (Nach)Ermittlung der Buchwerte des Auslandsvermögens für den Steuerpflichtigen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist,27 führt die Übernahme der steuerbilanziellen Buchwerte der übergehenden ausländischen Wirtschaftsgüter durch die übernehmende inländische Körperschaft nach § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG im Falle ihrer späteren Veräußerung ggf. zu einer erneuten Besteuerung der (ggf. im Ausland bereits aufgrund der Verschmelzung steuerpflichtig aufgedeckten) stillen Reserven. Auch hier besteht daher das Erfordernis einer teleologischen Reduktion des § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG und der (vorrangigen) Anwendung der allgemeinen Verstrickungsregelung der §§ 4 Abs. 1 Satz 8, 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG, zumal es in Bezug auf das bislang nicht im Inland steuerver_____________ 27 Da aus Sicht der Finanzverwaltung die steuerliche Schlussbilanz unter Zugrundelegung des deutschen Steuerrechts aufzustellen ist, können ausländische Wertansätze regelmäßig nicht übernommen werden, vgl. Rz. 11.02 Satz 2 Umwandlungssteuererlass.

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haftete Auslandsvermögen kein fiskalisches Schutzinteresse gibt (vgl. dazu oben E. III.). Alternativ wäre auch ein gemischter Wertansatz der übergehenden Wirtschaftsgüter in der steuerlichen Schlussbilanz der Überträgerin (Inlandsvermögen zu Buchwerten/Auslandsvermögen zu gemeinen Werten) in teleologischer Reduktion des § 3 Abs. 2 Satz 1 UmwStG denkbar28. Der Umwandlungssteuererlass äußert sich auch hierzu leider nicht.

G. Fazit Bedenkt man, dass eine maßgebliche Neuerung des UmwStG durch das SEStEG in dessen Internationalisierung zu sehen ist, erstaunt es, dass die gerade bei Umwandlungen mit Auslandsbezug auftretenden Zweifelsfragen im Umwandlungssteuererlass nur unzureichend angesprochen sind. Insbesondere im Zusammenhang mit der Ent- oder Verstrickung stiller Reserven bestehen weiterhin erhebliche Unsicherheiten und damit einhergehend steuerliche Fallstricke. Auch gerade soweit die Finanzverwaltung für die Frage der Zuordnung von Wirtschaftsgütern auf den Betriebsstättenerlass und den darin niedergelegten Grundsatz der Zentralfunktion des Stammhauses Bezug nimmt, bleibt unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen es zu einer umwandlungsbedingten Entstrickung kommen kann. Zu dem bei Verstrickung, d. h. der erstmaligen Begründung eines deutschen Besteuerungsrechts in Bezug auf Auslandsvermögen, in bestimmten Fällen bestehenden Risiko einer Doppelbesteuerung trifft der Umwandlungssteuererlass überhaupt keine Aussagen. Auch hier wäre eine angemessene Interpretation der gesetzlichen Regelungen wünschenswert gewesen, zumal dann, wenn deutsche Besteuerungsrechte nicht bedroht sind.

_____________ 28 Vgl. dazu Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1126).

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Der neue Umwandlungssteuererlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Dr. Christian Sistermann, LL.M. Rechtsanwalt, Steuerberater Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Sistermann, haben Sie vielen Dank für Ihren interessanten Vortrag. Sie haben anhand der von Ihnen ausgewählten Beispiele deutlich gemacht, dass der Satz „Was lange währt, wird endlich gut“ zwar manchmal zutrifft, aber eben keineswegs immer. Fünf Jahre wurde nun am Umwandlungssteuererlass gearbeitet, aber einige Fragen sind – trotz des Erlasses – offensichtlich noch ungelöst. Soweit diese Fragen nicht erst seit heute, sondern schon seit geraumer Zeit diskutiert werden, fragt man sich, warum der Gesetzgeber nicht zwischenzeitlich die Gelegenheit genutzt hat, das Gesetz nachzubessern. Sie hatten beispielsweise § 11 UmwStG angesprochen, eine Vorschrift, die für DownstreamVerschmelzungen ganz offensichtlich missglückt ist. Herr Müller-Gatermann, besteht im Bundesfinanzministerium eine gewisse Scheu, die Regelungen, die man im SEStEG im Jahre 2006 durch das Gesetzgebungsverfahren gebracht hat, noch einmal anzufassen? Die von Herrn Sistermann angesprochenen Mängel des Gesetzes – sowie einige weitere ohne internationalen Bezug – müssen doch auch 179

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im BMF bei der Arbeit am Umwandlungssteuererlass offenkundig geworden sein. Statt das Gesetz nachzubessern, sind nun fernab vom Gesetzeswortlaut einige Dinge geregelt worden, über die es mit Sicherheit später Streit geben wird, so vernünftig die Regelung im Einzelfall auch sein mag. Warum werden derartige gesetzliche Mängel nicht, beispielsweise in einem der steuerlichen Omnibusgesetze, per Gesetz nachgebessert? Müller-Gatermann Ich meine, wenn im Zuge der Auslegungsarbeit irgendwelche Schwächen des Gesetzes redaktioneller Art oder systematischer Art deutlich werden, dann spricht einiges dafür, dass man die Gelegenheit wahrnimmt und diese bessere Erkenntnis dann der Politik für eine Gesetzesänderung vorschlägt. Aber da wartet man natürlich die Diskussion insgesamt ab. Das hat alles relativ lange gedauert. Obwohl man zugeben muss, dass dies mit die komplizierteste Materie des Steuerrechts überhaupt ist. Das soll keine Entschuldigung sein, aber die Kollegen, die damit befasst waren, waren natürlich auch in anderen gesetzlichen Dingen unterwegs, z. B. der Gemeindefinanzreform oder jetzt den Verlusten und der Organschaft. Das lief alles nebenher. Das ist zumindest eine Erklärung. Ich könnte mir vorstellen, wenn mit den Länderkollegen Unzulänglichkeiten deutlich geworden sind, die auch teilweise angesprochen sind, dann kann man sich zwar teilweise über die teleologische Reduktion behelfen, aber besonders schön ist das natürlich nicht. Ich kann mir vorstellen, wenn das wirklich als gravierender Mangel erkannt worden ist, dass man dann ein Unternehmenssteuergesetz – also nicht eine ganz andere Thematik – als Trägergesetz nimmt, in dem man auch diese Dinge unterbringt. Prof. Dr. Lüdicke Kommt so ein Unternehmenssteuergesetz noch, wenn die Reste der Projekte „Verlustverrechnung“ und „Organschaft“ angegangen werden? Möchten Sie sich dazu äußern, auch wenn das nicht direkt unser Thema ist? Müller-Gatermann Dazu wage ich keine Prognose. Denn es steht natürlich viel im Koalitionsvertrag, aber es gilt genauso gut ein Haushaltsvorbehalt. Ich habe 180

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auch mit den französischen Kollegen einiges anstoßen müssen. Was daraus wird, liegt in den Händen der Politik. Dass der Haushalt in der Tat im Blickfeld ist, ist klar. Ich würde es mir als Steuerrechtler wünschen, dass sich das in dieser Legislaturperiode noch bewegt, aber das muss die Politik entscheiden. Prof. Dr. Lüdicke Herr Bernhardt, Herr Gosch, wie schätzen Sie jetzt die Rechtslage nach dem Umwandlungssteuererlass im Hinblick auf Planungssicherheit für Unternehmen und auf Rechtsfrieden ein? Bernhardt Da bin ich leider nicht zu optimistisch. Gut, man muss natürlich als Momentaufnahme sagen, dass wir zunächst einmal Klarheit in dem Sinne haben, dass es einen Erlass mit all seinen Unzulänglichkeiten gibt. Dass dieser Erlass die Mängel des Gesetzes nicht entscheidend abändern kann, ist jedem klar. Zur Äußerung, die wir eben gehört haben, und der Hoffnung, dass man vielleicht dann in einem Unternehmenssteuergesetz die Klarheiten herbeiführt, die erforderlich sind, nur so viel: Das sehe ich auf der Zeitschiene ehrlich gesagt nicht. Insbesondere glaube ich vor dem Hintergrund, dass in der augenblicklichen Haushaltssituation und in den sich darum rankenden Diskussionen solche Fragen das Letzte sind, was angepackt wird. Ich glaube, da muss man einfach realistisch sein. Insofern werden wir, fürchte ich, mit einer unübersichtlichen und nicht vernünftig planbaren Situation erst einmal leben müssen. Und das wahrscheinlich für einen längeren Zeitraum. Prof. Dr. Gosch Was soll ich dazu sagen? Herr Sistermann hat anhand etlicher „Paradebeispiele“, die schon seit geraumer Zeit diskutiert werden – die Zentralfunktion des Stammhauses, die Verknüpfung mit dem Betriebsstättenerlass oder eben auch die Frage des Downstream Mergers – sehr markante Punkte angesprochen, die streitbefangen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer einschlägigen Situation die Steuerpflichtigen diese zum Teil sehr restriktiven Auslegungsversuche des neuen Erlasses hinnehmen werden. Wir werden also mit anderen Worten automatisch in einschlägige Streitverfahren laufen und das würde ich auch zum Teil – angesichts der alles andere als glasklaren Regelungslage – vielfach auch als Erfolg versprechend ansehen. 181

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Ich nehme gerade den ersten Punkt „Zentralfunktion“ heraus. Das kann aus meiner Sicht nicht so stehen bleiben. Im Betriebsstättenerlass1 werden dazu Urteile des BFH zitiert und zum Beleg angeführt, die für einen solchen Beleg aber keineswegs zwingend taugen. Das betrifft in erster Linie zwei Urteile des II. Senats2, die sehr wohl Raum für eine Zuordnung jenseits einer etwaigen Attraktionskraft des Stammhauses geben. Der BFH belässt dem Unternehmen danach nämlich nur dann keinen Zuordnungswillen, wenn entweder die Zuordnung aus tatsächlichen Gründen zwingend ist oder solange die Willensausübung nicht den kaufmännischen und wirtschaftlichen Erfordernissen entspricht. Und diese Zuordnungsentscheidung ist dann auch zu akzeptieren und hinzunehmen. Mit der Annahme einer unbedingten Zentralfunktion des Stammhauses lässt sich solches nicht vereinbaren. Das trifft dann genauso auf den Downstream Merger zu. Prof. Dr. Lüdicke Vielleicht kommen wir auf einzelne Fälle gleich zurück. Ich würde gerne vorher aus Gründen der Aktualität noch eine Frage diskutieren, die Herr Sistermann bereits angesprochen hat. Das ist das Urteil des EuGH vom 29.11.2011. In der Rs. National Grid Indus3 hat der EuGH, wie Herr Sistermann eben ausgeführt hat, für den Unternehmensbereich sehr klar entschieden, dass ein Staat, in dem Fall war es der Wegzugsstaat, zwar das Recht hat, die auf seinem Gebiet gebildeten stillen Reserven zu besteuern, und zwar wohl auch unabhängig davon, was aus diesen stillen Reserven später mal wird. Aber er darf sie nicht sofort besteuern. Und dafür gibt es zurzeit im deutschen Recht keinen Anhaltspunkt. Jetzt ist es sicherlich zu früh, Herr Müller-Gatermann, Sie zu fragen, wie man da reagiert. Aber es ist doch eigentlich klar, dass alles das, was man mit dem SEStEG und seinen Nachbesserungen in § 4 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 EStG und in § 12 Abs. 1 KStG geregelt hat, damit innerhalb Europas in nicht ganz unerheblichen Teilen hinfällig ist.

_____________ 1 Betriebsstättenerlass, BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl. I 1999, 1076, zuletzt geändert durch BMF v. 4.9.2009 – IV B 9 - S 7117/08/10001, BStBl. I 2009, 1005. 2 BFH v. 29.7.1992 – II R 39/89, BStBl. II 1993, 63; v. 1.4.1987 – II R 186/80, BStBl. II 1987, 550. 3 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, DStR 2011, 2334.

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Müller-Gatermann Die Dinge werden jetzt natürlich geprüft. Das ist klar. Das Urteil ist ganz frisch. Ich meine, was das Besteuerungsrecht angeht, das ist insofern klar. Was die Frage des Zeitpunkts angeht, haben wir Gott sei Dank, dafür habe ich damals im eigenen Haus sogar in Absprache mit der Kommission sehr stark gekämpft, § 4g EStG gemacht, der wenigstens bei Anlagevermögen die Versteuerung auf fünf Jahre verteilt. Es könnte sein, dass das nach der Entscheidung nicht ausreicht. Ich habe sie noch nicht im Einzelnen gelesen. Nur, was mir in dem Zusammenhang einfällt, Herr Sistermann, Sie haben den AOA, also die OECDEntscheidung, für sich bemüht und haben gesagt, dass man die Zentralfunktion unabhängig von der Rechtsform wählen sollte. Nur, wenn ich den AOA so allgemein verbindlich anwende, wundert mich die Entscheidung über den Zeitpunkt: Wenn ich die Verbringung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte sehe und doch alles wie zwischen Mutter und Tochter behandelt werden muss, dann würde ich nicht daran zweifeln, dass natürlich sofort besteuert werden muss. Der EuGH hat das wohl nicht so behandelt, aber dann können Sie natürlich für Ihre Argumentation mit der Zentralfunktion diese Sichtweise des AOA nicht für sich in Anspruch nehmen. Prof. Dr. Gosch Stimmt das denn in jeder Beziehung? Nach dem Betriebsstättenerlass werden, wenn ich das richtig erinnere, Liquiditätsüberschüsse der Betriebsstätte unmittelbar dem Stammhaus zugeordnet. Wenn das aber im Fremdvergleich richtig ist, dann wird bei einer selbstständigen Tochtergesellschaft ein von ihr erwirtschafteter Gewinn vielleicht irgendwann an die Mutter ausgeschüttet, aber mit Sicherheit nicht sofort. Das heißt, die unmittelbare Zuordnung solcher Überschüsse an eine Betriebsstätte ist zumindest nicht fremdvergleichsgerecht. Und das sollte doch eigentlich das tragende Prinzip sein. Müller-Gatermann Das wird man natürlich insgesamt prüfen müssen, wie weit diese Betrachtung der Betriebsstätte tatsächlich geht, vor allem, wie sie jetzt auch in der EU abgestimmt ist. Der Betriebsstättenerlass ist natürlich schon nicht mehr so ganz frisch. Man hat damals zwar die sofortige Realisierung vorgesehen, aber auch die zeitliche Streckung erlaubt. Das muss man jetzt natürlich alles neu prüfen. 183

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Prof. Dr. Gosch Der EuGH hat sich nicht dezidiert zu dem Streckungsmechanismus geäußert, und das musste er auch nicht, weil der zu beurteilenden holländischen Regelungslage ein derartiger Mechanismus unbekannt war. Aber immerhin: Bei einer natürlichen Person wird nach § 6 Abs. 5 AStG eine Stundung ad infinitum gewährt. Wenn davon in § 4g und in § 36 Abs. 5 EStG abgewichen wird, dann gehört das auf den Prüfstand des EuGH. Es spricht einiges dafür, dass beide Situationen gleich zu behandeln sind: Festsetzen darf man beim Wegzug, besteuern darf man nicht. Prof. Dr. Lüdicke Ich vermute, dass uns im Zusammenhang mit Umwandlungsfällen auch Fragen des Authorised OECD Approach (AOA) noch häufiger beschäftigen werden. Herr Müller-Gatermann, Sie könnten natürlich versuchen zu argumentieren, dass eine Betriebsstätte nach dem AOA so selbstständig wie eine Tochtergesellschaft ist und man daher bei der Überführung von Wirtschaftsgütern von einer Betriebsstätte zu einer anderen genauso die Steuer sofort erheben dürfe wie bei der Veräußerung eines Wirtschaftsguts von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft oder umgekehrt. Man muss allerdings fragen, ob die Betriebsstätte denn tatsächlich genauso selbstständig wie eine Tochtergesellschaft ist. Denn selbst die OECD schreckt davor zurück, ein dealing in Form einer Lizenz, also letztlich eine Quasi-Lizenz, dem Art. 12 OECD-MA zu unterstellen. Quellensteuer soll nicht erhoben werden. Betriebsstätte und Tochtergesellschaft scheinen also doch nicht ganz identisch zu sein. Davon einmal abgesehen, müsste der AOA in Deutschland ohnehin erst einmal gesetzlich umgesetzt werden. Dem Vernehmen nach soll das im AStG erfolgen. Das lässt mit Blick auf die ebenfalls im AStG geregelte Funktionsverlagerung nichts Gutes erwarten – im Gegenteil. Eine Regelung im AStG dürfte erfahrungsgemäß wieder einseitig zulasten der Steuerpflichtigen ausfallen. Richtigerweise muss der AOA jedoch, wenn überhaupt, als allgemein geltendes Prinzip – zulasten wie zugunsten der Steuerpflichtigen – geregelt werden, mithin im EStG oder KStG. Oder soll der AOA im AStG quasi wie eine Missbrauchsregelung daherkommen?

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Müller-Gatermann Das ist sicherlich nicht der Fall, dass hier der Missbrauchsgedanke bemüht wird. Der AOA soll schlicht und ergreifend den alten Streit im Art. 7 OECD-MA lösen. Und wenn man sich für den separate entity approach entschieden hat, ist es völlig richtig, wie Sie sagen, dass das nicht alle Fragen löst. Ich meine z. B., dass es keine Quellensteuern auf dealings im Grundsatz gibt. Die kann man zwar vereinbaren, aber das ist schon eine Abweichung. Prof. Dr. Lüdicke Ja. Müller-Gatermann Wir sind dabei, mit den Ländern einen Gesetzentwurf zu erstellen, der dann auch ein Trägergesetz sucht, um den AOA zunächst im nationalen Recht festzulegen. Da gibt es natürlich auch Einschränkungen von der Selbstständigkeitsfiktion. Und so muss man natürlich genauso versuchen zu klären, welche Bedeutung der AOA bei der Exit Tax hat. Prof. Dr. Gosch Wobei das nie klappt, Herr Müller-Gatermann. Fiktionen haben immer die Bürde, nicht stringent durchgedacht zu werden. Das haben wir seinerzeit etwa bei § 8a KStG a. F. erlebt, das sehen wir neuerlich bei § 50d Abs. 10 EStG, und es ließen sich leichthin etliche weitere Beispiel aufspüren. Im Falle des § 8a KStG hat der BFH4 geholfen, die Norm trotz ihrer gesetzlichen handwerklichen Mängel durch Auslegung zu „retten“, bei § 50d Abs. 10 EStG hat er das nicht getan5 und aus meiner Sicht angesichts der gesetzlichen Unzulänglichkeiten auch nicht tun können. Ich würde jedenfalls einiges dafür verwetten, dass auch die Umsetzung des AOA in nationales Recht und hier die abermalige Fiktionsschaffung wiederum problematisch werden wird. Müller-Gatermann Herr Gosch, ich kann das nachvollziehen, was Sie sagen. Fiktionen haben ihre Probleme. Aber was hat man denn gemacht in der OECD? _____________ 4 BFH v. 20.8.2008 – I R 29/07, BFH/NV 2008, 2133. 5 BFH v. 8.9.2010 – I R 74/09, BFH/NV 2011, 138.

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Man hat versucht, zwei Lösungen zu diskutieren und die bessere Lösung herauszufinden. Ich halte diese Fiktion für die bessere Lösung, auch wenn sie nicht alles löst, weil die Alternative, dieser relevant business approach, viel mehr Fragen aufgeworfen hat. Das war jedenfalls das Ergebnis dieser Diskussion in der OECD. Prof. Dr. Gosch Nur das lässt sich immerhin noch durch Auslegung erreichen, das jetzt Entschiedene indessen nicht, das bedarf der normativen Umsetzung. Dr. Sistermann Ich möchte ganz gerne zu ein paar Punkten Stellung nehmen. Zum einen zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Müller-Gatermann. Ich würde mir eigentlich wünschen, dass es gar nicht so weit kommt und man selbst unter Zugrundelegung der Überlegungen der Zentralfunktion des Stammhauses zu dem Ergebnis kommen kann, dass die geschäftsleitende Betriebsstätte weiterhin im Inland bleibt. Da sich bei funktionaler Zuordnung die Verhältnisse nicht ändern, dient die Beteiligung doch weiterhin der Tätigkeit der Betriebsstätte und die Tätigkeit besteht nun mal in der Geschäftsleitung und der Wahrnehmung der entsprechenden Holdingaufgaben. Mit einem gewissen Wohlwollen der Finanzverwaltung und einer nicht so apodiktischen Lesart des Betriebsstättenerlasses wäre daher hier schon geholfen. Zu dem Punkt, den Sie auch angesprochen hatten: Es habe fünf Jahre lang gedauert, weil es eine komplexe Materie sei und erst mal alle Fragestellungen gesammelt werden sollten. Und wenn man alle Fragestellungen gesammelt und sich eine Meinung gebildet habe, dann würde man den Gesetzgeber fragen, ob er nachbessern wolle. Das ist natürlich problematisch. Ich höre es zwar mit Freude, wenn Herr Gosch sagt, dass doch die eine oder andere unklare Regelung durchaus mit Erfolgsaussichten zu Gericht getragen werden kann. Das hilft aber nur in den Fällen, die schiefgegangen sind. Das Problem für uns auf der Beraterseite und auf Seite des Steuerpflichtigen ist aber die mangelnde Planungssicherheit. Wenn ich als Berater eine Struktur aufsetze, dann darf ich natürlich in keiner Weise das Risiko laufen, dass ich diese bis zum Gericht tragen muss. Da ich auch nicht noch fünf Jahre warten kann, bis der Gesetzgeber sich entschlossen hat, nachzubessern, bin ich somit in der Situation, in der ich viele Umstrukturierungen nicht mehr 186

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ernsthaft verantworten kann, und das betrifft nicht nur den internationalen, sondern auch ganz stark den nationalen Kontext. Die Thematik des Teilbetriebsbegriffs, ich hatte sie ja gar nicht angesprochen, kommt auch aus dem europäischen Teilbetriebsbegriff und führt dazu, dass ich im Augenblick nicht sicher bin, ob ich überhaupt noch eine steuerneutrale Ausgliederung bzw. Abspaltung eines Teilbetriebs vornehmen und ob ich das bei der Finanzverwaltung mit einer verbindlichen Auskunft absichern kann. Es wird Jahre dauern, bis sich da ein Standard eingespielt hat und in diesen Jahren können Umstrukturierungen ggf. nur noch unter Inkaufnahme steuerlicher Risiken vorgenommen werden. Das ist m. E. nicht zu akzeptieren. Ich habe schließlich noch eine letzte Anmerkung zur Reichweite der EuGH-Entscheidung. Da würde mich auch Ihre Einschätzung nochmal interessieren. Sie haben ja nicht ganz überraschend den § 4g EStG ins Feld geführt. Am Ende des Tages wird dieser aber m. E. nicht helfen, weil es eben bei einer Sofortbesteuerung bleibt, die nur zeitlich gestreckt wird. Aber das spielt jedenfalls in den vorliegenden Umwandlungsfällen ohnehin keine Rolle, da § 4g EStG bei Umwandlungen nach dem Umwandlungssteuergesetz nicht gilt. Allerdings war der Fall, der vom EuGH entschieden wurde, der einer niederländischen Gesellschaft, die ihren Sitz nach England verlegt hat. Die Niederlande folgen der Gründungstheorie. Offengeblieben ist, ob das bei einer Sitzverlegung auch in Fällen der Sitztheorie so zu entscheiden gewesen wäre. In Deutschland haben wir mittlerweile ja faktisch die Gründungstheorie nach den Änderungen durch das MoMiG, aber offiziell haben wir die Sitztheorie noch nicht aufgegeben. Da könnte man daher vielleicht aus Sicht der Finanzverwaltung ein Argument daraus machen und sagen, dass die Entscheidung für uns nicht gilt. Aber ich denke, auch das spielt im Rahmen von Umwandlungsfällen keine Rolle. Da gibt es nämlich m. E. keinen Unterschied zwischen Gründungs- oder Sitztheorie. Ich glaube daher, die umwandlungsbedingte Entstrickung, so wie sie im Augenblick im UmwStG geregelt ist, ist zweifellos europarechtswidrig. Müller-Gatermann Ja, das ist natürlich die Frage. Wenn wir vorhin die Zentralfunktion diskutiert haben, dann ist das im Augenblick die Meinung von Bund und Ländern, wie sie ihren Niederschlag gefunden hat. Ob das nochmal hinterfragt wird, ist eine andere Frage. Was die Entscheidung des EuGH angeht, da müssen wir ganz einfach die genaue Prüfung abwarten. Ich 187

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habe den § 4g EStG vorhin nur ins Gespräch gebracht, weil mir damals von der Kommission ganz klar gesagt wurde, wenn wir da eine sofortige Besteuerung vorsehen, dann sehen die sich gezwungen, ein Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen. Das habe ich natürlich an die Politik transportiert und dann ist diese Lösung mit dem § 4g EStG – ich will sie mal als Kompromisslösung bezeichnen – rausgekommen. Ob wir jetzt aufgrund dieser Entscheidung wirklich gezwungen sind, diese Stundung weiterzutreiben, das muss man sehen. Mein erster Blick in die Entscheidung hat mir gezeigt, dass sehr vieles dafür spricht. Aber wie gesagt, es ist heute einfach zu früh, um dazu etwas Abschließendes sagen zu können. Prof. Dr. Lüdicke Es wäre schön, wenn es nach einem zweiten Blick und dann auch nach einem Blick des zuständigen Referates tatsächlich zu einer Gesetzesänderung käme, damit wir nicht weiter mit der Situation leben müssen, dass europarechtlich an sich völlig klare Dinge sich im deutschen Recht nicht widerspiegeln. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass die europarechtlich richtige Lage sich aus dem Gesetz ergeben muss und nicht aus irgendwelchen BMF-Schreiben. Als schlechtes Beispiel sei auf das BMF-Schreiben vom 28. März dieses Jahres zur Doppelansässigkeit der Organgesellschaft6 verwiesen. Das ist an sich kein besonders wichtiges Thema. Aber wir haben inzwischen mehrere Gesetze erlebt, in denen man allen möglichen Kleinkram untergebracht hat. Warum ist diese Frage nicht auch gesetzlich geregelt worden, wenn man den Europarechtsverstoß im BMF-Schreiben sowieso eingeräumt hat? Die Gesetzeslage ist, wie schon das BMF-Schreiben zeigt, eindeutig europarechtswidrig. Ich würde gern zu dem ersten Fallbeispiel von Herrn Sistermann7, das war die Herausverschmelzung, noch einen Punkt ansprechen. Der Fall ist offensichtlich so, dass die Zentralfunktion des Stammhauses8 in casu deswegen keine Rolle spielt, weil sich tatsächlich und damit auch rechtlich nichts ändert. Die Leute, die bisher die Beteiligungen, Lizenzen usw. im bisherigen Stammhaus in Deutschland verwaltet haben, bleiben einfach in Deutschland und führen ihre bisherige Tätigkeit unver_____________ 6 BMF v. 28.3.2011 – IV C 2 - S 2770/09/10001, BStBl. I 2011, 300. 7 Vgl. oben S. 162 ff. 8 Vgl. Rz. 2.4 des Betriebsstättenerlasses, BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300-111/99, BStBl. I 1999, 1076, i. V. m. Rz. 03.20 Satz 2 des Umwandlungssteuererlasses.

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ändert fort. Denkbar ist es natürlich auch, dass diese Leute nach einer derartigen Herausverschmelzung sozusagen hinterherziehen. Dann ist nicht nur die Gesellschaft als solche ins Ausland gezogen, sondern dann ist tatsächlich auch die Zentralfunktion ins Ausland verlegt. Letzteres geschieht aber naturgemäß nicht am Umwandlungsstichtag, sondern irgendwann Monate später. Die Frage, die auch Herr Sistermann angesprochen hatte, geht dahin, welche Bedeutung es in diesem Fall hat, dass es auf die tatsächlichen Verhältnisse zum Umwandlungsstichtag ankommen soll,9 Herr Müller-Gatermann. Rein tatsächlich sind die Leute zum Umwandlungsstichtag noch in Deutschland. Später mögen die Leute und die von ihnen ausgeübte Funktion im Ausland ankommen; dann und nur dann mag es zur Entstrickung kommen. Es geht also zum einen um das Ob, zum anderen um das Wann einer solchen Entstrickung; selbst das Wann ist in der Praxis nicht ganz unwichtig, wie schon der Blick auf die Mindestbesteuerung zeigt. Müller-Gatermann Ich kann hier nur mein Verständnis wiedergeben. Das mit dem Umwandlungsstichtag ist schlicht und ergreifend eine Erleichterung, weil zu diesem Stichtag Bilanzen vorliegen. Natürlich kann ich rückwirkend, wenn ich diesen Stichtag zugrunde lege, keine rein tatsächlichen Veränderungen unterstellen, die dann zwischenzeitlich möglicherweise eingetreten sind. Prof. Dr. Lüdicke Wie verhält sich dann die sog. Zentralfunktion des Stammhauses zu den maßgebenden tatsächlichen Verhältnissen? Müller-Gatermann Ja gut, wenn ich es wörtlich nehme, dann müssen wirklich die tatsächlichen Umstände von damals gelten. Dann hat sich nichts geändert. Vielleicht ist der Erlass an dieser Stelle aber nur unglücklich formuliert. Andererseits muss man berücksichtigen, dass beim AOA auf die Funktionen in der Betriebsstätte abgestellt wurde. Das spricht natürlich schon für Ihre Lesart, aber die Entscheidung der Kollegen aus Bund und Ländern lautet anders und hat auf die Rechtsform abgestellt. _____________ 9 Vgl. oben Rz. 02.15 des Umwandlungssteuererlasses.

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Prof. Dr. Gosch Der Hinweis von Herrn Lüdicke ist trotzdem nicht schlecht, wie so vieles, wie eigentlich fast alles, was er uns wissen lässt. Man muss da schon sagen, dass die tatsächlichen Verhältnisse so sind, wie sie sind. Das wird seitens der Finanzverwaltung ja sonst auch recht rigide gehandhabt. Ich denke nur an die organschaftliche finanzielle Eingliederung im umwandlungssteuerrechtlichen Rückwirkungszeitraum. Hier wie dort geht es dann allein um die konkrete Situation am Stichtag. Dr. Sistermann Das bedeutet in der Konsequenz dann, und so wird es nicht gemeint gewesen sein, aber so muss man es lesen und so wäre es richtig, dass es keine umwandlungsbedingte Entstrickung geben kann. Prof. Dr. Gosch Genau. Dr. Sistermann Es kann immer nur Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse geben und da bin ich im KStG oder im EStG. Bernhardt Darf ich vielleicht noch zu diesem Thema anmerken, dass man am Ende in weitere Ungereimtheiten aufgrund der Rechtsunsicherheit hineinkommt. Der fließende Übergang und die Frage, was in diesem Erlass jetzt abgehandelt wird, was noch nicht, bereitet mir Sorgen, weil ich am Ende eigentlich nicht mehr weiß, wo ich wirklich stehe. Deswegen wäre es eine vernünftige Lösung – in welchem Gesetz auch immer –, offensichtliche Ungereimtheiten wenigstens im Sinne eines Reparaturgesetzes kurzfristig anzupacken. Der große Wurf in einer großen Überarbeitung, ich wiederhole mich, kommt nicht, weil es bei allen Fragestellungen der Unternehmenssteuer immer gleich um die Frage geht, ob das aufkommensneutral ist oder nicht. Und das kann natürlich ganz unterschiedlich beantwortet werden und damit zu einer faktischen Bremse des Gesetzgebungsverfahrens werden.

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Podiumsdiskussion: Der neue UmwSt-Erlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug

Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Bernhardt. Jetzt haben Sie mich doch noch zu einem ceterum censeo herausgefordert, das einigen von Ihnen aus früheren Tagungen bereits bekannt sein mag. Der Umwandlungssteuererlass enthält eine ganze Reihe begünstigender Regelungen, die dem Gesetz so nicht zu entnehmen sind. Auf den ersten Blick mag das für betroffene Unternehmen erfreulich sein. Das Problem besteht allerdings darin, dass man die im Erlass enthaltene günstige Regelung bei Gericht möglicherweise nicht durchsetzen kann, weil sie dem Gesetz nicht entspricht oder sogar klar widerspricht. Solche günstigen Regelungen sind auch keinesfalls immer rechtssicher als Billigkeitsmaßnahme einforderbar. Für die Unternehmen besteht daher die Gefahr, im Streitfall die vom Umwandlungssteuererlass vorgesehenen Vorteile zu verlieren. Die Gefahr besteht zum einen in dem verwaltungsseitig naturgemäß nicht vorgesehenen Fall, dass ein Steuerbescheid in Abweichung vom Umwandlungssteuererlass ergeht. Die Gefahr besteht aber auch – und dies ist wohl gravierender –, wenn ein Unternehmen wegen eines völlig anderen Streitpunkts vor Gericht ziehen muss und dort in diesem anderen Streitpunkt an sich auch Recht bekommt, das Gericht jedoch den im Umwandlungssteuererlass – gesetzeswidrig – vorgesehenen Vorteil aberkennt und im Ergebnis zulasten des Steuerpflichtigen saldiert. Deswegen erneuere ich meinen Appell: Die im Umwandlungssteuererlass von der Finanzverwaltung eingeräumten Rechtswohltaten sollten bei nächster Gelegenheit gesetzlich fundiert werden. Prof. Dr. Gosch Sie haben völlig Recht. Andernfalls ist sicher immer zu gewärtigen, dass eine verwaltungsseitige Regelungsauslegung auch dann nicht bestätigt wird, wenn sie sich eigentlich für den Steuerpflichtigen als günstig herausstellt. Gerichte sind von Amts wegen gehalten, die Norm auszulegen, zugunsten wie zuungunsten, Verwaltungserlasse binden hierbei nicht. Müller-Gatermann Nur ganz kurz dazu: Es wäre natürlich möglich, dass man solche günstigen Verwaltungsentscheidungen, wenn die Rechtsprechung zu einer strengeren Auslegung neigt, als Billigkeitsentscheidung der Verwaltung wertet. Das ist eine Möglichkeit. Auf der anderen Seite, so wünschenswert das ist, dass die Gesetze in möglichst wirklich reiner Form abgefasst werden, möchte ich zwei Dinge sagen: 191

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Erstens ist das Zusammenspiel zwischen den Fachleuten und der Politik natürlich nicht immer so einfach, dass die Vorschläge 1:1 in die Politik und in die Gesetzgebung umgesetzt werden. Daraus ergeben sich häufig Schwierigkeiten. Das ist das eine. Die andere Feststellung geht den zeitlichen Faktor an. Man darf nicht unterstellen, dass fachlich für notwendig erachtete Änderungen per Knopfdruck von der Politik übernommen und per Gesetz verabschiedet werden. Die Politik hat dabei durchaus ihre eigenen Vorstellungen. Wenn dadurch Rechtsunsicherheiten bleiben, muss das hingenommen werden. Wenn der Erlass schließlich nicht alle Fragen klärt – die Verwaltung möchte keinen Kommentar schreiben –, dann müssen ggf. Einzelfragen im Wege des Auskunftsersuchens geklärt werden. Ich habe mir noch etwas notiert, um das nicht ganz untergehen zu lassen. Herr Sistermann hatte in dem einen Fall des anteiligen Ausschlusses des deutschen Besteuerungsrechts die Problematik angesprochen, wonach – anders als beim Übernahmeergebnis – möglicherweise eine quotale Zuordnung der fiktiven Ausschüttungen angenommen wird. Ich habe mit einem Herrn, der am Erlass beteiligt war, gesprochen, das ist wohl dessen Verständnis dabei. Aber es steht ausdrücklich nichts im Erlass. Das andere betraf den Zuschlag für neutrales Auslandsvermögen bzw. die Verstrickung. Da hat Herr Sistermann eine teleologische Reduktion bei § 4 UmwStG zur Erreichung eines vernünftigen Ergebnisses angeboten oder die Verstrickung des neutralen Vermögens mit dem gemeinen Wert. Mir schien das vertretbar. Aber im Unterschied dazu kommt in dem letzten Fall zwar eine Doppelbesteuerung zum Tragen, nur hätte ich da Zweifel, ob die Finanzverwaltung den Vorschlag von Herrn Sistermann mitmacht, weil Deutschland dann praktisch einseitig auf seine Besteuerung verzichtet. Da es wohl um ein Nicht-DBA-Land ging, kann man nur dieses Land ermutigen, doch ein DBA abzuschließen. Prof. Dr. Lüdicke Meine Damen und Herren, wir kommen zum Ende einer interessanten Tagung. Ich danke den Referenten für ihre Gedankenanstöße und dem Podium für die interessanten Diskussionen. Die nächstjährige Tagung findet wieder am ersten Freitag im Dezember, am 7. Dezember 2012 statt.

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Vorwort Fragen des internationalen Steuerrechts fordern die Steuerpolitik ebenso wie den Rechtsanwender. Hergebrachte Grundsätze der international relevanten Ausgestaltung von Steuersystemen sind zunehmend Gegenstand weltweiten Disputs, die europäischen Entwicklungen beeinflussen unser Steuerrecht nach wie vor, für Fragen der Besteuerungspraxis werden handhabbare Lösungen gesucht. Der vorliegende Tagungsband dokumentiert die Referate und Diskussionen der unter dem Generalthema „Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts“ stehenden 28. Hamburger Tagung zur internationalen Besteuerung am 2. Dezember 2011 des Interdisziplinären Zentrums für Internationales Finanz- und Steuerwesen (IIFS) der Universität Hamburg. Jens Peter Breitengroß, Vizepräses der Handelskammer Hamburg, betont in seinem Grußwort die Bedeutung angemessener steuerlicher Regelungen und insbesondere der Freistellungsmethode für die international ausgerichtete deutsche Wirtschaft. Jens Lattmann, Staatsrat der Finanzbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, verweist in seinem Grußwort auf die Bedeutung von Doppelbesteuerungsabkommen. Wolfgang Schön beleuchtet in seinem Grundsatzreferat Fragen der künftigen Entwicklung des internationalen Steuerrechts und namentlich der Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Staaten. Rudolf Mellinghoff behandelt die Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes durch die nationale Finanzgerichtsbarkeit im Zusammenwirken mit den europäischen Gerichten. Michael Lang geht den gelösten und ungelösten Fragen der Anwendung des europäischen Beihilferechts im Bereich der Besteuerung unter besonderer Berücksichtigung der Sanierungsklausel in § 8c KStG nach. Ulrike Wolff und Axel Eigelshoven berichten aus Verwaltungs- und Beratersicht über die Praxis internationaler Verständigungsverfahren in Steuersachen.

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Vorwort Prof. Dr. Jürgen Lüdicke

Christian Sistermann erläutert kritisch ausgewählte Problemfelder des Umwandlungssteuererlasses mit internationalem Bezug. Der vorliegende Tagungsband enthält die Referate sowie die daran anschließenden Podiumsdiskussionen zwischen Hans-Henning Bernhardt, Dietmar Gosch, Moris Lehner, Friedrich Loschelder, Gert MüllerGatermann und den Referenten. Hamburg, im Mai 2012 Prof. Dr. Jürgen Lüdicke

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Grußwort Sehr geehrter Herr Professor Lüdicke, sehr geehrter Herr Senator, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Namen der Handelskammer Hamburg begrüße ich Sie alle sehr herzlich zur 28. Hamburger Tagung zur internationalen Besteuerung. Es ist gut gelebte Tradition, dass diese hochrangige steuerliche Tagung in unserem Hause stattfindet. Da die Tagung jeweils am ersten Freitag im Dezember ausgerichtet wird, der immer auch wieder einmal auf den Nikolaustag trifft, ist die sogenannte Hamburger Nikolaustagung in der Börse seit nunmehr 28 Jahren ein in der Steuerwelt fest im Kalender vorgemerkter Termin. Meine Damen und Herren, ein kluger Mann hat einmal gesagt: „Wo Handel ist, dahin hat der Hamburger Kaufmann schon einmal seinen Fuß gesetzt.“ Das ist nicht übertrieben, sondern entspricht den Tatsachen! Die Hamburger Außenhändler kennen sich in der Welt aus und knüpfen gerade auch in schwierigen Ländern Verbindungen für die deutsche und europäische Industrie. Sie sind Pioniere, die in vielen Ländern als Erste vor Ort waren und seither die Verbindungen nicht haben abbrechen lassen. Letzteres setzt, wie wir wissen, gute Rahmenbedingungen für private Unternehmen im Investitionsland voraus. Außenhandel und Hafen sind das Rückgrat der Hamburger Wirtschaft. Unsere Stadt, deren Außenhandel – alles in allem – so groß ist wie der Außenhandel von Österreich, braucht den freien Welthandel wie der Fisch das Wasser. Lassen Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten, den Welthandel weiter zu intensivieren und Handelsschranken abzubauen. Das gilt auch für das Steuerrecht! Denn deutsche Unternehmen sind auf eine Präsenz an Standorten in aller Welt angewiesen. Die Kompliziertheit des Steuerrechts und die damit verbundene überbordende Bürokratie machen es aber gerade mittelständischen Unternehmen schwer, mit dem Steuerdickicht zurechtzukommen. Aber die Probleme werden noch größer, wenn Regeln über Grenzen hinweg beachtet werden müssen. Ihr heutiges Programm zeugt davon. VII

Grußwort Dr. Peter Jens Breitengroß

Sehr geehrter Herr Senator, das deutsche Steuerrecht darf die hiesigen Unternehmen nicht aus dem Markt katapultieren. Erlauben Sie mir, beispielhaft das Thema „Doppelbesteuerungsabkommen“ anzusprechen, bei dem dieser Grundsatz in letzter Zeit nicht immer beachtet wurde. Im Gegenteil, hier zeigt sich, wie es nicht sein darf. Dafür seien als aktuelle Beispiele das revidierte Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und die diesbezüglichen laufenden Gespräche mit Singapur genannt. Werden deutsche Unternehmen über eine Betriebsstätte im Ausland tätig, so unterliegen sie mit den dort erzielten Gewinnen der jeweils nationalen Besteuerung. Diese fällt jedoch im internationalen Vergleich bei den von mir herangezogenen Beispielen moderat aus. Der deutsche Fiskus greift auf diese Gewinne nicht zu, wenn diese im Rahmen der Freistellungsmethode von der deutschen Besteuerung ausgenommen und nur für die Berechnung des Steuersatzes bei der Einkommensteuer wirksam sind. Wir sprechen hier vom sogenannten Progressionsvorbehalt. Bei einem Übergang zur Anrechnungsmethode würde der deutsche Fiskus die im Ausland erzielten Gewinne voll der deutschen Besteuerung mit Einkommensteuer beziehungsweise Körperschaftsteuer sowie Gewerbesteuer unterwerfen – und allenfalls die vor Ort gezahlten, moderaten Steuern auf die deutsche Steuerzahllast anrechnen. Hierdurch wird die Steuerbelastung auf das deutsche Steuerniveau „heraufgeschleust“. Durch den Übergang zur Anrechnungsmethode und die Heraufschleusung des Steuerniveaus wären jedoch unsere Unternehmen nicht mehr gegenüber lokalen Unternehmen oder Unternehmen aus Staaten mit Freistellungsmethode wettbewerbsfähig. Denn diese profitieren weiterhin von den dort herrschenden günstigen steuerlichen Rahmenbedingungen. Wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit müssten deutsche Unternehmen den Standort im Ausland aufgeben – was nachhaltige Auswirkungen auch auf andere „emerging markets“ in der jeweiligen Region hätte. Es entsteht geradezu ein Domino-Effekt. Erste Erfahrungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit denen am 1. Juli 2010 die Anrechnungsmethode vereinbart wurde, zeigen deutVIII

Grußwort Dr. Peter Jens Breitengroß

lich die Folgen dieser Waffenungleichheit: Deutsche Unternehmen – gerade im Anlagenbau – sind gegenüber internationalen Konkurrenten nicht mehr wettbewerbsfähig. Sie verlieren Aufträge. Das wirkt sich zulasten des gesamten Wirtschaftsstandorts Deutschland aus. Ich kann Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Lüdicke, sowie Ihren Mitstreitern im International Tax Institute der Universität Hamburg nur dazu gratulieren, dass Sie für die heutige Veranstaltung einen interessanten Themenfächer ausbreiten. Sie haben hierzu wirklich renommierte Referenten und Diskussionspartner gewinnen können. Es bleibt mir noch, Ihnen, meine Damen und Herren, einen informativen Tag zu wünschen. Ich möchte Sie ausdrücklich ermuntern, die Gelegenheit zu nutzen, mit den Experten über die vielfältigen Aspekte internationaler Unternehmensbesteuerung zu diskutieren! Ich wünsche Ihnen aufschlussreiche Informationen und wertvolle Erkenntnisse, aber auch gute Begegnungen und Gespräche am Rande des Fachprogramms. Dr. Peter Jens Breitengroß Vizepräses der Handelskammer Hamburg

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Grußwort Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lüdicke, meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen des Senats darf ich Sie in Hamburg willkommen heißen. Und für die auswärtigen Gäste darf ich hinzufügen, willkommen in der schönsten Stadt Deutschlands! Besteuerung ist ein sehr wichtiges Thema, das im Spannungsfeld zwischen zwei Polen steht: Für die breite Bevölkerung hat dieses Thema eine negative Bedeutung, da ihr von ihrem Geld ein Teil zur Finanzierung der Allgemeinheit weggenommen wird. Auf der anderen Seite bilden Steuern die existenzielle Grundlage für den Bund, aber auch die Länder und Kommunen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Im letzten Jahr machten die Steuereinnahmen rund 80 Prozent der Einnahmen Hamburgs aus. Das zeigt, wie wichtig diese Einnahmequelle für die Stadt Hamburg ist. Zwar sind die Einnahmeseiten nur eine Seite des Haushalts und für dessen Konsolidierung, die zwingend erforderlich ist, sind beide Seiten des Haushalts zu betrachten. Dabei ist es unabwendbar, in erster Linie auf der Ausgabenseite zu prüfen, welche Aufgaben entfallen oder kostengünstiger erledigt werden können. Daneben muss der Blick aber auch auf die Einnahmeseite gelegt werden. Eine stabile Einnahmebasis ist unverzichtbar. Besonders für eine langfristige, solide Haushaltsplanung ist es erforderlich, dass die Steuereinnahmen konsequent und dauerhaft erhoben werden. Zwar legen wir mit unserem Finanzkonzept klar den Fokus auf die Ausgabenseite. Doch zur Erreichung unseres finanzpolitischen Ziels – eines ausgeglichenen Haushalts im Jahr 2020 – benötigen wir auch die Einnahmen. Nun gibt es im Bereich der Erhebung von Steuern viele Schwierigkeiten. Gerade im Bereich der internationalen Besteuerung, die Thema dieser Tagung ist, begegnet die Arbeit der Steuerverwaltung häufig besonderen Herausforderungen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, kurz einige Aspekte der Doppelbesteuerung anzutippen, die für die Steuerverwaltung von Bedeutung sind: XI

Grußwort Jens Lattmann

Im Rahmen der Globalisierung nehmen grenzüberschreitende Sachverhalte stetig zu. Die daraus resultierenden Einkünfte werden grundsätzlich nach dem Recht der beteiligten Staaten in beiden Staaten besteuert. Damit Unternehmen sowie natürliche Personen ihre Einkünfte nicht in beiden beteiligten Staaten im vollen Umfang besteuern müssen und eine sonst entstehende Doppelbesteuerung vermieden wird, ist Deutschland bemüht, dies durch nationale Vorschriften sowie über bi- bzw. multilaterale Verträge auszuschließen. Mit dem Abschluss entsprechender Abkommen (sog. DBA) wird grundsätzlich bereits die Entstehung der Doppelbesteuerung vermieden. Einseitige nationale Regelungen beseitigen eine bereits existierende Doppelbesteuerung. Deutschland hatte Anfang 2007 mit 104 Staaten DBA auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen und auf dem Gebiet der Erbschaft- und Schenkungsteuern abgeschlossen. Bis Anfang 2011 sind elf DBA hinzugekommen. In 2011 wurden mit weiteren Ländern Verhandlungen über den Abschluss oder die Veränderung von DBA auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen geführt. Um die einzelnen Mitgliedstaaten bei der Abfassung ihrer DBA zu unterstützen, wurde von der OECD ein Musterabkommen erarbeitet. Deutschland ist bestrebt, bei Verhandlungen über den Abschluss oder die Veränderung von Doppelbesteuerungsabkommen diese dem OECDStandard anzupassen. Dem OECD-Standard entsprechend beinhalten die neueren DBA i. d. R. eine sogenannte große Auskunftsklausel, nach der die beteiligten Vertragsstaaten für die Besteuerung bedeutende Informationen austauschen können (z. B. durch Auskunftsersuchen). Ältere Doppelbesteuerungsabkommen enthalten häufig nur die Möglichkeit, Informationen, die für die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens nötig sind, auszutauschen. Im Rahmen von Revisionsverhandlungen wird i. d. R. ein umfassender Informationsaustausch vereinbart. Unabhängig vom Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens trifft Deutschland zurzeit mit Staaten, die eine im Vergleich zu Deutschland günstige Besteuerung haben, zahlreiche Abkommen, in denen zur Vermeidung einer doppelten Nichtbesteuerung eine große Auskunftsklausel vereinbart wird. Nach den Doppelbesteuerungsabkommen sowie nach der EU-Schiedskonvention besteht die Möglichkeit, bei einer Doppelbesteuerung ein XII

Grußwort Jens Lattmann

Verständigungs- bzw. Schiedsverfahren zu beantragen. Die Anzahl der Anträge auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens ist in Hamburg erheblich angestiegen. Verständigungsverfahren werden häufig aufgrund einer Verrechnungspreiskorrektur im Rahmen einer Betriebsprüfung beantragt und i. d. R. auch eingeleitet. Sie sind ein wirksames Instrument zur Beseitigung von Doppelbesteuerung multinational tätiger Konzerne. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen: Das Thema der internationalen Besteuerung ist ein sehr komplexes. Es ist im Interesse der nationalen wie lokalen Steuerverwaltungen, Verfahren zu entwickeln, die es für beide Seiten, die Steuerverwaltungen auf der einen Seite und die Steuerpflichtigen auf der anderen Seite, einfacher macht, die Steuern ordnungsgemäß abzuführen und die Steuerprüfung vorzunehmen. Ihre Tagung leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Ich wünsche Ihnen interessante Vorträge und einen schönen Aufenthalt in Hamburg. Vielen Dank! Jens Lattmann Staatsrat der Finanzbehörde Hamburg

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Inhaltsverzeichnis* Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grußworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön, München Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Juristische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . C. Ökonomische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht – Kapitalimport, Kapitalexport und Kapitalinhaberschaft . . . . . D. Der Steuerwettbewerb als neues Paradigma internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Völkerrechtliche und europarechtliche Rahmenbedingungen . . F. Grenzen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . . . . . G. Der Kontinuitätsgrundsatz als Leitlinie internationaler Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Einzelfragen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . . I. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, Dr. Harald Schießl Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Zusammenarbeit von Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof und Finanzgerichte) und dem Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Europäisches Steuer-Richterrecht und seine Umsetzung . . . . . . D. Finanzgerichtsbarkeit zwischen unionsrechtlichem Anwendungsvorrang und nationaler Gesetzesbindung . . . . . . . .

45 46

47 53 56

_____________ * Ausführliche Inhaltsübersichten jeweils zu Beginn der Beiträge.

XV

Inhaltsverzeichnis

E. Neue Entwicklungen beim Steuerrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . F. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 69

Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Michael Lang, Wien Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. B. C. D.

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Der unionsrechtliche Begriff der Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidung der Kommission zu § 8c KStG . . . . . . . . . . . . Die Diskussion um das maßgebende „Referenzsystem“ . . . . . . Die Selektivitätsprüfung als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Würdigung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Axel Eigelshoven, Düsseldorf / Ulrike Wolff, Bonn Verständigungsverfahren – Praktische Erfahrungen und ungelöste Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. B. C. D.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrensrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materiellrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Verständigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion XVI

Inhaltsverzeichnis

Dr. Christian Sistermann, München Der neue Umwandlungssteuererlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Entstrickung bei Herausverschmelzung einer inländischen Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Downstream-Merger mit ausländischen Anteilseignern . . . . . . D. Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte bei Umwandlung von Kapitalgesellschaft in Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . E. Steuerliche Behandlung von neutralem Auslandsvermögen bei Umwandlung von Kapital- in Personengesellschaft . . . . . . . F. Verstrickung bei Hereinverschmelzung einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Der neue Umwandlungssteuererlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Podiumsdiskussion Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München*

Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 B. Juristische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . 4 I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip . 4 II. Das globale Äquivalenzprinzip . 5 C. Ökonomische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht – Kapitalimport, Kapitalexport und Kapitalinhaberschaft . . . . . . . . . . . . 7 D. Der Steuerwettbewerb als neues Paradigma internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 E. Völkerrechtliche und europarechtliche Rahmenbedingungen . . 10 F. Grenzen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . 11 I. Multilaterale oder bilaterale Koordination . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Keine Koordinierung der nationalen Steuerrechte . . . . . . 13

III. Die Bedeutung der Mehrwertsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 G. Der Kontinuitätsgrundsatz als Leitlinie internationaler Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 H. Einzelfragen internationaler Steuerkoordinierung . . . . . . . . . . . I. Die Besteuerung grenzüberschreitender Lieferungen und Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die doppelte Bedeutung des Betriebsstättenbegriffs . . . . . . . III. Gleichbehandlung von Betriebsstätte und Tochtergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schachtelbeteiligungen und Portfolio-Besitz . . . . . . . . . . . . . V. Fremdkapital und Eigenkapital VI. Lizenzeinnahmen . . . . . . . . . . . VII. Besteuerung multinationaler Unternehmensgruppen . . . . . . .

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I. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

A. Einführung Das Regelwerk der internationalen Zuordnung von Steuerquellen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und in den Arbeiten des Völkerbundes, der OECD und der Vereinten Nationen seinen Nie_____________ * Vortrag auf der 28. Hamburger Tagung zur Internationalen Besteuerung am 2.12.2011; der Beitrag fasst Überlegungen zusammen, die der Verfasser in seiner Abhandlung „International Tax Coordination for a Second-Best World“ präsentiert hat (siehe 1 World Tax Journal (2009), 67; 2 World Tax Journal (2010), 65 und 227).

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derschlag gefunden hat, ist neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Herausforderungen speisen sich aus drei verschiedenen Quellen: – An erster Stelle steht der dauerhafte Disput zwischen klassischen Industriestaaten und Entwicklungs- oder Schwellenländern um die Besteuerungsrechte im grenzüberschreitenden Leistungsaustausch. Beispiele für diesen Disput bilden die Einforderung von Quellensteuern für Lizenz- oder Zinszahlungen sowie die Erweiterung des Betriebsstättenbegriffs in Richtung auf eine allgemeine Besteuerung von Serviceleistungen. Dabei erleben wir nicht nur ein zunehmendes Selbstbewusstsein der Schwellenländer – insbesondere der BRICStaaten – in internationalen Steuerdisputen, sondern zum Teil schon eine Umkehrung der Verhältnisse. Eine große Volkswirtschaft wie China tritt zunehmend nicht als Importeur, sondern als Exporteur von Kapital in Erscheinung. – An zweiter Stelle steht die zunehmende Bedeutung des Steuerwettbewerbs für die internationale Steueraufteilung.1 Das „alte Bild“ der internationalen Zuordnung von Besteuerungsrechten legte die Annahme zugrunde, dass jeder der an einem grenzüberschreitenden Wirtschaftsvorgang beteiligten Staaten seinen Anteil am „Kuchen“ vergrößern und damit auch sein Steueraufkommen erhöhen will.2 In Zeiten des internationalen Steuerwettbewerbs ist dies keine Selbstverständlichkeit mehr: Viele Staaten sind durchaus bereit, die Steuerlast auf inländische Investitionen ausländischer Unternehmen zu verringern, um dadurch die Attraktivität des Investments zu erhöhen. Höhere Steuern erhofft man sich dann von einer Steigerung der inländischen Beschäftigung und des inländischen Konsums – mithin von der Lohnsteuer und von der Umsatzsteuer, die aus diesen Investitionen resultieren. Beispiele für diese Wirkungen des internationalen Steuerwettbewerbs sind der weitgehende Wegfall von Quellensteuern auf abfließende Zinsen aus den Industriestaaten sowie die generelle Senkung der Unternehmenssteuern. Einen wich_____________ 1 Endres/Stellbrink, Wo steht Deutschland im internationalen Steuerwettbewerb?, StuW 2012, 96. 2 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt (Hrsg.), The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 55 (104): ”Whatever the theoretical justification for source-country taxation of business profits, in my opinion source countries will tax any business profits of non residents that they can tax effectively unless there is some good reason not to do so. The critical issue, therefore, is the practical enforcement of source-country taxation, not the theoretical justification for such tax.“

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tigen Extremfall des Steuerwettbewerbs bilden dabei die Steueroasen (tax havens), welche die Grenze zum „unfairen“ Steuerwettbewerb bereits berühren oder überschreiten.3 – An dritter Stelle steht die zunehmende Schwierigkeit, den Gewinn multinationaler Unternehmen nach objektiven Maßstäben auf die beteiligten Staaten aufzuteilen.4 Bei integrierten Wertschöpfungsketten steht das von der OECD seit Jahrzehnten praktizierte und ausgefeilte System des Fremdvergleichs von Verrechnungspreisen breitflächig unter Beschuss, namentlich im Bereich der Nutzung von Immaterialgütern und von konzerninternen Finanzierungen. Fragen der personellen Zuordnung und Bewertung von intangibles sind ebenso im Streit wie die privatautonome Verteilung von Risiken zwischen Konzerngesellschaften (etwa im Bereich von Kommissionärsstrukturen oder bei der Auftragsfertigung) oder die Aufteilung von Finanzgeschäften bei Kreditinstituten. Schließlich werden Funktionsverlagerungen unter die besondere Aufsicht der Steuerbehörden gestellt. Daher sehen viele Sachkenner zumindest für den Bereich der Europäischen Union in einer einheitlichen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage mit formelhafter Aufteilung der Besteuerungsbasis ein zukunftsorientiertes Konzept5. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, die internationale Aufteilung von Steuergütern auf eine neue – verlässliche – Grundlage zu stellen. Dabei spielt in einem ersten Schritt eine Rolle, ob und in welchem Umfang objektive rechtliche oder ökonomische Prinzipien dabei helfen können, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Dies gilt auch für die Rahmenbedingungen des Völker- und Europarechts. Dabei müssen auch die praktischen Grenzen internationaler Steuerkoordinierung gesehen werden. Soweit ein Spielraum für die Staaten verbleibt, wird man überlegen müssen, wie eine internationale Steuerpolitik mit einer gleichheitskonformen und missbrauchsresistenten Strategie aussehen kann. _____________ 3 Zur politischen Ökonomie von Steuerkoordination vs. Steuerwettbewerb zuletzt Griffith/Hines/Sorensen, International Capital Taxation, in The Institute for Fiscal Studies (Hrsg.), Dimensions of Tax Design (2010) 914 (933 ff.). 4 Vann, Taxing International Business Income: Hard-Boiled Wonderland and the End of the World, 2 World Tax Journal (2010) 291; Avi-Yonah, Between Formulary Apportionment and the OECD Guidelines: A Proposal for Reconciliation, 2 World Tax Journal (2010) 3. 5 Zum Diskussionsstand: Oestreicher/Spengel/Koch, How to Reform Taxation of Corporate Groups in Europe, 3 World Tax Journal (2011) 5.

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B. Juristische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip Als Leitstern für die Zuordnung von Steuergütern mag vielen in erster Linie das Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit in den Blick kommen. Dieses Prinzip hat sich nicht nur in Deutschland seit Jahrzehnten als Leitlinie etabliert, es findet auch in vielen anderen Staaten (namentlich des romanischen Rechtskreises)6 Anwendung und hat zum Teil sogar explizit Aufnahme in die Verfassung der jeweiligen Staaten gefunden7. Kann es vielleicht sogar bei der Aufteilung der internationalen Steuerbasis eine Rolle übernehmen? Schaut man näher hin, so ist die Leistungsfähigkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips im Internationalen Steuerrecht begrenzt. Versteht man das Leistungsfähigkeitsprinzip dahin, dass nur reales und kein fiktives Einkommen besteuert werden soll8 und dass bei der Bemessung des Einkommens auf der Ausgabenseite das objektive Nettoprinzip Beachtung finden muss9, so lassen sich immerhin begrenzte Folgerungen ziehen: „Vagabundierende Betriebsausgaben“ müssen vermieden werden, d. h., der Einmalabzug aller Kosten aus grenzüberschreitender Geschäftstätigkeit in einer der beteiligten Jurisdiktionen muss gesichert werden10. Gleiches gilt für den Abzug von Verlusten: Es muss vermieden werden, dass die Summe der steuerpflichtigen Einkünfte in den beteiligten Staaten den Gesamtbetrag des steuerbaren Einkommens einer Person übersteigt.11 Diese Maßnahmen sollen sichern, dass der aufteilbare „Kuchen“ nicht beliebig vergrößert werden kann. Sie helfen jedoch nicht, wenn es darum geht, diesen „Kuchen“ auf die beteiligten Länder zu verteilen. Zwar lässt sich sagen, dass die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit im Grundsatz auf das Gesamteinkommen einer Person angelegt ist und daher die Besteuerung im Wohnsitzstaat nach dem Welteinkommen _____________ 6 Musgrave, The Theory of Public Finance, (1959) 90 ff.; rechtsvergleichend zur Bedeutung der „Leistungsfähigkeit“ für das Steuerrecht: Lang/Englisch, A European Legal Tax Order Based on Ability to Pay, in Amatucci, International Tax Law, (2006) 251 (253 f.). 7 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung² (2003), Band 2, 488 f. 8 Vogel in Wendt, FS Friauf, 825 ff. 9 Zur Bedeutung für die Besteuerung von Unternehmen siehe etwa Hennrichs in Tipke/Seer/Hey/Englisch, FS Lang, 237 ff. 10 Schön, FR 2001, 381 ff. 11 Schaumburg, Internationales Steuerrecht³, Rz. 5.69 ff.

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mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip korrespondiert.12 Doch ist damit die Existenz von zusätzlichen Besteuerungsrechten des Quellenstaates nicht ausgeschlossen und die Konkurrenz zwischen Quellenstaat und Ansässigkeitsstaat nicht aufgehoben.

II. Das globale Äquivalenzprinzip Gerade für die Abgrenzung von Steuerhoheiten scheint auf den ersten Blick das Äquivalenzprinzip eine Rolle zu spielen, welches die Rechtfertigung des Steuerzugriffs auf den Genuss öffentlicher Güter durch den Steuerpflichtigen zurückführt13. Insbesondere für Investitionen im Ausland lässt sich die These vertreten, dass die beschränkte Steuerpflicht im Quellenstaat wesentlich durch den Äquivalenzgedanken gerechtfertigt werden kann. Dabei muss – wie in der Nachfolge von Klaus _____________ 12 Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper 3056, (1989) 22; Fleming/Peroni/ Shay, Fairness in International Taxation: The Ability-to-Pay Case for Taxing Worldwide Income, 5 Florida Tax Review, (2001) 299 (301 f.); Fleming/Peroni/ Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association, (2008) 35 (59 f.); Graetz/O’Hear, The ‚Original Intent‘ of U.S. International Taxation, 46 Duke Law Journal (1997) 1021 (1034); Auerbach/Devereux/Simpson, Taxing Corporate Income, in The Institute for Fiscal Studies (Ed.), Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 837 (881); Green, The Future of SourceBased Taxation of the Income of Multinational Enterprises, 79 Cornell Law Review (1993) 18 (29 f., 70 f.); McLure, Source-Based Taxation and Alternatives to the Concept of the Permanent Establishment, in Canadian Tax Foundation, World Tax Conference 2000, 6:1 (6:3); kritisch dazu Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part I, Intertax 1988, 216 (217 f.); Vogel, Über Besteuerungsrechte und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht in Kirchhof/Offerhaus/Schöberle, FS Klein, 1994, 361 ff. 13 Musgrave, The Theory of Public Finance (1959) 61 ff.; Schindel/Atchabahian, Source and Residence: New Configuration and Principles: General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 90a (2005) 21 (33); McLure, Source-Based Taxation and Alternatives to the Concept of the Permanent Establishment, in Canadian Tax Foundation (Hrsg.), World Tax Conference 2000, 6:1 (6:3 f.); Brown, An Equity-Based, Multilateral Approach for Sourcing Income among Nations, 11 Florida Tax Review (2011) 565; Shay/Fleming/Peroni, ‚What’s Source Got to DoWith It?‘: Source Rules and U.S. International Taxation, 56 Tax Law Review (2002) 81 (90 f.); Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part III, Intertax 1988, 393 (394 f.); Vogel, Which Method should the European Community Adopt for the Avoidance of Double Taxation?, 56 Bulletin for International Fiscal Documentation (2002, 4 (8).

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Vogel namentlich Moris Lehner und Christian Waldhoff betonen14 – von einer individuellen Äquivalenz i. S. von Leistung und Gegenleistung abstrahiert und die Gesamtäquivalenz des Steueraufkommens und der Gesamtheit öffentlicher Güter gesehen werden. Während dem Ausgangspunkt dieser These – Steuern sind der Preis öffentlicher Güter – im Grundsatz zugestimmt werden kann, so muss doch auch festgehalten werden, dass sie nicht konkretisiert werden kann, um einen einzelnen Steuerzugriff dem Grunde und der Höhe nach zu legitimieren. Die Schwierigkeiten sind vielfältiger Natur, wie sich am Beispiel der Erhebung von Körperschaftsteuer auf inländische Gewinne ausländischer Unternehmen belegen lässt. Ob und in welchem Umfang diese Körperschaftsteuer als „Gegenleistung“ für öffentliche Güter gelten kann, hängt zunächst vom jeweiligen Steuermix eines Staates, etwa dem Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern, ab. Es müsste auch geprüft werden, ob und in welchem Umfang diese Steuern nicht nur für öffentliche Leistungen, sondern auch für Zwecke der Umverteilung eingesetzt werden.15 Schaut man näher hin, wird man schließlich zwischen der Höhe des erzielten Einkommens und der jeweiligen Nutzung öffentlicher Güter keine strenge Relation entdecken können.16 Im Gegenteil: Ob eine Investition erfolgreich ist oder nicht, hängt im Grundsatz nicht von den öffentlichen Leistungen ab, sondern von der Verwirklichung von wirtschaftlichen Chancen und Risiken. Öffentliche Güter werden demgegenüber auch und gerade in Verlustsituationen in Anspruch genommen. Daher würde eine am Äquivalenzprinzip orientierte Besteuerung nicht am real erzielten Einkommen, sondern allenfalls an der Höhe der Investitionen oder deren fiktivem Durchschnittsertrag ansetzen müssen.17 Zu guter Letzt _____________ 14 Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 1 EStG Rz. A 169. 15 Kaplow, The Theory of Taxation and Public Economics, (2008) 179 f., 403 f. 16 Arnold/Sasseville/Zolt, Introduction: Perspectives on the Taxation of Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties, (2003) 1 (4); Fleming/Peroni/Shay, Fairness in International Taxation: The Ability-to-Pay Case for Taxing Worldwide Income, 5 Florida Tax Review, (2001) 299 (333 f.); Green, The Future of Source-Based Taxation of the Income of Multinational Enterprises, 79 Cornell Law Review, (1993) 18 (29 f.); Musgrave, Interjurisdictional Equity in Company Taxation: Principles and Applications to the European Union, in Cnossen, Taxing Capital Income in the European Union, (2002) 46 (52). 17 Shay/Fleming/Peroni, ‚What’s Source Got to Do With It?‘: Source Rules and U.S. International Taxation, 56 Tax Law Review, (2002) 81 (99 f.).

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aber erscheint es auch ganz unmöglich, die Aufteilung von Einkünften aus grenzüberschreitenden Aktivitäten zwischen den beteiligten Staaten im Verhältnis der jeweils von diesen Staaten gewährten öffentlichen Güter vornehmen zu können. Das Äquivalenzprinzip rechtfertigt den Steuerzugriff dem Grunde nach, aber es bietet keine näheren Konturen.

C. Ökonomische Prinzipien im Internationalen Steuerrecht – Kapitalimport, Kapitalexport und Kapitalinhaberschaft Vor diesem Hintergrund ist man versucht, in diejenigen Kategorien auszuweichen, mit denen die ökonomische Betrachtung internationale Steuersysteme bewertet. Ausgangspunkt ist hier die Forderung nach der Neutralität der steuerlichen Rahmenbedingungen für die ökonomische Entscheidung über eine Investition18. Vor diesem Hintergrund hat sich namentlich in der US-amerikanischen Wissenschaft vor Jahrzehnten die Forderung nach „Kapitalexportneutralität“19 durchgesetzt, die eine gleiche steuerliche Belastung von Inlands- und Auslandsinvestitionen aus der Sicht des Ansässigkeitsstaates in den Mittelpunkt rückt. Es ist bekannt, dass diese Forderung nach Kapitalexportneutralität im Grundsatz durch die Besteuerung des Welteinkommens nach dem Wohnsitzprinzip gewahrt wird. Dies schiebt die Residualbesteuerung in Richtung Ansässigkeit. Andererseits kann Kapitalexportneutralität auch dann gewahrt werden, wenn im Investitionsstaat eine Quellenbesteuerung durchgeführt wird (für Betriebsstätten oder Tochtergesellschaften, für Zinsen oder Lizenzgebühren) und diese Quellensteuer im Wohnsitzstaat angerechnet wird.20 Die Aufteilung des Steuergutes zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat wird von der Forderung nach Kapitalexportneutralität nicht berührt. Lediglich dann, wenn die Quellen-

_____________ 18 Musgrave, United States Taxation of Foreign Income, Issues and Arguments (1969) 97 (108 f.). 19 Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper 3056 (1989) 22. 20 Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (45 f.); Graetz, The David R. Tillinghast Lecture: Taxing International Income: Inadequate Principles, Outdated Concepts and Unsatisfactory Policies, 54 Tax Law Review (2001) 261 (271).

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steuer die verrechenbare Steuer im Wohnsitzstaat übersteigt, funktioniert dieses System nur noch beschränkt21. Gerade aus deutscher Sicht ist dagegen häufig die „Kapitalimportneutralität“22 als Gegenmodell und als Grundlage der Befreiungsmethode präsentiert worden. Ihre ökonomische Grundlage liegt in der Vorstellung, dass die Auslandsinvestition – z. B. eine Betriebsstätte im Ausland – vor allem mit den im Belegenheitsstaat ansässigen Unternehmen konkurrieren müsse23 und daher diesen steuerlich auf der Basis des Steuerniveaus im Belegenheitsstaat gleichgestellt werden sollte. Die tatsächliche Grundlage dieses Denkens – nämlich die Identifikation von Staat und Markt – ist jedoch durch die Realität überholt (wenn sie denn je der Realität entsprach).24 Wenn die Volkswagen AG oder die Siemens AG eine Betriebsstätte oder Tochtergesellschaft in Polen oder Portugal gründen, dann tun sie dies nicht, um mit anderen polnischen oder portugiesischen Unternehmen um Kunden auf dem polnischen oder portugiesischen Markt zu konkurrieren. Sie tun dies, um im europäischen oder weltweiten Markt erfolgreich agieren zu können. Eine zwingende steuerliche Gleichbehandlung gerade mit den portugiesischen Unternehmen ist dafür nicht geboten.25 In jüngerer Zeit wird – angeführt von Mihir Desai und James R. Hines – ein neues Konzept diskutiert: Die Kapitalinhaberneutralität26. Danach _____________ 21 Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (107 f.). 22 Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part II, Intertax 1988, 310 (311 f.); Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper 3056 (1989) 22. 23 Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (46 f.). 24 Vgl. Schön, International Tax Coordination for a Second Best World, Part I, 1 World Tax Journal (2009) 67 (81). 25 Es wäre auch nicht praktikabel, die Kapitalimportneutralität auf Unternehmen zu beschränken, die nur mit lokalen Unternehmen konkurrieren, so Altshuler/ Grubert, Corporate Taxes in the World Economy: Reforming the Taxation of CrossBorder Income, in Diamond/Zodrow (Hrsg.), Fundamental Tax Reform: Issues, Choices and Implications (2008) 319 (332). 26 Desai/Hines, Evaluating International Tax Reform, 56 National Tax Journal (2003) 487 (494 f.); Griffith/Hines/Sorensen, International Capital Taxation, in The Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 914 (952 ff.).

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ist bei den steuerlichen Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Investitionen auch zu beachten, dass bestimmte Mutterunternehmen den unternehmerischen Wert bestimmter Tochterunternehmen besser heben können als andere – z. B. durch Nutzung von Synergieeffekten. Daher solle die Steuerbelastung nicht einzelne potenzielle Investoren höher treffen als andere potenzielle Investoren. Damit wird insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, dass bestimmte grenzüberschreitende Konzernverbindungen Synergien aufweisen, die nicht von jedem beliebigen Inhaber einzelner Konzernglieder genutzt werden könnten. Um erneut das Beispiel der Betriebsstätte in Polen oder Portugal zu nennen: Ein konzernfremder Eigentümer würde viele unternehmerische Chancen, welche die Zugehörigkeit zum VW-Konzern oder zu Siemens bietet, überhaupt nicht wahrnehmen können. Daher sollte diese Konzernzugehörigkeit nicht steuerlich belastet werden. Erneut führt dies zu einer Prävalenz der Befreiungsmethode. Unabhängig davon, welche Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung man wählt – die Frage nach der richtigen Allokation von Einkommen und Besteuerungsrechten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten wird dadurch nicht geklärt. Die Entscheidung zwischen Befreiungsmethode und Anrechnungsmethode legt nur fest, in welcher Weise ein Staat hinter dem anderen zurückzutreten hat, sie regelt aber nicht, welche Einkünfte primär dem einen oder primär dem anderen Staat zuzuweisen sind. Man muss festhalten, dass weder das Leistungsfähigkeitsprinzip noch das Äquivalenzprinzip und schließlich auch nicht die Neutralitätsforderungen der Volkswirtschaftslehre eine Antwort auf die Frage geben, welchem Staat welcher Anteil an der steuerlichen Bemessungsgrundlage internationaler Unternehmen gebührt.

D. Der Steuerwettbewerb als neues Paradigma internationalen Steuerrechts Hinzu tritt der Umstand, dass unter dem Einfluss des internationalen Steuerwettbewerbs das Interesse eines Staats an der Ausweitung seiner steuerlichen Zugriffsrechte nicht eindeutig definiert werden kann. Jeder Staat muss vielmehr seine eigenen spezifischen Interessen an einem bestimmten „Mix“ aus Investitionsattraktivität und Aufkommenshöhe definieren. Dabei kommt namentlich infrage, die steuerlichen Aufkommenseffekte aus grenzüberschreitenden Investitionen gerade nicht 9

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durch den Zugriff auf den korrespondierenden Unternehmensgewinn, sondern aus dem mittelbar generierten Lohnsteuer- und Umsatzsteueraufkommen zu erzielen. Man kommt damit zu dem Schluss, dass es keine „natürliche“ Aufteilung von Steuerhoheit im internationalen Steuerrecht gibt, die in konkrete Vorgaben für rechtliche Regelungen überführt werden kann. Alles ist im Grundsatz Gegenstand von Verhandlungen, in denen sich nicht nur die unterschiedliche Verhandlungsstärke der Parteien, sondern auch die jeweiligen Investitionsstrategien der Volkswirtschaften niederschlagen. Es kommt vor diesem Hintergrund darauf an, welcher Rahmen und welche Leitlinien sich für diese Verhandlungen erkennen lassen.

E. Völkerrechtliche und europarechtliche Rahmenbedingungen Wenn es schon den geschilderten juristischen und ökonomischen Prinzipien kaum gelingt, klare Leitlinien für die internationale Steuerkoordinierung zu formulieren, so wird man noch weniger Führung von den zwingenden Vorgaben des Völker- und Europarechts erwarten dürfen. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 GG auch vom deutschen Gesetzgeber Beachtung verlangen, setzen für den steuerlichen Zugriff im grenzüberschreitenden Verkehr lediglich voraus, dass ein „genuine link“27 zwischen dem Besteuerungsobjekt und der Staatsgewalt des besteuernden Gemeinwesens in territorialer oder persönlicher Hinsicht28 besteht. Dieses „genuine link“ kann auch schwach ausgeprägt sein und sich z. B. in der Nutzung lokaler Kundenmärkte29 oder auch in der mittelbaren Beteiligung an inländischen Gesellschaften erschöpfen. Ein Durchgriff durch Lieferketten oder mehrstufige Konzernstrukturen erscheint erlaubt. _____________ 27 Vogel, Einleitung, in Vogel/Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 5. Aufl. 2008, Rz. 10 ff. 28 Harris, Corporate/Shareholder Income Taxation and Allocating Taxing Rights between Countries (1996) 276 f.; Schindel/Atchabahian, Source and Residence: New Configuration and Principles: General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 90a (2005) 21 (28 f.); Seligman, Essays in Taxation9 (1921) 110 f.; Shay/Fleming/Peroni, ‚What’s Source Got to Do With It?‘: Source Rules and U.S. International Taxation“, 56 Tax Law Review (2002) 81 (93 f.). 29 McLure, Source-Based Taxation and Alternatives to the Concept of the Permanent Establishment, in Canadian Tax Foundation (Hrsg.), World Tax Conference 2000, 6:1 (6:3).

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Auch das Recht der Europäischen Verträge30 ist wenig geeignet, die internationale Aufteilung von Besteuerungsrechten inhaltlich zu prägen. Das Verständnis der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote verlangt zwar die Gleichbehandlung nationaler und internationaler Sachverhalte. Doch wird damit die Vorfrage der Aufteilung von Besteuerungsgrundlagen gerade nicht adressiert. Vielmehr betont der Gerichtshof in einer Vielzahl von Entscheidungen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union „kontrollfrei“ über die Zuordnung von Besteuerungsrechten befinden31 und dabei sogar – wie im Fall „Gilly“32 entschieden – nach der Staatsangehörigkeit der Steuerpflichtigen differenzieren dürfen. Zwar hat der Gerichtshof in mehreren jüngeren Entscheidungen eine untergründige Sympathie für eine „territoriale“ Besteuerung formuliert.33 Doch fehlt diesen Aussagen jeweils ein klares Verständnis dafür, welche Einkünfte „territorial“ einer bestimmten Jurisdiktion zugeordnet werden müssen. Erneut sind die Staaten auf Verhandlungslösungen verwiesen.

F. Grenzen internationaler Steuerkoordinierung I. Multilaterale oder bilaterale Koordination Für den Erfolg dieser Verhandlungsprozesse sollte in einem ersten Schritt gefragt werden, ob es Sinn ergibt, die gegenwärtigen bilateralen Strukturen durch multilaterale Regelungssysteme, z. B. multilaterale Doppelbesteuerungsabkommen, oder gar durch weiter reichende Instrumente wie die Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage zu ergänzen oder gar zu ersetzen. Es besteht kein Zweifel, dass solche multilateralen Regelwerke34 mehrere große Vorteile haben: Sie tragen der Realität Rechnung, dass die zugrunde liegenden grenzüberschreitenden Wirtschaftsaktivitäten häufig genug das Territorium von zwei Vertragsstaaten überschreiten. Die berühmten „Dreiecksfälle“ _____________ 30 Umfassende Übersichten zur Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet der Grundfreiheiten finden sich bei Malherbe/Malhere/Richelle/Traversa, Direct Taxation in the Case-Law of the European Court of Justice (2008); Vanistendael (Hrsg.), EU Freedoms and Taxation (2006). 31 Siehe zuletzt EuGH v. 8.12.2011 – Rs. C-157/10 – Banco Bilbao, IStR 2012, 152 Rz. 31. 32 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-336/96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793. 33 EuGH v. 21.1.2010 – Rs. C-311/08 – SGI, IStR 2010, 144 Rz. 60; EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, IStR 2012, 27 Rz. 46. 34 M. Lang u. a., Multilateral Tax Treaties (1997).

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lassen sich oft durch Regelungen in bilateralen Abkommen nicht hinreichend erfassen. Multilaterale Instrumente sorgen weiterhin für eine „Teilharmonisierung“ und mildern den Steuerwettbewerb, vor allem aber reduzieren sie deutlich die Gefahr der Doppelbesteuerung oder der Keinmalbesteuerung. Dennoch bleiben Vorbehalte bestehen. Der erste Vorbehalt betrifft die Phase des Abschlusses von Abkommensregelungen. Wie bereits gesagt, spiegeln sich in den Abkommensregeln – in den Verteilungsnormen, in den Quellensteuerregeln, aber auch in der Wahl zwischen Befreiungsmethode und Anrechnungsmethode – individuelle wirtschafts- und steuerpolitische Abwägungen wider, die idealiter passgenau auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen zwei Ländern abgestimmt werden und dabei auch deren jeweilige ökonomische Situation und strategische Ziele abbilden. Dies lässt sich auf multilateraler Ebene schlecht durchführen, wenn man von Ausnahmen – wie z. B. dem Nordischen Steuerabkommen zwischen den wirtschaftlich und kulturell verwandten Staaten Skandinaviens35 – absieht. Mindestens so problematisch erscheint aber auch ein möglicher Versteinerungseffekt, der durch eine einmal gefundene multilaterale Lösung eintreten kann. Schlagendes Beispiel ist das Verbot der Quellensteuern auf konzerninterne Zinszahlungen nach der im Jahre 2003 verabschiedeten Richtlinie über Zinsen und Lizenzgebühren. Dieses Verbot verhindert seit Jahren eine sachgerechte Lösung des Problems grenzüberschreitender Zinszahlungen im Konzern, nämliche die Erhebung von Quellensteuern auf Erträge konzerninterner Darlehen – aber es bedarf der Zustimmung aller 27 Staaten der Europäischen Union, um hier einen neuen Anlauf zu nehmen. Bis dahin bleiben uns in vielen Staaten der Europäischen Union komplizierte Behelfslösungen – namentlich die Zinsschranke – erhalten. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch erhebliche Bedenken gegen das Projekt einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage nicht ohne Weiteres zurückstellen. Dabei möchte ich gar nicht davon reden, ob eine so weitreichende Harmonisierung in der Europäischen Union (oder einer Kerngruppe unter Führung Frankreichs und Deutschlands) überhaupt politische Chancen auf eine Verwirklichung besitzt. Man wird vorab überlegen müssen, ob die Mitgliedstaaten gut beraten wären, sich mit einem solchen Einheitsinstrument festzulegen. Zunächst einmal: Solange die GKKB für die Unter_____________ 35 Brauner, An International Tax Regime in Crystallization, 56 Tax Law Review (2003) 259 (318 f.).

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nehmen „optional“ ausgestaltet ist, werden die Mitgliedstaaten sich nach ihrem Inkrafttreten allen Problemen der jetzigen internationalen Besteuerung ausgesetzt sehen und zugleich alle Probleme der GKKB hinzuerwerben. Sinn ergibt die GKKB m. E. nur als verpflichtendes Instrument, das nur wenige Ausweichmöglichkeiten lässt. Dann aber werden die Staaten überlegen müssen, ob sie sich tatsächlich langfristig einer einheitlich festgelegten Bemessungsgrundlage und vor allem einem bestimmten Aufteilungsschlüssel unterwerfen möchten. Denn bei Verabschiedung der Richtlinie weiß naturgemäß niemand, welche Konsequenzen dieser Aufteilungsschlüssel nach einigen Jahren der Bewegung von Produktionsfaktoren innerhalb der Europäischen Union zeitigen wird. In jedem Fall sollten sich die teilnehmenden Länder das Recht zur Kündigung der GKKB für den Fall vorbehalten, dass die Anwendung nicht funktioniert oder die Ergebnisse den wirtschaftlichen Interessen der betroffenen Staaten deutlich entgegenlaufen.36

II. Keine Koordinierung der nationalen Steuerrechte Ein weiterer Gesichtspunkt, der vor einer „totalen Harmonisierung“ im internationalen Steuerrecht warnt, liegt in dem Umstand, dass die internationalen Instrumente ihrerseits nicht auf weitgehend harmonisierten nationalen Steuerrechtsordnungen aufbauen können. Es ist bemerkenswert, dass eine Vielzahl von Vorschlägen zur Reform des internationalen Steuerrechts zugleich weitgehende Reformen oder sogar Angleichungen der nationalen Steuerrechte voraussetzen. Dies gilt in besonderem Maße für die Reform der Körperschaftsteuer im nationalen und internationalen Kontext. Wenn z. B. in den Vorarbeiten für den vor wenigen Monaten im Vereinigten Königreich vorgelegten Mirrlees Review erwogen wird, die Gewinne von Kapitalgesellschaften nach dem Bestimmungslandprinzip37 nur noch in dem Staat der Körperschaftsteuer zu unterwerfen, in dem die Kunden dieses Unternehmens ansässig sind, so würde dies nicht lediglich eine Änderung der Besteuerungszuordnung im internationalen Verkehr mit sich führen, sondern den Charakter der Körperschaftsteuer insgesamt verändern. Gleiches gilt für die im Mirrlees Review befürwortete Einführung einer allowance for corporate _____________ 36 Schön, Perspektiven der Konzernbesteuerung, 171 ZHR (2007) 409 (443 f.). 37 Auerbach/Devereux/Simpson, Taxing Corporate Income, in The Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 837 (882 ff.), die für einen Wechsel zu einer „destination based corporate tax“ plädieren.

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equity38 nach dem Vorbild Belgiens, mit der eine weitgehende Gleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapitalerträgen erreicht werden soll – wer dies vorschlägt, wird massive Veränderungen in der Basis der nationalen Körperschaftsteuer in Kauf nehmen müssen. Man mag diese Veränderungen begrüßen, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass es bei realistischer Betrachtung nicht zu einer gleichzeitigen und gleichsinnigen Reform in allen wichtigen Staaten kommen wird.39

III. Die Bedeutung der Mehrwertsteuer Dies wird schließlich deutlich in der Bedeutung, welche die nationalen Steuerrechte der Existenz einer gewichtigen allgemeinen Verbrauchsteuer, nämlich der Umsatzsteuer, zuweisen. Bis auf die Vereinigten Staaten40 haben inzwischen sämtliche Mitgliedstaaten der OECD und viele weitere Staaten (zuletzt China) eine Mehrwertsteuer eingeführt. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, in welchem Umfang Elemente einer direkten Konsumsteuer in das US-Steuerrecht Eingang finden sollten, ganz anders gelagert als in Europa, wo eine indirekte Konsumsteuer seit langem zum Kernbestand der Besteuerungsordnung zählt.

G. Der Kontinuitätsgrundsatz als Leitlinie internationaler Steuerpolitik Wenn man zu der Erkenntnis gelangt, dass es keine klaren vorgegebenen Regeln zur Allokation von Steuergütern zwischen Staaten gibt und auch keine weitreichende Harmonisierung internationaler und nationaler Steuerregeln vor der Tür steht, dann wird man überlegen müssen, ob es zumindest Grundsätze „zweiter Ordnung“41 gibt, welche der Steuerpolitik eines Landes zugrunde liegen müssen. _____________ 38 The Institute for Fiscal Studies, Tax by Design: The Mirrlees Review (2010) 421 ff.; zu den Vorarbeiten siehe: Griffith/Hines/Sorensen, International Capital Taxation, in The Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design: The Mirrlees Review (2010) 914 (973 ff.). 39 Dazu eine gründliche Analyse bei Roin, Taxation without Coordination, Journal of Legal Studies, Vol. 31 (2002) 61. 40 Siehe die Kritik bei Graetz, 100 Million Unnecessary Returns: A Fresh Start for The U.S. Tax System, 112 Yale Law Journal (2002) 261. 41 Bird/Wilkie, Source- vs. residence-based taxation in the European Union: the wrong question?, in Cnossen, Taxing Capital Income in the European Union (2002) 78 (98 f.).

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Dabei möchte ich folgenden Grundsatz vorstellen: Internationale Steuerregeln beeinflussen ökonomische Entscheidungen. Diese Entscheidungen betreffen Alternativen zwischen rechtlich unterschiedlich strukturierten Aktivitäten. Sowohl rechtliche als auch ökonomische Überlegungen stützen das Postulat,42 dass diese Entscheidungen durch die Rahmenbedingungen des internationalen Steuerrechts so wenig wie möglich beeinflusst werden sollen. Dies fördert nicht nur die Effizienz, es entspricht auch dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und verhindert schließlich Arbitragen in der internationalen Steuerpraxis. Vor allem dann, wenn sich zwischen verschiedenen Alternativen ein Kontinuum an Wahlmöglichkeiten43 aufspannt, würde es überzeugen, auch fließende Übergänge in den steuerlichen Rechtsfolgen einzurichten. Die Modifikation der steuerlichen Rechtsfolge sollte nahtlos der Modifikation der zugrunde liegenden wirtschaftlichen oder zivilrechtlichen Strukturen folgen. Dieser Kontinuitätsgrundsatz soll im Folgenden dargelegt werden an der Wahl zwischen: – grenzüberschreitenden Lieferungen und Leistungen und der Gründung einer Betriebsstätte – der Gründung einer Betriebsstätte und der Gründung einer Tochtergesellschaft – der Übernahme einer wesentlichen Beteiligung und dem Erwerb von Streubesitz – der Finanzierung von Unternehmen durch Fremd- oder Eigenkapital – der Investition in ein eigenes Unternehmen oder die Überlassung einer Lizenz – der Organisation der Wertschöpfungskette zwischen unverbundenen oder verbundenen Unternehmen.

_____________ 42 Musgrave, United States Taxation of Foreign Income, Issues and Arguments (1969) 97 (108 f.). 43 Schlunk, Little Boxes: Can Optimal Commodity Tax Methodology Save the DebtEquity Distinction?, 80 Texas Law Review (2002) 859 ff.

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H. Einzelfragen internationaler Steuerkoordinierung I. Die Besteuerung grenzüberschreitender Lieferungen und Leistungen Im Bereich der Einkünfte aus internationaler gewerblicher Tätigkeit kommt in erster Linie in den Blick, dass nach bisheriger Sicht die Erzielung von Einkommen aus der Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen an Abnehmer in einem anderen Staat nicht ausreicht, um ein Besteuerungsrecht des Sitzstaates der Leistungsempfänger zu begründen. Voraussetzung ist vielmehr nach Art. 5 und 7 OECDMA die Existenz einer Betriebsstätte im Kundenstaat. Vor diesem Hintergrund erklären sich die Versuche einer expliziten oder impliziten Ausweitung des Betriebsstättenbegriffs letztlich als Versuche des Empfängerstaates, Erträge aus Lieferungen und Leistungen an die auf dem eigenen Territorium ansässige Kundschaft zu besteuern. Dies gilt sowohl für die graduelle Erosion des Begriffs einer festen Einrichtung als auch für die Einführung der Service-Betriebsstätte im UN-Musterabkommen als auch für die Konstruktionen rund um den Begriff des abhängigen Vertreters und schließlich auch für die Diskussion zur internationalen Zuordnung von Einkünften aus electronic commerce. Schaut man näher hin, so lässt sich zunächst festhalten, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts kein Hindernis dafür bilden, sämtliche Erträge aus Lieferungen und Leistungen im Staat des Kunden zu besteuern. Ein genuine link ist nämlich in der Beziehung zum Markt des Quellenstaates ohne Weiteres gegeben. Andererseits muss beachtet werden, dass bei praktischer Betrachtung nicht jeder minimale grenzüberschreitende Kontakt herangezogen werden sollte, um ein Besteuerungsrecht zu begründen. Die Belastungen, die für Unternehmen daraus entstehen, dass sie in zwei Jurisdiktionen steuerliche Pflichten erfüllen, namentlich sich mit zwei Steuerverwaltungen auseinandersetzen müssen, können für den grenzüberschreitenden Verkehr mindestens so abschreckend wirken wie das zugleich entstehende Risiko der Doppelbesteuerung. Man benötigt daher aus wirtschaftspolitischen Gründen eine qualitative oder quantitative Schwelle für das Eingreifen des Besteuerungsrechts im Quellenstaat.44 Die abkommenspolitische Frage ist _____________ 44 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 55 f.; Sasseville, in Canadian Tax Foundation, World Tax Conference 2000, Abschn. 5:1 f.

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daher im Kern darauf gerichtet, ob die bisher gewählte Schwelle – der Betriebsstättenbegriff – ein zukunftsträchtiges Konzept verkörpert oder ob eher quantitative Grenzen – z. B. das Überschreiten bestimmter Umsatzgrenzen im Verkehr mit dem Empfängerstaat45 – herangezogen werden sollten. Mein Eindruck ist, dass sich das klassische Betriebsstättenkonzept immer weniger rechtfertigen lässt: Zum einen, weil der Gedanke der festen Geschäftseinrichtung immer weniger eine reale Grundlage im Wirtschaftsleben besitzt, zum anderen, weil der Anreiz, Leistungs- und Lieferungsbeziehungen um den Tatbestand der Betriebsstätte herum zu konstruieren, auch volkswirtschaftliche Kosten hervorruft. Auf lange Sicht sprechen m. E. die besseren Gründe dafür, das Eingreifen der Quellenbesteuerung im Kundenstaat von Umsatzschwellen abhängig zu machen. Diese sollten allerdings so hoch angesetzt werden, dass die daraus resultierenden Administrationskosten und Doppelbesteuerungsrisiken gut abgefedert werden können.46

II. Die doppelte Bedeutung des Betriebsstättenbegriffs Man muss sich bei diesen Überlegungen allerdings darüber im Klaren sein, dass der Begriff der Betriebsstätte im internationalen Steuerrecht gegenwärtig eine zweifache Funktion besitzt, die in der Diskussion regelmäßig nicht differenziert gesehen wird. Zum einen dient – wie bereits geschildert – der Betriebsstättenbegriff dazu, eine objektive Eingriffsschwelle für die Quellenbesteuerung im Belegenheitsstaat zu definieren. Insoweit kann er durch quantitative Grenzziehungen ersetzt werden. Zum anderen bildet die Betriebsstätte aber auch einen subjektiven Anknüpfungspunkt für bestimmte steuerliche Konsequenzen, bei _____________ 45 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 80 f.; Graetz, The David R. Tillinghast Lecture: Taxing International Income: Inadequate Principles, Outdated Concepts and Unsatisfactory Policies, 54 Tax Law Review (2001) 261 (316 f.); Skaar, Permanent Establishment: Erosion of a Tax Treaty Principle (1991) 557 f.; Vann, Reflections on Business Profits and the „Arm’s-Length Principle“, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 145; eine Unterscheidung zwischen standardisierten und einzeln angefertigten Gütern vornehmend: Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part III, Intertax 1988, 393 (400 f.). 46 Arnold, Threshold Requirements for Taxing Business Profits under Tax Treaties, in Arnold/Sasseville/Zolt, The Taxation of Business Profits under Tax Treaties (2003) 93 f.

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denen sie wie eine fiktive Gesellschaft behandelt wird. Beispielhaft ist der Ansatz der OECD,47 bei der Gewinnermittlung von Betriebsstätten diese als „separate entity“ zu qualifizieren und ihnen einen eigenständigen unternehmerischen Gewinn wie bei einer Tochtergesellschaft48 zuzuweisen – ein Ansatz, der inzwischen auch Eingang in die deutsche Gesetzgebung gefunden hat49. Beispielhaft ist auch die Regelung in Art. 15 OECD-MA, welche die Besteuerung von Arbeitnehmern abhängig macht von der Existenz einer Betriebsstätte im Tätigkeitsstaat. Beispielhaft ist schließlich auch die steuerpolitische Forderung nach einer Zuweisung der Abkommensberechtigung an Betriebsstätten im Hinblick auf Einkünfte, die weder im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen noch im Belegenheitsstaat der Betriebsstätte erzielt werden, aber mit dieser wirtschaftlich verbunden sind.50 Schaut man näher hin, so stellt man fest, dass der Betriebsstättenbegriff in diesen Punkten weit anspruchsvoller ist als bei der Frage der beschränkten Steuerpflicht. Dies mag man schon daran feststellen, dass die OECD in der Frage der Existenz einer Betriebsstätte nach Art. 5 die Ansprüche immer weiter absenkt (das berühmte Anstreicher-Beispiel) und in der Frage der Gewinnermittlung einer Betriebsstätte nach Art. 7 die Ansprüche immer weiter hochschraubt. Es empfiehlt sich m. E., diese Funktionen deutlich voneinander zu trennen: Soweit die quasi-subjektive Steuerpflicht der Betriebsstätte angesprochen wird (Abkommensberechtigung, Art. 15 OECD-MA, separate entity approach), sollte man nur Einheiten mit organisatorischer Verselbstständigung und klarer örtlicher Lokalisierung in den Blick nehmen. Soweit die objektive Steuerpflicht im Belegenheitsstaat angesprochen wird, kann ein geringerer qualitativer oder quantitativer Schwellenwert genutzt werden.51

_____________ 47 Centre for Tax Policy and Administration, OECD, Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments, Part I: General Considerations (2006). 48 Baker/Collier, General Report: The Attribution of Profits to Permanent Establishments, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 91b (2007) 21 f. 49 § 1 AStG i. d. F. des Referentenentwurfs des JStG 2013 v. 5.3.2012; näher Baldamus, IStR 2012, 317. 50 Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik (2008) 49 f. 51 Dazu Schön, Permanent Establishment – One Word, Two Concepts, FS Murai (2012), 435.

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III. Gleichbehandlung von Betriebsstätte und Tochtergesellschaft Differenziert man auf diese Weise zwischen der „objektiven“ und der „subjektiven“ Seite der Betriebsstätte, so lässt sich auch eine weitere Fragestellung sinnvoll einordnen, nämlich die Frage nach der Gleichbehandlung von Tochtergesellschaft und Betriebstätte im internationalen Steuerrecht. Diese Gleichbehandlung ist in den vergangenen Jahren unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert worden: Einmal aus der Sicht des Europarechts – hier hat der Europäische Gerichtshof in einigen jüngeren Urteilen die Vorstellung einer strikten Gleichbehandlungspflicht auf der Grundlage der Europäischen Niederlassungsfreiheit entgegen gewichtigen Stimmen im Schrifttum eher zurückgedrängt.52 Zum anderen aus der Sicht des Internationalen Steuerrechts – hier haben Diskussion und Reform des Art. 7 OECD-MA durch Etablierung des separate entity approach einen deutlichen Schritt in Richtung einer solchen Gleichbehandlung unternommen.53 In der Tat sprechen gute Gründe dafür, die freie Wahl zwischen verschiedenen Niederlassungsformen – der unselbstständigen Zweigniederlassung sowie der selbstständigen Tochtergesellschaft – nicht durch spezifische steuerliche Vorteile oder Nachteile zu verzerren, soweit die Betriebsstätte eine vergleichbare wirtschaftliche und organisatorische Eigenständigkeit aufweist. Die Frage ist jedoch, in welchem Umfang die zivilrechtliche Haftungstrennung54 zwischen Tochtergesellschaft und Mutterunternehmen einer vollständigen Gleichbehandlung entgegensteht. Dies muss davon abhängen, ob bestimmte steuerliche Rechtsfolgen gerade mit dieser Haftungstrennung korreliert sind. Dabei kommen vor allem drei Gesichtspunkte in den Blick: die unmittelbare Besteuerung der Unternehmensgewinne beim Investor, die Verrechnung von Verlusten sowie die Anerkennung von Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte. Zur unmittelbaren Besteuerung von Unternehmensgewinnen leben wir in einer Welt, in der die in einer Betriebsstätte entstandenen Gewinne unmittelbar dem dahinter stehenden Unternehmen zugerechnet und _____________ 52 EuGH v. 4.4.2009 – Rs. C-439/07 und C-499/07 – KBC, DStR-E 2009, 1181. 53 Zur europarechtlichen Sicht umfassend Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, Schriftenreihe „Rechtsordnung und Steuerwesen“ Bd. 39, 2010. 54 Siehe eine historische Analyse bei Cheffins, Corporate Ownership and Control (2008).

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bei diesem im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht sowie gegebenenfalls der unbeschränkten Steuerpflicht im Ansässigkeitsstaat erfasst werden.55 Bei Tochtergesellschaften wird hingegen das Besteuerungsrecht in deren Sitzstaat ausgeübt und erst die Dividende erfasst. Ein Durchgriff des Sitzstaats der Muttergesellschaft auf den thesaurierten Gewinn der Tochtergesellschaft findet nur in eng begrenzten Fällen der Hinzurechnungsbesteuerung statt. Zwingend geboten ist dies nicht. Man muss vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass in der gegenwärtigen US-Diskussion ernsthaft vorgeschlagen wird, bei internationalen Konzernen sämtliche Tochtergesellschaften – also auch die gewerblich aktiven Gesellschaften – einer erweiterten Hinzurechnungsbesteuerung zu unterwerfen.56 Auf diese Weise soll der deferral (d. h. der Aufschub der steuerlichen Erfassung bis zur Gewinnausschüttung) abgeschafft werden. Zivilrechtlich lässt sich dagegen wenig einwenden, denn auch bei haftungsbeschränkten Personengesellschaften erscheint uns eine transparente und damit durchgreifende Besteuerung möglich. Steuerrechtlich ist dies jedoch systemwidrig. Wenn und solange das nationale Steuerrecht für nationale Konzerne keine Einheitsbesteuerung zwingend anordnet, sondern die Konzerngesellschaften jeweils einzeln besteuert, kann dies im grenzüberschreitenden Kontext nicht anders sein. Es würde jedenfalls – wie wir spätestens seit der Cadbury SchweppesEntscheidung57 wissen – gegen europäisches Recht verstoßen. Die andere Seite der Medaille besteht darin, dass aufgrund der Haftungstrennung in der Frage der grenzüberschreitenden Verrechnung von Verlusten kein Zwang zur Gleichbehandlung besteht. Während die grenz_____________ 55 United States, Petitioner v. Goodyear Tire & Rubber Company and Affiliates, 493 U.S. 132, 110 S.Ct. 462, 107 L.Ed.2d 449 (1989), Senator Smoot im Rahmen der Gesetzgebung im Jahr 1921 zitierend: ”A foreign subsidiary is much like a foreign branch or an American corporation. If the American corporation owned a foreign branch it would include the earnings or profits of such branch in its total income, but it would also be entitled to deduct from the tax based upon such income or profits taxes paid to foreign countries by the branch in question. Without special legislation, however, no credit can be obtained where the branch is incorporated under foreign laws“; vgl. auch Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts (1964) 94 (96 f.); Vogel, On Double Taxation Conventions3 (1997), Art. 10 OECD Model Rz. 76. 56 Hamill, The Story of the Limited Liability Company: Combining the Best Features of a Flawed Business Structure, in Bank/Stark (Hrsg.), Business Tax Stories (2005) 295 f.; Gravelle, Issues in International Tax Policy 57 National Tax Journal (2004) 773; Cummings, Consolidating Foreign Affiliates, 11 Florida Tax Review (2011), 143. 57 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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überschreitende Verrechnung von Verlusten aus gewerblichen Betriebsstätten ein Gebot der Besteuerung des Steuerpflichtigen nach der Leistungsfähigkeit darstellt58 (insofern bildet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Lidl Belgium59 nach wie vor ein Ärgernis), ist dies bei selbstständig steuerpflichtigen Konzerngesellschaften kein dringendes Gebot, sondern eher ein praktisches Zugeständnis. In jedem Fall gilt auch hier, dass eine entsprechende Regelung für inländische Konzerngesellschaften auch ohne direkten Druck aus Luxemburg möglichst auf grenzüberschreitende Fälle übertragen werden sollte. Wieder anders ist schließlich die Frage nach der Anerkennung von Leistungsbeziehungen zwischen Betriebsstätte und Tochtergesellschaft zu beantworten – hierzu ist daran festzuhalten, dass die Fiktion selbstständiger Verträge zwischen Stammhaus und Betriebsstätte einen Schritt zu weit geht und insbesondere Zuordnungen von Gewinnen und Risiken ermöglicht, die sich nicht in vergleichbarer Weise in den zugrunde liegenden wirtschaftlichen Sachverhalten nachweisen lassen.60

IV. Schachtelbeteiligungen und Portfolio-Besitz61 Zu den weiteren Elementen, mit denen im internationalen Steuerrecht eine weitgehende Gleichbehandlung von Betriebsstätten und Tochtergesellschaften hergestellt werden kann, gehört der Verzicht auf die Besteuerung von Dividenden aus Schachtelbeteiligungen, wie er in vielen DBA sowie in der Mutter-Tochter-Richtlinie der Europäischen Union niedergelegt ist. Die Kernelemente bestehen darin, dass bei Schachteldividenden einerseits der Quellenstaat keine Kapitalertragsteuer auf die Ausschüttungen erhebt und andererseits der Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft entweder die Dividenden freistellt oder bei der Erhebung der Körperschaftsteuer eine indirekte Anrechnung der zugrunde liegenden Körperschaftsteuer der Tochtergesellschaft vorsieht. Im Vergleich zu dieser Behandlung werden Portfolioaktionäre in vielen Staaten der Welt benachteiligt. Bei Streubesitz wird einerseits eine Quellensteuer durch den Sitzstaat der Beteiligungsgesellschaft erhoben _____________ 58 Kane, Risk and Redistribution in Closed and Open Economies, 92 Virginia Law Review (2006) 867 (888 f.). 59 EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. 60 Schön in Lüdicke, Besteuerung von Unternehmen im Wandel (2007) 71. 61 Vgl. z. B. Easson, Taxation of Foreign Direct Investment: An Introduction (1999) 2; Herman, Taxing Portfolio Income in Global Financial Markets (2002) 155 f.; Graetz, Foundations of International Income Taxation (2003) 372 f.

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und andererseits eine volle Besteuerung im Sitzstaat des Anteilseigners ohne Berücksichtigung der zugrunde liegenden Körperschaftsteuer vorgesehen. Deutschland liegt insoweit im Mittelfeld: Es ist einerseits dafür zu loben, dass die Befreiungen nach § 8b Abs. 1 KStG sowie die Regeln zur Abgeltungsteuer auch für ausländische Portfoliodividenden gelten. Es ist andererseits dafür zu tadeln, dass es eines Vertragsverletzungsverfahrens mit anschließender Verurteilung durch den EuGH62 bedurfte, um die Europarechtswidrigkeit der Quellensteuer auf abfließende Dividenden aufzugreifen. Die meisten anderen Staaten sind insoweit jedoch radikaler und belasten Portfoliodividenden mehrfach nachteilig im Verhältnis zu Schachtelbeteiligungen. Der Übergang zwischen 9,9 % und 10 % führt damit zu einem gewaltigen Sprung in der Steuerbelastung. Eine „stetige“, auf Kontinuität angelegte Ordnung des internationalen Steuerrechts müsste diesen – rein fiskalisch motivierten63 – Bruch im nationalen Recht sowie in der Abkommenspolitik der Staaten beseitigen.64 Die Mehrfachbelastung des Portfoliobesitzes durch Körperschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft, Quellensteuer auf die Dividende und abschließende Steuer beim Anteilseigner schreckt letztlich vom Erwerb ausländischer Wertpapiere ab. Eine weitgehende Steuerfreistellung der Dividenden würde letztlich zu einer gleichmäßigen Behandlung von Einkünften aus ausländischen Betriebsstätten (einschließlich Beteiligungen an gewerblichen Personengesellschaften), ausländischen Schachtelbeteiligungen und ausländischen Portfoliobeteiligungen führen. Die „Entscheidungsneutralität“ wäre weitgehend hergestellt.

V. Fremdkapital und Eigenkapital Sowohl die Errichtung von Betriebsstätten als auch die Gründung von Tochtergesellschaften und schließlich der Erwerb von Portfoliobesitz sind nach diesen Überlegungen im Kern der Körperschaftsbesteuerung _____________ 62 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09 – Kommission ./. Deutschland, IStR 2011, 840; BFH v. 11.1.2012 – I R 30/10, IStR 2012, 379 unter Aufgabe von BFH v. 22.4.2009 – I R 53/07, IStR 2009, 551. 63 Vann, General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 88a (2003) 47 (49) (einzelne Portfolio-Aktionäre betreffend): ”When viewed from the source country perspective, the case for the withholding tax on portfolio dividends is not strong, apart from its possible revenue implications and the fact that it is accepted as part of the international consensus set out in tax treaties.“ 64 Ault/Bradford, Taxing International Income: An Analysis of the U.S. System and its Economic Premises, NBER Working Paper No. 3056 (1989) 32 (37).

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im Quellenstaat ausgesetzt. In allen diesen Fällen handelt es sich um eine Finanzierung mit Eigenkapital. Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, die Finanzierung mit Fremdkapital in ähnlicher Weise zu regeln.65 Daher wird vielfach vorgeschlagen, Zinsen auf Fremdkapitaltitel im Ausgangspunkt mit einer gewichtigen Quellensteuer im Sitzstaat des Darlehensnehmers zu belasten.66 Setzt man die Höhe dieser Quellensteuer auf Zinsen auf dasselbe Niveau wie die Körperschaftsteuer bei Tochtergesellschaften, so gelangt man in Ergebnis zu einer gleichheitskonformen Zuordnung der zugrunde liegenden Besteuerungsgüter im Quellenstaat. Der Sitzstaat des Investors mag dann entweder die Kapitalerträge freistellen oder die zugrunde liegenden Steuern anrechnen. Andere Vorschläge einer Gleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapital setzen weiter gehende Veränderungen des nationalen Einkommensteuer- und Körperschaftsteuerrechts voraus, z. B. die Comprehensive Business Income Tax, welche den Zinsen die Abzugsfähigkeit abspricht und sie damit wie Gewinne behandelt, oder die Allowance for Corporate Equity, die für eine Regelverzinsung des Eigenkapitals die Abzugsfähigkeit vornimmt und daher nur weiter gehende Gewinne der Körperschaftsteuer unterwirft67. _____________ 65 Eine grundlegende ökonomische Analyse des Problems der Quellenbesteuerung von Fremd- und Eigenkapital bei Miller, Debt and Taxes, 32 Journal of Finance (1977) 261 f.; Fama/French, Taxes, Financing Decisions, and Firm Value, 53 Journal of Finance, (1998) 819 f.; Gordon/Lee, Do Taxes affect corporate debt policy? Evidence from U.S. corporate tax return data, 82 Journal of Public Economics (2001) 195 f.; Graham, How Big are the Tax Benefits of Debt?, 55 Journal of Finance (2000) 1901 f.; McKie-Mason, Do Taxes Affect Corporate Financing Decisions, 45 Journal of Finance (1990) 1471 f.; Dwenger/Steiner, Financial Leverage and Corporate Taxation – Evidence from German Corporate Tax Return Data, DIW Discussion Paper No. 855 (2009). 66 Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions: A Rethinking of Models (2001) 430 ff.; Danon, Interest (Article 11 OECD Model Convention), in Lang/ Pistone/Schuch/Staringer, Source versus Residence: Problems Arising from the Allocation of Taxing Rights in Tax Treaty Law and Possible Alternatives (2008) 81 (83 f.); Schindel/Atchabahian, Source and Residence: New Configuration and Principles: General Report, Cahiers de Droit Fiscal International, Vol. 90a (2005) 21 (93 f.). 67 De Mooij/Devereux, Alternative Systems of Business Tax in Europe: An applied Analysis of ACE and CBIT Reforms, EC Taxation Papers, Working Paper 17/2009, 7 (10 f.); Bond, Levelling Up or Levelling Down? Some Reflections on the ACE and CBIT proposals, and the Future of the Corporate Tax Base, in Cnossen, Taxing Capital Income in the European Union (2000); hinsichtlich der belgischen Erfahrungen mit einer Allowance for Corporate Equity vgl. Gérard, A Closer Look at Belgium’s Notional Interest Deduction, Tax Notes International, 6.2.2006, 449 f.

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Tatsache ist jedoch, dass es bisher weder in den nationalen Steuerrechten noch auf der Ebene des Abkommensrechts zu einer wirklichen Gleichbehandlung von Eigen- und Fremdkapital gekommen ist. Die Gründe sind vielfältiger Natur. Meiner Ansicht nach liegt der wesentliche Grund darin, dass der Druck des internationalen Steuerwettbewerbs sich bei Eigenkapitalinvestitionen anders auswirkt als bei Fremdkapitalinvestitionen. Dafür muss man erkennen, dass in den vergangenen Jahrzehnten zwar die Quellensteuern auf abfließende Zinsen weitgehend verschwunden sind68, dass aber im selben Zeitraum die körperschaftsteuerliche Vorbelastung auf abfließende Dividenden nicht in gleicher Weise zurückgegangen ist. Offensichtlich ist Fremdkapital mobiler als Eigenkapital, es ist schneller kündbar und weniger auf die konkreten Chancen und Risiken eines bestimmten Investitionsstandorts zugeschnitten. Hinzu kommt, dass eine Absenkung oder gar Abschaffung der Quellensteuern auf abfließende Zinsen rechtstechnisch relativ leicht bewerkstelligt werden kann. Demgegenüber kann die Körperschaftsteuer in einem Land nicht unterschiedlich für inländische und ausländische Anteilseigner erhoben werden (jedenfalls nicht auf der Ebene der Körperschaft als solcher). Man wird daher zögern, aus Gründen des Steuerwettbewerbs eine Steuer abzuschaffen, die bei der großen Zahl bereits existierender inländischer Firmen nach wie vor erhebliches Aufkommen für den Staat generiert69. Mit der Existenz der nationalen Körperschaftsteuer ist daher die Belastung auch der ausländischen Anteilseigner vorprogrammiert. Solange Staaten ein Interesse haben, im Rahmen ihrer Standortpolitik Zinsen weitgehend belastungsfrei zu stellen und andererseits der internationale Steuerwettbewerb nicht so weit geht, dass die Körperschaftsteuer insgesamt abgeschafft werden muss, wird es zu diesen Differenzierungen kommen. Es ist daher nicht zu empfehlen, eine Angleichung der Besteuerung von Fremdkapital- und Eigenkapitalinvestitionen vor_____________ 68 Siehe eine aktuelle politische Beurteilung durch das Advisory Panel on Canada’s System of International Taxation, Enhancing Canada’s International Tax Advantage, Final Report (December 2008) 6.1 f.; Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik (2008) 136 f.; ein vergleichender Ansatz bei Khoo, Reducing withholding tax rates in double tax treaties: Trends and Implications, 24 Australian Tax Forum (2009) 597; Bittker/Lokken, Fundamentals of International Taxation (2008) 67.2.2. 69 Gravelle, The Corporate Income Tax: A Persistent Policy Challenge, 11 Florida Tax Review (2011) 75 (91 f.); ähnlich Keuschnigg, The Design of Capital Income Taxation: Reflections on the Mirrlees Review, 32 Fiscal Studies (2011) 437 (438), für den Übergang von der klassischen KSt zu einem ACE-System.

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zunehmen. Eine Ausnahme kann hingegen im Bereich von konzerninternen Darlehen gelten. Diese Darlehen werden nicht an internationalen Kapitalmärkten aufgenommen, sie dienen der spezifischen Finanzierung bestimmter Projekte und Untergliederungen des Konzerns. Sie sind daher in ähnlicher Weise wie Eigenkapitalinvestitionen mit dem jeweiligen Investitionsstandort verbunden und sollten auch in ähnlicher Weise im Quellenstaat erfasst werden. Die einfachste Lösung ist daher die Erhebung einer Quellensteuer auf konzerninterne Darlehen – aber gerade diese Lösung ist uns durch die Richtlinie über Zinsen und Lizenzgebühren im Konzern innerhalb der Europäischen Union verschlossen.

VI. Lizenzeinnahmen Ähnliche Konflikte stellen sich ein, wenn Einnahmen aus Lizenzzahlungen für gewerbliche Schutzrechte zwischen den beteiligten Staaten verteilt werden müssen. Stehen diese eher den Einnahmen aus einer gewerblichen Betriebsstätte gleich – dann sind sie im Quellenstaat zu erfassen – oder stehen sie den Zinserträgen gleich – dann wird eher der Ansässigkeitsstaat den Zugriff ausüben. Hier hilft es wenig, wenn man mit der aktuellen Diskussion darüber räsoniert, wo diese Erträge wirklich entstehen.70 Denn dafür kommen vier verschiedene Staaten in Betracht:71 Der Ansässigkeitsstaat des Kapitalgebers,72 der Ort der Forschung und Entwicklung, der Belegenheitsstaat der Produktionsstätte73 und schließlich auch die Jurisdiktion, in der die hergestellten Produkte unter dem Schutz eines Patents oder Gebrauchsmusters vertrieben werden können. Ein „genuine link“ besteht in jedem Fall – und auch wird jeder Staat für sich in Anspruch nehmen können, durch Bereitstel_____________ 70 Zu diesem Ansatz vgl. Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions: A Rethinking of Models (2001) 452 f. 71 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Lokken, The Sources of Income From International Uses and Dispositions of Intellectual Property, 36 Tax Law Review (1981) 233 (237 f.). 72 Pöllath/Lobeck in Vogel/Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 5. Aufl. 2008, Art. 12 OECD-MA Rz. 17 ff. 73 So Lokken, The Sources of Income From International Uses and Dispositions of Intellectual Property, 36 Tax Law Review (1981) 233 (238), der versucht, das „benefit principle“ auf IP-Einkünfte anzuwenden; Tadmore, Royalties (Article 12 OECD Model Convention), in Lang/Pistone/Schuch/Staringer, Source versus Residence: Problems arising from the Allocation of Taxing Rights in Tax Treaty Law and Possible Alternatives (2008) 107 (111).

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lung öffentlicher Güter (oder jedenfalls eines „Marktes“) zur Einkommenserzielung beigetragen zu haben. Die Aufteilung der Besteuerungshoheit74 in solchen Situationen muss letztlich den Gegebenheiten des Steuerwettbewerbs folgen. Es kommt auf die Marktstärke einer Jurisdiktion an, ob es ihr gelingt, auf Lizenzzahlungen Quellensteuern durchzusetzen. Dies hängt unter anderem davon ab, ob dem Lizenzgeber seinerseits alternative Lizenznehmer in anderen Ländern zur Verfügung stehen, sodass er in der Lage ist, die Lizenzgebühren der Höhe nach an eventuelle Quellensteuern anzupassen. Der Produktionsstaat wird daher sehr genau überlegen müssen, ob sich eine Quellensteuer in der Gesamtbilanz öffentlicher und privater Einnahmen als günstig oder weniger günstig darstellt.

VII. Besteuerung multinationaler Unternehmensgruppen Sämtliche genannten Themen greifen schließlich ineinander, wenn es um eine angemessene Besteuerung internationaler Unternehmensgruppen geht.75 Hier bieten sich vielfältige Gestaltungen an – die Wahl zwischen grenzüberschreitenden Leistungen versus die Gründung einer Betriebsstätte. Die Gründung einer Betriebsstätte versus die Gründung einer Tochtergesellschaft. Die Finanzierung einer Tochtergesellschaft durch Fremd- oder Eigenkapital. Die Vergabe von Lizenzen innerhalb eines Konzerns oder die Einrichtung von cost sharing arrangements76. Die Frage, auf die ich nur kurz eingehen kann, ist die, ob die Durchführung all dieser Transaktionen innerhalb eines multinationalen Unternehmens grundsätzlich anders besteuert werden soll als die Durchfüh_____________ 74 Für eine Aufteilung, einschließlich periodischer Neubewertung, vgl. Vogel, Worldwide vs. Source Taxation of Income – A Review and Re-Evaluation of Arguments Part II, Intertax 1988, 310 (318); Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions: A Rethinking of Models (2001) 453; in der UN-Expertengruppe wurde sogar diskutiert, ob „alte“ (also amortisierte) IP-Rechte anders behandelt werden sollten als „neue“ IP-Rechte, bei denen die Abschreibung im Ansässigkeitsstaat eine wichtige Rolle spielen könnte (UN Model Double Taxation Convention, Commentary to Art. 12, Para. 6 f.). 75 Dazu ausführlich Schön, International Tax Coordination for a Second-Best World, Part III, 2 World Tax Journal (2010) 227 ff. 76 Grubert, Taxes and the Division of Foreign Operating Income among Royalties, Dividends and Retained Earnings, 68 Journal of Public Economics (1998) 269 f.; Fleming/Peroni/Shay, Some Perspectives from the United States on the Worldwide Taxation vs. Territorial Taxation Debate, 3 Journal of the Australasian Tax Teachers Association (2008) 35 (44).

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rung derselben Transaktionen mit fremden Dritten. Damit ist nicht nur die Frage nach dem „Drittvergleich“77 angesprochen, sondern zugleich die Frage nach den Grundlagen für eine formelhafte Aufteilung der Besteuerungsgrundlagen78 i. S. einer Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage. Es ist nicht möglich, in diesem Vortrag die Vor- und Nachteile einer konsolidierten Steuerbasis sowie des formulary apportionment79 eingehend zu schildern. Aus der Sicht der These, dass die Regeln der internationalen Steuerkoordinierung keine plötzlichen Sprünge, keine ungerechtfertigten Brüche aufweisen sollten, bildet dieser Vorschlag jedoch ein Problem. Denn die Steueraufteilung, wie sie bei Geschäften zwischen unverbundenen Unternehmen vorgenommen wird, ist in diesem Modell eine ganz andere als die Steueraufteilung innerhalb verbundener Unternehmen. Das kann zu enormen Belastungsunterschieden führen. Nehmen wir die einfache Situation, dass ein großer Konzern ein unabhängiges Zulieferunternehmen aufkauft. Sonst ändert sich nichts. Die bisher nach den Verteilungsnormen der Doppelbesteuerungsabkommen vorgenommene Aufteilung der jeweiligen Einzelgewinne auf die Steuerpflichtigen wird dann von einem Tag auf den anderen durch eine formelhafte Aufteilung ersetzt. Jim Hines hat in einem Aufsatz anhand von konkreten Unternehmensfusionen nachgewiesen, dass in diesen Fällen der schlichte Anteilserwerb dazu führen würde, dass die Steuergüter zwischen den involvierten Staaten massiv umverteilt würden.80 Eine GKKB, die alleine an dem Tatbestand einer mehr oder weniger hohen Beteiligungsquote ansetzt, würde damit die steuerlichen Folgen des make or buy massiv verzerren. Eine andere Beurteilung kann mit zunehmender wirtschaftlicher Integration des Tochterunternehmens in _____________ 77 Art. 9 OECD-MA. 78 Li, Global Profit Split: An Evolutionary Approach to International Income Allocation, 50 Canadian Tax Journal (2002) 823 (844 f.), vertritt einen ähnlichen Ansatz („global profit split“), der mit dem des „global formula apportionment“ mehr übereinzustimmen scheint als mit dem des „profit split“ auf Transaktionsbasis. 79 Eine sorgfältige Analyse bei Schön/Schreiber/Spengel, A Common Consolidated Corporate Tax Base for Europe (2007); Lang/Pistone/Schuch/Staringer, Common Consolidated Corporate Tax Base, Series on International Tax Law No. 53 (2008); zu einer Übersicht über dieses höchst kontrovers diskutierte Thema siehe AgundezGarcia, The Delineation and Apportionment of an EU Consolidated Tax Base for Multi-Jurisdictional Corporate Income Taxation: A Review of Issues and Options, European Commission Taxation Papers, WP 9/2006. 80 Hines, Income Misattribution under Formula Apportionment, 43 European Economic Review (2010) 108 ff.

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den Gesamtkonzern eingreifen. Insofern gehen die auf der Ebene der OECD angesetzten Reformen der Verrechnungspreisrichtlinien, die eine Stärkung des profit split als einer alternativen Verteilungsnorm in multinationalen Konzernen vorsehen, in die richtige Richtung. Entscheidend sind aber gleitende Übergänge in einem Kontinuum mehr oder weniger zentralisierter Konzerne. In dem Umfang, in dem das Unternehmen voll integrierte Wertschöpfungsketten aufweist, treten auch formelhafte Aufteilungen zwischen den Konzerngliedern in den Vordergrund.81

I. Schlusswort Diese Ausführungen sind nicht dazu bestimmt, ein ideales System des internationalen Steuerrechts zu entwerfen. Sie dienen auch nicht dazu, steuerpolitische Entscheidungen von Staaten einem engen rechtlichen Korsett zu unterwerfen. Sie dienen vielmehr dazu, taugliche Argumente von untauglichen Argumenten zu trennen, die Interessenlagen der beteiligten Staaten und Unternehmen offenzulegen und schließlich die Optionen des politischen Verhandlungsprozesses aufzuzeigen. Dabei wird auch deutlich, dass einmal gefundene Lösungen nicht notwendig von Dauer sein müssen. Dennoch bleiben bestimmte Anforderungen erhalten: Wie auch immer die Aufteilung der Besteuerungsrechte vorgenommen wird – die Vertragsstaaten sollten so weit wie möglich versuchen, benachbarte wirtschaftliche und organisatorische Entscheidungen in ihren steuerlichen Folgen so wenig wie möglich zu verzerren. Dass dies nicht zwingend zu einem einheitlichen Steuersystem für alle Arten von Einkünften führt, zeigen die Beispiele der Fremdkapitalfinanzierung und der Lizenzeinnahmen. Vielleicht kann dieser Vortrag daher dazu dienen, die Diskussion über die Zukunft des internationalen Steuerrechts weiter zu rationalisieren.

_____________ 81 Zur steuerlichen Erfassung von Synergierenten siehe Schön, Transfer Pricing – Business Incentives, International Taxation and Corporate Law, in Schön/Konrad, Fundamentals of International Transfer Pricing in Law and Economics (2012) 47 ff.

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Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Schön, vielen Dank für Ihren beeindruckenden Ritt durch das internationale Steuerrecht, durch seine möglichen Entwicklungen in der Zukunft. Ich könnte mir vorstellen, dass der eine oder andere Zuhörer bei manchen Ihrer Voraussagen und Thesen überrascht oder sogar erschrocken war. Herr Müller-Gatermann, Sie waren bis vor Kurzem und sind jetzt noch im Verhältnis zu Frankreich in Verhandlungen mit anderen Staaten involviert. Werden die von Herrn Schön dargestellten Überlegungen im Vorfeld oder während solcher Verhandlungen angestellt? Müller-Gatermann Ich fand es außerordentlich spannend und interessant, diese Rahmenbedingungen nochmal umfassend zu hören. Die Praxis hat teilweise natürlich nicht nur mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern mit viel einfacheren und praktischen politischen Problemen zu tun. 29

Podiumsdiskussion: Zur Zukunft des Internationalen Steuerrechts

Ich habe mir einige Stichworte notiert, die Sie aus der rein rechtlichen Sicht angesprochen haben. Sie haben z. B. die Bedeutung der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, und China – angesprochen und dass sich in diesen Ländern etwas gewaltig ändert. Hier sehe ich für die weitere Entwicklung die große Frage, inwieweit sich diese BRIC-Staaten stärker an die OECD, sprich an die Industriestaaten, anlehnen. Bisher gibt es bereits eine intensive Zusammenarbeit, insbesondere mit Russland, Indien und China. Brasilien steht auch in diesem Punkt nicht nur Deutschland gegenüber etwas, sagen wir mal, zurückhaltender da. Als Alternative könnten sich diese BRIC-Staaten stärker als Wortführer in der UN engagieren. Dabei ist zu bedenken, dass die UN zwar ein Steuerkomitee hat, welches die steuerliche Entwicklung beobachtet, aber dies ist natürlich nicht so ein brain trust wie die OECD. Wir sollten natürlich ein Interesse daran haben, dass die von der OECD entwickelten Standards allgemein Gültigkeit haben. Vielfach haben wir damit zu kämpfen, wenn wir z. B. nur die Verrechnungspreise uns ansehen, dass dies für einen Entwicklungsstaat kaum zu handhaben ist. Deswegen sagt er, gebt mir lieber Quellensteuern, weil das einfacher zu handhaben ist, aber lasst mich in Ruhe mit Verrechnungspreisen. Man muss daran arbeiten, dass sich an diesen Standards im Kern nichts verändert. Wir haben z. B. eine Diskussion, dass die UN ein sog. Manual für Verrechnungspreise erstellt. Das soll natürlich ein bisschen auf Entwicklungsstaaten zugeschnitten sein. Da kommt Brasilien mit dem Vorschlag, dass feste Margen notwendig sind. Das ist schlicht das Gegenteil von Verrechnungspreisen. Da muss man zumindest den Unternehmen die Gelegenheit geben nachzuweisen, dass diese Margen in der Praxis nicht stimmen. Daran wird gearbeitet. Der Steuerwettbewerb ist ganz wichtig, wenn wir uns Europa angucken. Wir haben immer einen Steuerwettbewerb gehabt. Vor allem die kleineren Staaten, etwa die Niederlande, können hier wesentlich flexibler reagieren und versuchen, Investoren anzulocken. Dafür gibt es natürlich auch in der EU z. B. die Code of Conduct-Gruppe, die dieses ring fencing, welches vermieden werden soll, bisher immer im Blick gehabt hat. In der OECD gibt es etwas Ähnliches, ein Forum on harmful tax practice. Da beschäftigt man sich auch mit diesen Dingen. Man versucht natürlich, fair miteinander umzugehen. Das ist teilweise nicht ganz einfach zu handhaben, weil da jeder seine eigenen Interessen hat. M. E. muss der Blick in Europa, weil wir hier einen Binnenmarkt haben wollen, darauf gerichtet sein, dass man sich mehr als Teil eines europäischen Binnenmarktes als Standort versteht, der erfolgreich ist und 30

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sich gegenüber anderen Regionen, wie Asien, Amerika usw., durchsetzt. In dem Wettbewerb steht er. Und dann muss natürlich dieser Wettbewerb untereinander innerhalb Europas ganz klar zurückgedrängt werden. Ich möchte auch etwas zu den DBAs sagen. Auch hier stoßen Interessen aufeinander. Eine grundsätzliche Frage, die angesprochen worden ist, betrifft die Anrechnung und die Freistellung. Natürlich will Deutschland, das steht nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern ist eine jahrzehntelange Praxis, im Prinzip an der Freistellung festhalten. Was aber nicht ausschließt, dass man natürlich in einzelnen Fragen anders entscheidet. Da sind die Vereinigten Arabischen Emirate angesprochen worden, die keine Besteuerung kennen. Wir verhandeln sogar im Augenblick auch mit Katar, die auch keine direkten Steuern kennen. Wir wollen vermeiden, dass eine doppelte Nichtbesteuerung Platz greift. Ich sehe durchaus, dass ein ausländischer Wettbewerber gegenüber seinen deutschen Unternehmen wegen der Anrechnungsmethode Vorteile haben kann. Hier beißt sich die rein steuerpolitische mit der wirtschaftspolitischen Betrachtung. Das muss man ganz einfach abwägen. Das muss die Politik tun. Auch die Betriebsstätten hat Herr Schön mehrfach angesprochen. Auch hier gibt es eine sehr interessante Diskussion in der OECD. Übrigens ein Hinweis am Rande: Es gibt zwei Arbeitsgruppen, die sich mit der Betriebsstätte in der OECD befassen. Die eine entscheidet darüber, wann eine Betriebsstätte besteht, und die andere, wie hier aufgeteilt wird. Leider reden die Leute häufig nicht genug miteinander. Vor Kurzem ist mir das passiert. Da sollte etwas abgestimmt werden. Bis wir dann darauf hingewiesen haben, bitteschön, jetzt befasst doch mal wenigstens die andere Arbeitsgruppe damit, denn da gibt es auch noch andere Aspekte. Bei den Betriebsstätten geht es einmal um Verteilung, es geht aber auch um Bürokratie. Wir können kein Interesse daran haben, jede noch so kleine Aktivität zu einer Betriebsstätte zu erheben. Wir haben uns in der OECD aus deutscher Sicht damit nicht durchgesetzt. Es gibt jetzt wieder eine neue Diskussion in der OECD über Betriebsstätte und Subunternehmen. Wenn Sie ins Internet gucken, finden Sie bei der OECD die Vorstellungen niedergelegt. Wir müssen uns jetzt tatsächlich aus deutscher Sicht überlegen, ob wir gut daran tun, diesen engen Betriebsstättenbegriff auch weiterhin zu pflegen. Das heißt ja immer, dass die deutschen Unternehmen, die im Ausland tätig sind, dauernd mit dem Problem zu kämpfen haben, dass irgendein ausländischer Staat eine Betriebsstätte annimmt, wo wir noch lange keine an31

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nehmen würden. Aber umgekehrt, wenn ausländische Staaten in Deutschland sind, dann verneinen wir eine Betriebsstätte. Das muss man mittlerweile auch wegen der Haushaltswirkungen hinterfragen. Wenn Sie dann konkrete DBAs anschauen, gibt es ein zähes Ringen. Beim DBA mit der Türkei, das jetzt gerade unterschrieben ist, habe ich damals die Verhandlungen geführt. Da gab es ein wirklich zähes Ringen. Die Türkei wollte eine Dienstleistungsbetriebsstätte vereinbaren, Deutschland nicht. Dann fängt der Handel an. Wir haben schließlich der Dienstleistungsbetriebsstätte zugestimmt, aber gleichzeitig dafür gesorgt, dass wir an der Rentenbesteuerung teilhaben. Denn wenn Renten in Deutschland mit steuerlicher Wirkung aufgebaut worden sind, dann wollen wir natürlich auch daran beteiligt werden. Das sind Fragen, die im gegenseitigen Verhandeln ausgetragen werden müssen. Brasilien ist ein Problem. Wir haben nach wie vor kein Abkommen mit Brasilien. Und alle Versuche, diese Diskussionen wieder in Gang zu bringen, führen nicht weiter, weil Brasilien auf wahnsinnig hohen Quellensteuersätzen besteht. Das ist aus unserer Sicht völlig anachronistisch. Und sie haben auch ganz besonders eigenwillige Vorstellungen zu Verrechnungspreisen. Ich sprach es an. Dann komme ich zu multinationalen Abkommen. In der EU war das mal ein Thema, um auf diese Weise Treaty Shopping zu vermeiden. Aber die Diskussion ruht zumindest im Augenblick. Dann gibt es über die GKKB eine spannende Diskussion, die in Europa begonnen hat. Auch mit unseren Bundesländern haben wir eine Arbeitsgruppe. Natürlich, Herr Schön, da gebe ich Ihnen Recht, macht das nur als verpflichtende Regelung Sinn. Optional können wir uns da nicht für erwärmen. Es ist reizvoll, gleiche Rahmenbedingungen zu schaffen, weil das auch ein Standortvorteil für Europa sein kann. Und wenn wir uns die Eurokrise ansehen, die zeigt, dass es in einem Währungsraum nicht mehr möglich ist, über Wechselkurskorrekturen zu helfen, muss man sehen, dass die Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik gleichgeschaltet werden. Dafür ist diese GKKB eine gute Lösung. Aber ich wäre schon froh, wenn wir uns einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage nähern könnten. Bei der Konsolidierung, das haben Sie zu Recht angesprochen, da sind noch viele offene Fragen. In diesem Teil ist auch die Richtlinie, sagen wir mal, wesentlich schwächer als zum Teil der Bemessungsgrundlage. Da muss noch einiges geschehen.

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Als vorletzten Punkt möchte ich etwas zu Streubesitz sagen. Wir haben schon in anderem Zusammenhang darüber diskutiert. Ich hätte mir durchaus auch eine andere Entscheidung des EuGH dazu vorstellen können. Auf der anderen Seite muss ich sagen, ich habe jetzt in meinen Verhandlungen mit den Franzosen erfahren, dass diese auch eine Dividendenfreistellung und Veräußerungsgewinnfreistellung kennen, aber eine Mindestbeteiligung von 5 % verlangen. Wenn wir aufgrund dieser Entscheidung eine solche Grenze einführen würden, würde natürlich die Welt nicht zusammenbrechen, weil bei einer so kleinen Beteiligung das Ausschüttungsverhalten nicht von der Steuerbelastung abhängt. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass jede Mehrfachbelastung rein steuersystematisch nicht in Ordnung ist. Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf Fremdkapital und Eigenkapital. Ich könnte damit leben, dass die Gleichstellung von Fremdkapital und Eigenkapital nicht unbedingt kommt. Aber man muss natürlich Missbrauch in diesem Zusammenhang gezielt bekämpfen. Dabei halte ich persönlich – aber da unterscheide ich mich von vielen meiner Kollegen – die Zinsschranke nicht für die beste aller Lösungen. Aber auch das ist ein Thema mit den Franzosen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Bernhardt, es wird Sie sicher gefreut haben, dass Herr Schön gefordert hat, dass die Regelungen, wie immer sie auch kommen mögen, jedenfalls die Unternehmen nicht in ihren freien ökonomischen Entscheidungen behindern sollten. Aber es werden nicht alle Punkte so erfreulich gewesen sein. Bernhardt Da fange ich mit denen an, die mich gefreut haben. In der Tat kann man die Forderung nur voll unterstreichen, dass wir als Unternehmen in unserer Organisation und in der Weise, wie wir Geschäfte international tätigen, durch steuerliche Rahmenbedingungen möglichst nicht verzerrt und dann auch nicht in Entscheidungen behindert werden. Wenn ich auf einige andere Punkte noch eingehen darf, dann stellt sich natürlich die Frage, was für die Zukunft wirklich das Anknüpfungselement ist. Da kann ich dem Gedanken, den Herr Schön entwickelt hat, nur zustimmen: Es ist an der Kapitalinhaberschaft anzuknüpfen, um in Konzernen Synergien von Inlands- und Auslandsgesellschaften zu generieren und um die Freistellungsmethode damit zu untermauern. 33

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Das sieht man auch gerade in Situationen, wenn es um Bieterwettbewerbe bei M&A-Transaktionen geht. Dabei stellt sich die Frage, wer in welcher Art und Weise das zu erwerbende Unternehmen in seine steuerlichen Strukturen einbeziehen kann. Da ist dieser Punkt von entscheidender Bedeutung. Ich glaube, hier würde sich eine Parallelität des Wirtschaftslebens und der steuerlichen Anknüpfungselemente durchaus anbieten. Zum Thema Betriebsstätte möchte ich auch noch einige Anmerkungen machen. Man fragt sich manchmal, ob das Thema Betriebsstätte eigentlich für die Unternehmen wirklich von so großer Bedeutung ist. Ich frage mich das vor dem Hintergrund, ob man mit Betriebsstätten oder Tochterkapitalgesellschaften arbeitet. Das wird sicherlich in den Branchen sehr unterschiedlich gehandhabt. Wir haben uns kürzlich im Chemieverband im Steuerausschuss darüber ausgetauscht. Große deutschstämmige Konzerne neigen dazu, im Ausland mit Tochterkapitalgesellschaften zu arbeiten. Das kann man schon ganz einfach damit erklären, dass konzernintern in den IT-Strukturen und in vielen anderen Bereichen einfacher mit dem Organisationsmodell Tochterkapitalgesellschaften gearbeitet werden kann. So ist auch der mind set im Unternehmen. Ich habe manchmal bei steuerlichen Fachveranstaltungen den Eindruck, dass Betriebsstätten oft auch deswegen in einem gewissen Fokus stehen, weil sie steuerrechtlich etwas „sportlichere“ Ansprüche stellen. Das betrifft insbesondere diejenigen Betriebsstätten, die man nicht geplant hat, sondern in die man durch besondere Umstände oder auch „Unfälle“, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, hineingeraten ist, in die man also langsam hineinschlittert und bei denen man am Ende gar nicht genau weiß, ob man in einer Betriebsstätte angekommen ist oder nicht. In diesem Bereich werden die Probleme nicht abnehmen, sondern tendenziell zunehmen. Ich glaube, dass dort in der Tat Regelungen, die zu einer Gleichbehandlung führen, sehr angebracht sind, damit man letztlich von der Frage freigestellt wird, ob man eine Betriebsstätte oder eine Tochtergesellschaft gründen will. Man sollte die Entscheidung eigentlich aus eigenen organisatorischen Überlegungen treffen können. Die steuerlichen Fragen sollten nicht im Vordergrund stehen. Ich kann verstehen, Herr Müller-Gatermann, dass Sie die Gegenläufigkeit sehen, was wir in Deutschland machen und was umgekehrt im Ausland passiert, und dass Sie daher für eine Gleichbehandlung werben. Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Beim letzten Punkt weiß ich nicht genau, ob ich ihn befürworten soll oder ob es ein Thema ist, an dem man sich „überhebt“. Er betrifft die 34

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gemeinsame Bemessungsgrundlage des Konzerns mit der Fragestellung, ob ich dann am Ende für hoch integrierte Konzerne nur noch eine Bemessungsgrundlage habe, aber mit Problemen behaftet in Zulieferverhältnissen mit Dritten. Für sehr hoch integrierte Konzerne kann man sich das durchaus vorstellen. Wie man es gestalterisch hinbekommen soll, mit vielen Staaten zu derartigen Regelungen zu kommen, weiß ich noch nicht. Wenn man ganz visionär denkt, dann ist das ein Thema für die Zukunft. Konzernintern ist das im Denkansatz nachvollziehbar. Die Wirtschaft, die betreffenden Mitarbeiter in den Konzernen, denken in Konzernkategorien. Für sie sind die rechtlichen Grenzen und die Steuerjurisdiktion in den unterschiedlichen Ländern eher ein Hindernis und ein Thema der Steuerabteilung. Abschließend halte ich das für ein hochinteressantes Denkmodell. In meiner letzten Bemerkung stimme ich auch Herrn Müller-Gatermann zu. Die BRIC-Staaten sind immer mehr zu beachten. Wir neigen noch zu sehr dazu, den Schwerpunkt unserer steuerlichen Diskussionen auf europäische Aspekte zu setzen. Wir müssen diese Themen möglichst schnell zur Seite legen, denn die BRIC-Staaten haben eine wirtschaftlich viel größere Bedeutung. Selbstverständlich müssen wir zu einer einheitlichen Regelung in Europa kommen, denn Europa ist letztlich wie eine Jurisdiktion im Wettbewerb mit Russland, mit China und auch einigen anderen Staaten zu sehen. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Punkt, auf den ich zum Schluss noch hinweisen wollte. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Bernhardt. Bei Betriebsstätten, haben Sie so schön gesagt, entscheidet man sich, ob man eine haben will oder nicht oder doch eine Tochtergesellschaft. Ich glaube, wenn man diese Entscheidungsmöglichkeit hat, kann man sich fast glücklich preisen. Das größere Problem, so habe ich auch den Vortrag von Herrn Schön verstanden, ist, dass man sozusagen in die Betriebsstätte hineinschlittert, weil die Anforderungen für eine solche immer weiter abgesenkt werden. In anderen Branchen sind die Verhältnisse problematischer. So hat etwa Herr Kaeser kürzlich in einem Vortrag darauf hingewiesen, dass in einem Konzern mit dem Geschäftsspektrum von Siemens in einer Vielzahl von Staaten Hunderte von Betriebsstätten existieren, und zwar nicht nur solche der Konzernmuttergesellschaft, sondern, sozusagen kreuz und quer, auch von fremden Landesgesellschaften. Derartige, durch das operative Geschäft bedingte Betriebsstätten sind im Vorhinein oft kaum planbar und später nur schwer zu administrieren. 35

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Bernhardt Das Problem verkenne ich nicht. Ich habe nur gesagt, dass in der Grundentscheidung die Reaktionen der Staaten von Ihnen richtig beschrieben wurden und dass in der Tat die Anforderungen immer niedriger angesetzt werden, sodass man sich vermehrt gezwungenermaßen mit den von Herrn Schön beschriebenen Themen auseinandersetzen muss, wenn man mit dem Grundansatz Tochterkapitalgesellschaft losmarschiert. Das verkenne ich nicht. Ich will in diesem Punkt nicht missverstanden werden. Prof. Dr. Lüdicke Könnten Sie sich mit der von Herrn Schön ins Gespräch gebrachten „Liefergewinnbesteuerung ab bestimmten Schwellen“ anfreunden? Bernhardt Wenn das wirklich das Kriterium wäre und wenn man das hinbekäme, wäre das sicherlich ein praktikabler Angang. Der ist dann zumindest planbar. Prof. Dr. Lüdicke Die Besteuerung müsste allerdings wohl auf Nettobasis stattfinden. Bernhardt Ja. Das sind dann die nächsten Themen. Prof. Dr. Schön Wenn ich da etwas zu sagen darf: Das ist auch einer der Gründe, weshalb man an eine Betriebsstätte relativ hohe Ansprüche stellen muss, um überhaupt einen Anknüpfungspunkt für eine Nettoberechnung eines Einkommens zu haben. Aber das ist in der integrierten Wirtschaft immer schwieriger zu handhaben, weil man dann eine fiktive Eigenständigkeit der Betriebsstätte aufbaut und letztlich alle Probleme in die Verrechnungspreise zwischen Stammhaus und Betriebsstätte transferiert. Ich fühle mich im Übrigen, Herr Müller-Gatermann, sehr bestätigt durch das, was Sie beschreiben. Weil das, was Sie mit den unterschiedlichen und abwägenden Abkommenspolitiken, etwa der BRIC-Staaten, 36

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schildern – ob diese mehr auf der Seite der Industriestaaten oder auf der Seite der Entwicklungsländer stehen –, deutlich macht, dass wir hier kein Einheitstableau entwerfen und nach abstrakten Vorstellungen die Dinge zuschneiden können. Wenn es dann aber gelingt, innerhalb der Abkommen Stetigkeit zu erzeugen und eine gewisse Bruchlosigkeit, dass dann nicht wieder tausend Unklarheiten, Brüche, Gestaltungsschwierigkeiten etc. entstehen, dann wäre man schon gut. Insoweit bin ich da immer ein bisschen skeptisch, wenn ich höre, dass wir die Servicebetriebsstätte gegen die Rentenbesteuerung eingekauft haben. Das ist noch nicht das, was ich mir unter einer wirklichen Strategie vorstelle. Prof. Dr. Lüdicke Herr Loschelder, was stellen Sie sich als Strategie vor? Dr. Loschelder Ich möchte gerne gleich einhaken bei dem von Herrn Professor Schön aufgezeigten Ansatz einer Besteuerung von Lieferungen und Leistungen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass unterschiedliche Formen wirtschaftlicher Betätigung grundsätzlich gleich behandelt werden sollen. Es soll für die steuerlichen Folgen keinen Unterschied machen, welche Betätigungsform ein Unternehmer wählt. Oder umgekehrt: Der Unternehmer soll die Art und Weise seines wirtschaftlichen Handelns nicht an irgendwelchen steuerlichen Konsequenzen ausrichten müssen. Wenn ich mir dagegen den aktuellen § 49 EStG anschaue mit seiner verwirrenden Fülle unterschiedlicher Anknüpfungsmomente für die Begründung einer beschränkten Steuerpflicht im Inland und die schon ewig andauernde Diskussion um willkürliche Besteuerungsunterschiede zwischen den einzelnen Einkunftsarten und um Besteuerungslücken, die sich daraus ergeben, dann wäre ein solches Ergebnis sicherlich sehr erstrebenswert. Die erste Frage, die ich mir nun aber stelle, lautet: Wie lässt sich das praktisch umsetzen? Wenn ich Ihren Kontinuitätsansatz, Herr Professor Schön, richtig verstehe, wollen Sie kein völlig neues Konzept einer beschränkten Steuerpflicht, sondern Sie wollen auf dem bestehenden Konzept aufsetzen. D. h., wir würden beispielsweise § 49 EStG um einen weiteren Tatbestand „Besteuerung von Lieferung und Leistung“ im Abs. 1 Nr. 2 ergänzen. In diese Richtung weist auch Ihr Beitrag im vorletzten Heft der IStR, in dem es um die Besteuerung verbundener Un37

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ternehmen in Form von „Monopolrenten“ oder „Synergierenten“ u. Ä. geht.1 Die nächste Frage lautet dann: Welche Konsequenzen ergeben sich für den Gesetzesvollzug? Lieferungen und Leistungen sind sehr flüchtige Momente, die keinen dauerhaften Bezug zum Inland voraussetzen. Wie kann ich also bei einem entsprechenden Besteuerungstatbestand sicherstellen, dass solche Vorgänge steuerlich auch tatsächlich erfasst werden? Das Reizwort, das hier im Hintergrund lauert, ist die Gefahr eines strukturellen Vollzugsdefizits. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Problematik, wie ich in einem solchen System den einzelnen Einnahmen Aufwendungen zuordnen kann, wenn ich tatsächlich als einzigen Inlandsbezug des unternehmerischen Handelns eine Lieferung oder eine Leistung im Inland habe? Und schließlich: Wenn ich tatsächlich an solche Vorgänge anknüpfe, ist das, was Sie da entwerfen, Herr Professor Schön, eigentlich noch eine Einkommensteuer? Oder transformiert dann die beschränkte Steuerpflicht in eine – wie auch immer ausgeformte – Transaktionssteuer oder fast in eine Form von Umsatzsteuer? Prof. Dr. Schön Ich bin richtig glücklich über die Fragen, weil sie zeigen, dass die Botschaft angekommen ist. Aber schauen Sie mal, das Betriebsstättenprinzip kennen wir im § 49 EStG, viele andere Staaten kennen das nur auf DBA-Ebene. Die haben in ihren nationalen Steuerrechten einen Zugriff auf alle Einkünfte aus Lieferungen und Leistungen, die auf ihrem Territorium ausgeführt worden sind. Die USA sind dafür ein klassisches Beispiel. Der Betriebsstättenbegriff wirkt dort überhaupt erst auf DBAEbene. Wir besteuern auch ohne Betriebsstätte im Bereich künstlerischer, sportlicher, zum Teil auch beratender Leistungen. Die ganze Ausweitung des Bereichs der Servicebetriebsstätte ist doch eigentlich nur der Versuch, das durch die Hintertür einzuführen. Was ich mir nur wünsche, ist eine offene Diskussion darüber, worauf wir eigentlich hinauswollen. Wenn man sich zu einer Besteuerung grenzüberschreitender Leistungen versteht, ist die Frage der Nettoberechnung des Gewinns mit das größte Problem, weil insbesondere ganz viele overhead-Kosten und andere mittelbare Kosten eine Rolle spielen. Ich stelle aber nur fest, dass man zum Beispiel bei einer Ver_____________ 1 Schön, IStR 2011, 777–782.

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triebsbetriebsstätte dieselben Probleme antrifft, wenn die Eingangspreise berechnet werden. Die Umsatzsteuer ist insoweit sogar hilfreich, weil man möglicherweise an den nach dem Bestimmungsland im Inland steuerpflichtigen Umsätzen anknüpfen kann, um zunächst das Steuerobjekt festzustellen, aber man muss natürlich zu irgendeiner Form von Abzügen kommen. Aber das Problem haben wir auch bei grenzüberschreitenden Zinsen oder Lizenzgebühren. Das Problem ist nicht gelöst. Man muss sagen, das einfachste internationale Steuerrecht würde natürlich darin bestehen, dass man auf alle Arten von Quellensteuern und auf alle Arten von Belastungen verzichtet und nur bei der einen Person, dem einen Unternehmen die zusammengefasste integrierte Leistungsfähigkeit erfasst. Aber darauf werden sich die Quellenstaaten nicht einlassen. Und deswegen soll mein Ansatz helfen, eine gemeinsame Linie zu entwickeln. Prof. Dr. Gosch Nun ist ja schon so viel gesagt worden. Ich will nicht zu viel ergänzen. Herr Schön, mich hat der große Bogen beeindruckt, den Sie in den Positionen 2 bis 6 Ihrer Darbietung geschlagen haben. Dort haben Sie gesagt, dass wir all diese ganzen Prinzipien haben, das Leistungsfähigkeitsprinzip, das objektive Nettoprinzip, das Quellenprinzip, den Äquivalenzgedanken usw. Aber all diese Prinzipien sind sehr stark zu relativieren. Ich kann das aus Sicht der Rechtsprechung nur unterfüttern. Sie wissen, dass wir im BFH sehr nachhaltig darum ringen, was denn nun mit den Treaty Overrides passiert, was deren weiteres Schicksal ist. Da berührt ganz nachhaltig das Problem der Leistungsfähigkeit. Denn das Treaty Override baut auf der abkommensrechtlichen Freistellung auf. Da diese Freistellung eine virtuelle ist, droht eine sog. Keinmalbesteuerung. Das Treaty Override will durchweg eine solche Keinmalbesteuerung verhindern. Damit stellt es wiederum die Gleichbehandlung mit anderen unbeschränkt Steuerpflichtigen her, die mit dem Welteinkommen besteuert werden. Es wird allerdings außer Acht gelassen, dass jene Steuerpflichtigen in einem ganz anderen Regelungszusammenhang agieren. Sie arbeiten eben nicht im Ausland und ihnen steht keine Steuerfreistellung zu. Richtigerweise muss deswegen die Vergleichsgruppe eine andere sein: Derjenige Steuerpflichtige, der unter den Voraussetzungen des Freistellungs-DBA im Ausland arbeitet, muss mit eben solchen Personen verglichen werden. 39

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Man sieht daran, dass in der Tat starke Relativierungen vorzunehmen sind. Sie ziehen daraus die Konsequenz, Herr Schön, dass wir dann aber auf dem Grundsatz der Kontinuität versuchen müssen, den Boden zu finden. Man könnte natürlich auch ketzerisch sagen, dass, wenn man die Gewerbesteuer nicht hätte, auch die Bundesrepublik schon als eine Steueroase anzusehen ist. Vielleicht ließe sich auf die Körperschaftsteuer ganz verzichten und ein völlig anderer Weg einschlagen, etwa dadurch, dass man den Steuerzugriff auf Lieferungen und Leistungen erstreckt. Denn die Körperschaftsteuer ist von ihrem Aufkommen her klein geworden. Sie liegt derzeit, wenn ich das richtig sehe, in der Größenordnung der Tabaksteuer. Was die Umsetzung anbelangt: Wo greift man zu? Wo setzt man an? Sie haben es erwähnt und ich hatte es mir auch notiert. Der § 49 EStG ist in seinem Katalog weit über das hinausgegangen, was früher nur die Betriebsstätte als territorialen Zugriff ermöglicht hat. Ich denke nur an die Diskussion über das sog. floating income, also solche unternehmerischen Aktivitäten, die ohne konkrete inländische Betriebsstättenverortung daherkommen. Der Gesetzgeber hat darauf bekanntlich reagiert, indem er den Zugriffskatalog des § 49 Abs. 1 Nr. 2 EStG beständig ergänzt und fortschreibt. Wir haben dort, glaube ich, jetzt schon eine Position lit. g. Mit anderen Worten: Es geht darum, andere territoriale Zugriffsobjekte zu finden. Wenn Sie die Ausweitung des Betriebsstättenbegriffs im Rahmen des AOA ansprechen und auch die berechtigte Forderung stellen, dass es in gewisser Weise Sinn macht, Betriebsstätten und Tochtergesellschaften gleich zu behandeln, dann erlauben Sie mir nur anzumerken, dass das dann aber auch wirklich der Umsetzung im nationalen Recht bedarf. Denn das sind virtuelle Positionen, fiktive Positionen, und solche bedürfen nach Art. 20 Abs. 3 GG einer tatsächlichen Rechtsgrundlage, um den Eingriff zu rechtfertigen. Daran „hapert“ es häufig; die strikte und stringente Umsetzung derartiger Fiktionen in nationales Recht wird vernachlässigt oder misslingt aus gesetzeshandwerklicher Sicht. Manchmal scheitert der Gesetzgeber da schon bei einfacheren Versuchen. Ich sage nur § 50d Abs. 10 EStG, Herr Müller-Gatermann, den Sie natürlich jetzt gerne als Beispiel angeführt bekommen. Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, betrifft § 8b KStG und Streubesitz. Naturgemäß hat jeder damit gerechnet, wie der EuGH nun tatsächlich entschieden hat – außer, Herr Müller-Gatermann, außer vielleicht Ihnen. 40

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Müller-Gatermann Gerechnet habe ich damit. Prof. Dr. Gosch Ich will nur eines dazu sagen. Der BFH hat sich in seiner viel diskutierten und viel kritisierten Entscheidung I R 53/072 sicherlich ein wenig um das eigentliche Problem herumgewunden, indem er gewissermaßen einen „Ausweg“ über die sog. Amurta-Klausel gesucht und auch gemeint hat, diesen Ausweg in casu beschreiten zu können. Was besagt das und worin besteht konkret dieser Ausweg? Der EuGH3 belässt die Möglichkeit einer Rechtfertigung für den Verstoß gegen die Kapitalverkehrs- oder auch die Niederlassungsfreiheit für den Ausnahmefall, dass zwei Staaten sich bilateral auf die Verantwortung für die Gleichbehandlung, für die Entlastung von der Quellensteuer verständigen. Diese Verantwortung kann auf den anderen Vertragsstaat übertragen werden; der Quellenstaat kann sich auf diese Weise entpflichten. Wenn man das bilateral „ordentlich“ tut, dann geht das in Ordnung. Nur: Ordentlich tun, das ist gar nicht so einfach und lässt sich nicht ohne Weiteres bejahen. Es genügt hierfür nicht, dass man sich auf eine auf Höchstbeträge begrenzte Anrechnung verständigt. Der Ansässigkeitsstaat muss einen full tax credit gewähren, nicht bloß einen ordinary tax credit. Daran scheitert das zumeist. Aber wie dem auch sei: Die Entscheidung des EuGH gründet auf dem Prinzip der Kapitalverkehrsfreiheit. Und das bedeutet: Sie greift „worldwide“, also unter Einbeziehung sog. Drittstaaten, jedenfalls dann, wenn man die Kapitalverkehrsfreiheit bei prinzipiell „beherrschungsneutralen“ Regelungen, wie sie hier in Rede stehen, nicht als durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt ansieht. Ob Letzteres richtig ist, ist allerdings, das sei nicht verschwiegen, immer noch hoch umstritten. Die von mir vertretene Rechtsauffassung wird vom BFH4 geteilt, nicht aber von der Finanzverwaltung. So oder so relativiert der EuGH die Drittstaatenwirkung der Kapitalverkehrsfreiheit aber doch wieder, nämlich dadurch, dass er den Kreis der Rechtfertigungsgründe weiter zieht, beispielsweise durch den Aspekt einer umfassend verstandenen Steueraufsicht, eines umfassenden Informationsaustauschs. Bei ‚echtem‘ Streubesitz wird aber auch das kaum weiterhelfen. Bedarf es in einer solchen Situation tatsächlich besonderer Kon_____________ 2 BFH v. 22.4.2009 – I R 53/07, BFHE 224, 556, im BStBl. bislang nicht veröffentlicht. 3 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-379/05 – Amurta, Slg. 2007, I-09569, IStR 2007, 853. 4 BFH v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFH/NV 2009, 849.

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trollmechanismen oder besonderer steueraufsichtsrechtlicher Maßnahmen? Wahrscheinlich nicht. Wenn man das aber in Abrede stellt, wirkt der Freiheitsverstoß, wie gesagt, grenzenlos. Möglicherweise könnte das den Gesetzgeber veranlassen, die Steuerfreistellung nach § 8b KStG in breiter Front – also für In- wie Auslandskonstellationen gleichermaßen – zu reduzieren. Müller-Gatermann Zum Abschluss möchte ich noch etwas sagen, weil wir auch intensiv über DBAs gesprochen haben. Bei all diesen rechtlichen Überlegungen müssen Sie berücksichtigen, dass Sie sich über etliche Streitpunkte verständigen müssen. Das ist wie bei Verträgen im Wirtschaftsleben. Schließlich bleiben irgendwelche Dollpunkte auf beiden Seiten. Und dann können Sie sagen, wir kommen halt nicht zusammen, wir müssen ja auch keinen Vertrag haben, oder Sie sagen, wir raufen uns zusammen. So banal ist das. Die Alternative ist schlecht, denn die Alternative wäre, kein DBA zu haben. Prof. Dr. Schön Nur zwei Sätze: Als erstes, Herr Gosch, würde ich mich dagegen wehren, zwischen guten und schlechten Treaty Overrides zu unterscheiden. Die Verfassungsfragen, die dahinter stehen, sind weit diskutiert, aber zu sagen, der eine Treaty Override, den mögen wir, weil er irgendwie so ein bisschen leistungsfähigkeitsorientierter ist und der andere nicht, das wird nicht laufen. Das Zweite ist, da gebe ich Ihnen Recht, dass die Betriebsstättenproblematik dann nochmal stärker angegangen werden müsste, auch im nationalen Steuerrecht. Ich will nur nochmal darauf hinweisen, dass wir wirklich zwei Betriebsstättenbegriffe brauchen. Herr Lüdicke hat kürzlich in einem Vortrag gefragt, wie man eigentlich an diese ganzen winzigen Betriebsstätten, von denen jetzt geredet wird, überall den Art. 15 OECD-MA mit der inländischen Lohnsteuer der dabei Beschäftigten anschließen soll. Und das auf die Jahre rückwirkend festzustellen, das kann es nicht sein. Genauso, ich habe Herrn Sasseville5 mal gefragt, ob er eigentlich auch auf das berühmte Maler-Beispiel6 im Art. 5 OECD-MA den authorised _____________ 5 OECD. 6 Vgl. Tz. 4.5 OECD-MK zu Art. 5 OECD-MA.

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approach anwenden will. Das würde bedeuten, diesen Maler, und zwar nur für die Tage, an denen er sich im Staat, wo er malt, aufhält, wie eine selbstständige Körperschaft zu behandeln. Da hat er gesagt, das könne natürlich nicht sein bzw. das würde irgendwie ganz einfach auf Null gerechnet oder was auch immer. Aber das sind die Ergebnisse, zu denen man kommt. Herr Müller-Gatermann, Sie haben es gesagt, das ist das Ergebnis, wenn eine Arbeitsgruppe den Art. 5 OECD-MA macht und eine andere den Art. 7 OECD-MA macht.

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Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff1 und Dr. Harald Schießl2 Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 B. Die Zusammenarbeit von Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof und Finanzgerichte) und dem Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorlagepflicht des Bundesfinanzhofs und Vorlagerecht der Finanzgerichte . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung . . . . . . . . . 2. Durchsetzung der Vorlageverpflichtung vor dem Bundesverfassungsgericht . . II. Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufgabenteilung zwischen Bundesfinanzhof und Gerichtshof der Europäischen Union . . IV. Vorabentscheidungsersuchen und Vorlagepraxis des Bundesfinanzhofs . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Europäisches Steuer-Richterrecht und seine Umsetzung . . . . . . . . . . I. Vorgaben des EuGH und Spielräume der Mitgliedstaaten . . . . II. Methoden der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung in nationales Recht . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 10 EGV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Gebot des effektiven und äquivalenten Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Unionsrechtskonforme Auslegung, Rechtsfortbildung, Anwendungsvorrang . . . . . . . 55 D. Finanzgerichtsbarkeit zwischen unionsrechtlichem Anwendungsvorrang und nationaler Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Modifizierte Anwendung nationaler Normen – normerhaltende Reduktion – sachverhaltsbezogene Umsetzungen im Einzelfall . . . . . . . . . . . . II. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . III. Normerhaltende Reduktion im Spannungsverhältnis mit dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Neue Entwicklungen beim Steuerrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . II. Entscheidung des EGMR vom 1.4.2010 – 12852/08 . . . . . III. Anhängige Verfahren und Entscheidungen – Kurze Bestandsaufnahme . . . . . . . . . .

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F. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

_____________ 1 Präsident des Bundesfinanzhofs, München. 2 Wiss. Mitarbeiter beim Bundesfinanzhof.

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A. Einführung Das Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht realisiert sich insbesondere in den Vorlagen des Bundesfinanzhofs in Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg. Hingegen spielt das Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nur eine untergeordnete Rolle. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) dient das in Art. 267 AEUV geregelte Vorabentscheidungsverfahren „der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten“3. Der Bundesfinanzhof (BFH) erweist sich bei den Vorabentscheidungsersuchen unionsweit als Spitzenreiter. Er hat von 1952 bis November 2011 insgesamt 277 Ersuchen an den EuGH vorgelegt4, weit mehr als jedes andere Gericht in der Europäischen Union. Auf dem zweiten Rang folgt der Hoge Raad der Niederlande mit rund 200. Der Sinn des Vorabentscheidungsverfahrens ist es, die einheitliche Anwendung und Geltung des Unionsrechts zu gewährleisten, indem die Befugnis zur letztverbindlichen Auslegung und Ungültigerklärung von Unionsrecht allein der europäischen Gerichtsbarkeit zugewiesen ist. Die Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Union Juliane Kokott unterscheidet „drei Phasen der Zusammenarbeit“5: 1. Identifizierung der unionsrechtlichen Fragestellung im Ausgangsrechtsstreit und Formulierung des Vorlagebeschlusses. 2. Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH. 3. Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits durch das innerstaatliche Gericht unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH. In meinem Vortrag möchte ich – anknüpfend an die einschlägige Rechtsprechung – auf die Umsetzungsprobleme eingehen, die sich aus Sicht des Bundesfinanzhofs ergeben. _____________ 3 Vgl. u. a. EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-343/90 – Lourenço Dias, Slg. 1992, I-4673, Rz. 14; v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rz. 30 und die dort zitierte Rechtsprechung; sowie v. 18.3.2004 – Rs. C-314/01 – Siemens und ARGE Telekom, Slg. 2004, I-2549, Rz. 33; v. 21.2.2006 – Rs. C-152/03 – Ritter-Coullais, Slg. 2006, I-1171, Rz. 13. 4 Siehe das im Internet veröffentlichte Jahrbuch des Europäischen Gerichtshofes für 2010 unter der Adresse http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7000/ Punkt 20; Stichwort Deutschland und aktuelle Abfragen in juris. 5 Kokott/Henze, in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (280).

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B. Die Zusammenarbeit von Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof und Finanzgerichte) und dem Gerichtshof der Europäischen Union Das Vorabentscheidungsverfahren steht im Mittelpunkt des Zusammenwirkens von Bundesfinanzhof und EuGH. Für den Bundesfinanzhof besteht dabei unter bestimmten Voraussetzungen eine Vorlageverpflichtung, die von den Steuerpflichtigen erforderlichenfalls auch mithilfe des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt werden kann (I.). Auf zwei Ausnahmen von dieser Vorlageverpflichtung möchte ich besonders hinweisen (II.). Dem Vorlageverfahren liegt eine klare Aufgabenverteilung zwischen BFH und EuGH zugrunde (III.). Auf einige Schwerpunkte in der Vorlagepraxis möchte ich kurz hinweisen (IV.).

I. Vorlagepflicht des Bundesfinanzhofs und Vorlagerecht der Finanzgerichte 1. Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung Für die durch das Vorabentscheidungsersuchen erfolgende Kooperation zwischen dem EuGH und der Finanzgerichtsbarkeit sind feste „Spielregeln“ vorgesehen. Der BFH als letztinstanzlich entscheidendes Gericht6 muss danach den EuGH anrufen, wenn ihm in einem anhängigen Verfahren eine Frage gestellt wird – über die Auslegung der Verträge, – über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union und der Europäischen Zentralbank oder – über die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen, soweit diese Satzungen dies vorsehen und er eine Entscheidung über eine solche Frage zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält (sog. Entscheidungserheblichkeit).7 Die Vorlagepflicht soll verhindern, dass eine solche Frage „in einer nationalen Sackgasse endet“ und sich „in einem Mitgliedstaat eine Recht_____________ 6 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839, Rz. 16 f.; BFH v. 31.10.1990 – II R 176/87, BFHE 162, 374, BStBl. II 1991, 161. 7 Dazu und zum Folgenden siehe auch Spindler in Fachkongress 20.10.2006, Steuerberaterkammer Stuttgart, 9 (13 f.).

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sprechung bildet, die mit dem Unionsrecht nicht in Einklang steht“8. Eine Vorlagepflicht nur des BFH und nicht der Finanzgerichte genügt dazu in aller Regel9, weil der BFH die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Deutschland sichert. Im Eilverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO besteht für den BFH nur ein Vorlagerecht, aber keine Vorlagepflicht. Im einstweiligen Rechtsschutz wird geprüft, ob bei summarischer Prüfung ernstlich zweifelhaft ist, dass das von der Finanzbehörde angewandte Steuergesetz gegen das Unionsrecht verstößt. Hierbei handelt es sich um eine vorläufige Einschätzung und nicht um eine endgültige Entscheidung über die europarechtliche Frage.10 2. Durchsetzung der Vorlageverpflichtung vor dem Bundesverfassungsgericht Die Vorlageverpflichtung kann der Steuerpflichtige vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Solange II-Beschluss11 entschieden, dass der Gerichtshof der Europäischen Union gesetzlicher Richter i. S. d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für die Entscheidung über die Gültigkeit und Auslegung des Unionsrechts ist. Aber nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt einen Verstoß gegen das Grundgesetz dar12. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar, also willkürlich sind.

_____________ 8 EuGH v. 22.2.2001 – Rs. C-393/98 – Gomes Valente, Slg. 2001, I-1327, Rz. 17; v. 4.11.1997 – Rs. C-337/95 – Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rz. 25. 9 Zum Ausnahmefall der Ungültigerklärung von Unionsrecht siehe EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Rz. 15. Der EuGH hat allen Gerichten eine Vorlagepflicht auferlegt, wenn sie das Unionsrecht für ungültig halten. 10 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz Rz. 16 (Stand: Mai 2011). 11 BVerfGE 73, 339, unter B.I.1.a. 12 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NJW 2010, 3422; BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, BB 2011, 563.

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In der Literatur wird dieser Willkürmaßstab gelegentlich kritisiert, weil er den Fachgerichten einen zu weiten Spielraum gibt.13 Die Vorlageverpflichtung werde nicht wirksam durchgesetzt. Trotz dieser Kritik und auch mit Blick auf eine vereinzelte Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts14 hat der Zweite Senat in der HoneywellEntscheidung vom 6.7.201015 an diesem Maßstab festgehalten. Es würde auch der Aufgabenverteilung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit widersprechen, wenn das Bundesverfassungsgericht in jedem einzelnen Fall die steuerrechtliche Rechtslage voll überprüfen und seinen Wertungsspielraum an die Stelle des Fachgerichts setzen würde. Vielfach stellt sich die Frage, ob die Vorgaben des Europarechts dem nationalen Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum belassen, dessen verfassungsgemäße Ausfüllung vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen ist. Auch in diesem Fall fordert das Bundesverfassungsgericht, dass im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem Europäischen Gerichtshof die Entscheidung überlassen bleibt, ob ein solcher Auslegungsspielraum besteht. Ausgangspunkt für diese Entscheidung war die vom Finanzgericht Sachsen-Anhalt nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG erfolgte Vorlage des Investitionszulagengesetzes 1996 an das Bundesverfassungsgericht. Das Finanzgericht wollte eine Klärung, ob der in einer Norm vorgesehene rückwirkende Ausschluss der Gewährung einer Investitionszulage verfassungswidrig ist. Diesem Ausschluss lag eine Entscheidung der Europäischen Kommission zugrunde. Das Bundesverfassungsgericht verwarf die Vorlage des Finanzgerichts als unzulässig, da es die Rechtsschutzkompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht beachtet hat. Stellt sich einem Finanzgericht die Frage der Vereinbarkeit eines für sein Verfahren entscheidungserheblichen, aus dem Unionsrecht abgeleiteten Gesetzes mit den Grundrechten, ist es zunächst die Aufgabe des Fachgerichts – gegebenenfalls durch eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1 AEUV – zu klären, ob das Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt.16 Diese Vorlagepflicht gilt unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist. Erst wenn dieser Spielraum feststeht, kann das den Gestaltungspielraum ausfüllende Gesetz der _____________ 13 14 15 16

Vgl. z. B. Meilicke, BB 2000, 17 (21). BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268 (1269). BVerfGE 126, 286. BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, DStR 2011, 2141 auf die Vorlagefrage des FG Sa.-Anh. v. 20.2.2007 – 1 K 290/01, DStRE 2009, 940.

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Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen und damit überhaupt eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht in Betracht kommen.

II. Ausnahmen von der Vorlagepflicht Aber es gibt auch Ausnahmen von der an sich bestehenden Vorlagepflicht. Nach der Rechtsprechung des EuGH17 kann ein an sich vorlageverpflichtetes Gericht von einem Vorabentscheidungsersuchen zu einer entscheidungserheblichen Frage absehen, wenn – es feststellt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union eine Rechtsfrage bereits beantwortet oder Unionsrecht als ungültig verworfen hat (sog. acte éclairé), oder wenn – bei Auslegungsfragen die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (sog. acte clair). Der Bundesfinanzhof darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn er „überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“. Die ohnehin restriktiv formulierte zweite Ausnahme greift nur ein, wenn es um die Gültigkeit von Unionsrecht geht. Nationale Gerichte dürfen nur entscheiden, dass sie einen Unionsrechtsakt zweifelsfrei für gültig halten.18 Der Gerichtshof hat im Dezember 2005 klargestellt, dass die Verpflichtung, ihm eine Frage nach der Gültigkeit von Bestimmungen des Unionsrechts vorzulegen, selbst dann fortbesteht, wenn der Gerichtshof entsprechende Bestimmungen eines anderen, vergleichbaren Unionsrechtsakts bereits für ungültig erklärt hat und das nationale Gericht deshalb an der Ungültigkeit der von ihm zu beurteilenden Bestimmung keine Zweifel hat.19 Gosch hat auf die Praxisprobleme und Unsicherheiten des Richters mit der acte clair-Doktrin hingewiesen20 und beispielhaft berichtet, dass der Erste Senat des BFH in der Sache Lidl Belgium zunächst durch Gerichtsbescheid durcherkannt habe. Der BFH habe sich dazu berufen gefühlt, das zu Tochter-Kapitalgesellschaften ergangene EuGH-Urteil _____________ 17 18 19 20

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Grundlegend EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T. u. a., Slg. 1982, 3415. Vgl. EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 – IATA, NJW 2006, 351, Rz. 28 f. EuGH v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 – Gaston Schul, HFR 2006, 416. Gosch, Ubg 2009, 73 (76).

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Marks & Spencer eins zu eins auf Betriebsstätten umzusetzen. Der EuGH habe dies bestätigt, nachdem der BFH dann doch „auf Nummer sicher“ gegangen sei und den EuGH angerufen habe.

III. Aufgabenteilung zwischen Bundesfinanzhof und Gerichtshof der Europäischen Union Das Vorabentscheidungsersuchen ist ein Verfahren, das nicht auf einem hierarchischen Instanzenzug, sondern einer funktionsteiligen Zusammenarbeit gleichrangiger Rechtsprechungsorgane beruht: Das nationale Gericht entscheidet kraft der ihm durch das nationale Recht übertragenen Rechtsprechungsgewalt autonom über alle Rechtsfragen, die nicht dem EuGH vorbehalten sind, also z. B. – – – –

das anzuwendende nationale Recht, ob Unionsrecht entscheidungserheblich ist, über die Anwendung des Unionsrechts auf den Einzelfall und ob und wann es den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersucht.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hingegen entscheidet nach Art. 267 Abs. 1 AEUV autonom darüber, – ob das Unionsrecht gültig ist und – wie das Unionsrecht auszulegen ist.21 Eine – für die vorlegenden Gerichte erfreuliche – Konsequenz des vom EuGH erklärten „Geistes der Zusammenarbeit“ ist, dass sich der Gerichtshof zwar grundsätzlich für berechtigt hält, im Rahmen seiner Entscheidung auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 267 AEUV zu prüfen, weil es nicht seine Aufgabe sei, allgemeine oder hypothetische Fragen zu beantworten, sondern zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen.22 Er legt jedoch bei der Prüfung der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens einen sehr großzügigen Maßstab an. Im Regelfall geht er davon aus, dass „das vorlegende Gericht, das allein über die unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts verfügt, die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils am besten beurteilen kann“, und beantwortet selbst bei erheblichen Zweifeln an der Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsersuchens die gestellten _____________ 21 Dazu und zum Folgenden siehe auch Spindler in Fachkongress 20.10.2006, Steuerberaterkammer Stuttgart, 9 (13 f.). 22 EuGH v. 3.2.1983 – Rs. 149/82 – Robards, Slg. 1983, 171, Rz. 19.

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Fragen.23 Unzulässige Vorlagefragen formuliert er regelmäßig in zulässige Vorlagefragen um. Fragen nach der Anwendung des Unionsrechts oder des nationalen Rechts auf den Einzelfall lässt er in seiner Antwort offen, weil die Beurteilung entsprechender Fragen den nationalen Gerichten obliegt.24 Er lehnt es lediglich dann ganz ab, über eine von einem nationalen Gericht gestellte Frage zu befinden, wenn „offensichtlich“ ist, dass die Frage in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechts steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.25

IV. Vorabentscheidungsersuchen und Vorlagepraxis des Bundesfinanzhofs Der Bundesfinanzhof hat – wie bereits erwähnt – 277 Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.26 Thematisch betreffen 34 Vorlagen die direkten Steuern, 64 Vorlagen die indirekten und 179 Vorlagen das Zoll- und Marktordnungsrecht. Der Schwerpunkt liegt daher in den harmonisierten Rechtsbereichen der Umsatzsteuer und des Zoll- und Marktordnungsrechts. Die Finanzgerichte haben – seit die Vorlagen in juris dokumentiert werden, und damit seit 1967 – 298 Ersuchen an den Gerichtshof gestellt.27 Die Bedeutung des EuGH für das Steuerrecht wird auch anhand folgender Zahlen deutlich. Allein in den letzten 12 Monaten hat der EuGH europaweit unter Einbeziehung der Vertragsverletzungsverfahren 92 Finanzstreitigkeiten entschieden, davon 20 im Bereich der direkten Steuern, 34 im Bereich der indirekten Steuern, davon wiederum 29 im Bereich der Umsatzsteuer, und auf das Marktordnungsrecht, Verfahrensrecht und die sonstigen Steuern entfielen immerhin noch 16 Rechtssachen. _____________ 23 Vgl. z. B. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155, Rz. 43. 24 Z. B. EuGH v. 15.12.2005 – Rs. C-151/04, C-152/04 – Nadin-Lux u. a., Slg. 2005, I-11215, Rz. 32. 25 Vgl. z. B. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rz. 61. 26 Stand: 17.11.2011. 27 Stand: 17.11.2011. Die Anzahl bezieht sich lediglich auf die in juris dokumentierten Vorlagen der Finanzgerichte. Die wirkliche Gesamtzahl ist wohl größer.

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Aktuell ist beispielsweise ein Vorabentscheidungsersuchen des BFH zur Höchstbetragsberechnung gemäß § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG anhängig.28 Streitig ist, in welchem Umfang die ausländische Quellensteuer auf die deutsche Einkommensteuer angerechnet werden muss. Dem liegt vereinfacht folgender Sachverhalt zugrunde: Die Kläger erzielten im Streitjahr 2007 Kapitaleinkünfte u. a. aus Dividenden an ausländischen Beteiligungen. Im Ausland wurde eine Quellensteuer einbehalten. Die Kläger erzielen darüber hinaus auch anderweitige Einkünfte. Bei der Veranlagung wurden die Dividenden nach den entsprechenden Doppelbesteuerungsabkommen (vgl. Art. 10 OECD-Musterabkommen) in Deutschland, dem Ansässigkeitsstaat, besteuert. Gemäß § 34c Abs. 1 EStG rechnete das Finanzamt lediglich die anteilige ausländische Quellensteuer an. Nach § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG 2002 ist die auf die ausländischen Einkünfte entfallende deutsche Einkommensteuer in der Weise zu ermitteln, dass die sich bei der Veranlagung des zu versteuernden Einkommens – einschließlich der ausländischen Einkünfte – ergebende deutsche Einkommensteuer im Verhältnis dieser ausländischen Einkünfte zur Summe der Einkünfte aufgeteilt wird. Die Summe der Einkünfte errechnet sich gemäß § 2 Abs. 3 EStG 2002 aus dem Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Dabei beeinflussen Abzugsbeträge (Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen etc.) sowie der Grundfreibetrag die Höhe der deutschen Einkommensteuer. Diese Abzugsbeträge werden somit anteilig den ausländischen Einkünften zugerechnet und vermindern letztlich das Volumen der Berücksichtigung ausländischer Steuern. Ob diese verhältnismäßige „Teilhabe“ der ausländischen Einkünfte an den Abzugspositionen im Rahmen der Höchstbetragsberechnung zur Begrenzung der Anrechnungsbeträge (§ 34c Abs. 1 EStG) den europarechtlichen Anforderungen des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots uneingeschränkt standhält, hält der BFH für zweifelhaft.

C. Europäisches Steuer-Richterrecht und seine Umsetzung Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat einen weit reichenden Einfluss auf das nationale Steuerrecht. Auch wenn die Vor_____________ 28 BFH v. 9.2.2011 – I R 71/10 (Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH – Rs. C-168/11).

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gaben der Rechtsprechung darauf angelegt sind, Spielräume der Mitgliedstaaten zu bewahren (I.) hat der EuGH weit reichende Forderungen zur Umsetzung des Europäischen Unionsrechts aufgestellt (II.).

I. Vorgaben des EuGH und Spielräume der Mitgliedstaaten Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV (ex Art. 220 Abs. 1 EGV) sichert der Gerichtshof der Europäischen Union die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge EUV und AEUV. Er hat ein Auslegungs- und Interpretationsmonopol hinsichtlich des Unionsrechts. Die nationalen Gerichte sind zugleich europäische Gerichte mit eigener Verantwortung für die einheitliche und wirksame Anwendung des Unionsrechts.29

II. Methoden der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung in nationales Recht Über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, das Gebot des effektiven Rechtsschutzes und die Forderung nach unionsrechtskonformer Auslegung wirkt die Rechtsprechung des EuGH aber weitreichend auf das nationale Recht ein. 1. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 10 EGV) Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergreifen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen aus den Verträgen. Die Summe der aus Art. 4 Abs. 3 AEUV für die Mitgliedstaaten und damit auch für die Finanzgerichtsbarkeit resultierenden Pflichten lässt sich zusammenfassend mit dem Begriff „der Grundsatz der Unionstreue“30 charakterisieren. Aus dieser Norm wurde vom Gerichtshof zum Beispiel die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts und die Pflicht zum effektiven Vollzug des Unionsrechts hergeleitet. Im Zusammenhang mit der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass „die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EG [nun: Art. 4 Abs. 3 AEUV], alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder _____________ 29 Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633. 30 Vgl. Zuleeg, NJW 2000, 2846.

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besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt [obliegt], und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch den Gerichten“31. 2. Gebot des effektiven und äquivalenten Rechtsschutzes Aus Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 10 EGV) hat der Gerichtshof für den mitgliedstaatlichen Vollzug von Unionsrecht auch zwei Grundregeln entwickelt, die bei der Rechtsanwendung zu beachten sind: Zum einen das Äquivalenzprinzip und zum anderen den Effektivitätsgrundsatz. Unter Äquivalenzprinzip ist zu verstehen, dass der Vollzug des Unionsrechts genauso gehandhabt werden muss wie der Vollzug rein nationalen Rechts.32 Es dürfen keine Unterschiede gemacht werden. Nur so ist eine Gleichbehandlung der Betroffenen und eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts gewährleistet. Nach dem Effektivitätsgrundsatz darf die Anwendung nationalen Rechts die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dahingehend beeinträchtigen, dass dessen Verwirklichung übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich wird.33 3. Unionsrechtskonforme Auslegung, Rechtsfortbildung, Anwendungsvorrang Das Unionsrecht wirkt schließlich auf weiteren Wegen auf die nationale Finanzrechtsprechung ein. Bedeutsam ist zunächst das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung, das sich auf alle Rechtsakte des Unionsrechts einschließlich Empfehlungen bezieht.34 Danach „ist es Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche unionskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“35

_____________ 31 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 – Paola Faccini Dori/Recreb SRL, Slg. 1994, I-3325, 3357 Rz. 26. 32 EuGH v. 21.9.1983 – Rs. C-205/82 bis C-215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH u. a., Slg. 1983, 2633. 33 EuGH v. 21.9.1983 – Rs. C-205/82 bis C-215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH u. a., Slg. 1983, 2633. 34 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. C-322/88 – Grimaldi, Slg. 1989, 4407, Rz. 18. 35 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. C-157/86 – Murphy, Slg. 1988, 673, Rz. 11.

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Ein Fall zur unionsrechtskonformen Auslegung ist das Urteil Stauffer.36 Voraussetzung für die Steuerfreiheit einer in Deutschland beschränkt steuerpflichtigen italienischen Stiftung war, dass die Stiftung „staatlich beaufsichtigt“ im Sinne des § 62 AO a. F. sei. Unionsrechtskonform legte der BFH das Erfordernis „staatlich“ so zugunsten der Kläger aus, dass es sowohl die inländische als auch die ausländische staatliche Aufsicht umfasse, sofern sie der deutschen in ihren wesentlichen materiellen Vorgaben entspreche. Die Revision war begründet. Sie führte zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG, damit es die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachholen konnte. Die richtlinienkonforme Auslegung kann als Sonderform der unionsrechtskonformen Auslegung bezeichnet werden.37 Die Steuerrichter prüfen, ob das nationale Umsatzsteuergesetz dem Unionsrecht, insbesondere der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie oder vorher der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, entspricht. Wenn das nationale Recht unklar ist, wird es, wenn möglich, anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie richtlinienkonform ausgelegt. Tritt eine Kollision zwischen nationaler Steuerrechtsnorm und dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht auf, setzt sich das Unionsrecht durch.38 Beim Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Steuerrecht handelt es sich um einen Anwendungsvorrang, der die Gültigkeit von entgegenstehendem deutschem Recht unberührt lässt.39 Bei einem Verstoß gegen Unionsrecht kann eine Norm, soweit ihre Anwendung keinen Unionsbezug hat, weiter angewendet werden.

D. Finanzgerichtsbarkeit zwischen unionsrechtlichem Anwendungsvorrang und nationaler Gesetzesbindung Widerspricht eine steuerrechtliche Regelung dem Unionsrecht, stellt sich die drängende Frage, wie zu verfahren ist. Weil nationale unionswidrige Vorschriften nicht anwendbar sind, entsteht eine Regelungslücke im nationalen Steuerrecht. Mögliche Folgen wären die Nicht_____________ 36 BFH v. 20.12.2006 – I R 94/02, IStR 2007, 27, im Anschluss an EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-386/04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203, IStR 2006, 675. 37 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, 103. 38 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 – Costa/Enel, Slg. 1964, 1251. 39 Ehlers, DVBl 1991, 605 (608 m. w. N.).

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besteuerung von Einkünften in Deutschland und das Leerlaufen von Normkomplexen.40 Der EuGH lässt dem Steuerrichter zwar einen weitgehenden Gestaltungsspielraum. Das erfordert vielfach jedoch eine modifizierte Anwendung nationaler Steuerrechtsnormen.

I. Modifizierte Anwendung nationaler Normen – normerhaltende Reduktion – sachverhaltsbezogene Umsetzungen im Einzelfall Der EuGH gibt keine Anleitung oder „Gebrauchsanweisung“ für die Korrektur der nationalen Vorschrift41 und sieht die Schließung der Lücke im zu entscheidenden Fall als Aufgabe des Fachgerichts an. So führt der EuGH in den Urteilen Lück von 196842 und IN.CO.GE ’90 u. a. von 199843 aus: „[…] das nationale Gericht [ist] vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Unionsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen […].“

Günter Hirsch beschreibt diese schwierige Aufgabe der nationalen Gerichte wie folgt44: „Das Einpassen der normativen Wirkungen des Unionsrechts in nationale Gegebenheiten und Besonderheiten obliegt […] der Auslegungskunst des Richters bei der Entscheidung des konkreten Falls.“

Diesen Auftrag setzt der Bundesfinanzhof in einer „unionsrechtskonformen und normerhaltenden Auslegung“ unter Berücksichtigung des jeweiligen Normenkomplexes und der sachverhaltsbezogenen Umstände des Einzelfalls um.45 Neben der bereits erwähnten Rechtsprechung des EuGH spricht für eine solche Auslegung auch, dass die völlige Nichtanwendung nationaler Steuerrechtsnormen und das Leerlaufen ganzer Normkomplexe in derartigen Fällen erhebliche Inländerdiskriminierungen hervorrufen würde, was im Hinblick auf Art. 3 GG problematisch _____________ 40 41 42 43

Vgl. Gosch, DStR 2007, 1553 (1554 f.). Ebenso Hey, StuW 2010, 301 (303). EuGH v. 4.4.1968 – Rs. 34/67 – Lück, EuGHE 1968, 364. Vgl. EuGH v. 22.10.1998 – Rs. C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE ’90 u. a., EuGHE 1998, I-6307 Rz. 21. 44 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.4.2006, S. 8. 45 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, IStR 2006, 826.

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wäre.46 Die richterliche Anpassung der Steuervorschriften bewirkt weder eine stärkere Belastung der Steuerpflichtigen noch enttäuscht es schützenwertes Vertrauen.47 Letztlich führt die Rechtsprechung des BFH zu einer Erstreckung der Normen für den Inlandssachverhalt auf den Auslandssachverhalt, in Einzelfällen aber auch zur Ergänzung oder Korrektur der innerstaatlichen Steuerrechtsnorm oder gar zum gänzlichen Wegfall der Verpflichtung.48 Exemplarisch ist das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23.2.2006 (Rs. C-253/05) in Sachen CLT-UFA49 zu nennen. Darin geht es um die steuerliche Benachteiligung der Betriebsstätte eines luxemburgischen Unternehmens gegenüber selbstständigen Tochtergesellschaften. Die Betriebsstätten wurden auch im Fall des Gewinntransfers an das Stammhaus mit einem einheitlichen Steuersatz von 42 % belastet, während Tochtergesellschaften den reduzierten Ausschüttungssteuersatz von 30 % in Anspruch nahmen. Der EuGH sah in dieser Diskriminierung einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Allerdings hat der EuGH nicht die ihm auch vom BFH gestellte Frage beantwortet, welcher Steuersatz unter den gegebenen Umständen in unionsrechtskonformer Weise für die Klägerin anzusetzen sei. Er hat dazu geurteilt, es sei „Sache des nationalen Gerichts, den Steuersatz, der auf die Gewinne einer Zweigniederlassung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuwenden ist, nach Maßgabe des Steuersatzes zu ermitteln, der im Fall der Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft insgesamt anzuwenden gewesen wäre“. Der Bundesfinanzhof ist in der Folge zu der Erkenntnis gelangt, dass es geboten sei, die Klägerin einem Steuersatz von 33,5 % zu unterwerfen. Diese Gesamtsteuerbelastung ergab sich aus einer Zusammenschau von Ausschüttungssteuersatz von 30 % und der Kapitalertragsteuer von 3,5 %.50 Der Bundesfinanzhof hat sich zur Ermittlung des Steuersatzes an den bestehenden Regelungen orientiert und sieht _____________ 46 Ebenso Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (296). 47 Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (296). 48 Rust, IStR 2009, 382 (384). 49 EuGH v. 23.2.2006 – Rs. C-253/03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831, IStR 2006, 200. 50 Berechnung: Kapitalertragsteuer in Höhe von 5 % der Ausschüttungen bei der Muttergesellschaft. Da aufgrund der Körperschaftsteuer bei der Tochter nur 70 % der Gewinne zur Ausschüttung zur Verfügung stehen, ergab sich ein Steuersatz von 70 % x 5 % = 3,5 %. Die Erhebung einer 5-prozentigen Quellensteuer wurde von der Mutter-Tochter-Richtlinie nach dem 30.6.1996 untersagt.

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sich als berechtigt an, „diesen Steuersatz im Wege einer nach Maßgabe des EuGH-Urteils unionsrechtskonformen und normerhaltenden Auslegung der zitierten einschlägigen Tarifregelungen unbeschadet deren insofern entgegenstehenden Wortlauts unter Benennung bestimmter (höherer bzw. niedrigerer) Steuersätze anzusetzen, nicht zuletzt deshalb, um eine mangels entsprechender ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen anderweitig gänzlich entfallende Besteuerung von Betriebsstätten ausländischer EU-Kapitalgesellschaften im Streitjahr zu vermeiden“.51 Ein weiteres Beispiel stellt der Fall Glaxo Welcome dar: Dass danach eine Wertminderung von Anteilen durch Gewinnausschüttungen bei der Gewinnermittlung nicht zu berücksichtigen ist (§ 50c EStG 1990), verstößt im Grundsatz nicht gegen Unionsrecht. Dem Steuerpflichtigen ist jedoch im Wege einer geltungserhaltenden Reduktion des Wortlauts des § 50c Abs. 4 Satz 1 EStG 1990 die Möglichkeit einzuräumen, den Nachweis zu erbringen, dass die Anschaffungskosten der Anteile eine Abgeltung eines Körperschaftsteuerguthabens an den nicht anrechnungsberechtigten Veräußerer der Anteile nicht einschließen.52 Ebenso stellt der Fall Scorpio53 ein Beispiel dar: Nach dem BFH ist § 50a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG 1990 in unionsrechtskonformer Weise so zu verstehen: Dem Vergütungsschuldner mitgeteilte Aufwandspositionen sind in dem vorgenannten Umfang bereits bei Vornahme des Steuerabzugs oder in einem ggf. nachfolgenden Haftungsverfahren zu berücksichtigen. Ansonsten bleibt es für den Vergütungsgläubiger bei dem Erfordernis, ein Freistellungs- oder Erstattungsverfahren einzuleiten und innerhalb dieses Verfahrens seine beschränkte Steuerpflicht zu klären. Ein Grund dafür, das Abzugs- und Haftungsverfahren innerhalb der Europäischen Union gänzlich unangewandt zu lassen, besteht hingegen nicht.54 Es genügt, den Tatbestand des Gesetzes in normerhaltender Weise zu reduzieren, die einschlägigen Regelungen aber als solche weiter anzuwenden.

_____________ 51 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, IStR 2006, 826. 52 BFH v. 3.2.2010 – I R 21/06, BStBl. II 2010, 692 (Anschluss an EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-182/08 – Glaxo Welcome, IStR 2009, 691). 53 BFH v. 24.4.2007 – I R 39/04, BStBl. II 2008, 95 (Anschluss an EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04 – Scorpio, DStR 2006, 2071). 54 Ebenso Entscheid des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs v. 19.10.2006 – 2006/14/0109, Beilage zur Österreichischen Steuerzeitung 2007, 117.

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II. Fallgruppen Sieht man sich die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs im Zusammenhang mit der Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands im Einzelnen an, so lassen sich im Bereich der direkten Steuern bildlich zumindest vier Fallgruppen55 unterscheiden: Fallgruppe 1: Erstreckung einer steuerentlastenden Norm auf Auslandssachverhalte Bei der Schließung einer „Lücke“ kommt es häufig zur Erstreckung einer steuerentlastenden innerstaatlichen Norm auf Auslandssachverhalte. Dies ist dann der Fall, wenn für einen innerstaatlichen Sachverhalt eine steuerliche Begünstigung gewährt wird, aber grenzüberschreitende Aktivitäten davon europarechtswidrig ausgeschlossen sind. So konnte der in der Beschränkung des Sonderausgabenabzugs auf Schulgeldzahlungen an inländische Schulen für die Streitjahre 1998 und 1999 liegende Verstoß gegen das Unionsrecht nur dadurch geheilt werden, dass auch Zahlungen an Schulen im übrigen Unionsgebiet als Sonderausgaben abzugsfähig sind, sofern durch die Höhe der gezahlten Beträge keine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird. § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG alte Fassung war nach Ansicht des Bundesfinanzhofs56 wegen des Anwendungsvorrangs des EG-Rechts normerhaltend57 europarechtskonform auszulegen. Dies führte dazu, dass das „europarechtswidrige Tatbestandsmerkmal“ nicht zu beachten ist, dass also dann, wenn die Schule im EU-Ausland zu einem im Inland ohne Abstriche anerkannten Schulabschluss führt, der Abzug des für den Besuch dieser Schule gezahlten Schulgeldes, also ohne Beträge für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung, dem Grunde nach in Betracht zu ziehen ist.58 _____________ 55 In der Literatur werden von Hey, StuW 2010, 301 (313) und von M. Lang in Festschrift für Joachim Lang, Köln 2010, 1016 ff. jeweils vier Fallgruppen gebildet, während Rust, IStR 2009 2009, 382 (384 ff.) fünf Fallgruppen unterscheidet, die m. E. jedoch teilweise deckungsgleich sind. 56 BFH v. 21.10.2008 – X R 15/08, BFH/NV 2009, 559 und EuGH v. 11.9.2007 – C-76/05 – Schwarz/Gootjes-Schwarz, Slg. 2007, I-6849, IStR 2007, 703. 57 Im Sinne der EuGH-Entscheidung in Slg. 2007, I-6849, DStR 2007, 1670 (vgl. auch BFH v. 20.9.2006 – I R 113/03, BFH/NV 2007, 220 zum Abzug von Steuerberatungskosten eines niederländischen Steuerpflichtigen). 58 BFH v. 21.10.2008 – X R 15/08, BFH/NV 2009, 559 (Vorinstanz FG Köln v. 14.2.2008 – 10 K 7404/01, EFG 2008, 677).

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Die Generalanwältin Kokott hat in ihren Schlussanträgen vom 13.12.2007 in der Rechtssache Marks & Spencer59 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Folgendes ausgeführt: „73. Zwar hat ein Mitgliedstaat die Wahl, wie er einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung für die Zukunft beseitigen will. Grundsätzlich kann er die Belastung für die eine Gruppe aufheben oder diese in gleicher Weise auf die andere ausdehnen. Für die Vergangenheit dürfte die nachträgliche Ausweitung der Belastung dagegen im Allgemeinen dem Grundsatz des Vertrauensschutzes zuwiderlaufen. 74. Wie der Gerichtshof außerdem in Fällen unionsrechtswidriger Diskriminierungen wiederholt entschieden hat, kann, solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, der Gleichheitssatz nur dadurch gewahrt werden, dass die Vergünstigungen, die die Mitglieder der begünstigten Gruppe erhalten, auf die Mitglieder der benachteiligten erstreckt werden. In einem derartigen Fall ist das nationale Gericht gehalten, eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es ihre vorherige Aufhebung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der anderen Gruppe gilt.“

Durch die Erstreckung einer steuerentlastenden Norm auf einen bereits verwirklichten Auslandssachverhalt zugunsten des Rechtsschutzsuchenden wird das Unionsrecht effektiv umgesetzt. Dies ist ein europarechtliches Gebot.60 Für die Vergangenheit kann der europarechtskonforme Zustand nur durch Ausweitung der Vergünstigung auf den Auslandsfall herbeigeführt werden.61 Bei der normerhaltenden Reduktion nationaler Steuervorschriften unterscheidet der Bundesfinanzhof allerdings nicht zwischen Sozialzwecknormen und sonstigen Steuernormen.62 Der Bundesfinanzhof achtet darauf, dass die geltungserhaltende Reduktion nicht zu einer eingriffsverschärfenden Extension einer Norm führen darf.63 So bietet der Umstand, dass aufgrund des Unionrechts bestimmte Betriebsausgaben abgezogen werden können, keine Handhabe, _____________ 59 Kokott im Schlussantrag v. 13.12.2007 – C-309/06 – Marks & Spencer, Slg. 2008, I-2283, Rz. 74 (nicht zu verwechseln mit C-446/03, IStR 2006, 19, bei der es um die Nutzung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften ging). 60 Gleiche Ansicht: Hey, StuW 2010, 301 (315); kritisch dagegen Gosch, Stbg 2009, 73 (78 f.). 61 Ebenso Rust, IStR 2009, 382 (384); Hey, StuW 2010, 301 (315). 62 So auch Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (296). 63 BFH v. 5.5.2010 – I R 104/08, BFH/NV 2010, 1814 unter II.2.f.

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den gesetzlich festgelegten Steuersatz zu überschreiten. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann zwar – wie im Fall des § 50a Abs. 4 Satz 4 EStG 1997 – ggf. zur geltungserhaltenden Reduktion einer nationalen Steuernorm führen, nicht aber zur eingriffsverschärfenden Ausdehnung einer an diese Norm anknüpfenden anderen Vorschrift. Im Einzelfall kann auch auf die allgemeinen Regeln über Auslandssachverhalte zurückzugreifen sein, wenn speziellere, für bestimmte Auslandssachverhalte geltende Sondervorschriften gegen Unionsrecht verstoßen.64 Ein Beispiel hierfür ist der Fall Gerritse.65 Der Gerichtshof hat in der Bruttobesteuerung von Künstlern gemäß § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG, der nach § 50 Abs. 5 Satz 1 EStG 1996 Abgeltungswirkung zukam, einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gesehen. So darf der beschränkt steuerpflichtigen Person der Abzug von unmittelbaren Erwerbsaufwendungen nicht versagt werden, wenn sie diese Ausgaben dem Vergütungsschuldner mitteilt. Dagegen scheidet die wahlweise Beantragung eines Veranlagungsverfahrens wie bei Steuerinländern aber aus.66 Bei steuerlichen Sozialzwecknormen wäre die Ausdehnung contra legem auf Gebietsfremde allerdings problematisch.67 So hat der BFH entschieden, dass es unionsrechtlich nicht geboten sei, einem unbeschränkt Steuerpflichtigen mit Wohnsitz im Inland Eigenheimzulage für ein Zweitobjekt im EU-Ausland zu gewähren.68 Soweit die Versagung der Eigenheimzulage für das im EU-Ausland gelegene Zweitobjekt Grundfreiheiten des Klägers beschränke, sei diese Beschränkung gerechtfertigt. In diesem Urteilsfall wird daher bereits ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten verneint. Fallgruppe 2: Nur eingeschränkte Erstreckung einer innerstaatlichen Steuerrechtsnorm auf Auslandssachverhalte Der Erstreckung einer für den Inlandssachverhalt geltenden günstigeren Steuerrechtsnorm auf Auslandssachverhalte liegt jedoch kein Automatismus zugrunde und sie unterliegt daher Grenzen. _____________ 64 Siehe BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BStBl. II 2008, 22 und Rust, IStR 2009, 382 (386). 65 EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-234/01 – Gerritse, Slg. 2003, I-05933, Rz. 43, 48; IStR 2003, 458. 66 BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BStBl. II 2008, 22. 67 Gleiche Ansicht: Gosch, DStR 2007, 1553 (1556). 68 BFH v. 20.10.2010 – IX R 20/09, BStBl. II 2011, 342.

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Solche Einschränkungen für die Umsetzung können vom EuGH in seinen Urteilen vorgegeben werden. Ein Beispiel hierfür stellt der allseits bekannte Fall Marks & Spencer69 dar. Nach britischem Steuerrecht konnten Verluste innerhalb der Unternehmensgruppe verrechnet werden, während eine Verrechnung mit Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften versagt wurde. Der EuGH sah in diesem Ausschluss der Verlustverrechnung grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Der Ausschluss sei lediglich dann unverhältnismäßig, wenn „die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes […] vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat und wenn keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt werden“. In Umsetzung dieser EuGH-Entscheidung haben daher die Gerichte und Behörden eine Verlustverrechnung zu untersagen, solange eine Nutzung der Verluste der Tochtergesellschaft im Ausland noch möglich ist. Es werden damit sachverhaltsbezogene Umsetzungen im Einzelfall ermöglicht. Nur wenn die Vorgaben des EuGH erfüllt sind, kommt es zu einer Verlustnutzung über die Grenze und damit zu einer Erweiterung. Mittlerweise hat der BFH für das nationale Recht entschieden, dass solche „finalen“ Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft – allenfalls – im „Finalitätsjahr“ bei der Muttergesellschaft abgezogen werden können.70 Fallgruppe 3: Weiteranwendung einer inländischen Norm auf Unionssachverhalte unter Hinzufügung eines Tatbestandsmerkmals Beispielhaft kann hierfür das Folgeurteil des Bundesfinanzhofs71 zu Columbus Container Services genannt werden. Darin ergänzte er die Vorschriften zur Hinzurechnungsbesteuerung um einen Motivtest. Der Sachverhalt stellte sich vereinfacht wie folgt dar: Bei einer als Kapitalanlagegesellschaft beurteilten Kommanditgesellschaft belgischen Rechts mit Sitz in Belgien, deren Gesellschafter in Deutschland ansässig waren, bezog das Finanzamt die Einkünfte aus Gewerbebetrieb unter Versagung der Freistellung, aber mit Anrechnung der in Belgien er_____________ 69 Siehe EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837. 70 BFH v. 9.11.2010 – I R 16/10, BFHE 231, 554. 71 BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, BStBl. II 2010, 774.

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hobenen Steuer, in die Bemessungsgrundlage der Steuer mit ein. Voraussetzung für die nach Ansicht der Finanzbehörde anwendbare Umschaltklausel des § 20 Abs. 2 AStG a. F. ist die fiktive Steuerpflicht der Einkünfte nach der Hinzurechnungsbesteuerung. Die in §§ 7 ff. AStG a. F. vorausgesetzte Typisierung eines gestaltungsmissbräuchlichen Verhaltens widersprach nach Ansicht des Bundesfinanzhofs den Anforderungen der unionsrechtlich verbürgten Niederlassungsfreiheit, weil sie dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eines Gegenbeweises im Einzelfall vorenthielt.72 Der BFH schloss daraus: „Allerdings wirkt sich der unionsrechtliche Anwendungsvorrang nicht dergestalt aus, dass von der Hinzurechnungsbesteuerung gänzlich abzusehen ist. Die unionsrechtlichen Erfordernisse sind vielmehr in die betroffenen Normen hineinzulesen […]. §§ 7 ff. AStG a. F. sind deshalb unionskonform und im Einklang mit den regelungsimmanenten Wertungen […] dahin zu interpretieren, dass dem Steuerpflichtigen der unionsrechtlich gebotene ‚Motivtest‘ über seine tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivitäten im Einzelfall zu gewähren ist. Dies deckt sich letztlich mit der Vorgehensweise der Finanzverwaltung vor der Neuschaffung von § 8 Abs. 2 AStG n. F. im BMF-Schreiben in BStBl. I 2007, 99.“

Im Rahmen des „Motivtests“ ist zu prüfen, ob die Gesellschaft einer „wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ nachgeht und nicht als „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung“ anzusehen ist. Diesen Motivtest bestand die Klägerin zweifelsfrei, sodass die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung und damit der Methodenwechsel nicht anwendbar waren. Eine solche Tatbestandsergänzung des Bundesfinanzhofs, um die unionsrechtskonform eingeschränkte Weiteranwendung belastender Regelungen zu ermöglichen, wird in der Literatur kritisiert.73 Es werde die durch den Vorbehalt des Gesetzes geschützte Vorhersehbarkeit des steuerlichen Eingriffs nicht mehr gewährleistet.74 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass diese Ergänzung sich im dargestellten Fall im Ergebnis zugunsten des Rechtsschutzsuchenden ausgewirkt hat. Das klageabweisende Urteil wurde aufgehoben und die angefochtenen Bescheide waren antragsgemäß zu ändern. Die Rechtslage, die sich ohne Berücksichtigung des Unionsrechts ergeben würde, wäre für den Steuerpflichtigen nachteiliger als die, die sich aufgrund des unionsrechtlichen An_____________ 72 Siehe auch BFH v. 29.1.2008 – I R 85/06, BFHE 220, 398, BStBl. II 2008, 671 m. w. N. 73 Siehe die Kritik bei Hey, StuW 2010, 301 (313); vgl. auch Jochum, IStR 2006, 621 (623). 74 So Hey, StuW 2010, 301 (314).

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wendungsvorrangs ergibt, d. h., insgesamt verbessert sich die Lage zugunsten des Steuerpflichtigen.75 Fallgruppe 4: Wegfall der Verpflichtung in Gänze, ohne dass eine andere Regelung an deren Stelle tritt Tritt eine steuerrechtliche Beschränkung nur bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ein, dann hilft dem Rechtsschutzsuchenden bereits der Wegfall dieser faktischen Erschwerung. So im Fall Futura/Singer76: Das Luxemburger Steuerrecht gewährte auch beschränkt steuerpflichtigen Gewerbetreibenden einen Verlustvortrag, sofern die Buchführung in Luxemburg geführt wurde. Das Erfordernis einer Buchführung in Luxemburg stelle nach Ansicht des Gerichtshofs einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit dar, weil es eine zweifache Buchführung, in Luxemburg und dem Sitzstaat, erfordere. Folglich wurde der der luxemburgischen Steuernorm vergleichbare nationale § 50 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. von der deutschen Finanzverwaltung und den Gerichten nicht mehr angewandt. Die Abhilfe zugunsten des Rechtsschutzsuchenden tritt in dieser Fallgruppe bereits mit dem gänzlichen Wegfall der Verpflichtung ein. Eine Erstreckung der den Inlandssachverhalt regelnden Vorschrift auf den Auslandssachverhalt würde keinen Sinn ergeben.

III. Normerhaltende Reduktion im Spannungsverhältnis mit dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Vorbehalt des Gesetzes Die normerhaltende Reduktion durch den BFH steht im Spannungsverhältnis mit dem Gewaltenteilungsprinzip und der durch den Vorbehalt des Gesetzes geschützten Vorhersehbarkeit des steuerlichen Eingriffs. In der Literatur wird teilweise die Ansicht vertreten, dass sich die Rechtsprechung – verfassungsrechtlich dem nationalen Gesetzgeber zustehende – Rechtsgestaltungskompetenz anmaße. Den Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip möge man noch verschmerzen im Hinblick auf einen hypothetischen Willen des nationalen Gesetzgebers, dem die eingeschränkte Anwendung vermutlich lieber sei als die vollständige Nichtanwendung. Nicht gewährleistet sei vor allem die Vorhersehbarkeit des steuerlichen Eingriffs.77 Der europarechtliche Rechtsschutz werde entwertet, weil der Steuerpflichtige der Schlechterstel_____________ 75 So auch M. Lang in Festschrift für Joachim Lang, Köln 2010, 1003 (1023). 76 EuGH v. 15.5.1997 – Rs. C-250/95 – Futura/Singer, Slg. 1997 I, 2492 (2499 ff.). 77 Hey, StuW 2010, 301 (314).

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lung des Auslandssachverhalts nur entgehen könne, wenn er vorsorglich und quasi ins Blaue hinein jene Maßnahmen ergreife, die vom BFH im Nachhinein verlangt werden. So hat z. B. Heike Jochum in einem Aufsatztitel die Frage explizit gestellt: „Gestattet das europäische Unionsrecht eine „geltungserhaltende Reduktion“ des nationalen Steuerrechts?“78 Sie hat dies verneint. Dem wird entgegengehalten, dass es sich nicht um eine freie Rechtsschöpfung, sondern um methodisch gebundene Lückenfüllung handele. Kritisch mit der Rechtsprechung des BFH geht auch Gosch um.79 So führt er aus: „[…] im Irrgarten oftmals etwas sphinxhafter EuGH-Rechtsprechung und instabil gewordenen nationalen Rechts eine Schneise zu finden, die der acteclair-Doktrin Rechnung trägt und ein Höchstmaß an Regelungsbestand im Inland belässt und gleichwohl nicht im methodischen Niemandsland verschwindet. Ein Unterfangen, das kaum zu meistern ist. So ganz wohl ist mir dabei nicht. Vor allem die methodischen Ansätze sind grenzwertig und entspringen eher einer Staatsräson. Verträgt sich eine Regelungslage im Detail nicht mit europarechtlichen Anforderungen, dann greift der Anwendungsvorrang. Ob für eine abschmelzende Normerhaltung Raum bleibt, ist ungewiss. Eigentlich ist die Grenze dessen erreicht, was Rechtsprechung zu leisten in der Lage ist.“

E. Neue Entwicklungen beim Steuerrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Wenn man über das Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte spricht, sollte man den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht vergessen.

I. Allgemeines Der Gerichtshof ist allerdings bei der Begründung steuerlicher Rechte aus der EMRK bislang sehr zurückhaltend.80 Nach der Rechtsprechung des EGMR fallen öffentlich-rechtliche Ansprüche im Rahmen von Streitigkeiten über das Steuerschuldverhältnis nicht in den Schutzbereich des Art. 6 EMRK.81 Ebenso erlangten andere Artikel der EMRK _____________ 78 Jochum, IStR 2006, 621. 79 Gosch, Ubg 2009, 73 (76). 80 Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz, Rz. 63 (Stand: Mai 2011). 81 Siehe ausf. Seer/Krumm, StuW 2006, 346, 348 m. w. N.

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in der Rechtsprechung kaum Bedeutung. Das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK habe nach ständiger Rechtsprechung keine eigenständige Bedeutung und die durch die Besteuerung erfolgenden Eingriffe in das Recht auf Eigentum nach Art. 1 des Zusatzprotokolls werden regelmäßig als gerechtfertigt eingestuft.82 Da das Recht auf Wahl der einkommensteuerlichen Zusammenveranlagung mit der Folge der Anwendung des Splittingtarifs kein von der EMRK anerkanntes Recht darstellt, ist die Versagung dieses Rechts für den Kläger als eingetragenen Lebenspartner nicht völkerrechtswidrig.83

II. Entscheidung des EGMR vom 1.4.2010 – 12852/08 Neue Entwicklungen sind allerdings im Kindergeldrecht zu beobachten. In der Entscheidung des Gerichtshofs vom 1.4.2010 geht es um die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK in Kindergeldsachen nach dem EStG im Fall einer überlangen Verfahrensdauer. In dem zugrunde liegenden finanzgerichtlichen Verfahren machte der Beschwerdeführer einen Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter geltend. Er rügte die Dauer des Verfahrens von über 12 Jahren. Das Verfahren war von den Sozialgerichten an die Finanzgerichte verwiesen worden und durchlief jeweils zwei Instanzen in zwei Gerichtszweigen.84 Nach bisheriger ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehören Steuersachen zum Kernbereich hoheitlicher Befugnisse, wobei der öffentliche Charakter der Beziehung von Steuerzahler und Union überwiegt. Folglich fallen steuerrechtliche Streitigkeiten nicht in den Bereich der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen, obwohl sie notwendigerweise finanzielle Auswirkungen auf den Steuerzahler haben.85 Das Argument der Regierung, bei der Kindergeldsache nach dem EStG handele es sich um eine steuerrechtliche Angelegenheit, die nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK falle, überzeugte den Gerichtshof jedoch nicht. Das nach dem EStG gewährte Kindergeld kann als Sozialleistung charakterisiert werden. Es ging im innerstaatlichen _____________ 82 Vgl. EGMR, NJW-RR 2009, 1606; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz, Rz. 63 (Stand: Mai 2011). 83 Vgl. hierzu auch BFH v. 23.2.2006 – III B 44/05, BFH/NV 2006, 1297. 84 EGMR v. 1.4.2010 – 12852/08, juris. 85 Siehe Ferrazzini ./. Italien, [GK], Individualbeschwerde Nr. 44759/98, Rz. 29, ECHR 2001-VII.

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Verfahren allein um die Frage, ob dem Beschwerdeführer das monatlich gezahlte Kindergeld zustand; die Frage war nicht, ob dem Beschwerdeführer ein noch günstigerer Steuerfreibetrag zustand. Die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf Verfahren über ein solches Kindergeld ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn das Kindergeld – wie im vorliegenden Fall – aufgrund einer steuerrechtlichen Regelung gewährt wird bzw. im Nachhinein aus steuerrechtlichen Gründen ein noch günstigerer Steuerfreibetrag an seine Stelle treten kann.86

III. Anhängige Verfahren und Entscheidungen – Kurze Bestandsaufnahme Aktuell sind vier Verfahren im Bereich der direkten Steuern aus Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig: (1) Zum einen wurde wegen der Nichtgewährung des Haushaltsfreibetrags an Verheiratete nach § 32 Abs. 7 EStG für das Jahr 2003 eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK erhoben.87 Der Beschwerdeführer beruft sich auf das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens und das allgemeine Diskriminierungsverbot. (2) Zum anderen wird im Wege der Individualbeschwerde eine nicht sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung insoweit geltend gemacht, als dass der Entlastungsbetrag nach § 24b EStG zwar Alleinerziehenden gewährt wird, allerdings nicht Steuerpflichtigen, die die Voraussetzungen für eine Ehegattenveranlagung erfüllen.88 (3) Darüber hinaus wendet sich ein Beschwerdeführer mit Einkünften aus nicht selbstständiger Tätigkeit dagegen, dass die Vorschrift zur Steuerfreiheit der Abgeordnetenpauschale des § 3 Nr. 12 EStG nicht auch den Arbeitnehmern zugutekommt.89 (4) In einem weiteren Verfahren wird Rechtsschutz gegen die Pro futuroRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begehrt.90 Mit Beschluss vom 13.2.2008 hat das Bundesverfassungsgericht91 zu den Krankenver_____________ 86 87 88 89 90 91

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EGMR v. 1.4.2010 – 12852/08, juris. Az. beim EGMR 43576/09, juris. Az. beim EGMR 45624/09, juris. Az. beim EGMR 7258/11, juris. Az. beim EGMR 2795/10, juris. BVerfGE 120, 125–168.

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sicherungsbeiträgen entschieden, dass die Regelungen des Sonderausgabenabzugs (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 EStG in den ab dem Veranlagungszeitraum 1997 geltenden Fassungen) verfassungswidrig sind, soweit die erforderlichen Beiträge zu einer privaten Krankheitskostenvollversicherung und einer privaten Pflegepflichtversicherung nicht ausreichend erfasst werden, um dem Steuerpflichtigen und seiner Familie eine sozialhilfegleiche Kranken- und Pflegeversorgung zu gewährleisten. Um allerdings eine geordnete Finanzund Haushaltsplanung zu gewährleisten, hat das Bundesverfassungsgericht eine Fortgeltung der angegriffenen Vorschriften bis spätestens zum 31. Dezember 2009 angeordnet. Gegen diese Fortgeltung wendet sich der Beschwerdeführer.

F. Resümee Diese Darstellung zeigt, dass zwischen den europäischen Gerichten und der nationalen Finanzgerichtsbarkeit ein intensiver Dialog der Richter unter Einbeziehung der Ansichten der steuerberatenden Praxis, der Wissenschaft und aller Rechtsanwender stattfindet. So attestiert Seer92 dem BFH ausdrücklich: „Aus der Rechtsschutzperspektive […] ist anzuerkennen, dass sich der BFH als ‚europäisches Gericht‘ begreift und mit guten Erfolgsaussichten europarechtlichen Rechtsschutz gewährt.“

Das ist ebenso erfreulich wie Stellungnahmen in der Literatur, dass sich der BFH „methodisch auf sicherem Boden bewegt, wenn er das innerstaatliche Recht selektiv unangewendet lässt oder durch Rechtsfortbildung ergänzt, um die Entscheidungen des EuGH umzusetzen“.93

_____________ 92 Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, Europarechtsschutz, Rz. 13 (Stand: Mai 2011). 93 Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, 279 (295).

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Zusammenwirken nationaler und europäischer Gerichte im Steuerrecht Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff Präsident des Bundesfinanzhofs, München

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Mellinghoff, haben Sie ganz herzlichen Dank. Ich habe während Ihres Vortrags an die Zeit vor etwa 10 oder 12 Jahren zurückgedacht. Wir waren damals in der „heißen“ Phase des Europarechts. Der EuGH hatte im großen Umfang angefangen, über Steuerrechtsnormen der verschiedenen Mitgliedstaaten zu entscheiden, weil ihm sehr viele Fragen nach der Bedeutung der Grundfreiheiten für das Steuerrecht vorgelegt worden waren. In diesem Saal hatten wir hitzige Diskussionen, auch ganz grundsätzliche darüber, ob denn eine solche Verlagerung der Entscheidungsgewalt über das Steuerrecht angängig sei. Viele hielten dies für eine schlimme Entwicklung; es wurde geradezu der Untergang des Abendlandes heraufbeschworen. Im Vergleich dazu klang das, was Sie vorgetragen haben, sehr unaufgeregt. Inzwischen sind wir offenbar zur Tagesordnung übergegangen.

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Herr Gosch, betreiben wir nur noch Tagesgeschäft? Sind die durch den EG-Vertrag, heute AEUV, aufgeworfenen dogmatischen Fragen aus Ihrer Sicht weitgehend geklärt oder ist da immer doch noch vieles im Schwimmen? Prof. Dr. Gosch Da schwimmt noch so manches. Es lassen sich zwischenzeitlich sicherlich gewisse Verfestigungen, gewisse Konturen feststellen, unbeschadet der nach wie vor gegebenen Sphinxhaftigkeit vieler EuGH-Entscheidungen – dieses begriffliche Zitat aus meiner Feder1 haben Sie, Herr Mellinghoff, freundlicherweise aufgegriffen. Gleichwohl und trotz dieser Konturen verbleiben immer noch etliche offene Flanken und man muss sich deshalb davor hüten, in der einen oder der anderen Sachfrage allzu leichtfertig eine sogenannte acte-clair-Situation anzunehmen. Das hätte nahezu zwangsläufig einen Versteinerungseffekt zur Folge; dem EuGH würde die Chance genommen, seine Positionen zu überdenken und weiterzuentwickeln. Andererseits sollten bestimmte Fragen aber auch als beantwortet und die Diskussion als beendet angesehen werden können; eine unionsrechtliche Diskussion kann nicht endlos geführt werden. Zuweilen ist die Einschätzung allerdings schwierig. Es ist für den nationalen Richter immer eine gewisse Gratwanderung, ob er eine Sache dem EuGH nun vorlegen will oder – beim BFH – muss, oder ob er durcherkennt. Grund dafür ist, dass der EuGH sich oftmals eben nicht hinreichend klar dazu versteht, ob er seine Rechtsprechung aufgibt, ob er sie modifiziert oder ob er sie weiterentwickelt. Das lässt sich den EuGH-Entscheidungen oft nicht hinreichend klar entnehmen. Das Ganze bewegt sich immer ein bisschen in Richtung Kaffeesatzlesen. Auf dieser Erkenntnisbasis sogleich zum ersten Punkt: Herr Mellinghoff, ich habe Sie so verstanden und das habe ich mir auch vor Kurzem selbst noch einmal klargemacht: Grundsätzlich bleibt es wohl dabei, dass das BVerfG dem Fachgericht eine Art Wahlfreiheit gibt, entweder nach Art. 100 GG im Wege einer Normenkontrolle zum BVerfG vorzugehen oder aber ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Das entnehme ich jedenfalls der Entscheidung, die gegen das FG Sachsen-Anhalt ergangen ist.2 Aber diese Wahlfreiheit wird wohl dann zurückgefahren, wenn man sich der unionrechtlichen Frage nicht sicher sein kann oder sich ihrer nur dann sicher sein kann, wenn der EuGH _____________ 1 Ubg 2009, 73. 2 BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, DStR 2011, 2141.

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dem nationalen Gesetzgeber einen hinreichenden Gestaltungsspielraum belässt. Belässt er einen solchen Spielraum und ist man sich dessen gewiss, dann kann man das bei der Vorlage an das BVerfG im Rahmen des Art. 100 GG als Vorfrage im Rahmen der Entscheidungserheblichkeit dartun. Weiß man nicht genau, ob ein solcher Gestaltungsspielraum in Rede steht, dann ist das nationale Fachgericht gehalten, zunächst an den EuGH heranzutreten und dessen Entscheidung einzuholen. Mit anderen Worten: In der letzteren Situation besteht für ein Gericht eine Vorlageverpflichtung, und zwar auch für ein unterinstanzliches Gericht, unbeschadet dessen, dass Art. 267 AEUV insoweit keine Pflicht statuiert. Erst nach Einholung des EuGH-Votums ist dann der Rechtsweg in der gebotenen Weise ausgeschöpft, um eine Normenkontrolle zu rechtfertigen. Wie verhält sich dieses Rangverhältnis nun aber zu der schon angesprochenen acte-clair-Doktrin und zu dem Gebot des „gesetzlichen Richters“? Da bin ich mir nicht ganz darüber im Klaren, wie das BVerfG vorgeht. In der Molkenbuhr-Entscheidung3 von vor zwei Jahren hat man relativ harte Bandagen angezogen. Das BVerfG hat dort gesagt, es sei nicht nur das Willkürverbot, das das nationale Gericht in dieser Situation vor Augen haben müsse. Es müsse bei Absehen von einem EuGH-Vorabentscheidungsersuchen nach Auswertung des Gemeinschaftsrechts eine vertretbare Begründung dafür geben, dass die richtige Antwort auf die maßgebliche Rechtsfrage durch den EuGH bereits entschieden oder dass die Antwort offenkundig ist. Um eine acteclair-Situation anzunehmen, müsse das Gericht sich sicher sein, dass in allen Gerichten aller Nationalstaaten, aller Mitgliedstaaten diese Entscheidung auch so getroffen worden wäre, wie das nationale deutsche Gericht dies für richtig hält. In der Mangold-Entscheidung4 hat man das aus meiner Sicht dann wieder relativiert; das BVerfG hat darin in der Abgrenzung zwischen einem acte clair und der verbotenen Grenzüberschreitung ultra vires doch einen recht großen Spielraum belassen. Ich wäre dankbar, wenn dieser Punkt in unserer Diskussion noch etwas vertieft werden könnte. Den nächsten Stichpunkt, Herr Mellinghoff, haben Sie anhand der Rechtsprechung des I. Senats entwickelt. Es geht um die geltungserhaltende Reduktion oder das abschmelzende Hineinlesen oder was sonst für wunderbare Begriffe verwendet werden, um die Staatsraison zu ihrem Recht kommen zu lassen, und man im Ergebnis eigentlich nur verhin_____________ 3 BVerfG v. 6.5.2008 – 2 BvR 2419/06. 4 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286.

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dern will, dass ein völliges Leerlaufen der Besteuerung produziert wird. Die Zweifel, die man daran haben mag, gründen in der Frage, ob ein Fachgericht sich mit diesem Vorgehen nicht doch allzu weit in den Bereich des Gesetzgebers hineinbewegt, jedenfalls über seine eigentliche Aufgabe der Gesetzesauslegung hinausgeht. Es mag zwar noch angehen und einleuchten, wenn die angegriffene nationale Norm infolge des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs schlicht unanwendbar bleibt. Die Dinge gestalten sich aber deutlich komplexer, wenn ein Gericht diese Norm umdefinieren oder in diese Norm etwas ganz anderes als das, was da drinsteht, abschmelzend „hineinlesen“ muss, um dem Anwendungsvorrang zu genügen. Solche Bedenken habe ich persönlich vor allen Dingen dann, wenn es sich um steuerliche Subventionen oder Sozialzwecknormen handelt. Denn bei Subventionsnormen hat das zur Folge, dass jedes „kleine“ Gericht ebenso wie jedes Bundesgericht das Füllhorn einer Steuervergünstigung auf alle ausgießt, auf alle – auch auf jene, die kraft Normbefehls davon an sich ausgeschlossen sind. Das muss man sich vor Augen führen. Oder aber das nationale Gericht verweigert sich einer solchen Eigenmacht schlicht dadurch, dass es die unionsrechtlichen, grundfreiheitlichen Anforderungen schlicht ausblendet. So hat der IX. Senat des BFH5 – noch vor Ihrer Zeit als dessen Vorsitzender, Herr Mellinghoff – aus meiner Sicht eine sehr mutige und eher kritisch zu sehende Entscheidung getroffen. Es soll danach aus Unionsrechtssicht unbeanstandet bleiben, dass durch die Eigenheimzulage – Stichwort: Sozialzwecknorm – nur Inlandswohnraum begünstigt wird. Das ruft zumindest Widerspruch und einiges Stirnrunzeln hervor. Aber von einer derartigen „umgekehrten Eigenmacht“ einmal abgesehen: Ich habe mit Interesse letzte Woche gelesen, dass das BVerfG6 sich besagtem Anwendungsvorrang jetzt selber unterwirft. Das Gericht hat nämlich eine unionrechtswidrige Grundgesetznorm erkannt, und zwar in Art. 19 Abs. 3 GG, der den Grundrechtsschutz nach seinem klaren Wortlaut nur auf inländische juristische Personen erstreckt. Das hält das BVerfG – wohl zu Recht – nicht mehr für unionsrechtskonform und das sieht er zugleich als so klar an, dass es einer EuGH-Vorlage nicht bedürfe. Man höre: Auch das BVerfG hätte andernfalls aber wohl nach Art. 267 AEUV verfahren müssen. Zum Stichwort der Inländerdiskriminierung: Mit der sog. Inländerdiskriminierung kommt ein heikler Punkt ins Spiel. Es dünkt schon _____________ 5 BFH v. 20.10.2010 – IX R 20/09, BFH/NV 2011, 467. 6 BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BFH/PR 2012, 142.

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seltsam, wenn der Ausländer besser behandelt wird als der Inländer. Und deshalb ist einer solchen Situation eigentlich Art. 3 GG auf die Stirn geschrieben, aber der BFH7 hat da bislang eher vorsichtig taktiert und angenommen, es handele sich um verschiedene normsetzende Urheber – hier den deutschen Bundestag, dort die EU – und der eine müsse sich nicht die Rechtssetzung des anderen als gleichheitsverletzend zurechnen lassen. Ich bin skeptisch, ob das auf Dauer wirklich so stehen bleiben kann. Praktische Beispiele gibt es jedenfalls zuhauf: die doppelte Buchwertverknüpfung, der EAV, wenn er denn tatsächlich unionsrechtswidrig ist, usf. Das Letzte, was ich noch ansprechen möchte, hat einen ausländischen Bezug und stellt eine Verbindung zum Vortrag von Herrn Lang her. Es geht um eine Rechtslage in Österreich. Sie betrifft das österreichische EStG, dort in § 3, und das, was dort geregelt ist, deckt sich im Kern mit dem deutschen Auslandstätigkeitserlass8. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden unter bestimmten Voraussetzungen keiner Besteuerung unterworfen, wenn es sich um einen inländischen Arbeitnehmer handelt, der von einem inländischen Arbeitgeber in das Ausland „auf Montage“ geschickt wird. Wegen des strikten Inlandsbezugs droht wiederum die Unionsrechtswidrigkeit. Das hatte auch der Österreichische Verwaltungsgerichtshof so erkannt und er hat – unter Annahme einer acte-clair-Situation – entsprechend entschieden. Damit aber nicht genug: Zugleich hat er die Sache dem Österreichischen Verfassungsgerichtshof vorgelegt9 und einen Gleichheitsverstoß gerügt. Die Begründung lautet wie folgt: Wird die inkriminierte Regelung geltungserhaltend ausgeweitet und erstreckt sie sich nicht nur auf inländische Arbeitnehmer inländischer Arbeitgeber, sondern auch auf ausländische Arbeitnehmer ausländischer Arbeitgeber, dann ist die Norm ihres Sinns – der steuerlichen Förderung bestimmter Auslandstätigkeiten mit Inlandsbezug – beraubt. Der Schutz des inländischen Arbeitsmarktes ist dann gar nicht mehr gewährleistet. Die Begünstigung ist dann aber willkürlich, sie ist nicht mehr folgerichtig ausgestaltet und gewissermaßen „telos-frei“. Das Ganze ist gegenüber einem Arbeitnehmer, der im Inland für einen inländischen Arbeitgeber arbeitet, gleichheitswidrig. Und was tut nun das oberste österreichische Verfassungsgericht? _____________ 7 Z. B. BFH v. 15.7.2005 – I R 21/04, BStBl. II 2005, 716; v. 19.10.2011 – X R 48/09, BStBl. II 2012, 200. 8 BMF v. 31.10.1983 – IV B 6 - S 2293 - 50/83, BStBl. I 1983, 470. 9 Österr. VwGH v. 22.3.2010 – A 2010/0013.

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Das stimmt dem vorlegenden Gericht zu und hält die Steuerbefreiung allgemein für unanwendbar.10 Denkt man an das zu Ende, dann öffnet sich ein weites Feld. Auch in Deutschland haben wir mit Gewissheit einige ähnliche Regelungen, ich verweise nur nochmals auf die Eigenheimzulage, die bei richtigem Verständnis wohl doch unionsrechtswidrig ausgestaltet war. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Gosch. Herr Müller-Gatermann, ist die Finanzverwaltung inzwischen im Frieden mit den europarechtlichen Entwicklungen? Müller-Gatermann Ja, ich erinnere mich natürlich auch noch an heftige Diskussionen, als der EuGH oder auch einige nationale Gerichte die Grundfreiheiten für sich entdeckt hatten und quasi jeder Schuss ein Treffer in Luxemburg war. Das hat sich in der Tat völlig beruhigt. Das ging allerdings teilweise auch so weit, dass wir in England bei einer Zusammenkunft mit allen Mitgliedstaaten überlegt haben, was wir mit der EuGH-Rechtsprechung machen. Die Bulgaren und die Rumänen waren auch schon dabei, obwohl sie noch offiziell nicht Mitgliedstaaten waren. Es waren nicht nur die deutschen Haushalte, die in Gefahr gerieten. Entscheidend ist, dass der EuGH zuletzt durch den Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Steuerhoheit die nationalen Gemüter beruhigt hat. Das muss man, glaube ich, schon sagen. Ich meine, wir haben jüngst ein paar interessante Entscheidungen, aus denen wir Konsequenzen ziehen müssen, etwa die Streubesitzentscheidung11 oder die Entscheidung zur Exit Taxation12 von vorgestern, die uns natürlich auch interessiert, obwohl es niederländisches Recht ist. Aber da müssen wir wahrscheinlich auch Konsequenzen daraus ziehen. Prof. Dr. Lüdicke Die Frage der Exit Taxation, der Entstrickungsbesteuerung, sollten wir heute Nachmittag diskutieren. _____________ 10 Österr. VfGH v. 30.9.2010 – G 29/10-6, G 30/10-6, G 31/10-6, G 32/10-6, G 33/ 10-6, G 49/10-8, G 50/10-6, G 51/10-6, AFS 10/2010. 11 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09 – Kommission ./. Deutschland, FR 2011, 1112. 12 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus B.V., FR 2012, 25.

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Müller-Gatermann Natürlich ist da die Diskussion zum AOA in der OECD. Da muss man darüber nachdenken, wie das mit der Exit Taxation zusammengeht. Manches ist natürlich, Herr Lüdicke, wie das auch schon gesagt wurde, im Fluss, z. B. die finalen Verluste, das ist ganz klar. Eine Frage, die geht auch ein bisschen in Richtung dessen, was Herr Gosch gesagt hat, betrifft die Inländerdiskriminierung. Ich frage mich in der Tat, wie trotz dieser loyalen Zusammenarbeit, die Herr Mellinghoff angesprochen hat, am Beispiel der besonderen Dokumentationspflichten, die z. B. den deutschen Steuerpflichtigen, der im Ausland tätig ist, besonders belasten, das Zusammenspiel zwischen EuGH und BVerfG funktioniert. Der EuGH kommt jetzt nur mal fiktiv dazu, dass es da keine Rechtfertigung für gibt, das sei Verletzung der Grundfreiheiten. Dann wäre jetzt der deutsche Gesetzgeber gefordert, an dieser Stelle tätig zu werden. Jetzt allerdings taucht ein Problem auf, Vollzugsdefizite, Inländerdiskriminierung, möglicherweise ein Verfassungsverstoß. Da frage ich mich, würde sich dann das BVerfG wegducken und sagen, dass das eben noch gerade im Rahmen einer loyalen Zusammenarbeit geht, oder könnte dann das Verfassungsgericht sagen, wenn ich hier diese Dokumentationspflichten für grenzüberschreitende Vorgänge aus EU-rechtlicher Sicht wieder abschaffen müsste, dann habe ich einen Verfassungsverstoß. Was gilt denn nun? Das ist für mich eine spannende Frage. Es ist sicherlich ein fiktiver Fall. Ich hoffe, es kommt nie zu einer solchen Kollision. Aber ausschließen möchte ich sie nicht. Dr. Loschelder Ich knüpfe gleich an die letzte Frage an: Was gilt denn nun? Wie geht man auf der Ebene der Finanzgerichte mit dem Nebeneinander von nationaler Gesetzesbindung einerseits und europarechtlichem Anwendungsvorrang andererseits um? Die Konsequenzen, die sich aus diesem Nebeneinander ergeben, sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Handlungsspielräume, die dem Richter jeweils eingeräumt werden, sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Halten wir ein Steuergesetz für verfassungswidrig, müssen wir die entsprechende Norm dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, im Wege der konkreten Normenkontrolle. Es gilt das sog. Verwerfungsmonopol des BVerfG. Der einfache Fachrichter darf nicht selbst über die Nichtanwendung bzw. die Nichtgeltung einer Norm entscheiden. Halten wir dagegen ein Steuergesetz für unionsrechtswidrig, gilt der Anwendungs77

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vorrang des Unionsrechts. Die jeweilige Norm ist nicht anzuwenden – und darüber entscheiden die nationalen Gerichte selbst. Das Unionsrecht gibt uns Fachrichtern also weitaus mehr Kompetenzen – und damit auch mehr Verantwortung – als die nationale Rechtsordnung. Zu welchen Konstellationen das führen kann, möchte ich gerne an einem Beispiel verdeutlichen: Der Zollsenat des FG Hamburg hatte vor einigen Jahren über die Rückforderung einer Ausfuhrerstattung zu entscheiden. Es ging konkret um die Verjährungsfristen für den Rückforderungsanspruch der Zollverwaltung13. Der Zollsenat ging zugunsten der Klägerin von einer kurzen Verjährungsfrist aus, gab der Klage statt und hob den damit verjährten Rückforderungsbescheid der Zollverwaltung auf. Der BFH ließ die Revision zu und rief den EuGH in einer Reihe von Fragen an, die sich allerding nicht auf die konkrete Dauer der Verjährungsfrist bezogen.14 Der EuGH beantwortete die aufgeworfenen Fragen.15 Und der BFH kam in der Folge auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis, dass im Streitfall von einer langen Verjährungsfrist auszugehen sei und hob die erstinstanzliche Entscheidung des FG Hamburg auf.16 Allerdings konnte der BFH nicht durchentscheiden, weil im Hinblick auf die von ihm vertretene Rechtsauffassung noch weitere Tatsachenfeststellungen zu treffen waren. Also musste der BFH den Streitfall zurückverweisen nach Hamburg. Was passierte nun? Die Kollegen des Zollsenats gelangten im 2. Rechtsgang zu der Auffassung, dass die konkrete Dauer der Verjährungsfrist eine europarechtliche Frage sei, und legten das Ganze erneut dem EuGH vor. Der EuGH stellte fest: Ja, ihr habt Recht! Und also gab das Finanzgericht der Klage im Juni 2011 – entgegen der Revisionsentscheidung des BFH – erneut statt.17 Dieses Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Der Vorrang des Unionsrechts hat hier also dazu geführt, dass die Bindung des Instanzgerichts nach § 125 Abs. 6 FGO an die rechtlichen Vorgaben des Revisionsgerichts ausgehebelt worden ist. Jetzt kann man sich fragen: Ist das die natürliche Folge der mangelnden Abgestimmtheit der unterschiedlichen Rechtssysteme? Stellt das Nebeneinander von nationaler und europäischer Rechtsordnung unsere gericht_____________ 13 FG Hamburg v. 21.4.2005 – IV 174/03, juris. 14 BFH v. 27.3.2007 – VII R 24/06, BFH/NV 2007, 1726. 15 EuGH v. 29.1.2009 – verbundene Rs. C-278/07 bis C-280/07 – Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., Slg. 2009, I-00457, HFR 2009, 534. 16 BFH v. 7.7.2009 – VII R 23/06, HFR 2010, 301. 17 FG Hamburg v. 22.6.2011 – 4 K 80/11 (rkr.), juris.

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liche Kompetenzordnung infrage? Oder hat der EuGH es schlicht versäumt, sich mit dieser Problematik zu befassen? Man hätte auch die Auffassung vertreten können, dass eine erneute Vorlage in einem solchen Fall unzulässig ist, weil das Revisionsgericht auch abschließend über alle europarechtlichen Fragen entscheidet. Jedenfalls ist dies ein weiterer Beleg dafür, was Sie, Herr Mellinghoff, angeführt haben: Dass es nicht mehr unbedingt auf den herkömmlichen hierarchischen Instanzenzug ankommt, sondern stattdessen auf eine funktionale Zusammenarbeit der Gerichte. Das löst dann allerdings unser bisheriges Verständnis von der Kompetenzstruktur der Gerichtsbarkeit auf. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Loschelder. Vielleicht noch eine Ergänzung zu diesem in der Tat auf den ersten Blick etwas eigenartigen Hamburger Fall. Am 20.10.2011 hat der EuGH in der Sache Interedil Srl18 ausdrücklich entschieden, dass eine erneute Vorlage an den EuGH durch ein Finanzgericht oder durch ein unterinstanzliches Gericht aus europarechtlicher Sicht zwingend ist, wenn das Gericht der Meinung ist, dass es ansonsten gegen die richtige, die materiell richtige Anwendung des Europarechts verstoßen müsste. Das heißt also, die Bedenken, die Sie haben, sind aus der Sicht des deutschen Revisionsrechts sicherlich berechtigt, aber der EuGH hat genau für eine solche Situation entschieden, dass er es für zwingend hält, entweder nach dem acte-clair-Grundsatz gegen die Revisionsentscheidung durchzuentscheiden oder gegen die Revisionsentscheidung nochmal vorzulegen. Bernhardt Ich habe heute eines für mich mitgenommen, nämlich dass der Spielraum der nationalen Gerichte deutlich größer ist als ich das bislang für mich abgespeichert hatte. Ich muss zugeben, dass ich mich im Tagesgeschäft nicht so intensiv mit diesen Fragestellungen beschäftige. Ich glaube, gerade der Beispielsfall, den Sie, Herr Loschelder, gerade aufgezeigt haben, macht das deutlich. Und es ist natürlich für den Steuerpflichtigen auch schwierig herauszufinden, worauf er sich dann einstellen muss. _____________ 18 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 – Interedil, ZIP 2011, 2153.

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Der zweite Punkt, den wir hier diskutiert haben, ist die von Herrn Müller-Gatermann aufgeworfene Frage: Was passiert eigentlich in Ihrem fiktiven Fall, der vielleicht gar nicht so fiktiv ist, wenn die Dokumentationspflichten wieder abgeschafft werden? Da stellt sich für den Steuerpflichtigen die Frage, worauf er sich dann einstellen muss. Wir erleben natürlich oft, dass etwas als Reflex auf uns zurückkommt und Planbarkeit und Strukturen tangiert. Solche Themen wie Dokumentationsanforderungen verursachen schon einen erheblichen administrativen Aufwand. Da stellt sich natürlich auch die Frage, ob man dann vorsorglich schon in anderen Bereichen Strukturen aufbaut, um auch Nutznießer möglicher, für den Steuerpflichtigen positiver Entscheidungen der Gerichte zu sein. Prof. Dr. Schön Ganz herzlichen Dank auch von meiner Seite an Herrn Mellinghoff für diese umfassende Darstellung, die doch zeigt, dass inzwischen ein recht konsolidierter Stand vorhanden ist. Ich will nur auf einen Punkt nochmal eingehen. Das ist die Frage, welche Rechtsfolge eigentlich eintritt, wenn ein Gleichheitsverstoß im europäischen Sinne eingetreten ist oder festgestellt worden ist. Da haben wir m. E. einen Unterschied zwischen Art. 3 des Grundgesetzes und den Gleichheitsgeboten europäischer Art. Bei Art. 3 GG, beim gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss oder bei der gleichheitswidrigen Belastung ist in der Tat im Prinzip offen, ob die Begünstigung auf alle erstreckt wird oder die Belastung auf alle erstreckt wird. Da sagt der Art. 3 GG nichts zu. Das europäische Recht ist anders: Die Grundfreiheiten kennen einen Regelfall und einen Ausnahmefall. Der Regelfall ist die Inländerbehandlung. Nach den Grundfreiheiten kann verlangt werden, dass der grenzüberschreitende Sachverhalt so behandelt wird wie der inländische Sachverhalt. Das bedeutet für mich auch, Herr Gosch, darüber haben wir früher schon mal diskutiert: Wenn für Inlandssituationen bestimmte Begünstigungen ausgesprochen worden sind, etwa hier das Beispiel, das bereits diskutiert worden ist, mit der Investitionszulage oder Eigenheimzulage, dann muss im Prinzip, wenn eine Diskriminierung festgestellt worden ist, dieser Regelfall auf den Auslandssachverhalt erstreckt werden. Ob der Gesetzgeber sich dann pro futuro entscheidet, das dann insgesamt abzuschaffen oder einzuschränken, wie er das etwa mit den Betragsgrenzen beim Schulgeld getan hat, ist dann wieder eine völlig andere Sache. Da ist der Gesetzgeber nicht 80

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gebunden. Ein anderer Fall, gewissermaßen der umgekehrte Fall, ist aus meiner Sicht der Fall der unionsrechtswidrigen Beihilfe. Da ist gewissermaßen die Beihilfe die Ausnahme. Und die Beihilfe ist das, was abgeschafft werden muss und was dementsprechend auch verwaltungsverfahrensrechtlich und gerichtlich nachvollzogen werden muss. Darauf wird Herr Lang in seinem Referat noch eingehen. Auch da haben wir eine relativ klare europarechtliche Aussage, wo es mit der Beseitigung der Diskriminierung hingehen soll. Insoweit glaube ich, dass hier eine stärkere Anleitung für das gegeben ist, was die Gerichte tun sollen, als es bei der verfassungsrechtlichen Situation des Art. 3 GG der Fall ist. Prof. Dr. Gosch Ganz kurz zu Herrn Schön. Ich sehe es im Ergebnis genau wie Sie. Das Problem, das ich bei Subventionsnormen habe, ist nur, ob man das kompetenziell nicht doch beim BVerfG ansiedeln müsste. Dass die Richterkollegen dort dann eben den nämlichen Schluss ziehen und die Subvention auf alle ausweiten, nun, das mag so sein und vielleicht muss es das auch. Nur ist die Situation eben keine andere, wenn ein Instanzgericht eine Steuersubvention losgelöst vom Unionsrecht als gleichheitswidrig einschätzt. Auch dann muss das BVerfG eingeschaltet werden und niemand käme auf den Gedanken, dass das Instanzgericht von sich aus durcherkennen könnte. Weshalb das beim unionsrechtlichen Anwendungsvorrang anders sein müsste, erschließt sich mir nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres. Prof. Dr. Schön Aber das BVerfG kann doch nur über die Verfassungsfragen urteilen und hier ist das Problem ein europarechtliches? Prof. Dr. Gosch Ja, aber ist es dann nicht doch eines auch des Art. 3 GG? Prof. Dr. Lüdicke Das letzte Wort hat der Präsident, Herr Mellinghoff.

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Prof. Dr. Mellinghoff Vielen Dank. Lassen Sie mich ganz kurz zu der Frage des Willkürmaßstabs oder nicht beim BVerfG eingehen. Die Kammer des I. Senats hat hier einen etwas strengeren Maßstab angewendet. Er ist ausdrücklich in der Honeywell19Entscheidung, ich will nicht sagen verworfen worden, aber es ist doch dahingehend präzisiert worden, dass der Willkürmaßstab anzuwenden ist. Infolgedessen hat sich dann auch der I. Senat in einer Senatsentscheidung ausdrücklich nochmal der Honeywell-Entscheidung angeschlossen.20 Man muss sich auch die Folgen überlegen, wenn das BVerfG in jedem einzelnen Fall, und das betrifft ja nicht nur das Steuerrecht, sondern die gesamte Rechtsordnung, die Europarechtsfrage nicht nur auf Willkür, sondern auch auf die Richtigkeit der einfachrechtlichen Auslegung hin überprüfen würde und dann im Einzelfall an die Stelle des jeweiligen Fachgerichts tritt. Für das Verfassungsgericht muss schon eine gewisse Evidenz vorliegen, die das BVerfG mit Willkürmaßstab gekennzeichnet hat. Zu der Frage der europarechtskonformen Auslegung möchte ich nur sagen, dass dies eine Frage des Zusammenwirkens der europäischen Rechtsordnung und der nationalen Rechtsordnung ist. Das BVerfG bemüht sich, die Frage, ob nach europäischem Recht ein Gestaltungsspielraum für den deutschen Gesetzgeber besteht oder nicht, dorthin zu bringen, wo sie entschieden werden muss. Allerdings geschieht dies nicht durch eine eigene Vorlage des BVerfG an den EuGH, sondern durch eine Verpflichtung der Instanzgerichte, die entsprechende Frage dem EuGH vorzulegen. Auch das hat natürlich einen Verfahrensbeschleunigungseffekt. Das BVerfG muss nicht noch eine eigene Vorlageentscheidung treffen, sondern das jeweilige Fachgericht soll unmittelbar den EuGH anrufen. Die Inländerdiskriminierung ist eine Frage, bei der sich das BVerfG mit Sicherheit nicht „wegducken“ würde, sondern es wäre eine spannende Frage, was passieren würde, wenn ein solcher Fall an das BVerfG gebracht werden würde. Ich würde das sehr begrüßen, und zwar auch deswegen, um diese Frage einmal verfassungsdogmatisch klären zu lassen. _____________ 19 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286. 20 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, BVerfGE 128, 157, HFR 2011, 585.

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Was hat Art. 3 GG für eine Wirkung in diesen Fragen? Das ist nicht entschieden. Und ein Letztes zu der Anregung von Herrn Gosch: Das BVerfG möchte doch sozusagen die normerhaltende Auslegung, oder wie auch immer diese wunderschönen Wortschöpfungen der kreativen Weitergeltung des Gesetzes heißen, beschließen. Das ist m. E. nicht Aufgabe des BVerfG, sondern des Gesetzgebers. Das Gewaltenteilungsprinzip sieht nicht vor, dass das BVerfG gesetzesschöpferisch tätig wird. Deswegen ist es in der Tat so, dass beim Anwendungsvorrang alle Gerichte die Möglichkeit haben, dieses durchzusetzen. Und wenn man in andere Rechtsordnungen und in andere Länder schaut, dann ist es nicht notwendigerweise so, dass ein oberstes Bundesgericht die Linie vorgibt. Auch da arrangiert man sich etwas. Ich denke mal, damit wird man in dieser Form weiterleben müssen und nur hoffen, dass es nicht zu allzu großen Friktionen kommt.

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Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang* Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, WU Wien

Inhaltsübersicht A. Der unionsrechtliche Begriff der Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 B. Die Entscheidung der Kommission zu § 8c KStG . . . . . . . . . . . . . 91 C. Die Diskussion um das maßgebende „Referenzsystem“ . . . . . . 93

D. Die Selektivitätsprüfung als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 97 E. Das EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar . . . . . . 103 F. Würdigung und Ausblick . . . . . . 115

A. Der unionsrechtliche Begriff der Beihilfe Im Mittelpunkt des unionsrechtlichen Beihilferechts steht Art. 107 Abs. 1 AEUV: „Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“ Beihilfen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Begünstigten einen unentgeltlichen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen1. Als Beihilfen kommen nicht nur Zuschüsse, sondern auch Steuerermäßigungen _____________ * Frau Mag. Martina Gruber danke ich herzlichst für die Unterstützung bei der Literaturrecherche, der Erstellung des Anmerkungsapparats, der Fahnenkorrektur und vor allem für wertvolle Anregungen. 1 Zu den Kriterien M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftlichen Beihilfenrechts auf das Steuerrecht, 17. ÖJT, Gutachten, Band IV/1, 2009, 10 ff.; Jaeger, Steuerliche Maßnahmen, in Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Band 3, Beihilfenund Vergaberecht, 2011, Rz. 4 ff.; Heidenhain, in Heidenhain (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, 2003, § 4 Rz. 1 ff.

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und Steuerbefreiungen in Betracht. Es kann keinen Unterschied machen, ob ein Mitgliedstaat ein Unternehmen der gewöhnlichen Abgabenlast unterwirft und ihm danach einen Zuschuss zukommen lässt oder ob er ihm von vornherein niedrigere Steuern vorschreibt2. Ebenso wenig kann es darauf ankommen, ob eine Steuerbefreiung vorliegt oder ob der Steuertatbestand so eng umschrieben wird, dass gar keine Befreiung erforderlich ist. Dies ist lediglich eine Frage der Gesetzestechnik3. Daher kann auch bereits die gesetzliche Umschreibung des Besteuerungsgegenstands eine Beihilfe bewirken4. Die aus dem früheren Art. 87 EGV und nunmehrigen Art. 107 AEUV abgeleiteten Kriterien, die GA Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rs. C-222/07, UTECA illustrativ zusammengefasst hat, sind daher auch dann heranzuziehen, wenn die maßgebenden gesetzlichen Vorschriften zum Steuerrecht gehören5: „Die Qualifizierung einer Maßnahme als Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags setzt voraus, dass jedes der vier kumulativen Kriterien erfüllt ist, auf denen Art. 87 Abs. 1 EG aufbaut (…). Dabei handelt es sich um die Finanzierung der Maßnahme durch den Staat oder aus staatlichen Mitteln (erstes Kriterium), das Vorliegen eines Vorteils für ein Unternehmen (zweites Kriterium), die Selektivität der Maßnahme (drittes Kriterium) und die Beeinträchtigung des

_____________ 2 Vgl. M. Lang, Die gesetzwidrige Begünstigung von Steuerpflichtigen als gemeinschaftsrechtswidrige Beihilfe?, in Beiser (Hrsg.), Ertragssteuern in Wissenschaft und Praxis, FS Doralt, 2007, 233 (234), mit Verweis auf Sutter, Beihilfen im materiellen Steuerrecht – Steuergesetze und Verwaltungshandeln der Steuerbehörden im Spannungsfeld zum EG-Beihilfenverbot, in Studiengesellschaft WiR (Hrsg.), Beihilfenrecht, 2004, 37 (37 f.); Jann, Nationale Steuern und das EG-Beihilfenverbot – ein Überblick, in Monti u. a. (Hrsg.), Wirtschaftsrecht und Justiz in Zeiten der Globalisierung, FS Baudenbacher, 2007, 419 (423 ff.); Jaeger, in Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Rz. 4 ff.; vgl. auch EuGH v. 23.2.1961 – Rs. 30/59 – De Gezamenlijke Steenkolenmijnen, Slg. 1961, Rz. 3 und 43; v. 15.3.1994 – Rs. C-387/92 – Banco Exterior de España, Slg. 1994, I-877, Rz. 13 f. 3 Vgl. Ruppe, Die Ausnahmebestimmungen des Einkommensteuergesetzes, 1971, 28 ff.; Stoll, Das Steuerschuldverhältnis in seiner grundlegenden Bedeutung für die steuerliche Rechtsfindung, 1972, 104; M. Lang, Doppelbesteuerungsabkommen und Innerstaatliches Recht, 1992, 75 f. 4 Vgl. M. Lang, Die Besteuerung von Körperschaften des öffentlichen Rechts aus dem Blickwinkel des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfenrechts, in König/Schwarzinger (Hrsg.), Körperschaften im Steuerrecht, FS Wiesner, 2004, 237 (240), mit Verweis auf EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-295/97 – Piaggio, Slg. 1999, I-3735. 5 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 4.9.2008 – Rs. C-222/07 – UTECA, Slg. 2009, I-1407, Rz. 122.

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Handels zwischen Mitgliedstaaten mit daraus resultierender Verfälschung des Wettbewerbs (viertes Kriterium).“

Nach dem ersten Kriterium sind jene Beihilfen unzulässig, die staatlich oder aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Neben den von Gebietskörperschaften eingeräumten Begünstigungen können daher auch Beihilfen, die von anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts finanziert werden, unter das Verbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV fallen6. Nach ständiger Rechtsprechung darf nicht danach unterschieden werden, ob eine Beihilfe direkt vom Staat oder von einer öffentlichen oder privaten Einrichtung gewährt wird, die vom Staat dazu bestimmt oder errichtet wurde7. Entscheidend ist für die Beihilfeeigenschaft, dass Vergünstigungen „zum einen unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden und zum anderen dem Staat zuzurechnen sind“8. Der Beihilfebegriff umfasst die einem Unternehmen gewährten Vorteile. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH umfasst der Begriff des Unternehmens im Wettbewerbsrecht jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung9. Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten10. Der Umstand, dass eine Einheit mit bestimmten im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben betraut ist, hindert nicht daran, _____________ 6 Dazu schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 10. 7 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-345/02 – Pearle, Slg. 2004, I-7139, Rz. 34; v. 7.6.1988 – Rs. 57/86 – Griechenland/Kommission, Slg. 1988, 2855, Rz. 12; v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 – PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099, Rz. 58; v. 20.10.2003 – Rs. C-126/01 – GEMO, Slg. 2003, I-13769, Rz. 23. 8 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-345/02 – Pearle, Slg. 2004, I-7139, Rz. 35; v. 21.3.1991 – Rs. C-303/88 – Italien/Kommission, Slg. 1991, I-1433, Rz. 11; v. 16.5.2002 – Rs. C-482/99 – Frankreich/Kommission, Slg. 2002, I-4397, Rz. 24; v. 20.10.2003 – Rs. C-126/01 – GEMO, Slg. 2003, I-13769, Rz. 24. 9 Vgl. u. a. EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90 – Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Rz. 21; v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751, Rz. 77; v. 12.9.2000, verbundene Rs. C-180/98 bis 184/98 – Pavlov et al., Slg. 2000, I-6451, Rz. 74; v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 – Wouters, Slg. 20052, I-1577; Rz. 46 f.; v. 10.1.2006 – Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Slg. 2006, I-289, Rz. 107; v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843. 10 EuGH v. 16.6.1987 – Rs. C-118/85 – Italien/Kommission, Slg. 1987, 2599, Rz. 7; v. 18.6.1998 – Rs. C-35/96 – Italien/Kommission, Slg. 1998, I-3851, Rz. 36; v. 12.9.2000, verbundene Rs. C-180/98 bis 184/98 – Pavlov et al, Slg. 2000, I-6451, Rz. 75; v. 10.1.2006 – Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Slg. 2006, I-289, Rz. 108; v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843.

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die fraglichen Tätigkeiten als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen11. Rechtsträger, die gegründet wurden, um bestimmte Forschungstätigkeiten auszuüben, fallen daher ebenfalls unter den Unternehmensbegriff12. Wer von der öffentlichen Hand gegründet wurde, kann ebenfalls Unternehmer sein13. Aufgrund des Umstands, dass der Begriff des Unternehmens unionsrechtlich zu interpretieren ist, wäre es Zufall, wenn die Grenzen des unionsrechtlichen Unternehmensbegriffs exakt so verlaufen wie jene zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Einkünften auf dem Gebiet des Einkommensteuerrechts. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass der Unternehmensbegriff in bestimmten Fällen auch Tätigkeiten erfasst, die für ertragsteuerliche Zwecke den außerbetrieblichen Einkunftsarten wie jener aus Vermietung und Verpachtung zugeordnet werden14. Denn auch ein Vermieter einer Wohnung bietet beispielsweise eine Dienstleistung am Markt an15. Die Begünstigung eines Unternehmens kann auch mittelbar erfolgen: So können etwa die Arbeitnehmer in formaler Hinsicht Empfänger einer Beihilfe sein. Wenn die Regelung aber für den Arbeitgeber von Vorteil ist, kann dennoch die Begünstigung eines Unternehmens vorliegen16. Eine steuerrechtliche Maßnahme qualifiziert nur dann als Beihilfe, wenn sie auch selektiv ist. Die Selektivitätsprüfung steht regelmäßig im Mittelpunkt der steuerrechtlichen Beihilfebeurteilung: Sie verlangt nämlich, zwischen – beihilferechtlich zulässigen – generellen Maßnahmen des Steuergesetzgebers einerseits und selektiven Begünstigungen andererseits zu unterscheiden17. Welche Absicht der Gesetzgeber verfolgt hat, ist dabei irrelevant18: Der EuGH geht davon aus, dass es auf die _____________ 11 Vgl. in diesem Sinne EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Rz. 21. 12 EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843, Rz. 35. 13 EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, Slg. 2006, I-2843, Rz. 32. 14 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 19. 15 Vgl. auch M. Lang, in König/Schwarzinger (Hrsg.), Körperschaften im Steuerrecht, FS Wiesner, 249. 16 Vgl. EuGH v. 23.2.1961 – Rs. 30/59 – De Gezamenlijke Steenkolenmijnen, Slg. 1961, 1, Rz. 3 ff. und 56. 17 Dazu schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 23 ff.; Jaeger, in Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Rz. 40 ff. 18 Vgl. Sutter, EG-Beihilfenverbot, 70; ebenso Quigley/Collins, EC State Aid Law and Policy, 2003, 16 f.; a. A. siehe Kurcz/Vallindas, Can General Measures be … Selective? Some Thoughts on the Interpretation of a State Aid Definition, CMLR 2008, 159 (181): ”In any event, it shows that the ECJ does not only focus on effects, but also cannot avoid taking into consideration the objectives of the measures analysed.“

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Wirkungen einer Regelung ankommt19. Das Gericht erster Instanz hielt fest, dass „weder der Abgabencharakter noch die wirtschaftliche oder soziale Zielsetzung oder die Ziele des Umweltschutzes oder der Sicherheit von Personen, die eine solche Maßnahme haben mag, dafür (genügen), dass diese von vornherein aus dem Anwendungsbereich des vorgenannten Artikels ausscheidet“20. Bei der Prüfung der Selektivität einer Maßnahme ist nach der Rechtsprechung entscheidend, ob die durch die betreffende Maßnahme eingeführte Unterscheidung zwischen Unternehmen bei Vorteilen oder Belastungen in der Natur oder im Aufbau des geltenden allgemeinen Systems angelegt ist21. Ist diese Unterscheidung auf andere als die mit dem allgemeinen System verfolgten Ziele zurückzuführen, wird grundsätzlich angenommen, dass die fragliche Maßnahme das in Art. 107 Abs. 1 AEUV vorgesehene Merkmal der Selektivität erfüllt22.

_____________ 19 EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 26 und 28; v. 13.2.2003 – Rs. C-409/00 – Spanien/Kommission, Slg. 2003, I-1487, Rz. 46; EuG v. 29.9.2000 – Rs. T-55/99 – CETM/Kommission, Slg. 2000, II-3207, Rz. 53; v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789, Rz. 106. 20 EuG v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789; vgl. in Bezug auf selektive Befreiungen von Sozialabgaben EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 27 f.; und v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 25; in Bezug auf eine selektive Zinsverbilligung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit Blick auf die Erneuerung des Nutzfahrzeugbestands im Interesse des Umweltschutzes und einer erhöhten Verkehrssicherheit EuGH v. 13.2.2003 – Rs. C-409/00 – Spanien/Kommission, Slg. 2003, I-1487, Rz. 46; EuG v. 29.9.2000 – Rs. T-55/99 – CETM/Kommission, Slg. 2000, II-3207, Rz. 53. 21 Mitteilung Unternehmensbesteuerung, ABl. C 384/3, 10.12.1998, Rz. 16; EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 34; v. 29.4.2004 – Rs. C-159/01 – Niederlande/Kommission, Slg. 2004, I-4461; v. 17.3.1993 – Rs. C-72/91 und 73/91 – Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887, Rz. 21; v. 20.9.2001 – Rs. C-390/98 – Banks, Slg. 2001, I-6117, Rz. 33; v. 26.9.2002 – Rs. C-351/98 – Spanien/Kommission, Slg. 2002, I-8031, Rz. 42; siehe auch EuG v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789, Rz. 152. 22 EuG v. 13.9.2006 – Rs. T-210/02 – British Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789; vgl. in diesem Sinne bereits EuGH v. 2.7.1974 – Rs. C-173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 33; v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/ Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 33 und 39; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/ 99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 49.

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Dem Merkmal der – tatsächlichen oder potenziellen – Wettbewerbsverfälschung kommt hingegen nur untergeordnete Bedeutung zu23. Für manche ist die Wettbewerbsverfälschung überhaupt nur die logische Wirkung jeder selektiven Begünstigung24. Der EuGH verlangt jedenfalls nicht die Benachteiligung konkreter Wettbewerber: In seinem Urteil vom 3.3.2005 – C-172/03, Heiser wies er darauf hin, „dass Beihilfen, die ein Unternehmen von den Kosten befreien sollen, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Geschäftsführung oder seiner üblichen Tätigkeiten zu tragen gehabt hätte, grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen verfälschen (Urteil vom 19. September 2000 in der Rechtssache C-156/98, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-6857, Randnr. 30 und die zitierte Rechtsprechung).“25 Weiters wird von Art. 107 AEUV gefordert, dass eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels gegeben ist. In Lehre und Rechtsprechung wird dies im Sinne der Beeinflussung des internationalen Wirtschaftsverkehrs verstanden26. Die „Eintrittshürde“, die durch dieses Kriterium für die Beihilfeprüfung besteht, wird als nicht allzu hoch angesehen27. Gelegentlich sieht die Kommission zwar in Einzelfällen unter Verweis auf dieses Kriterium von einer Beihilfeprüfung ab28, beeilt sich aber dabei genau zu begründen, warum eine Nachfrage für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen im Ausland im konkreten Fall keineswegs in Betracht kommt. Gerade bei diesem Kriterium kommt die Dynamik des Binnenmarkts zum Tragen, da sich das Beihilfeverbot bei dessen Verdichtung weiter fortentwickelt29: In einem sich zunehmend verschränkenden Binnenmarkt liegt eine Beeinflussung des grenz_____________ 23 Dazu schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 50 f. 24 Vgl. z. B. Generalanwalt Capotorti, Schlussanträge 730/79 – Philip Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671 ff., Rz. 4; Generalanwalt Darmon, Schlussanträge C-72/91 – Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887, Rz. 61; Bleckmann, Das System des Beihilfeverbots im EWG-Vertrag, WiVerw 1989, 75 (76 f.). 25 EuGH v. 3.3.2005 – Rs. C-172/03 – Heiser, Slg. 2005, I-1627, Rz. 55. 26 EuGH v. 26.9.2002 – Rs. C-351/98 – Spanien/Kommission, Slg. 2002, I-8031, Rz. 30; Sutter, Beihilfenverbot, 136, mit Verweis auf die französische Sprachfassung, die von der „Beeinflussung des Wirtschaftsverkehrs“ spricht. 27 Vgl. z. B. Sutter, Beihilfenverbot, 138: „Bei den Anforderungen an die Prüfung der grenzüberschreitenden Handelsbeeinträchtigung sind die Gemeinschaftsgerichte tendenziell großzügig (…).“ 28 Vgl. Kommission v. 21.12.2000 – N 258/2000 – Deutschland/Freizeitbad Dorsten, ABl. C 172, 16.6.2001, Rz. 16. 29 Vgl. Wallenberg, in Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV II Art. 87 Rz. 6; Sutter, Beihilfenverbot, 43.

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überschreitenden Wirtschaftsverkehrs bei begünstigenden Maßnahmen eines Mitgliedstaates fast immer auf der Hand. In der Literatur wird die Wettbewerbsverfälschung und die Handelsbeeinträchtigung als untrennbar miteinander verbunden erachtet, da der innergemeinschaftliche Handel regelmäßig bereits dann als beeinträchtigt angesehen wird, wenn eine von einem Mitgliedstaat gewährte Finanzhilfe die Stellung eines Unternehmens gegenüber anderen Wettbewerbern im innergemeinschaftlichen Handel verstärkt30. Dementsprechend hat dieses Kriterium in der Rechtsprechung des EuGH auch kaum eine eigenständige Bedeutung bei der Eingrenzung des Beihilfebegriffs31.

B. Die Entscheidung der Kommission zu § 8c KStG Im deutschen steuerlichen Schrifttum ist dem Beihilferecht in den letzten Monaten große Aufmerksamkeit geschenkt worden32: Die Kommis_____________ 30 Vgl. Nowak, Die Entwicklung des EG-Beihilfenkontrollrechts in den Jahren 2001 und 2002, EuZW 2003, 389 (396); Nicolaides/Kekelekis/Buyskes, State Aid Policy in the European Community, 2005, 26; Mamut, The State Aid Provisions of the EC Treaty in Tax Matters, in Lang/Pistone/Schuch/Staringer (Hrsg.), Introduction to European Tax Law on Direct Taxation, 2008, Rz. 275. 31 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 59. 32 Siehe Jochum, Systemfragen zu Mantelkauf und Sanierungsklausel, FR 2011, 497 ff.; Drüen, Die Sanierungsklausel des § 8c KStG als europarechtswidrige Beihilfe – Anmerkungen zur Beihilfeentscheidung der EU-Kommission von 26.1.2010, DStR 2011, 289 ff.; Dörr, Steuerliche Sanierung gescheitert: EU-Kommission kippt § 8c Abs. 1a KStG, NWB 2011, 690 ff.; Ehrmann, Beihilfenrechtliche Zulässigkeit des § 8c Abs. 1a KStG – Zur voraussichtlichen Europarechtswidrigkeit der Sanierungsklausel, DStR 2011, 5 ff.; Cloer/Vogel, Die Sanierungsklausel auf dem Prüfstand, IWB 2010, 439 ff.; Dörr/Motz, Aussetzung der Vollziehung bei Versagung des Sanierungsprivilegs, NWB 2011, 3180; Dörr, Der Streit um das Sanierungsprivileg geht weiter, NWB 2011, 964 ff.; Burwitz, EU-Kommission: Unvereinbarkeit der Sanierungsklausel mit Beihilferegeln, NZG 2011, 259 ff.; Crezelius, Aktuelle Steuerrechtsfragen in Krise und Insolvenz, NZI 2011, 279 ff.; De Weerth, Die Sanierungsklausel des § 8c KStG und europäisches Beihilferecht, DB 2010, 1205 ff.; Siehe auch die Diskussion mit Rädler/Musil/Blumenberg/Welling, DB 2010, 17 ff.; Dorfmüller, Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG nicht mit den EU-Beihilferegeln vereinbar, StuB 2011, 147 ff.; Duss/Helbing, Sanierung der Zürcher Sanierungspraxis bei Forderungsverzicht?, Schweizer Treuhänder 2011, 527 ff.; Eilers/ Bühring, Sanierungssteuerrecht – Selbst ein Sanierungsfall?, StuW 2009, 246 ff.; Fritze/Heithecker, Insolvenzplansanierung und EU-Beihilfenverbot, EuZW 2010, 817 ff.; Herzig/Liekenbrock, Die Unternehmensbesteuerung, Ubg 2011, 313 (325 ff.); Hey, Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im nationalen Steuerrecht, StuW 2010, 301 ff.; Hierstetter, Steuerliche Risiken der Entschuldung der Kapitalgesellschaft in der Krise, DStR 2010, 882 ff.; M. Lang, Sanie-

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sion hat am 26.1.2011 beschlossen, dass die „auf der Grundlage von § 8c (1a) Körperschaftsteuergesetz gewährte staatliche Beihilferegelung, die Deutschland unter Verletzung von Artikel 108 Absatz 3 AEUV rechtswidrig gewährt hat, (…) mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ ist33. Die Kommission ist somit zur Auffassung gelangt, dass es sich bei der als Ausnahme vom Mantelkauftatbestand konzipierten Sanierungsklausel um eine dem Art. 107 Abs. 1 AEUV unterliegende Beihilfe handelt. Im Mittelpunkt der Ausführungen der Kommission steht dabei die Voraussetzung der Selektivität, deren Vorliegen offenbar als besonders begründungsbedürftig angesehen wurde. Nach Auffassung der Kommission ist „das deutsche Körperschaftsteuersystem in der derzeitigen Fassung, insbesondere die Vorschriften des § 8c (1) KStG über den Verlustabzug bei Körperschaften, bei denen es zu einem Beteiligungserwerb kommt, das Referenzsystem“. Sie wies darauf hin, dass nach dieser Regelung ungenutzte Verluste nicht mehr abziehbar sind, „wenn mehr als 50 % der Beteiligungsrechte an einer Körperschaft an einen Erwerber übertragen werden; sie gehen anteilig verloren, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 %, höchstens aber 50 % der Beteiligungsrechte übertragen werden. Daraus schließt die Kommission, dass die Verwirkung von Verlusten der Regelfall, d. h. im Falle eines Anteilseignerwechsels das Referenzsystem ist“34. _____________ rungsklausel der Regelung zur Verlustverrechnungsbeschränkung bei Körperschaften – Beihilfeverfahren zu § 8c Abs. 1a KStG, SteuK 2011, 135 ff.; Marquart, Die Möglichkeit der Verlustverrechnung als selektive Begünstigung sanierungsbedürftiger Unternehmen? – Wider die Beihilferechtswidrigkeit der Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG), IStR 2011, 445 ff.; Fiedler, Voraussetzung einer Nichtigkeitsklage gegen den Beschluss der Europäischen Kommission zur Sanierungsklausel, BB 2011, 2972 ff.; Hillmer, Verstößt die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG tatsächlich gegen Gemeinschaftsrecht?, BC 2011, 379; Linn, Rechtsbehelfe gegen Negativentscheidungen der Kommission im Beihilferecht – Handlungsmöglichkeiten betroffener Unternehmen am Beispiel der Sanierungsklausel, IStR 2011, 481 ff. 33 Vgl. Europäische Kommission v. 26.1.2011, K(2011) 275, C 7/2010 (ex CP 250/2009 und NN 5/2010) – „KStG, Sanierungsklausel“ Rz. 137; vgl. auch die beiden Schreiben der Europäischen Kommission v. 8.4.2010, C 90/8, Staatliche Beihilfe C 7/10 (ex NN 5/10) – „KStG, Sanierungsklausel“ Aufforderung zur Stellungnahme gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV; K(2010) 970, 24.2.2010, Staatliche Beihilfen C-7/ 2010 (ex NN 5/2010) – Bestimmungen des Körperschaftsteuergesetztes über den steuerlichen Verlustvortrag – Sanierungsklausel; sowie die Pressemitteilung des BMF v. 9.3.2011 – Nr. 4/2011; Die Bundesregierung wird gegen den Beschluss der EU-Kommission vom 26.1.2011 betreffend die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG Klage erheben. Die Klage zur Rs. T-205/11 wurde am 7.4.2011 beim EuG eingebracht. 34 K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 66.

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Die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG erachtete die Kommission als Ausnahme: „Abweichend vom Referenzszenario ist es nach § 8c (1a) KStG möglich, dass Unternehmen, die zum Zeitpunkt des zu Umstrukturierungszwecken erfolgenden Beteiligungserwerbs insolvent oder überschuldet bzw. von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedroht sind, ihre Verluste vortragen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.“ Vorschriften, die für alle Unternehmen in Schwierigkeiten gelten, sind nach Auffassung der Kommission selektiv und können eine staatliche Beihilfe darstellen35. In weiterer Folge wies die Kommission darauf hin, dass nach der „Rechtsprechung des Gerichtshofs (…) diese Voraussetzung der Selektivität jedoch bei einer Maßnahme, die zwar einen Vorteil für den Begünstigten darstellt, aber durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems, zu dem sie gehört, gerechtfertigt ist, nicht gegeben“ ist36. Dazu hielt die Kommission fest, „dass Deutschland selbst in seiner Stellungnahme zum Eröffnungsbeschluss ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es sich bei § 8c Abs. 1a KStG nicht um eine Maßnahme zur Verhinderung eines Missbrauchs des Steuersystems handele, sondern dass die Sanierungsklausel eingeführt worden sei, um notleidende Unternehmen in der Finanz- und Wirtschaftskrise zu unterstützen.“37 Sie kam daher zum Schluss, „dass das mit dieser spezifischen Steuermaßnahme verfolgte Ziel außerhalb des Steuersystems liegt. Nach einschlägiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein solches extrinsisches Ziel nicht zur Rechtfertigung der Maßnahme aufgrund der Natur bzw. des inneren Aufbaus des Steuersystems herangezogen werden“38.

C. Die Diskussion um das maßgebende „Referenzsystem“ Die – teils leidenschaftlich vorgetragene – Kritik an der Begründung der Kommissionsentscheidung entzündete sich in erster Linie an der Annahme des maßgebenden „Referenzsystems“39: Die Kommission wäre jede Begründung dafür schuldig geblieben, warum sie die Verlustvernichtungsvorschrift des § 8c Abs. 1 KStG als Referenzsystem herange_____________ 35 36 37 38 39

K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 68. K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 80. K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 88. K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 89. Vgl. Drüen, DStR 2011, 291 ff.; Jochum, FR 2011, 498; Musil, Warum die Sanierungsklausel keine Beihilfe ist, DB 2011, 19 (20); Ehrmann, DStR 2011, 7; Marquart, IStR 2011, 448.

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zogen hat. Einige Autoren hielten der Kommission entgegen, dass die Regelungen über den Verlustabzug, die einen interperiodischen Verlustausgleich ermöglichen, das zutreffende Referenzsystem wären40: Nach Drüen fiele das Ergebnis der beihilferechtlichen Würdigung anders aus, „wenn nicht § 8c KStG (…), sondern die tragenden Prinzipien des deutschen Ertragsteuerrechts zum Referenzsystem erhoben würden“41. Das als „Normalfall“ zu bestimmende Referenzsystem wäre „nicht der durch § 8c Abs. 1 Sätze 1 bis 3 KStG limitierte und konditionierte Verlustabzug bei Körperschaften, sondern der allgemeine, auch im Körperschaftsteuerrecht geltende Einkommensbegriff mit der interperiodischen Verlustberücksichtigung“. Den Kritikern ist zuzugestehen, dass die Annahme der Verlustvernichtungsvorschrift des § 8c KStG als Referenzsystem willkürlich erscheint. Nicht weniger zufällig ist es aber, die interperiodische Verlustberücksichtigung in den Mittelpunkt zu rücken. Mit gleicher Berechtigung könnte die im Kalenderjahr als Veranlagungsperiode zum Ausdruck kommende Abschnittsbesteuerung zum Ausgangspunkt der beihilferechtlichen Prüfung genommen werden42. Vor dem Hintergrund dieses Referenzsystems erschiene die Sanierungsklausel wiederum als eine der vorgesehenen Durchbrechungen des Systems, die aus diesem Grund begründungsbedürftig wäre. Bei der Suche nach dem maßgebenden „Referenzsystem“ wird im Schrifttum häufig auf das Leistungsfähigkeitsprinzip verwiesen43. Das Leistungsfähigkeitsprinzip würde den interperiodischen Verlustausgleich gebieten. Dieses Argument hilft in Wahrheit aber nicht weiter. Zunächst ist schon die Frage umstritten, ob das Körperschaftsteuerrecht in gleicher Weise wie das Einkommensteuerrecht das Leistungsfähigkeitsprinzip verwirklicht44. Selbst wenn man aber dieser Prämisse folgt, zeigt eine Analyse des geltenden Rechts, dass die ertragsteuerrechtlichen Vorschriften das Konzept der Abschnittsbesteuerung und _____________ 40 Vgl. Drüen, DStR 2011, 291 f.; so auch Ehrmann, DStR 2011, 7; Marquart, IStR 2011, 448; Hillmer, BC 2011, 379. 41 Vgl. Drüen, DStR 2011, 291 f. 42 Zuletzt hat Kube, Die intertemporale Verlustverrechnung – Verfassungsrechtlicher Rahmen und legislativer Gestaltungsraum, DStR 2011, 1781 (1781 ff.), die Bedeutung der Abschnittsbesteuerung betont. 43 Vgl. Jochum, FR 2011, 498; Musil, DB 2011, 20; Drüen, DStR 2011, 291 f.; und Ehrmann, DStR 2011, 7. 44 Vgl. Wiesner, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 14. ÖJT, Referate und Diskussionsbeiträge, Band III/2, 2000, 37 (41 f.).

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periodenübergreifende Zielsetzungen miteinander kombinieren: Die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer verlangen die Ermittlung des im Kalenderjahr bezogenen Einkommens. Die Härten des progressiven Einkommensteuertarifs, die dann zum Tragen kommen, wenn in mehreren Perioden erwirtschaftete Wertsteigerungen in einem Veranlagungsjahr schlagend werden, oder wenn überhaupt die Einkommenshöhe zwischen den Kalenderjahren schwankt, werden nur punktuell berücksichtigt. Auch im Verlustfall gibt es nicht die Möglichkeit, positive und negative Ergebnisse unterschiedlicher Perioden generell zu verrechnen. Vielmehr steht der Verlustrücktrag nur völlig eingeschränkt zur Verfügung. Der Verlustvortrag steht ebenfalls unter restriktiven Voraussetzungen. Daraus kann man entweder schließen, dass der Gesetzgeber das Leistungsfähigkeitsprinzip nur ungenügend umsetzt und damit möglicherweise den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Dann kann aber Maßstab für die beihilferechtliche Beurteilung auch nicht das Prinzip sein, dessen Umsetzung – auf welcher Grundlage auch immer – geboten wäre, sondern nur jene Regelungen, die das anzuwendende Steuerrecht konstituieren. Alternativ könnte man annehmen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip gar nicht die umfassende Berücksichtigung periodenübergreifender Verhältnisse verlangt, sondern es auch zulässt, wenn die im Jahreseinkommen und die im Lebenseinkommen zum Ausdruck kommende Leistungsfähigkeit miteinander kombiniert werden45. Dann hilft der Hinweis auf das Leistungsfähigkeitsprinzip aber erst recht nicht weiter, um zu klären, ob das Jahreseinkommen – und damit die Abschnittsbesteuerung – oder das Lebenseinkommen – und damit die Möglichkeit interperiodischer Verlustberücksichtigung – das maßgebende Referenzsystem sind. Falls daher tatsächlich das Ergebnis der beihilferechtlichen Würdigung vom zugrunde gelegten Referenzsystem abhängt, wäre die beihilferechtliche Beurteilung letztlich von nicht weiter nachprüfbaren Annahmen abhängig. Die Diskussion um § 8c KStG macht deutlich, dass die Wahl des Referenzsystems letztlich beliebig ist. Sie ist aber auch gar nicht notwendig. Hinter der Suche nach dem maßgebenden Referenzsystem steht das Bemühen, Regel und Ausnahme festzulegen. Wer die „Normalbesteuerung“ vom Ausnahmefall abgrenzt, in dem andere Steuervorschriften zum Tragen kommen, unterscheidet in Wahrheit zwischen _____________ 45 Siehe die Diskussion von M. Lang/Roessler/Beiser/Zorn/Gassner/Wiesner, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 14. ÖJT, III/2, 112 ff.

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zumindest zwei Vorschriften, die einen unterschiedlichen Anwendungsbereich haben und die unterschiedliche Rechtsfolgen vorsehen46. Nach welchen Kriterien lässt sich nun festlegen, welche dieser Vorschriften die Regel und welche die Ausnahme ist? Auf Zufälligkeiten der Rechtssetzungstechnik soll es wohl nicht ankommen47. Die Suche nach der Absicht des Gesetzgebers kann auch nicht ergiebig sein48: Ungeachtet der Terminologie, der sich die Gesetzes- oder die Materialienverfasser bedienen, geht es auch dem Gesetzgeber letztlich nur darum, dass unter bestimmten Voraussetzungen die eine und unter anderen Voraussetzungen die andere Rechtsfolge vorgesehen ist49. Wer schließlich danach fragt, welche Vorschriften den größeren und welche den kleineren Anwendungsbereich haben, um nach dieser Beurteilung die Regel von der zu rechtfertigenden Ausnahme zu unterscheiden, steht vor der Schwierigkeit, dass generelle Vorschriften den Kreis ihrer Adressaten abstrakt umschreiben und die Zahl der konkret betroffenen Steuerpflichtigen nicht vorhersehbar ist50. Die Frage nach der „Normalbelastung“ ist daher nicht sinnvoll, weil die Festlegung von Regel und Ausnahme letztlich willkürlich ist51. Sobald aber eine bestimmte Vorschrift als Regel angesehen wird, steht die von ihr abweichende begünstigende Ausnahme von vornherein unter „Beihilfeverdacht“. Wird der Prüfungsmaßstab von einer Vorentscheidung darüber abhängig gemacht, welche Vorschrift als Regel und welche als Ausnahme anzusehen ist, trägt dies somit nicht zu einem Gewinn an Rationalität bei, sondern dazu, dass bei einer Festlegung der Regel Wertungen unter der Hand vorgenommen und mit dem Schein der Rationalität bemäntelt werden52. Die Festlegung von Regel und Ausnahme sollte daher unterbleiben53. _____________ 46 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 25 f. 47 So auch Sutter, in Studiengesellschaft WiR (Hrsg.), Beihilfenrecht 37 (43). 48 Dazu M. Lang, Seminar J: Steuerrecht, Grundfreiheiten und Beihilferecht, IStR 2010, 570 (576); M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 26. 49 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 26. 50 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 2. 51 Ähnlich schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 28 f.; Sutter, EG-Beihilfenverbot 112; a. A. noch EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 56; Schön, CMLR 1999, 929 f. 52 So M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 29; M. Lang, IStR 2010, 577; vgl. auch Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, 189, in ihrer treffenden Kritik an der Rechtsprechung des VfGH, die bei der Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes vor vergleichbaren Problemen steht. 53 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 29 f.

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D. Die Selektivitätsprüfung als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung Die Rechtsprechung des EuGH zum Beihilferecht stellt aber keineswegs durchgehend auf die „Normalbesteuerung“ ab54: GA Mengozzi teilt in seinen Schlussanträgen in der Rs. C-487/06, British Aggregates/Kommission im Rechtsmittelverfahren zu diesem Urteil zwar nicht die weiteren Folgerungen des Gerichts erster Instanz, fasst aber die Rechtsprechung in ähnlicher Weise zusammen55: „Unter besonderer Bezugnahme auf staatliche Maßnahmen steuerlicher Art hat die Rechtsprechung (…) festgestellt, dass auch Maßnahmen, deren selektiver Charakter sich aus dem Umstand ableitet, dass sie eine Differenzierung zwischen Unternehmen vornehmen, sich einer Qualifikation als Beihilfe entziehen können, wenn diese Differenzierung durch die Natur oder den inneren Aufbau des Steuersystems, in das sich diese Maßnahmen einfügen, gerechtfertigt ist (…). Hieraus folgert der Gerichtshof, dass zur Beurteilung der Selektivität einer Maßnahme zu prüfen (ist), ob sie im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, begünstigt (…)“56. Diese Vorgangsweise ist kein Einzelfall57: In Presidente del Consiglio dei Ministri/Regione Sardegna prüfte der EuGH, „ob sich Unternehmen mit steuerlichem Wohnsitz außerhalb des Gebiets der Region im Hinblick auf die Merkmale der regionalen Landungssteuer unter Zugrundelegung des rechtlichen Bezugsrahmens in einer tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, die derjenigen der in diesem Gebiet ansässigen Unternehmen vergleichbar ist“58. Daran knüpfte der EuGH folgende Schlussfolgerungen59: „Wie sich aus den Randnrn. 36 und 37 des vorliegenden Urteils ergibt, ist festzustellen, dass sich (…) in Anbetracht _____________ 54 So schon M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 28. 55 Vgl. auch EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-487/06 – British Aggregates/Kommission, Slg. 2008, I-10515. 56 Generalanwalt Mengozzi, Schlussanträge v. 17.7.2008 – Rs. C-487/06 – British Aggregates/Kommission, Slg. 2008, I-10515, Rz. 83, mit Verweis auf EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 56; vgl. auch v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41. 57 Vgl. M. Lang, IStR 2010, 571. 58 EuGH v. 17.11.2009 – Rs. C-169/08 – Presidente del Consiglio dei Ministri, Slg. 2009, I-10821, Rz. 62. 59 EuGH v. 17.11.2009 – Rs. C-169/08 – Presidente del Consiglio dei Ministri, Slg. 2009, I-10821, Rz. 63.

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des Charakters und des Zwecks der genannten Steuer alle natürlichen und juristischen Personen, denen die Abfertigungsdienstleistungen in Sardinien zugutekommen, unabhängig vom Ort ihres Wohnsitzes oder Sitzes in einer objektiv vergleichbaren Situation befinden. Die Maßnahme kann folglich nicht als allgemeine Maßnahme angesehen werden, da sie nicht allgemein auf Betreiber von Luftfahrzeugen und Freizeitbooten, die in Sardinien landen, Anwendung findet. (…) Steuervorschriften wie die im Ausgangsverfahren fraglichen stellen somit eine staatliche Beihilfemaßnahme zugunsten der in Sardinien ansässigen Unternehmen dar.“ Die Selektivitätsprüfung besteht somit aus zwei Teilen60: Zum einen ist zu prüfen, ob eine selektive Maßnahme vorliegt. Zum anderen ist zu untersuchen, ob die selektive Maßnahme gerechtfertigt ist. Im ersterwähnten Schritt geht es darum, ob bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen durch steuerliche Regelungen anders – und zwar besser – behandelt werden. Es bedarf somit der Gegenüberstellung zweier Regelungen, der günstigen und der weniger günstigen, oder der Steuervorschrift und der Befreiung oder der Nichtregelung. Eine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder ganzer Wirtschaftszweige erfüllt aber nur dann das Selektivitätskriterium, wenn sich die nach den steuerlichen Vorschriften unterschiedlich behandelten Unternehmen „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“61. Die Selektivitätsprüfung erweist sich damit als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung62: Für Zwecke des Beihilfeverbots ist maßgebend, ob sich die nach den steuerlichen Vorschriften unterschiedlich behandelten Unternehmen „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“63. Ob eine Situation rechtlich oder tatsächlich vergleichbar ist, kann nicht isoliert beurteilt werden, sondern be_____________ 60 Dazu M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 25 ff. 61 EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 28 bis 31; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41. 62 Vgl. Schön, in Koenig/Roth/Schön (Hrsg.), Aktuelle Fragen des EG-Beihilfenrechts, Beihefter zu ZHR 2001, 111; außerdem Kube, Die Gleichheitsdogmatik des europäischen Wettbewerbsrechts – zur Beihilfenkontrolle staatlicher Ausgleichszahlungen, EuR 2004, 230 (244). 63 EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 28 bis 31; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41.

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darf eines Maßstabs. Für jede Gleichheitsprüfung kommt es nicht auf beliebige, sondern im jeweiligen Kontext wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede an. Entscheidend ist, wonach sich diese Wesentlichkeit bestimmt, was also das tertium comparationis ist, nach dem der Vergleich zu ziehen ist64. Beim unionsrechtlichen Beihilfeverbot handelt es sich um kein allgemeines Gebot der Gleichbehandlung, sondern um ein Verbot, Ungleichbehandlungen vorzusehen, die nach Maßgabe der Art. 107 f. AEUV Wettbewerbsverzerrungen herbeiführen können. Der Umstand, dass Art. 107 AEUV neben „bestimmten Unternehmen“ auch von „Produktionszweigen“ spricht, beschränkt die Selektivitätsprüfung nicht. Nach Auffassung des EuGH kommen beispielsweise auch alle Unternehmen einer bestimmten Region – unabhängig von ihrer Zuordnung zu einem „Produktionszweig“ – als „bestimmte Unternehmen“ in Betracht65. Vor diesem Hintergrund können daher alle Unternehmen, die sich in einem nach Art. 107 f. AEUV erheblichen Wettbewerbsverhältnis befinden, als vergleichbar angesehen werden. Damit wird die beihilferechtliche Vergleichbarkeitsprüfung noch zu keinem Automatismus: Ob ein Wettbewerbsverhältnis zwischen Unternehmen für Zwecke der Vorschriften der Art. 107 f. AEUV erheblich ist, bedarf der Interpretation. Es kommt auf die Intensivität des Wettbewerbsverhältnisses an. Deren Festlegung bedarf letztlich einer richterlichen Wertentscheidung66. Die Richtung der Vergleichbarkeitsprüfung ist damit aber vorgegeben. Nicht jede Differenzierung ist somit verpönt. Unternehmen, die sich nicht einmal in einem potenziellen Wettbewerbsverhältnis zueinander befinden, können unterschiedlich behandelt werden. Der Intensivität des Wettbewerbsverhältnisses ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen. Im Falle unterschiedlicher steuerlicher Rechtsfolgen spielt es keine Rolle, ob die günstigere Vorschrift die größere oder die kleinere Zahl der sich in einer vergleichbaren Situation befindlichen Unternehmen trifft67. Ist einmal die unterschiedliche Behandlung von Unternehmen erwiesen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, ist dies alleine _____________ 64 Vgl. Pöschl, Gleichheit, 155. 65 Zutreffend Arhold, Steuerhoheit auf regionaler oder lokaler Ebene und der europäische Beihilfebegriff – Wie weit reicht das Konzept von der regionalen Selektivität?, EuZW 2006, 717 (720). 66 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 27; vgl. außerdem M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfenrechts auf das Steuerrecht, 17. ÖJT, Referate und Diskussionsbeiträge, Band IV/2, 2009, 80 f. 67 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 26 und 28 f.

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nach der Rechtsprechung noch nicht schädlich: „Nach ständiger Rechtsprechung erfasst jedoch der Begriff der staatlichen Beihilfe staatliche Maßnahmen, die eine Differenzierung zwischen Unternehmen vornehmen und damit a priori selektiv sind, dann nicht, wenn diese Differenzierung aus der Natur oder dem inneren Aufbau der Lastenregelung folgt, mit der sie in Zusammenhang stehen (…)“68. Dies hat der EuGH folgendermaßen präzisiert: „Eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, kann durch die Natur und den inneren Aufbau des Steuersystems gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien seines Steuersystems beruht. Insoweit ist zu unterscheiden zwischen den mit einer bestimmten Steuerregelung verfolgten Zielen, die außerhalb dieser Regelung liegen, und den dem Steuersystem selbst inhärenten Mechanismen, die zur Erreichung dieser Ziele erforderlich sind“69. Die Zulässigkeit eines spezifisch steuerrechtlichen Rechtfertigungsgrunds ist nicht selbstverständlich70: Geht man nämlich davon aus, dass es für die Qualifikation als Beihilfe keinen Unterschied macht, ob ein Mitgliedstaat ein Unternehmen der gewöhnlichen Abgabenlast unterwirft und ihm danach einen Zuschuss zukommen lässt oder ob er ihm von vornherein niedrigere Steuern vorschreibt, dürfte ein Mitgliedstaat einen Vorteil, den er seinen Unternehmen im Wege steuerrechtlicher Begünstigungen gewährt, nicht durch Begründungen rechtfertigen – und auf diese Weise leichter den in Art. 107 f. AEUV vorgesehenen Rechtsfolgen entziehen – können, die ihm außerhalb des Steuerrechts verwehrt sind. Andererseits ist die Erheblichkeit von „Natur“ und „innerem Aufbau“ nicht auf das Steuerrecht beschränkt71. Der EuGH hat diese Rechtfertigungsgründe bereits auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts ins _____________ 68 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 52; vgl. in diesem Sinne v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 33; v. 15.12.2005 – Rs. C-148/04 – Unicredito, Slg. 2005, I-11137, Rz. 51. 69 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 81; zur Systemimmanenz vgl. ausführlich Mamut, Aktuelle Fragen im Bereich der Steuerbeihilfen – Mitgliedstaaten zwischen Steuerwettbewerb und Systemimmanenz steuerlicher Beihilfen, in Jaeger (Hrsg.), Jahrbuch Beihilferecht 2008, 2008, 177 ff. 70 Kritisch Birkenmaier, Die Vorgaben der Beihilfevorschriften des EG-Vertrages für die direkte Unternehmensbesteuerung, 2007, 100 ff. 71 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 31.

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Treffen geführt72. Schließlich soll nicht übersehen werden, dass der EuGH auf dem Gebiet der Grundfreiheiten – besonders im Zusammenhang mit dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz – ebenfalls Wertungen des nationalen Rechts berücksichtigt73. Versteht man das Beihilfeverbot als spezielle Ausprägung einer gleichheitsrechtlichen Prüfung, ist dies auch nicht ungewöhnlich: So wie der verfassungsgesetzliche Gleichheitsgrundsatz verlangt, die einfachgesetzlichen Wertungen auf ihre Konsequenz und Widerspruchsfreiheit hin zu durchleuchten – und zwar am Maßstab jener Wertentscheidungen, die der Gesetzgeber selbst getroffen hat74 – kann eine steuerliche Ungleichbehandlung von Unternehmen, die sich miteinander im Wettbewerbsverhältnis befinden, nur dann nicht als selektiv angesehen werden, wenn diese Differenzierung auf einer gesetzgeberischen Wertentscheidung beruht, die dieser widerspruchsfrei verwirklicht hat75. Die vom EuGH verwendeten Formulierungen machen deutlich, dass er nicht gewillt ist, auf dem Gebiet des Steuerrechts eine Bereichsausnahme von der beihilferechtlichen Kontrolle zuzugestehen76. Dies zeigt sich schon, wenn der EuGH vom Mitgliedstaat den Nachweis verlangt, dass eine Differenzierung „unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien des allgemeinen Steuersystems beruht“. Er weist darauf hin, dass „ein Handeln auf eine Politik der regionalen Entwicklung oder des sozialen Zusammenhalts gestützt ist, (…) für sich allein nicht aus(reicht), um eine im Rahmen dieser Politik erlassene Maßnahme als gerechtfertigt anzusehen“77. Der EuGH verlangt von der Regierung des Mitgliedstaats den Nachweis, „dass der Erlass der fraglichen Maßnahmen (…) für das Funktionieren und die Wirksamkeit des allgemeinen Steuersystems erforderlich war“78. Die vom EuGH gewählten Formulierungen lassen auf einen strengen Maßstab bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Rechtfertigung schließen: Der Gerichtshof spricht davon, dass die Maßnahmen zur Erreichung der vom Steuersystem verfolgten Ziele „erforderlich“ sein müssen. Die Maßnahme muss „unmittelbar“ auf _____________ 72 EuGH v. 2.7.1974 – Rs. 173/73 – Kommission/Italien, Slg. 1974, 709, Rz. 33 und 35. 73 Dazu M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern – Welcher Spielraum bleibt den Mitgliedstaaten?, 2007, 54 ff. 74 Vgl. Pöschl, Gleichheit, 188. 75 Vgl. auch Birkenmaier, Die Vorgaben der Beihilfevorschriften des EG-Vertrages für die direkte Unternehmensbesteuerung, 120 ff. 76 Vgl. M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 32. 77 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 82. 78 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 83.

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den Grund- und Leitprinzipien des Steuersystems beruhen. Sie muss „für das Funktionieren und die Wirksamkeit des allgemeinen Steuersystems erforderlich“ sein. Die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips macht kaum „unmittelbar“ bestimmte selektive Begünstigungen „erforderlich“, ohne die „das Funktionieren und die Wirksamkeit“ des Steuersystems gefährdet wären79. Der Blick auf die gleichheitsrechtliche Dogmatik zeigt, dass nicht jede vom Gesetzgeber konsequent und widerspruchsfrei umgesetzte Wertentscheidung eine unterschiedliche Behandlung von in vergleichbaren Situationen befindlichen Unternehmen rechtfertigen kann. Der Gleichheitssatz ermöglicht es, die gesetzgeberischen Wertungen selbst zu problematisieren und erforderlichenfalls umzustoßen80. Wenn daher die Natur und der innere Aufbau eines Steuersystems geradezu darauf hinauslaufen, dass bestimmte Unternehmen oder Wirtschaftszweige gegenüber anderen begünstigt werden, scheidet dieses Argument als Rechtfertigung für eine differenzierende Behandlung von in vergleichbarer Situation befindlichen Unternehmen aus. Sonst hätte es ein Mitgliedstaat in der Hand, sich durch Schaffung einer auf die Herbeiführung von Wettbewerbsverzerrungen angelegten Steuerrechtsordnung der Beihilfekontrolle zu entziehen. Die Suche nach dem Referenzsystem hat bei der Diskussion um den Beihilfecharakter der Sanierungsklausel den Blick auf die eigentlich erheblichen Argumente verstellt. Die relevante Frage lautet nämlich, ob sich die von der Sanierungsklausel erfassten – und daher begünstigten – Unternehmen und andere vom Verlustabzugsverbot des § 8c KStG betroffenen Unternehmen „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“81. Der Maßstab dafür ist die Intensität des Wettbewerbsverhältnisses. In weiterer Folge ist dann zu fragen, ob sich dies legitimerweise aus den dem Steuersystem inhärenten Zielsetzungen rechtfertigen lässt. Die Kommission muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dazu beigetragen zu haben, dass die bisherige Diskussion über weite Strecken am Thema vorbeigegangen ist. Sie hat nämlich die Suche nach dem Referenzsystem in ihrer Entscheidungsbegründung in den Vordergrund ge_____________ 79 So auch Sutter, EG-Beihilfenverbot, 109 f. 80 Vgl. Pöschl, Gleichheit, 189. 81 EuGH v. 17.6.1999 – Rs. C-75/97 – Belgien/Kommission (Maribel), Slg. 1999, I-3671, Rz. 28 bis 31; v. 8.11.2001 – Rs. C-143/99 – Adria Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365, Rz. 41.

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stellt und damit auch die Kritik auf diesen Aspekt gelenkt. Allerdings hat die Kommission auch selbst den gleichheitsrechtlichen Aspekt der Beihilfeprüfung betont, wenngleich dieser Teil der Entscheidungsbegründung oft übersehen wird82: „Deshalb kommt die Kommission zu dem Schluss, dass § 8c (1a) KStG zwischen Verluste schreibenden, aber ansonsten gesunden Unternehmen und insolventen oder überschuldeten bzw. von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedrohten Unternehmen unterscheidet, wobei letztere privilegiert werden. § 8c (1a) KStG unterscheidet folglich zwischen Unternehmen, die sich in Bezug auf den Zweck des Steuersystems in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.“

E. Das EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar Die Diskussion ist jüngst durch das Urteil des EuGH vom 15.11.2011 – Rs. C-106/09 P und C-107/09 P, Gibraltar83 belebt worden. Im August 2002 meldete das Vereinigte Königreich bei der Kommission die beabsichtigte Körperschaftsteuerreform der Regierung von Gibraltar an84. Diese Reform umfasste insbesondere die Aufhebung des alten Steuersystems und die Einführung von drei Steuern, die für alle Unternehmen in Gibraltar gelten sollten: eine Eintragungsgebühr für Unternehmen, eine Lohnsummensteuer und eine Gewerbegrundbenutzungssteuer (business property occupation tax, BPOT). Für die Lohnsummensteuer und die Gewerbegrundbenutzungssteuer war eine Obergrenze von 15 % der Gewinne vorgesehen. Die Kommission entschied im Jahr 2004, dass die angemeldeten Vorschläge zur Reform des Körperschaftsteuersystems in Gibraltar eine staatliche Beihilferegelung darstellten, die mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei. Die Vorschläge durften daher nicht umgesetzt werden. Die Kommission stellte unter anderem fest, dass die für die Lohnsummensteuer und die BPOT geltende Obergrenze von 15 % der Gewinne _____________ 82 K(2011) 275, 26.1.2011, C 7/2010, Rz. 73. 83 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg. 84 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 9 ff.

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materiell selektiv sei85: Diese Obergrenze begünstige die Unternehmen, die in dem betreffenden Steuerjahr im Verhältnis zur Zahl ihrer Mitarbeiter und zur Nutzung von Geschäftsräumen niedrige Gewinne erzielten. Weiters wären nach Auffassung der Kommission die Lohnsummensteuer und die BPOT ebenfalls materiell selektiv, da diese beiden Steuern ihrem Wesen nach „Offshore-Unternehmen“ begünstigten, die in Gibraltar nicht tatsächlich physisch präsent und daher nicht körperschaftsteuerpflichtig seien86. Darüber hinaus sei die geplante Reform regional selektiv: Sie schaffe ein System, nach dem Unternehmen in Gibraltar allgemein niedriger besteuert würden als Unternehmen im Vereinigten Königreich87. Auf die Klagen der Regierung von Gibraltar und des Vereinigten Königreichs erklärte das Gericht erster Instanz am 18.12.2008 die Entscheidung der Kommission für nichtig88. Das Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass die Kommission in Bezug auf die materielle Selektivität des Reformvorhabens keine korrekte Prüfungsmethode angewandt habe. Die Kommission hätte, um den selektiven Charakter der fraglichen Steuerregelung zu beweisen, nachweisen müssen, dass bestimmte Bestandteile dieser Regelung Ausnahmen von der allgemeinen oder „nor_____________ 85 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 21; siehe auch EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 30; Europäische Kommission v. 30.3.2004, C(2004) 929, „on the aid scheme which the United Kingdom is planning to implement as regards the Government of Gibraltar Corporation Tax Reform“, Rz. 134 bis 141. 86 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 21; siehe auch EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 30; Europäische Kommission v. 30.3.2004, C(2004) 929, „on the aid scheme which the United Kingdom is planning to implement as regards the Government of Gibraltar Corporation Tax Reform“, Rz. 142 bis 144 und 147 bis 151. 87 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 20; siehe auch EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 30; Europäische Kommission v. 30.3.2004, C(2004) 929, „on the aid scheme which the United Kingdom is planning to implement as regards the Government of Gibraltar Corporation Tax Reform“, Rz. 127. 88 EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745.

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malen“ Steuerregelung von Gibraltar seien89. Dabei habe die Kommission nicht, wie sie dies in ihrer Entscheidung getan habe, allgemeine Steuermaßnahmen im Hinblick auf ihre Wirkungen als selektiv ansehen dürfen. Außerdem war das Gericht der Ansicht, der Bezugsrahmen für die Beurteilung der regionalen Selektivität der Reform entspreche ausschließlich den Grenzen des Gebiets von Gibraltar und nicht denjenigen des Vereinigten Königreichs90. Die Kommission und Spanien legten daraufhin beim Gerichtshof Rechtsmittel ein: Begehrt wurde die Aufhebung des Urteils des Gerichts. In der bisherigen literarischen Diskussion dieser Rechtssache wurde vor allem auch der regionalen Selektivität große Aufmerksamkeit geschenkt91: Leading case der jüngeren Rechtsprechung ist das – auf Vorjudikatur verweisende92 – Urteil des EuGH vom 6.9.2006 – C-88/03, Portugal/Kommission. Hier hatte der EuGH die Frage zu entscheiden, ob begünstigende steuerliche Maßnahmen, die sich nur deshalb auf bestimmte Unternehmen eines Mitgliedstaats auswirken, weil sie Gegenstand regional erlassener Steuervorschriften sind und daher nur die dort – nicht aber in anderen Regionen – tätigen Unternehmen betreffen, ebenfalls als selektiv einzustufen sind93. Der Feststellung, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, „bedarf es auch bei einer Maßnahme, die nicht vom nationalen _____________ 89 EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 144 f. 90 EuG v. 18.12.2008 – Rs. T-211/04 und T-215/04 – Government of Gibraltar/Commission, Slg. 2008, II-3745, Rz. 67 ff. 91 Vgl. Glaser, Regionale Steuerautonomie im Fokus des EG-Beihilfenrechts, EuZW 2009, 363 ff.; Sutter, The Influence of the European State Aid Rules on National Tax Policy, in Andersson u. a. (Hrsg.), National Tax Policy in Europe, 2007, 138 ff.; auch Linn, Die Anwendung des Beihilfeverbots im Unternehmenssteuerrecht, IStR 2008, 601 ff.; siehe auch Bartosch, Materielle Selektivität und Europäische Beihilfenkontrolle – Ein Diskussionsbeitrag zum derzeitigen Stand der Gemeinschaftsrechtsprechung, EuZW 2010, 12 ff. 92 EuGH v. 14.10.1987 – Rs. 248/84 – Deutschland/Kommission, Slg. 1987, 4013, Rz. 17; v. 19.9.2000 – Rs. C-156/98 – Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-6857, Rz. 23. 93 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115; der EuGH lässt es aber zu, die als selektiv eingestufte Maßnahme zu rechtfertigen: vgl. dazu Mamut, in Jaeger (Hrsg.), Jahrbuch Beihilfenrecht 2008, 193 ff.

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Gesetzgeber, sondern von einer unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten Behörde erlassen wurde, da eine von einer Gebietskörperschaft und nicht vom Zentralstaat erlassene Maßnahme eine Beihilfe darstellen kann, wenn die Tatbestandsmerkmale des Art. 87 Abs. 1 EGV erfüllt sind (vgl. Urteil vom 14. Oktober 1987 in der Rechtssache 248/84, Deutschland/Kommission, Slg. 1987, 4013, Randnr. 17). (…) Der Bezugsrahmen muss dabei nicht zwangsläufig in den Grenzen des Staatsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats festgelegt werden, sodass eine Maßnahme, die nur für einen Teil des Staatsgebiets eine Vergünstigung gewährt, nicht schon deshalb selektiv im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EGV ist. (…) Es ist nicht auszuschließen, dass eine unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelte Einrichtung aufgrund ihrer rechtlichen und tatsächlichen Stellung gegenüber der Zentralregierung eines Mitgliedstaats so autonom ist, dass sie – und nicht die Zentralregierung – durch die von ihr erlassenen Maßnahmen eine grundlegende Rolle bei der Festlegung des politischen und wirtschaftlichen Umfelds spielt, in dem die Unternehmen tätig sind. In einem solchen Fall bildet das Zuständigkeitsgebiet der unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten Einrichtung, die die Maßnahme erlassen hat, und nicht das gesamte Staatsgebiet den maßgebenden Kontext für die Prüfung der Frage, ob eine Maßnahme einer solchen Einrichtung bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen begünstigt, die sich im Hinblick auf das mit ihr oder der betreffenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. (…) Zur Beurteilung der Selektivität einer Maßnahme, die von einer unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten Einrichtung erlassen wird, um, wie im Fall der in Rede stehenden Maßnahme, nur für einen Teil des Gebietes eines Mitgliedstaats einen niedrigeren Steuersatz als im übrigen Gebiet dieses Staates festzusetzen, ist, wie in Randnummer 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zu prüfen, ob die Maßnahme von dieser Einrichtung in Ausübung von Befugnissen erlassen worden ist, die gegenüber der Zentralgewalt ausreichend autonom sind, und gegebenenfalls, ob sie tatsächlich für alle im Zuständigkeitsgebiet dieser Einrichtung ansässigen Unternehmen oder dort vorhandenen Produktionszweige gilt.“ Der EuGH hat dann diese Voraussetzung in folgender Weise operationalisiert94: „Damit davon ausgegangen werden kann, dass eine unter solchen Umständen getroffene Entscheidung in Ausübung von ausreichend _____________ 94 EuGH v. 6.9.2006 – Rs. C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115, Rz. 67 f.

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autonomen Befugnissen erlassen wurde, muss sie, (…) von einer regionalen oder lokalen Körperschaft erlassen worden sein, der verfassungsrechtlich ein gegenüber der Zentralregierung eigener politischer und administrativer Status eingeräumt worden ist. Sodann muss sie getroffen worden sein, ohne dass die Zentralregierung die Möglichkeit hatte, ihren Inhalt unmittelbar zu beeinflussen. Schließlich dürfen die finanziellen Auswirkungen einer Senkung des nationalen Steuersatzes für die Unternehmen in der Region nicht durch Zuschüsse oder Subventionen aus den anderen Regionen oder von der Zentralregierung ausgeglichen werden. (…) Daher setzt eine politische und fiskalische Autonomie gegenüber der Zentralregierung, die in Bezug auf die Anwendung der Gemeinschaftsregeln über die staatlichen Beihilfen ausreichend ist, wie von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgetragen, voraus, dass die unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelte Einrichtung nicht nur befugt ist, in ihrem Zuständigkeitsgebiet Steuersenkungen ohne jede Rücksichtnahme auf das Verhalten des Zentralstaats zu erlassen, sondern überdies die politischen und finanziellen Auswirkungen einer solchen Maßnahme trägt.“ In seinem Urteil vom 11.9.2008 verbundene Rs. C-428 bis 434/06, UGT Rioja hatte der EuGH die Gelegenheit, diese Kriterien zu präzisieren. In dem nun vorliegenden Urteil vom 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P, sah der EuGH aber gar keine Notwendigkeit, das Thema der regionalen Selektivität aufzugreifen, denn er hielt die in Gibraltar geplanten Regelungen zumindest zum Teil bereits für materiell selektiv. In diesem Urteil hat der EuGH bestätigt, dass im Rahmen der Selektivitätsprüfung nicht die Suche nach dem Referenzsystem von Bedeutung ist. Der EuGH hat die maßgebenden Kriterien wie folgt herausgearbeitet: „Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff der Beihilfe weiter als der Begriff der Subvention, da er nicht nur positive Leistungen wie etwa die Subventionen selbst, sondern auch staatliche Maßnahmen umfasst, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen regelmäßig zu tragen hat, und die somit, obwohl sie keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen nach Art und Wirkungen gleichstehen. (…) Daraus folgt, dass eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Abgabepflichtigen, eine ‚staatliche Beihilfe‘ im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG ist. (…) Dagegen stellen die Vorteile aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 87 EG dar. (…)

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Es ist daher festzustellen, ob das Steuerreformvorhaben einen selektiven Charakter hat, da die Selektivität zum Begriff der staatlichen Beihilfe gehört. (…) Was die Beurteilung der Voraussetzung der Selektivität betrifft, muss nach ständiger Rechtsprechung gemäß Art. 87 Abs. 1 EG festgestellt werden, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, ‚bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige‘ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, zu begünstigen. (…) Im Licht dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob das Gericht Art. 87 Abs. 1 EG in der Auslegung durch den Gerichtshof verkannt hat, indem es befunden hat, dass keiner der drei durch die streitige Entscheidung festgestellten Bestandteile selektive Vorteile gewähre.“

Entscheidend ist somit nicht die Suche nach einem Referenzsystem, sondern nach den Unternehmen, die sich „in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden“. Im Urteil vom 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P – hat der EuGH diese allgemeinen Überlegungen in folgender Weise auf die vorgelegte Konstellation angewendet: „Das Gericht hat bezüglich der ersten beiden in der streitigen Entscheidung festgestellten selektiven Bestandteile der fraglichen Maßnahme, nämlich dem Umstand, dass eine Steuerschuld aus Lohnsummensteuer und BPOT nur entsteht, sofern der Steuerpflichtige Gewinne erzielt, und dass die Steuer gemäß diesen beiden Besteuerungsgrundlagen auf 15 % des Gewinns begrenzt ist, festgestellt, dass die Kommission nicht habe nachweisen können, dass diese Bestandteile selektive Vorteile gewährten. (…) Diese Folgerung des Gerichts ist nicht rechtsfehlerhaft. (…) Wie in Randnr. 73 des vorliegenden Urteils festgestellt, fallen unter den Begriff der staatlichen Beihilfe nur selektive Vorteile und keine Vorteile, die sich aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme ergeben. (…) Die Voraussetzung der Gewinnerzielung und die Begrenzung der Besteuerung des Gewinns sind als solche jedoch unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbare allgemeine Maßnahmen und können daher keine selektiven Vorteile verschaffen. (…) Die Feststellung der Kommission, dass das Kriterium der Gewinnerzielung der inhärenten Logik eines auf Lohnsummensteuer und BPOT beruhenden Besteuerungssystems fremd sei, bedeutet nicht, dass dieses an sich neutrale Kriterium selektiv wird. (…) Das Gericht hat rechtsfehlerfrei befunden, dass die Voraussetzung der Gewinnerzielung und die Begrenzung der Steuer auf 15 % des Gewinns keine selektiven Vorteile gewährten. (…) Die von der Kommission gerügten Vorteile, die sich aus Maßnahmen ergeben, die unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbar sind, nämlich aus der Voraussetzung der Gewinnerzielung, die den wenig gewinnbringend arbeitenden Wirtschaftsteilnehmern zugutekäme, und aus der Begrenzung der Be-

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steuerung, die den sehr gewinnbringend arbeitenden Wirtschaftsteilnehmern zugutekäme, erlauben nicht, die geprüfte Steuerregelung als Regelung anzusehen, die selektive Wirkungen enthält. Diese Wirkungen sind nicht geeignet, ‚bestimmte Unternehmen‘ oder ‚bestimmte Produktionszweige‘ im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG zu begünstigen, sondern nur Folge des zufälligen Umstands, dass der fragliche Wirtschaftsteilnehmer im Veranlagungszeitraum wenig oder sehr gewinnbringend arbeitet.“

In Hinblick auf die nicht vorgesehen gewesene Besteuerung von „Offshore-Unternehmen“ ist der EuGH zum gegenteiligen Resultat gelangt und hat die Auffassung vertreten, dass diesen Unternehmen, die naturgemäß keine physische Präsenz in Gibraltar hätten, selektive Begünstigungen zugutekämen95: „Erstens unterscheidet Art. 87 Abs. 1 EG nach ständiger Rechtsprechung nicht nach den Gründen oder Zielen der staatlichen Maßnahmen, sondern beschreibt diese nach ihren Wirkungen und somit unabhängig von den verwendeten Techniken. (…) Der Ansatz des Gerichts, der allein auf die Regelungstechnik des Steuerreformvorhabens abstellt, erlaubt es jedoch nicht, die Wirkungen der fraglichen steuerlichen Maßnahme zu prüfen, und schließt a priori die Möglichkeit aus, das Fehlen jeglicher Besteuerung der ‚Offshore-Unternehmen‘ als ‚selektive Begünstigung‘ zu betrachten. Daher verstößt dieser Ansatz gegen die in Randnr. 87 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung. (…) Zweitens verkennt der Ansatz des Gerichts auch die in Randnr. 71 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung, der zufolge das Vorliegen einer selektiven Begünstigung eines Unternehmens voraussetzt, dass die Belastungen, die dieses Unternehmen regelmäßig zu tragen hat, vermindert werden. (…) Der Gerichtshof hat zwar in Randnr. 56 des Urteils Portugal/Kommission festgestellt, dass der Bestimmung des Bezugsrahmens im Fall steuerlicher Maßnahmen eine besondere Bedeutung zukommt, da das tatsächliche Vorliegen einer Begünstigung nur in Bezug auf eine sogenannte ‚normale‘ Besteuerung festgestellt werden kann. (…) Gleichwohl ist entgegen der Argumentation des Gerichts sowie dem Vorbringen des Government of Gibraltar und des Vereinigten Königreichs nach dieser Rechtsprechung die Einstufung eines Steuersystems als ‚selektiv‘ nicht davon abhängig, dass dieses so konzipiert ist, dass die Unternehmen, denen möglicherweise eine selektive Begünstigung zugutekommt, grundsätzlich denselben steuerlichen Belastungen unterliegen wie die sonstigen Unternehmen, dass sie aber von Ausnahmevorschriften profitieren, sodass die selektive Begünstigung im Unterschied zwischen der normalen steuerlichen Belastung und der Belastung der erstgenannten Unternehmen erblickt werden kann. (…) Ein solches Verständnis des Kriteriums der Selektivität würde entgegen der in Randnr. 87 des vorliegenden Urteils

_____________ 95 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 63.

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angeführten Rechtsprechung voraussetzen, dass eine Steuerregelung, um als selektiv eingestuft werden zu können, nach einer bestimmten Regelungstechnik konzipiert ist, was dazu führen würde, dass nationale Steuervorschriften der Kontrolle auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen von vornherein aus dem bloßen Grund entzogen sind, dass sie auf einer anderen Regelungstechnik beruhen, obwohl sie rechtlich und/oder tatsächlich dieselben Wirkungen entfalten. (…) Dies gilt vor allem für ein Steuersystem, das, wie im vorliegenden Fall, statt allgemeine Vorschriften für sämtliche Unternehmen vorzusehen, von denen zugunsten bestimmter Unternehmen Ausnahmen gemacht werden, zu demselben Ergebnis führt, indem es die Steuervorschriften derart anpasst und verknüpft, dass ihre Anwendung selbst zu einer unterschiedlichen steuerlichen Belastung für die verschiedenen Unternehmen führt. (…) Drittens hat das Gericht der Kommission in den Randnrn. 184 bis 186 des angefochtenen Urteils zu Unrecht vorgeworfen, das Vorliegen einer selektiven Begünstigung der ‚Offshore-Unternehmen‘ nicht nachgewiesen zu haben, da sie in der streitigen Entscheidung keinen Bezugsrahmen für die Feststellung einer selektiven Begünstigung festgelegt habe. (…) Diesen Randnummern lässt sich nämlich entgegen den Feststellungen des Gerichts zu den Randnrn. 143, 144 und 150 der streitigen Entscheidung entnehmen, dass die Kommission das Vorliegen einer selektiven Begünstigung der ‚Offshore-Unternehmen‘ im Hinblick auf die fragliche Steuerregelung geprüft hat, die formell für alle Unternehmen gilt. In der streitigen Entscheidung wird diese Regelung daher offensichtlich als Bezugsrahmen festgelegt, im Hinblick auf den die ‚OffshoreUnternehmen‘ tatsächlich begünstigt wären. (…) Schließlich hat die Kommission in der streitigen Entscheidung entgegen den Feststellungen des Gerichts rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass den ‚Offshore-Unternehmen‘ im Hinblick auf diesen Bezugsrahmen selektive Begünstigungen im Sinne der in Randnr. 75 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zugutekommen. (…) Zwar fallen, wie das Gericht in Randnr. 146 des angefochtenen Urteils feststellt, mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Bestimmung der Besteuerungsgrundlagen und die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten, die über Steuerautonomie verfügen. (…) Gleichwohl hat das Gericht es versäumt, die fragliche Regelung insgesamt zu prüfen, und nicht die Gesichtspunkte berücksichtigt, die die Kommission ihrer Bewertung der fraglichen Regelung in der streitigen Entscheidung zugrunde gelegt hat. (…) In diesem Zusammenhang ist auf die charakteristischen Merkmale der fraglichen Regelung hinzuweisen, wie sie in den Randnrn. 21 bis 25 des angefochtenen Urteils beschrieben werden. (…) Kennzeichen dieser Regelung ist einerseits die Kombination von Lohnsummensteuer und BPOT als einzigen Besteuerungsgrundlagen, zu denen die Voraussetzung der Erzielung eines Gewinns hinzukommt, dessen Besteuerung auf 15 % begrenzt ist, und andererseits das Fehlen einer allgemein anwendbaren Besteuerungsgrundlage, die eine Besteuerung aller von dieser Regelung betroffenen Unternehmen vorsieht. (…)

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Angesichts ihrer in der vorangegangenen Randnummer aufgeführten Merkmale führt die streitige Regelung durch die Kombination dieser Grundlagen, auch wenn diese auf an sich allgemeinen Kriterien beruhen, in der Praxis offensichtlich zu einer unterschiedlichen Behandlung der Gesellschaften, die sich im Hinblick auf das mit dem Steuerreformvorhaben verfolgte Ziel, ein allgemeines Besteuerungssystem für alle in Gibraltar ansässigen Unternehmen einzuführen, in einer vergleichbaren Lage befinden. (…) Daher folgt aus der Kombination dieser Besteuerungsgrundlagen nicht nur eine Besteuerung, die von der Zahl der Arbeitnehmer und der Größe der genutzten Geschäftsräume abhängt, sie schließt vielmehr, da andere Besteuerungsgrundlagen fehlen, auch von vornherein jede Besteuerung der ‚Offshore-Unternehmen‘ aus, da diese keine Arbeitnehmer beschäftigen und auch keine Geschäftsräume nutzen. (…) Zwar kann nach der in Randnr. 73 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eine unterschiedliche steuerliche Belastung, die sich aus der Anwendung einer ‚allgemeinen‘ Steuerregelung ergibt, als solche nicht ausreichen, um im Rahmen von Art. 87 Abs. 1 EGV die Selektivität einer Besteuerung festzustellen. (…) Um als Kriterien angesehen werden zu können, die selektive Vorteile verschaffen, müssen die in einem Steuersystem als Besteuerungsgrundlage festgelegten Kriterien daher auch geeignet sein, die begünstigten Unternehmen anhand ihrer spezifischen Eigenarten als privilegierte Gruppe zu kennzeichnen, und damit die Einstufung eines solchen Systems als Regelung ermöglichen, die ‚bestimmte‘ Unternehmen oder ‚bestimmte‘ Produktionszweige im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EGV begünstigt. (…) Genau dies ist hier jedoch der Fall. (…) In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Umstand, dass die ‚Offshore-Unternehmen‘ nicht besteuert werden, keine zufällige Folge der fraglichen Regelung ist, sondern unvermeidliche Konsequenz der Tatsache, dass die Besteuerungsgrundlagen genau so konzipiert sind, dass die ‚Offshore-Unternehmen‘, die als solche keine Arbeitnehmer beschäftigen und keine Geschäftsräume nutzen, keine der in dem Steuerreformvorhaben enthaltenen Bemessungsgrundlagen aufweisen. (…) Der Umstand, dass die ‚Offshore-Unternehmen‘, die im Hinblick auf die in dem Steuerreformvorhaben enthaltenen Besteuerungsgrundlagen eine Gruppe von Unternehmen bilden, gerade aufgrund der typischen und spezifischen Merkmale dieser Gruppe nicht besteuert werden, erlaubt daher die Feststellung, dass diesen Unternehmen selektive Begünstigungen zugutekommen.“

Die Argumente des EuGH, auf die Annahme eines Referenzsystems zu verzichten, sind überzeugend. Der EuGH hat erkannt, dass alleine die Frage nach der tatsächlichen und rechtlich vergleichbaren Situation relevant ist. Die Suche nach der „normalen“ Besteuerung hat zu Recht keine Rolle gespielt. Während GA Jääskinen noch darauf beharrt hatte, dass das Vorliegen eines Vorteils und die Selektivität streng getrennt

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voneinander zu prüfen sind96, hat sich der EuGH offenbar der – auch von mir vertretenen97 – Auffassung angeschlossen, dass die Identifikation eines Vorteils in der Selektivitätsprüfung aufgeht. Ob die vom EuGH zur Prüfung des tatsächlichen und rechtlichen Vorteils entwickelten Kriterien tragfähig sind, ist aber eine andere Frage: Den Umstand, dass die Lohnsummensteuer und die Grundnutzungssteuer mit 15 % des Gewinns gedeckelt ist, hätte man nämlich auch als begünstigte Besteuerung einer Gruppe von Unternehmen mit „typischen und spezifischen Merkmalen“ qualifizieren können: Unternehmen, die über eine entsprechend hohe Lohnsumme und große Büroräumlichkeiten verfügen, profitieren nämlich insoweit, als sie ohne diese Deckelung höher besteuert würden. Umgekehrt hätte man wohl auch die Nichtbesteuerung von Unternehmen ohne Arbeitnehmer und ohne Büroräumlichkeiten als „zufällige Folge der fraglichen Regelung“ ansehen können, wonach das für Gibraltar vorgesehene Steuersystem eben nur an die Zahl der Arbeitnehmer und die Größe der Büroräumlichkeiten anknüpft. Die vom EuGH angebotenen Formeln scheinen sich beliebig füllen zu lassen. Entscheidend hätte die Intensität des Wettbewerbsverhältnisses sein müssen. Vor diesem Hintergrund stellt sich aber die Frage, ob nach diesem Maßstab die Ausklammerung der „Offshore-Unternehmen“ aus der Besteuerung zur Selektivität führt: Die in Gibraltar aktiven Unternehmen stehen mit jenen Unternehmen, die gar keine physische Präsenz in Gibraltar haben, in keinem anderen Wettbewerbsverhältnis als mit jedem anderen Unternehmen in jedem beliebigen anderen Land. Diese „Offshore-Unternehmen“ entfalten ihre wirtschaftliche Aktivitäten naturgemäß nicht in Gibraltar, sondern – wenn überhaupt – außerhalb. Alle anderen Unternehmen, die gleich von vornherein nicht in Gibraltar gegründet wurden und dort auch keine wirtschaftlichen Aktivitäten entfalten, stehen im selben Wettbewerbsverhältnis zu den in Gibraltar aktiv tätigen Unternehmen, ohne dass die fehlende Besteuerung dieser, überhaupt keinen Bezug zu Gibraltar habenden Unternehmen in Gibraltar den Beihilfetatbestand auslösen würde. _____________ 96 Generalanwalt Jääskinen, Schlussantrag v. 7.4.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P – Commission and Spain/Government of Gibraltar and United Kingdom, noch nicht in Slg., Rz. 158; so auch Schön, 17. ÖJT, Referate und Diskussionsbeiträge, Band IV/2, 28 ff. 97 Siehe M. Lang, 17. ÖJT, IV/1, 17 f.

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Für den EuGH machte es möglicherweise einen Unterschied, ob die Begünstigung und deren Höhe für ein Unternehmen schon von Beginn an absehbar ist: Während die Höhe des Gewinns – und damit die in Gibraltar vorgesehene Deckelung der Steuerlast – von vornherein nicht abschätzbar ist, ist für Unternehmen, die keine Arbeitnehmer in Gibraltar beschäftigen und dort auch über keine Betriebsräumlichkeiten verfügen, klar, dass sie auch keiner Besteuerung unterliegen werden. Allerdings lässt sich auch bei Unternehmen, die in Gibraltar zunächst keine Arbeitnehmer beschäftigen und keine Räume haben, nicht ausschließen, dass sich dies ändern wird. Umgekehrt ist auch der zu erwartende Gewinn Gegenstand betriebswirtschaftlicher Planungsüberlegungen, sodass Prognosen über die Höhe des Vorteils nicht völlig unmöglich sind. Vor diesem Hintergrund könnte im Hinblick auf § 8c KStG versucht werden, den Beihilfevorwurf durch den Hinweis auszuräumen, dass es ein Unternehmen bei Aufnahme seiner Tätigkeit eben gerade nicht darauf anlegt, später die Voraussetzungen der Sanierungsklausel zu erfüllen. Zum Zeitpunkt des Beginns der Tätigkeit ist nicht abschätzbar, ob das Unternehmen überhaupt in späteren Jahren Verluste erleiden wird und – vor allem – ob es sich – um die Worte der Kommission zu verwenden – um ein Verluste schreibendes, aber ansonsten gesundes Unternehmen oder aber um ein insolventes oder überschuldetes oder von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedrohtes Unternehmen handelt. Die Auswirkungen des § 8c KStG ließen sich aus diesem Blickwinkel als „zufällige Folge der fraglichen Regelung“ beschreiben. Dagegen lässt sich aber einwenden, dass in dem Zeitpunkt, in dem die Anteile veräußert werden, schon eher beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen der Sanierungsklausel vorliegen werden. Im Veräußerungszeitpunkt lassen sich die unter die Sanierungsklausel fallenden Unternehmen daher möglicherweise nach „typischen und spezifischen Merkmalen“ qualifizieren. Die Wertungen, die dem EuGH-Urteil vom 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P zugrunde liegen, können allerdings aus mehreren Gründen nur mit großer Vorsicht bei der Beurteilung anderer Konstellationen fruchtbar gemacht werden: Der von Gibraltar vorgelegte Gesetzgebungsvorschlag sollte offenkundig durch eine mehr oder weniger elegante Regelungstechnik sicherstellen, dass „Offshore-Unternehmen“ begünstigt werden, ohne dass dies der Vorschrift auf die Stirn geschrieben ist. Der Ausnahmecharakter der Regelung sollte nicht mit Händen zu greifen sein. Dennoch hätten die Regelungen dieselben Wirkungen haben sollen wie eine Vorschrift, die zwar alle in Gibraltar ansässigen 113

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Unternehmen in die Steuerpflicht einbezieht, die „Offshore-Unternehmen“ aber ausnimmt. Die Regierung von Gibraltar zielte also offenkundig darauf ab, sich einer Beurteilungspraxis der Kommission zu entziehen, die als Ausgangspunkt der Beihilfeprüfung nach der „normalen“ Besteuerung fragt. Die Richter erkannten vermutlich die hinter der vorgeschlagenen Regelung stehende Absicht der Regierung von Gibraltar, ließen sich aber richtigerweise nicht dazu hinreißen, eine auf subjektive Kriterien abstellende Beihilfeprüfung zu entwickeln. Ähnlich wie eine auf die Intention des Steuerpflichtigen abstellende Missbrauchsvorschrift immer problematisch ist, weil sich innere Vorgänge nicht beweisen lassen, würde auch in Beihilfekonstellationen eine auf die „Missbrauchsabsicht“ eines Staates abstellende Rechtsprechung nur dazu führen, dass jene Staaten profitieren, denen es gelingt, ihre eigentlichen Motive erfolgreich zu verschleiern. Der EuGH hat am Beispiel dieser Konstellation erkannt, dass eine auf die Normalbesteuerung abzielende Vorgangsweise nicht zielführend ist, sondern dass nach der rechtlichen und tatsächlichen Vergleichbarkeit von Situationen zu fragen ist. Um die von der Regierung von Gibraltar offenbar geplante Umgehung des Beihilfetatbestands zu vereiteln, musste er im konkreten Fall einen Maßstab anlegen, nach dem schon bei relativ geringer Intensität des Wettbewerbsverhältnisses Vergleichbarkeit der Situationen vorliegt. Ob der EuGH daher in weniger „missbrauchsverdächtigen“ Konstellationen denselben Maßstab anlegt, lässt sich nur schwer vorhersagen. Eng damit verbunden ist der allgemein-politische Hintergrund dieses Urteils: Der Kommission sind seit geraumer Zeit die in manchen Drittstaaten bestehenden Regelungen, die ausländische Gewinne bestimmter Gesellschaften nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einbeziehen, ein Dorn im Auge.98 So hat die Kommission die Steuervorschriften zahlreicher Schweizer Kantone zugunsten von Holdinggesellschaften, gemischten Gesellschaften und Verwaltungsgesellschaften als Form der staatlichen Beihilfe qualifiziert. Der Einwand, von Drittstaaten werde die Abschaffung solcher Besteuerungsregime verlangt, obwohl nicht gesichert ist, dass gegen ähnliche Regelungen in EU-Mitgliedstaaten mit Mitteln des Unionsrechts erfolgreich vorgegangen werden könne, konnte bisher nicht völlig entkräftet werden. Der EuGH hat nun der Kommission den Rücken gestärkt und ihr ermöglicht, gegenüber Drittstaaten glaubwürdiger aufzutreten: Die Rechtsprechung hat verdeutlicht, dass _____________ 98 Dazu M. Lang, Das Gibraltar-Urteil des EuGH: Neue beihilferechtliche Vorgaben für das Steuerrecht?, ÖStZ 2011, 593 (598).

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„Offshore-Steuerregime“ in der EU auch unionsrechtlich nicht hinzunehmen sind. Auch vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob der EuGH auch in anderen Konstellationen bei seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung denselben Maßstab anlegen wird.

F. Würdigung und Ausblick Das unionsrechtliche Beihilferecht wird von der Rechtsprechung des EuGH sukzessive zur Entfaltung gebracht. Die ersten Urteile, in denen der EuGH die Bedeutung des Beihilferechts für das Steuerrecht bestätigt hat, sind zwar noch vor dem Beginn der steuerlichen Judikatur des EuGH auf dem Gebiet der Grundfreiheiten ergangen. Dennoch ist die Zahl der vom Gerichtshof entschiedenen Fälle deutlich geringer. Dies hat nicht zuletzt mit der diametral entgegengesetzten Interessenkonstellation zu tun: Durch Berufung auf die Grundfreiheiten kann der Steuerpflichtige die Ausweitung einer ihm ursprünglich vorenthaltenen Begünstigung verlangen. Die Anwendung des Beihilfetatbestands bewirkt hingegen in aller Regel, dass dem Steuerpflichtigen ein ihm vom nationalen Gesetzgeber in Aussicht gestellter Vorteil versagt bleibt. Beihilferechtliche Fragestellungen gelangen daher auf dem Gebiet des Steuerrechts dann auf den Prüfstand des EuGH, wenn die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einleitet oder wenn ein vorlegendes Gericht den tatsächlichen oder vermeintlichen Verstoß gegen das Beihilfeverbot von Amts wegen aufgreift. Der EuGH hat allerdings auch schon begonnen, die Voraussetzungen für die Konkurrentenklage zu präzisieren. Mitbewerber könnten sich in Zukunft verstärkt bemühen, dass einem anderen Unternehmen eine zu Unrecht gewährte Begünstigung wieder genommen wird. Der Anreiz, gegen den Konkurrenten vorzugehen, ist aber dadurch gemindert, dass es dem Antragsteller im Regelfall nicht gelingen kann, dass er selbst in den Genuss des Vorteils kommt. Das Beihilfeverbot – von der Rechtsprechung weiter entfaltet – kann jedenfalls die steuerpolitischen Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten viel stärker begrenzen als es die Grundfreiheiten je vermochten. Die Möglichkeiten der Staaten, im Wege des Steuerrechts Wirtschaftspolitik zu betreiben, werden kleiner werden. Die geringer werdenden Spielräume nationaler Steuerpolitik könnten es den Mitgliedstaaten leichter machen, sich mit einer an Bedeutung gewinnenden EU-weiten Steuerharmonisierung und Verlagerung von Steuerkompetenzen an die Union abzufinden. 115

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Europäisches Beihilferecht und Besteuerung – am Beispiel des § 8c KStG Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, WU Wien

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Lang, haben Sie vielen Dank für Ihre umfassende Darstellung der Thematik. Sie bezieht ihre Aktualität nicht allein aus der vor zwei Wochen ergangenen Entscheidung des EuGH in dem Verfahren Gibraltar1. Vielmehr läuft am kommen Montag2 die Frist für Klagen betroffener Unternehmen gegen die Entscheidung der Kommission ab, wonach die sog. Sanierungsklausel in § 8c Abs. 1a KStG eine unzulässige Beihilfe darstellen soll. Herr Bernhardt, wie stark ist es im Bewusstsein verankert, dass gewisse steuerliche Regelungen, die im Einzelfall zunächst günstig erscheinen mögen, Risiken bergen können? Nämlich Risiken, dass man rück_____________ 1 EuGH v. 15.11.2011 – verbundene Rs. C-106/09 P und C-107/09 P. 2 5.12.2011.

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wirkend finanzielle Vorteile zurückgewähren muss, möglicherweise sogar ungeachtet nationaler Bestandskraft- und Vertrauensschutzregelungen. Bernhardt Das will ich gerne beantworten. Diese Problematik ist uns sehr wohl bewusst und ist ein nicht unbedeutendes Thema in unseren Erfahrungsaustauschen, weil es letztlich auch um Konkurrenz geht. Wenn wir nur einmal die Forschungsförderung ansehen, da haben wir einen richtigen Wettbewerb auch mit Nachbarstaaten in unserer ganz unmittelbaren Nähe. Gerade Frankreich hat, ebenso wie die Niederlande, ein exzellentes System, das sehr vorteilhaft für die Industrie ist. Wir haben im Augenblick wieder einmal eine politische Diskussion in Deutschland zu diesem Thema. Ob es eine Forschungsförderung mit steuerlichen Mitteln geben wird oder kann, auch wegen der haushaltspolitischen Restriktionen, muss man abwarten. Aber das Grundproblem für Unternehmen, die global aufgestellt sind, ist natürlich schon, wo man letztlich derartige Aktivitäten betreibt. Wenn man Allokationsentscheidungen bzw. Standortentscheidungen getroffen hat, muss man wissen, dass dann mögliche Aberkennungen und Rückforderungsansprüche schon ein erhebliches Thema sein können. In diesem Zusammenhang, darauf ist auch im Vortrag zu Recht hingewiesen worden, kann das Thema Konkurrentenklage eine gesteigerte Bedeutung erlangen. Denn man muss sich schon im Unternehmen die Frage stellen, ob man nicht irgendwas dagegen unternehmen kann, dass Wettbewerber in anderen Staaten bessere Bedingungen haben. Wenn ich noch ein oder zwei weitere Aspekte dazu beitragen darf. Ich sehe einmal von den eigenen Überlegungen im Unternehmen ab und schaue mehr auf das Ganze, auf die volkswirtschaftliche Komponente. Letztlich muss man natürlich sehen, was diese Beihilferechtsprechung und diese Entwicklung, die Trends, die wir dort sehen, für die Standortpolitik bedeuten. Was heißt das für die Frage, welche konjunkturpolitischen Maßnahmen ergriffen werden können? Wir haben das mit dem § 8c KStG ganz konkret gesehen. Was heißt das auch für Unternehmen, gerade kleine innovative Unternehmen, die in Probleme geraten können? Was heißt es für Umweltaktivitäten, die man fördern möchte, oder Arbeitsplatzschaffung? Es gibt eine ganze Palette von volkswirtschaftlich durchaus nützlichen und wünschenswerten Förderungsüberlegungen. Das ist auch nicht nur eine Frage der Unternehmen, die letztlich 118

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aus grundsätzlichen Überlegungen irgendwo begünstigt werden sollen. Es stellt sich die Frage an den Staat, an das Gemeinwesen, was kann man tun? Und zwar, was kann man berechtigterweise tun, ohne dass man das Risiko läuft, am Ende ausgebremst zu werden? Und eine Frage ist hier auch zu Recht gestellt worden: Muss man öfters notifizieren oder hieße das, schlafende Hunde zu wecken? Aber das Risiko, dass man hinterher sozusagen „ertappt“ wird, steigt. Das hat natürlich letztlich auch Auswirkungen auf die Begünstigten, die darauf aufbauen und dann am Ende sozusagen die Zeche zahlen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Müller-Gatermann, es ist teilweise diskutiert worden, ob durch die Beihilfeprüfungen des EuGH möglicherweise eine Art Systemgerechtigkeitsprüfung durch die Hintertür kommt. Referenzsystem klingt ein bisschen danach, dass man mal schaut, ob alles zusammenpasst. Wie wird im Bundesfinanzministerium das Problem der Beihilfe gesehen? Warum hat die Bundesregierung die Sanierungsklausel, die jetzt immerhin den EuGH beschäftigt, vorher nicht notifiziert? Wollte man keine schlafenden Hunde wecken oder hat man schlicht das Problem nicht gesehen? Fühlt man sich an einer neuen Ecke eingeengt, nachdem die Grundfreiheiten etwas aus dem Fokus geraten sind? Müller-Gatermann Ich habe in meiner Zeit im Finanzministerium ein einziges Mal in meinem Bereich, in der Unternehmenssteuer, eine Notifizierung erlebt. Das war in den 80er-Jahren. Da gab es eine kurze Zeit eine Vorschrift, ich glaube, es war § 6c EStG. Ich habe dabei gelernt, dass der Begriff der Beihilfe ein sehr breiter Begriff ist. Dann hat mich das Thema nicht mehr beschäftigt, bis jetzt hier bei dem § 8c KStG. Da ist unser Haus in der Tat der Auffassung, dass keine Selektivität vorliegt. Begründet wird das wohl damit, dass die Sanierungsklausel im Prinzip jedes Unternehmen treffen kann. Ob das letztlich trägt, da wage ich keine Prognose. Wir haben eine Nichtigkeitsklage eingelegt, die Entscheidung müssen wir abwarten. Die meiste Hoffnung hat mir dafür die Argumentation i. S. einer gleichheitsrechtlichen Prüfung gemacht, wonach die Sanierungsklausel als eine differenzierende Lösung den speziellen Fall der Sanierungsbedürftigkeit begründen kann. Mir leuchtet das jedenfalls ein. Aber man muss das abwarten. Wir sind wohl auch dabei, dass wir in einem Einzelfall in einem Verfahren eines Steuerpflichtigen, der 119

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den Vorteil zurückzahlen muss und der ja auch klagen kann, als Streithelfer mitwirken. Prof. Dr. Lüdicke Das, was die Bundesregierung in dem Verfahren bisher vorgetragen hat, ist öffentlich – jedenfalls insoweit, als es von der Kommission in ihrer Entscheidung wiedergegeben worden ist3. Da hat man den Eindruck, dass die Bundesregierung ein bisschen lieblos vorgegangen ist, wenn ich das so sagen darf. Das klingt alles nicht so richtig überzeugend. Nun weiß ich natürlich nicht, ob da auch der Stille-Post-Effekt eine Rolle spielt, weil die Kommission das alles nicht ganz richtig wiedergegeben hat. Aber wenn man als eins der vorgebrachten Argumente liest, die Sanierungsklausel sei auch damit zu rechtfertigen, dass sie Missbräuche verhindere, frage ich mich schon, wie das denn wohl gehen kann. Das kann man doch nicht ernsthaft vortragen. Müller-Gatermann Es wird teilweise in der Tat gelästert, dass man da ein bisschen lieblos mit umgegangen ist. Denn das kostet ja, wenn wir gewinnen würden, eigentlich den Fiskus nur Geld. Prof. Dr. Lüdicke … was aber der Gesetzgeber mal auszugeben bereit war. Müller-Gatermann Na gut, aber der Gesetzgeber wirkt letztlich auch beim Haushalt mit. Aber ich kann dazu eigentlich gar nichts sagen. Dass Haushaltsüberlegungen im Augenblick durchaus im Vordergrund sind, ist klar. Aber ich meine, wenn man gesetzlich eine solche Klausel einführt, muss man das mit vollem Herzen tun und dahinterstehen. Und man muss das dann auch überzeugend verteidigen. Ich bin nicht unmittelbar betroffen, deswegen kann ich nur berichten, was mir vorgetragen wurde. Aber wenn ich wieder nach Berlin gehe, würde ich in der Tat bei den Kollegen doch nochmal diese Argumentation von Herrn Lang mit der Gleichheitsprüfung anregen, denn da verspreche ich mir den größten Erfolg von. _____________ 3 Europäische Kommission, Beschluss v. 26.1.2011, ABl. EU 2011, L 235, 26–41.

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Prof. Dr. Lüdicke Herr Gosch, gibt es beim BFH schon Erkenntnisse zur Beihilfe? Prof. Dr. Gosch Sagen wir mal so, im I. Senat praktisch nicht, bis auf eine anhängige Sache, die aber nichts mit dem § 8c KStG zu tun hat, sondern mit der ebenfalls beihilfesensiblen und beihilferelevanten Förderung von Betrieben gewerblicher Art in § 8 Abs. 7 ff. KStG. Die Revision betrifft dauerdefizitäre Dauerverlustbetriebe, die bestimmte soziale, kulturelle oder ähnliche Aufgaben erfüllen und die unbeschadet ihrer immanenten Dauerverluste kraft gesetzlicher Anordnung gleichwohl außerhalb des Spektrums der verdeckten Gewinnausschüttung bleiben sollen. Der I. Senat hat diese Revision wegen der Frage zugelassen, ob sich daraus eine verbotene Beihilfe ergibt. Der klagende Steuerpflichtige, also der Betrieb gewerblicher Art, war naturgemäß anderer Auffassung, im Ergebnis ebenso wie die Finanzverwaltung. Das ist der seltene Fall, in dem der Fiskus und der Steuerpflichtige letztlich gemeinsam an einem Strang ziehen: Der eine gewährt den Vorteil, der andere will ihn behalten. Fraglich ist eben nur, ob gerade darin nicht die inkriminierte Wettbewerbsverfälschung liegt. Das zur aktuellen „Szene“. Aber was ich sehr spannend fand, Herr Lang, betrifft etwas anderes, nämlich den von Ihnen in den Vordergrund gestellten Gleichheitsaspekt. Sie erkennen zwar das beihilferelevante selektive Vorgehen des Gesetzgebers, stellen dieses aber zurück, wenn die betreffende Maßnahme – so wie bei der Gibraltar-Entscheidung – nicht nur eine relative, sondern eine absolute Eignung zur Beihilfe hat, obschon eine spezifische Gruppe begünstigt wird. Bei gewissermaßen neutralen Förderungen fehlt der Vergleichsbezugspunkt, der ohnehin mehr oder weniger beliebig ist, wie Sie ja sehr schön auch am § 8c KStG gezeigt haben. Was ist Henne und was ist Ei? Ganz genau wissen wir es nicht. Worin liegt der Grundsatz – ist das derjenige des unbedingten interperiodischen oder überperiodischen Verlustabzugs? Trifft das auch bei § 8c KStG zu? Oder ist hier die vermeintliche Ausnahme der Verlustbeschränkung die eigentliche Regel? Eine derartige Relativität nehmen Sie doch – so habe ich Sie verstanden – in der Gibraltar-Entscheidung an. Eine Gruppe, die, wie Sie es formuliert haben, infolge ihrer spezifischen Eigenheit als privilegierte Gruppe zu qualifizieren ist, ist dann bei einer solchen, formal neutral „daherkommenden“ Förderung das Maß der Dinge. Das ließe sich denn u. U. auch auf § 8c KStG über121

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tragen. Hier sind es die Sanierungsbetriebe, welche unbeschadet einer selektiven Vergleichbarkeit eine qualifizierte Gruppe bilden, die begünstigt werden. Nimmt man das an, dann bedarf es der besagten Henne-Ei-(oder besser Regel-Ausnahme-)Suche nicht mehr; allein schon aus ihrer Wirkung ergibt sich der Beihilfecharakter der Sanierungsklausel. Wobei das dem Gesetzgeber als Vater dieser Klausel keineswegs unbekannt gewesen sein dürfte, das sei ergänzend angemerkt. Bereits zuvor gab es den gesetzgeberischen Versuch, Wagniskapitalgesellschaften zu begünstigen. Dieser Versuch erweckte denn auch sofort den Argwohn der EG-Kommission. Man hat das dann zurückgezogen. Man hat überdies – allerdings, wenn ich das recht sehe, ohne vorige Beanstandung seitens der Kommission – die Nichtanwendung des § 8c KStG aufgrund des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes für Rettungsmaßnahmen des Sonderfonds zurückgezogen. Der Gesetzgeber hätte bei Schaffung der Sanierungsklausel also durchaus gewappnet sein müssen, dass Angriffe aus der „Beihilfeecke“ drohen, und er war das wahrscheinlich auch. Erlauben Sie mir noch ein Wort aus Rechtsschutzsicht, was die Konkurrentenklage anbelangt. In bescheidenem Maße, wenn auch nicht unbedingt auf die Beihilfe gerichtet, hatte damit auch der BFH schon zu tun. Nach meinem Verständnis erfordert eine solche Klage ggf. auch ein Auskunftsersuchen, gestützt auf entsprechende Zivilrechtsregeln und in Gestalt einer Stufenklage, die dem eigentlichen Anspruch vorzuschalten ist. Dessen bedarf es, um überhaupt herauszubekommen, wie weit Begünstigungen in concreto und in casu vorliegen. Sonst wird man meist mit der Nebelstange im Dunkeln herumtappen. Lässt man ein derartiges gestuftes Rechtsmittel aber zu, dann macht die Konkurrentenklage aus meiner Sicht Sinn, auch für den Praktiker. Prof. Dr. Lüdicke Gerade, was die Konkurrentenklagen betrifft, wird man möglicherweise auch nicht nur auf abweichende gesetzliche Regelungen, sondern auch auf tatsächliche Verwaltungspraxis abstellen müssen. Dr. Loschelder Ich glaube, dass in diesem Bereich einiges an Neuem auf die Finanzgerichte zukommen wird. Ich habe in meiner richterlichen Praxis mit einer solchen Konkurrentenklage bislang noch nichts zu tun gehabt. Wenn wir an Konkurrentenklagen denken, dann doch meist im Zusammenhang mit der Besetzung von Vorsitzenden-Stellen. 122

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Aber im Ernst: Das prozessuale Instrumentarium ist im Prinzip vorhanden. Wir können die Auskunftsansprüche, die Herr Gosch angesprochen hat, im Wege einer allgemeinen Leistungsklage geltend machen. Der Kläger muss hierzu eine potenzielle Wettbewerbsverletzung substanziiert und glaubhaft darlegen,4 das ist die erste Voraussetzung. Die zweite Voraussetzung ist, dass er sich auf eine drittschützende Norm berufen kann. Das kann auch eine Norm sein, die aus wirtschaftspolitischen Gründen den Konkurrenten begünstigt. Gegebenenfalls muss hier auf die drittschützende Wirkung von Art. 12 und Art. 14 GG zurückgegriffen werden. Letztlich entscheidend ist, ob eine konkrete Wettbewerbssituation vorliegt. Die Frage, wie man mit dem prozessualen Instrumentarium des finanzgerichtlichen Verfahrens Konkurrentenstreitigkeiten bewältigen kann, stellt sich besonders in Drei-Personen-Konstellationen, also dann, wenn der Steuerpflichtige mit einer sog. negativen Konkurrentenklage einem anderen die steuerliche Begünstigung, die diesem gewährt worden ist, aberkannt haben möchte. In einem solchen Fall wird man auf das Rechtsinstitut der Beiladung zurückgreifen, um die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung auf den Dritten zu erstrecken. Letztlich ist hier aber noch sehr viel offen. Prof. Dr. Schön Ich möchte zu drei Punkten etwas sagen. Ich bin sehr froh, dass Herr Lang diesen Vortrag hier gehalten hat. Er knüpft ein bisschen an sein wirklich sehr lesenswertes, sehr empfehlenswertes Gutachten für den österreichischen Juristentag 2009 an, in dem er diese Grundfrage des Beihilferechts aufgegriffen hat, was eigentlich der Tatbestand der Beihilfe ist. Was ist das Aufgriffskriterium? Sein Vorschlag, der sich in die allgemeine Dogmatik der Diskriminierungsverbote einfügt, ist, dass es doch in Wahrheit um ungerechtfertigte Differenzierungen geht, um die falschen Maßstäbe, um Wettbewerbsrelevanz etc. Das wäre eine schöne und elegante Lösung. Mein Eindruck ist nur, dass es nicht die Lösung des EU-Vertrages bzw. des AEUV ist. Der geht zunächst vom Tatbestand der offenen Subvention aus, bei der ein Geldbetrag gezahlt wird. Und die ganzen Steuerthemen kommen erst dann herein, wenn man fragt, wann der Verzicht auf eine bestimmte Besteuerung einer solchen offenen Subvention entspricht. Das ist die Grundsatzfrage des EuGH _____________ 4 Vgl. etwa FG Münster v. 7.12.2010 – 15 K 3614/07 U, DStR 2011, 172 (Rev. BFH VII R 4/11).

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seit bald 60 Jahren. Diese Antwort lautet dann immer: Es muss ein Vorteil gegenüber der Belastung gewährt sein, die Unternehmen normalerweise zu tragen haben. D. h., das erste Tatbestandsmerkmal, das im Vortrag gestreift wurde, ist gar nicht identisch mit dem der Selektivität, sondern ist das Merkmal des Vorteils. Und wenn der EuGH dann in so einer Beihilfeprüfung weitergeht, dann muss auch dieser Vorteil bewertet werden. Da müssen Beihilfeäquivalente bemessen werden. Dieser Vorteil muss hinterher verwaltungstechnisch zurückgewährt werden. Da steckt also schon ein Regel-Ausnahme-Verhältnis drin, von dem ich sofort einräume, dass es nicht leicht festzustellen ist. Der § 8c KStG ist ein Musterbeispiel für die Probleme, in die man läuft, wenn man RegelAusnahme-Verhältnisse definieren will. Da bin ich mit Michael Lang völlig einer Meinung. Ich glaube nur, die aktuelle Fassung des AEUV oder auch die frühere, der Wortlaut ist ja seit 1957 unverändert, gibt das so nicht her. Ein Sonderfall für mich ist der Fall Gibraltar. Die Jungs sind wirklich zu weit gegangen. Man muss sich einmal vorstellen: Sie erheben eine Körperschaftsteuer von 15 % und sagen, davon nehme ich aber alle Gesellschaften aus, die bei uns keine Büros haben und niemanden beschäftigen. Das ist eine klare Beihilfe, überhaupt keine Frage. Und jetzt kommt ein Schlaumeier bei ihnen in der Finanzverwaltung auf die Idee und sagt: Wir machen was anderes. Wir erheben eine Steuer auf die Lohnsumme von Beschäftigten und auf die Inanspruchnahme von Büroraum. Die deckeln wir aber bei 15 % des Gewinns, was in Wahrheit natürlich eine Körperschaftsteuer auf 15 % des Gewinns ist, nur nicht für die Unternehmen, die keine Beschäftigten und keine Büroräume haben. Auch da hat Michael Lang völlig Recht und der EuGH auch, an dieser Formulierung kann es nicht hängen. Ich glaube aber, dass trotzdem klar ist, dass da eine Ausnahme für die Offshore-Gesellschaften geschaffen wurde, aber dass der EuGH Schwierigkeiten hat, das gewissermaßen technisch korrekt zu begründen. Der dritte Punkt ist mir konkret der wichtigste bei § 8c KStG. Das Problem liegt doch in Folgendem: Gerade die Differenzierung zwischen den sanierungsbedürftigen und den nicht sanierungsbedürftigen Gesellschaften ist der Aufgreifpunkt für die Kommission. Und ich sage Ihnen voraus: Das ist auch der Grund, weshalb die Klage vor dem EuGH wahrscheinlich scheitern wird, weil der EuGH sehen wird, dass in einem wettbewerbsrelevanten Punkt Erleichterungen geschaffen werden. Es werden nämlich sanierungsbedürftige Unternehmen mit einer steuerlichen Regelung gestärkt, die der großen Zahl der nicht sanie124

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rungsbedürftigen Unternehmen nicht gewährt wird. Womit die deutsche Regierung glaubt, das Ganze rechtfertigen zu können – das ist doch eine gute Sache, wir helfen sanierungsbedürftigen Unternehmen –, das ist genau das, was wettbewerbsrechtlich alle roten Lampen aufgehen lässt. Ich kann nur sagen, wenn man etwas für die deutschen Unternehmen tun will, dann sollte man diesen Punkt nicht aufgreifen. Da würde mich Michael Langs Meinung auch sehr interessieren. Wenn seine Vorstellung ist zu sagen, wir gucken gar nicht auf Vor- und Nachteil, sondern wir gucken, ob eine Differenzierung da ist und ob diese Differenzierung wettbewerbsrelevant ist, dann wäre doch genau diese Frage, ob die Differenzierung zwischen sanierungsbedürftigen und nicht sanierungsbedürftigen Unternehmen, die das Gesetz vorsieht, eigentlich eine ist, die nach seiner Meinung dazu führen würde, dass die roten Lampen angehen. Oder ist das noch hinnehmbar? Prof. Dr. Lang In der Diskussion ist erwähnt worden, dass viele dieser staatlichen Beihilfen volkswirtschaftlich durchaus Sinn machen. Dem kann ich zustimmen. Aber das Beihilferecht schließt derartige Förderungen gar nicht generell aus. Vielmehr liegt unter bestimmten Voraussetzungen der Ball bei der Kommission. Der nationale Gesetzgeber darf eben nicht alle steuerpolitischen Maßnahmen alleine entscheiden. In bestimmten Fällen muss er vorweg die Zustimmung der Kommission einholen. Weiter ist die Systemgerechtigkeit angesprochen worden: Ist das Beihilferecht ein Motor, um mehr Systemgerechtigkeit ins Steuerrecht zu bringen? Da bin ich skeptisch, auch gerade im Hinblick auf die Gibraltar-Entscheidung. Der EuGH hat klar gesagt, dass es ihm darum geht, dass Regelungen neutral sind. Die Kappung der Steuer mit 15 % des Gewinns, obwohl eine derartige Regelung im Hinblick auf die Lohnsummensteuer und auf die Grundnutzungssteuer völlig systemfremd war, hat er hingenommen. Die Folgerichtigkeit der Regelung war nicht gefordert. Herr Gosch hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Beihilferecht vor dem Problem steht, dass Steuerpflichtiger und Behörde an einem Strang ziehen. Das ist letztlich auch genau der Grund, warum die Konkurrentenklage so wichtig ist. Die Behörde hat zunächst den Steuervorteil gewährt und der Steuerpflichtige war auch nicht undankbar dafür. Also hat keiner der beiden kein wirkliches Interesse, den Vorteil wieder zu beseitigen. Es bedarf daher letztlich eines Dritten, um das 125

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Beihilferecht scharf zu machen. Sonst ist das Beihilferecht bloß ein zahnloses oder zufällig wirkendes Instrument. Die Frage, inwieweit Auskunftsansprüche Dritter die Effektivität des Beihilferechts steigern können, haben wir am Österreichischen Juristentag 2009 mit Wolfgang Schön diskutiert. Hier gibt es zwei Probleme: Denken Sie an Unternehmen, die sich auf diese Weise Einblicke in die Steuerakte von Mitbewerbern verschaffen können. Sie wissen dann ganz genau über Anschaffungen und betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer usw. Bescheid. Dies kann missbrauchsanfällig sein: Wie kann ich verhindern, dass ein Unternehmen aufgrund der sich im Ergebnis möglicherweise als haltlos herausstellenden Behauptung, der Mitbewerber habe ungerechtfertigt Steuervorteile erhalten, zunächst einmal Einblick in die Interna des anderen Unternehmens erhält? Vor allem aber ist durch die Information noch nichts erreicht: Der benachteiligte Konkurrent braucht ja auch ein verfahrensrechtliches Werkzeug, um die widerstrebende Behörde im Ernstfall zwingen zu können, den Steuerbescheid eines tatsächlich begünstigten Unternehmens wieder zu korrigieren. Zum Thema Vorteil als Kriterium des Beihilfebegriffs: Wolfgang Schön sieht den Vorteil als eigenständiges Kriterium. M. E. geht der Vorteil aber im Selektivitätskriterium auf. Da unterscheiden wir uns. Ich sehe mich in meiner Auffassung durch das Gibraltar-Urteil des EuGH bestätigt, wo der Gerichtshof das Vorliegen eines Vorteils gar nicht isoliert prüft. Wenn der EuGH in seiner Rechtsprechung vom Vorteil spricht, meint er damit, dass dem Unternehmen ein Vorteil zugekommen sein muss, und grenzt damit den Beihilfetatbestand gegenüber dem beihilferechtlich unbedenklichen Vorteil Privater – etwa durch staatliche Familienleistungen – ab. Zu Gibraltar selber: Wolfgang Schön hat das Problem sehr gut umschrieben: In Wahrheit ist es um eine Konstellation gegangen, die wir vielleicht sonst als Missbrauch bezeichnen würden. Missbrauch bedeutet in dem Fall nicht Missbrauch durch den Steuerpflichtigen, sondern durch eine Regierung, die eben versucht hat, durch tatsächlich oder vermeintlich elegante Lösungen aus dem Beihilferegime herauszukommen. Genau dies macht die Beurteilung des Gibraltar-Urteils sehr schwer. Aus diesem Grund sollte man sich hüten, aus dem Gibraltar-Urteil zu weitreichende Konsequenzen zu ziehen. Diesen Umgehungsversuch haben die Richter natürlich auch gesehen: Sie haben gesehen, dass eine lokale Regierung letztlich unredlich vorgegangen ist. Auf die Intention der Regierung hat dann der EuGH dann – zu Recht – nicht abgestellt. 126

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Darauf sollte es auch nicht ankommen. Denn sonst wird es problematisch: Dann zählt nur noch das Tarnen und Täuschen, genauso wie oft sonst bei der Anwendung nationaler Missbrauchsvorschriften: Gelingt es dem Steuerpflichtigen, seine eigentlichen Absichten zu verschleiern und andere Motive in den Vordergrund zu stellen, kommt er durch. Schon im nationalen Recht ist das subjektive Kriterium höchst problematisch. Im Beihilferecht sollte daher keinesfalls gefragt werden, von welchen Absichten die Regierung geleitet war. Da kämen wir in ein höchst fragwürdiges Fahrwasser. Daher hat der EuGH zu Recht versucht, einfach die allgemeinen Beihilfekriterien anzuwenden. Die Richter konnten aber den Gedanken an den Umgehungsversuch offenbar nicht ganz ausblenden. Daher hatten sie schon das mögliche Ergebnis ihrer Entscheidung vor Augen gehabt, bevor sie überhaupt die einzelnen Kriterien des Beihilfetatbestands geprüft haben. So sind sie offenbar zu diesem Ergebnis gekommen, das sich nur argumentieren lässt, wenn man einen sehr weiten Wettbewerbsbegriff zugrunde legt. Wie man vor diesem Hintergrund § 8c KStG bewertet, ist schwierig. Im Gibraltar-Urteil hat der EuGH keine besondere Intensivität des Wettbewerbs verlangt. Betrachtet man die verlustleidenden Unternehmen, die in der von § 8c KStG angesprochenen Sanierungssituation sind, als bestimmte Unternehmen, die gegenüber anderen verlustleidenden Unternehmen begünstigt sind, wird es vor diesem Hintergrund für die Vorschrift beihilferechtlich eng. Für die Vorschrift könnte wiederum sprechen, dass die im Gibraltar-Urteil zum Tragen gekommenen Wertungen durch die besondere Situation dieses Falles bedingt sein könnten. Entscheidend könnte sein, wie man die Anreizwirkungen des § 8c KStG im Hinblick auf Gestaltungsüberlegungen beurteilt, ob die Regelung aus diesem Blickwinkel noch als „neutral“ durchgeht.

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Verständigungsverfahren – Praktische Erfahrungen und ungelöste Probleme Axel Eigelshoven Steuerberater, Dipl.-Kfm. Deloitte & Touche GmbH, Düsseldorf

Ulrike Wolff LL.M. (Edinburgh), M.R.F. (Osnabrück) Regierungsrätin im Bundeszentralamt für Steuern, Bonn

Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 B. Verfahrensrechtliche Aspekte . . I. Unklarheiten im zwischenstaatlichen Verfahren . . . . . . . II. Einhaltung von Fristen durch die Finanzverwaltung . . . . . . . III. Dreieckskonstellationen . . . .

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C. Materiellrechtliche Aspekte . . . . I. Personengesellschaften . . . . . . II. Folgewirkungen aus einer Gewinnkorrektur . . . . . . . . . . III. Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung . . .

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D. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

A. Einführung Mit der fortschreitenden Globalisierung nimmt auch die Anzahl der Besteuerungskonflikte zwischen den Staaten zu. Die Doppelbesteuerungsabkommen enthalten materiell-rechtliche Vorschriften zur Abgrenzung der Besteuerungshoheiten. Kommt es zu unterschiedlichen Auslegungen eines Doppelbesteuerungsabkommens, sollen gem. Art. 25 OECDMA die beteiligten Finanzverwaltungen auf Antrag des Steuerpflichtigen ihre Auslegungsdifferenzen im Rahmen von Verständigungsverfahren klären, um die Doppelbesteuerung zu beseitigen. Die deutschen Doppelbesteuerungsabkommen enthalten alle eine im Wesentlichen dem Art. 25 OECD-MA nachgebildete Vorschrift, die für die beteiligten zuständigen Behörden den formalrechtlichen Rahmen zur Durchführung eines Verständigungsverfahrens bildet.1 Das Verfahren wird von den Steuerpflichtigen inzwischen sehr umfassend genutzt. Die OECD _____________ 1 Vgl. Abkommensübersicht Lehner, in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 25 OECDMA Rz. 54.

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hat im Rahmen ihrer Statistik im Jahr 2010 mehr als 1.200 neue Verständigungsverfahren und mehr als 3.200 anhängige Verfahren verzeichnet. Die deutsche Finanzverwaltung hat im gleichen Jahr 150 neue Verfahren eröffnet und am Jahresende wurde noch ein Bestand von 484 laufenden Verfahren gemeldet.2 Die Ausübung der Funktion als zuständige Finanzbehörde ist an das Bundeszentralamt für Steuern delegiert, § 5 Abs. 1 Nr. 5 FVG. Die Durchführung von Verständigungsverfahren kann aber in der Praxis nicht selten auch auf Probleme stoßen. Die OECD beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit einer Verbesserung der praktischen Durchführung von Verständigungsverfahren. Die Bemühungen mündeten zunächst 2004 in einem Diskussionspapier. Daran anschließend wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Effektivität des Verfahrens zu verbessern: – In 2008 wurde Art. 25 OECD-MA um einen Absatz 5 erweitert, der ein obligatorisches Schiedsverfahren vorsieht.3 Demnach sollen die Staaten sich innerhalb von zwei Jahren auf Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung einigen. Gelingt dies nicht, soll der Fall im Rahmen eines Schiedsverfahrens entschieden werden. Die Erweiterung des Art. 25 wird ausführlich im OECD-MA-Kommentar erläutert.4 Schließlich hat die OECD auch einen Vorschlag für eine Musterverständigungsvereinbarung zum Schiedsverfahren erarbeitet, damit eine Reihe von Fragen zur Durchführung des Verfahrens zwischen den Staaten geklärt werden kann. Die OECD weist allerdings darauf hin, dass einige Staaten aus verschiedenen Erwägungen daran gehindert sein könnten, eine entsprechende Klausel in ihre Doppelbesteuerungsabkommen aufzunehmen.5 – Die OECD hat ein sog. Manual on Effective Mutual Agreement Procedures veröffentlicht.6 Ziel ist es, durch Handlungsempfehlungen die praktische Durchführung zu vereinfachen und die Transparenz für Finanzverwaltungen und den Steuerpflichtigen zu erhöhen. _____________ 2 Vgl. OECD-Statistik – Dispute Resolution: Country Mutual Agreement Procedure Statistics for 2010, www.oecd.org/document/20/0,3746,en_2649_37989739_48558 740_1_1_1_1,00.html. 3 Vgl. Nientimp/Tomson, IStR 2009, 615 ff.; Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 449 ff. 4 Vgl. insbesondere Rz. 63 ff. OECD-MA-Kommentar. 5 Vgl. Rz. 65 OECD-MA-Kommentar. 6 Vgl. www.oecd.org/document/26/0,3746,en_2649_37989739_36197402_1_1_1_1,00. html.

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– Zudem wurden auf der Website der OECD Länderprofile hinterlegt, anhand derer wichtige Eckdaten zur Durchführung von Verständigungsverfahren für den Steuerpflichtigen vereinfacht zugänglich gemacht werden.7 – Schließlich veröffentlicht die OECD jährlich länderbezogene Statistiken zur Anzahl von Verständigungsverfahren und Informationen zu Verfahrenslaufzeiten.8 Auch diese Statistik soll die Transparenz erhöhen und die Mitgliedstaaten zu einer zeitgerechten Durchführung der Verfahren anhalten. Für die deutsche Exportwirtschaft und für Deutschland als Investitionsstandort ist insbesondere die Vereinbarung von Schiedsklauseln in den Doppelbesteuerungsabkommen wichtig. Die Finanzverwaltung konnte in den letzten Jahren in einigen Doppelbesteuerungsabkommen entsprechende Klauseln vereinbaren. Insbesondere die Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA, Großbritannien, Österreich und der Schweiz sehen entsprechende obligatorische Schiedsklauseln vor.9 Bezüglich der Schiedsklauseln in den Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA und Großbritannien wurden darüber hinaus zusätzliche Verständigungsvereinbarungen geschlossen, die deren Anwendung und Durchführung ausführlicher regeln.10 Das Doppelbesteuerungsabkommen Österreich sieht vor, dass bei Auslegungsdifferenzen der EuGH den Fall entscheiden kann.11 Die Doppelbesteuerungsabkommen mit Frankreich, Kanada und Schweden beinhalten ebenfalls Schiedsklauseln, die Einleitung eines Verfahrens erfolgt aber nur im Einvernehmen zwischen den Staaten.12 Eine unmittelbare Verpflichtung besteht für die Vertragsstaaten nicht. _____________ 7 Vgl. www.oecd.org/document/31/0,3343,en_2649_37989739_29601439_1_1_1_1,0 0.html. 8 Vgl. www.oecd.org/document/20/0,3746,en_2649_37989739_48558740_1_1_1_1,0 0.html. 9 Kritisch zum obligatorischen Charakter des Schiedsverfahrens im DBA USA Puls/ Nientimp, RIW 2006, 673; Jacob, IStR 2011, 108. 10 Vgl. Art. 25 Abs. 5 DBA USA, Ergänzungsprotokoll v. 1.6.2006 sowie Verständigungsvereinbarung zur Konkretisierung der Durchführung eines Schiedsverfahrens vom 8.12.2008, BStBl. I 2009, 345; Art. 26 Abs. 5 DBA Vereinigtes Königreich sowie Verständigungsvereinbarung zur Regelung der Durchführung des Schiedsverfahrens v. 10.10.2011, BStBl. I 2011, 956; Art. 26 Abs. 5 DBA Schweiz, eingefügt gem. dem Revisionsprotokoll v. 12.3.2002, BGBl. II 2003, 67 f. 11 Vgl. Art. 25 Abs. 5 DBA Österreich. 12 Vgl. Art. 25a Abs. 1 DBA Frankreich, eingefügt durch das Zusatzabkommen v. 28.9.1989, BStBl. I 1990, 413; Art. 41 Abs. 5 DBA Schweden; Art. 25 Abs. 6 DBA Kanada.

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Die EU hat sehr frühzeitig das Problem des fehlenden Einigungszwangs erkannt, sodass bereits 1990 die EU-Schiedskonvention von den EUMitgliedstaaten ins Leben gerufen wurde.13 Die EU-Schiedskonvention war zunächst auf fünf Jahre befristet und vom 1.1.1995 bis zum 31.12.1999 gültig.14 Mit Protokoll vom 25.5.1999 wurde geregelt, dass die Schiedskonvention grundsätzlich automatisch um jeweils fünf Jahre verlängert wird, wenn kein Vertragsstaat Einwände erhebt.15 Nachdem das Protokoll in 2004 vom letzten Vertragsstaat ratifiziert worden war, ist sie rückwirkend zum 1.1.2000 in Kraft getreten. Die EU-Schiedskonvention, die in allen 27 EU-Mitgliedstaaten gilt, sieht vor, dass die EU-Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren eine Einigung erzielen, ansonsten soll ein Beratender Ausschuss den Fall entscheiden.16 Allerdings fehlten auch hier wichtige Umsetzungsregelungen zur Durchführung des Verfahrens. Die EU-Kommission hat daher im Jahr 2002 das EU-Verrechnungspreisforum ins Leben gerufen und damit beauftragt, an der Lösung von praktischen Fragestellungen bei der Anwendung der Verrechnungspreisvorschriften im Binnenmarkt und bei der Anwendung des Schiedsübereinkommens zu arbeiten.17 Das EU-Verrechnungspreisforum hat 2006 einen ersten Verhaltenskodex veröffentlicht.18 Der EU-Verhaltenskodex vom 27.6.2006 beinhaltet detaillierte Regelungen u. a. zu Fristen und zur praktischen Durchführung des Verständigungsund Schiedsverfahrens (z. B. hinsichtlich der Informationen, die vom Steuerpflichtigen bereitgestellt werden sollen, der Sprache der Verhandlungen und Regelungen zum Austausch von Positionspapieren). Der Kodex wurde am 30.12.2009 in einer überarbeiteten Fassung verabschiedet.19 Gegenstand der Überarbeitung war insbesondere die Frage, _____________ 13 Vgl. EU-Schiedskonvention vom 23.7.1990 – Übereinkommen 90/436/EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, BStBl. I 1993, 819. 14 Vgl. Art. 20 der EU-Schiedskonvention. 15 Vgl. Protokoll zur Anwendung des Übereinkommens vom 23.7.1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, Abl. EG 1999/C 202/01. 16 Vgl. Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention. 17 Vgl. Peters/Haverkamp, BB 2011, 1304. 18 Vgl. Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten v. 27.6.2006 zu einem Verhaltenskodex zur Verrechnungspreisdokumentation für verbundene Unternehmen in der Europäischen Union (EU TPD), Abl. EU 2006/C 176/01. 19 Vgl. Überarbeiteter Verhaltenskodex zur wirksamen Durchführung des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, Abl. EU 2009/C 322/01.

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inwieweit die EU-Schiedskonvention auf nationale Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung anwendbar ist, wie mit sog. Dreieckskonstellationen umgegangen werden soll und wann empfindlich zu bestrafende Verstöße vorliegen, die zu einer Ablehnung der Durchführung eines Verständigungsverfahrens nach der EU-Schiedskonvention führen können.20 Die Richtlinien des Kodex sind allerdings kein unmittelbar anwendbares Recht, sondern haben nur Empfehlungscharakter. Auch die EU veröffentlicht jährlich Statistiken zur Anzahl der Verständigungsverfahren nach dem EU-Schiedsübereinkommen und zu deren Verfahrenslaufzeiten.21 So waren zum 31.12.2009 insgesamt 123–251 anhängige Verfahren verzeichnet – Abweichungen zwischen den Angaben zu anhängigen Verfahren, die von den Mitgliedstaaten gemeldet wurden, resultieren aus Verfahren, die von einem Staat bereits als abgeschlossen betrachtet werden, während der andere beteiligte Staat dieses formal noch nicht beendet hat; zudem hat Frankreich zum 31.12.2009 keine Angaben übermittelt. Deutschland hat zu diesem Zeitpunkt aus deutscher Sicht einen Bestand von 83 anhängigen Verfahren und 33 Antragsneueingängen gemeldet. Von den zum 31.12.2009 gemeldeten Verfahren wurden nach deutscher Sichtweise 25 bereits vor 2007 initiiert und waren demnach bereits mehr als drei Jahre anhängig und überschritten somit die in Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention vorgesehene Zwei-Jahres-Frist. 2009 wurde hiervon ein Verfahren an einen Beratenden Ausschuss gem. Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention weitergeleitet.22

B. Verfahrensrechtliche Aspekte I. Unklarheiten im zwischenstaatlichen Verfahren Praktische Herausforderungen bei der Anwendung des Art. 25 OECDMA, d. h. der Durchführung von Verständigungsverfahren, ergeben sich unter verfahrensrechtlichen Aspekten insbesondere daraus, dass zahlreiche Fragen nicht geklärt sind. Als Beispiele sind hierfür die Beweislast, die Verfahrenssprache, der Ort der Verständigungstreffen oder auch die Besetzung des Schiedsgerichts im Fall einer Schiedsklausel, sofern _____________ 20 Vgl. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2010, 474. 21 Vgl. EU Joint Transfer Pricing Forum – 2009 update of the number of open cases under the arbitration convention, Doc: JTPF/004/BACK/2011/EN. 22 Vgl. EU Joint Transfer Pricing Forum – 2009 update of the number of open cases under the arbitration convention, Doc: JTPF/004/BACK/2011/EN.

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nicht eine entsprechende Verständigungsvereinbarung dies regelt, zu nennen. In der Praxis haben sich im internationalen Verkehr und zwischen den jeweiligen zuständigen Behörden zahlreiche praktikable Verfahrensweisen entwickelt.

II. Einhaltung von Fristen durch die Finanzverwaltung Die derzeitigen Verfahrensdauern zur Durchführung von Verständigungsverfahren werden als erhebliches Hemmnis von den betroffenen Unternehmen wahrgenommen.23 Die Statistiken der OECD machen deutlich, dass in Abhängigkeit der involvierten Staaten Verfahrenslaufzeiten häufig drei bis fünf Jahre betragen können. Grundsätzlich hat der Steuerpflichtige im Rahmen eines Verständigungsverfahrens keinen Rechtsanspruch auf Einhaltung einer bestimmten Frist zur Lösung seines Falls. Dies ist nur dann der Fall, wenn im betreffenden Doppelbesteuerungsabkommen eine obligatorische Schiedsklausel vorgesehen ist. Wie bereits dargestellt, versucht die OECD mit umfangreichen Handlungsempfehlungen zur Durchführung der Verständigungsverfahren und Erhebungen von detaillierten Statistiken zu den Verfahren und deren Laufzeit, die Staatengemeinschaft zu einem beschleunigten Verfahrensablauf anzuhalten. Aber auch bei der Durchführung der Verständigungsverfahren nach der EU-Schiedskonvention kann die zweijährige Frist zur Einigung vielfach nicht eingehalten werden.24 Gründe dafür waren aufseiten der Finanzverwaltung in der Vergangenheit zum Beispiel Unklarheiten bei verfahrensrechtlichen Fragen und personelle Engpässe bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Die Finanzverwaltung weist von ihrer Seite häufig darauf hin, dass Verfahrenslaufzeiten nicht eingehalten werden können, weil Informationen vom Steuerpflichtigen nicht oder nur verzögert bereitgestellt werden. Auch das Ruhen des Verständigungsverfahrens wegen gleichzeitig anhängiger Einspruchsverfahren oder finanzgerichtlicher Klagen bis zur Entscheidung der Rechtsbehelfsbehörde oder des Gerichts ist in der Praxis nicht selten. Die EU hat im Rahmen des Verhaltenskodexes versucht, Klarheit hinsichtlich verfahrensrechtlicher Fragen zu schaffen. In der Praxis hatten _____________ 23 Vgl. Baumhoff/Puls, IStR 2010, 803; Eilers in Debatin/Wassermeyer, Art. 25 OECD-MA Rz. 19. 24 Vgl. Schlussbericht des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums v. 14.9.2009, KOM(2009) 472, 4.

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Finanzverwaltungen beispielsweise geltend gemacht, dass die zweijährige Frist erst beginnt, wenn der Steuerpflichtige vollständige Informationen zur Verfügung stellt. Steuerpflichtige hingegen trugen vor, dass der Umfang der bereitzustellenden Informationen unklar war, oder machten geltend, dass sie erst sehr spät über die fehlenden Informationen informiert wurden, was erhebliche Verzögerungen zur Folge hatte.25 Tz. 5 b des EU-Verhaltenskodexes regelt nunmehr, dass die zweijährige Frist zur Einigung mit dem Datum des Steuerbescheids über die Einkommenserhöhung beginnt, allerdings beginnt die Frist nicht, bevor die Mindestinformationen, die in Tz. 5 a des EU-Verhaltenskodexes näher definiert werden, vorliegen. Die zuständige Behörde soll innerhalb von einem Monat dem Steuerpflichtigen den Eingang des Antrags bestätigen und die andere beteiligte Finanzverwaltung durch Übersendung einer Kopie des Antrags über das Verfahren informieren.26 Die Finanzbehörde kann darüber hinaus innerhalb von zwei Monaten nach Antragseingang spezifische Zusatzinformationen vom Steuerpflichtigen anfordern.27 Kritisch dürften dabei Fälle sein, bei der die Sachverhaltsermittlung auf Schwierigkeiten stößt, beispielsweise bei dem Nachweis der tatsächlichen Leistungserbringung oder von deren Nutzen bei Kostenumlageverträgen. Ob ein Nachweis erbracht wurde, wird häufig strittig zwischen dem Steuerpflichtigen und der Betriebsprüfung diskutiert. Zur Beschleunigung der Bearbeitungszeiten hat das EU-Verrechnungspreisforum im Rahmen der Durchführung des Verständigungs- und Schiedsverfahrens Fristen gesetzt. Leistet die Finanzverwaltung unilateral keine Abhilfe zur Beseitigung der Doppelbesteuerung, ist der Steuerpflichtige über die Einleitung eines Verständigungsverfahrens zu informieren. Die Finanzverwaltung soll dabei dem Steuerpflichtigen bestätigen, dass der Antrag fristgemäß gestellt wurde, und das Datum des Beginns des Verfahrens mitteilen.28 Die Finanzverwaltung, die eine Erstkorrektur vorgenommen hat, soll innerhalb von vier Monaten ein Positionspapier an die andere Finanzverwaltung übersenden; diese soll dann innerhalb von sechs Monaten nach Erhalt des Positionspapiers eine entsprechende Antwort abfassen.29 Die Mitgliedstaaten werden auch dazu aufgerufen, sich mindestens einmal im Jahr zu treffen, um _____________ 25 26 27 28 29

Vgl. Peters/Haverkamp, BB 2011, 1305. Vgl. Rz. 6.3. d) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.3. e) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.3. g) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.4. c, d) EU-Verhaltenskodex.

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die anhängigen Verfahren zu klären.30 Kurze Fristüberschreitungen (z. B. bei unmittelbar bevorstehender Lösung eines Falles, besonders komplexen Geschäftsvorfällen oder Dreieckskonstellationen) sind dabei unbeachtlich.31 Lösen die Finanzverwaltungen den Fall nicht innerhalb von zwei Jahren, so ist ein Beratender Ausschuss einzuberufen.32 Der Steuerpflichtige muss keinen gesonderten Antrag stellen. Leitet die Finanzverwaltung ein Schiedsverfahren nicht ein, so ist fraglich, ob der Steuerpflichtige hierauf einen Anspruch hat und wie er diesen durchsetzen kann, da er nicht unmittelbar Verfahrensbeteiligter ist. Soweit eine Finanzverwaltung den Beratenden Ausschuss nicht einsetzt, steht dem Steuerpflichtigen der Gerichtsweg offen, da die EUSchiedskonvention als innerstaatliches Recht der Rechtsprechungskompetenz der nationalen Gerichte unterliegt.33 Zu beachten ist jedoch, dass der Steuerpflichtige lediglich die jeweilige Finanzverwaltung durch ein nationales Gerichtsurteil binden kann. Wenn beide Finanzverwaltungen ein Verfahren nicht einleiten wollen, wäre dementsprechend in beiden Staaten die Einleitung des Schiedsverfahrens einzuklagen. In Deutschland käme gegebenenfalls eine allgemeine Leistungsklage gem. § 41 Abs. 2 FGO in Betracht, da der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 EU-Schiedskonvention von einer Verpflichtung zur Einsetzung des Beratenden Ausschusses nach Fristablauf ausgeht. In der Praxis macht die Finanzverwaltung allerdings auch häufig den Steuerpflichtigen für Fristverzögerungen verantwortlich, da Informationen nicht bereitgestellt wurden. In diesem Fall wäre eine Klage nicht erfolgreich. Eine derartige Klage auf Einsetzung des Beratenden Ausschusses ist allerdings bisher nicht erhoben worden. Im Verständigungsverfahren nach den Doppelbesteuerungsabkommen bestehen mit Ausnahme der o. g. DoppelbesteuerungsabkommenSchiedsklauseln mit den USA, Großbritannien, Österreich und der Schweiz keine festen Fristen. Die Durchführung des Verfahrens ist aber nicht ins Belieben der Finanzverwaltung gestellt, sie muss nach pflichtgemäßem Ermessen handeln. Der BFH hat entschieden, dass der Steuerpflichtige grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens hat.34 Der Steuerpflichtige kann aber gegen _____________ 30 31 32 33 34

Vgl. Rz. 6.4. f) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Rz. 6.1. d) EU-Verhaltenskodex. Vgl. Art. 7 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention. Vgl. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 271. Vgl. BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583.

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die Ablehnung der Steuerbehörden, ein solches Verfahren einzuleiten, vorgehen. Der BFH hat festgestellt, dass aufgrund des Grundgesetzes den Organen der Bundesrepublik „die Pflicht zum Schutze deutscher Staatsangehöriger und ihrer Interessen gegenüber fremden Staaten“ obliegt. Diese allgemeine Pflicht erfährt durch die Aufnahme einer Verständigungsklausel in ein Doppelbesteuerungsabkommen nähere Konkretisierung. Sofern die Einleitung des Verständigungsverfahrens aufgrund ihrer Formulierung als Kann-Vorschrift im Ermessen der Steuerbehörden liegt, darf der Steuerpflichtige daher dessen fehlerfreie Ausübung gerichtlich nachprüfen lassen. Der BFH hat aber auch festgestellt, dass im zwischenstaatlichen Bereich der Ermessensspielraum weit auszulegen ist, weil hier eine Vielzahl von Interessen zu berücksichtigen sei, die das Handeln der Behörden beeinflusst. Im entschiedenen Fall hat der BFH die Ablehnung des BMFs, das Verständigungsverfahren einzuleiten, als rechtmäßig beurteilt, weil das Verhalten der betroffenen Steuerpflichtigen von beiden Vertragsstaaten als steuermissbräuchlich bewertet wurde und die Erfolgsaussichten eines Verfahrens daher nur als gering einzustufen waren. Aber selbst wenn eine Pflicht zur Einleitung eines Verfahrens besteht, bleibt letztlich der Steuerpflichtige auf die Mithilfe der Finanzverwaltung angewiesen, da im Verfahrensablauf des Verständigungsverfahrens mit Ausnahme der oben genannten Doppelbesteuerungsabkommen keine Fristen vorgegeben sind und ein Einigungszwang fehlt. Beinhaltet ein Doppelbesteuerungsabkommen eine Schiedsklausel entsprechend Art. 25 Abs. 5 OECD-MA, kann der Steuerpflichtige nach Ablauf einer Frist von zwei Jahren ein Schiedsverfahren beantragen. Die Einleitung des Verfahrens ist nicht vom Ermessen der Behörden abhängig, der Steuerpflichtige hat hierauf einen Anspruch, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen.35 Im Gegensatz zum Verständigungsverfahren i. e. S. ist allerdings Antragsvoraussetzung, dass die Doppelbesteuerung nicht nur droht, sondern bereits eingetreten ist.36 Die Frist beginnt mit der Vorlage aller relevanten Informationen für den Fall.37 Der Schiedsspruch muss innerhalb von sechs Monaten, nachdem der Vorsitzende das Vorliegen sämtlicher erforderlichen Informationen bestätigt hat, ergehen.38 _____________ 35 Vgl. Herlinghaus, IStR 2010, 126. 36 Vgl. Art. 25 Ziff. 72 OECD-MA-Kommentar. 37 Vgl. Lehner in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 25 OECD-MA Rz. 215; Nientimp/ Tomson, IStR 2009, 616. 38 Vgl. Abs. 16 der Musterverständigungsvereinbarung, Anhang zu Art. 25 OECD-MA.

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III. Dreieckskonstellationen Schwierigkeiten kann auch die Gewinnkorrektur im sog. Dreiecksverhältnis bereiten, bei denen die gesellschaftsrechtlich bedingte Vorteilszuwendung nicht an die Muttergesellschaft, sondern an eine andere nahestehende Person erfolgt. Nach deutschem Recht erfolgt hier die verdeckte Gewinnausschüttung gegenüber der Muttergesellschaft – und nicht gegenüber der Schwestergesellschaft –, während die Muttergesellschaft eine verdeckte Einlage in die Schwestergesellschaft tätigt. Bei einem solchen Dreiecksverhältnis ist das Verständigungsverfahren sowohl nach Doppelbesteuerungsabkommen als auch nach der EUSchiedskonvention unmittelbar zwischen den Staaten zu führen, in denen die an der Transaktion, die der Gewinnkorrektur zugrunde lag, beteiligten Gesellschaften ansässig sind. Im Fall einer Gewinnkorrektur zwischen einer Betriebsstätte und einem verbundenen Unternehmen des Stammhauses ermöglicht darüber hinaus die EU-Schiedskonvention ein Verständigungsverfahren unmittelbar zwischen dem Betriebsstättenstaat und dem Staat, in dem das verbundene Unternehmen des Stammhauses ansässig ist,39 während nach Doppelbesteuerungsabkommen zwei getrennte Verständigungsverfahren – jeweils zwischen Betriebsstätte und Stammhaus sowie zwischen Stammhaus und verbundenem Unternehmen – erforderlich sind. Im überarbeiteten Verhaltenskodex zur EU-Schiedskonvention40 ist darüber hinaus die sog. EU-Dreieckskonstellation geregelt, d. h. der Fall einer Gewinnkorrektur bei einer Transaktion, die Teil einer Kette von Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen ist (vgl. Definition in Tz. 1.1. Überarbeiteter Verhaltenskodex zur EU-Schiedskonvention vom 30.12.2009: „Für die Zwecke dieses Verhaltenskodexes liegt eine EU-Dreieckskonstellation vor, wenn zwei zuständige Behörden in der EU die Doppelbesteuerung in einem Verrechnungspreisfall in der ersten Phase des im Schiedsübereinkommen vorgesehenen Verfahrens unter Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nicht gänzlich vermeiden können, weil ein verbundenes Unternehmen in (einem) anderen Mitgliedstaat(en) […] bei einer Kette von betroffenen Geschäftsvorfällen oder kaufmännischen finanziellen Beziehungen in einem erheblichen _____________ 39 Vgl. Art. 4 Abs. 2 EU-Schiedskonvention. 40 Vgl. Überarbeiteter Verhaltenskodex zur wirksamen Durchführung des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (2009/C 322/01), Abl. EU C 322/1 v. 30.12.2009.

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Umfang zu einem dem Fremdvergleichsgrundsatz nicht entsprechendem Ergebnis beigetragen hat […]“). Zum Beispiel hat eine Vielzahl von Konzernen in Europa eine zentrale Logistikgesellschaft, die die Waren der ausländischen Muttergesellschaft an die jeweiligen Landesorganisationen liefert. Macht die Finanzverwaltung bei einer Landesgesellschaft – z. B. aufgrund von Dauerverlusten – unangemessene Verrechnungspreise geltend, so kann sie gem. Art. 9 OECD-MA nur die Geschäftsbeziehungen zur zentralen Logistikgesellschaft aufgreifen. Der Staat der zentralen Logistikgesellschaft wird aber seinerseits geltend machen, dass die Marge der zentralen Logistikgesellschaft angemessen ist und dass die Einkunftskorrektur letztlich auf die ausländische Muttergesellschaft durchschlagen muss, von der die Waren bezogen wurden. Demnach müsste also zunächst ein Verständigungsverfahren zwischen dem Land der Landesgesellschaft und dem Land der zwischengeschalteten zentralen Logistikgesellschaft und in einem zweiten Schritt ein Verfahren zwischen dem Land der Logistikgesellschaft und dem Land der ausländischen Muttergesellschaft geführt werden. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Verfahren äußerst komplex und wenig effizient sind. Aus Gründen der Verfahrensökonomie hat das EU-Verrechnungspreisforum daher die folgenden Vorgehensweisen vorgeschlagen:41 (1) Sofortige und uneingeschränkte Beteiligung von allen betroffenen Behörden im Verfahren (multilateraler Ansatz); (2) Führung eines bilateralen Verfahrens zwischen den Staaten, in dem die verbundenen Unternehmen ansässig sind, die bei der Transaktionskette im erheblichen Umfang in ihren kaufmännischen und finanziellen Bedingungen nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprochen haben, mit Beobachterstatus des Drittstaates für das bilaterale Verfahren; (3) Führung mehrerer paralleler bilateraler Verfahren mit Beobachterstatus des Drittstaates für das jeweils andere bilaterale Verfahren. In der Praxis wird die Entscheidung der zuständigen Behörden, welche Vorgehensweise sie anwenden werden, von der jeweiligen konkreten Fallgestaltung abhängen. Die EU empfiehlt den Staaten, einen multilateralen Ansatz zu befolgen.42 _____________ 41 Vgl. Rz. 6.2 Überarbeiteter Verhaltenskodex zur EU-Schiedskonvention v. 30.12.2009. 42 Vgl. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2010, 476.

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Im Hinblick auf Dreieckskonstellationen unter Beteiligung von nicht in der EU ansässigen Unternehmen hat die EU-Kommission am 25.1.2011 als Lösungsansätze neben der Verbesserung und dem Ausbau des Netzwerks von Doppelbesteuerungsabkommen – einschließlich der Berücksichtigung von Schiedsklauseln – die rückwirkende Anwendung von Verrechnungspreiszusagen und die flexible Anwendung bestimmter Verfahren in Verbindung mit dem Verständigungsverfahren vorgeschlagen.43 Hierzu zählt die Durchführung von trilateralen Verständigungsverfahren gemäß Art. 25 Abs. 3 OECD-MA oder, sofern das spezifische Doppelbesteuerungsabkommen diesen nicht enthält, einem gesonderten und speziellen (bilateralen/multilateralen) Protokoll bzw. einem (zusätzlichen) Abkommen. Zudem wird die mögliche Ausweitung der EU-Schiedskonvention auf Drittstaaten auf Grundlage der Art. 35 und 36 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge angesprochen. In Anbetracht der bislang gesammelten praktischen Erfahrungen ist das EU-Verrechnungspreisforum der Auffassung, dass es die sich auf Diskussionsebene bietenden Möglichkeiten weitestgehend ausgeschöpft hat. Durch zukünftige Entwicklungen, die mit einer zunehmenden Erfahrung der Länder und Unternehmen in diesem Bereich einhergehen, kann das Thema jedoch erneut Gegenstand des Arbeitsprogramms des EU-Verrechnungspreisforums werden.

C. Materiellrechtliche Aspekte I. Personengesellschaften Die Personengesellschaft ist im internationalen Vergleich eine, vor allem im Mittelstand, weit verbreitete Rechtsform. Während das ausländische Recht in der Regel vergleichbare Rechtsformen kennt, wird sie dort überwiegend von kleineren Unternehmen gewählt. Aus der unterschiedlichen Behandlung im In- und Ausland sowohl unter zivil- als auch steuerrechtlichen Aspekten kann sich eine Reihe von Problemen ergeben mit der Folge einer bei Personengesellschaften höheren Gefahr der Doppelbesteuerung – oder auch Nichtbesteuerung – in den betroffe_____________ 43 Vgl. Anlage II zur Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Tätigkeit des EU-Verrechnungspreisforums im Zeitraum April 2009 bis Juni 2010 und die damit zusammenhängenden Vorschläge, KOM(2011) 16 endg. v. 25.1.2011, 32.

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nen Staaten.44 Während die Personengesellschaft in Deutschland zivilrechtlich als partiell rechtsfähig angesehen wird, ist sie steuerrechtlich „Gewinnermittlungssubjekt“, deren Gewinn auf Ebene der Personengesellschaft selbstständig ermittelt, jedoch für Zwecke der Ertragsteuern den Gesellschaftern zugeordnet und dort unmittelbar versteuert wird (Transparenzprinzip). Für die Gewerbe- und Umsatzsteuer ist die Personengesellschaft hingegen als Steuersubjekt anerkannt. Beispiele für im Ausland angewandte Konzepte sind die Behandlung der Personengesellschaft gleich einer Körperschaft als Steuersubjekt (Trennungsprinzip), die direkte Besteuerung der Gesellschafter oder ein Wahlrecht der Steuerpflichtigen. Qualifikationskonflikte können vor allem entstehen, wenn einer der beteiligten Vertragsstaaten das Transparenzprinzip anwendet, während der andere Vertragsstaat dem Trennungsprinzip folgt. Nach Auffassung der Finanzverwaltung und der h. M. in der Literatur richten sich die Qualifikation und die Zurechnung von Einkünften nach dem Recht des die Doppelbesteuerungsabkommen-Bestimmung anwendenden Vertragsstaates und damit unabhängig voneinander.45 Hinsichtlich ausländischer Gesellschaften erfolgt für Zwecke der deutschen Besteuerung ein Rechtstypenvergleich nach deutschem Steuerrecht, ob diese als Personengesellschaft oder Körperschaft einzuordnen sind.46 Bei Bestehen eines Doppelbesteuerungsabkommens stellt sich bei einer Personengesellschaft zunächst die Frage nach deren Abkommensberechtigung. Voraussetzung für die Abkommensberechtigung ist, dass es sich hierbei um eine in einem Vertragsstaat ansässige Person handelt.47 Auch wenn eine Personengesellschaft eine „Personenvereinigung“ und damit eine „Person“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1a OECD-MA darstellt, ist zu beachten, dass nicht alle Doppelbesteuerungsabkommen eine solche Regelung enthalten. Aus deutscher Sicht ergeben sich bei der Ansässigkeit einer Personengesellschaft Schwierigkeiten daraus, dass sie im Ergebnis in einem der Vertragsstaaten in einem der unbeschränkten Steuerpflicht vergleichbaren Umfang der Besteuerung unter_____________ 44 Vgl. Frotscher, Internationales Steuerrecht, Rz. 330. 45 Vgl. Anwendung der DBA auf Personengesellschaften, BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, Rz. 2.1.1, BStBl. I 2010, 354; Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, Art. 4 OECD-MA Rz. 106. 46 Vgl. Anwendung der DBA auf Personengesellschaften, BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, Rz. 1.2, BStBl. I 2010, 354. 47 Vgl. Art. 1 i. V. m. Art. 3 OECD-MA.

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liegen muss.48 Dies bedeutet, dass als ansässige und damit abkommensberechtigte Personen die Gesellschafter anzusehen sind.49 Die Abkommensberechtigung ist neben „klassischen“ Qualifikationskonflikten bei der Zurechnung von Einkünften auch bei Verrechnungspreiskorrekturen von Bedeutung, wenn diese eine Personengesellschaft betreffen und die Doppelbesteuerung im Wege des Verständigungsverfahrens beseitigt werden soll. Hier ist im Fall einer deutschen Personengesellschaft der Antrag durch deren Gesellschafter zu stellen.

II. Folgewirkungen aus einer Gewinnkorrektur Entspricht der Verrechnungspreis zwischen verbundenen Unternehmen bei einer grenzüberschreitenden Transaktion nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz, korrigiert der Ansässigkeitsstaat den Gewinn auf Grundlage seines innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes.50 Folgt aus einer solchen Gewinnberichtigung eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung, sieht Art. 9 Abs. 2 OECDMA hierzu die entsprechende Gegenberichtigung vor.51 Zu beachten ist jedoch, dass nicht alle Doppelbesteuerungsabkommen eine dem Art. 9 Abs. 2 OECD-MA vergleichbare Vorschrift enthalten.52 In diesem Fall verbleibt jedoch weiterhin die Möglichkeit der Gegenberichtigung im Rahmen eines Verständigungsverfahrens nach Art. 25 OECD-MA.53 Von diesen Berichtigungen zu unterscheiden ist die sekundäre Berichtigung.54 Mittels dieser soll der Zustand hergestellt werden, der bestünde, wenn die von der Erstberichtigung stammenden Übergewinne tatsächlich und nicht nur fiktiv übertragen und dementsprechend besteuert wären.55 Sekundärberichtigungen können somit über die Erstkorrektur hinaus eine Doppelbesteuerung auslösen. Sekundärberichtigungen, die zum Beispiel in Form von verdeckten Gewinnausschüttungen, verdeckten Kapitaleinlagen oder verdeckten Einlagen erfolgen können,56 rich_____________ 48 Vgl. Frotscher, Internationales Steuerrecht, Rz. 343. 49 Vgl. Anwendung der DBA auf Personengesellschaften, BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, Rz. 2.1.1, BStBl. I 2010, 354. 50 Vgl. Art. 9 Abs. 1 OECD-MA. 51 Vgl. Eigelshoven in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 9 OECD-MA Rz. 159. 52 Vgl. z. B. Art. 5 DBA Frankreich. 53 Vgl. Art. 9 Nr. 11 OECD-MA-Kommentar. 54 Vgl. Art. 9 Nr. 8 OECD-MA-Kommentar. 55 Vgl. Rz. 4.67 OECD-Leitlinien. 56 Vgl. Rz. 4.67 OECD-Leitlinien.

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ten sich nach dem Recht des Anwenderstaates. Das OECD-MA und die Kommentierung zu Art. 9 Abs. 2 OECD-MA enthalten keine Regelungen zu Sekundärberichtigungen,57 während die OECD-Verrechnungspreisgrundsätze lediglich die Finanzverwaltungen auffordern, bei Gewinnberichtigungen die Möglichkeit einer daraus folgenden Doppelbesteuerung zu minimieren.58 Ist in Bezug auf die Primärberichtigung eine Korrektur innerhalb der Bilanz nach den Grundsätzen der Bilanzberichtigung nicht möglich, ist bei Vorliegen der Voraussetzungen einer verdeckten Gewinnausschüttung eine außerbilanzielle Gewinnberichtigung vorzunehmen.59 Die Frage, ob die Primärberichtigung im Wege der Bilanzberichtigung oder der außerbilanziellen Gewinnkorrektur erfolgt, ist für die Steuerpflichtigen insofern von Bedeutung, als bei einer außerbilanziellen Korrektur hierauf unter Umständen Quellensteuer entsteht. Diese Quellensteuer kann, soweit nicht die Voraussetzungen der Mutter-Tochter-Richtlinie greifen oder das entsprechende Doppelbesteuerungsabkommen einen reduzierten Quellensteuersatz von 0 % ermöglicht, zur Doppelbesteuerung führen. So vollziehen zum Beispiel einige Staaten die Umqualifizierung der Gewinnkorrektur in eine verdeckte Gewinnausschüttung nicht nach und gewähren keine Beseitigung der Doppelbesteuerung mittels unilateraler Maßnahmen im Wege der Anrechnung oder des Abzugs. Auch bei einer Gewinnkorrektur im Dreiecksverhältnis, bei der die Beteiligung an der deutschen Gesellschaft von einer ebenfalls in Deutschland ansässigen Gesellschaft gehalten wird, werden 5 % der verdeckten Gewinnausschüttung gemäß § 8b Abs. 5 KStG als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben behandelt. Unabhängig davon kann es auch im Bereich der Zinsen eine zusätzliche Belastung für Steuerpflichtige geben, die in der Regel nicht Gegenstand der Verständigungslösung ist. Kommt es zu einer Erstberichtigung, können Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO entstehen bzw. Erstattungszinsen bei einer Gegenberichtigung. In der Praxis korrespondieren die Regelungen hinsichtlich Nachzahlungs- und Erstattungszinsen zum Nachteil der Steuerpflichtigen in den einzelnen Ländern meist nicht, sei es, dass grundsätzlich keine Erstattungszinsen gewährt werden oder die Zinshöhe oder die Berechnung des Zinslaufs abweichen. Unilateral _____________ 57 Vgl. Art. 9 Nr. 9 OECD-MA-Kommentar. 58 Vgl. Rz. 4.72 OECD-Leitlinien. 59 Vgl. Verwaltungsgrundsätze-Verfahren, BMF v. 12.4.2005 – IV B 4 - S 1341 - 1/05, Rz. 5.2 und 5.3, BStBl. I 2005, 570.

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ist jedoch ein Antrag auf Erlass der Nachzahlungszinsen im Wege der Billigkeit möglich, über den das zuständige Festsetzungsfinanzamt entscheidet. Stellt ein Steuerpflichtiger einen Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens, kann er auch die Aussetzung der Vollziehung beantragen, um die Zahlung der auf die Erstberichtigung fälligen Steuern zu vermeiden. Hält jedoch die Finanzverwaltung als Ergebnis des Verständigungsverfahrens die Gewinnberichtigung aufrecht, ist der geschuldete Betrag gemäß § 237 AO zu verzinsen. Die Steuerverwaltungen sämtlicher EU-Mitgliedsländer sind sich darin einig, dass während eines grenzübergreifenden Streitbeilegungsverfahrens – sowohl nach EU-Schiedskonvention als auch nach Doppelbesteuerungsabkommen – der Steuerpflichtige bezüglich der Zinsfestsetzungen und Rückzahlungen nicht benachteiligt werden soll. Daher wird empfohlen, dass die Gewährung von Zahlungsaufschub unter denselben Bedingungen wie nach den nationalen Regularien erfolgt. Zu folgenden Vorgehensweisen wird geraten: – Freigabe der Steuererhebung und Rückzahlung ohne Zinsen oder – Freigabe der Steuererhebung und Rückzahlung mit Zinsen oder – Einzelfallentscheidung über Erhebung bzw. Rückzahlung von Zinsen (möglicherweise im Laufe des Verständigungsverfahrens).60

III. Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung Ein zunehmendes Problem stellt auch die Besteuerung von Zinsaufwendungen dar. Eine Vielzahl von Staaten hat umfangreiche Bestimmungen in ihre nationalen Rechtsordnungen aufgenommen, die den Betriebsausgabenabzug für Zinsen beschränken. Die Staaten sehen in ihren Bestimmungen Missbrauchsvorschriften zur Vermeidung einer überhöhten Fremdkapitalausstattung, die bei einer wirtschaftlichen Betrachtung Eigenkapital darstellt. Für den Steuerpflichtigen ergibt sich daraus das Problem von sogenannten vagabundierenden Betriebsausgaben. Es _____________ 60 Vgl. Anhang zur Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Tätigkeit des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums im Zeitraum März 2007 bis März 2009 und einen Vorschlag für einen überarbeiteten Verhaltenskodex für die wirksame Durchführung des Schiedsübereinkommens, KOM(2009) 472 endg. v. 14.9.2009.

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stellt sich die Frage, inwieweit die Doppelbesteuerungsabkommen gegenüber dem nationalen Recht Schrankenwirkung entfalten. Einschlägig wäre hier Art. 9 OECD-MA, der als einzige Norm den Fall der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung regelt.61 Tatbestandsvoraussetzung von Art. 9 OECD-MA ist, dass verbundene Unternehmen in ihren kaufmännischen oder finanziellen Beziehungen an vereinbarte oder auferlegte Bedingungen gebunden sind, die von denen abweichen, die unabhängige Unternehmen miteinander vereinbaren würden. Bei der Bestimmung der Angemessenheit von Zinsaufwendungen findet die Überprüfung der Fremdüblichkeit auf zwei Ebenen statt: – Zum einen ist fraglich, ob die Zinsen der Höhe nach fremdüblich sind. Hier besteht in der Staatengemeinschaft weitgehend Einigkeit, dass diese Frage Gegenstand von Art. 9 OECD-MA ist. – Zum zweiten sind auch die kaufmännischen bzw. finanziellen Beziehungen hinsichtlich ihrer Angemessenheit zu überprüfen. Grundsätzlich sind die vereinbarten Verträge von der Finanzverwaltung zu respektieren.62 Die OECD sieht allerdings Ausnahmen unter bestimmten Voraussetzungen vor.63 Im Bereich der Finanzierung lässt sie eine Umqualifizierung der vertraglichen Beziehung zu, wenn die Einräumung eines Darlehens als Eigenkapital zu werten ist bzw. wenn ein fremder Dritter nicht bereit gewesen wäre, die Gesellschaft mit Fremdkapital auszustatten.64 Auch die EU spricht die Empfehlung aus, dass Art. 9 OECD-MA eine Sperrwirkung gegenüber innerstaatlichen Vorschriften zur Gesellschafterfremdfinanzierung entfalten sollte, wenn die Fremdfinanzierung als fremdüblich anzusehen ist. Allerdings hat eine Vielzahl von Staaten Vorbehalte

_____________ 61 Vgl. Eigelshoven in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 9 OECD-MA Rz. 6. 62 Vgl. Rz. 1.64 OECD-Leitlinien; Eigelshoven/Ebering in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Rz. 164. 63 Vgl. Rz. 1.65 OECD-RL; Eigelshoven in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 9 OECDMA Rz. 51; Eigelshoven/Ebering in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Rz. 167; Debatin in Debatin/Wassermeyer, Art. 9 OECD-MA Rz. 67. 64 Vgl. OECD-Kommentar (MA-Kommentar) zu Art. 9 Rz. 3; Eigelshoven in Vogel/ Lehner, Art. 9 OECD-MA Rz. 7; Tischbirek in Vogel/Lehner, Art. 10 OECD-MA Rz. 58; Pöllath/Lohbeck in Vogel/Lehner, Art. 11 OECD-MA Rz. 65 und 125; OECD, Bericht „Thin Capitalisation“ v. 26.11.1986, OECD, Issues in International Taxation, Bd. 2 (1987).

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angemeldet.65 Die deutsche Finanzverwaltung ist im Einzelfall bereit, in Fällen des § 8a Abs. 1 KStG a. F. entsprechende Verständigungsverfahren durchzuführen. Strittig ist die Anwendbarkeit des Art. 9 OECD-MA auf die Regelungen zur Zinsschranke. In der Literatur wird hier teilweise die Ansicht vertreten, dass Art. 9 OECD-MA auch gegenüber der Zinsschranke Sperrwirkung entfalten kann.66

D. Ausblick Verständigungsverfahren sind ein wirksames Instrument zur Beseitigung der Doppelbesteuerung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen. Die Finanzverwaltung ist hierbei um eine fristgerechte Bearbeitung und Beendigung der Verfahren bemüht. Zu begrüßen wäre angesichts der steigenden Zahl von Antragsneueingängen eine personelle Aufstockung der zuständigen Behörde. Weitere Maßnahmen zur effektiven Beseitigung der Doppelbesteuerung sind die zunehmende Einführung von Schiedsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen sowie die Erweiterung von verfahrensrechtlichen Vorschriften.

_____________ 65 Vgl. Rz. 1.2. EU-Verhaltenskodex zum Schiedsverfahren v. 30.12.2009; gegen die Anwendung der Schiedskonvention im Fall der Unterkapitalisierung haben Bulgarien, Griechenland, Italien, Lettland, Niederlande, Polen, Portugal, Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn Vorbehalte angemeldet. Die Niederlande haben allerdings ihren Vorbehalt dahingehend eingeschränkt, dass „The Netherlands will not invoke this reservation for adjustments made to the deductibility of interest regarding an individual loan in case the adjustment is based on the arm’s length principle“, vgl. Summary Record of the Twenty Ninth Meeting of the EU Joint Transfer Pricing Forum, Doc: JTPF/018/2010/EN. 66 Vgl. Kaminski in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG und DBA, Art. 9 OECD-MA Rz. 12; Förster in Gosch, KStG, Exkurs § 4h EStG Rz. 38; Peters/Haverkamp, BB 2011, 1307.

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Verständigungsverfahren Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Axel Eigelshoven Steuerberater, Dipl.-Kfm., Deloitte & Touche GmbH, Düsseldorf Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Ulrike Wolff, LL.M. (Edinburgh), M.R.F. (Osnabrück) Regierungsrätin im Bundeszentralamt für Steuern, Bonn

Prof. Dr. Moris Lehner Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Frau Wolff, vielen Dank, Herr Eigelshoven. Ich hatte während Ihres Vortrags den Eindruck, dass es in Bezug auf die Effektivität der Verständigungsverfahren neben vielem Licht doch auch noch immer einigen Schatten gibt. Allerdings schreibt Frau Becker, die früher beim BZSt war, in ihrer Kommentierung des Art. 25 OECD-MA1, dass mit einer Verfahrenszeit von zwei bis drei Jahren doch eigentlich alles in Ordnung sei. Bei Ihnen klang dies etwas anders.

_____________ 1

Haase, AStG/DBA, 2009, Art. 25 OECD-MA Rz. 18.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Herr Bernhardt, haben Sie – sei es in Ihrem Unternehmen oder über Ihre Industrieverbände – Erfahrungen oder möglicherweise auch Kritik an den Verständigungsverfahren? Bernhardt Zunächst einmal gibt es eine Fülle von Feedback. Im Grundsatz ist man mit dem Instrument als solchem zufrieden. In der Tat sind die Kernprobleme schon angesprochen worden, insbesondere der Engpass im BZSt und die Laufzeiten der Verständigungsverfahren. Der letzte Punkt gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass man in Unternehmen irgendwann Klarheit haben will. Diese Klarheit will man nicht nur für den konkreten Einzelfall, sondern – und das war in dem letzten gezeigten Slide gerade der entscheidende Punkt – für grundsätzliche Fragestellungen, selbst wenn das Verfahren darauf primär nicht ausgerichtet war. Dies könnte sein: „Habe ich mein Verrechnungspreissystem richtig aufgestellt oder muss ich es aufgrund einer konkreten Erfahrung mit einzelnen Ländern generell anpassen?“ Vor diesem zeitlichen Hintergrund wäre ein schnellerer Ablauf sehr zu wünschen. Man darf auch, denke ich, die verfahrensrechtlichen Details in den einzelnen Ländern – gerade die Anpassungsmechaniken – nicht unterschätzen. Verfahrensrecht ist immer lokales Recht. Gerade aus den ungleichen Laufzeiten von Zinsen, die bekanntlich betragsmäßig nicht zu vernachlässigen sind, ergibt sich noch eine Fülle von zusätzlichen Fragestellungen, die über die eigentliche materielle Frage der Vermeidung der Doppelbesteuerung hinausgehen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Müller-Gatermann, die Frage der Verzinsung ist häufig wirklich ein großes Problem, gerade wenn sich ein Verfahren lange hingezogen hat. Wenn man zunächst im „falschen Staat“ die Steuern bezahlt hat, sie dann dort mit mäßigen und vielleicht steuerpflichtigen Erstattungszinsen, möglicherweise auch ohne Zinsen, zurückbekommt und im anderen Staat, in dem man bisher nichts bezahlt hat, mit Nachzahlungszinsen belastet, zahlen muss, dann kann sich das Ganze sehr schnell zu einem Pyrrhussieg entwickeln. Ist da Abhilfe in Sicht, mit oder ohne Unterstützung der OECD?

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Müller-Gatermann Konkret ist mir nicht bekannt, dass sich an der Stelle etwas bewegt, obwohl uns diese Zinsproblematik bewusst ist. Das ist keine Frage. Bei den Verständigungsverfahren ist die Personalsituation im BZSt zwar aktuell verbessert worden. Die Steuerabteilung im BMF hat sich dafür eingesetzt, dass hier Verbesserungen eintreten. Aber die Personalsituation ist für mich noch nicht hinreichend befriedigend gelöst. Man muss weiter daran arbeiten. Man muss vor allem sehen, dass es, wenn die Bundes-Bp weiterhin wächst, noch mehr Fälle geben wird. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass sich in Zukunft irgendwann einmal zwei Referate mit entsprechender Personalausstattung im BZSt mit diesem Thema beschäftigen. Wir sind auch zur Unterstützung aufgerufen. Früher wurden die Verständigungsverfahren im BMF selbst gemacht. Wir haben das dann abgegeben, haben aber sowohl die Dienstaufsicht als auch die Fachaufsicht behalten, und müssen dafür sorgen, dass es funktioniert. Und das tun wir auch. Ich habe in einem Fall eine sehr gute Erfahrung gemacht. Mir wurde berichtet, dass es mit Japan faktisch nicht gelingt, ein Verständigungsverfahren positiv abzuschließen. Als wir dann eine japanische Delegation bei uns empfangen haben, haben wir uns ausgetauscht und seit der Zeit habe ich gehört, dass es deutlich besser geht. Man muss dranbleiben. Die Probleme sind uns bewusst und es wird daran gearbeitet. Prof. Dr. Lüdicke Darf ich direkt nachfragen, sei es an Sie, sei es auch an Frau Wolff? Inzwischen sind auch Mittelständler immer internationaler, aber bei ihnen sind die infrage stehenden Steuerbeträge unter Umständen nicht so groß. Trotzdem kann es zu internationaler Doppelbesteuerung kommen. Wie soll das eigentlich gelöst werden, solange solche Verfahren so aufwendig sind? Müller-Gatermann Jetzt muss ich meinem ehemaligen Dienstherrn sagen, dass es in seinem eigenen Interesse ist, dass er das Personal dort ansiedelt. Es geht um viel Geld. Es mag zwar im Mittelstand, je nachdem, wie man den Mittelstand definiert, im Einzelfall nicht um so hohe Summen gehen, aber uns wird vorgeworfen, dass wir in der Tat gutes Geld verlieren, weil wir uns nicht hinreichend darum kümmern. Da ist man dran. Das

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Problembewusstsein ist da, aber ich würde mir noch deutliche Verbesserungen wünschen. Und wenn Sie vorhin Frau Becker, mit der ich in den letzten zwei Jahren im BMF sehr intensiv zusammengearbeitet habe, zitieren, denke ich, dass sie das ähnlich kritisch sieht, wie die Kollegen das hier vorgetragen haben. Ich habe ihre Kommentierung aber nicht gelesen. Prof. Dr. Lüdicke Vielleicht war das nur ein bisschen schöngeschrieben. Lassen Sie mich, auch wenn die Thematik des Vortrags die Verständigungsverfahren waren, auch die APAs, die nur am Rande gestreift wurden, ansprechen. Kürzlich wurde beim Gesprächskreis Rhein-Ruhr2 beklagt, dass APAs zum Teil noch wesentlich länger als Verständigungsverfahren dauern, sodass man im Grunde kaum noch von einem „vorherigen“ Agreement sprechen kann. Eigelshoven Das ist leider auch unsere Beobachtung. Teilweise klären APAs nur vom Grundgedanken her alles im Vorhinein. Bis wir dann zum Abschluss gekommen sind, sind es dem Charakter nach eigentlich eher Verständigungsverfahren. Das sind schon sehr lange Verfahrensdauern. Man muss allerdings bedenken, dass man natürlich häufig mit komplexeren Fällen zum BZSt geht. Das mag dann ein Grund sein, dass die Verfahren längere Durchlaufzeiten haben. Aber es wäre wünschenswert, wenn die Verfahrenszeiten verkürzt würden. Wir haben in der Praxis sehr häufig mit Personalwechsel beim BZSt zu kämpfen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Müller-Gatermann, es ist eben angesprochen worden, dass die OECD jetzt den Art. 25 Abs. 5 im Musterabkommen vorsieht. Er betrifft verpflichtende Schiedsverfahren, die eine heilsame Wirkung auf das Verständigungsverfahren – und sogar schon auf das Besteuerungsverfahren, namentlich auf die Außenprüfung – haben können, weil man weiß, dass man sich zum Schluss einigen muss. Wie sieht die deutsche Position aus? Ist die grundsätzlich positiv? Gilt das auch gegenüber Entwicklungsstaaten? _____________ 2

Diskussionsveranstaltung am 11.11.2011 in Düsseldorf.

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Müller-Gatermann Ich habe in anderem Zusammenhang berichtet, dass wir an einem deutschen DBA-Muster arbeiten, mit dem wir in die Verhandlungen einsteigen werden. Dort ist vorgesehen, dass wir prinzipiell Schiedsverfahren vereinbaren, damit über diese Schiedsverfahren letztlich der Druck in Verständigungsverfahren hineinkommt, zu einem Abschluss zu kommen. Das verschärft zwar möglicherweise – das muss man sehen, wenn die Personalausstattung sich nicht deutlich bessert – die Situation im BZSt, aber auf der anderen Seite würde das natürlich unsere Argumentation gegenüber der Personalabteilung verbessern. Und noch ganz kurz ein Wort in diesem Zusammenhang zu APAs. Das ist ein hochpolitisches Thema. Die Bundesregierung hat lange Jahre damit Reklame gemacht für den guten Standort Deutschland, dass man hier über APAs versucht, schnell Rechtssicherheit zu bekommen. Es gibt natürlich positive Beispiele. Ich erinnere daran, dass ein APA mit Airbus, welches sogar vier Länder betroffen hat, Frankreich, Spanien, UK und Deutschland, in einem Jahr verhandelt worden ist. Das ist relativ zügig gewesen. Da hat man nachdrücklich dran gearbeitet. Aber ich sehe auch, dass in unserem eigenen Interesse APAs letztlich viel schneller laufen müssen, als es tatsächlich passiert. Prof. Dr. Gosch Ich habe mir natürlich einiges an Despektierlichem notiert. Die Laufzeiten im BFH sind kürzer. Das war das Erste. Zu dem Problem der Nachzahlungszinsen, von dem auch die Verwaltung schon gehört hat, hätte ich beinahe gesagt, dass da wahrscheinlich eine andere Arbeitsgruppe am Werk war. Und die Personalsituation beim BZSt muss ohnehin aufgestockt werden, wenn sich herausstellen sollte, dass ihr nach der Entscheidung des EuGH3 zur Frage der Erstattung definitiver Kapitalertragsteuern an Steuerausländer die Sachzuständigkeit für die Quellensteuer gebührt. Aber das ist noch offen. Darüber entscheidet der BFH erst im Januar nächsten Jahres.4 Aber im Ernst: Der BFH hat mit Verständigungsverfahren naturgemäß eher weniger zu tun. Das ist eine reine Sache der Steueradministration. _____________ 3 4

EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-284/09 – Kommission ./. Deutschland, FR 2011, 1112. BFH v. 11.1.2012 – I R 25/10, FR 2012, 524 ff.: in Bestätigung der ständigen Senatsrechtsprechung liegt die Entscheidungskompetenz weiterhin beim FA, nicht beim BZSt; noch anhängig: I R 30/10.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Wir hören manchmal bei mündlichen Verhandlungen, dass noch ein Verständigungsverfahren läuft. Die Ergebnisse eines solchen Verfahrens binden über § 175a AO an sich nur die Finanzbehörden. Sie verpflichten diese aber nicht nur zu einer Änderung „einfach“ bestandskräftiger Steuerbescheide. Vielmehr gilt Gleiches, wenn ein Urteil ergangen ist. Und so gesehen verrichtet die Justiz praktisch „ungestört“ von laufenden Verständigungsverfahren ihr Werk, wenn sie deren denn überhaupt gewahr wird. Aus Sicht der Rechtsprechung, so wie ich sie erlebt habe, stehen deswegen nicht das Verfahren oder die Dauer im Vordergrund des Interesses, sondern allenfalls die Wirkungen der Verständigungsvereinbarung. Dazu ist dann aber in der Tat noch das eine oder andere anzumerken. Zum einen betrifft das die materiellen Fragen, die verständigungswürdig oder gewissermaßen verständigungsvirulent sind. Man muss sich vor Augen führen, dass Verständigungen über nationales Recht von vornherein ausscheiden. Wenn der eine Staat in einem Sachverhalt nach seiner Steuerrechtsordnung eine Entnahme erkennt, der andere jedoch eine Dividende, dann gebietet dies allein das nationale Recht. Darüber kann man sich schlechterdings nicht verständigen. Man kann sich auch nicht darüber verständigen, ob eine Gesellschaft als Kapital- oder als Personengesellschaft zu qualifizieren ist. Auch das ist allein Sache des nationalen Rechts. Verständigen mag man sich in derartigen Zusammenhängen nur über die dadurch ausgelöste Doppelbesteuerung, allein dieser Doppelbesteuerungseffekt lässt sich qua Verständigung vermeiden. Die Vereinbarung stellt sich damit im Ergebnis als eine Art Billigkeitserweis dar, mittels dessen sie sich über das nationale Recht und die dadurch ausgelöste Rechtsfolge der Besteuerung im konkreten Einzelfall hinwegsetzt. Es gibt noch einen weiteren materiellen Aspekt. Sie haben in Ihrem Vortrag die Problematik von Art. 9 OECD-MA im Verhältnis zu hybriden Gesellschafterfinanzierungen, also zu § 8a KStG a. F., angesprochen, die Sperrwirkungen, die sich insofern aus Art. 9 OECD-MA für das nationale Recht ergeben. Solche Sperrwirkungen sind wohl uneingeschränkt anzunehmen. Das provoziert eine Anschlussfrage: Gilt das auch bezogen auf § 8 Abs. 3 KStG und dort im Hinblick auf die Sonderbedingungen für beherrschende Gesellschafter? Der BFH hat diese Frage bislang unbeantwortet gelassen.5 Sie ist aus meiner Sicht aber eindeutig zu bejahen. Die Sonderbedingungen für beherrschende Gesellschafter, _____________ 5

BFH v. 9.11.2005 – I R 27/03, BFH/NV 2006, 995.

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die national zur vGA führen bzw. solche generieren, sind keineswegs Gegenstand der Fremdvergleichspreisvereinbarung, wie sie im dealing at arm’s length- Grundsatz und damit in Art. 9 Abs. 1 OECD-MA vorgegeben wird. Erneut ergeben sich dann die schon benannten Schwierigkeiten im Falle einer abkommensrechtlichen Verständigung: Über den Effekt einer etwaigen Doppelbesteuerung mag man sich verständigen, aus meiner Sicht aber nicht über den Charakter der Sperrwirkung. Und das alles gilt gleichermaßen für die von Ihnen angesprochenen Verrechnungspreise. Auch darüber kann eine Verständigung immer nur über die zugrunde liegenden tatsächlichen Gegebenheiten erfolgen, nicht über die rechtlichen Grundlagen. Es verhält sich ähnlich wie bei einer sog. tatsächlichen Verständigung nach Maßgabe des nationalen allgemeinen Abgabenrechts. Lassen Sie mich noch zwei Punkte hervorheben: Zum einen möchte ich Ihren Blick auf die Bindungswirkung von Konsultationsabkommen im Sinne des Art. 25 Abs. 3 OECD-MA lenken. Eine solche Bindungswirkung hat der BFH verneint6 und Sie erinnern sich sicherlich, dass diese Rechtsprechung die Grundlage für die Neuschaffung des § 2 Abs. 2 AO war. Die Konsultationsabkommen sollen danach „zur Sicherung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung oder doppelten Nichtbesteuerung“ in bindende Rechtsverordnungen transformiert werden können. § 2 Abs. 2 AO soll dafür die Ermächtigungshandhabe geben. Ob das aber rechtstechnisch gelingt, ob eine Rechtsverordnung tatsächlich geeignet ist, gesetztes Recht in Gestalt der DBA „abkommensbrechend“ zu substituieren, dürfte vor dem Hintergrund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts alles andere als ausgemacht sein. Das Ganze ist aus meiner Sicht mehr als nur fragwürdig. Und zum anderen Punkt zwei. Er betrifft die unilateral abkommensübersteigende Rückfallvorschrift des § 50d Abs. 9 EStG. Diese Regelung betrifft sog. negative Qualifikationskonflikte zwischen zwei Vertragsstaaten sowie Fälle einer Nichtbesteuerung im anderen Staat mangels „hinreichender“ Tatbestandsmäßigkeit der beschränkten Steuerpflicht. Die Rückfallregelung lässt ausweislich ihres Satzes 3 § 50d Abs. 8 EStG sowie § 20 Abs. 2 AStG, aber auch DBA-Bestimmungen, „die die Freistellung von Einkünften in einem weiter gehenden Umfang einschrän_____________ 6

BFH v. 2.9.2009 – I R 90/08, BFH/NV 2009, 2041; v. 2.9.2009 – I R 111/08, BFH/ NV 2009, 2044.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

ken … unberührt.“ Etliche DBA-Rückfallklauseln sind neuerdings nun mit einer Verständigungsvereinbarung verknüpft: Der Besteuerungsrückfall wird nur dann ausgelöst, wenn eine Verständigungsvereinbarung damit im Zusammenhang steht und diese zum Ende geführt wurde. Die Frage, die sich stellt, ist jene nach dem Rangverhältnis derartiger abkommensrechtlicher Rückfallklauseln zu besagtem § 50d Abs. 9 EStG. Bejaht man den Anwendungsvorrang der Abkommensregelung, dann wäre § 50d Abs. 9 EStG insoweit aus dem Feld geräumt, und zwar allein aufgrund dessen, dass eine Verständigungsvereinbarung hat vereinbart werden müssen. Ich würde einen Anwendungsvorrang hingegen verneinen, weil eine solche DBA-Klausel eben nicht weiter gehenden Charakters ist und sie damit den Verdrängungsmechanismus gegenüber § 50d Abs. 9 EStG nicht auslöst. Die Wirklichkeit sieht aber offenbar anders aus, denn man muss mit gewissem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass zur neuen Regelung des DBA Deutschland-Irland in der dazu ergangenen Denkschrift7 gesagt wird, dass § 50d Abs. 9 EStG hinter einer solchen Rückfallklausel in Kombination mit Verständigungsvereinbarung zurücktritt. Das überrascht denn doch, weil gerade die unilateralen Rückfallklauseln einiges Steuerunheil stiften und ihrer erklärten Absicht nach wohl auch stiften sollen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank Herr Gosch. Das steht übrigens auch schon so in der Denkschrift zum DBA mit Großbritannien8. Prof. Dr. Gosch Da schau an. Prof. Dr. Lüdicke Wenn die DBA-Regelung dem § 50 Abs. 9 EStG insoweit nicht vorgeht, ergibt sich die zweifelhafte Situation, dass Deutschland mit dem Vertragspartner etwas vereinbart – nämlich die zwingende Durchführung eines Verständigungsverfahrens –, was jedoch bei Verweigerung der Freistellung schon nach § 50d Abs. 9 EStG überhaupt keine Bedeutung hat.

_____________ 7 8

BT-Drucks. 17/6258, 36. BT-Drucks. 17/2254, 38.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

Wolff Ich möchte etwas zu § 175a AO sagen, und zwar zur Umsetzung des Verständigungsverfahrens. Ich denke, wir haben eine Regelung in Deutschland, die nicht in allen Ländern zu finden ist. Die Wirksamkeit der Verständigungslösung steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Steuerpflichtigen. Es gibt auch Länder, in denen das anders ist. Dem Steuerpflichtigen wird keine Verständigungslösung aufoktroyiert. Die Konsequenz daraus ist, dass der Steuerpflichtige, der mit der Verständigungslösung nicht einverstanden ist, die Möglichkeit hat, die Verständigungslösung abzulehnen und z. B. das nationale Gerichtsverfahren weiterzuführen. Prof. Dr. Gosch Der seltene Fall einer fehlenden „Zwangsbeglückung“ im Steuerrecht. Wolff Ja, das möchte ich doch unterstreichen im Vergleich zu anderen Ländern. Meine andere Bemerkung betrifft die Möglichkeit, inwieweit die Verständigungslösung überhaupt umgesetzt werden kann. § 175a AO sagt, dass die Verständigungslösung auch über die Bestandskraft des ursprünglichen Steuerbescheids hinaus ein Jahr ab Wirksamkeit der Verständigungslösung umgesetzt werden kann. Ein anderer Aspekt ist das Verhältnis zu finanzgerichtlichen Verfahren. In vielen Ländern ist es nicht möglich, dass die Verständigungslösung aufgrund der Gewaltenteilung ein Urteil überstimmt. In solchen Ländern, so sagt auch Art. 7 Abs. 3 der EU-Schiedskonvention, wird empfohlen, um die möglicherweise günstigere Verständigungslösung nicht zu unterlaufen, rechtzeitig das finanzgerichtliche Verfahren durch Rücknahme des Antrags zu beenden oder durch Verstreichenlassen der entsprechenden Fristen gar nicht erst zu beginnen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Lehner9, Sie möchten zu dem Verhältnis zwischen einem rechtskräftigen Gerichtsurteil und einer nachfolgenden Ände_____________ 9

Prof. Dr. Moris Lehner, Lehrstuhl für Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht und Leiter der Forschungsstelle für Europäisches und Internationales Steuerrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

rung des Steuerbescheids aufgrund einer Verständigungsvereinbarung etwas sagen. Prof. Dr. Lehner Dazu sage ich gleich etwas. Ich muss aber um Ihre Erlaubnis bitten, mit einem Satz kurz an das anzuknüpfen, was heute Vormittag gesagt worden ist, auch im Kontext zu dem, was wir jetzt verhandeln. Da war die Rede davon, dass es einen Konflikt zwischen dem Anwendungsvorrang und der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG gibt. Das ist so nicht richtig. Der Anwendungsvorrang ist Teil bzw. Folge der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG. Dies ergibt sich zwingend aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 59 Abs. 2 GG und im europarechtlichen Kontext ergänzend aus Art. 23 GG. Zum Schiedsabkommen will ich nur eines klarstellen. Wir sprechen zwar zutreffend von der EU-Schiedskonvention. Sie ist aber kein Produkt europäischer, d. h. unionsrechtlicher Rechtssetzung. Sie bildet weder primäres noch sekundäres Unionsrecht, vielmehr ist sie ein multilateraler Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Ursprünglich, Ende der 70er-Jahre, war das noch anders gewollt. Es gab einen Richtlinienvorschlag der EG-Kommission, der auf eine entsprechende Veränderung der dem Art. 25 OECD-MA entsprechenden innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen gerichtet war. Dieser Richtlinienvorschlag ist vor allem deshalb nicht zustande gekommen, weil die Mitgliedstaaten keine Entscheidungszuständigkeit des EuGH in Bereichen des Abkommensrechts haben wollten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, von der Wirkung der Grundfreiheiten einmal abgesehen. Meines Wissens gibt es nur eine Ausnahme in Art. 25 unseres Doppelbesteuerungsabkommens mit Österreich. Danach kann ein Schiedsverfahren beim EuGH anhängig gemacht werden, falls das normale Verständigungsverfahren ergebnislos bleibt. Dann will ich etwas zur Rechtskraftproblematik sagen. In dem Merkblatt „Verständigungsverfahren“ der Finanzverwaltung wird auf § 110 Abs. 2 FGO verwiesen.10 Das ist im Hinblick auf die daraus abgeleitete Möglichkeit einer Rechtskraftdurchbrechung nicht nachvollziehbar. Die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung kann durch ein Verständigungsergebnis nicht überwunden werden. § 110 Abs. 2 FGO lässt zwar die Bestimmungen über die Bestandskraft unberührt, doch steht _____________ 10 Merkblatt Verständigungsverfahren v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461 Tz. 13.1.4.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

dies unter der ausdrücklichen Bedingung des Einleitungssatzes: „… soweit sich aus Abs. 1 nichts anderes ergibt.“ Und § 110 Abs. 1 FGO normiert prominent und mit deutlichen Worten die Rechtskraftwirkung inter partes. Also keine Rechtskraftdurchbrechung durch eine Verständigungsentscheidung. Das zusätzliche Argument, das man aus dem Ministerium hört, ist immer: „Die Gerichte haben, außer der Möglichkeit, sich um Entscheidungsharmonie zu bemühen, keine Möglichkeit, sich mit dem Gericht eines anderen Staates abzustimmen.“ Das ist natürlich richtig. Die Finanzverwaltung hat diese Möglichkeit, aber es gilt immer noch der Grundsatz der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung der Verwaltung. Die Rechtskraft einer innerstaatlichen Gerichtsentscheidung kann durch eine Verständigungsvereinbarung nicht überwunden werden. Wenngleich der BFH diese Frage noch nicht ausdrücklich entschieden hat, folgt die von mir dezidiert vertretene Auffassung doch aus Entscheidungen, in denen der BFH feststellt, dass eine Entscheidung im Rechtsmittelverfahren einer Billigkeitslösung bei übereinstimmender Auffassung beider Staaten im Verständigungsverfahren nicht entgegensteht11. Dieser Hinweis wäre unnötig, wenn die Überwindung der Rechtskraft möglich wäre. Der durch die Ergänzung im Jahre 2008 in den Text des OECD-MA eingefügte Art. 25 Abs. 5 stellt dies in seinem Satz 2 zumindest für das dort vorgesehene Schiedsverfahren klar. Danach werden die im Verständigungsverfahren nicht gelösten Fragen „nicht dem Schiedsverfahren unterworfen, wenn zu ihnen bereits eine Gerichtsentscheidung in einem der Staaten ergangen ist.“ Ich habe noch einen Nachtrag zu der Problematik „Anspruch“ des Steuerpflichtigen. Es gibt einen Anspruch des Steuerpflichtigen auf eine abkommenskonforme Besteuerung, u. a. nach Art. 7 und Art. 9 OECDMA. Diesen Anspruch kann der Steuerpflichtige durchsetzen, wenn nicht im Verständigungsverfahren, dann eben bei den Finanzgerichten. Prof. Dr. Lüdicke Man kann natürlich sagen, wo kein Kläger, da kein Richter. Wenn die Finanzverwaltung auf Grundlage der Verständigungsvereinbarung tatsächlich abhilft und sich über die Rechtskraft hinwegsetzt, wird der Steuerpflichtige sich nicht beklagen. Die andere Frage ist, ob man sich darauf stützen kann. Ich glaube, das deuten Sie ja auch in Ihrer Kommentierung12 an, Herr Lehner, dass man die Maßnahme anschließend _____________ 11 BFH v. 1.2.1967 – I 220/64, BStBl. III 1967, 495 (497 l. Sp.). 12 Lehner in Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 OECD-MA Rz. 132 f.

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Podiumsdiskussion: Verständigungsverfahren

als eine Billigkeitsmaßnahme, also eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen, ansieht. Wäre das nicht eine praktikable Lösung, um sich mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Konflikt zu begeben? Prof. Dr. Lehner Sicher, diese Möglichkeit ist immer gegeben. Prof. Dr. Lüdicke So, jetzt erhält Herr Loschelder das Wort. Dr. Loschelder Erstens: Die Laufzeiten beim FG Hamburg sind noch kürzer. Zweitens: Zur Sperrwirkung – das haben wir gerade mit Urteil vom 31.10. dieses Jahres13 entschieden. Wir gehen davon aus, dass Art. 9 OECD-MA bzw. Art. 6 DBA Niederlande eine Sperrwirkung gegenüber § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG entwickeln, wenn es um Gewinnkorrekturen geht, die auf rein formalen Beanstandungen beruhen. Wir sind damit einem Urteil des FG Köln14 aus dem Jahre 2007 gefolgt. Das Urteil ist damals rechtskräftig geworden, obwohl die Revision zugelassen worden war. Wir haben ebenfalls die Revision zugelassen. Ob sie inzwischen eingelegt worden ist, weiß ich noch nicht. Wenn das der Fall sein sollte, dann erfährt Herr Gosch als Erster davon.15 Prof. Dr. Gosch Ich lasse offen, ob ich davon schon weiß. Dr. Loschelder Als Drittes möchte ich etwas zur Rechtskraftwirkung anmerken. Ich würde auch sagen, dass in solchen Fällen im Billigkeitswege korrigierend eingegriffen werden müsste. Möglicherweise käme man hier sogar zu einer Ermessensreduzierung „auf Null“. Denn die Situation als solche ist doch denkbar schräg: Es wird eine Empfehlung ausgesprochen, eine anhängige Klage zurückzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt ist noch _____________ 13 FG Hamburg v. 31.10.2011 – 6 K 179/10 (Rev. BFH I R 75/11), IStR 2012, 190. 14 FG Köln v. 22.8.2007 – 13 K 647/03 (rkr.), EFG 2008, 161. 15 Redaktionelle Anmerkung: Die Revision ist eingelegt worden und unter dem Az. I R 75/11 anhängig.

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völlig offen, ob Sie – als Kläger – nicht mit Ihrer Klage durchkommen. Unabhängig davon läuft das Verständigungsverfahren, das im Ergebnis dazu führen kann, dass Sie das von Ihnen angestrebte Ziel nicht erreichen. Und nun werden Sie aufgefordert, auf den rechtsstaatlich vorgesehenen gerichtlichen Rechtsschutz zu verzichten! Das kann doch eigentlich nicht richtig sein. Dann möchte ich noch einen letzten Punkt aufgreifen. Kann man die Durchführung eines Verständigungsverfahrens einklagen? Der BFH16 hat es im Jahre 1982 offengelassen, ob in diesem Fall eine Verpflichtungsklage zulässig ist. Entscheidend ist, ob hier überhaupt ein Verwaltungsakt vorliegt bei der Entscheidung, ob ein Verständigungsverfahren durchgeführt wird oder nicht. Denn zunächst ist dies eine verwaltungsinterne Entscheidung. Diese tritt erst – gegebenenfalls – nach Abschluss des Verfahrens in Gestalt des die Entscheidung umsetzenden Steuerbescheids dem Steuerpflichtigen gegenüber in Erscheinung. Aber auch dann, wenn man hier keinen Verwaltungsakt annimmt, bleibt die Möglichkeit, eine allgemeine Leistungsklage zu erheben. Wolff Die Ablehnung der Einleitung eines Verständigungsverfahrens ist ein Verwaltungsakt mit Rechtsbehelfsbelehrung, gegen den dann ggf. Einspruch eingelegt werden könnte, wobei wir auch Abhilfebehörde sind. Dann könnte gegen einen die Einleitung des Verständigungsverfahrens ablehnenden Bescheid auch Klage erhoben werden. Müller-Gatermann Ich habe noch eine kurze Bemerkung zur Rechtskraftwirkung. Ich bin völlig offen, wie man es rechtlich qualifiziert, und sei es als Billigkeitsentscheidung. Wir klagen aus deutscher Sicht, dass es Länder gibt, in denen keine Veränderung mehr möglich ist. Dann macht auch kein Schiedsverfahren mehr Sinn. Prof. Dr. Lüdicke Ja, jedenfalls wenn der Steuerpflichtige in dem anderen Staat ein Klageverfahren geführt und zum Abschluss gebracht hat. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage: Herr Wichmann17 hat kürzlich bei einer _____________ 16 BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583. 17 Ministerialrat Michael Wichmann, Bundesfinanzministerium, Berlin.

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Veranstaltung gesagt, dass es mit manchen Ländern gar keinen Sinn machen würde, im DBA überhaupt ein Schiedsverfahren zu vereinbaren, und zwar aus dem Grund, weil es später nicht mehr umgesetzt werden kann. Das, muss ich gestehen, habe ich nie verstanden. Denn es ist ja nicht gesagt, dass der Steuerpflichtige im anderen Staat vor Gericht zieht. Müller-Gatermann Das ist aber genau die Überlegung. Das mag in seiner Absolutheit nicht richtig sein. Aber Herr Wichmann ist immer derjenige, der auf diese Probleme hinweist, die es in anderen Staaten gibt. Dann kann ein Schiedsverfahren allenfalls bedingt Sinn machen. Prof. Dr. Lüdicke Es mag ja sein, dass es einzelne Fälle gibt, in denen einzelne Steuerpflichtige im anderen Staat den Klageweg ausgeschöpft haben und in denen das Schiedsverfahren in der Tat keinen Sinn mehr macht. Aber dann schon kein Schiedsverfahren im DBA zu vereinbaren und damit alle anderen Steuerpflichtigen, die gern ein Schiedsverfahren haben möchten, zu enttäuschen, finde ich nicht die angemessene Reaktion. Müller-Gatermann Um Ihre Sorge zu nehmen, kann ich Ihnen mitteilen, dass wir entschieden haben, dass wir im Prinzip anstreben, Schiedsverfahren zu vereinbaren. Ob das jeweils der andere Staat immer mitmacht, ist eine andere Frage.

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Der neue Umwandlungssteuererlass Umwandlungen mit Auslandsbezug Ausgewählte Problemfelder

Dr. Christian Sistermann, LL.M. International Tax (New York University) Rechtsanwalt, Steuerberater Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, München

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 B. Entstrickung bei Herausverschmelzung einer inländischen Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . I. Umwandlungsbedingte Entstrickung nach dem UmwStG II. Regelungen des Umwandlungssteuererlasses zu Entstrickungstatbeständen . . . . . 1. Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu in- oder ausländischen Betriebsstätten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wechsel der Steuerpflicht . III. Eigene Beurteilung . . . . . . . . . IV. Europarechtliche Einschränkungen einer Sofortbesteuerung im Falle der Entstrickung C. Downstream-Merger mit ausländischen Anteilseignern . . . I. Anwendung des UmwStG auf einen Downstream-Merger . . II. Regelungskonzept im Umwandlungssteuererlass . . . . . . III. Eigene Beurteilung . . . . . . . . . D. Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte bei Umwandlung von

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Kapitalgesellschaft in Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 I. Anteilige Aufstockung stiller Reserven . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Ermittlung des Übernahmeergebnisses bei anteiliger Aufstockung stiller Reserven . 172 E. Steuerliche Behandlung von neutralem Auslandsvermögen bei Umwandlung von Kapital- in Personengesellschaft . . . . . . . . . . I. Zuschlag für neutrales Vermögen nach § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erstmalige Steuerverstrickung des neutralen Auslandsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vermeidung einer Doppelbesteuerung? . . . . . . . . . . . . . .

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F. Verstrickung bei Hereinverschmelzung einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft . . . . . . . . 176 I. Ausgangssituation . . . . . . . . . 176 II. Verstrickung zum Buch- oder Teilwert? . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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Sistermann – Der neue UmwSt-Erlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug

A. Einleitung Das Umwandlungssteuergesetz (UmwStG) wurde durch das am 12.12.2006 in Kraft getretene SEStEG1 neu gefasst und (in nunmehr vollständiger Umsetzung der Fusionsrichtlinie) auch für grenzüberschreitende Umwandlungsmaßnahmen geöffnet. Die Durchführung steuerneutraler Unternehmensumwandlungen innerhalb der EU ist damit zwar grundsätzlich möglich, in der Praxis allerdings insbesondere im Hinblick auf die in das UmwStG aufgenommenen Entstrickungsvorschriften mit etlichen Unsicherheiten verbunden. Die dringend erforderliche Neufassung des Umwandlungssteuererlasses ließ mehr als fünf Jahre auf sich warten. Nach einem langwierigen Entstehungsprozess wurde nunmehr der neue Umwandlungssteuererlass zum Ende des Jahres 2011 veröffentlicht2 und ersetzt damit den Umwandlungssteuererlass von 19983. Unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Regelungen des Umwandlungssteuererlasses werden nachfolgend einige ausgewählte Fragestellungen im Zusammenhang mit der Einschränkung bzw. dem Ausschluss oder der erstmaligen Begründung deutscher Besteuerungsrechte aufgrund von Umwandlungen mit Auslandsbezug dargestellt.

B. Entstrickung bei Herausverschmelzung einer inländischen Kapitalgesellschaft I. Umwandlungsbedingte Entstrickung nach dem UmwStG Im Rahmen des SEStEG hat der Gesetzgeber neben den Entstrickungsvorschriften des UmwStG4 in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG sowie in § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG erstmalig auch allgemeine Entstrickungsvorschrif_____________ 1 Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Anwendung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782 ber. BGBl. I 2007, 68. 2 BMF v. 11.11.2011 – IV C 2 - S 1978 - b/08/10001 - DOK 2011/0903665, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass). 3 BMF v. 25.3.1998 – IV B 7 - S - 1978 - 21/98; IV B 2 - S 1909 - 33/98, BStBl. I 1998, 268 (Umwandlungssteuererlass 1998). 4 Vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG in Bezug auf die übertragenen Wirtschaftsgüter, § 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 UmwStG in Bezug auf das eingebrachte Betriebsvermögen sowie § 21 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 UmwStG in Bezug auf im Rahmen eines Anteilstauschs erhaltene Anteile an der übernehmenden Gesellschaft.

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Sistermann – Der neue UmwSt-Erlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug

ten normiert. Danach soll es dann zu einer gewinnrealisierenden Aufdeckung stiller Reserven kommen, wenn das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung eines Wirtschaftsguts ausgeschlossen oder beschränkt wird. Der BFH hat (nach Inkrafttreten des SEStEG, aber zu Sachverhalten vor SEStEG) in seinen Urteilen vom 17.7.20085 und vom 28.10.20096 unter Aufgabe der bis dahin geltenden finalen Entnahmetheorie7 entschieden, dass die Überführung von Wirtschaftsgütern in eine ausländische Betriebsstätte zu keiner Entstrickung führt, da eine Besteuerung auch nach Überführung der Wirtschaftsgüter sichergestellt ist. Umstritten war in der Folgezeit, wie die durch das SEStEG eingeführten gesetzlichen Entstrickungstatbestände (mit denen der Gesetzgeber die finale Entnahmetheorie gesetzlich verankern wollte) angesichts dieser BFHRechtsprechung auszulegen sind. Aufgrund der insoweit unklaren Rechtslage hat der Gesetzgeber im Jahressteuergesetz 20108 § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG durch Aufnahme eines Regelbeispiels dahingehend ergänzt, dass ein Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts insbesondere dann vorliegt, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist. Eine entsprechende Ergänzung der Entstrickungsvorschriften des UmwStG wurde allerdings nicht vorgenommen. Unklar blieb damit, in welchem Verhältnis die allgemeinen Entstrickungsvorschriften zu denen des UmwStG stehen. Aber auch wenn die umwandlungsbedingte Zuordnung eines Wirtschaftsguts zu einer ausländischen Betriebsstätte entscheidend für den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts sein sollte, stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien und zu welchem Zeitpunkt die maßgebliche Zuordnungsentscheidung getroffen werden muss.

_____________ 5 6 7 8

BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. BFH v. 28.10.2009 – I R 99/08, BFH/NV 2010, 346. Vgl. dazu z. B. Wied in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 4 EStG Rz. 477. Jahressteuergesetz vom 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768.

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II. Regelungen des Umwandlungssteuererlasses zu Entstrickungstatbeständen Nach Auffassung des Erlassgebers sind die gesetzlichen Grundlagen im UmwStG für eine Entstrickung im Lichte der durch das Jahressteuergesetz 2010 ergänzten allgemeinen Entstrickungsregelungen auszulegen (Rndr. 11.08 i. V. m. 03.18 Umwandlungssteuererlass). Dementsprechend kommt es immer dann zu einer Beschränkung oder einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte eines Rechtsträgers zuzuordnendes Wirtschaftsgut infolge einer Umwandlung einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist. 1. Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu in- oder ausländischen Betriebsstätten Zwar soll nach der Finanzverwaltung eine grenzüberschreitende Umwandlung die abkommensrechtliche Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu einer in- oder ausländischen Betriebsstätte grundsätzlich nicht ändern; die Zuordnung von Wirtschaftsgütern ist jedoch im Einzelfall anhand der Grundsätze des Betriebsstättenerlasses9 zu beurteilen (vgl. Rz. 11.09 i. V. m. 03.20 Umwandlungssteuererlass). Dabei soll auf die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des steuerlichen Übertragungsstichtags abzustellen sein (vgl. Rz. 02.15 Umwandlungssteuererlass). Der Betriebsstättenerlass orientiert sich bekanntlich bei der Zuordnung von Wirtschaftsgütern an der sog. Zentralfunktion des Stammhauses. Bei Beteiligungen an Kapitalgesellschaften geht der Betriebsstättenerlass dementsprechend davon aus, dass diese in der Regel dem Stammhaus zuzuordnen sind, sofern sie nicht der Tätigkeit einer Betriebsstätte dienen. Gleiches gilt grundsätzlich für immaterielle Wirtschaftsgüter, wenn sie nicht zur Nutzung oder Verwertung in einer Betriebsstätte bestimmt sind. Wird daher beispielsweise eine inländische HoldingKapitalgesellschaft, die über Anteilsbesitz sowie immaterielle Wirtschaftsgüter verfügt, auf eine im EU-Ausland ansässige Kapitalgesellschaft verschmolzen, sind die übergehenden Wirtschaftsgüter zum steuerlichen Übertragungsstichtag der übernehmenden Kapitalgesell_____________ 9 BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl. I 1999, 1076, zuletzt geändert durch BMF v. 25.8.2009 – IV B 5 - S 1341/07/10004 - DOK 2009/0421117, BStBl. I 2009, 888.

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schaft (mit im EU-Ausland befindlichem Stammhaus) zuzuordnen. Nach den Regelungen des Umwandlungssteuererlasses bestünde damit ggf. (aufgrund einer fingierten, rein steuerrechtlichen Organisationsänderung) das Risiko eines Ausschlusses des deutschen Besteuerungsrechts an den übergehenden Kapitalgesellschaftsanteilen und immateriellen Wirtschaftsgütern mit der Folge, dass in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Holding-Kapitalgesellschaft insoweit (gewinnrealisierend) die gemeinen Werte anzusetzen wären. Dies gilt auch für einen etwaigen Firmenwert, der – obgleich kein Wirtschaftsgut – nach Rz. 03.05 Umwandlungssteuererlass gemäß § 3 Abs. 1 UmwStG ebenfalls in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Kapitalgesellschaft anzusetzen wäre – jedenfalls sofern der gesamte Betrieb der übertragenden Holding-Kapitalgesellschaft entstrickt wird. 2. Wechsel der Steuerpflicht Eine umwandlungsbedingte Entstrickung kommt gemäß Rz. 03.20 Satz 3 Umwandlungssteuererlass ferner im Zusammenhang mit einem Wechsel der Steuerpflicht in Betracht. Unterhält die übertragende Kapitalgesellschaft beispielsweise eine Betriebsstätte in einem ausländischen Staat, mit dem kein DBA besteht, kommt es durch die Verschmelzung zum steuerlichen Übertragungsstichtag in Bezug auf das ausländische Betriebsstättenvermögen zu einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts, sodass insoweit eine steuerliche Gewinnrealisierung eintritt (vgl. Rz. 03.20 i. V. m. dem Beispiel in Rz. 03.19 Umwandlungssteuererlass).

III. Eigene Beurteilung Eine Entstrickung zum steuerlichen Übertragungsstichtag aufgrund einer Zuordnung von Wirtschaftsgütern nach Zentralfunktionsgesichtspunkten – wie im Umwandlungssteuererlass unter Rz. 03.20 Satz 1 durch den Verweis auf die Grundsätze des Betriebsstättenerlasses angelegt – stünde im Widerspruch zur erklärten Absicht des Gesetzgebers, betriebswirtschaftlich sinnvolle Umwandlungen auch im grenzüberschreitenden Kontext zu ermöglichen,10 und wäre zudem mit der abkommensrechtlichen Tendenz einer zunehmenden (fiktiven) rechtlichen _____________ 10 BT-Drucks.16/2710, 25.

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und wirtschaftlichen Verselbstständigung der Betriebsstätte11 schwerlich in Einklang zu bringen. Stellt man auf eine funktionale Betrachtung ab, sollte eine Zuordnung der übergehenden Wirtschaftsgüter (insbesondere von Kapitalgesellschaftsbeteiligungen und immateriellen Wirtschaftsgütern) zum Stammhaus aufgrund der von diesem in der Regel ausgeübten Zentralfunktionen vielmehr nur dann möglich sein, wenn die Zentralfunktionen auch insoweit zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt vom (neuen) Stammhaus und nicht weiterhin von der bisherigen Organisationseinheit (d. h. dem bisherigen Stammhaus der Überträgerin) ausgeübt werden12. Legt man nach Rz. 02.15 Umwandlungssteuererlass die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des steuerlichen Übertragungsstichtages der Beurteilung zugrunde, kann allerdings zu diesem Zeitpunkt noch keine Zuordnung der übergehenden Wirtschaftsgüter zum neuen ausländischen Stammhaus vorgenommen werden, wenn sich die für die funktionale Zuordnung entscheidenden tatsächlichen Verhältnisse zum steuerlichen Übertragungsstichtag nicht geändert haben. Dies hat indes zur Konsequenz, dass die zum steuerlichen Übertragungsstichtag für steuerliche Zwecke fingierte Übertragung des Vermögens der übertragenden Kapitalgesellschaft auf die übernehmende Kapitalgesellschaft (und damit eine neue oberste Geschäftsleitung) für sich alleine zu keiner Entstrickung in Bezug auf die übergehenden Wirtschaftsgüter führen kann. Eine spätere tatsächliche funktionelle Neuausrichtung (beispielsweise durch einen Umzug des bisherigen Managements der übertragenden Körperschaft ins Ausland oder eine Übernahme der Beteiligungsverwaltung durch das Management des ausländischen Stammhauses) führt dagegen jedenfalls zu keiner umwandlungsbedingten (rechtlichen) Entstrickung zum steuerlichen Übertragungsstichtag, sondern kann allenfalls eine (tatsächliche) Entstrickung nach den allgemeinen Entstrickungsvorschriften (§ 12 Abs. 1 Satz 1 KStG) zur Folge haben. Auch der Umstand, dass infolge der Umwandlung zum steuerlichen Übertragungsstichtag ein Wechsel von unbeschränkter zu beschränkter Steuerpflicht eintritt, kann an der Beurteilung nichts ändern; lediglich im Falle des Wegfalls einer (beschränkten oder unbeschränkten) inlän_____________ 11 Vgl. OECD-Betriebsstättenbericht vom 17.7.2008 (OECD-Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments), abrufbar auf der Homepage der OECD unter www.oedc.org. 12 So im Ergebnis wohl auch Benecke/Beinert, FR 2010, 1009 (1015 f.).

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dischen Steuerpflicht, wie im oben unter II.2 aufgezeigten Beispielsfall in Bezug auf das ausländische Betriebsstättenvermögen, führt die Umwandlung zu einem Ausschluss oder einer Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts mit der bereits aufgezeigten Konsequenz des Ansatzes der gemeinen Werte in Bezug auf das betroffene Vermögen in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft.

IV. Europarechtliche Einschränkungen einer Sofortbesteuerung im Falle der Entstrickung Vor dem Hintergrund der aktuellen Entscheidung des EuGH vom 29.11.2011 in der Rechtssache „National Grid Indus B.V.“13 stellt sich schließlich auch die Frage, ob eine umwandlungsbedingte Entstrickung zwingend eine Sofortbesteuerung der aufgedeckten stillen Reserven zur Folge hätte. Nachdem der EuGH in seinen Urteilen in den Rechtssachen „N“14 und „Lasteyrie du Saillant“15 für den privaten Bereich festgestellt hat, dass eine Sofortbesteuerung bei Wegzug grundsätzlich einen nicht gerechtfertigten Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellt, war umstritten, ob die in den genannten Entscheidungen aufgestellten Grundsätze auch auf den betrieblichen Bereich übertragen werden können.16 In der Rechtssache „National Grid Indus“ hat der EuGH nunmehr hierzu Stellung genommen und entschieden, dass zwar nicht die zwangsweise Realisierung stiller Reserven infolge eines Wegzuges einer Kapitalgesellschaft ins EU-Ausland, aber deren Sofortbesteuerung im Ausgangsland einen unverhältnismäßigen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellt. In dem Urteil ging es um die Verlegung des Gesellschaftssitzes einer niederländischen Kapitalgesellschaft nach Großbritannien. Die vom EuGH aufgestellten Grundsätze sollten indes auch auf eine Entstrickung infolge der Verschmelzung einer inländischen Kapitalgesell_____________ 13 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus B.V., IStR 2012, 27 Rz. 46. 14 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-470/04 – N, Slg. 2006, I-07409. 15 EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-02409. 16 Vgl. dazu z. B. Mitschke, IStR 2010, 95 (96 f.); IStR 2010, 211 (212 f.); Ubg 2010, 355 (357); Körner, IStR 2006, 109; IStR 2009, 741 (748); IStR 2010, 208 (210); FG Rh.-Pf. v. 7.1.2011 – 1 V 1217/10, EFG 2011, 1096; dazu Kessler/Phillip, DStR 2011, 1888.

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schaft auf eine ausländische EU-Kapitalgesellschaft übertragbar sein, was die Frage der Unionsrechtswidrigkeit der Entstrickungsvorschriften des UmwStG aufwirft. Zwar wären nach derzeitiger Gesetzeslage im Falle einer umwandlungsbedingten Entstrickung die hierdurch aufgedeckten stillen Reserven grundsätzlich sofort in Deutschland zu versteuern; die Finanzverwaltung könnte jedoch ggf. den Vorgaben des EuGH im Wege einer unionskonformen Auslegung der verfahrensrechtlichen Stundungsmöglichkeiten Rechnung tragen. Erwartungsgemäß äußert sich der Umwandlungssteuererlass hierzu nicht. Es bleibt daher abzuwarten, ob bzw. wie sich der Gesetzgeber oder zumindest die Finanzverwaltung der europarechtlichen Problematik annehmen wird.

C. Downstream-Merger mit ausländischen Anteilseignern I. Anwendung des UmwStG auf einen Downstream-Merger Die Finanzverwaltung vertrat vor Inkrafttreten des SEStEG die Auffassung, dass die Vorschriften der §§ 11 ff. UmwStG a. F. auf eine Abwärtsverschmelzung (Downstream-Merger) nur im Billigkeitswege auf übereinstimmenden Antrag aller Beteiligten anzuwenden sind.17 Im Rahmen der Neufassung des UmwStG durch das SEStEG hat der Gesetzgeber jedoch in § 11 Abs. 2 Satz 2 UmwStG eine Regelung zur Behandlung der Anteile der Überträgerin an der Übernehmerin getroffen und damit klargestellt, dass auch der Downstream-Merger im Grundsatz von den §§ 11 ff. UmwStG erfasst sein soll. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein Downstream-Merger gemäß § 11 Abs. 2 UmwStG auch hinsichtlich der Anteile an der übernehmenden Körperschaft steuerneutral vorgenommen werden kann und insbesondere, ob es sich bei den Anteilen an der übernehmenden Körperschaft um übergehende Wirtschaftsgüter im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 UmwStG handelt, war (und ist) indes angesichts der insoweit unklaren gesetzlichen Regelungen umstritten.

II. Regelungskonzept im Umwandlungssteuererlass Unter Rz. 11.18 Umwandlungssteuererlass wird zunächst noch einmal die Rechtsprechung des BFH18 bestätigt, dass der Downstream-Merger _____________ 17 Vgl. Rz. 11.24 Umwandlungssteuererlass 1998. 18 BFH v. 28.10.2009 – I R 4/09, BStBl. II 2011, 315.

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auch steuerlich nicht zu einem Durchgangserwerb eigener Anteile bei der übernehmenden Körperschaft führt. Zwar geht die Finanzverwaltung offenbar davon aus, dass es sich bei den Anteilen der übertragenden Körperschaft an der übernehmenden Körperschaft um übergehende Wirtschaftsgüter im Sinne des § 11 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 UmwStG handelt; es wird allerdings gleichwohl in Bezug auf diese Anteile eine Buchwertfortführung unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 UmwStG ermöglicht, wobei gemäß Rz. 11.19 Umwandlungssteuererlass insoweit jedoch nicht auf die übernehmende Körperschaft, sondern vielmehr auf die Anteilseigner der übertragenden Körperschaft abzustellen ist. Daher scheidet beispielsweise ein Buchwertansatz in Bezug auf die Anteile an der übernehmenden Körperschaft immer dann aus, wenn und soweit die Anteilseigner der (inländischen) Überträgerin in einem ausländischen Staat ansässig sind und das einschlägige DBA eine dem Art. 13 Abs. 5 OECD-MA entsprechende Regelung enthält. Auf Ebene der Anteilseigner der übertragenden Körperschaft bleibt es indes weiterhin bei der Anwendung von § 13 UmwStG (vgl. Rz. 11.19 Abs. 2 Satz 1 Umwandlungssteuererlass). Der Downstream-Merger kann daher für diese unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 UmwStG steuerneutral vollzogen werden. Insbesondere liegt auch hinsichtlich der unmittelbar auf die Anteilseigner übergehenden Anteile an der Übernehmerin keine partielle Aufwärtsverschmelzung (UpstreamMerger) vor, sodass es weder zu einer Wertverknüpfung zwischen dem Ansatz in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft und dem Ansatz der Anteile an der Übernehmerin bei den Anteilseignern der Überträgerin kommt (vgl. Rz. 11.19 Abs. 2 Satz 2), noch ein Übernahmegewinn nach § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG entstehen kann.

III. Eigene Beurteilung Der Wortlaut des § 11 UmwStG ist in Bezug auf die steuerliche Behandlung der Anteile an der Übernehmerin im Falle eines DownstreamMerger unklar und damit auslegungsbedürftig. Behandelt man die Anteile als (wenn auch nicht auf die übernehmende Körperschaft) übergehende Wirtschaftsgüter, wäre ein Downstream-Merger in Bezug auf die Anteile an der Übernehmerin nach dem Gesetzeswortlaut nie steuerneutral möglich, da diese nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UmwStG

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nur dann in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft mit dem Buchwert angesetzt werden können, wenn und soweit auch sichergestellt ist, dass sie später bei der Übernehmerin der Besteuerung mit Körperschaftsteuer unterliegen. Versteht man dagegen unter übergehenden Wirtschaftsgütern nur solche, die auf den übernehmenden Rechtsträger übergehen, mithin ihm steuerlich zuzurechnen sind, und behandelt § 11 Abs. 2 Satz 2 UmwStG als eigenständigen Absatz, würde der Downstream-Merger in Bezug auf die Anteile an der Übernehmerin immer zum Buchwert erfolgen, und zwar auch dann, wenn diesbezüglich das deutsche Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt wird.19 Beide Auslegungsvarianten sind – abgesehen von systematischen Schwächen – gesetzgeberisch offenkundig nicht gewollt. Gleiches gilt, würde man – wie ebenfalls im Schrifttum diskutiert20 – die Anteilseigner der übertragenden Körperschaft in Bezug auf die Anteile an der Übernehmerin generell als übernehmende Rechtsträger behandeln, mithin also insoweit einen partiellen Upstream-Merger annehmen mit der Folge der Buchwertverknüpfung nach § 12 Abs. 1 UmwStG und einer etwaigen Realisierung eines Übernahmegewinns nach § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG. Berücksichtigt man den mutmaßlichen gesetzgeberischen Willen, auch einen Downstream-Merger dem Grunde nach sowohl auf Ebene der beteiligten Körperschaften als auch auf Anteilseignerebene steuerneutral zu ermöglichen – jedenfalls sofern es hierdurch nicht zu einer Beschränkung oder einem Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte kommt und damit dem deutschen Fiskus Besteuerungssubstrat entzogen wird –, scheint die im Umwandlungssteuererlass niedergelegte Auffassung letztlich – wenn auch zum Teil im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut – gut vertretbar. Man darf allerdings bezweifeln, ob diese Auffassung auch in einem Finanzgerichtsverfahren standhalten würde. Letztlich ist daher der Gesetzgeber gefordert, durch entsprechende Anpassung des Wortlauts des § 11 UmwStG Rechtsklarheit zu schaffen.

_____________ 19 So z. B. Schmitt/Schlossmacher, DStR 2010, 673. 20 Vgl. Rasche, GmbHR 2010, 1188.

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D. Ausschluss deutscher Besteuerungsrechte bei Umwandlung von Kapitalgesellschaft in Personengesellschaft I. Anteilige Aufstockung stiller Reserven Die Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft kann u. a. dann zu Buchwerten erfolgen, wenn und soweit das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung der übertragenen Wirtschaftsgüter bei den Gesellschaftern der übernehmenden Personengesellschaft nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist dabei nach Rz. 03.18 Abs. 1 Satz 2 Umwandlungssteuererlass bei den Gesellschaftern der übernehmenden Personengesellschaft – entsprechend der oben unter II. dargestellten Grundsätze – subjekt- und objektbezogen zu prüfen. Sind beispielsweise an einer übertragenden Kapitalgesellschaft sowohl ein inländischer als auch ein ausländischer Anteilseigner beteiligt, und unterhält die Überträgerin eine Betriebsstätte in einem ausländischen Staat, mit dem kein DBA besteht, kommt es bei einer Umwandlung der Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft nach der Finanzverwaltung insoweit zu einem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts am ausländischen Betriebsstättenvermögen, als der ausländische Anteilseigner an der übernehmenden Personengesellschaft beteiligt wird, da er mit den ausländischen Betriebsstätteneinkünften nicht der beschränkten Einkommen- oder Körperschaftsteuerpflicht im Sinne des § 49 EStG unterliegt (vgl. die Beispiele unter Rz. 03.19 und Rz. 04.24 Umwandlungssteuererlass). Der Umwandlungssteuererlass geht dabei offenbar davon aus, dass die ausländischen Betriebsstätteneinkünfte immer unmittelbar dem ausländischen Anteilseigner der übernehmenden Personengesellschaft zuzurechnen sind. Ob indes angesichts der abkommensrechtlichen Selbstständigkeitsfiktion von Betriebsstätten auch eine Zurechnung ausländischer Betriebsstätteneinkünfte bei einer inländischen Betriebsstätte in Betracht kommen könnte, wird im Erlass nicht angesprochen. In entsprechendem Umfang sind somit die stillen Reserven im ausländischen Betriebsstättenvermögen aufzudecken. Demgegenüber ist eine Buchwertfortführung möglich, soweit die ausländischen Betriebsstätteneinkünfte zukünftig dem inländischen Anteilseigner zuzurechnen sind, da insoweit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 171

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UmwStG vorliegen (vgl. Rz. 03.13 Satz 2 Umwandlungssteuererlass). Soll daher die Umwandlung im Grundsatz zu Buchwerten erfolgen, sind in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft die der ausländischen Betriebsstätte zuzuordnenden Wirtschaftsgüter um die anteilig auf den ausländischen Anteilseigner entfallenden stillen Reserven aufzustocken und damit zu Zwischenwerten anzusetzen.

II. Ermittlung des Übernahmeergebnisses bei anteiliger Aufstockung stiller Reserven Der Betrag, um den die Buchwerte in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft aufzustocken sind, erhöht deren steuerbilanzielles Eigenkapital, das den Anteilseignern gemäß § 7 UmwStG im Verhältnis ihrer Nennkapitalbeteiligungen als Einnahmen aus Kapitalvermögen zuzurechnen ist. Im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses nach § 4 Abs. 4 UmwStG soll der Aufstockungsbetrag dagegen vollumfänglich dem ausländischen Anteilseigner, für den die Voraussetzung des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG nicht vorliegen, zugeordnet werden. Technisch geschieht dies dadurch, dass die aufgestockten Buchwerte in der steuerlichen Schlussbilanz der Überträgerin in der steuerlichen Gesamthandsbilanz der übernehmenden Personengesellschaft übernommen werden und sodann der Aufstockungsbetrag anteilig für den ausländischen Gesellschafter in einer positiven Ergänzungsbilanz und für den inländischen Gesellschafter in einer negativen Ergänzungsbilanz ausgewiesen wird (vgl. Rz. 04.24 Abs. 2 Umwandlungssteuererlass). Während der Aufstockungsbetrag somit nach § 7 UmwStG allen Anteilseignern entsprechend ihrer Beteiligungsquote zuzurechnen ist, führt er im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses lediglich bei dem ausländischen Gesellschafter zu einer Erhöhung des Übernahmegewinns oder einer Verminderung des Übernahmeverlustes. Infolgedessen kann es daher zu einer doppelten steuerlichen Erfassung der (aufgedeckten) stillen Reserven kommen, wenn der inländische Gesellschafter diese im Rahmen der ihm nach § 7 UmwStG zugerechneten Einkünfte aus Kapitalvermögen versteuert und sich zugleich ein steuerpflichtiger Übernahmegewinn des ausländischen Gesellschafters um dieselben stillen Reserven erhöht. Im Ergebnis dürfte dies immer dann der Fall sein, wenn

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– ein für den inländischen Anteilseigner der übertragenden Körperschaft bzw. Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft ermittelter Übernahmeverlust hinter den ihm nach § 7 UmwStG zugerechneten Einkünften aus Kapitalvermögen zurückbleibt, und – die dem ausländischen Anteilseigner der übertragenden Körperschaft bzw. Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft nach § 7 UmwStG zugerechneten Kapitaleinkünfte den für ihn ermittelten Übernahmegewinn übersteigen (vgl. § 4 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 i. V. m. Abs. 6 Satz 3 und 4 UmwStG). Um eine entsprechende Doppelbesteuerung zu vermeiden, müsste auch die (fiktive) Gewinnausschüttung nach § 7 UmwStG, soweit sie auf dem auf den ausländischen Anteilseigner entfallenden Aufstockungsbetrag beruht, richtigerweise ausschließlich (und damit disquotal) dem ausländischen Anteilseigner zugeordnet werden.21 Der Umwandlungssteuererlass äußert sich hierzu leider nicht.

E. Steuerliche Behandlung von neutralem Auslandsvermögen bei Umwandlung von Kapital- in Personengesellschaft I. Zuschlag für neutrales Vermögen nach § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG Wird eine Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft umgewandelt und verfügt die übertragende Kapitalgesellschaft über Wirtschaftsgüter, für die Deutschland kein Besteuerungsrecht hat, beispielsweise weil sie einer ausländischen Betriebsstätte in einem DBA-Staat mit Freistellungsmethode zuzuordnen sind (sog. neutrales Auslandsvermögen), sind diese Wirtschaftsgüter für Zwecke der Ermittlung des Übernahmeergebnisses für die Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft mit ihrem gemeinen Wert anzusetzen (§ 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG). Keine Auswirkungen ergeben sich dabei jedoch für die übertragende Kapitalgesellschaft. Diese kann (und muss) vielmehr sämtliche übergehenden Wirtschaftsgüter (einschließlich des neutralen Auslandsvermögens) in ihrer steuerlichen Schlussbilanz einheitlich mit dem gemeinen Wert, dem Buchwert oder einem Zwischenwert ansetzen. Da für das neutrale Auslandsvermögen vor der Umwandlung kein deut_____________ 21 So Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1125).

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sches Besteuerungsrecht bestand, kann ein solches auch nicht durch die Umwandlung ausgeschlossen oder eingeschränkt werden, sodass insoweit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG vorliegen (vgl. Rz. 03.18 f. Umwandlungssteuererlass). Der im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses vorzunehmende Zuschlag für das neutrale Auslandsvermögen (in Höhe der Differenz zwischen dem gemeinen Wert des Auslandsvermögens und dessen Wert in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft (vgl. Rz. 04.29 Satz 2 Umwandlungssteuererlass) führt somit bei den Gesellschaftern der übernehmenden Personengesellschaft zu einer entsprechenden Erhöhung eines Übernahmegewinns bzw. der Verminderung eines Übernahmeverlustes. Ohne eine entsprechende Regelung wären die stillen Reserven in den Anteilen an der übertragenden Körperschaft, soweit sie den Wert des neutralen Auslandsvermögens reflektieren, nach Wegfall der Anteile an der Überträgerin infolge ihrer Umwandlung in eine Personengesellschaft endgültig der deutschen Besteuerung entzogen. Letztlich handelt es sich somit bei § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG ebenfalls um eine Entstrickungsvorschrift, da bisher in dem für Kapitalgesellschaftsanteile geltenden Besteuerungsregime verhaftete stille Reserven infolge eines durch die Umwandlung in eine Personengesellschaft ausgelösten Besteuerungsregimewechsels zukünftig dem Zugriff des deutschen Fiskus entzogen sind.

II. Erstmalige Steuerverstrickung des neutralen Auslandsvermögens Der Zuschlag für neutrales Auslandsvermögen ist nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG unabhängig davon vorzunehmen, ob nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag weiterhin kein deutsches Besteuerungsrecht besteht oder aber durch die Umwandlung erstmalig ein solches begründet wird (beispielsweise bei Umwandlung einer EUKapitalgesellschaft in eine EU-Personengesellschaft, die in einem Staat ansässig ist, mit dem kein DBA besteht). Wird jedoch durch die Umwandlung bislang neutrales Auslandsvermögen in Deutschland steuerlich verstrickt, entfaltet § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG überschießende Wirkung, wenn die übertragende Körperschaft die übergehenden Wirtschaftsgüter (einschließlich des neutralen Auslandsvermögens) in ihrer steuerlichen Schlussbilanz einheitlich mit den Buchwerten ansetzt. Da die übernehmende Personengesellschaft die auf sie übergehenden Wirtschaftsgüter mit dem in der steuerlichen Schlussbilanz der Überträgerin 174

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angesetzten Buchwerten übernimmt, sind stille Reserven in den ausländischen Wirtschaftsgütern bei der Übernehmerin nämlich steuerverhaftet, obgleich sie sich bereits im Rahmen der Ermittlung des Übernahmeergebnisses steuerlich (zulasten der Gesellschafter der übernehmenden Personengesellschaft) ausgewirkt haben.22

III. Vermeidung einer Doppelbesteuerung? Eine drohende Doppelbesteuerung bei späterer Veräußerung der ausländischen Wirtschaftsgüter durch die übernehmende Personengesellschaft lässt sich nach derzeitiger Rechtslage nur dadurch vermeiden, dass die Überträgerin die übergehenden Wirtschaftsgüter in ihrer steuerlichen Schlussbilanz einheitlich mit dem gemeinen Wert ansetzt. Werden indes auch inländische Wirtschaftsgüter übertragen, käme es in diesem Fall bei der Überträgerin zu einem steuerpflichtigen Übertragungsgewinn. Zudem hätte der Ansatz des gemeinen Werts eine Erhöhung des steuerbilanziellen Eigenkapitals und damit der den Anteilseignern der übertragenden Körperschaft nach § 7 UmwStG zuzurechnenden Kapitaleinkünfte zur Folge.23 Der Umwandlungssteuererlass enthält keine Aussage dazu, wie eine Doppelbesteuerung ohne eine solche durch die Umwandlung ausgelöste (vorgezogene) Steuerbelastung vermieden werden kann. Denkbar wären dabei insoweit folgende zwei Lösungsansätze: – § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG findet im Wege teleologischer Reduktion keine Anwendung, da bei erstmaliger Begründung des deutschen Besteuerungsrechts dem deutschen Fiskus gerade kein Wegfall von Besteuerungssubstrat (in Form stiller Reserven in den Anteilen an der Überträgerin) droht.24 – § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG findet im Wege teleologischer Reduktion keine Anwendung bzw. tritt hinter die allgemeinen Bewertungsvorschriften zurück, soweit für übergehende Wirtschaftsgüter bislang kein deutsches Besteuerungsrecht bestand. Die Verstrickung dieser Wirtschaftsgüter würde damit nicht zu dem in der Steuerbilanz der übertragenden Körperschaft angesetzten Wert, sondern zu ihren Teil_____________ 22 Vgl. dazu auch Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1123 f.). 23 So auch Bogenschütz, Ubg 2009, 604 (617). 24 So Pung in Dötsch/Jost/Pung/Witt, KSt, § 4 UmwStG Rz. 60 (Stand: Dezember 2011).

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werten nach § 4 Abs. 1 Satz 8 Halbs. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 EStG erfolgen.25 Eine teleologische Reduktion des § 4 Abs. 4 Satz 2 UmwStG würde das Risiko einer überschießenden Besteuerung dabei allerdings nicht vollständig beseitigen. Die stillen Reserven im bislang neutralen Auslandsvermögen unterlägen nämlich bei einer späteren Veräußerung durch die übernehmende Personengesellschaft der vollen und nicht nach § 8b KStG bzw. § 3 Nr. 40 lit. a EStG begünstigten Besteuerung, obwohl sie vor der Umwandlung lediglich über die Anteile an der übertragenden Körperschaft und damit im günstigeren Besteuerungsregime für Kapitalgesellschaftsanteile steuerverhaftet waren. Richtig wäre es daher, die stillen Reserven im neutralen Auslandsvermögen lediglich im Rahmen des Übernahmeergebnisses zu erfassen und sodann zu Teilwerten auf die übernehmende Personengesellschaft zu übertragen.26

F. Verstrickung bei Hereinverschmelzung einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft I. Ausgangssituation Auch die Hereinverschmelzung einer EU-Kapitalgesellschaft auf eine inländische Kapitalgesellschaft führt ggf. zur erstmaligen Begründung eines deutschen Besteuerungsrechts an übergehenden Wirtschaftsgütern. Sofern die Verschmelzung im Ansässigkeitsstaat der übertragenden EU-Kapitalgesellschaft zu einer Gewinnrealisierung in diesen Wirtschaftsgütern führt (z. B. in Bezug auf Wirtschaftsgüter in einer Betriebsstätte in einem Staat, mit dem kein DBA besteht), kann es daher in Deutschland zu einer erneuten Besteuerung der bereits im Ausland (ggf. steuerpflichtig) aufgedeckten stillen Reserven kommen.

II. Verstrickung zum Buch- oder Teilwert? Die Finanzverwaltung geht davon aus, dass jede in- und ausländische übertragende Körperschaft verpflichtet ist, eine dem deutschen Steuerrecht entsprechende steuerliche Schlussbilanz aufzustellen, und zwar _____________ 25 Vgl. auch die Gesetzesbegründung, die zu Einbringungssachverhalten i. S. d. § 20 UmwStG eine entsprechende Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a EStG vorsieht; BT-Drucks. 16/2710, 43. 26 So wohl auch Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1126).

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unabhängig davon, ob sie in Deutschland unbeschränkt oder beschränkt körperschaftsteuer- oder buchführungspflichtig ist, oder überhaupt über inländisches Betriebsvermögen verfügt (vgl. Rz. 03.01 Satz 2 Umwandlungssteuererlass). Wie unter Rz. 11.02 Satz 2 Umwandlungssteuererlass ausgeführt, gilt dies insbesondere auch im Falle einer grenzüberschreitenden Hereinverschmelzung einer ausländischen übertragenden Körperschaft. Die Vorlage einer solchen steuerlichen Schlussbilanz soll nur dann nicht erforderlich sein, wenn sie für inländische Besteuerungszwecke nicht benötigt wird (Rz. 03.02 Satz 1 Umwandlungssteuererlass). Hieraus lässt sich jedoch keine gegenständliche Beschränkung der Verpflichtung zur Aufstellung einer steuerlichen Schlussbilanz auf im Inland steuerverhaftetes Vermögen (wie z. B. inländisches Betriebsstättenvermögen) ableiten. Vielmehr ist eine solche Beschränkung, wie die Verwendung des Wortes wenn statt soweit zeigt, seitens der Finanzverwaltung offenbar nicht gewollt. Die übergehenden Wirtschaftsgüter können gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 UmwStG grundsätzlich nur einheitlich mit dem Buchwert in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft angesetzt werden. Verfügt die Überträgerin über in Deutschland steuerverhaftetes Vermögen (z. B. in einer deutschen Betriebsstätte), wird sie regelmäßig beabsichtigen, in ihrer steuerlichen Schlussbilanz (einheitlich) die Buchwerte anzusetzen, um einen in Deutschland steuerpflichtigen Übertragungsgewinn zu vermeiden. Abgesehen davon, dass die (Nach)Ermittlung der Buchwerte des Auslandsvermögens für den Steuerpflichtigen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist,27 führt die Übernahme der steuerbilanziellen Buchwerte der übergehenden ausländischen Wirtschaftsgüter durch die übernehmende inländische Körperschaft nach § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG im Falle ihrer späteren Veräußerung ggf. zu einer erneuten Besteuerung der (ggf. im Ausland bereits aufgrund der Verschmelzung steuerpflichtig aufgedeckten) stillen Reserven. Auch hier besteht daher das Erfordernis einer teleologischen Reduktion des § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG und der (vorrangigen) Anwendung der allgemeinen Verstrickungsregelung der §§ 4 Abs. 1 Satz 8, 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG, zumal es in Bezug auf das bislang nicht im Inland steuerver_____________ 27 Da aus Sicht der Finanzverwaltung die steuerliche Schlussbilanz unter Zugrundelegung des deutschen Steuerrechts aufzustellen ist, können ausländische Wertansätze regelmäßig nicht übernommen werden, vgl. Rz. 11.02 Satz 2 Umwandlungssteuererlass.

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haftete Auslandsvermögen kein fiskalisches Schutzinteresse gibt (vgl. dazu oben E. III.). Alternativ wäre auch ein gemischter Wertansatz der übergehenden Wirtschaftsgüter in der steuerlichen Schlussbilanz der Überträgerin (Inlandsvermögen zu Buchwerten/Auslandsvermögen zu gemeinen Werten) in teleologischer Reduktion des § 3 Abs. 2 Satz 1 UmwStG denkbar28. Der Umwandlungssteuererlass äußert sich auch hierzu leider nicht.

G. Fazit Bedenkt man, dass eine maßgebliche Neuerung des UmwStG durch das SEStEG in dessen Internationalisierung zu sehen ist, erstaunt es, dass die gerade bei Umwandlungen mit Auslandsbezug auftretenden Zweifelsfragen im Umwandlungssteuererlass nur unzureichend angesprochen sind. Insbesondere im Zusammenhang mit der Ent- oder Verstrickung stiller Reserven bestehen weiterhin erhebliche Unsicherheiten und damit einhergehend steuerliche Fallstricke. Auch gerade soweit die Finanzverwaltung für die Frage der Zuordnung von Wirtschaftsgütern auf den Betriebsstättenerlass und den darin niedergelegten Grundsatz der Zentralfunktion des Stammhauses Bezug nimmt, bleibt unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen es zu einer umwandlungsbedingten Entstrickung kommen kann. Zu dem bei Verstrickung, d. h. der erstmaligen Begründung eines deutschen Besteuerungsrechts in Bezug auf Auslandsvermögen, in bestimmten Fällen bestehenden Risiko einer Doppelbesteuerung trifft der Umwandlungssteuererlass überhaupt keine Aussagen. Auch hier wäre eine angemessene Interpretation der gesetzlichen Regelungen wünschenswert gewesen, zumal dann, wenn deutsche Besteuerungsrechte nicht bedroht sind.

_____________ 28 Vgl. dazu Benecke/Beinert, FR 2010, 1120 (1126).

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Der neue Umwandlungssteuererlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Gert Müller-Gatermann Ministerialdirigent im Bundesministerium der Finanzen, Berlin

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Dr. Christian Sistermann, LL.M. Rechtsanwalt, Steuerberater Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, München

Prof. Dr. Lüdicke Herr Sistermann, haben Sie vielen Dank für Ihren interessanten Vortrag. Sie haben anhand der von Ihnen ausgewählten Beispiele deutlich gemacht, dass der Satz „Was lange währt, wird endlich gut“ zwar manchmal zutrifft, aber eben keineswegs immer. Fünf Jahre wurde nun am Umwandlungssteuererlass gearbeitet, aber einige Fragen sind – trotz des Erlasses – offensichtlich noch ungelöst. Soweit diese Fragen nicht erst seit heute, sondern schon seit geraumer Zeit diskutiert werden, fragt man sich, warum der Gesetzgeber nicht zwischenzeitlich die Gelegenheit genutzt hat, das Gesetz nachzubessern. Sie hatten beispielsweise § 11 UmwStG angesprochen, eine Vorschrift, die für DownstreamVerschmelzungen ganz offensichtlich missglückt ist. Herr Müller-Gatermann, besteht im Bundesfinanzministerium eine gewisse Scheu, die Regelungen, die man im SEStEG im Jahre 2006 durch das Gesetzgebungsverfahren gebracht hat, noch einmal anzufassen? Die von Herrn Sistermann angesprochenen Mängel des Gesetzes – sowie einige weitere ohne internationalen Bezug – müssen doch auch 179

Podiumsdiskussion: Der neue UmwSt-Erlass – Umwandlungen mit Auslandsbezug

im BMF bei der Arbeit am Umwandlungssteuererlass offenkundig geworden sein. Statt das Gesetz nachzubessern, sind nun fernab vom Gesetzeswortlaut einige Dinge geregelt worden, über die es mit Sicherheit später Streit geben wird, so vernünftig die Regelung im Einzelfall auch sein mag. Warum werden derartige gesetzliche Mängel nicht, beispielsweise in einem der steuerlichen Omnibusgesetze, per Gesetz nachgebessert? Müller-Gatermann Ich meine, wenn im Zuge der Auslegungsarbeit irgendwelche Schwächen des Gesetzes redaktioneller Art oder systematischer Art deutlich werden, dann spricht einiges dafür, dass man die Gelegenheit wahrnimmt und diese bessere Erkenntnis dann der Politik für eine Gesetzesänderung vorschlägt. Aber da wartet man natürlich die Diskussion insgesamt ab. Das hat alles relativ lange gedauert. Obwohl man zugeben muss, dass dies mit die komplizierteste Materie des Steuerrechts überhaupt ist. Das soll keine Entschuldigung sein, aber die Kollegen, die damit befasst waren, waren natürlich auch in anderen gesetzlichen Dingen unterwegs, z. B. der Gemeindefinanzreform oder jetzt den Verlusten und der Organschaft. Das lief alles nebenher. Das ist zumindest eine Erklärung. Ich könnte mir vorstellen, wenn mit den Länderkollegen Unzulänglichkeiten deutlich geworden sind, die auch teilweise angesprochen sind, dann kann man sich zwar teilweise über die teleologische Reduktion behelfen, aber besonders schön ist das natürlich nicht. Ich kann mir vorstellen, wenn das wirklich als gravierender Mangel erkannt worden ist, dass man dann ein Unternehmenssteuergesetz – also nicht eine ganz andere Thematik – als Trägergesetz nimmt, in dem man auch diese Dinge unterbringt. Prof. Dr. Lüdicke Kommt so ein Unternehmenssteuergesetz noch, wenn die Reste der Projekte „Verlustverrechnung“ und „Organschaft“ angegangen werden? Möchten Sie sich dazu äußern, auch wenn das nicht direkt unser Thema ist? Müller-Gatermann Dazu wage ich keine Prognose. Denn es steht natürlich viel im Koalitionsvertrag, aber es gilt genauso gut ein Haushaltsvorbehalt. Ich habe 180

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auch mit den französischen Kollegen einiges anstoßen müssen. Was daraus wird, liegt in den Händen der Politik. Dass der Haushalt in der Tat im Blickfeld ist, ist klar. Ich würde es mir als Steuerrechtler wünschen, dass sich das in dieser Legislaturperiode noch bewegt, aber das muss die Politik entscheiden. Prof. Dr. Lüdicke Herr Bernhardt, Herr Gosch, wie schätzen Sie jetzt die Rechtslage nach dem Umwandlungssteuererlass im Hinblick auf Planungssicherheit für Unternehmen und auf Rechtsfrieden ein? Bernhardt Da bin ich leider nicht zu optimistisch. Gut, man muss natürlich als Momentaufnahme sagen, dass wir zunächst einmal Klarheit in dem Sinne haben, dass es einen Erlass mit all seinen Unzulänglichkeiten gibt. Dass dieser Erlass die Mängel des Gesetzes nicht entscheidend abändern kann, ist jedem klar. Zur Äußerung, die wir eben gehört haben, und der Hoffnung, dass man vielleicht dann in einem Unternehmenssteuergesetz die Klarheiten herbeiführt, die erforderlich sind, nur so viel: Das sehe ich auf der Zeitschiene ehrlich gesagt nicht. Insbesondere glaube ich vor dem Hintergrund, dass in der augenblicklichen Haushaltssituation und in den sich darum rankenden Diskussionen solche Fragen das Letzte sind, was angepackt wird. Ich glaube, da muss man einfach realistisch sein. Insofern werden wir, fürchte ich, mit einer unübersichtlichen und nicht vernünftig planbaren Situation erst einmal leben müssen. Und das wahrscheinlich für einen längeren Zeitraum. Prof. Dr. Gosch Was soll ich dazu sagen? Herr Sistermann hat anhand etlicher „Paradebeispiele“, die schon seit geraumer Zeit diskutiert werden – die Zentralfunktion des Stammhauses, die Verknüpfung mit dem Betriebsstättenerlass oder eben auch die Frage des Downstream Mergers – sehr markante Punkte angesprochen, die streitbefangen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer einschlägigen Situation die Steuerpflichtigen diese zum Teil sehr restriktiven Auslegungsversuche des neuen Erlasses hinnehmen werden. Wir werden also mit anderen Worten automatisch in einschlägige Streitverfahren laufen und das würde ich auch zum Teil – angesichts der alles andere als glasklaren Regelungslage – vielfach auch als Erfolg versprechend ansehen. 181

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Ich nehme gerade den ersten Punkt „Zentralfunktion“ heraus. Das kann aus meiner Sicht nicht so stehen bleiben. Im Betriebsstättenerlass1 werden dazu Urteile des BFH zitiert und zum Beleg angeführt, die für einen solchen Beleg aber keineswegs zwingend taugen. Das betrifft in erster Linie zwei Urteile des II. Senats2, die sehr wohl Raum für eine Zuordnung jenseits einer etwaigen Attraktionskraft des Stammhauses geben. Der BFH belässt dem Unternehmen danach nämlich nur dann keinen Zuordnungswillen, wenn entweder die Zuordnung aus tatsächlichen Gründen zwingend ist oder solange die Willensausübung nicht den kaufmännischen und wirtschaftlichen Erfordernissen entspricht. Und diese Zuordnungsentscheidung ist dann auch zu akzeptieren und hinzunehmen. Mit der Annahme einer unbedingten Zentralfunktion des Stammhauses lässt sich solches nicht vereinbaren. Das trifft dann genauso auf den Downstream Merger zu. Prof. Dr. Lüdicke Vielleicht kommen wir auf einzelne Fälle gleich zurück. Ich würde gerne vorher aus Gründen der Aktualität noch eine Frage diskutieren, die Herr Sistermann bereits angesprochen hat. Das ist das Urteil des EuGH vom 29.11.2011. In der Rs. National Grid Indus3 hat der EuGH, wie Herr Sistermann eben ausgeführt hat, für den Unternehmensbereich sehr klar entschieden, dass ein Staat, in dem Fall war es der Wegzugsstaat, zwar das Recht hat, die auf seinem Gebiet gebildeten stillen Reserven zu besteuern, und zwar wohl auch unabhängig davon, was aus diesen stillen Reserven später mal wird. Aber er darf sie nicht sofort besteuern. Und dafür gibt es zurzeit im deutschen Recht keinen Anhaltspunkt. Jetzt ist es sicherlich zu früh, Herr Müller-Gatermann, Sie zu fragen, wie man da reagiert. Aber es ist doch eigentlich klar, dass alles das, was man mit dem SEStEG und seinen Nachbesserungen in § 4 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 EStG und in § 12 Abs. 1 KStG geregelt hat, damit innerhalb Europas in nicht ganz unerheblichen Teilen hinfällig ist.

_____________ 1 Betriebsstättenerlass, BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl. I 1999, 1076, zuletzt geändert durch BMF v. 4.9.2009 – IV B 9 - S 7117/08/10001, BStBl. I 2009, 1005. 2 BFH v. 29.7.1992 – II R 39/89, BStBl. II 1993, 63; v. 1.4.1987 – II R 186/80, BStBl. II 1987, 550. 3 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, DStR 2011, 2334.

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Müller-Gatermann Die Dinge werden jetzt natürlich geprüft. Das ist klar. Das Urteil ist ganz frisch. Ich meine, was das Besteuerungsrecht angeht, das ist insofern klar. Was die Frage des Zeitpunkts angeht, haben wir Gott sei Dank, dafür habe ich damals im eigenen Haus sogar in Absprache mit der Kommission sehr stark gekämpft, § 4g EStG gemacht, der wenigstens bei Anlagevermögen die Versteuerung auf fünf Jahre verteilt. Es könnte sein, dass das nach der Entscheidung nicht ausreicht. Ich habe sie noch nicht im Einzelnen gelesen. Nur, was mir in dem Zusammenhang einfällt, Herr Sistermann, Sie haben den AOA, also die OECDEntscheidung, für sich bemüht und haben gesagt, dass man die Zentralfunktion unabhängig von der Rechtsform wählen sollte. Nur, wenn ich den AOA so allgemein verbindlich anwende, wundert mich die Entscheidung über den Zeitpunkt: Wenn ich die Verbringung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte sehe und doch alles wie zwischen Mutter und Tochter behandelt werden muss, dann würde ich nicht daran zweifeln, dass natürlich sofort besteuert werden muss. Der EuGH hat das wohl nicht so behandelt, aber dann können Sie natürlich für Ihre Argumentation mit der Zentralfunktion diese Sichtweise des AOA nicht für sich in Anspruch nehmen. Prof. Dr. Gosch Stimmt das denn in jeder Beziehung? Nach dem Betriebsstättenerlass werden, wenn ich das richtig erinnere, Liquiditätsüberschüsse der Betriebsstätte unmittelbar dem Stammhaus zugeordnet. Wenn das aber im Fremdvergleich richtig ist, dann wird bei einer selbstständigen Tochtergesellschaft ein von ihr erwirtschafteter Gewinn vielleicht irgendwann an die Mutter ausgeschüttet, aber mit Sicherheit nicht sofort. Das heißt, die unmittelbare Zuordnung solcher Überschüsse an eine Betriebsstätte ist zumindest nicht fremdvergleichsgerecht. Und das sollte doch eigentlich das tragende Prinzip sein. Müller-Gatermann Das wird man natürlich insgesamt prüfen müssen, wie weit diese Betrachtung der Betriebsstätte tatsächlich geht, vor allem, wie sie jetzt auch in der EU abgestimmt ist. Der Betriebsstättenerlass ist natürlich schon nicht mehr so ganz frisch. Man hat damals zwar die sofortige Realisierung vorgesehen, aber auch die zeitliche Streckung erlaubt. Das muss man jetzt natürlich alles neu prüfen. 183

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Prof. Dr. Gosch Der EuGH hat sich nicht dezidiert zu dem Streckungsmechanismus geäußert, und das musste er auch nicht, weil der zu beurteilenden holländischen Regelungslage ein derartiger Mechanismus unbekannt war. Aber immerhin: Bei einer natürlichen Person wird nach § 6 Abs. 5 AStG eine Stundung ad infinitum gewährt. Wenn davon in § 4g und in § 36 Abs. 5 EStG abgewichen wird, dann gehört das auf den Prüfstand des EuGH. Es spricht einiges dafür, dass beide Situationen gleich zu behandeln sind: Festsetzen darf man beim Wegzug, besteuern darf man nicht. Prof. Dr. Lüdicke Ich vermute, dass uns im Zusammenhang mit Umwandlungsfällen auch Fragen des Authorised OECD Approach (AOA) noch häufiger beschäftigen werden. Herr Müller-Gatermann, Sie könnten natürlich versuchen zu argumentieren, dass eine Betriebsstätte nach dem AOA so selbstständig wie eine Tochtergesellschaft ist und man daher bei der Überführung von Wirtschaftsgütern von einer Betriebsstätte zu einer anderen genauso die Steuer sofort erheben dürfe wie bei der Veräußerung eines Wirtschaftsguts von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft oder umgekehrt. Man muss allerdings fragen, ob die Betriebsstätte denn tatsächlich genauso selbstständig wie eine Tochtergesellschaft ist. Denn selbst die OECD schreckt davor zurück, ein dealing in Form einer Lizenz, also letztlich eine Quasi-Lizenz, dem Art. 12 OECD-MA zu unterstellen. Quellensteuer soll nicht erhoben werden. Betriebsstätte und Tochtergesellschaft scheinen also doch nicht ganz identisch zu sein. Davon einmal abgesehen, müsste der AOA in Deutschland ohnehin erst einmal gesetzlich umgesetzt werden. Dem Vernehmen nach soll das im AStG erfolgen. Das lässt mit Blick auf die ebenfalls im AStG geregelte Funktionsverlagerung nichts Gutes erwarten – im Gegenteil. Eine Regelung im AStG dürfte erfahrungsgemäß wieder einseitig zulasten der Steuerpflichtigen ausfallen. Richtigerweise muss der AOA jedoch, wenn überhaupt, als allgemein geltendes Prinzip – zulasten wie zugunsten der Steuerpflichtigen – geregelt werden, mithin im EStG oder KStG. Oder soll der AOA im AStG quasi wie eine Missbrauchsregelung daherkommen?

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Müller-Gatermann Das ist sicherlich nicht der Fall, dass hier der Missbrauchsgedanke bemüht wird. Der AOA soll schlicht und ergreifend den alten Streit im Art. 7 OECD-MA lösen. Und wenn man sich für den separate entity approach entschieden hat, ist es völlig richtig, wie Sie sagen, dass das nicht alle Fragen löst. Ich meine z. B., dass es keine Quellensteuern auf dealings im Grundsatz gibt. Die kann man zwar vereinbaren, aber das ist schon eine Abweichung. Prof. Dr. Lüdicke Ja. Müller-Gatermann Wir sind dabei, mit den Ländern einen Gesetzentwurf zu erstellen, der dann auch ein Trägergesetz sucht, um den AOA zunächst im nationalen Recht festzulegen. Da gibt es natürlich auch Einschränkungen von der Selbstständigkeitsfiktion. Und so muss man natürlich genauso versuchen zu klären, welche Bedeutung der AOA bei der Exit Tax hat. Prof. Dr. Gosch Wobei das nie klappt, Herr Müller-Gatermann. Fiktionen haben immer die Bürde, nicht stringent durchgedacht zu werden. Das haben wir seinerzeit etwa bei § 8a KStG a. F. erlebt, das sehen wir neuerlich bei § 50d Abs. 10 EStG, und es ließen sich leichthin etliche weitere Beispiel aufspüren. Im Falle des § 8a KStG hat der BFH4 geholfen, die Norm trotz ihrer gesetzlichen handwerklichen Mängel durch Auslegung zu „retten“, bei § 50d Abs. 10 EStG hat er das nicht getan5 und aus meiner Sicht angesichts der gesetzlichen Unzulänglichkeiten auch nicht tun können. Ich würde jedenfalls einiges dafür verwetten, dass auch die Umsetzung des AOA in nationales Recht und hier die abermalige Fiktionsschaffung wiederum problematisch werden wird. Müller-Gatermann Herr Gosch, ich kann das nachvollziehen, was Sie sagen. Fiktionen haben ihre Probleme. Aber was hat man denn gemacht in der OECD? _____________ 4 BFH v. 20.8.2008 – I R 29/07, BFH/NV 2008, 2133. 5 BFH v. 8.9.2010 – I R 74/09, BFH/NV 2011, 138.

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Man hat versucht, zwei Lösungen zu diskutieren und die bessere Lösung herauszufinden. Ich halte diese Fiktion für die bessere Lösung, auch wenn sie nicht alles löst, weil die Alternative, dieser relevant business approach, viel mehr Fragen aufgeworfen hat. Das war jedenfalls das Ergebnis dieser Diskussion in der OECD. Prof. Dr. Gosch Nur das lässt sich immerhin noch durch Auslegung erreichen, das jetzt Entschiedene indessen nicht, das bedarf der normativen Umsetzung. Dr. Sistermann Ich möchte ganz gerne zu ein paar Punkten Stellung nehmen. Zum einen zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Müller-Gatermann. Ich würde mir eigentlich wünschen, dass es gar nicht so weit kommt und man selbst unter Zugrundelegung der Überlegungen der Zentralfunktion des Stammhauses zu dem Ergebnis kommen kann, dass die geschäftsleitende Betriebsstätte weiterhin im Inland bleibt. Da sich bei funktionaler Zuordnung die Verhältnisse nicht ändern, dient die Beteiligung doch weiterhin der Tätigkeit der Betriebsstätte und die Tätigkeit besteht nun mal in der Geschäftsleitung und der Wahrnehmung der entsprechenden Holdingaufgaben. Mit einem gewissen Wohlwollen der Finanzverwaltung und einer nicht so apodiktischen Lesart des Betriebsstättenerlasses wäre daher hier schon geholfen. Zu dem Punkt, den Sie auch angesprochen hatten: Es habe fünf Jahre lang gedauert, weil es eine komplexe Materie sei und erst mal alle Fragestellungen gesammelt werden sollten. Und wenn man alle Fragestellungen gesammelt und sich eine Meinung gebildet habe, dann würde man den Gesetzgeber fragen, ob er nachbessern wolle. Das ist natürlich problematisch. Ich höre es zwar mit Freude, wenn Herr Gosch sagt, dass doch die eine oder andere unklare Regelung durchaus mit Erfolgsaussichten zu Gericht getragen werden kann. Das hilft aber nur in den Fällen, die schiefgegangen sind. Das Problem für uns auf der Beraterseite und auf Seite des Steuerpflichtigen ist aber die mangelnde Planungssicherheit. Wenn ich als Berater eine Struktur aufsetze, dann darf ich natürlich in keiner Weise das Risiko laufen, dass ich diese bis zum Gericht tragen muss. Da ich auch nicht noch fünf Jahre warten kann, bis der Gesetzgeber sich entschlossen hat, nachzubessern, bin ich somit in der Situation, in der ich viele Umstrukturierungen nicht mehr 186

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ernsthaft verantworten kann, und das betrifft nicht nur den internationalen, sondern auch ganz stark den nationalen Kontext. Die Thematik des Teilbetriebsbegriffs, ich hatte sie ja gar nicht angesprochen, kommt auch aus dem europäischen Teilbetriebsbegriff und führt dazu, dass ich im Augenblick nicht sicher bin, ob ich überhaupt noch eine steuerneutrale Ausgliederung bzw. Abspaltung eines Teilbetriebs vornehmen und ob ich das bei der Finanzverwaltung mit einer verbindlichen Auskunft absichern kann. Es wird Jahre dauern, bis sich da ein Standard eingespielt hat und in diesen Jahren können Umstrukturierungen ggf. nur noch unter Inkaufnahme steuerlicher Risiken vorgenommen werden. Das ist m. E. nicht zu akzeptieren. Ich habe schließlich noch eine letzte Anmerkung zur Reichweite der EuGH-Entscheidung. Da würde mich auch Ihre Einschätzung nochmal interessieren. Sie haben ja nicht ganz überraschend den § 4g EStG ins Feld geführt. Am Ende des Tages wird dieser aber m. E. nicht helfen, weil es eben bei einer Sofortbesteuerung bleibt, die nur zeitlich gestreckt wird. Aber das spielt jedenfalls in den vorliegenden Umwandlungsfällen ohnehin keine Rolle, da § 4g EStG bei Umwandlungen nach dem Umwandlungssteuergesetz nicht gilt. Allerdings war der Fall, der vom EuGH entschieden wurde, der einer niederländischen Gesellschaft, die ihren Sitz nach England verlegt hat. Die Niederlande folgen der Gründungstheorie. Offengeblieben ist, ob das bei einer Sitzverlegung auch in Fällen der Sitztheorie so zu entscheiden gewesen wäre. In Deutschland haben wir mittlerweile ja faktisch die Gründungstheorie nach den Änderungen durch das MoMiG, aber offiziell haben wir die Sitztheorie noch nicht aufgegeben. Da könnte man daher vielleicht aus Sicht der Finanzverwaltung ein Argument daraus machen und sagen, dass die Entscheidung für uns nicht gilt. Aber ich denke, auch das spielt im Rahmen von Umwandlungsfällen keine Rolle. Da gibt es nämlich m. E. keinen Unterschied zwischen Gründungs- oder Sitztheorie. Ich glaube daher, die umwandlungsbedingte Entstrickung, so wie sie im Augenblick im UmwStG geregelt ist, ist zweifellos europarechtswidrig. Müller-Gatermann Ja, das ist natürlich die Frage. Wenn wir vorhin die Zentralfunktion diskutiert haben, dann ist das im Augenblick die Meinung von Bund und Ländern, wie sie ihren Niederschlag gefunden hat. Ob das nochmal hinterfragt wird, ist eine andere Frage. Was die Entscheidung des EuGH angeht, da müssen wir ganz einfach die genaue Prüfung abwarten. Ich 187

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habe den § 4g EStG vorhin nur ins Gespräch gebracht, weil mir damals von der Kommission ganz klar gesagt wurde, wenn wir da eine sofortige Besteuerung vorsehen, dann sehen die sich gezwungen, ein Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen. Das habe ich natürlich an die Politik transportiert und dann ist diese Lösung mit dem § 4g EStG – ich will sie mal als Kompromisslösung bezeichnen – rausgekommen. Ob wir jetzt aufgrund dieser Entscheidung wirklich gezwungen sind, diese Stundung weiterzutreiben, das muss man sehen. Mein erster Blick in die Entscheidung hat mir gezeigt, dass sehr vieles dafür spricht. Aber wie gesagt, es ist heute einfach zu früh, um dazu etwas Abschließendes sagen zu können. Prof. Dr. Lüdicke Es wäre schön, wenn es nach einem zweiten Blick und dann auch nach einem Blick des zuständigen Referates tatsächlich zu einer Gesetzesänderung käme, damit wir nicht weiter mit der Situation leben müssen, dass europarechtlich an sich völlig klare Dinge sich im deutschen Recht nicht widerspiegeln. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass die europarechtlich richtige Lage sich aus dem Gesetz ergeben muss und nicht aus irgendwelchen BMF-Schreiben. Als schlechtes Beispiel sei auf das BMF-Schreiben vom 28. März dieses Jahres zur Doppelansässigkeit der Organgesellschaft6 verwiesen. Das ist an sich kein besonders wichtiges Thema. Aber wir haben inzwischen mehrere Gesetze erlebt, in denen man allen möglichen Kleinkram untergebracht hat. Warum ist diese Frage nicht auch gesetzlich geregelt worden, wenn man den Europarechtsverstoß im BMF-Schreiben sowieso eingeräumt hat? Die Gesetzeslage ist, wie schon das BMF-Schreiben zeigt, eindeutig europarechtswidrig. Ich würde gern zu dem ersten Fallbeispiel von Herrn Sistermann7, das war die Herausverschmelzung, noch einen Punkt ansprechen. Der Fall ist offensichtlich so, dass die Zentralfunktion des Stammhauses8 in casu deswegen keine Rolle spielt, weil sich tatsächlich und damit auch rechtlich nichts ändert. Die Leute, die bisher die Beteiligungen, Lizenzen usw. im bisherigen Stammhaus in Deutschland verwaltet haben, bleiben einfach in Deutschland und führen ihre bisherige Tätigkeit unver_____________ 6 BMF v. 28.3.2011 – IV C 2 - S 2770/09/10001, BStBl. I 2011, 300. 7 Vgl. oben S. 162 ff. 8 Vgl. Rz. 2.4 des Betriebsstättenerlasses, BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300-111/99, BStBl. I 1999, 1076, i. V. m. Rz. 03.20 Satz 2 des Umwandlungssteuererlasses.

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ändert fort. Denkbar ist es natürlich auch, dass diese Leute nach einer derartigen Herausverschmelzung sozusagen hinterherziehen. Dann ist nicht nur die Gesellschaft als solche ins Ausland gezogen, sondern dann ist tatsächlich auch die Zentralfunktion ins Ausland verlegt. Letzteres geschieht aber naturgemäß nicht am Umwandlungsstichtag, sondern irgendwann Monate später. Die Frage, die auch Herr Sistermann angesprochen hatte, geht dahin, welche Bedeutung es in diesem Fall hat, dass es auf die tatsächlichen Verhältnisse zum Umwandlungsstichtag ankommen soll,9 Herr Müller-Gatermann. Rein tatsächlich sind die Leute zum Umwandlungsstichtag noch in Deutschland. Später mögen die Leute und die von ihnen ausgeübte Funktion im Ausland ankommen; dann und nur dann mag es zur Entstrickung kommen. Es geht also zum einen um das Ob, zum anderen um das Wann einer solchen Entstrickung; selbst das Wann ist in der Praxis nicht ganz unwichtig, wie schon der Blick auf die Mindestbesteuerung zeigt. Müller-Gatermann Ich kann hier nur mein Verständnis wiedergeben. Das mit dem Umwandlungsstichtag ist schlicht und ergreifend eine Erleichterung, weil zu diesem Stichtag Bilanzen vorliegen. Natürlich kann ich rückwirkend, wenn ich diesen Stichtag zugrunde lege, keine rein tatsächlichen Veränderungen unterstellen, die dann zwischenzeitlich möglicherweise eingetreten sind. Prof. Dr. Lüdicke Wie verhält sich dann die sog. Zentralfunktion des Stammhauses zu den maßgebenden tatsächlichen Verhältnissen? Müller-Gatermann Ja gut, wenn ich es wörtlich nehme, dann müssen wirklich die tatsächlichen Umstände von damals gelten. Dann hat sich nichts geändert. Vielleicht ist der Erlass an dieser Stelle aber nur unglücklich formuliert. Andererseits muss man berücksichtigen, dass beim AOA auf die Funktionen in der Betriebsstätte abgestellt wurde. Das spricht natürlich schon für Ihre Lesart, aber die Entscheidung der Kollegen aus Bund und Ländern lautet anders und hat auf die Rechtsform abgestellt. _____________ 9 Vgl. oben Rz. 02.15 des Umwandlungssteuererlasses.

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Prof. Dr. Gosch Der Hinweis von Herrn Lüdicke ist trotzdem nicht schlecht, wie so vieles, wie eigentlich fast alles, was er uns wissen lässt. Man muss da schon sagen, dass die tatsächlichen Verhältnisse so sind, wie sie sind. Das wird seitens der Finanzverwaltung ja sonst auch recht rigide gehandhabt. Ich denke nur an die organschaftliche finanzielle Eingliederung im umwandlungssteuerrechtlichen Rückwirkungszeitraum. Hier wie dort geht es dann allein um die konkrete Situation am Stichtag. Dr. Sistermann Das bedeutet in der Konsequenz dann, und so wird es nicht gemeint gewesen sein, aber so muss man es lesen und so wäre es richtig, dass es keine umwandlungsbedingte Entstrickung geben kann. Prof. Dr. Gosch Genau. Dr. Sistermann Es kann immer nur Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse geben und da bin ich im KStG oder im EStG. Bernhardt Darf ich vielleicht noch zu diesem Thema anmerken, dass man am Ende in weitere Ungereimtheiten aufgrund der Rechtsunsicherheit hineinkommt. Der fließende Übergang und die Frage, was in diesem Erlass jetzt abgehandelt wird, was noch nicht, bereitet mir Sorgen, weil ich am Ende eigentlich nicht mehr weiß, wo ich wirklich stehe. Deswegen wäre es eine vernünftige Lösung – in welchem Gesetz auch immer –, offensichtliche Ungereimtheiten wenigstens im Sinne eines Reparaturgesetzes kurzfristig anzupacken. Der große Wurf in einer großen Überarbeitung, ich wiederhole mich, kommt nicht, weil es bei allen Fragestellungen der Unternehmenssteuer immer gleich um die Frage geht, ob das aufkommensneutral ist oder nicht. Und das kann natürlich ganz unterschiedlich beantwortet werden und damit zu einer faktischen Bremse des Gesetzgebungsverfahrens werden.

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Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Bernhardt. Jetzt haben Sie mich doch noch zu einem ceterum censeo herausgefordert, das einigen von Ihnen aus früheren Tagungen bereits bekannt sein mag. Der Umwandlungssteuererlass enthält eine ganze Reihe begünstigender Regelungen, die dem Gesetz so nicht zu entnehmen sind. Auf den ersten Blick mag das für betroffene Unternehmen erfreulich sein. Das Problem besteht allerdings darin, dass man die im Erlass enthaltene günstige Regelung bei Gericht möglicherweise nicht durchsetzen kann, weil sie dem Gesetz nicht entspricht oder sogar klar widerspricht. Solche günstigen Regelungen sind auch keinesfalls immer rechtssicher als Billigkeitsmaßnahme einforderbar. Für die Unternehmen besteht daher die Gefahr, im Streitfall die vom Umwandlungssteuererlass vorgesehenen Vorteile zu verlieren. Die Gefahr besteht zum einen in dem verwaltungsseitig naturgemäß nicht vorgesehenen Fall, dass ein Steuerbescheid in Abweichung vom Umwandlungssteuererlass ergeht. Die Gefahr besteht aber auch – und dies ist wohl gravierender –, wenn ein Unternehmen wegen eines völlig anderen Streitpunkts vor Gericht ziehen muss und dort in diesem anderen Streitpunkt an sich auch Recht bekommt, das Gericht jedoch den im Umwandlungssteuererlass – gesetzeswidrig – vorgesehenen Vorteil aberkennt und im Ergebnis zulasten des Steuerpflichtigen saldiert. Deswegen erneuere ich meinen Appell: Die im Umwandlungssteuererlass von der Finanzverwaltung eingeräumten Rechtswohltaten sollten bei nächster Gelegenheit gesetzlich fundiert werden. Prof. Dr. Gosch Sie haben völlig Recht. Andernfalls ist sicher immer zu gewärtigen, dass eine verwaltungsseitige Regelungsauslegung auch dann nicht bestätigt wird, wenn sie sich eigentlich für den Steuerpflichtigen als günstig herausstellt. Gerichte sind von Amts wegen gehalten, die Norm auszulegen, zugunsten wie zuungunsten, Verwaltungserlasse binden hierbei nicht. Müller-Gatermann Nur ganz kurz dazu: Es wäre natürlich möglich, dass man solche günstigen Verwaltungsentscheidungen, wenn die Rechtsprechung zu einer strengeren Auslegung neigt, als Billigkeitsentscheidung der Verwaltung wertet. Das ist eine Möglichkeit. Auf der anderen Seite, so wünschenswert das ist, dass die Gesetze in möglichst wirklich reiner Form abgefasst werden, möchte ich zwei Dinge sagen: 191

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Erstens ist das Zusammenspiel zwischen den Fachleuten und der Politik natürlich nicht immer so einfach, dass die Vorschläge 1:1 in die Politik und in die Gesetzgebung umgesetzt werden. Daraus ergeben sich häufig Schwierigkeiten. Das ist das eine. Die andere Feststellung geht den zeitlichen Faktor an. Man darf nicht unterstellen, dass fachlich für notwendig erachtete Änderungen per Knopfdruck von der Politik übernommen und per Gesetz verabschiedet werden. Die Politik hat dabei durchaus ihre eigenen Vorstellungen. Wenn dadurch Rechtsunsicherheiten bleiben, muss das hingenommen werden. Wenn der Erlass schließlich nicht alle Fragen klärt – die Verwaltung möchte keinen Kommentar schreiben –, dann müssen ggf. Einzelfragen im Wege des Auskunftsersuchens geklärt werden. Ich habe mir noch etwas notiert, um das nicht ganz untergehen zu lassen. Herr Sistermann hatte in dem einen Fall des anteiligen Ausschlusses des deutschen Besteuerungsrechts die Problematik angesprochen, wonach – anders als beim Übernahmeergebnis – möglicherweise eine quotale Zuordnung der fiktiven Ausschüttungen angenommen wird. Ich habe mit einem Herrn, der am Erlass beteiligt war, gesprochen, das ist wohl dessen Verständnis dabei. Aber es steht ausdrücklich nichts im Erlass. Das andere betraf den Zuschlag für neutrales Auslandsvermögen bzw. die Verstrickung. Da hat Herr Sistermann eine teleologische Reduktion bei § 4 UmwStG zur Erreichung eines vernünftigen Ergebnisses angeboten oder die Verstrickung des neutralen Vermögens mit dem gemeinen Wert. Mir schien das vertretbar. Aber im Unterschied dazu kommt in dem letzten Fall zwar eine Doppelbesteuerung zum Tragen, nur hätte ich da Zweifel, ob die Finanzverwaltung den Vorschlag von Herrn Sistermann mitmacht, weil Deutschland dann praktisch einseitig auf seine Besteuerung verzichtet. Da es wohl um ein Nicht-DBA-Land ging, kann man nur dieses Land ermutigen, doch ein DBA abzuschließen. Prof. Dr. Lüdicke Meine Damen und Herren, wir kommen zum Ende einer interessanten Tagung. Ich danke den Referenten für ihre Gedankenanstöße und dem Podium für die interessanten Diskussionen. Die nächstjährige Tagung findet wieder am ersten Freitag im Dezember, am 7. Dezember 2012 statt.

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Stichwortverzeichnis Acte clair 50, 72 f., 75, 79 Advanced Pricing Agreement (APA) 150 f. Allowance for Corporate Equity 13, 23 Anrechnungsmethode 9, 12, 21, 31, 41, 53, 63, 143 Ansässigkeit 141, s. auch Wohnsitz – Doppelansässigkeit 188 Ansässigkeitsstaat 5, 7, 18, 20 f., 25, 41, 53, 142, 176, s. auch Wohnsitzstaat Anwendungsvorrang 55 f., 60 ff., 74, 77, 81, 83, 154, 156 Äquivalenzprinzip 5 ff., 9 – Bezug zum EU-Recht 55 – Gesamtäquivalenz 6 AStG 64, 153, 184 Aufstockungsbetrag 172 f. Auslandstätigkeitserlass 75 Auslandsvermögen, neutrales 173 f., 176 ff., 192 Auslegung 46 ff., 54 ff., 108, 170, 180 f., 185 f., 191 – Auslegungsdifferenzen 129, 131 – Auslegungsmonopol des EuGH 54 – normerhaltende 57, 59, 83 – richtlinienkonforme 56 – Spielraum 49 – unionsrechtskonforme 54 f., 59, 82, 168 – von DBA 129 Authorised OECD Approach, AOA 40, 42 f., 77, 183 ff., 189

Beeinträchtigung zwischenstaatlichen Handels 86, 90 f. Begünstigung 60, 75, 80, 87, 100, 113, 115, 122 f. – mittelbare 88 – selektive 88, 90, 98, 102, 109 ff. Beihilfe 81, 85 ff., 90, 108, 117 – Begriff, unionsrechtlicher 85 ff., 91, 107, 126 – Kontrolle 102 – Referenzsystem 92 ff., 102, 107 f., 111, 119 – Selektivitätsprüfung s. Selektivität – unzulässige 87, 90, 92, 98 f., 101, 115 Belegenheitsstaat 8, 17 f., 25 Bestimmungsland 39 – Bestimmungslandprinzip 13 Betriebsstätte – Benachteiligung 58 – Begriff 2, 16 f., 31, 37, 40 – Betriebsstättenerlass 164 f., 178, 181 ff., 186 – Betriebsstättenprinzip 38 – Betriebsstättenstaat 138 – Dienstleistungs-, auch Service16, 32, 37 f. – Zuordnung von Wirtschaftsgütern 164, 171, 183 BRIC-Staaten 30, 35 f. Buchwert 170 ff., 177 f. – Fortführung 169, 171 – Verknüpfung 75, 170 Bundesfinanzhof 46 f., 51 – Höchstbetragsberechnung 53

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Stichwortverzeichnis

– Vorabentscheidungsersuchen 52 – Vorlagepflicht 47 ff. Bundesverfassungsgericht 47 ff., 68 f., 72 ff., 77, 81 ff. – Honeywell 49, 82 – Mangold 73 – Molkenbuhr 73 – Pro futuro 68, 80 – Solange II 48 – Verwerfungsmonopol 77 Code of Conduct 30 Comprehensive business income tax 23 Diskriminierung 58, 61, 80 f. – allgemeines Diskriminierungsverbot, Art. 14 EMRK 67 f. – Diskriminierungsverbot 11, 53, 123 – Inländerdiskriminierung 57, 74, 77, 82 – unionsrechtswidrige 61 Doppelbesteuerung 12, 16 f., 129 ff., 135, 142 ff., 146, 148 – Vermeidung 9 Doppelbesteuerungsabkommen 27, 129 ff., 134, 137 ff., 149 – Dividenden 53 – multilaterale 11 – Rückfallklauseln 153 f. Downstream Merger, auch Downstream Verschmelzung 168 ff., 179, 181 f. Dreieckskonstellationen 133, 136, 138, 140 Effektivitätsgrundsatz 55 Eigenheimzulage 62, 74, 76, 80 194

Eigenkapital 14 f., 22 ff., 33, 144 f., 172, 175 Entnahmetheorie, finale 163 Entstrickung, umwandlungsbedingte 76, 162 ff., 178, 187, 190 – Einschränkung der Sofortbesteuerung 167 – Entstrickungstatbestände 163 f. – Entstrickungsvorschriften 162, 166, 168, 174 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 66 ff. – Individualbeschwerde 68 – Kindergeld, Urteil v. 1.4.2010 66 Europäischer Gerichtshof, EuGH – Adria Wien Pipeline 89, 97 f., 102 – Belgien/Kommission (Maribel) 89, 98, 102 – Bosman 52 – British Aggregates/Kommission 97 – C.I.L.F.I.T 50 – Cadbury Schweppes 20 – Christian Dior 48 – CLT-UFA 58 – Columbus Container Services 63 – Deutsche Milchkontor GmbH u. a. 55 – Deutschland/Kommission (C-248/84) 105 f. – Deutschland/Kommission (C-156/98) 90 – Foto-Frost 48 – Futura/Singer 65 – Gaston Schul 50 – Gerritse 62

Stichwortverzeichnis

– Gibraltar 103 ff., 109, 114, 117, 121, 124 ff. – Glaxo Welcome 59 – Gomes Valente 48 – Grimaldi 55 – Heiser 90 – IN.CO.GE ‘90 u. a. 57 – Inspire Art 52 – Interedil Srl 79 – Kommission/Deutschland, Streubesitz (C-284/09) 22, 76 – Kommission/Italien (C-173/73) 89, 100 f. – Lasteyrie du Saillant 167 – Lidl Belgium 21, 50 – Lourenço Dias 46 – Lück 57 – Lyckeskog 47 – Marks & Spencer 51, 61, 63 – Murphy 55 – N. 167 – Nadin-Lux 52 – National Grid Indus B.V. 76, 167 – Paola Faccini Dori/Recreb SRL 55 – Portugal/Kommission (C-88/03) 96 f., 100 f., 105 f., 109 – Presidente del Consiglio dei Ministri/Regione Sardegna 97 – Ritter-Coullais 46 – Robards 51 – Schmidberger 46 – Scorpio 59 – Siemens und ARGE Telekom 46 – Stauffer 56 – UGT Rioja 107 – UTECA 86

EU-Schiedskonvention 132 ff., 136, 138 ff., 144, 155 f. EU-Verhaltenskodex 132, 135 EU-Verrechnungspreisforum 132, 135, 139 f. Exit Tax, Exit Taxation 76 f., 185 Firmenwert 165 Floating income 40 Formulary apportionment 3, 27 Forum on harmful tax practice 30 Freistellung 22, 31, 33, 39, 59, 63, 153 f. – Freistellungsmethode, auch Befreiungsmethode 8 f., 12, 33, 76, 86, 98, 173 – nach § 8b KStG 42 Fremdkapital 22 ff., 28, 33, 144 f. Funktionsverlagerung 3, 184 Fusionsrichtlinie 162 Genuine link 10, 16, 25 Gesellschafterfinanzierung, hybride 152 – Gesellschafterfremdfinanzierung 133, 144 f. Gestaltungsspielraum – Gesetzgeber 49, 73, 82, 115 – Richter 57 Gewinnberichtigung 132, 138, 142 ff. Harmonisierung 12 ff., 56, 115 Herausverschmelzung 162, 188 f. Hereinverschmelzung 176 f. Hinzurechnungsbesteuerung 20, 63 f. Investitionszulagengesetz 49 195

Stichwortverzeichnis

Kapitalexportneutralität 7 Kapitalimportneutralität 8 Kapitalinhaberneutralität 8 Keinmalbesteuerung, auch doppelte Nichtbesteuerung 12, 31, 39, 153 Kohärenz 101 Konkurrentenklage 115, 118, 122 f., 125 Konsultationsabkommen 153 Kontinuitätsgrundsatz 14 f. Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage, gemeinsame konsolidierte, auch GKKB 11 ff., 27, 32, 35 Leistungsfähigkeitsprinzip 4 f., 9, 39, 94 f., 102 Lieferungen und Leistungen 15 f., 37 f., 40 Lizenzeinnahmen 25, 28 Manual on Effective Mutual Agreement Procedure 130 Mehrwertsteuer, s. auch Umsatzsteuer 14 – Mehrwertsteuersystem-Richtlinie 56 Missbrauchsvorschrift 114, 127, 144 Mittel, staatliche 85 ff. Motivtest 63 f. Nettoprinzip, objektives 4, 39 Neutrales Auslandsvermögen 173 f., 176 f., 192 Niederlassungsfreiheit 19, 41, 58, 63 ff., 167 Normalbesteuerung 95, 97, 114 Normenkontrolle 72 f., 77 196

Offshore-Unternehmen 104, 109 ff. Portfoliobeteiligung 22 Qualifikationskonflikt 141 f., 153 – Abkommensberechtigung 141 f. – Personengesellschaft 140 ff., 152 Quellenstaat 5, 7, 16, 21, 23, 25, 39, 41 Quellensteuer 2, 7, 12, 21 ff., 30, 32, 39, 53, 58, 143, 151, 184 f. – Anrechnung 53 Rechtskraft 155 ff. – Rechtskrafterstreckung 123 – Rechtskraftdurchbrechung 156 f. Reduktion – normerhaltende 57, 59, 61 f., 65 f., 73 – teleologische 175 ff., 180, 192 Relevant business approach 186 Reserven, stille 182 – anteilige Aufstockung 171 f. – Aufdeckung 163, 167 – Einschränkung der Sofortbesteuerung 167 – Entziehung der Besteuerung 174 ff. Sanierungsklausel des § 8c KStG 91 ff., 102, 113, 117, 120, 122 – Ausnahme 93 – Beihilfecharakter 102, 122 Schiedsverfahren 130 ff., 135 ff., 146, 150 f., 156 f., 159 f. – Musterverständigungsvereinbarung 130, 137

Stichwortverzeichnis

Selektivität 86, 93, 119, 124 – materielle 104 – regionale 99, 105, 107 – Selektivitätskriterium 98, 109, 12 – Selektivitätsprüfung 88 f., 97 ff., 107, 112 – vergleichbare tatsächliche und rechtliche Situation 97 ff., 102 f., 105 f., 108, 111 Separate entity approach 18 f., 185 SEStEG 162 f., 168, 178 f., 182 Sperrwirkung des Art. 9 OECDMA 145 f., 152 f., 158 Stammhaus 19, 21, 36, 58, 138 – Zentralfunktion 164 ff., 178, 181 ff., 186, 188 f. Steuerkoordinierung – Grenzen 11 – internationale 3, 10, 16 – multilaterale 11 f. Streubesitz 15, 21, 33, 40 f., 76 Teilwert 176 Tochtergesellschaft 7 f., 15, 18, 34 f., 183 f. – Gleichbehandlung mit Betriebsstätte 19 ff., 40, 58 – auch Tochterkapitalgesellschaft 34, 36 – Verlustverrechnungsverbot 63 Treaty shopping 32 Umsatzsteuer 2, 10, 14, 38 f., 52, 56, 141 Umwandlungssteuererlass 161 ff. – Entstrickungstatbestände 164 ff. – Vermeidung der Doppelbesteuerung 175 f.

Umwandlungsstichtag 189 Upstream Merger 169 f. Verfahrensdauer – EGMR 67 – Verständigungsverfahren 134, 150 Verhältnismäßigkeitsprüfung 99, 115 Verlustverrechnung 20, 92, 94 – Beschränkung 63, 180 – grenzüberschreitende 20 Verrechnungspreise 3, 30, 32, 36, 139, 153 – dealing at arm’s length 153 – EU-Verrechnungspreisforum 132, 135, 139 f. – Fremdvergleichsgrundsatz 3, 138 f., 142 – Verrechnungspreissystem 148 – Verrechnungspreiszusagen 140 Verständigungsverfahren 129 ff. – Bindungswirkung 153 – EU-Verhaltenskodex 132, 135 – Rechtsanspruch 134, 136 – trilateral/multilateral 140 Verstrickung 174 ff., 192 Vorabentscheidungsverfahren 46 f., 49 – Acte clair 50, 72 f., 75, 79 – Acte éclairé 50 – Ausnahme von Vorlagepflicht 47, 50 – Entscheidungserheblichkeit 47, 73 – Vorabentscheidungsersuchen 46 f., 50 ff., 72 f. – Vorlagepflicht 47 ff., 73 – Vorlagepraxis 47, 52 – Vorlagerecht 47 f. 197

Stichwortverzeichnis

– Willkürmaßstab 49, 73, 82 Vorlageverfahren s. Vorabentscheidungsverfahren Werteentscheidung – richterliche 99 – gesetzgeberische 101 f. Wettbewerb 2 f., 112, 123 – Intensität des Wettbewerbsverhältnisses 102, 112, 114 – Steuerwettbewerb, internationaler 2 f., 9, 24, 26, 30 – Steuerwettbewerb, unfairer 3 – Wettbewerbsverfälschung 87, 90 f., 99, 102, 121

198

Willkürmaßstab s. Vorabentscheidungsverfahren Wohnsitz, siehe auch Ansässigkeit 4, 7 f., 62, 97 f. – Wohnsitzstaat, auch Ansässigkeitsstaat 4, 7 Zinsen 2, 7, 12, 23 ff., 39, 143 ff. – Erstattungszinsen 143, 148 – Nachzahlungszinsen 143 f., 148, 151 Zinsschranke 12, 33, 146