Praktische Philosophie: Das Modell des Aristoteles [2., durchges. Aufl. Reprint 2018] 9783050072159, 9783050028965

Der wirkungsmächtige Begriff einer praktischen Philosophie geht auf Aristoteles zurück. Der Begriff ist ebenso wie sein

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Praktische Philosophie: Das Modell des Aristoteles [2., durchges. Aufl. Reprint 2018]
 9783050072159, 9783050028965

Table of contents :
Inhalt
Zur Zitierweise
Vorwort
Einführung
1. Systematische Absicht und historische Aufgabe
2. Aporetische Interpretationen zur aristotelischen Ethik
Erster Teil. Die Ethik als praktische Philosophie
1. Der Gegenstand der Ethik: Sittliches Handeln
2. Das Ziel der Ethik: Sittlichwerden
3. Der Ausgangspunkt der Ethik: wirkliche Sittlichkeit
4. Der Zirkel der praktischen Philosophie
5. Die praktische Philosophie als Potenzierung des sittlichen Handelns
TEIL II. Die praktische Philosophie als Grundriß-Wissenschaft
1. Entfaltung des Problems
2. Die Je-Andersheit sittlichen Handelns
3. Die relative Konstanz des sittlichen Handelns
4. Die methodische Aporie der praktischen Philosophie
5. Der Begriff einer Grundriß-Wissenschaft
Literaturverzeichnis
Namenregister

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Otfried Höffe Praktische Philosophie

Otfried Höffe

Praktische Philosophie Das Modell des Aristoteles

Akademie Verlag

1. Auflage 1971 by Verlagsbuchhandlung Anton Pustet M ü n c h e n 2., durchgesehene Auflage 1996 by Akademie Verlag G m b H Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Höffe, Otfried: Praktische Philosophie - Das Modell des Aristoteles / Otfried Höffe. - 2. Aufl. - Berlin : Akad. Verl., 1996 ISBN 3-05-002896-3

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form — durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren — reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). N o part of this book may be reproduced in any form — by photoprinting, microfilm, or any other means — nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Einbandgestaltung: Hans Herschelmann Satz: Siggi Rasenberger, Kassel Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

9

Einführung 1. Systematische Absicht und historische Aufgabe 2. Aporetische Interpretationen zur aristotelischen Ethik a. b. c. d.

Das Das Das Das

theoretische Modell sittliche Modell topische Modell statistische Modell

17 24 25 26 28 33

Erster Teil Die Ethik als praktische

Philosophie

1. Der Gegenstand der Ethik: Sittliches Handeln a. Vernünftiges Streben b. Das freie Tätigsein c. Der politische Ursprung der Freiheit d. Zum Verhältnis von Ethik und Erster Philosophie

39 39 45 50 57

2. Das Ziel der Ethik: Sittlichwerden a. Das sittliche Engagement b. Der Zugriff des Erkennens c. Die ethische Fundamentaldifferenz

60 60 63 66

3. Der Ausgangspunkt der Ethik: wirkliche Sittlichkeit a. Die Idee einer analytischen Ethik b. Die Voraussetzung sittlich-politischer Erfahrung c. Das primäre Wissen

71 71 74 79

5

4. Der Zirkel der praktischen Philosophie a. Die sittliche Reflexion b. Der praktische Zirkel

84 84 88

5. Die praktische Philosophie als Potenzierung des sittlichen Handelns a. Reflexion oder die Potenzierung des Wissens b. Emanzipation oder die Potenzierung der Sittlichkeit c. Metareflexion oder die Emanzipation der praktischen Philosophie Zweiter Die praktische

Philosophie

91 91 94 97

Teil als

Grundriß-Wissenschaft

1. Entfaltung des Problems. Einleitende Interpretation der Nikomachischen Ethik I 1, 1094b 11-27 a. Das Prinzip sachgerechter Klarheit b. Die Vielgestaltigkeit sittlichen Handelns c. Der Entwurf einer Grundriß-Wissenschaft

101 101 106 110

2. Die Je-Andersheit sittlichen Handelns a. Die eigene Entscheidung als Prinzip des Handelns b. Die situationsgerechte Überlegung der Mittel c. Das dialektische Erfinden der Ziele

117 117 121 125

3. Die relative Konstanz des sittlichen Handelns a. Der soziale Rahmen b. Die persönliche Festigkeit

132 132 140

4. Die methodische Aporie der praktischen Philosophie a. Die doppelte Aporie b. Der Begriff der Analogie c. Analogie und Dialektik

146 146 148 155

5. Der Begriff einer Grundriß-Wissenschaft a. Vorläufige Aussagen der Ethik b. Ethische Teilanalysen c. Aristoteles'Ethik als Grundriß-Wissenschaft d. Grundzüge einer Rationalität der Freiheit

157 157 163 171 176

Literaturverzeichnis Namenregister

181 189 6

Zur Zitierweise Aristoteles wird im allgemeinen nach den Oxforder Ausgaben zitiert. Wird die Lesart anderer Editionen vorgezogen, ist es angemerkt. - Um die Fußnoten übersichtlich zu halten, werden Übersetzer und Kommentatoren nur mit Name und Seitenzahl zitiert; im Literaturverzeichnis sind sie ausführlicher genannt. Abkürzungen für die aristotelischen An. pr. An. post. Cat. De an. EE EN Interpr. Met. MM

= = = = = = = = =

Analytica priora Analytica posteriora Categoriae De anima Ethica Eudemia Ethica Nicomachea De Interpretatione Metaphysica Magna Moralia

NE

Schriften:

= Nikomachische Ethik (bei dt. und engl. Übers.) PA = De partibus animalium Phys. = Physica Pol. = Politica Protr. = Protrepticus Rhet. = Rhetorica Top. = Topica (Top. IX = Sophistici elenchi)

7

Vorwort

Zwei Fragen begleiten die Konstitution der Ethik als philosophischer Disziplin: 1. Was ist der leitende Zweck einer philosophischen Ethik? 2. Welchen Beitrag zu diesem Zweck kann die Philosophie leisten? In wenigen Zeilen des Einleitungskapitels der Nikomachischen Ethik gibt Aristoteles auf beide Fragen eine dezidierte und bis heute erwägenswerte, nach Ansicht der folgenden Studie sogar überzeugende Antwort. Die erste Antwort besteht im wirkungsmächtigen Gedanken einer praktischen Philosophie. Der Gedanke steht im Gegensatz zu dem einer theoretischen Philosophie und klingt wie dieser ungewöhnlich, sogar provokativ. Unter der Philosophie verstehen wir nämlich eine Form von Theorie, so daß der Zusatz des Theoretischen als unnötig, der des Praktischen dagegen als widersprüchlich erscheint. „Praktisch" nennen wir nämlich, was der Bewältigung konkreter Lebensprobleme dient, wovon die Philosophie als Erforschung von Grundbegriffen und Prinzipien, eben als Theorie, absieht. Zur Kritik, mindestens aber zur Relativierung des Aristoteles könnte man sich auf eines der bedeutenderen philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts, auf G. E. Moores Principia Ethica, berufen wollen, Denn nach dessen § 14 liegt das direkte Ziel der Ethik im Wissen und gerade nicht im Handeln. Moores Zusatz „direkt" spielt aber auf jene gestufte Zielperspektive an, die Aristoteles im Blick hat. Die Ethik - sagt Moore - soll nicht nur zu wahren Ergebnissen gelangen, sondern auch schlüssige Gründe dafür finden. Die schlüssigen Gründe stehen aber nicht für sich selbst; sie stützen vielmehr Ergebnisse, deren Wahrheitsanspruch bei Moore ethische Prinzipien betrifft. Folglich sieht auch Moore im Wissen nur das unmittelbare Ziel, während es letztlich auf den im Wissen thematisierten Gegenstand, hier also die Praxis, ankommt. Außerdem dürfen wir nicht übersehen, daß Aristoteles unter „Theorie" nicht jedes relativ grundsätzliche Wissen versteht, sondern lediglich jenes Wissen, das um seiner selbst willen gesucht wird. Im Gegensatz zu einer

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derartigen „theoretischen Theorie" ist eine praktische Theorie in dreifacher Hinsicht auf Praxis verpflichtet. Als erstes und trivialerweise bildet die Praxis den Gegenstand. Als Untersuchung des menschlichen Handelns sowohl in seiner personalen als auch institutionellen Seite gehören zur praktischen Philosophie sowohl die Ethik als auch die Sozialphilosophie und die politische Philosophie einschließlich Rechtsund Staatsphilosophie. In einem weiteren Verständnis zählen zu ihr auch die philosophische Anthropologie, die Geschichtsphilosophie und die Religionsphilosophie. (Von diesen Disziplinen greift diese Studie die Ethik heraus.) Gemeinsam ist diesen Gegenständen der Umstand, daß ihr Sosein vom Menschen abhängt, von seinen Bedürfnissen und Interessen, von seinen Hoffnungen, Erwartungen und seiner normativ-kritischen Beurteilung. Einen vom Menschen unabhängig und sich ewig gleichbleibenden Gegenstand gibt es hier nicht. Im Gegensatz zu einer Theorie, die sich selbst genug ist, zu einem Wissen als Selbstzweck, ist die Ethik auch deshalb praktische Philosophie, weil sie letztlich der Praxis selbst dienen will. Diese praktische Intention sucht sie allerdings weder durch moralische Ermahnungen noch durch moralisch-politische Aktionen zu erreichen, sondern lediglich modo philosophico, also auf dem Weg von Argumentation, Reflexion und diskursiver Kritik. Damit kommt die gestufte Zielperspektive in den Blick. Das direkte Ziel liegt nicht im Handeln, sondern in Erkenntnissen über Handeln, die aber - weil sie kein Selbstzweck sind - erst von einem weiteren Ziel, eben der Praxis her, als nützlich und sinnvoll erscheinen. Schließlich hat die Ethik als praktische Philosophie einen praktischen Ursprung. Bei Aristoteles besteht er in einem mehrfachen Zweifel, der genuin praktisch beginnt und dann einen mehr und mehr theoretischen Charakter erhält. Nach dem ersten, moralisch-praktischen Zweifel gibt es verschiedene, einander widerstreitende Lebensstrategien (βίοι), so daß der Mensch nicht weiß, wie er sein Leitziel, für Aristoteles: das Glück, erreichen kann. Nach einem zweiten, ethischen Zweifel gibt es beim Gegenstand der Ethik, dem Guten und Gerechten, eine derartige Unbeständigkeit und Unsicherheit, daß alle praktischen Verbindlichkeiten als bloße Konventionen (νόμος: Satzung) erscheinen, denen folglich eine überkonventionelle, überpositive Verbindlichkeit - φύσις (Natur) genannt - fehlt. Der zweite Zweifel läuft auf einen ethischen Positivismus und Skeptizismus hinaus. Nach einem dritten, wissenschaftstheoretischen oder metaethischen Zweifel mangelt es dem ethischen Gegenstand an Konstanz, so daß es die in der theoretischen Theorie übliche Genauigkeit nicht geben könne. 10

In Auseinandersetzung mit diesem dritten Zweifel entwickelt Aristoteles den Gedanken einer für die praktische Philosophie spezifischen Rationalitätsform. Es ist ein τύττω, ein Umriß- oder Grundriß-Wissen. Mit ihm antwortet er auf die zweite der beiden Fragen, die die Konstitution der Ethik als philosophischer Disziplin begleitet. Die Antwort ergibt sich aus einem Dilemma der Ethik als praktischer Philosophie. Weil die Ethik als praktische Disziplin dem menschlichen Handeln dienen will, als philosophische Disziplin aber dessen Besonderheit nie erreicht, gibt sie sich mit einer Art von Strukturgittern zufrieden. Während die sich gleichbleibenden, normativen Elemente herausgearbeitet werden, bleibt das sozial und individuell Besondere, bleiben das - in Grenzen - veränderliche Ethos und vor allem die je anderen Lebensumstände der Praxis frei. Das Freibleiben darf man nicht etwa - nur - als ein Defizit verstehen, als einen Mangel an Wissen um das Besondere. Es ist zwar richtig, daß sich die Philosophie mit konkreten Handlungsanleitungen, Rezepten gar, nicht abgibt, weil es dafür ein Element braucht, ein Wissen um die jeweiligen Randbedingungen, die geschichtliche Situation, für die die Philosophie nicht zuständig ist. Aufgrund der Nichtzuständigkeit läßt sie aber auch das offen, was zum Gegenstand der Ethik, dem moralischen Handeln, auch gehört: der Spielraum des moralisch verantwortlichen Subjekts. Es ist seine Aufgabe, die geschichtliche Situation zu erschließen, sie im Licht normativer Verbindlichkeiten zu beurteilen und aus der Beurteilung situationsgerechte Handlungen zu bestimmen. In der Konjunktur, deren sich die Ethik seit langem erfreut, versteht man Aristoteles gern als Alternative zu Kant. Allerdings ist die Bewertung seiner Besonderheiten umstritten, gelten sie doch bei den Aristotelikern als Vorzug, bei den Kantianern dagegen als Nachteil. Zu den Besonderheiten Aristotelischer Ethik rechnet man heute etwa: eine eudämonistische Ethik, die den Wert des guten Lebens betont; eine Tugendethik, die anstelle unpersönlicher Prinzipien den moralischen Charakter stellt; eine Klugheitslehre, die den wechselnden Erfordernissen des Lebens Raum gibt statt des Triumphs der Gesinnung über die Urteilskraft; eine kommunitaristische Ethik, die der universalistischen Moral die Üblichkeiten der eigenen Gemeinschaft entgegensetzt und die Freundschaft für wichtiger als die Gerechtigkeit hält. Ich habe andernorts hinter diese vereinfachten Alternativen ein Fragezeichen gesetzt. 1 Hier kommt es auf einen anderen Umstand an: Auch dort, wo Kant eine zu Aristoteles alternative Moraltheorie entwickelt, erkennt er die beiden hier untersuchten

1

„Aristoteles oder Kant - wider eine plane Alternative", in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik („Klassiker Auslegen", Bd. 2), Berlin 1995, 277-304.

11

Gedanken, den der praktischen Philosophie und den des Grundriß-Wissen, an. Denn einerseits hält er weder seine ethischen Prolegomena, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft, noch sein System der Ethik, die Rechtslehre und die Tugendlehre, noch seine Friedensschrift, für einen Selbstzweck. Im Gegenteil verfolgt er immer auch ein moralisch-praktisches Ziel, wofür hier zwei Belege genügen: Kant kritisiert den „Gemeinspruch, das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", erläutert seine Kritik anhand von drei Teilen einer praktischen Philosophie, der Ethik, der Staatsphilosophie und der Philosophie einer internationalen Rechtsgemeinschaft und stellt am Ende die genaue Gegenthese auf: „Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis." (Akademie Ausgabe VIII, 313) Und nach der „Vorrede" zur Grundlegung sucht Kant eine reine Moralphilosophie „nicht bloß aus einem Bewegungsgrunde der Speculation", sondern weil die Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen seien (IV, 389 f.). Andererseits übernimmt Kant insofern den Aristotelischen Gedanken des Grundriß-Wissens, als er sich im wesentlichen nur für die moralischen Grundelemente interessiert, die konkrete Ausführung dagegen den Handelnden überläßt: in der Tugendlehre den einzelnen Personen und in der Rechtslehre dem Gesetz- und Verfassungsgeber. Dort beispielsweise, wo Kant einzelne moralische Pflichten behandelt, untersucht er zwar deren moralischen Kern, aber nicht die situationsgerecht konkrete Handlung. Ähnlich dürften die anderen großen Moral- und Staatsphilosophen Aristoteles' zwei Gedanken praktizieren. Deutlich trifft das auf Hobbes zu. Denn seine politische Philosophie fügt sich insofern in die Tradition praktischer Philosophie ein, als sie die politische Grundkrise der Neuzeit, die (konfessionellen) Bürgerkriege, zu überwinden sucht. Und dem Grundriß-Wissen bleibt sie insofern treu, als sie für die Alternative zum Kriegszustand, dem Friedenszustand, zwar gewisse Grundsätze formuliert, aber nicht die konkrete Gestaltung eines Rechts- und Staatswesens ausbuchstabiert. Analoges gilt für die Moralkritik eines Friedrich Nietzsche. Auch hier werden für eine praktische Intention keine konkreten Handlungsanweisungen, wohl aber teils allgemeine Voraussetzungen, teils Bedingungen der Verwirklichung benannt. Insofern ist die philosophiegeschichtliche These zu korrigieren, beim Übergang zur Neuzeit verliere die Aristotelische Tradition der praktischen Philosophie an Bedeutung, um nach der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts einerseits und Hegel andererseits ganz zu verschwinden. In Wahrheit gibt es nicht bloß Rearistotelisierungsversuche, zumal in der Handlungstheorie, der Ethik, selbst der Politischen Philosophie noch in unserem Jahrhundert. In unserem 12

Zusammenhang wichtig ist der Umstand, daß Aristoteles' doppelter Gedanke einer praktischen Philosophie die Neuzeit bestimmt. Hinsichtlich der praktischen Intention und ihrer Realisierung als Grundriß-Wissenschaft darf man von Hobbes über Kant und Nietzsche bis G. E. M o o r e die großen Denker der Ethik und Politischen Philosophie Aristoteliker nennen. Weil sich in dieser Weise die beiden Gedanken über Aristoteles' Projekt einer philosophischen Ethik hinaus als gültig erweisen, folge ich gern dem Vorschlag einiger Kollegen und mache meine diesbezügliche Untersuchung wieder zugänglich. Die Studie, eine Dissertation, ist freilich von den damaligen Debatten geprägt, in der systematischen Absicht beispielsweise von der unter d e m Eindruck der sprachanalytischen Ethik stehenden Frage nach Intention und wissenschaftlichem Status einer philosophischen Ethik. Inzwischen hat sich vieles verändert: Die philosophische Ethik hat einen damals, zumal in Deutschland, nicht abschätzbaren Aufschwung gefunden, und dies in der Grundlagendiskussion nicht weniger als in vielen Bereichen angewandter Ethik. Auch die wissenschaftstheoretischen Debatten sehen heute anders aus. Und vor allem hat sich die Aristoteles-Forschung reich entwickelt. Es ist hier nicht der Ort, die Veränderungen im einzelnen zu rekapitulieren. In meiner Untersuchung der Ethik als praktischer Philosophie kommen unter anderem der Zusammenhang von Ethik und Politik und das Verhältnis von Ethik und Erster Philosophie zur Sprache. Weiterhin erweist sich Aristoteles' Ethik als teleologisch, aber nicht in dem heute vorherrschenden Sinne des Utilitarismus. Außerdem entwickelt sie einen Begriff der Entscheidung (wpoaipeaiç), dessen Problembewußtsein dem auf rationale Kalkulation verkürzten Begriff moderner Entscheidungstheorien überlegen ist. Nicht zuletzt ist sie eudämonistisch, aber nicht in d e m von Kant kritisierten Verständnis. Aristoteles entwickelt nämlich eine Ethik vernünftigen Strebens, die sich letztlich wegen ihrer handlungstheoretischen Grundbegriffe von Kant unterscheidet. Das Prinzip einer Strebensethik heißt ebenso notwendig Eudämonie, Glück, wie das einer Willensethik Autonomie, Selbstbestimmung des Willens heißt. Das Literaturverzeichnis führt neuere Veröffentlichungen an, dabei auch einige, in denen ich selbst an der hier aufgeworfenen Frage weitergearbeitet habe. Trotzdem dürfte die hier entwickelte zweiteilige These noch etwas Erwägenswertes enthalten: daß die Ethik zu einer im emphatischen Sinn praktischen, bei Aristoteles näherhin: zu einer sittlich-praktischen Philosophie gehört, und daß sie sich zu diesem Zweck einer eigentümlichen Rationalitätsform, eines Grundriß-Wissens, bedient. Tübingen, Januar 1996

Otfried H ö f f e 13

EINFÜHRUNG

1. Systematische Absicht und historische Aufgabe

Vorausgesetzt, philosophische Ethik soll Wissenschaft sein - ist dann ihr wissenschaftliches Interesse mit einem praktischen Interesse vereinbar? Kann das Ziel, sittliche Urteile nicht zu fallen, sondern zu analysieren, 1 auch von einem Denken erreicht werden, das sich als weiteres Ziel gesetzt hat, dem sittlichen Handeln zu dienen? Oder ist philosophische Analyse ausschließlich Sprachanalyse und philosophische Ethik allein jene sittlich neutrale Wissenschaft, die die Sprache der Moral logisch untersucht? 2 Wird diese Frage bejaht, dann verliert die philosophische Ethik ihre sittliche Bedeutung, und ihre kritische Funktion reduziert sich auf die Aufgabe, jene moralischen Probleme aufzulösen, die sich aus sprachlichen Mißverständnissen ergeben. Die sprachanalytische Ethik ist von dem wissenschaftskritischen Impuls geleitet, die von ihr behauptete „traditionelle Vermischung" philosophischer Ethik mit normativen Fragen zu beenden. 3 Aus diesem Grund unterscheidet sie zwischen objektsprachlichem und metasprachlichem Reden über Sittlichkeit,

1

2

3

Diese noch vage Bestimmung (nach A. J. Ayer, „Editorial Foreword" zu: P. H. Nowell-Smith, Ethics, London 6L965 , 7) kann als Grundlage der Diskussion um einen zureichenden Begriff der Ethik dienen. Vgl. R. M. Hare, The Language of Morals, Oxford 3 1964, iii: „Ethics, as I conceive it, is the logical study of the language of morals." Die knappe Skizze kann auf die verschiedenen Richtungen der sprachanalytischen Ethik nicht eingehen. Zur Entwicklung: G. C. Kerner, The Revolution in Ethical Theory, Oxford 1966. - In Deutschland hat sich die Philosophie erst spät mit der sprachanalytischen Ethik auseinandergesetzt: H. Albert, „Ethik und Metaethik. Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie", in: Archiv für Philosophie 11 (1961) 28-63; H. Lenk, „Der ,Ordinary Language Approach' und die Neutralitätsthese der Metaethik. Zum Problem der sprachanalytischen Deutung der Ethik", in: Das Problem der Sprache (8. Dt. Kongreß für Philosophie - Heidelberg 1966), hg. v. H.-G. Gadamer, München 1967, 183-206; und in demselben Band: H. Fahrenbach, „Sprachanalyse und Ethik", 373-385. 17

zwischen der normativen Ethik und ihrem eigenen Tun, der kritischen Ethik oder Metaethik. Dank dieser Unterscheidung will sie die Ethik endlich als eine strenge Wissenschaft begründen. Da man über das Objekt „Sittlichkeit" umgangssprachlich und (normativ-) philosophisch sprechen kann, sind genauer drei theoretische Niveaus zu unterscheiden: sittliche Urteile, die den Vollzug des Handelns qualifizieren; ferner ethische Urteile, die für sittliche Urteile die Prinzipien aufstellen oder rechtfertigen; und metaethische Urteile, die die Sprache sittlicher oder ethischer Urteile analysieren. 4 - Der Metaethiker beobachtet das Reden über Sittlichkeit und untersucht dessen sprachlogische Merkmale. Hier liegt die unbestreitbare Leistung sprachanalytischer Ethik: In einer Vielzahl von Einzelanalysen hat sie sittliche oder ethische Begriffe, Sätze und Systeme klassifiziert, beschrieben und erklärt. - Wer sprachliche Ausdrücke (gut, richtig, ...) in ihrer Funktion und Bedeutung zu beschreiben und zu erklären sucht, ist von einem theoretischen Interesse geleitet. Die sprachanalytische Ethik ist also jene wissenschaftliche Disziplin, die über die Sprache der Moral oder der Ethik theoretische Erkenntnisse vermittelt; Erkenntnisse, durch die die empirischen Untersuchungen von Linguisten und Sprachsoziologen analytisch fortgesetzt werden. Daß der sprachanalytischen Ethik primär ein theoretisches Interesse zugrunde liegt, wird von ihren Vertretern nicht immer gesehen. Hare ζ. Β. begründet den Sinn seines ethischen Studiums zunächst und allgemein damit, daß die Frage nach dem, was ich tun soll, schwierig und drängend ist. Seine Ethik scheint daher bei der Lösung sittlicher Probleme zu helfen; anscheinend ist sie von eminent praktischer Bedeutung. Hares spezifische Begründung liegt jedoch darin - und über die Differenz gibt er keine Rechenschaft - , daß Ethik die Sprache sittlicher Probleme verstehen will, um mögliche Verwirrung zu vermeiden. 5 Eine wissenschaftliche Ethik ist auch von einem anderen als dem theoretischen Interesse her zu begründen. Man kann ihr die Aufgabe stellen, Modelle für Moralsysteme oder für Systeme moralischer Argumentation zu entwerfen.

4

5

Der Unterschied zwischen den drei theoretischen Niveaus ist bei den Sprachanalytikern terminologisch nicht immer durchgehalten. C. L. Stevenson nennt die Urteile des 1. Niveaus ethisch (Ethics and Language, New Haven 7 1958, 1), während sie A. Edel den ethischen gerade gegenüberstellt (Science and the Structure of Ethics, Chicago/ Toronto 1961, 7 f.). - Ebensowenig eindeutig ist die Aufgabe der sprachanalytischen Ethik definiert. R. M. Hare versteht darunter die Untersuchung sittlicher Urteile (1), R. B. Brandt die Untersuchung (normativ-) ethischer Urteile (Ethical Theory. The Problems of Normative and Critical Ethics, Englewood Cliffs (N. J.j 1959, 7 f.). R. M. Hare, 1 f.

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Das Entwerfen ist eine Form des Hervorbringens oder Machens, im aristotelischen Sinn eine technische Leistung, 6 die genannte Deutung der Ethik daher eine technische Deutung. 7 Ethik ist also auf verschiedene Weise denkbar; je nach dem leitenden Interesse konstituiert sie sich als eine theoretische oder aber als eine technische Disziplin. Diesen unterschiedlichen Konzeptionen von Ethik ist die sittliche Neutralität gemeinsam. Wenn der Ethiker Modelle entwirft oder sprachlogische Phänomene untersucht, so verzichtet er auf sittliche Urteile. Die philosophischen Sätze haben eine andere logische Struktur als die sittlichen Sätze; diese sind normativ, jene nicht. Das Wissen des Ethikers ist daher von der eigenen Erfahrung des sittlichen Handelns unabhängig; es setzt weder eigene sittliche Erfahrung voraus noch nimmt es auf sie Einfluß. Die Unabhängigkeit der Ethik von dem Bezug des Forschers auf sittliches Handeln ist die praktische Konsequenz der sogenannten Neutralitätsthese. Ursprünglich wurde sie für die sprachanalytische Ethik aufgestellt. 8 Sie trifft aber genauso für das skizzierte technische Konzept zu. Zwar setzen beide Arten von Ethik voraus, daß das, was sittlich ist, schon bekannt ist; ohne dieses Vorverständnis könnten sie nämlich ihren Gegenstand nicht identifizieren. 9 Ob dieses Vorverständnis aber aus der eigenen sittlichen Erfahrung stammt oder konventionell festgelegt ist, bleibt für die theoretisch und die technisch gedeutete Ethik gleich. Das Vorverständnis ist eine theoretische, nicht eine sittliche Voraussetzung; und nur sittlich gesehen ist die Neutralitätsthese im strikten Sinn haltbar. Theoretische und technische Ethik betrachten sich methodisch als streng wissenschaftliche und zugleich sittlich neutrale Disziplin. Ist die wissenschaftliche Ethik deshalb notwendig sittlich neutral und eine sittlich engagierte Ethik notwendig unwissenschaftlich? Ist jene, den Menschen bedrängende Frage nach dem guten Handeln wissenschaftlicher Kritik entzogen und dem Widerstreit

Aristoteles definiert die Technik (τέχνη) als ,βξις μ€τά λό-γου αληθούς

ποιητική

(ein

mit richtiger Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten; Übers. Gigon 185): EN VI 2, 1140a 10. 7 Ein technisches Konzept der Ethik entwirft ζ. Β. H. Lenk in seiner Studie zur sprachanalytischen Ethik (201 ff.). " Vgl. C. L. Stevenson, 1. " Ein Vorverständnis von Sittlichkeit gehört nicht nur zur sprachanalytisch, sondern auch zur technisch gedeuteten Metaethik. Daher fällt die Kritik H. Lenks im genannten Aufsatz, die sprachanalytische Ethik sei streng genommen nicht sittlich neutral, auf sein eigenes technisches Konzept zurück.

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philosophisch unverbindlicher Meinungen überlassen? Oder ist Ethik auch als sittlich engagierte und zugleich wissenschaftliche Disziplin denkbar? Als Wissenschaft ginge es einer solchen Ethik um Erkenntnisse, deren Wahrheit dank streng methodischen Vorgehens durch intersubjektiv verständliche Gründe ausgewiesen ist. Wenn diese Wissenschaft sich sittlich engagieren, d. h. praktisch sein will, so muß sie das menschliche Handeln nicht um des Erkennens, sondern um eben dieses Handelns willen untersuchen. Eine philosophische Ethik, die praktische Wissenschaft ist, wird von den Sprachanalytikern faktisch in Frage gestellt. Sie beanspruchen nämlich, die einzig streng wissenschaftliche und philosophisch relevante Ethik zu betreiben. 10 Oft wird dieser Anspruch weder reflektiert noch genannt, sondern die Sprachanalytiker definieren einfach ihre Disziplin als die Ethik." Im folgenden soll dieser Anspruch auf seine Rechtmäßigkeit geprüft werden. Angenommen, Ethik ist als praktische Wissenschaft möglich, wie kann dann der Begriff einer solchen Wissenschaft gedacht werden? Erweist sich der Begriff als immanent möglich, dann ist der sprachanalytische Anspruch widerlegt, zeigen sich innere Unverträglichkeiten, ist er gerechtfertigt. Im Anschluß an die Sprachregelung der analytischen Ethik werden in der Untersuchung, ohne schon die sprachanalytische Deutung zu übernehmen, folgende theoretische Niveaus unterschieden: erstens das sittliche Wissen, das den Vollzug menschlichen Handelns überlegt und beurteilt; zweitens das ethische Wissen, das sittliches Handeln und sittliches Wissen auf ihre Struktur: auf ihre Bestandteile, Elemente und Prinzipien hin untersucht; und drittens das metaethische Wissen, das die Struktur und Wissenschaftlichkeit ethischer Theorien analysiert. Auf dem ersten theoretischen Niveau werden sittliche Urteile gefällt, auf dem zweiten werden sie analysiert, und auf dem dritten wird die Analyse sittlicher Urteile selbst analysiert. 12 Die Arbeit stellt sich - um ihren eigenen logischen Ort zu nennen - eine metaethische Aufgabe. Sie enthält kein System der Sitten, sondern einen Traktat über Sinn und Methode der Ethik. Ihre genaue Frage: „Wie ist philosophische Ethik als praktische Wissenschaft möglich?" läßt sich in zwei Aspekte auffächern. Erstens: Wie ist Ethik als praktische Philosophie, und zweitens: wie ist praktische Philosophie als Wissenschaft möglich? Dort geht es um den

10 11 11

So A. J. Ayer, Language, Truth, and Logic, London 1 3 1958, 103 f. So R. M. Hare, iii. Einleitend sind die verschiedenen theoretischen Niveaus nur abstrakt zu bestimmen; die Untersuchung selbst wird diese vorläufige Abstraktheit aufheben.

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Begriff der philosophischen Ethik, hier um ihren wissenschaftlichen Anspruch, ihre spezifische Rationalität. Dieses doppelte systematische Problem wird im Anschluß an Aristoteles untersucht. Aristoteles ist es nämlich, der im Einleitungskapitel seiner Nikomachischen Ethik beide Probleme gestellt hat. Für ihn ist die Ethik eine praktische Philosophie und der Begriff der praktischen Philosophie impliziert nicht nur ein bestimmtes Thema, sondern auch eine bestimmte Methode. Praktische Philosophie heißt jenes Denken, das die Praxis, das menschliche Handeln, im Ausgang von und im Hinblick auf Praxis untersucht. Ihrer Methode nach verknüpft die vorliegende Arbeit eine historische Aufgabe mit einer systematischen Absicht. Von der metaethischen Frage geleitet, wie philosophische Ethik als praktische Wissenschaft möglich sei, werden Aristoteles' Gedanken zur Ethik, Politik und den grundlegenden methodischen und wissenschaftstheoretischen Problemen untersucht. Diese Auslegung soll die Momente des aristotelischen Gedankens in ihrer Notwendigkeit sichtbar machen, um die faktisch vorkommenden Begriffe zu begründen, zu rechtfertigen und wenn nötig auch zu kritisieren. Im Durchgang durch die Interpretationsarbeit kann das aristotelische Denken seine Wirklichkeitseröffnende Leistung beweisen und die systematische Frage eine Antwort, der Begriff einer praktischen Wissenschaft eine differenzierte Begründung erfahren. Für die systematische Frage ist die von Aristoteles her gegebene Antwort nicht die einzig denkbare. In den fundamentalen Kategorien seiner ethischen und wissenschaftstheoretischen Reflexionen bringt Aristoteles nämlich ein Vorverständnis von philosophischer Ethik mit, das über seine Metatheorie Vorentscheidungen trifft. Wenn auch die aristotelische Reflexion daher keine umfassende und ausschließliche Lösung enthält, kann man sie doch als legitim bewerten. Die aristotelische Theorie, begrenzt und doch fortdauernd gültig, ist für die systematische Diskussion um den Begriff einer Ethik, die praktische Philosophie sein soll, weniger eine Doktrin als ein Modell. Der moderne Begriff des Modells ist durch drei Merkmale bestimmt. Das Modell ist erstens die in sich geschlossene und widerspruchslose Abbildung eines Originals; wiedergegeben werden in dieser Abbildung zweitens nur die wichtig erscheinenden Eigenschaften, und die Wichtigkeit der Eigenschaften sowie die Art ihrer Wiedergabe ist drittens durch jene Aufgaben bestimmt, die die Abbildung bewußt oder unbewußt leitet: das Modell hat eine bestimmte Funktion. 13 13

Diese Bestimmung des Begriffs des Modells folgt im wesentlichen H. Stachowiak: „Gedanken zu einer allgemeinen Theorie der Modelle", in: Studium generale 18 21

In der vorliegenden Arbeit zeigt der Begriff des Modells die methodische Verknüpfung von historischer Aufgabe und systematischer Absicht an. Er bedeutet, daß die aristotelische Metaethik nur die notwendigen Bedingungen der praktischen Philosophie darstellt, und daß diese Bedingungen nicht grundsätzlich, sondern zunächst nur unter Voraussetzung jener Fragen notwendig sind, die in der aristotelischen Ethik gestellt werden. Die Arbeit selbst will Aristoteles' Metatheorie nicht nur referieren, sondern auch kritisch untersuchen. Deshalb analysiert sie nicht nur die metaethischen, sondern auch die ethischen Kategorien des Aristoteles, verfolgt den Zusammenhang der Ethik und Metaethik, weist auf die begrenzte Gültigkeit der ethischen Grundkategorien, beurteilt diese Begrenzung auf das leitende metaethische Problem hin und fragt, inwiefern die Besonderheit der aristotelischen Ethik die Theorie der Ethik als praktischer Philosophie tangiert; sie fragt, wie die metatheoretischen Aussagen eventuell zu verallgemeinern oder zu modifizieren sind. Den Begriff und den wissenschaftlichen Anspruch seiner Ethik skizziert Aristoteles im Einleitungskapitel der Nikomachischen Ethik. Denn darin zeichnet sich die Nikomachische Ethik vor vielen anderen Ethiken aus: sie reflektiert nicht nur die Sittlichkeit, sondern auch deren Reflexion; sie enthält nicht nur ethische, sondern auch metaethische Erörterungen. Aristoteles kennt thematisch zwei praktische Wissenschaften: die Ethik und die Politik. Da sich methodisch nur die eine, die Ethik, durchgehend als praktische Wissenschaft erweist, 14 steht diese Disziplin im Vordergrund. Nun finden sich im Schriftenverzeichnis des Aristoteles mehrere Ethiken: die Magna Moralia, die Eudemische und die Nikomachische Ethik.15 Der historisch-philologischen Forschung zufolge wird in ihnen dasselbe Thema mit wesentlich gleichem Aufbau, Richtungssinn und Einzelinhalt abgehandelt; dagegen unterscheiden sie sich in ihrer Ausführlichkeit. 16 Am ausführlichsten

14 15

16

(1965) 4 3 2 - 4 6 3 (438); dort weitere Literatur. - Der Begriff des Modells wird vor allem in der Kybernetik verwandt, w o er jedoch eine speziellere Bestimmung gefunden hat; vgl. Art. „Modell" im Wörterbuch der Kybernetik, hg. v. G. Klaus, Berlin 2 1968, 4 1 1 - 4 1 8 und im Lexikon der Kybernetik, hg. v. A. Müller, Quickborn bei Hamburg 1964, 105 f. Siehe unten, Kap. I 1 c. Eine weitere ethische Schrift im Corpus Aristotelicum, überliefert unter dem Titel irepl ape της (Über Tugend), wird in der gegenwärtigen Forschung nicht Aristoteles selbst, sondern seiner Schule, dem Peripatos, zugeschrieben. Dort ist sie wohl um die Wende v o m 4. zum 3. Jh. entstanden (vgl. Ε. A. Schmidt, Aristoteles. Über die Tugend, Darmstadt 1965, Einleitung). Diese These hat F. Dirlmeier aus der Kommentierung der 3 Ethiken gewonnen (Dirlmeier, M M 96). Die wesentliche Einheitlichkeit der Ethiken wird auch durch

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und ausgewogensten gilt die Nikomachische Ethik, die in ihrer heute vorliegenden Form von Aristoteles selbst stammt. 17 Die meisten der metaethischen Probleme werden nur in ihr untersucht. Die Arbeit hält sich daher wesentlich an die Nikomachische Ethik. Nur dort, wo die anderen Schriften ausführlicher argumentieren, werden zur Verdeutlichung auch deren Parallelen herangezogen. Für ethische Untersuchungen über Aristoteles benützt man auch den Protreptikos, eine Mahnrede des Aristoteles an den zyprischen Fürsten Themison. Diese Schrift ist jedoch keine Abhandlung über Ethik, sondern eine Werbeschrift, in der Aristoteles über den Sinn des Philosophierens überhaupt spricht. In der Frage nach dem spezifischen Sinn der praktischen Philosophie ist die Schrift daher zurückhaltend zu verwenden. 18 Da die metaethischen Erörterungen bei Aristoteles nur gelegentlich und dazu äußerst gedrängt vorkommen, ist nicht nur die explizite Metaethik zu untersuchen, sondern auch die in der aristotelischen Ethik implizierte Metatheorie und weiterhin die allgemeinen methodischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen. Letztere finden sich - außer in der Nikomachischen Ethik selbst - vor allem in den Zweiten Analytiken, im ersten Buch der Metaphysik und der Schrift über die Teile der Tiere und im Einleitungskapitel der Physikvorlesung. Die gegenwärtige Forschung datiert keine dieser Schriften hinter die Entstehungszeit der Nikomachischen Ethik;19 mit ihrer Hilfe die aristotelische Metaethik zu erforschen, ist daher auch historisch-philologisch legitim.

I. Düring (Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 457; im folgenden zitiert als: I. Düring, Seitenzahl) und durch Gauthier/Jolif (I 29*, 49*-54*) vertreten. 17 Vgl. I. Düring, 455. O. Gigon geht in seiner Bevorzugung der NE so weit, daß er die EE einen Anhang zur NE nennt (Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Zürich/ Stuttgart, 2 1967, 39). 18 Text, Kommentar und Bibliographie bei I. Düring, Der Protreptikos des Aristoteles, Frankfurt a.M. 1969. " Düring unterscheidet 3 Hauptperioden aristotelischer Wirksamkeit und ordnet An. post., Phys. I und Met. 1 der ersten, NE und PA I der letzten Periode zu (48-52).

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2. Aporetische Interpretationen zur aristotelischen Ethik

Trotz der Fülle gelehrter Kommentare und Monographien zur aristotelischen Ethik wurde die Frage, wie Aristoteles den Begriff der praktischen Philosophie versteht, bisher weder sachlich entschieden noch historisch bedeutungslos. Die fortdauernde Auseinandersetzung läßt sich auf immanente Spannungen im aristotelischen Denken zurückführen. In praktischer Absicht wie auch in wissenschaftlicher Form die Ethik zu begründen - ist dieses doppelte Ziel nicht eine widersprüchliche Aufgabe, deren Widersprüchlichkeit die Lösung beider Teilaufgaben verhindert? Wer die Ethik aus praktischem Interesse betreibt, will dem Menschen bei der Suche nach dem rechten Handeln helfen. Anscheinend gibt er Anleitungen oder Vorschriften zum rechten Verhalten, er fällt sittliche Urteile. Das philosophische Interesse der Ethik bedeutet dagegen, sittliche Urteile nicht zu fallen, sondern zu analysieren. Wenn die sittlichen Urteile aber bloß analysiert werden, so ist nicht einzusehen, warum man auf Grund dieser theoretischen Aufgabe die Disziplin der Ethik praktisch nennt. Das praktische und das philosophische Interesse der Ethik widerstreiten einander; in Aristoteles' Vorstellung von Ethik ist aber nicht der Widerstreit behauptet, sondern die Versöhnung. Unterstellt, diese Versöhnung läßt sich nicht bloß behaupten, sondern auch denken, so taucht ein weiterer Gegensatz auf, der Gegensatz vom Objekt zur wissenschaftlichen Methode. Die praktische Philosophie will sittliches Handeln wissenschaftlich erkennen. Wie kann sie jedoch wissenschaftlich sein, wenn Wissenschaft bleibende Erkenntnis sucht, das zu Erkennende aber nicht gleich bleibt? - Das sittliche Handeln hängt nämlich von den jeweiligen Lebensverhältnissen ab, denen gemäß der Handelnde seine besondere Verhaltensweise selbst zu überlegen und hervorzubringen hat. Die Wissenschaft dagegen erkennt ein Allgemeines, die Selbigkeit vorfindlicher Gegenstände. Wenn aber das sittliche Handeln selbst als ein Allgemeines erkannt wird, dann ist seine Eigenart aus dieser Erkenntnis ausgeschlossen: Das sittliche Handeln sperrt sich anscheinend der wissenschaftlichen Untersuchung, und der Philosoph muß 24

sich entscheiden, ob er die Ethik dem Gegenstand gemäß oder streng wissenschaftlich begründen will. Im Begriff der philosophischen Ethik als praktischer Wissenschaft rivalisiert das praktische mit dem philosophischen Interesse, und der Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit konkurriert mit dem Anspruch, das sittliche Handeln in seiner Eigenart zu erforschen. Mit seiner Vorstellung von Ethik will Aristoteles die doppelte Spannung begrifflich durchhalten. Die kritische Prüfung dieses Anspruchs hat in den letzten Jahrzehnten dem doppelten Gegensatz entsprechend - zu zwei Auseinandersetzungen geführt. 1 Übereinstimmende Lösungen hat man dabei nicht gefunden. Übergeht man die jeweiligen Nuancierungen, so lassen sich aus den verschiedenen Lösungsversuchen vier Grundauffassungen oder Interpretationsmodelle zur aristotelischen Ethik konstruieren: ein theoretisches und ein sittliches, ein topisches und ein statistisches Modell. 2

a. Das theoretische

Modell

Wie verhält sich das philosophische Wissen der Ethik zum praktischen Wissen der Klugheit? 3 Unter diesem Aspekt greift die eine Kontroverse jenes Teilproblem auf: Wie läßt sich das philosophische Interesse der aristotelischen Ethik mit ihrem praktischen Interesse vereinen? Das theoretische Modell 4 vertritt nun die Behauptung, ethisches und praktisches Wissen seien grundlegend verschieden: Das praktische Wissen, die

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3

4

In der einen Kontroverse stehen sich u. a. J. Walter und G. Teichmüller, in der anderen W. Hennis und H. Kuhn gegenüber. Aristoteles' Ethik enthält ein Modell der praktischen Philosophie, die folgenden Grundauffassungen j e ein Interpretationsmodell zur aristotelischen Ethik. φρόνησις. Der aristotelische Ausdruck wird von den Teilnehmern der Kontroverse unterschiedlich übersetzt. Um die Argumentation durchsichtiger zu machen, wird „φρόνησις" einheitlich durch „Klugheit" wiedergegeben. Die theoretische Grundauffassung vertrat J. Walter (Die Lehre von der praktischen Vernunft in der griechischen Philosophie, Jena 1874). Sein Standpunkt wurde von G. Teichmüller scharf angegriffen (s. den folgenden Abschnitt 2b). In der neuen Literatur findet sich die theoretische Grundauffassung ζ. B. bei E. Frank, „The Fundamental Opposition of Plato and Aristotle", in: American Journal of Philology 61 [1940] 34-53 und 166-185 [182 f.]). Im Vorwort seiner Monographie geht J. Walter davon aus, daß in der Philosophiegeschichte der Begriff der praktischen Vernunft zweimal erscheint, bei Aristoteles und bei Kant. Walters primäres Ziel ist es, die zu seiner Zeit herrschende Auffassung zu kritisieren, die Trennung von praktischer und theoretischer Philosophie stamme von Aristoteles und nicht erst von Kant. Um die Auffassung zu widerlegen, untersucht Walter das Verhältnis der Ethik zur Klugheit.

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Klugheit (nach der Terminologie der vorliegenden Arbeit das Wissen der ersten Ebene oder das sittliche Wissen) 5 hat die Aufgabe, auf Grund von Überlegungen das jeweilige Tun und Lassen vernunftgemäß zu leiten. Dieses gegenwartsbezogene Erkenntnisvermögen wird als die praktische Vernunft identifiziert und in seiner Leistung analog zur poietischen Vernunft verstanden. Die poietische Vernunft kann nur Werke der Kunst hervorbringen, nicht aber eine Philosophie der Kunst. Entsprechend vermag die praktische Vernunft die Sittlichkeit des Handelns zu bestimmen; sie ist dagegen nicht im geringsten fähig, über das sittliche Handeln zu philosophieren. Diese Tätigkeit, das Wissen der zweiten Ebene, ist Aufgabe der Ethik. Beide Aufgaben, die praktische Bestimmung des sittlichen Handelns und seine philosophische Erkenntnis, sind strikt entgegengesetzt; ethisches und sittliches Wissen sind disparate Weisen des Erkennens. Während der Kluge den jeweiligen Augenblick bedenkt, sucht der Ethiker - über das Hier und Jetzt hinweg - bleibende Erkenntnis. Von den drei Formen der Vernunft, die Aristoteles kennt (der poietischen, der praktischen und der theoretischen Vernunft), ist allein die theoretische Vernunft bleibender Erkenntnis fähig. Wie jede andere philosophische Disziplin des Aristoteles kommt auch die Ethik durch die theoretische Vernunft zustande; 6 praktische Philosophie ist nicht die Ethik, sondern die Klugheit. 7 Es läßt sich jedoch nicht übersehen, daß Aristoteles einen Unterschied zwischen der Disziplin der Ethik und den typisch theoretischen Disziplinen wie der Mathematik und der Physik macht. Der Mathematiker treibt Trigonometrie ausschließlich, um das zu erkennen, was von einem Dreieck zu erkennen ist; rein theoretische Erkenntnis ist um ihrer selbst willen da. Anders die Ethik. Letztlich wird die Gerechtigkeit nicht erforscht, um das Wesen der Gerechtigkeit zu erkennen, sondern um ein gerechter Mensch zu werden. Die Ethik, nicht Selbstzweck, bleibt zwar eine theoretische Leistung; sie zählt jedoch nicht zum engeren Bereich der reinen Theorie. b. Das sittliche

Modell

Die theoretische Grundauffassung wird durch jenes Interpretationsmodell kritisiert, nach der das Wissen der Ethik mit dem sittlichen Wissen, der Klug-

5 6 7

Siehe die Anmerkung 12 im vorangehenden Kapitel. J. Walter, 5 4 8 f. Ebd., 551.

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heit, übereinstimmt. 8 Solcher Übereinstimmung wegen wird dieses Modell sittlich genannt. Daß die Ethik allgemeine Erkenntnis sucht - diese Einsicht des theoretischen Modells wird im sittlichen Modell anerkannt, jedoch anders beurteilt. Anders beurteilt wird vor allem aber jene Forderung des Aristoteles, die Erkenntnis der Ethik sei des sittlichen Handelns wegen da. Auf Grund dieser Forderung gilt die Ethik im theoretischen Modell als eingeschränkte Theorie, im sittlichen Modell, den theoretischen Disziplinen gegenüber, als eigene Art zu wissen. Die aristotelische Forderung besage, daß die Ethik durch Gesetze anordne, was zu tun und was zu lassen ist. Dieselbe Aufgabe, die Bestimmung des guten Handelns, hat auch die Klugheit. Beide, Klugheit und Ethik, bedeuten praktisches Erkennen. Da aber Aristoteles allein die Klugheit als praktisches Erkenntnisvermögen kennen soll, folgt für die Ethik ein Doppeltes: erstens ist sie keine theoretische Wissenschaft, sondern eine praktische; und zweitens wird der ganze Inhalt der Ethik und der Politik ausschließlich durch die Klugheit hervorgebracht. Die zweite Konsequenz, gesehen unter dem Aspekt politischer Klugheit, besagt, daß „Aristoteles genau das in der Nikomachischen Ethik behandelt, was der wahre praktische Staatsmann für sich zu erforschen und zu wissen hat für seine praktischen Zwecke und daß diese Ethik also gerade den Inhalt der praktischen Weisheit (φρόνησις) ausdrückt". 9 Nach dem sittlichen Modell entsteht die Ethik dadurch, daß man den allgemeinen Inhalt der Klugheit, gleichsam Durchschnittswerte praktischen Wissens, zu einer gesonderten Abhandlung zusammenfaßt. Auf diese Weise soll eine philosophische Sammlung allgemeiner Verhaltensvorschriften oder ein Buch philosophischer Lebensweisheit herauskommen. Dem theoretischen Modell gegenüber betont das sittliche Modell den Zusammenhang zwischen Ethik und Klugheit, zwischen dem philosophischen und dem sittlichen Wissen vom menschlichen Handeln. Beides sind praktische Erkenntnisweisen. Trotzdem besteht eine wesentliche Differenz. Im theoretischen Modell wird sie zu Recht, wenn auch überspitzt, erklärt; im sittlichen Modell wird sie gesehen, aber nicht hinreichend begriffen. Kommt man denn zu ethischer Erkenntnis durch bloße Klugheit? - Zweifellos können selbst von 8

9

Sie vertritt vor allem G. Teichmüller in seiner polemischen Entgegnung auf J. Walter: Neue Studien zur Geschichte der Begriffe, Bd. III: Die praktische Vernunft bei Aristoteles, Gotha 1879. Für das vorliegende Problem ist das 1. Kapitel („Die Ethik als philosophische Disziplin") entscheidend. Eine ähnliche Meinung wie G. Teichmüller vertreten unter den neueren Autoren Gauthier/Jolif, EN II 24 f. und W. F. R. Hardie, Aristotle's Ethical Theory, Oxford 1968, 31. G. Teichmüller, 30.

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einer generalisierenden Klugheit manche Aussagen nicht gemacht werden: die Untersuchung der ethischen Methode, der Begriff der Eudaimonie, die Bestimmung der Tugend als Mitte. Da diese „überschießenden Momente" auch im sittlichen Modell beobachtet werden,10 gesteht man zu, in der Nikomachischen Ethik handle es sich nicht bloß um philosophische Lebensweisheit. Diese Beobachtung wird sogar zum Ausgangspunkt einer Kritik, indes nicht einer Kritik der Aristoteles-Auslegung, sondern einer Kritik des aristotelischen Denkens. Bei dem Widerstreit des theoretischen und des sittlichen Modells fallt es auf, daß beide Parteien die Grundthese des Aristoteles, ethische Erkenntnis sei des Handelns wegen da, aufnehmen, während sie in der Beurteilung der These sich wechselseitig kritisieren, wobei jede der rivalisierenden Auffassungen in der eigenen Position wie auch in der Negation der Gegenposition Recht und Unrecht hat. Was ist der Grund dieser paradoxen Lage? - Gefragt wird, wie Aristoteles das philosophische Interesse seiner Ethik mit ihrem praktischen Interesse vereint. Die ausschließliche Form praktischen Wissens ist für beide Modelle die Klugheit, an der die Ethik gemessen wird. Im theoretischen Modell werden Ethik und Klugheit als entgegengesetzt, im sittlichen Modell als gleich behauptet. Dort wird das philosophische Interesse der Ethik betont, das praktische kritisiert, hier dagegen das praktische Interesse bekräftigt, das philosophische aber angefochten. Die Gegenposition wird kritisiert, ohne ihre Einsicht festzuhalten, so daß ein planer Widerspruch entsteht. Dem theoretischen Modell ist entgegenzuhalten, daß die aristotelische Ethik Philosophie ist, aber keine theoretische, und dem sittlichen Modell, daß ethisches und sittliches Wissen als Einheit und zugleich als Differenz gesetzt sind. Aristoteles denkt die Ethik im Spannungsfeld zweier Interessen; er denkt sie als eine philosophische Disziplin, die praktisch ist. Diese Spannung dialektisch durchzuhalten, ist das Ziel des ersten Teils der Arbeit. c. Das topische

Modell

Generell findet sich die Wissenschaft der Politik in einem Dilemma, im Dilemma von Gegenstand und wissenschaftlicher Methode. Wissenschaft läßt sich durch jenen Anspruch charakterisieren, der die theoretischen Disziplinen bestimmt, den Anspruch auf exakte Erkenntnis. Diesem Anspruch scheint sich der Gegenstand „Politik" zu versperren. Ist deshalb für die Politik wissenschaftliche Erkenntnis nicht möglich? Ist die Politik bloß eine

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G. Teichmüller, 355 f.

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Sache des Geschmacks oder willkürlicher Entscheidungen? - Um dieser Konsequenz zu entgehen, behauptet man, daß es keinen uniformen Begriff von Wissenschaft gebe, das Erkenntnisideal und die entsprechende Methode seien vielmehr dem Gegenstand gemäß zu entwickeln. Auf der Suche nach einer eigenständigen Wissenschaftlichkeit besinnt sich die Politikwissenschaft ihrer Herkunft aus der praktischen Philosophie und deren Grundlegung bei Aristoteles." Denn Aristoteles ist es, der im ersten Methodenabschnitt der Nikomachischen Ethik für Ethik und Politik eine besondere Art der Genauigkeit fordert, 12 um so den Gegensatz von praktischem Objekt und wissenschaftlicher Strenge aufzulösen. Die Politikwissenschaftler können sich darüber einigen, die aristotelische Forderung anzunehmen; über ihre Bedeutung dagegen sind sie sich uneinig. Daß der wissenschaftliche Anspruch aristotelischen Denkens gegenwärtig ein dringliches Problem ist, diese Tatsache entspringt also nicht allein beständigem philosophiegeschichtlichem Forschen, sondern sie entspringt zunächst und vor allem der methodischen Schwierigkeit einer Einzelwissenschaft. In der Auslegung der aristotelischen Forderung argumentiert die eine Seite, das topische Modell, 13 mit den Gegensatzpaaren notwendig-kontingent und exakt-wahrscheinlich. Die theoretische Wissenschaft gilt als exakt, weil ihr Gegenstand notwendig ist. Der praktische Gegenstand, das menschliche Handeln, kann sich einmal so und einmal anders verhalten; er ist nicht notwendig, sondern kontingent. - Hier liegt die grundlegende Einsicht des topischen Modells: Die praktische Philosophie des Aristoteles ist dem wirklichen Handeln in seiner Unterschiedlichkeit und Unbeständigkeit verpflichtet; sie will das

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Von methodischen Schwierigkeiten der Politikwissenschaft geleitet, setzen sich mit der praktischen Philosophie des Aristoteles auseinander: J. Habermas, „Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie", in: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied/Berlin 2 1967, 1 3 - 5 1 ; W . Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied/Berlin 1963; H. Kuhn, „Aristoteles und die Methode der politischen Wissenschaft", in: Zeitschrift für Politik N F 12 (1965) 1 0 1 - 1 2 0 .

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In diesem Methodenabschnitt ( N E I 1, 1094b 1 1 - 2 7 ) sagt Aristoteles: TÒ yàp άκριβίς ούχ ομοίως tv απασι τοις λ ό γ ο ι ς ίπιζητητέον (b 12 f.). Diese Stelle wird in Kapitel II la näher interpretiert. Für die Politikwissenschaft entfaltet die topische Auffassung W. Hennis. Weitere Vertreter dieser Auffassung sind G. Bien, „Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Piaton und Aristoteles", in: Philosophisches Jahrbuch 76 ( 1 9 6 8 / 6 9 ) 2 6 4 - 3 1 4 (299 f.); F. Dirlmeier, EE 183 f.; I. Düring, 4 6 7 f. Die topische Auffassung ist nicht neu. Vertreten haben sie schon A . Grant, N E I 425; J. Burnet, N E Einleitungskapitel VIII. Die folgende Darstellung schließt sich an W. Hennis an.

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Kontingente ernstnehmen. Deshalb entwickelt sie, unbeirrt vom Ideal theoretischer Wissenschaft, einen eigenständigen Erkenntnisanspruch. Denn das enthält der Begriff des Kontingenten: die Sache, das menschliche Handeln, läßt sich im vorhinein nicht eindeutig bestimmen. Positiv gewendet: die praktische Philosophie beginnt mit wahrscheinlichen Sätzen und zieht aus ihnen ihre Schlüsse. 14 Da aus wahrscheinlichen Sätzen nur wahrscheinliche Sätze folgen, beanspruchen die Erkenntnisse, so lautet die Grundthese, bloß wahrscheinliche Gültigkeit. Wenn man annimmt, wissenschaftliche Erkenntnisse gelten notwendig, dann folgt weiter, daß die praktische Philosophie zwar wissenschaftlich sein kann, jedoch nicht im strikten Sinn der theoretischen Philosophie; praktische Philosophie ist Wissenschaft geringerer Strenge. Gesetzt, Aristoteles kenne zwei wissenschaftliche Methoden, eine streng wissenschaftliche, die Apodeiktik, und eine weniger strenge, die Dialektik, so folgt schließlich, die spezifische Methode der praktischen Philosophie sei die Dialektik, die in der Topik untersucht wird; praktische Erkenntnisse sind daher dialektisch oder topisch. 15 Die Triftigkeit dieser Argumentation beruht auf der Voraussetzung, die praktische Philosophie ziehe aus wahrscheinlichen Sätzen ihre Schlüsse. Zugegeben: die aristotelische Ethik ist reich an sogenannten wahrscheinlichen Sätzen, an Sätzen, die allen, den meisten oder den Weisen wahr erscheinen, 16 und die Schlüsse, in denen solche Sätze vorkommen, nennt Aristoteles dialektisch. 17 Es bleibt aber darauf hinzuweisen, daß Aristoteles die wahrscheinlichen Sätze auf vielfältige Weise verwendet. 18 Am Beispiel der Ethik soll untersucht werden, welche Verwendung für die praktische Philosophie charakteristisch ist und ob aus diesen Sätzen Schlüsse gezogen werden. Die wahrscheinlichen Sätze der Nikomachischen Ethik haben drei Funktionen. Im einen Fall zeigen sie, daß die begrifflich entwickelten Thesen mit den herrschenden Meinungen übereinstimmen. 19 Solche Sätze sind für die streng

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16

17 18

19

W. Hennis, 93. Ebd., 109.

βνδοξα, von Aristoteles definiert als: tvδοξα Se τα δοκούντα ττάσιν ή τοϊς πΧβίστοις ή τοΐς σοψοις, και τούτοις η ττάσιν ή τοις πΧίίστοις η τοις μάλιστα γνωρίμοις, και ίνδόξοις. (Top. I 1, 1000 21-23) διαλεκτικός δε συλλογισμός ό έξ ένδοξων συλλογισμένος. (Top. I 1, 100a 29 f.) Vgl. Top. I 2, wo Aristoteles über den vielfältigen Nutzen seiner Abhandlung spricht. Das Kapitel I 8 der NE ist ein „Musterbeispiel" für diese Funktion. In den vorangehenden Kapiteln hat Aristoteles seine These vom Glück systematisch vorgetragen; nun belegt er sie durch den herrschenden Sprachgebrauch (1098b 10 f.), den er in

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wissenschaftliche Argumentation kein Ersatz, sondern ein Zusatz zu ihr. Das dialektische Denken ist nicht das primäre, sondern ein nicht unbedeutendes, aber sekundäres Kriterium der Wahrheit. Sich der Übereinstimmung mit den herrschenden Vorstellungen zu versichern, charakterisiert ferner nicht allein die praktische Philosophie des Aristoteles, sondern überhaupt sein ganzes Denken. Wahrscheinliche Sätze trifft man deshalb auch in den theoretischen Werken an. 20 Mit wahrscheinlichen Sätzen verfolgt Aristoteles die weitere Absicht, das Gewicht und die Schwierigkeit seiner Probleme klarzulegen. 21 Nach dem topischen Modell gilt diese Funktion für die praktische Philosophie als charakteristisch. 22 - Aristoteles wendet nicht weniger Mühe auf, die Wichtigkeit und die Eigenart seiner Fragen zu entwickeln, als diese Fragen zu beantworten. 2 3 Wenn aber die praktische Philosophie insgesamt topisch denken soll, so wäre in dem bloßen Suchen und Fragen ihre Wissenschaftlichkeit zu erblicken. Ist Aristoteles aber bloß ein Problemdenker? Will seine praktische Philosophie Fragen ausschließlich stellen und nicht auch beantworten, Aufgaben immer differenzierter und präziser sehen und nicht auch lösen? - Die Probleme zu erkennen, ist eine wesentliche Aufgabe des Philosophien, aber nicht seine ausschließliche. Das angemessene Problembewußtsein zu gewinnen, diese zweite Funktion der Dialektik, ist zudem nicht weniger unspezifisch für die Ethik als die erste. Es ist eine Aufgabe, die die Dialektik für jede Wissenschaft erfüllt. 24 Das topische Modell sieht in der Dialektik die spezifische Logik der praktischen Philosophie, die spezifische der theoretischen Philosophie in der Apodeiktik. Durch diese These wird das Verhältnis von Dialektik und Apodeiktik mißverstanden. Dialektik und Apodeiktik sind nicht zwei alternative Logiken,

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24

der philosophischen Tradition (b 1 6 - 1 8 ) oder in allgemeinen Vorstellungen (b 2 0 - 2 2 ) auffindet. S o Met. I 3 - 7 . Siehe den 1. Teil des Kapitels I 11 (EN). Ebd., 93. Ein äußerer Hinweis: Auf die Einleitungsfrage des Kap. I 11 folgt eine dialektische Diskussion (1100a 1 1 - b 7) und schließlich ihre wissenschaftliche Lösung (b 7 - 1 7 ; die Gliederung folgt den Kapitelüberschriften in der Übersetzung von Gauthier/Jolif, 2 2 - 2 4 ) . Dabei ist die Entfaltung des Problems etwa dreimal so lang wie seine Lösung. Ein Beispiel aus einer theoretischen Abhandlung ist das Buch III der Metaphysik, auch Problembuch genannt. Das methodische Prinzip, als erstes alle Schwierigkeiten zu überlegen, spricht es zu Beginn aus (Met. Β 1, 995a 2 4 f.).

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Gebietslogiken vergleichbar, denen jeweils ein Teil der Philosophie zuzuordnen ist; es sind nicht zwei verschiedene Logiken, sondern zunächst nur zwei verschiedene Aspekte des Beweisens. Analysiert wird die Dialektik in der Topik, die Apodeiktik in den Zweiten Analytiken. Die Topik reflektiert die Bedingungen der kunstmäßig geführten Disputation. 25 Sie ist der Inbegriff jener Regeln, durch die man wissenschaftliche Streitgespräche gewinnt. Die Zweiten Analytiken dagegen reflektieren die wissenschaftliche Darstellung einer Sache. 26 Sie enthalten die Idee eines deduktiven Systems formal und material notwendiger Sätze. Zu einer vorgelegten These sucht der Dialektiker jene Prämissen, die die These - j e nach dem Ziel - widerlegen oder beweisen; er sucht zu einem gewünschten Ergebnis die geeigneten Voraussetzungen. Wenn man in der Topik eine wissenschaftliche Methode sucht, so ist es die Methode der Heuristik, der Heuristik jeder Wissenschaft aber und nicht nur der praktischen. 27 Die Apodeiktik lehrt, aus evidenten Prämissen Konklusionen zu ziehen. Sie will schon gewonnene Ergebnisse wissenschaftlich beweisen, sie will stringentes Wissen vermitteln; ein Ziel, das sie für jede Wissenschaft, nicht nur für die theoretische, erfüllt. Daher findet sich die apodeiktische Methode auch in der Nikomachischen Ethik2* Daß sie nur selten verwandt wird, 29 ist nicht erstaunlich; denn Aristoteles will in all seinen Schriften eher Probleme lösen als schon gefundene Lösungen darstellen. Neben den beiden allgemeinen Aufgaben wahrscheinlicher Sätze findet sich in der Nikomachischen Ethik eine dritte Aufgabe, die für die praktische Philosophie spezifisch ist. Das unterscheidet nämlich die praktische Philosophie von der theoretischen, daß jene Urteile über Sittlichkeit, die man im allgemeinen für wahr hält, mit zum ethischen Gegenstand gehören. Sie bedeuten nicht bloß ein ethisch indifferentes Mittel, um das Problem und den gegenwärtigen Stand 25

Top. I 1, 100a 18-21; vgl. E. Kapp, Art. „Syllogistik", in: RE IV A, Sp. 1 0 4 6 - 1 0 6 7 (Stuttgart 1931); E. Weil, „La place de la logique dans la pensée aristotélicienne", in: Revue de Métaphysique et de Morale 56 (1951) 2 8 3 - 3 1 5 ; I. Düring, 5 5 - 5 6 und 6 9 - 8 7 .

26

An. post. I 1., 2. I. Düring, 5 8 - 5 9 und 9 2 - 1 0 9 und W. D. Ross' kommentierte Ausgabe der Analytiken: Aristotle's Prior and Posterior Analytics. A Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 3 1965.

27

Vgl. Top. 1 2, 101b 3 f.: έξεταστικη yàp οίισα προς τάς ανασών των μεθόδων άρχάς òbòv ϊχβι (Die Dialektik ist eine Kunst der Erfindung, und darum beherrscht sie den Weg zu den Prinzipien aller Wissenschaften; Übers. E. Rolfes.) Ζ. B. in der kritischen Untersuchung der platonischen Ideenlehre im Kap. I 4 oder in VI 5, 1140a 3 3 - b 4 (eine verkürzte Schlußkette). Vgl. I. Düring, 91.

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32

der philosophischen Diskussion zu erkennen, sondern sie bedeuten einen Teil des ethischen Problems selbst;30 sie artikulieren die menschliche Lebenserfahrung, und einen anderen Gegenstand als das, was der Mensch im sittlichen Leben erfahren kann, hat die Ethik nicht. Als Element des Gegenstandes sind die wahrscheinlichen Sätze aber nicht die Obersätze von Schlüssen; vielmehr gehören sie zum Erfahrungsmaterial, das die Ethik in aller wissenschaftlichen Strenge analysiert. Analyse und Schluß (gleich ob dialektischer oder apodeiktischer Schluß) sind methodisch auseinanderzuhalten. In einem Schluß wird aus zwei sittlichen Urteilen ein drittes gebildet. Daher stehen die Folgesätze auf demselben theoretischen Niveau wie die Ausgangssätze; es handelt sich ausschließlich um sittliche Urteile. In der Analyse hingegen beginnt die Erkenntnis beim sittlichen Wissen und geht von dieser Reflexionsstufe zu einer höheren; sie geht von Urteilen, die die Sittlichkeit noch relativ undifferenziert erfassen, zu Urteilen, die die Elemente und Prinzipien begreifen.31 Ausgangspunkt und Weg der Analyse sind unterschieden, dort handelt es sich um sittliche, hier um ethische Urteile. - Gegen die topische Interpretation bleibt einzuwenden: das Problem dialektisch zu entfalten ist eine Aufgabe ethischer Erkenntnis, es analytisch zu lösen ihre andere. d. Das statistische

Modell

Der Ausdruck „Wahrscheinlichkeit" ist ein mehrdeutiger Ausdruck. Diese Mehrdeutigkeit unterschlagen und jene Deutung, die für die praktische Philosophie zutrifft, nicht präzisiert zu haben, diese Unterlassung des topischen Modells kritisiert eine Auffassung, die man als „statistisch" bezeichnen kann.32 Sie selbst unterscheidet zwischen subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit, zwischen „verisimilitudo" und „probabilitas". Subjektive Wahrscheinlichkeit bedeutet, daß der Urteilende sich seiner Sache nicht ganz gewiß ist, es 30

31

32

S o beginnt die Untersuchung der Gerechtigkeit mit der gängigen Vorstellung über sie (V 1, 1129a 6 - 1 1 ) . Die analytische Methode, die Aristoteles im Einleitungskapitel der Physikvorlesung entwickelt (Phys. I 1, 184a 16 f f . ) , nimmt er im 2. Methodenexkurs der N E stichwortartig auf ( N E I 2, 1095b 2 - 4 ) . Siehe unten, Kap. I 3a. Auf diese Weise wird W. Hennis von H. Kuhn kritisiert („Aristoteles und die Methode der politischen Wissenschaft"). Die statistische Auffassung vertreten ferner: J. A. Stewart, I 27; O. Gigon, N E 309; H. H. Joachim, N E 15, 2 3 - 2 6 ; mit Kritik an J. Burnet vertreten sie W. F. R. Hardie, 32 und schon F. Susemihl in seiner Rezension von Burnet in: Berliner philologische Wochenschrift 2 0 (1900) 1 5 0 5 - 1 5 1 3 (1510).

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mangelt ihm an vollständiger Klarheit. In der objektiven Wahrscheinlichkeit ist die Gewißheit vollkommen gegeben; der Gegenstand der Gewißheit, der behauptete Sachverhalt, trifft aber nicht immer z u . " So gesehen fehlt jeder dialektischen Erkenntnis die vollständige Gewißheit. Sie geht nicht - wie das apodeiktische Wissen - von Sätzen aus, die in sich selbst glaubhaft sind, sondern von solchen, die andere als wahr glauben. 34 Wenn die Philosophie aber wissenschaftlich sein will, beansprucht sie Erkenntnisse, die gewiß sind. Nach der topischen Auffassung müßte die praktische Philosophie aber wissenschaftlich sein will, beansprucht sie Erkenntnisse, die gewiß sind. Nach der topischen Auffassung müßte die praktische Philosophie auf diesen Anspruch verzichten. Demgegenüber behauptet die statistische Auffassung, die praktische Philosophie sei streng wissenschaftlich und doch wahrscheinlich; wahrscheinlich aber nicht im subjektiven, sondern im objektiven Sinn. Da in der persönlichen Erfahrung konkreten Handelns Ausnahmen von den allgemeinen Erfahrungen nicht ausgeschlossen sind, gelten ethische Urteile meistens, aber nicht immer. Ihre Wahrscheinlichkeit entspricht statistischer Häufigkeit. Daß der Gegenstand der praktischen Philosophie unbeständig ist, darin liegt die grundlegende Einsicht des statistischen Modells. Das tatsächliche Handeln ist von so vielen und verschiedenen Faktoren der Situation, der Disposition und Zielsetzung abhängig, daß jedes allgemeine Urteil mehrere Faktoren nicht berücksichtigt. Es trifft das Handeln, wie es sich im allgemeinen abspielt, nicht aber jeden Einzelfall. Aussagen über das Handeln sind also notwendig begrenzt, begrenzt jedoch nicht in ihrer Gewißheit, sondern in ihrer allgemeinen Gültigkeit. Die Wissenschaft der praktischen Philosophie, die das topische Modell auf subjektive Wahrscheinlichkeit verkürzt, wertet das statistische Modell auf. Die Grundthese des topischen Modells, die ethische Erkenntnis gelte nicht notwendig, sondern wahrscheinlich, wird jedoch übernommen. Trifft es aber zu, daß Aristoteles in seiner Ethik keine notwendigen Aussagen macht? - Im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik bestimmt Aristoteles das Wesen der Tugend als Mitte, 35 und eine Wesensbestimmung ist von der konkreten Erfahrung der Tugend unabhängig; sie gilt ohne jede Ausnahme.

33 34 35

Vgl. H. Kuhn 1965, 107. Diesen Gegensatz expliziert Aristoteles in Top. I 1, 100a 2 7 / 1 0 0 b 23. διό κατά μεν την ούσίαν καί τον Xóyov τον το τί ην είναι Xéyovrα μεσάτης αρετή (II 6, 1107a 6 f.).

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εστίν ή

Die wahrscheinlichen Sätze der aristotelischen Ethik bedeuten nicht die philosophische Erkenntnis selbst, sondern das zu erkennende Material. Die praktische Philosophie wird aber nicht nur von ihrem Material bestimmt. Aristoteles denkt die Ethik im Spannungsfeld zweier Pole, in der Spannung zwischen der Besonderheit des praktischen Materials und der Eigengesetzlichkeit wissenschaftlicher Philosophie. Das topische und das statistische Modell polemisieren beide gegen die Vorherrschaft theoretischer Wissenschaften und ihres Primates der Exaktheit. Aristoteles folgend postulieren sie, die Genauigkeit einer Wissenschaft hänge von ihrem Gegenstand ab. Dieses Postulat interpretieren sie jedoch, ohne die gleichzeitige Forderung nach gewisser und ausnahmsloser Erkenntnis zu berücksichtigen. - Wie sich nach Aristoteles das eine mit dem anderen verbinden läßt, soll im zweiten Teil der Arbeit untersucht werden.

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TEIL I Die Ethik als praktische Philosophie

1. Der Gegenstand der Ethik: Sittliches Handeln

a. Vernünftiges

Streben

Für jede menschliche Tätigkeit, handle es sich um Kunst oder Lehre, um eine Handlung oder um einen Entschluß, ist es eigentümlich, nach etwas auszulangen; und das, worum willen man auslangt, heißt das Gute.1 Diese Einleitungsworte der Nikomachischen Ethik sind ein zupackender, eminent philosophischer Anfang. Ohne ein Vorwort ist Aristoteles gleich mitten in der Sache. Er zählt Grundformen menschlichen Tätigseins auf und stellt sie in einem gemeinsamen Strukturmodell dar, in einem Grundmodell menschlichen Handelns. Handwerkliche und künstlerische, wissenschaftliche und politische Tätigkeit werden von zwei Kategorien her, vom „Guten" und vom „Auslangen nach ..." verstanden. 2 (Das „Auslangen nach ..." benennt hier unterminologisch, was Aristoteles sonst mit dem Fachausdruck „Streben" bezeichnet.)3 Das menschliche Streben ist ganz allgemein gesprochen die Bewegung um willen von etwas. „Um etwas willen sich bewegen" ist aber Aristoteles' Modell für jede Art von Naturgeschehen; es ist ein Modell, das Aristoteles seinen naturphilosophischen Untersuchungen zugrundelegt und vor allem im Buche Lambda der Metaphysik und in den Büchern Alpha und Beta der Physikvorlesung erörtert. 4 Für uns ist es sehr ungewohnt, das menschliche Tun und die 1

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NE I 1, 1094a 1-3. Die Paraphrase schließt sich an die Übersetzung von Gigon, 55 an. ά-γαθοϋ τινός έφίεσθοα. δρβξις (vgl. I 2, 1095a 14 f.). Dort wiederholt Aristoteles die einleitende Bestimmung des Guten und verwendet statt des Verbs ίφίβσθαι das Verb òpéyec6aι. In den genannten Büchern untersucht Aristoteles die Bewegung (κίνησις) bzw. die Veränderung (μεταβολή) auf ihre Ursachen (αιτία) hin. Von den vier Ursachen, die er nennt: Stoff (ϋλη), Form (έΐδος), Bewegendes (το κίνησαν), Worumwillen (το ου ëvexa) (ζ. Β. Phys. Il 7, 198a 23 f.) ist für die Ethik das Worumwillen entscheidend; seine Bedeutung für die Naturforschung prüft Aristoteles in Phys. II 8. Zur aristoteli-

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Prozesse in der Natur nach demselben Modell zu erklären; denn Kant hat gelehrt, die Naturbegriffe dem Freiheitsbegriff gerade entgegenzustellen. 5 Aber Aristoteles tritt, anders als die neuzeitlichen Ethiker, der Moral viel unbefangener gegenüber; die Nikomachische Ethik beginnt er mit einer Art Naturbeschreibung oder besser Naturerklärung des menschlichen Handelns. Die eine Kategorie für menschliches Handeln, das Gute, ist ein längst vertrauter Grundbegriff der Ethik. Doch auch solche Begriffe, die eine hinreichende Bekanntheit vortäuschen und deshalb wie selbstverständlich gebraucht werden, sind philosophisch zu erläutern. - Aristoteles nennt das Gute „das, wonach alles strebt". 6 Diese Bestimmung ist nicht empirisch oder metaphysisch zu verstehen. Sie stellt nicht die wenig glaubwürdige These auf, alle Menschen seien faktisch auf das Gute aus, noch behauptet sie, alles Seiende oder der Mensch als Mensch strebe nach dem Guten. Der Begriff des Guten ist mehr formal als ein Implikat des Begriffs vom Streben aufzufassen. Das Gute bezeichnet jenes Zielmoment im Streben, um dessentwillen das Streben geschieht und in dem es sich vollendet. Es nennt, vom Begriff der Bewegung her gedacht, jenes Moment, das etwas in Bewegung setzt, ohne selbst bewegt zu sein; es ist kosmologisch das unbewegt Bewegende. 7 Eine Tätigkeit kann ihr Ziel erreichen, es verfehlen oder hinter ihm zurückbleiben. Der Begriff des Guten bezeichnet nicht empirisch das faktische Ende eines Tuns, sondern begrifflich jenes Ende, zu dem ein Tun bestimmt ist; es bezeichnet das Ziel als den Zweck. Das Gute ist die Qualität des gelungenen Tuns oder des erfüllten Zwecks. Wenn man das Gute als das Umwillen einer Bewegung versteht, dann hat der Begriff des Guten keinen Sinn, ohne die Bewegung mitzudenken, die nach diesem Guten auslangt. Der ethische Gegenstand ist nicht dinghaft vorzustellen wie Steine für die Geologie oder wie Pflanzen für die Botanik; überhaupt ist

Frankfurt a . M . 3 1964, Kap. II sehen Theorie der Natur vgl. W. Bröcker, Aristoteles, und die dritte Retraktation; W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962; und die Kommentare zur Physik von Ross und Wagner, zur Metaphysik von Ross. 5 6 7

Kritik der Urteilskraft, Einleitung, 2 1793, XI f. τά-γαθόν, ου ττάντ' ίφίβται (1094a 3). So sagt es Aristoteles ausdrücklich in De an., in der Untersuchung über das Strebevermögen (III 9 - 1 1 ) . Dort nennt Aristoteles das Streben eine Bewegung (ή δρεξις κίνησίς eoTiv) und das praktisch Gute (το τρακτον àya6ôv) das Bewegende (το κινούν), das selbst unbewegt ist (το άκίνητον) (III 10, 433b 1 3 - 1 8 ) . Vgl. den Kommentar von Ross, D e an. 3 1 4 - 3 1 8 .

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er nicht ein substantialer, sondern ein relationaler Gegenstand. Das Gute ist eine Funktion des Strebens wie umgekehrt das Streben eine Funktion des Guten ist; beide Begriffe können nur im Verhältnis zueinander bestimmt werden. Von vornherein ist der Gegenstand der aristotelischen Ethik daher verfehlt, wenn er als eine objektivierbare Norm oder als ein an-sich-seiender Wert gedacht wird.8 Um vom sprachlichen Befund auszugehen: ein Gutes wird erstrebt; ein Wert wird verwirklicht. Im Begriff des Wertes wird gleichsam ein vorgefertigtes Gutes angenommen, das durch ein Handeln mehr oder weniger approximativ erreicht wird. Durch den Begriff „Wert" wird das Ziel menschlicher Tätigkeit zu einem „idealen Sein", einem theoretischen Gegenstand objektiviert, und die Philosophie der Werte, die Ethik, wird mit den modernen Naturwissenschaften vergleichbar. Der Wert ist ein äußerer, das Gute dagegen ein innerer Maßstab des Strebens. Wert- und Strebensethik enthalten zwei verschiedene, einander nicht ergänzende, sondern ausschließende Modelle menschlichen Handelns. Im Begriff eines inneren Maßstabs des Strebens ist das Was und das Wie des Strebens nicht mitgedacht. Um den aristotelischen Begriff zu verstehen, sind alle gehaltlichen und formalen Vorstellungen von Gutsein aufzugeben. Aufzugeben ist vor allem auch die Vorstellung, der Begriff des Guten nenne eine spezifisch moralische Qualität. Denn nicht nur das Handeln oder Entscheiden, sondern auch jede Art von manueller und geistiger Tätigkeit strebt nach einem Guten.9 Weiterhin verbirgt sich im Begriff des Guten eine Zweideutigkeit. In seiner Struktur ist zunächst kein Unterschied gemacht, ob das Erstrebte bloß faktisch oder aber sinnvollerweise begehrt wird; gut ist sowohl das, was gut erscheint als auch das, was wahrhaft gut ist.10 Zudem gilt der Begriff des Guten für jede Art von Bewegung, die vom Zweck her erklärt wird. Nach Aristoteles gibt es ein Gutes nicht nur für die Tätigkeit des Menschen, sondern auch für die des Fisches.11 Erst eine Differenzierung im Begriff des Guten erklärt das Spezifische. Noch nicht im Einleitungskapitel, aber zu Beginn des zweiten Buches der 8

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S o gelegentlich in der Übersetzung von F. Dirlmeier (II 2, 1103b 2 6 - 2 8 ; VI 5, 1140a 2 6 u. a.). Überhaupt läßt sich Dirlmeier in seiner Übersetzung stark von Philosophemen N . Hartmanns beeinflussen. Auch Gauthier/Jolif sprechen in ihrem Kommentar zur E N von Wert (valeur) (u. a. II 7; 210). 1094a 1 f. Vgl. Phys. II 3, 195a 25 f.: διαφ^ρέτω δϊ μηδϊν ί'ιτβίν αυτό ά-γαθόν ή φαινόμβι>ον àyαθόν. (Auch Wagner [40] übersetzt an dieser Stelle ά-γαθόν mit „Wert"!) VI 7, 1141a 2 2 f.

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Nikomachischen Ethik zeigt Aristoteles, daß die Ziele des menschlichen Strebens nicht von vornherein feststehen. 12 Die Ziele bestimmt nämlich die ethische Tugend, 13 und diese bildet sich nicht von Natur aus, sondern durch Gewöhnung. 14 Der Mensch erstrebt nicht instinktiv das, was wahrhaft gut ist, sondern er muß erst lernen, nicht immer seiner augenblicklichen Neigung, sondern dem zu folgen, was sinnvollerweise begehrenswert ist. So muß er lernen, in einer Gefahrensituation tapfer auszuharren und nicht unwillkürlich zurückzuschrecken oder blind vorzuprellen. Der Mensch hat die Möglichkeit zu beidem, zu gutem und zu schlechtem Streben, und was er tatsächlich erstrebt, hängt von seinem erlernten und zur Gewohnheit gewordenen Verhalten ab. Dieser Lern- und Bildungsprozeß heißt Gewöhnung. Die Gewöhnung bildet sich durch wiederholtes Tun gleicher Art; durch häufiges Tapfersein wird man tapfer.' 5 Die menschlichen Antriebe, von Natur aus nicht festgelegt, werden durch Einüben in gutes Handeln auf das Gute fixiert. Menschliches Streben unterliegt keiner Naturgesetzlichkeit, sondern dieser Form von „Selbstgesetzlichkeit". Während jeder Stein nicht anders als nach unten fallen kann, vermag bei gleichen Ausgangsbedingungen der eine Mensch dies und der andere jenes zu erstreben. 16 Verglichen mit Naturprozessen ist menschliches Streben beweglicher, offener. Gegen das menschliche Handeln ist auch die andere Grundkategorie des aristotelischen Strukturmodells indifferent, die Kategorie des Strebens. Streben heißt bei Aristoteles allgemein jede Bewegung, die ohne Gewalt geschieht, 17 jede Bewegung also, die spontan anfangt. 18 - Wer etwas erstrebt, verfolgt durch die entsprechenden Mittel und Wege ein Ziel. Diese Struktur trifft für jedes Lebewesen zu; 19 für den Menschen ist allein die Art und Weise, wie er die

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II 1. àperr) ηθική (vgl. VI 13, 1145a 4 - 6 ) ; die nähere Analyse der Zielbestimmung findet sich unten, Kap. II 2c.

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φύσίί-βξ ϊθους.

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II 1, 1103a 26 ff. a 18-26.

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oWtv yàp μη öpeyößevov ή tpevyov κινάται ά λ λ ' ή ßiq:. (Denn nichts bewegt sich, ohne zu streben und zu meiden, es sei denn durch Gewalt.) D e an. III 9, 4 3 2 b 16 f. (Übers. Theiler, 64). Vgl. die Definition dessen, was bei Aristoteles vornehmlich Natur heißt: ή -πρώτη φύσις και κυρίως Xeyoßeurj ίστίν ή των ίχόντων αρχήν κινήσεως ϊν αΰτοίς ή αυτά.

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(Met. V 4, 1015a 1 3 - 1 5 ) S o gilt die Untersuchung des Strebevermögens in D e an. III 9 - 1 1 für Lebewesen überhaupt (τά und nicht allein für den Menschen.

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Mittel und Wege findet, spezifisch; spezifisch menschlich ist ihre Bestimmung durch die Vernunft. 20 (Darin liegt die unbefangene, den kantischen Dualismus vermeidende Denkart des Aristoteles: sie erklärt das sittliche Tun nicht als etwas ganz eigenes, sondern durch Gattung [Gutes; Streben] und spezifische Differenz [aus Gewohnheit; nach Vernunft]). Die vernünftige Überlegung der Mittel ist durch eine Strukturkomplikation menschlichen Strebens möglich. In der Untersuchung der menschlichen Seele (.Ethica Nicomachea I 13) unterscheidet Aristoteles drei Momente: ein vernunftloses, ein in sich selbst vernünftiges Moment und jenes Vermittlungsmoment, das nicht in sich selbst vernünftig ist, aber in Bezug zur Vernunft steht,21 indem es auf sie hören und ihr gehorchen oder widersprechen kann. 22 Das vernunftlose Moment, die Ursache von Ernährung und Wachstum, 23 ist für das sittliche Handeln unwesentlich. So bleiben zwei Momente: der rein vernünftige Teil der Seele und jener nicht vernünftige und zugleich vernünftige Teil, der die spontanen Gefühle und Empfindungen des Menschen hervorruft und durch einen Lernprozeß auf das Gute zu fixieren ist; der ζ. B. in einer Gefahrensituation unwillkürlich zurückschrecken, blind vorprellen oder tapfer ausharren läßt. Von diesen Neigungen kann die Vernunft sich nicht suspendieren; sie steht aber in Distanz zu ihnen und kann sie aus dieser Distanz leiten. - Aristoteles erläutert die Vernünftigkeit menschlichen Strebens durch eine Analogie; er vergleicht das Streben mit einem Kind, das seinem Vater, der Vernunft, gehorcht. 24 Während nach dieser Analogie der Vater in sich selbst vernünftig ist, ist es das Kind nur, sofern es der Leitung seines Vaters folgt. Aristoteles klammert das naturale Streben im Menschen, die Neigung, nicht etwa aus, sondern setzt sie als konstitutiv für sittliches Handeln an. Die Aufgabe der Vernunft ist es, Impulse zu lenken. Die Impulse selbst, den Drang und die Energie zum Handeln, muß sie sich geben lassen. Die Neigung wird durch die Vernunft nicht unterdrückt, sondern geleitet; sie ist wie eine Klaviatur, auf der der Handelnde sinnvoll spielt. - Da das Streben ein Ziel durch die entsprechenden Mittel verfolgt, die Ziele nach Aristoteles durch die Gewöhnung festgelegt werden, beschränkt sich die Aufgabe der Vernunft auf die 20 21

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κατά Xóyov. το äXoyov, το Xóyou "f-χον - ά λ ο γ ο ς , μετέχουσα μίντοι τη Xóyov. Zur Untersuchung der Seele ( N E I 13) siehe die Kommentare von Gauthier/Jolif, 9 3 - 1 0 0 und von Joachim, 6 2 - 7 1 . 1102b 3 0 ff. 1102a 32 f. 1 103a 1 - 3 .

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Ü b e r l e g u n g d e r M i t t e l ; w e m d i e s e Ü b e r l e g u n g z u r H a l t u n g g e w o r d e n ist, d e n n e n n t A r i s t o t e l e s klug. 2 5 D i e z u m sittlichen H a n d e l n g e h ö r e n d e B e s t i m m u n g d e s e i g e n e n H a n d e l n s d u r c h d i e V e r n u n f t ist n a c h A r i s t o t e l e s nicht v o l l s t ä n d i g , sondern nur partiell. D e r M e n s c h d i s t a n z i e r t sich v o n s e i n e r a u g e n b l i c k l i c h e n N e i g u n g nicht n o t w e n d i g . E s ist i h m nicht v o n N a t u r aus g e g e b e n , n u r d a s w a h r h a f t G u t e zu e r s t r e b e n u n d d i e s e s Ziel v e r n u n f t g e m ä ß zu v e r f o l g e n . D a s u n t e r s c h e i d e t d e n M e n s c h e n v o n allen a n d e r e n W e s e n , d a ß e r z w e i g r u n d v e r s c h i e d e n e V e r h a l t e n s w e i s e n k e n n t : ein S t r e b e n , d a s sich in s e i n e n Z i e l e n d u r c h G e w ö h n u n g u n d in seinen M i t t e l n d u r c h V e r n u n f t b e s t i m m e n läßt; 2 6 u n d ein a n d e r e s , d a s sich d e m widersetzt, weil es grundsätzlich d e n augenblicklichen Leidenschaften und E i n f a l l e n f o l g t . 2 7 J e n e s ist d a s g u t e o d e r sittliche H a n d e l n , d i e s e s d a s s c h l e c h te o d e r u n s i t t l i c h e . B e i m u n s i t t l i c h e n H a n d e l n hat sich d e r M e n s c h nicht selbst in d e r H a n d . E r ist d e n s p o n t a n e n G e f ü h l e n p r e i s g e g e b e n , g l e i c h s a m ein Spielball s e i n e r m o m e n t a n e n Begierden. Unsittlich handeln heißt, orientierungslos handeln; sittlich h a n d e l n d a g e g e n h e i ß t , d i e N e i g u n g d u r c h G e w ö h n u n g u n d V e r n u n f t leiten. W e n n im S t r e b e n ein g e g e b e n e s Ziel v e r f o l g t w i r d , so sind d i e Z i e l e als ein F a k t u m angesetzt; j e d e s F a k t u m aber läßt sich philosophisch hinterfragen. Hier liegt die G r e n z e d e r a r i s t o t e l i s c h e n R e f l e x i o n : Z i e l e sind nicht b l o ß zu v e r f o l g e n , s o n d e r n a u c h u n d a l l e r e r s t zu setzen. D i e V e r n u n f t o r d n e t nicht b l o ß d i e v o r h a n d e n e n N e i g u n g e n : sie k a n n a u c h b e s t i m m e n , w a s ü b e r h a u p t zu o r d n e n ist. D i e s e A u f g a b e d e n k t K a n t im B e g r i f f eines W i l l e n s , d e r a u t o n o m ist. D e r a u t o n o m e W i l l e , d i e k a n t i s c h e B e s t i m m u n g d e r p r a k t i s c h e n V e r n u n f t , legt nicht d e n W e g d e s S t r e b e n s f e s t , s o n d e r n d e s s e n Z i e l ; d a s S t r e b e n hat ein Z i e l , d e r W i l l e setzt es. D i e V e r n u n f t k a n n d a s m e n s c h l i c h e H a n d e l n n i c h t n u r partiell b e s t i m m e n ; im neuzeitlichen D e n k e n b e s t i m m t sie es vielmehr uneingeschränkt.28

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φρόνιμος. Näher untersucht wird die vernünftige Überlegung der Mittel unten im Kap. II 2b. κατά λόγov τάς ορέξεις τοιουμένοις και τράττουσι (I 1, 1095a 10). κατά -πάθος ζην και διώκίΐρ ΐκαστα. (1095a 8) Die Struktur dieses Verhaltens erklärt Aristoteles anschaulich als ein Bekämpfen der Vernunft und als ein „sich ihr Entgegenspannen" (I 13, 1102b 17 f.). In der Kritik der praktischen Vernunft stellt Kant einleitend die Frage: „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange" ( Ί 7 8 8 , 30). Die Möglichkeit einer solchen reinen Vernunftsbestimmung, so zeigt es Kant in der Analytik der reinen praktischen Vernunft, ist „ein Wille, dem die bloße gesetzgeben-

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Beurteilt man Aristoteles von Kants Kritik der praktischen Vernunft aus, so erscheint das Moment des Willens auf ein Minimum reduziert auf das Annehmen oder Ablehnen des entgegentretenden Zieles. Kants Reflexion ist, von Aristoteles aus beurteilt, aber nicht weniger unvollständig; denn die Momente der Energie des Handelns und des überlegten und zielstrebigen Verfolgens des gesetzten Ziels sind vernachlässigt. Kants Kritik der praktischen Vernunft interessiert sich allein für die unbedingte Verbindlichkeit des Handelns, die Moralität. Strebens- und Willensethik sind zwei Modelle, die je einen Aspekt menschlichen Handelns reflektieren; diese das Setzen, jene das Verfolgen von Zielen. Ein vollständiges Modell menschlichen Handelns ergibt sich erst aus beiden Modellen. Kantische und aristotelische Ethik sind in dieser Hinsicht nicht konkurrierende, sondern korrespondierende Ethiken. Aristoteles und Kant gegeneinander auszuspielen, dem einen oder dem anderen einen Mangel an Reflexion vorzuwerfen, führt kaum weiter. Sinnvoll dagegen ist es, beide Ethiken aneinander zu messen, die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Interessen zu erkennen und ein Modell menschlichen Handelns zu suchen, das in der Vermittlung von Strebens- und Willensethik beide Interessen vereint. b. Das freie

Tätigsein

Der Mensch kennt verschiedene Tätigkeiten, und jede dieser Tätigkeiten hat ein anderes Ziel. So strebt die Medizin nach Gesundheit, die Kriegskunst nach dem Sieg und die Wirtschaftsführung nach Wohlstand.29 Diese Tätigkeiten stehen aber nicht isoliert nebeneinander; vielmehr dient eine der anderen, wie das Sattlerhandwerk der Reitkunst, die Reitkunst aber und überhaupt das ganze Kriegswesen der Feldherrnkunst. 30 Das Ziel der leitenden Tätigkeit ist nun in einem höheren Maße Ziel als der der untergeordneten;31 der Begriff des Ziels ist zu dynamisieren. Der Sattel bedeutet für den Sattler ein Ziel, für den Reiter dagegen ein Mittel, das Reiten aber ist selbst nur ein Mittel, um den Feind zu besiegen. Warum aber will man den Feind besiegen? - Die Frage nach dem Ziel der jeweils höheren Tätigkeit stellt sich immer wieder neu, bis schließlich jenes letzte Ziel gefunden ist, das um seiner selbst willen erstrebt

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de Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann" (51 f.). Das ist ein freier oder autonomer Wille. I 1, 1094a 6 - 9 (Übers. Dirlmeier, 5). Vgl. 1097a 1 5 - 1 8 . 1094a 1 0 - 1 3 . Aristoteles spricht von wählenswerter (uiperdTtpa) (a 15).

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wird und um dessentwillen man alles andere erstrebt. 32 In der Frage nach diesem unbedingten Ziel, das selbst alle anderen Ziele bedingt, 33 denkt Aristoteles das Modell zielgerichteten Strebens immanent zu Ende. 34 Zwei neue Kategorien erklären die Struktur dieses Ziels: die Kategorien „energeia" und „ergon", Tätigsein und Werk. 35 - „Tätigsein" ist ein von Aristoteles selbst geschaffenes Kunstwort. 36 Es bedeutet hier: das vernünftige Streben, das Aristoteles analysiert, ist nicht nur die Kategorie eines Modells, sondern das Streben wird tatsächlich vollzogen; es ist wirklich da. Daraus folgt, daß das Gute nicht das Ziel eines bloßen Wünschens („es gut meinen") ist, sondern das Ziel tätigen Strebens. 37 Der Begriff „Werk" aber besagt, daß das erstrebte Ziel die charakteristische Aufgabe der jeweiligen Tätigkeit ist; und diese Aufgabe wird nicht bloß gestellt, sondern auch verwirklicht. Das Gute ist nicht eine abstrakt geforderte Idee, sondern jene spezifische Leistung, in der das gegenwärtige Tun seinen Sinn erfüllt. 38 Die Begriffe „Tätigsein" und „Werk" bezeichnen nicht zwei neue Kategorien der Struktur vernünftigen Strebens, sondern je einen neuen Aspekt der Grundkategorien „Streben" und „Ziel". - Sie haben darüber hinaus eine weitere Aufgabe, sie erklären eine Strukturverschiedenheit im Verhältnis vom Streben zum Ziel. Deren Beziehung kann nämlich auf zweierlei Weise gedacht werden: Das Ziel liegt entweder innerhalb oder außerhalb des Strebens; Ziel ist entweder das Tätigsein selbst oder darüber hinaus ein Werk. 39 Diese Differenz begründet zwei strukturell verschiedene Tätigkeiten, ein technisches Tun, das ein Werk hervorbringt: das Herstellen oder Machen 40 und ein Tun,

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réXoç ίστί των προίκτών δ δί αύτσ βονΧόμεθα (a 18 f.). το TtkeiÒTocTov (I 5, 1097a 3 0 f.). Vgl. I, 1 1094a 2 0 f. hépyeiai - ëp-yct (1094a 4 f.). Κ. ν . Fritz, Philosophie und sprachlicher Ausdruck bei Demokrit, Plato und Aristoteles, Nachdruck: Darmstadt 1963, Kap. 3: „Aristoteles" 6 4 - 9 2 (65 f f . ) . evtpyeia ist eine Grundkategorie aristotelischen Denkens. Zu diesem Begriff: G. A. Blair, „The Meaning of .Energeia' and ,Entelecheia' in Aristotle", in: International Philosophical Quarterly 1 (1967) 1 0 1 - 1 1 7 ; und J. Stallmach, Dynamis und Energeia, Meisenheim 1959. Zum Begriff tpyov: Joachim, 4 8 - 5 0 . - ëp-γον, ein komplexer Begriff, nennt ungeschieden das, was die Tätigkeit einleitet: die Aufgabe; was sie zum Abschluß bringt: das Resultat oder fertige Werk; was ihr den Sinn gibt: die Leistung, Funktion oder den Sinn. Die Übersetzung mit „Werk" (Gigon, Dirlmeier) bleibt eine Verlegenheitslösung. 1094a 3 - 5 . τοίησις.

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das im Tätigsein selbst seinen Sinn findet, jene „actio immanens", die in eminenter Weise „Praxis" oder „Handeln" heißt. 41 Jedes hervorbringende Tun, das nicht am Hervorbringen selbst, sondern am Hervorgebrachten als gut oder schlecht beurteilt wird, heißt Herstellen. Das gilt für handwerkliches und maschinelles, für künstlerisches und sogar für geistiges Tun, sofern nur das Gelingen nicht am Prozeß des Hervorbringens, sondern an der Qualität des Hervorgebrachten, am gelungenen Resultat gemessen wird. Der Prozeß selbst ist ein Mittel; entscheidend ist allein das Produkt oder der Erfolg, wie beim Hausbauen, bei dem es letztlich nicht auf die Tätigkeit des Bauens, sondern auf die Wohnlichkeit des fertigen Hauses ankommt. 4 2 Das Herstellen ist gleichsam ein lineares, sich selbst vergessenes Streben; eine Tätigkeit, die Werke schafft und im geschaffenen Werk ihren Sinn erfüllt. 4 3 Wozu aber will man dieses Werk hervorbringen? Weil es einem anderen Werk dient. Und wozu dieses andere, höhere Werk? Weil es wieder ein höheres gibt. - Der Begriff des Herstellens impliziert, daß es grundsätzlich kein höchstes Werk gibt, das in sich selbst Ziel ist. 44 Die Struktur des Herstellens begründet gedanklich einen unendlichen Regreß. Wenn es aber kein höchstes Ziel gibt, dann ist nach Aristoteles das menschliche Tun sinnlos: man schafft und schafft und weiß letztlich nicht wozu. 45 Diesen sinnlosen Regreß vermeidet der Begriff jener Tätigkeit, deren Ziel das Tätigsein selbst ist, deren Tätigsein also an sich selbst als gut oder schlecht gemessen wird. Das ist die Praxis, das Handeln. Wie beim Klavierspiel Sinn und Erfolg im Klavierspiel selbst liegt, genauer im Spiel, das hervorragend ist, so fallen im gerechten oder freigebigen, kurz im guten Handeln Tätigkeit und Ziel in eins. Das Handeln ist ein Tätigsein, das sich in seinem Gutsein zum Ziel hat; 46 es ist seinem Begriff nach reflexiv strukturiert; es ist ein Tun, das - sofern es gelingt - in sich selbst sinnvoll ist. Während das

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τράξις. Der Gegensatz der beiden Tätigkeiten „Herstellen" und „Handeln" wird an dieser Stelle (a 3 - 5 ) begründet, aber nicht benannt. An einer anderen Stelle jedoch wiederholt Aristoteles den Unterschied und führt dort die Bezeichnung ein: VI 5, 1140b 3 - 7 . - Überhaupt ist der Gegensatz für Aristoteles zwar grundlegend, in der NE aber fast als bekannt vorausgesetzt. Er wird nämlich schon zu Anfang angesetzt, später immer wieder betont (ζ. Β. VI 2, 1139a 3 5 - b 5), aber erst in den Kap. VI 3 - 4 ausführlicher erläutert. I 5, 1097a 20. cl)f δ ' eial τέλη τινά ιrapa τάς πράξεις, kv τούτοις βελτίω ττίφυκε των ëvepyeiùv τα ëpya. (1094a 5 f.) VI 2, 1139b 1 - 3 . 1094a 20 f. Vgl. I 6, 1098a 9 - 1 2 . Aristoteles spricht hier vom Kitharaspieler.

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technisch Gute als ein selbständiges Resultat besteht (die Stühle und Tische eines Schreiners, die Plastiken eines Bildhauers, das Buch eines Wissenschaftlers), existiert das praktisch Gute nur als die Qualität eines Tätigseins; Gerechtigkeit existiert nur im Gerechthandeln, Tapferkeit im Bestehen von Gefahren und Freigebigkeit im Verschenken seines Besitzes. Der Gegenstand der Ethik ist nicht etwas Vorhandenes; das praktisch Gute existiert nicht für sich, sondern nur als gute Praxis. Deshalb geht die aristotelische Strebensethik über eine bloße Leistungsethik oder einen Utilitarismus hinaus. Sie denkt das Gutsein primär nicht in einem technischen, sondern in einem praktischen Modell. Aristoteles weiß um die Notwendigkeit der Techniken und Künste für das menschliche Leben; darum fängt die Untersuchung der Nikomachischen Ethik bei ihnen an. Aristoteles weiß aber auch um die Unbedingtheit des menschlichen Lebens und daß alles Herstellen diese Unbedingtheit nicht erklärt. Nicht mit dem Begriff eines linearen Strebens, sondern allein mit einem reflexiven Begriff kann man das Unbedingte denken. Die Leistungsethik hält jedes Tun für gut, das eine gewisse Leistung hervorbringt, und der Utilitarismus jedes Tun, das dem Wohlergehen aller nützt. Beide Ethiken denken das Handeln ausschließlich im technischen Modell. Wie auch immer man die Leistung oder das Ziel inhaltlich bestimmt, formal betrachtet stellt sich die Frage: Was leistet die Leistung, wozu nützt das Ziel? Und die Wiederholung dieser Fragen findet strukturbedingt kein Ende. Das gute Handeln ist praktisch verstanden nie bloß Mittel, wie gutes Herstellen; es ist selbst ein Ziel. Andererseits, vom Leben des Menschen her gesehen, ist es doch nur ein Moment. Es ist, wie das gute Klavierspiel, zwar in sich selbst sinnvoll, aber nur relativ. Jenes Handeln nun, das stets seiner selbst und niemals eines anderen wegen gesucht wird, nennt Aristoteles, der griechischen Tradition gemäß, ώόαιμονία: Glück.47 Ein glückliches Leben bezeichnet jenes Ziel, auf das es dem Menschen nicht bloß in dieser oder jener Tätigkeit ankommt: im Bauen wohnlicher Häuser, im guten Klavierspiel oder im Gerechtsein; es bezeichnet jenes Ziel, das der Mensch überhaupt in seinem Leben sucht; im Glück findet das menschliche Leben seinen unbedingten Sinn.48 Alles Herstellen und alles Handeln hat für den Menschen letztlich nur dann

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1 2, 1095a 1 4 - 2 0 . Aristoteles nennt deshalb das höchste Gut auch τάνθρύτινον oder TÒ epyov τού άνθρωπου (1 6, 1097b 24 f.).

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àycSôv (I 1, 1094b 7)

Sinn, wenn es, dem sittlichen Grundprinzip entsprechend, einem glücklichen Leben dient. Das Prinzip, an dem sich die aristotelische Ethik orientiert, der Begriff des Glücks, ist nicht eine allgemeine ontologische Idee des Guten, sondern das Gute des wirklichen menschlichen Lebens. Nicht zuletzt darum ist die aristotelische Ethik eine so vielseitig anregende Lektüre: sie untersucht das sittliche Handeln nicht metaphysisch, sondern anthropologisch. 49 Als das unbedingt gute Tätigsein ist das glückliche Leben sich selbst genug; 50 es ist ein Tätigsein, das in sich selbst Lust und Befriedigung gewährt. Ein solches Leben ist kein asketisches Einsiedler-Dasein; denn diese Existenz ist nach Aristoteles viel zu mühsam, um glücklich zu heißen. 51 Es ist eher ein tatsächliches „Auskosten" der Fülle menschlicher Möglichkeiten; der Struktur nach ein Leben, das für sich allein begehrenswert ist. 52 Richtschnur des Menschen ist nicht eine transzendente Wesenheit, sondern das dem Leben immanente Moment geglückten Vollendens. Der Mensch strebt letztlich nach einem Leben, das in sich selbst sinnvoll ist; es kommt ihm einzig und allein auf sich an; er ist Selbstzweck und darum frei. Denn wer um seiner selbst und nicht um eines anderen willen lebt, den bestimmt Aristoteles im Buch Alpha der Metaphysik als frei. 53 - Bei jedem guten Handeln kann ich noch fragen: Warum soll ich die Sache gut machen? Welchen Sinn hat das Gutsein selbst? - Die Frage nach dem guten Handeln philosophisch zu Ende gedacht - führt zum Ursprung des Guten, und dieser Ursprung ist die Freiheit (Ursprung hier praktisch verstanden als jenes Moment, das dem guten Handeln seinen letzten Sinn gibt). Letzter Zweck des Handelns ist es, daß der Handelnde sich selbst Zweck ist; letzter Sinn des menschlichen Lebens ist ein freies Tätigsein. Kant versteht „unter Freiheit, im kosmologischen Verstände, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen" und unter „Freiheit im praktischen

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Aristoteles selbst nennt im Schlußkapitel der NE die Schrift eine anthropologische Untersuchung, und zwar jenen Teil der Anthropologie, der in der Politik vollendet wird (X 10, 1181b 12-15). Daß die Ethik auch selbst eine politische Abhandlung ist, soll im nächsten Abschnitt (I lc) erörtert werden. αυτάρκεια (I 5, 1097b 7 f.): TÒ yàp réXeiov àyaOòv αύταρκβς TIFAI δοκέί. IX 9, 1170a 4 - 6 .

15, 1097b 14 f.: το δ' αΰταρκες τίθβμεν δ μονούμίνον α'ιρετόν ... καί μηδβνός ίνδΐάάνθρωπος, φαμέρ, ίλΐύθβρος ό αύτοΰ "evoca καί μη άλλον ων (Met. I 2, 982b 25 f.). Vgl. Rhet. I 9, 1367a 32 f.

49

Verstände [...] die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit".54 Diesen vertrauten Begriff der Freiheit, die Freiheit eines autonomen Willens, kennt Aristoteles nicht.55 Aristoteles denkt den Begriff der Freiheit nicht vom Anfang des Handelns her, sondern - darin liegt die epochale Differenz des antiken zum neuzeitlichen Bewußtsein56 - von seiner Vollendung her; er denkt sie von jenem Leben, das sich selbst genug ist. Darum trifft auch die kantische Kritik am Eudaimonismus, an der Lehre, Prinzip der Sittlichkeit sei das Glück, für Aristoteles nicht zu. Nach Kant ist der Begriff des Glücks ein heteronomes Prinzip, ein Prinzip, das nur hypothetische Imperative zuläßt: „ich soll etwas darum tun, weil ich etwas anderes will."57 Aristoteles dagegen denkt im Begriff des Glücks ein Tätigsein, das sich selbst genug ist. Sich selbst genug ist nicht ein einzelnes Handeln, noch weniger eine bestimmte Tat. Das sittliche Handeln im aristotelischen Verständnis, das freie Tätigsein, ist daher eine freie Existenz- oder Lebensweise: das tätige Leben in der Polis oder die Theoria, das betrachtende Tätigsein des Geistes. Die Analyse der Nikomachischen Ethik gipfelt darin, daß beide Existenzweisen, vornehmlich aber die philosophierende Existenz, das Sichselbstgenügen, die Qualität eines freien Lebens erfüllen.58 c. Der politische

Ursprung der

Freiheit

Der Ursprung des sittlichen Handelns ist eine freie Lebensweise. Wo aber entspringt die Freiheit selbst? - In dieser systematisch unabweislichen Frage eröffnet die philosophische Reflexion eine neue Stufe ihres Problembewußtseins. Aristoteles stellt sich dieses Problem unter dem Titel: „Zu welcher Wissenschaft oder Fähigkeit gehört das höchste Ziel?" Diese Frage schließt er folgerichtig an die Frage nach dem höchsten Ziel an, und er antwortet spontan: Das höchste Ziel gehört zur Politik.59 Sein Argument lautet: Das Gute für

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56

57 58 59

Kritik der reinen Vernunft, 2 1787, 561 f. Siehe die Differentialanalyse von Aristoteles' Strebensethik und Kants Willensethik im vorangehenden Abschnitt (1 la). Zur Geschichte des abendländischen Freiheitsbegriffs: M. Müller, Art. „Freiheit" (III), in: Staatslexikon "III, 538-544. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ί 7 8 5 , 88 ff. X 6-9. I 1, 1094a 25-28.

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den Menschen ist für den einzelnen wie für die Polis dasselbe; größer und vollkommener ist es allerdings für die Polis. 60 Dieser Zusammenhang, der sich für Aristoteles anscheinend von selbst versteht, ist für die Moderne problematisch. Das beweisen die geläufigen Antithesen „Individuum und Gemeinschaft" oder „Individual- und Sozialethik" . Für Aristoteles aber scheint es die Frage, wem eigentlich die Prävalenz gebührt, dem einzelnen oder dem Staat, gar nicht zu geben. Was Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nur sehr verkürzt und mehr thetisch darstellt, untersucht er ausführlicher in einigen Abschnitten der Politik, wo er über das Wesen und den Ursprung der Polis spricht. 61 Jede Gemeinschaft, beginnt die Politik, kommt eines Guten wegen zusammen, und höchste Gemeinschaft ist jene Form, die sich des höchsten Guten wegen bildet. Diese ist die Polis. 62 - In dieser äußerst zugespitzten Argumentation geht Aristoteles nicht von einer empirischen Beschreibung oder Erklärung der Polis aus. Orientiert am ethischen Modell zielgerichteten Strebens, entwickelt er vielmehr ein Grundmodell von Gemeinschaft überhaupt und bildet die Polis auf dieses Modell ab. - Die aristotelische Analyse ist zwar in der griechischen Polis entstanden. Von dieser geschichtlichen Herkunft ist das Modell zielgerichteten Strebens jedoch unabhängig. Sofern die politische Theorie mit diesem Modell arbeitet, ist sie also von der griechischen Polis und jener geschichtlichen Bedingung, daß rechtlich nur ein Teil ihrer Bewohner freie Bürger waren, ablösbar. 63 Polis heißt nicht jede Form von Zusammenleben; sie entspricht auch nicht einfach dem, was man später Staat nennt. Polis heißt allein jener Zusammenschluß, der zwar des bloßen Lebens wegen entstanden ist, doch wegen des vollendeten Lebens fortbesteht. 64 Die Polis hat sich aus dem Bedürfnis gegenseitiger Hilfe und aus dem Wunsch gemeinsamen Nutzens gebildet. Doch dient

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64

b 7-9. Besonders Pol. I 1, 2; III 1-3, 6, 9; VII 1-3, 13. Pol. I 1, 1252a 2-7. Für die politische Philosophie des Aristoteles sind die Untersuchungen von J. Ritter wegweisend. Eine seiner Thesen lautet: Die politische Theorie des Aristoteles ist an die griechische Polis gebunden („.Politik' und ,Ethik' in der praktischen Philosophie des Aristoteles", in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 74 [1966/67] 235-253 [241-243]). Dort, wo Aristoteles von einem begrifflichen Modell her denkt, trifft jedoch genau dies zu: Die aristotelische Argumentation ist von ihrer geschichtlichen Herkunft ablösbar. -γινομένη μίν του ζην ëveicev, οιισα òt τον tv ζην. (I 2, 1252b 29 f.). Vgl. den Kommentar von Newman II 119.

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sie zu mehr als zur Gemeinschaft des Wohnorts, zu mehr als einem Kriegsund Handelsbündnis. Eine arbeitsteilige Gesellschaft, ein System der Lebensbedürfnisse und ihrer Befriedigung sind ihre notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen. Diese sind letztlich bloß ein Mittel für den Zweck: das Glücklichsein, das vollkommene und sich selbst genügende Leben.65 Aus diesem Grund heißt nicht jeder Zusammenschluß von Menschen, die ihren eigenen Geschäften nachgehen, zum Zweck eines geordneten Tauschverkehrs und für den Fall des Krieges aber eine Rechtsgemeinschaft bilden, schon eine Polis. Negativ gesprochen ist die Polis eine Organisation nicht abseits der Organisierten; positiv gesagt ist sie eine Gemeinschaft des glücklichen oder freien Tätigseins wegen. Freie Bürger sind in ihr um eben ihrer Freiheit willen zusammengeschlossen;66 der Sinn der Polis liegt in der Freiheit. Im antiken Sinn von Freiheit ist diese Gemeinschaft der Freien selbst eine freie Gemeinschaft; sie ist eine Gemeinschaft, die nicht auch eines anderen, sondern nur ihrer selbst wegen existiert. Was für das Haus und das Dorf nicht zutrifft, gilt für die Polis: Sie ist eine Gemeinschaft, die sich selbst genug ist.67 Sie ist aber nicht eine autonom gesetzte und daher im neuzeitlichen Sinn freie Gemeinschaft.68 Da die Polis des freien Lebens wegen existiert, sagt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik - pointierter als in der Politik - , daß die Polis und der einzelne dasselbe Ziel haben: das Gute für den Menschen.69 Der Gedanke geht aber weiter: Größer und vollkommener scheint es, das Gute für die Polis zu greifen und zu bewahren.70 Die Polis, die Gemeinschaft der Freien, ist 65

Im Kap. III 9 hebt Aristoteles die Polis von polisähnlichen Gemeinschaften ab. Diese Differentialanalyse gipfelt in einer Definition der Polis: τόλις δί ή -γενών καΐ κωμών

κοινωνία ζωής πΧείας καΐ αυτάρκους, τούτο δ' ίστίν, ώς φαμέν, το ζην εύδαιμόνως και καλώς. (1280b 40-81a 2) 66

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Aristoteles kann die Polis deshalb geradezu als „Gemeinschaft von Freien definieren" (Pol. III 6, 1279a 21; vgl. I 7, 1255b 20; IV 6, 1292b 38-41). Subjekt der Polis war nicht der Mensch als Mensch, sondern der freie Bürger, der Bürger, der Zutritt zu den Staatsgeschäften hat (Pol. III 1, 2). Das unterscheidet die griechische Polis vom neuzeitlichen Rechtsstaat, daß ein großer Teil der Bewohner von den Staatsämtern ausgeschlossen war. Sklaven, aber auch Frauen, Kinder und Zugezogene waren den Bürgern rechtlich nicht gleichgestellt. Folgerichtig schließt Aristoteles die Sklaven ζ. B. von der Teilnahme am Glück aus (III 9, 1280a 32-34). Denn sie leben nicht für sich selbst, sondern für ihren Herrn. - Das Grundmodell der Polis ist aber von diesen tatsächlichen Verhältnissen der griechischen Polis ablösbar. I 2, 1252b 27-30. Vgl. Kap. I lb. NE I 1, 1094b 7 f. b 8 f. Die Übersetzung stützt sich auf Gigon, 56 (aber „Polis" statt „Staat").

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gegenüber dem einzelnen, der frei ist, ein Mehr. Oder wie es in der „Politik" heißt: Die Polis ist von Natur aus früher als der einzelne. 71 Die begriffliche Kategorie „von Natur aus früher" ist von der zeitlichen Kategorie „vom Entstehen her früher" zu unterscheiden. 72 Empirisch gesehen ist die Polis das Späteste: aus der Gemeinschaft von Mann und Frau, Herrn und Knecht entsteht ein Haus, aus dem Zusammenschluß von Häusern ein Dorf, und die Gemeinschaft von Dörfern erst bildet die Polis. 73 Für diesen Prozeß der Gemeinschaftsbildung ist aber die Polis das Ziel; sie besteht nämlich nicht des bloßen Lebens, sondern des glücklichen Lebens wegen. Da durch die Polis der Bildungsprozeß erst sinnvoll wird, ist sie das Begründende. Die begriffliche Betrachtung kehrt die zeitliche Reihenfolge um: 74 Zeitlich ist der einzelne früher, begrifflich die Polis. Da die Gemeinschaft der Freien der Sinn ist, nach dem der Mensch strebt, ist sie für den Menschen nicht bloß eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit. Notwendig aber nicht theoretisch als „zwangsläufig", sondern praktisch verstanden: In der Polis erst erfüllt das Leben des einzelnen seinen Sinn. Diese These stützt Aristoteles durch drei Argumente: durch ein ontologisches Argument, daß das Ganze früher als seine Teile sei, durch den anthropologischen Hinweis, wer der Polis nicht fähig sei oder ihrer nicht bedürfe, sei kein Mensch, sondern ein Tier oder Gott. Entscheidender ist jedoch das mittlere Argument, der einzelne genüge sich nicht selbst. 75 Dieses Argument ist so zu verstehen: Der Mensch braucht Schutz vor der Natur und vor anderen Menschen; dieser elementaren Selbsterhaltung wegen sucht er überhaupt eine Gemeinschaft. Als freies, als sittliches Wesen sucht er darüber hinaus eine durch Recht und Gesetz bestimmte Gemeinschaft; 76 sie findet er erst in der Polis. Denn das sittliche Handeln ist ein vernünftiges Streben, dessen Ziele nicht von Natur, sondern durch Gewöhnung festgelegt sind.77 Die Gewöhnung aber bildet sich nicht beim einzelnen allein, sondern in der Gemeinschaft von Freien. Nicht das ist gut, was jemandem gerade einfällt, was sich auch gegen seine Mitbürger richten kann, sondern nur das,

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Pol. I 2, 1253a 18 f.; vgl. Newman II 125 f. φύσα TpÓTípov-yevéaei πρότβρον. 1252a 2 4 - 5 3 a 1. Das Prinzip dieser Umkehrung spricht Aristoteles in der Physikvorlesung aus: όλως re φαίνεται το yiyvößevov άτεΧες καϊ kir ' άρχην ιόν, ώστε το τη γενέσει ύστερον τη φύσα -πρότερον είναι. (Phys. V i l i 7, 261a 13 f.) 1253a 2 0 - 2 9 . Vgl. a 3 1 - 3 3 . Siehe oben, Kap. I la.

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was den Prozeß von Lob und Tadel, von Zustimmung und Ablehnung, von Vormachen und Nachahmen oder Verabscheuen durchlaufen und sich in diesem Prozeß bewährt hat. Das sind Brauch und Sitte, Recht und Gesetz. Sie aber legt nicht der einzelne, sondern die Gemeinschaft fest. 78 Brauch und Sitte sind nicht fragwürdige Traditionen, die beliebig entstanden sind; es sind vielmehr Verhaltensmuster, die sich im Zusammenleben der Bürger bilden und sich - selbst wenn sie von einem einzelnen erfunden sind - im Zusammenleben bewähren und Anerkennung verschaffen: Die Gewohnheiten einer Gemeinschaft sind nicht fertige Produkte, sondern ein Prozeß. Der griechische Ausdruck für Brauch und Sitte, éôoç, heißt beides: die Gewöhnung und die Gewohnheit; der Prozeß vom einzelnen und der Prozeß von der Gemeinschaft aus betrachtet. Im Zusammenleben: im sozialen Kontakt und in den politischen Gremien, bilden sich jene Ziel vorstellungen und Verhaltensmuster heraus, die sich in Brauch und Sitte, in Recht und Gesetz artikulieren und im Lernprozeß „Gewöhnung" durch den einzelnen Bürger übernommen werden. Und selbst dieser Lernprozeß wird durch die Polis geleitet. Die Gemeinschaft ist es, die ihre Glieder dazu erzieht, vernünftig und nicht blind zu handeln; die Polis soll die Menschen gut und gerecht machen. 79 Erreicht sie dieses Ziel, so hat sie ihren Sinn erfüllt. 80 Die Bedingungen, daß der einzelne gut und frei tätig sein kann, werden durch die Polis geschaffen. - Daß das freie Tätigsein nicht in der Vereinzelung, sondern allein in der Gemeinschaft der Polis möglich ist, das ist der Sinn des vielzitierten Satzes, der Mensch sei von Natur aus ein politisches Wesen. 81 Der Ursprung von Freiheit ist nicht außerhalb von Freiheit zu suchen; Ursprung der eigenen Freiheit ist selbst wieder eine Freiheit, die Freiheit der Mitbürger. Die Freiheit des einen entspringt der Freiheit des anderen, die Freiheit entspringt einer Gemeinschaft von Freiheiten. - Der politische Ursprung der Freiheit gilt nicht allein für das spezifisch politische, sondern auch für das theoretische Leben. Denn die Muße, die für die theoretische Existenz unabdingbar ist, wird durch die Polis gewährleistet. Zudem ist der Mensch nicht ein rein geistiges Wesen. Er muß auch auf sein physisches Wohlergehen achten. 82 So betrachtet ist er seiner Hilfsbedürftigkeit wegen auf Gemein-

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NE 1094a 28/b 7. NE II 1, 1103b 2 - 6 ; vgl. Pol. III 9, 1280b 5 - 1 2 . Denn vortrefflich ist ein Staat, wenn seine Bürger es sind (Pol. VII 13, 1332b 32-35 und VII 2, 1324a 23-25). ό άνθρωπος φύσει TÎOKITLKÔV faov. (Pol. I 2, 1253a 2 f. u. a.) NE Χ 9, 1178b 33-35.

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schaft angewiesen; und die Gemeinschaft in ihrer höchsten Form ist die Polis. Die theoretische Existenz ist nicht im planen Widerspruch zum politischen Leben zu denken, sondern im Raum der Polis und unter ihrer ständigen Voraussetzung transzendiert der Philosoph seine eigene politische Existenz. Das unterscheidet den Menschen von Gott, daß der Mensch nicht reiner Geist ist, sondern aus Geist und Leib besteht. 83 Daher kann er auch nie rein geistig leben, sondern muß auf sein physisches Wohlergehen achten und darüber hinaus in der Einheit von Leib und Geist, dem politischen Zusammensein, leben. Er ist nie bloß Philosoph, sondern notwendig auch Mitbürger. 84 Will der Philosoph nicht nur die Welt und sein Wissen von der Welt, sondern auch sich selbst verstehen, kann er nicht allein Erste Philosophie oder allgemein theoretische Philosophie treiben; eine Philosophie, die sich selbst verstehen will, transzendiert sich notwendig zur Politik. Das Verhältnis der Ersten Philosophie zur Politik ist dialektisch vorzustellen; das theoretische Philosophieren ist eine freie Lebensweise, die notwendig der Polis entspringt, im tatsächlichen Tätigsein aber die Polis transzendiert. 85 Der Ermöglichungsgrund freien Tätigseins (die Bedingungen der Möglichkeit einer politischen und einer theoretischen Existenz) ist ein intersubjektives Freiheits Verhältnis; ursprünglich frei ist nicht der Freie, sondern die Gemeinschaft von Freien. Im Rahmen dieser Gemeinschaft auch tatsächlich frei zu sein, ist jedoch die Aufgabe des einzelnen. Da das Gute in der politischen Kommunikation entsteht, ist die philosophische Analyse des Guten, die Ethik, grundsätzlich ein Teil der Politik; aus diesem Grund kann Aristoteles seine ethische Abhandlung auch „Politik" nennen. 86 - Daß die praktische Fundamentalwissenschaft „Ethik" notwendig zur Politik gehört, dieser These geht es weniger um den faktischen Zusammenhang von Nikomachischer Ethik und Politik, auch weniger um die griechische Polis 83

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Das ist das Paradoxe der griechischen Vorstellung: Das Wesen aus Leib und Geist, der Mensch, hat das Ziel, bloß Geist zu sein (vgl. 1177b 31/a 8). Dann ist der Mensch am meisten Mensch, wenn er nicht mehr bloß Mensch ist. NE X 7, 1177b 26-29; X 8, 1178b 3-7. Aristoteles reflektiert den politischen Ursprung der theoretischen Lebensweise, nicht auch den der theoretischen Gehalte. Hier liegt die Grenze seines Denkens. Aristoteles reflektiert häufig auf den Sprachgebrauch, um in dieser Reflexion theoretische Kategorien zu gewinnen (z. B. Phys. I 7; vgl. Wagner, 425 ff.), und die Reflexion selbst ist sprachlich vermittelt. Die Sprache ist aber ein soziales Phänomen, das aus einem sozialen Ursprung zu erklären ist. Daß auch die theoretischen Gehalte - wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar - einem Kommerzium von Freiheiten entspringen, könnte an dieser Stelle weiterverfolgt werden. r, πο\ιτικη (NE I 1, 1094a 27; b 11; b 15; 1095a 2 u. a.).

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als den geschichtlichen Hintergrund der aristotelischen Theorie; es geht ihr vielmehr um eine systematische Bedeutung. Die Ethik entspringt nicht als Lehre der sittlichen Subjektivität, sondern als Lehre der ursprünglichen Gemeinschaft von Freien. Die Ethik ist ab ovo eine politische Reflexion. Aristoteles' Ethik ist nicht in einem thematischen Sinn Politik, sondern in einem begrifflichen Sinn. Thematisch ist nämlich die aristotelische Politik eine eigene Disziplin. Sie untersucht die Haus- und die Staatsverwaltung, die Gesetzgebung und das Machen und Verändern von Staaten. Themen der Ethik dagegen sind der Begriff des Glücks und die Existenzweisen, die den Begriff erfüllen; es sind die Tugenden, die Freundschaft und die Lust. So erörtern beide Disziplinen denselben Gegenstand, das Gute für den Menschen, von zwei verschiedenen Aspekten aus. Die Politik erörtert die verschiedenen Institutionen des guten Lebens (modern: nicht nur die politischen, sondern auch die juristischen und die ökonomischen Institutionen); die Ethik das gute Leben in diesen Institutionen.87 Begrifflich ist die Ethik eine politische und die Politik eine ethische Abhandlung. Die Ethik ist Politik, weil das Gute kommunikativ hervorgebracht wird, und die Politik ist Ethik, weil die Institutionen der Kommunikation dem Hervorbringen des Guten dienen. Beide Reflexionen sind dialektisch verbunden: Die Ethik weist auf die politische Herkunft sittlichen Handelns, die Politik auf den sittlichen Sinn der Polis. Diese Gedanken finden sich daher in beiden Schriften zugleich. Da aber - unter Voraussetzung desselben Zusammenhangs - Ethik und Politik verschiedene Aspekte analysieren, fordern sie auch gesonderte Abhandlungen. Von diesen Abhandlungen ist allein die Ethik rein praktische Philosophie. Denn ein großer Teil der politischen Philosophie sind technische Probleme: wie verwalte ich ein Haus oder einen Staat, wie stürze ich eine Regierung, wie verändere ich eine Verfassungsform? Die Politik unterscheidet sich von der Nikomachischen Ethik also darin, daß sie ihrer Struktur nach nicht nur praktische, sondern auch technische Philosophie ist.88 d. Zum Verhältnis von Ethik und Erster

Philosophie

Mit dem Grundmodell des vernünftigen Strebens erklärt Aristoteles eine ungewohnte Fülle von Aspekten menschlichen Handelns, von denen die Interpreta-

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Es ist daher eine überschärfte These, wenn man von einer „Identität der ethischen und politischen Theorie" bei Aristoteles spricht (so J. Ritter, Art. „Aristoteles" [II.], in: Staatslexikon 6I 574-579 [576 f.]). Zur technischen Dimension der politischen Philosophie siehe G. Bien.

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tion leicht einen herausgreift und überbewertet. Die aristotelische Ethik erklärt nicht allein die Moralität menschlichen Handelns, sondern in einem weiteren Sinn die Sittlichkeit; sie analysiert den technischen Aspekt des Lebens, die Sphäre des Nützlichen, die Sphäre des Vitalen und gipfelt in einer Beurteilung der theoretischen und politischen Lebensform. So ist sie im weitesten Sinn eine Philosophie der Praxis. Die verschiedenen Aspekte stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sie werden durch die Frage nach jenem höchsten Ziel zusammengehalten, von dem her jedes Streben allererst sinnvoll ist. In dieser Frage werden nicht einzelne Tätigkeiten, sondern das menschliche Tun als Ganzes begründet. Während spezielle Wissenschaften die Teilziele menschlichen Handelns untersuchen, die Ökonomik den Reichtum, die Medizin die Gesundheit ..., erforscht die Ethik das unbedingte Ziel, um so das Gelingen des Menschseins überhaupt zu begreifen. Gegenüber den Wissenschaften der Medizin, Ökonomie ... ist die Ethik die erste Wissenschaft der Praxis oder die praktische Fundamentalwissenschaft. Bei Aristoteles findet sich nun eine weitere Wissenschaft, die fundamentale Bedeutung hat; das ist die später Metaphysik genannte Erste Philosophie. Die Erste Philosophie fragt, warum eine Sache so ist, wie sie ist; sie fragt nach Ursachen und Prinzipien und führt diese auf erste Ursachen und erste Prinzipien zurück. 89 Wenn dieses Unbedingte entdeckt wird, ist das Warum-Fragen vollendet. 90 Die Erste Philosophie vermittelt also jenes Maß an Einsicht, das sich nicht mehr überbieten läßt; sie ist die Höchstform des Wissens 91 und läßt sich daher immanent nicht fortsetzen. Dennoch ist es möglich, an sie eine weitere Frage zu stellen, die Frage nämlich, welchen Sinn ihr Wissen hat. Dadurch wird die Erste Philosophie nicht auf ihre Wissenschaftlichkeit, sondern auf ihre Sittlichkeit, auf ihre Bedeutung für das Menschsein hin untersucht. Diese Untersuchung durchzuführen, ist die Aufgabe der Ethik. Die Ethik zeigt, daß das Philosophieren jener ausgezeichnete Fall von Tun ist, in dem Tätigkeit und Ziel zusammen-

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Met. 1 1-2. Vgl. W. Bröcker, Kap. I 1. Ein Beispiel für eine solche Untersuchung ist das Buch XII der Metaphysik, in dem Aristoteles die Bewegung aus deinem ersten Bewegten und dieses aus einem ersten Beweger heraus erklärt (vgl. W. Bröcker, Kap. VII). Aristoteles versucht deshalb eine Art Superlativ zu Wissenschaft zu bilden und nennt die Erste Philosophie την μάλιστα ίτιατημην, eine Wissenschaft, die am meisten Wissenschaft ist: Met. I 1, 982a 32 f.

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fallen, so daß der Sinn des Philosophierens im Philosophieren selbst, in jener Tätigkeit des Geistes liegt, die sich selbst am meisten genug ist. 92 Wenn das Philosophieren selbst ein sittliches Phänomen ist, wenn die Theorie 93 nach dem Modell freien Strebens die höchste Praxis ist, bedeutet nicht dann die Theorie der Theorie, die Ethik, nochmals eine Potenzierung der Wissenschaftlichkeit, und ist dann nicht die Ethik als die wirklich höchste Theorie und in Konsequenz auch als die wirklich höchste Praxis zu denken? - Diese Überlegung weist auf eine Komplikation der Verhältnisse von Theorie und Praxis hin, eine Komplikation und Verkehrung des geläufigen Verständnisses, wodurch nicht nur die Schwierigkeit der Sache, sondern auch die Grenze der Brauchbarkeit der herkömmlichen Begriffe von Theorie und Praxis angezeigt wird. Wie läßt sich nun auf dem Hintergrund dieser geradezu aporetischen Komplikation das Verhältnis von Ethik und Erster Philosophie denken? Was die Philosophie sei, das ist eine Frage der Philosophie an sich selbst; zur Philosophie gehört unabtrennbar die Selbstbesinnung über ihr Wesen. Diese Selbstbesinnung ist auf zweierlei Weise möglich. Die eine mehr kognitive Form zeigt die Erste Philosophie als Höchstform des Erkennens; Aristoteles fuhrt diesen Nachweis am Anfang des Buches Alpha der Metaphysik, in wel-

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Aristoteles erklärt die herausragende Bedeutung des Philosophierens, indem er die Qualität des höchsten Ziels, das Sichselbstgenugsein, steigert: αύταρκέστατος (EN X 7, 1177b 1). Zu Aristoteles' Begriff der Theorie: J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, Köln/Opladen 1953. Das aristotelische Modell der Praxis erklärt nicht nur das, was landläufig Praxis heißt, jenes Handeln, das man der Theorie abstrakt gegenüberstellt, um sich so das vieldiskutierte Problem zu schaffen, wie Theorie und Praxis sich vermitteln lassen. Aristoteles denkt dialektischer. Er begreift auch die Tätigkeit des Philosophierens als eine, und zwar als die höchste Form menschlichen Handelns. - Das Theorie-Praxis-Problem ist meist ein Problem des technisch verstandenen Handelns. Wenn auf Grund vorheriger Planung ein objektives Ziel hervorgebracht werden soll, dann wird der Weg zum Ziel theoretisch überlegt, und es bleibt, die Theorie in die Wirklichkeit zu „übersetzen". Da die Theorie notwendig von einigen Bedingungen der komplexeren Wirklichkeit absieht, ist die „Anwendung" der Theorie immer ein Problem, ein Problem der vermittelnden Urteilskraft (vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Berlin 1793). Unter dem Aspekt „sittliches Handeln" ist ein anderer Gegensatz fundamental, der Gegensatz zwischen Handeln und Herstellen, zwischen dem, was einem anderen dient, und dem, was in sich selbst sinnvoll ist; fundamental ist nicht ein Problem innerhalb der Technik, sondern der Gegensatz der Technik zur Praxis. 58

chem Buch er eine historisch-kritische Einleitung in die Philosophie gibt.94 Die andere, die ethische Form der Selbstbesinnung zeigt, daß die Höchstform des Erkennens zugleich die Höchstform menschlichen Tätigseins ist.95 Wenn die Philosophie wissen will, welchen Sinn sie hat, wenn sie sich nicht nur kognitiv, sondern auch praktisch über sich selbst aufklären will, dann etabliert sie sich notwendig als Ethik. Da das Philosophieren selbst ein sittliches Phänomen ist, ist das thematische Interesse der Philosophie am sittlichen Handeln zu gleich ein Interesse der Philosophie an sich selbst. So waltet zwischen der Ersten Philosophie und der Ethik eine eigene „Dialektik". Wenn der Mensch am meisten er selbst sein will, muß er im Raum der Polis die Polis transzendieren und die Wissenschaft, besonders die höchste Wissenschaft, die Erste Philosophie, betreiben. Wenn er aber auch wissen will, warum er philosophieren soll, hat er die Ethik zu studieren: Der Vollzug der Ersten Philosophie ist die höchste Form des Lebens, die Begründung dafür gibt aber nicht die Erste Philosophie selbst; die Erste Philosophie ist die höchste Form des Wissens und zugleich der Gegenstand einer anderen Form von Wissen, der Ethik. Die vollständige Reflexion des Wissens geschieht also nicht schon in jener Prinzipien- und Ursachenforschung, die Metaphysik oder Erste Philosophie heißt, sondern erst in einer Art immanenten Transzendenz, im Fortgang der Ersten Philosophie zur Ethik. Daher ist weder die Erste Philosophie eine Fundamentaldisziplin, auf der die Ethik als eine Zweite Philosophie aufbaut noch ist die Ethik eine Einleitung, durch die die Erste Philosophie vorbereitet wird. Eher ist die Philosophie vom Guten im praktischen Sinn, die Philosophie der Ersten Prinzipien im theoretischen Sinn Fundamentalwissenschaft. Deshalb ist die aristotelische Ethik beides: eine politische Abhandlung und die praktische Fundamentalphilosophie.

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Eine Übersicht über das Buch Alpha findet sich bei Düring, 260-270. So in EE X 6 - 9 .

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2. Das Ziel der Ethik: Sittlichwerden

a. Das sittliche Engagement Da die Untersuchung des zielgerichteten Strebens selbst nach einem Ziel strebt, trifft das in der Ethik entworfene Grundmodell menschlicher Tätigkeit für die Ethik selbst zu, und es bleibt zu fragen, mit welchem Ziel man über sittliches Handeln philosophiert. Spontan glaubt man, daß die Ethik wie jedes Philosophieren der Erkenntnis, dem Wissen dient. 1 Für die Ethik jedoch wehrt Aristoteles diese Vorstellung entschieden ab. Seine These, Ziel der Ethik ist nicht Erkenntnis, sondern Handeln, 2 überrascht; nicht ein immanenter Begriff von Philosophie bestimmt den Zweck der aristotelischen Ethik, sondern ihr Gegenstand selbst; ihr leitendes Ziel ist nicht kognitiv, sondern praktisch. Ihrer Bedeutung gemäß wird diese These an drei zentralen Stellen der Nikomachischen Ethik genannt: im Einleitungskapitel der Schrift, um die Nutzlosigkeit der Ethik für einen unerfahrenen Menschen zu belegen; 3 am Anfang der Bücher über die Tugend, um die Grundfrage dieser Untersuchungen zu rechtfertigen; 4 und schließlich am Schluß der Schrift, wo Aristoteles die Überleitung zur Politik begründet. 5 „Des Handelns wegen die Ethik treiben" ist eine stark abkürzende Redeweise. An der zweiten Stelle heißt es präziser, daß die gegenwärtige Abhandlung die Menschen gut machen will. 6 Für Aristoteles ist jedes vernünftige Streben gut, das im Kontext eines freien Lebens, einer politischen oder theore-

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So sagt Aristoteles für die Physikvorlesung: τοϋ είδέναι χάριν ή -πραγματεία II 3, 194b 17 f.).

(Phys.

το τέλος εστίν ού -γνώσις άλλά ιτρ&ξις. (NE I 1, 1095a 5 f.)

M l , 1094b 27-1095a 11. 4 112, 1103b 2 6 - 3 0 . 5 X 10, 1179a 35/b 4. 6

ή παρούσα τραγματ«« οϋ θεωρίας Ινεκά ... άλλ' ϊν' ά-γαθοί -γενώμεθα (1103b 26-28).

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tischen Existenz, steht. 7 Die Ethik, die die Menschen gut machen will, will die also zu guten Polis-Bürgern und darüber hinaus vielleicht zu Philosophen, auf jeden Fall aber zu sittlichen Menschen erziehen. Aristoteles beansprucht mit seiner Ethik, das Sittliche zu beeinflussen. Der Philosoph ist nicht ein unbeteiligter Zuschauer des menschlichen Tuns, neugierig, was gutes Handeln eigentlich ist und nach welchen Bedingungen das geschieht, was auch ohne die Philosophie geschieht. Diesen sittlich unergiebigen Ethiken gegenüber ist Aristoteles' Philosophie sittlich engagiert. - Für ein Wissenschaftsverständnis, das sich an den mathematischen Naturwissenschaften orientiert und die sittliche Neutralität zur Bedingung einer wissenschaftlichen Ethik erklärt, bedeutet Aristoteles' Konzept eine Provokation. Nach Aristoteles muß sich der Ethiker in der Haltung des Lehrens und Studierens wesentlich vom theoretischen Wissenschaftler, vom Mathematiker oder Naturwissenschaftler, unterscheiden. Eine sittlich engagierte Disziplin ist wohl im Bereich der Philosophie singulär. In einer außerphilosophischen Wissenschaft, in der Medizin, findet sich allerdings eine Analogie. Die medizinische Forschung ist aus rein wissenschaftlicher Neugierde denkbar. Trotzdem versteht sie ihren Sinn letztlich nicht vom autarken Erkenntniswert her, sondern von dem Wert ihrer Erkenntnis für Kranke. Ähnlich hat die Ethik eine ausgesprochene Dienstfunktion. Sie ist eine Philosophie, die Nutzen sucht, 8 die nach dem Modell zielgerichteten Strebens nicht selbst ein Zweck ist, sondern bloß ein Mittel. Die praktische Philosophie, die auf ein freies Tätigsein zielt, ist selbst kein freies Tätigsein; sie ist weder das politische Handeln noch das sich selbst genügende Denken, jene beiden sittlichen Lebensformen, um derentwillen man Ethik treibt. Der Zweck des ethischen Wissens, das Mittel ist, ist nun nicht ein höheres Wissen, sondern etwas anderes als das Wissen; der Sinn liegt in einem vorphilosophischen Phänomen, im sittlichen Lebens Vollzug. - Das trifft auch für die ethische Untersuchung der theoretischen Existenz zu. Die Ethik analysiert nämlich nicht die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens als Wissen. Erstens analysiert sie Bedingungen der Wirklichkeit, die Qualität des Tätigseins,' und zweitens nicht das Wissen als Wissen, sondern als eine Weise menschlichen Lebens. Sie untersucht das Wissen als eine Existenzform, die sich selbst genug ist.

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Vgl. das vorangehende Kapitel 1 la, b. Aristoteles spricht vom „vielfältigen Nutzen" der Ethik (τολυωφβλίς, 1095a 11) und von einer „nutzlosen Philosophie", wenn sie nicht des sittlichen Handelns wegen getrieben werde (ματαίως καί άνωφελώς, 1095a 5; obbev ... όφελος, 1103b 28 f.). èvépyeia (vgl. Kap. I Ib.).

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Da Aristoteles' Ethik einen Einfluß auf das sittliche Leben sucht, begegnet man ihr falsch, wenn man sie des bloßen Wissens wegen studiert. Der reine Theoretiker hält sie für eine autarke Philosophie; er glaubt, im Vollzug praktischen Philosophierens ereigne sich sittliches Tätigsein, während er tatsächlich vor diesem Tätigsein flieht. Er verhält sich wie ein Kranker, der die Ärzte aufmerksam anhört, aber keine ihrer Vorschriften befolgt. 10 - Analog zur Medizin hat die Ethik selbst eine „therapeutische" Funktion: sie will die Menschen gut machen. Da sie aber nicht nur die schlechten, sondern die Menschen überhaupt gut machen will, hat sie eher die pädagogische Aufgabe, zum Sittlichsein zu erziehen. Nun ist die Aufgabe der Erziehung die Aufgabe der Polis, Aufgabe ihrer Gesetzgeber und Regierenden." Eine Ethik, die an dieser polisweiten Erziehung Anteil nimmt - denn das zumindest behauptet Aristoteles mit seiner These, Ethik ziele nicht auf Erkenntnis, sondern auf Handeln - , eine solche Ethik hat selbst eine politische Funktion. Die Ethik ist nicht nur eine philosophische Disziplin, sondern auch ein Implikat der politischen Ethik. Da das freie Leben der Polis entspringt, ist eine Ethik, die zu diesem Leben erziehen will, eine sittlich engagierte Ethik also, ein integrierender Teil des Polis-Lebens. Die Differenz von praktischer und theoretischer Philosophie erscheint im ersten Zugriff als eine Differenz im Gegenstand; dort wird das Handeln, hier das Sein, die Natur oder das Wissen untersucht. Wenn man aber die Differenz weiter verfolgt, so erscheint ein Gegensatz von Erkenntniszielen; die theoretische Philosophie dient dem Wissen, die praktische dem Handeln. Die konstitutive Bedeutung des sittlichen Engagements liegt darin, daß sie die aristotelische Ethik nicht bloß thematisch, sondern auch finaliter als praktische Philosophie bestimmt. Es ist sicher nicht notwendig, daß die Ethik als praktische Philosophie zu verstehen ist; denn weder aus dem Begriff des Gegenstandes noch aus dem Begriff von Philosophie folgt, Aristoteles habe die Ethik nicht des Erkennens, sondern des Handelns wegen zu betreiben. Das sittliche Engagement ist vielmehr als ein vorphilosophisches Ziel zu beurteilen, als jenes Ziel, das die aristotelische Ethik überhaupt motiviert; ein Ziel, das übrigens von der sokratisch-platonischen Tradition her selbstverständlich ist. Für die Ethik sind natürlich auch andere Motive denkbar, so gerade das kognitive Motiv, das das sittliche Handeln letztlich aus der enzyklopädischen und sittlich neutralen Neugierde heraus untersucht, möglichst über alle Gegen10 11

II 3, 1105b 11-18. II 1, 1103b 2-6; X 10, 1179b 31-1180a 30. 62

stände etwas wissenschaftlich zu erfahren. Ein Ziel gegen ein anderes, das praktische gegen das kognitive Ziel auszuspielen, hat wissenschaftlich wenig Sinn. Erkenntnisziele sind wie Axiome, die man annehmen oder ablehnen, aber nicht beweisen kann. Man kann nur mutmaßen, welches Ziel „vitaler" ist und sich daher wohl durchsetzt. Dann aber scheint das praktische Ziel dynamischer oder wenigstens universeller zu sein. Eine sittlich engagierte Philosophie interessiert nicht allein den Philosophen „vom Fach", auch nicht allein den weiteren Kreis der Wissenschaftler, sondern sie wendet sich an den Menschen als sittliches Wesen.

b. Der Zugriff des Erkennens Das sittliche Engagement spricht Aristoteles in einer Formel aus - Ziel der Abhandlung ist nicht Erkenntnis, sondern Handeln - , die als Ziel das ablehnt, was seine Ethik tatsächlich leistet: die Erkenntnis. Ähnlich behauptet Aristoteles im Anfang des zweiten Buches, es gelte nicht zu wissen, was die Tugend sei;12 wenig später aber fordert er, was die Tugend sei, sei nun zu untersuchen. 13 Daß die aristotelische Ethik auf Erkenntnis zielt (und gerade im eminenten Sinn einer Wesenserkenntnis, die nach dem fragt, was etwas ist), diese Tatsache läßt sich auch ohne die Aussagen des Aristoteles nicht leugnen. Widerspricht sich also Aristoteles? Die Situation seiner Ethik ist paradox: Obwohl selbst ein Wissen, besteht sie dafür nicht. Hier ist zu unterscheiden. Das Verhältnis der beiden Ziele, des faktischen und des postulierten, das Verhältnis des kognitiven und des sittlichen Engagements zueinander kann auf dreierlei Weise gedacht werden. Die erste Möglichkeit, ein konkurrierendes Verhältnis, scheidet für die aristotelische Ethik aus; denn sie kann ihres sittlichen Engagements wegen nicht das aufgeben, was sie tatsächlich ist: ein Wissen. Das kognitive Ziel der Philosophie wird durch das praktische nicht eliminiert, aber auch nicht - so die zweite Denkmöglichkeit - ihm gleichgestellt, sondern durch das praktische relativiert; das Ziel „Erkenntnis" wird dem Ziel „Handeln" untergeordnet und so eine Hierarchie der Ziele festgelegt. Doch bleibt gegen Aristoteles einzuwenden, seine Formel Ziel der Ethik ist nicht Erkenntnis, sondern Handeln - sei für diese Differenzierung unzureichend: zu „klotzig". Sie drückt das Verhältnis der beiden Ziele überschärft aus und legt dadurch einen planen Gegensatz nahe, einen Gegen-

12

13

ob yàp Iva εΙόώμεν τί εστίν ή άρετη σκεττόμεθα, ά λ λ ' ΐ ν ' αγαθοί 1103b 27 f.). μετά δε ταύτα τί εστίν ή άρετή σκεττέον. (II 4, 1105b 19)

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-γενώμεθα (II 2,

satz von Wissen und Handeln, den Aristoteles weder in der Nikomachischen Ethik noch in seinen übrigen Schriften annimmt oder praktiziert. Mit Hilfe philosophischer Erkenntnis will Aristoteles den Menschen gut machen. Gewiß hat er die Ethikvorlesung nicht bloß für Fachkollegen gehalten, sondern - wenigstens die Nikomachische Ethik - für den durchschnittlichen Polis-Bürger;14 gehalten aber hat er sie philosophisch. Die aristotelische Ethik ist praktische Philosophie, weil sie erstens philosophische Erkenntnisse sucht und zweitens eine Erkenntnis, die ihren Sinn und Nutzen in der Praxis sieht. Aristoteles denkt sich das Verhältnis von ethischer Erkenntnis zu sittlicher Praxis dialektisch: Die Ethik geht einen Weg, der selbst ein Erkennen ist, dessen Fruchtbarkeit aber in einem sittlichen Leben liegen soll. Der Erkenntnis ist dieses Postulat nicht nachträglich und wie willkürlich angehängt, sondern es bestimmt vorlaufend ihre Aufgabe. Es ist eben dieses sittliche Engagement, das der aristotelischen Ethik ihr praxisnahes Profil gibt. In seiner Kritik an Piaton (Nikomachische Ethik 14) spricht Aristoteles es aus: Das Ziel der Ethik hat Konsequenzen für den Begriff des Erkennens. Im Verständnis des Aristoteles hat Piaton das Gute als eine allgemeine Idee gedacht. Die ersten Gegenargumente des Aristoteles sollen zeigen, daß ein solcher Begriff in sich widersprüchliche Momente enthalte und daher logisch unhaltbar sei.15 Am Schluß des Kapitels wechselt Aristoteles den Standpunkt seiner Kritik. Angenommen, ein solches Gutes würde existieren, ein Gutes, das eines ist und allgemein ausgesagt wird, oder aber ein Gutes, das abgetrennt an und für sich besteht, so kann der Mensch dieses Gute doch weder verwirklichen noch erwerben. Dann aber ist es fruchtlos.16 Diese zweite Kritik an Piaton lehnt jene abstrakte und leere Erkenntnis ab, die allein wissenschaftlichen Bedürfnissen genügt, praktischen gegenüber aber unbrauchbar ist. Die wahre Erkenntnis dient nicht allein dem Wissen, sondern auch dem Leben.17 Eine Meinung, wie die Fichtes, Wissenschaft sei von allem, wo sie möglich ist, Zweck an sich,18 teilt Aristoteles nicht. Das Prinzip der Sittlichkeit zu deduzieren, ist weder die einzige noch die vornehmliche 14 15

16 17 18

Vgl. G. Bien, 304. I 4, 1096a 11-b 31. Zu Aristoteles' Piatonkritik: H. Flashar, „Die Kritik der platonischen Ideenlehre in der Ethik des Aristoteles", in: Synusia, Festgabe für W. Schadewaldt, Pfullingen 1965, 223-246. 1096b 31-1097a 14. X 1, 1172b 3-7. J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Vorerinnerung zum 1. Hauptstück, Jena/Leipzig 1798.

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Aufgabe der praktischen Philosophie. Aus demselben Grund ist auch Piatons Altersvorlesung Über das Gute keine praktische Philosophie. Denn in dieser Vorlesung geht das Wissen bloß seinen eigenen Problemen nach, den Problemen von Einheit, Differenz und beider Einheit. 19 Es ist ein Wissen vom Guten, das sich selbst genügt, ein autarkes Wissen, und gehört daher, vom Ziel her betrachtet, zur theoretischen Philosophie. Letztlich will Aristoteles nicht wissen, wie das Gute widerspruchslos zu denken ist, sondern wie das Denken dem Gutsein hilft; das sittliche Engagement begründet eine praxisgeleitete Fragestellung. Die aristotelische Ethik sucht deshalb nicht eine autarke Metaphysik des Guten oder der Freiheit, sondern eine praktische Philosophie, die deren Vollzug ermöglicht. Daher entwickelt sie ein Modell menschlicher Tätigkeit, das, am Begriff der Bewegung orientiert, durch seine Kategorien „Streben" und „Tätigsein" 20 den Vollzugscharakter tatsächlich erklärt; deshalb konstituiert sie sich als eine anthropologische Untersuchung des Glücks, die sich am wirklichen Leben orientiert; eine Untersuchung, die nicht nur das beste, das gottähnliche Leben erforscht, sondern auch das zweitbeste, das spezifisch menschliche Leben, und dieses Leben nicht bloß privativ vom besten aus erklärt, 21 sondern auch eigenständig in sich selbst. 22 Als theoretische Philosophie - um den Unterschied an einem Gedankenexperiment zu erläutern - könnte die aristotelische Ethik nach ihren ersten sechs Kapiteln, in der Mitte des ersten Buches etwa, schließen. Denn bis dahin werden der formale Begriff des Guten und sein Prinzip, das Glück, hinreichend bestimmt. 23 Weitergetrieben wird die Untersuchung nur deshalb, weil sie nicht nur fragt, was das Gute ist, sondern auch, wie man gut wird, weil sie nicht die Sittlichkeit, sondern das sittliche Handeln, die Lebenswirklichkeit selbst zum Gegenstand hat. Und dieser Gegenstand wird nicht nur allgemein, sondern in seinen verschiedenen Aspekten und gemäß den unterschiedlichen Lebensbereichen erörtert. Allein eine différentielle und lebensnahe Untersuchung vom

" 20 21 22 23

Zum Inhalt von Piatons Altersvorlesung: K. Gaiser, Piatons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963. όρεξις ívtpyeia. So EN X 8. II-X5. Am Schluß des Kapitels I 6 steht die abschließende Definition des für den Menschen Guten (1098a 16-20).

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Wesen des Guten holt das Sittlichsein und Sittlichwerden nicht bloß kognitiv, sondern auch praktisch ein.24 c. Die ethische

Fundamentaldifferenz

Impliziert der Begriff einer lebensnahen Ethik, daß sie den Menschen sittlich macht? - Das Verhältnis der Ethik zum sittlichen Handeln, die moralphilosophische Variante des Theorie-Praxis-Problems, kann man sehr verschieden, ganz formal betrachtet in drei Modellen denken: Die Vorstellung, Erkennen und Handeln fielen in eins, nenne ich das Identitätsmodell; Divergenzmodell nenne ich die Vorstellung einer bloßen Verschiedenheit; Konvergenzmodell schließlich den Versuch, beide Positionen zu vermitteln. Die Grundthese des Aristoteles, Ethik ziele nicht auf Erkenntnis, sondern auf Handeln, enthält die negative Behauptung, der Ethik gehe es letztlich nicht um die Erkenntnis. In diese kurze Formel - so wird es in der Parallele der Eudemischen Ethik deutlich25 - spitzt Aristoteles seine Kritik an Sokrates zu; zugleich enthält diese Formel eine Kritik am Identitätsmodell. In der Vorstellung des Aristoteles26 zielt bei Sokrates die Philosophie nach Erkenntnis der Tugend, 27 und diese Erkenntnis dient der Tugend selbst. Mit der Vermittlung philosophischer Erkenntnis glaubt Sokrates die Sache selbst zu vermitteln; wer erkennt, was die Gerechtigkeit ist, wird selbst gerecht. Leitbild für diese Identitätstheorie sind Handwerker und theoretische Wissenschaftler. Denn hier trifft es zu, daß eine Eigenschaft kennenlernen und sie erwerben in eins fallt; wer Mathematik studiert, wird Mathematiker, und wer das Bauen von Häusern lernt, ein Baumeister.28 Auf das sittliche Handeln übertragen heißt es: das Wesen des Guten kennenlernen und selber Gutwerden ist ein Vorgang; zugespitzter: Wissen ist Tugend.29 In einer guten Erkenntnis

24

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26

27 28

29

Es ist deshalb zu wenig gesagt, wenn man die These, die Ethik ziele nicht auf Erkenntnis, sondern auf Handeln, nur auf den unreifen Hörer bezieht (Dirlmeier, NE 270). Denn an das sittliche Handeln können recht unterschiedliche Fragen gestellt werden, und welche Fragen tatsächlich relevant sind, bestimmt das Ziel, das die Untersuchung leitet. EE I 5, 1216b 2 - 2 5 . Siehe auch MM I 1, 1182a 1 5 - 2 3 und die Kommentare von Dirlmeier zu diesen Stellen (Dirlmeier, EE 1 8 0 - 1 8 3 , M M 1 6 1 - 1 6 3 ) und N E VI 13, 1144b 17 ff. An dieser Stelle wird eine mögliche ethische Position erörtert, nicht ihre Identifizierung mit dem historischen Sokrates.

άρβτή. EE I 5, 1216b 8 f.

Vgl. NE III 11, 1116b 4 f.: ό Σωκράτης ψήθη ίτηστημηρ eivai την àvôpeiav. 66

des sittlichen Handelns fällt das sittliche Engagement mit der kognitiven Leistung zusammen. Wer nicht gut handelt, dem fehlt nur das Wissen um das Gute; die Ethik aber, die dieses Wissen vermittelt, hat taterzeugende Kraft. Das Divergenzmodell steht konträr zum Identitätsmodell, nach dem das zu tuende Gute nicht erkannt, sondern gefühlt oder einfach festgesetzt wird. Dieser Vorstellung zufolge hat das Wissen vom Guten, die Ethik, ausschließlich einen Erkenntniswert. Sie ist wissenschaftlich autark - um den Preis, sittlich folgenlos zu sein. Mit dem Divergenzmodell hat sich Aristoteles nicht auseinanderzusetzen; denn ohne Frage ist das sittliche Engagement leitendes Ziel seiner Ethik. Ähnlich fraglos ist auch der Zugriff des Erkennens. Die sokratische Position, Ethik rufe sittliches Handeln hervor, wird deshalb nicht vollkommen abgelehnt; abgelehnt wird nur die Unmittelbarkeit des Hervorrufens. Und diese Ablehnung kommt nicht von einem Begriff der Philosophie her, sondern vom ethischen Gegenstand selbst. Man kann nämlich das Gute wissen und doch nicht gut handeln; das ist das Phänomen des Unbeherrschten. 30 Zwischen dem Wissen um die sittliche Forderung und dem Befolgen ist deshalb ein Hiatus anzunehmen, den Aristoteles im Unterschied zu Sokrates durch ein differenzierteres Modell menschlichen Handelns erklärt, durch das Modell vernünftigen Strebens. Nach diesem Modell fallen Erkenntnis und Handeln weder zusammen noch sind sie grundsätzlich geschieden. Zwischen dem Identitätsmodell und dem Divergenzmodell steht als vermittelnde Position Aristoteles' Konvergenzmodell. Auch durch das Wissen entsteht sittliches Handeln, aber nicht durch das Wissen allein. Die Energie und das Ziel des Handelns entspringen dem Streben (beim Unbeherrschten den blinden Leidenschaften, einer sittlichen Gewöhnung beim Beherrschten); die Aufgabe der Erkenntnis ist allein die Überlegung der Mittel. 31 Alles Wissen um das Glück ist so lange nutzlos, wie es nicht vom Handelnden in sein Streben aufgenommen ist; zwischen dem sittlichen Handeln und dem Wissen um das Sittliche ist notwendig eine Differenz. Ich nenne sie die sittliche Differenz. Ob man den guten Bürger oder den „praktizierenden" Philosophen betrachtet; beide erfüllen ihre Existenzweisen erst dann, wenn sie das gute Leben nicht nur kennen, sondern auch zielstrebig verfolgen; die sittliche Differenz gilt für beide Lebensformen, für die politische wie für die theoretische. Im letzten Kapitel der Nikomachischen Ethik zählt Aristoteles die Themen auf, die er im Laufe der Abhandlung erörtert hat, fragt, ob er damit sein Ziel

311 31

άκρατης (1 13, 1102b 1 3 - 2 8 und die ausgedehnte Analyse im 7. Buch der NE). Vgl. Kap. I la.

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erreicht habe, und fáhrt mit der als Frage formulierten These fort: Geht es um das Handeln, so ist es nicht das Ziel, all dieses zu betrachten und zu erkennen, sondern es auch zu tun.32 Wenn man diese These aufschlüsselt, so nennt sie drei Momente des Begriffs von Ethik: Erstens dient die Ethik dem Handeln; zweitens leistet sie Erkenntnis; und drittens bleibt diese Erkenntnis hinter dem zurück, was der zu erkennende Gegenstand erfordert. Die Ethik ist eine sittlich engagierte Philosophie, die ihr sittliches Engagement nie voll erfüllen kann. Aristoteles sagt es selbst: Über Tugend Bescheid zu wissen heißt nicht, tatsächlich tugendhaft zu sein.33 Auch hier ist eine grundsätzliche Differenz, die Differenz zwischen der Theorie der Praxis und der Praxis selbst. Diese zweite Differenz wird durch die erste, die sittliche Differenz begründet. Weil das sittliche Handeln Gegenstand der Ethik ist und zugleich ihr Ziel, kehrt eine Grundstruktur des Gegenstandes auf dem Niveau der philosophischen Erkenntnis wieder. Um das Argument noch einmal zusammenzufassen: Die aristotelische Ethik untersucht das Sittlichwerden mit dem Ziel, durch ihre Erkenntnis selbst sittlich zu machen. Da man dieses Ziel durch Vernunft und Gewöhnung erreicht, 34 die Ethik selbst nur eine Form von Vernunft ist, läßt sich das Ziel, das Sittlichwerden, durch die Ethik allein nicht erreichen. Das sittliche und das philosophische Engagement der aristotelischen Ethik schließen sich nicht gerade aus; sie stehen aber in einer gewissen Spannung. Zwischen dem Ziel der philosophischen Erkenntnis und ihren tatsächlichen Möglichkeiten ist eine fundamentale Differenz. Diese Differenz existiert aber nicht innerhalb des ethischen Wissens selbst - die Ethik macht nirgendwo einen „Sprung" - , sondern zwischen dem Wissen und dem, worumwillen man weiß; sie existiert zwischen dem philosophischen Wissen und dem tatsächlichen Handeln. Weil die Differenz nicht in die Ethik fällt, sondern die Ethik in ihrer Eigenart (als praktische Philosophie) begründet - die Ethik greift nach etwas aus, was sie notwendig Fundamentaldifferenz. nicht einholt - , deshalb nenne ich sie die ethische Die ethische Fundamentaldifferenz ist vom aristotelischen Modell sittlichen Handelns unabhängig. Gleich ob die Ziele durch Gewöhnung oder durch einen autonomen Willen gesetzt werden, die Philosophie selbst setzt sie nicht. Eine

32 33 34

X 10, 1179a 35/b 2. X 10, 1 179b 2 f. Vgl. X 10, 1179b 2 0 - 3 1 . Hier nennt Aristoteles insgesamt drei Ursachen des Sittlichwerdens: Natur (φύσις), Gewöhnung (ϊθος) und Belehrung ( δ ι δ α χ ή ) ; für die gegenwärtige Argumentation kann von der dritten Ursache (φύσις) abgesehen werden.

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Philosophie kann bestenfalls Ziele erkennen und dem Handelnden anbieten. Der Handelnde aber muß sie selber anerkennen und auf Grund dieser Anerkennung unbeirrt verfolgen. Kein Wissen hat die Kraft, Antriebe zu fixieren und Leidenschaften zu formen; auch die beste Erkenntnis kann nicht sittlich machen; sie ist wie ein Richtungspfeil, der den Weg zum Gutsein weist, das Gehen des Weges aber dem Betrachter freistellt. Der Grund der ethischen Fundamentaldifferenz ist nicht allein der Gegenstand, auch nicht allein das sittliche Engagement oder die philosophische Methode, sondern ein Verhältnis, das Verhältnis von philosophischem Zugriff zu sittlichem Engagement; der Grund ist die Differenz zwischen dem, was die Philosophie leistet, und dem, worum willen sie es tut. Deshalb ist die Differenz nicht nur ein Strukturmerkmal der aristotelischen Ethik, aber auch nicht ein Merkmal von Ethik überhaupt, sondern ein Merkmal jeder Ethik, die sittlich engagiert ist, jeder Ethik also, die sich als praktische Philosophie versteht. Jene Philosophie heißt praktisch, die ihren Sinn im sittlichen Handeln findet, ohne das sittliche Handeln je selbst besorgen zu können. Insofern ist die praktische Philosophie eine unvollkommene Wissenschaft, unvollkommen allerdings nicht im Verhältnis zu anderen Wissenschaften, sondern im Verhältnis zu ihrem Gegenstand und Ziel, dem sittlichen Handeln. Die ethische Fundamentaldifferenz bezeichnet daher keinen Mangel an Wissenschaftlichkeit, sondern jene Art von Wissenschaft, die dem ethischen Gegenstand angemessen ist. Man mag einwenden, daß der als „ethische Fundamentaldifferenz" bezeichnete Abstand von ethischer Erkenntnis und sittlichem Handeln für die Ethik gar nicht spezifisch sei, der Abstand vielmehr eine Differenz jeder Wissenschaft bezeichne, die Differenz zwischen den allgemeinen Begriffen der Wissenschaft und ihrer konkreten Bestimmung in der Wirklichkeit. Zugegeben: Zwischen jeder noch so ausführlichen Wissenschaft und der tatsächlichen Praxis existiert notwendig ein Bindeglied, die Urteilskraft, die erst entscheidet, ob etwas ein Fall der Wissenschaft ist oder nicht. Nur bezeichnet der Abstand, den die Urteilskraft überbrückt, eine Differenz im Wissen, die Differenz zwischen einem allgemeinen und einem konkreten Wissen. Der Abstand „ethische Fundamentaldifferenz" bedeutet aber nicht irgendeine Differenz im Wissen, sondern die Differenz zwischen der Erkenntnis des Guten, dem sittlichen Sachverhalt, und seinem zielstrebigen Verfolgen, der sittlichen Affirmation; er bedeutet die Differenz zwischen Wissen und Tun.

69

Nach De anima bewirkt etwas anderes, dem Wissen gemäß zu handeln, als das Wissen selbst, und als Beispiel nennt Aristoteles die Medizin. 35 Nicht allein, weil man Medizin studiert hat - so ist die Analogie zu verstehen - , heilt man Kranke, sondern weil man außer dem medizinischen Wissen noch das Bestreben hat, Kranke gesund zu machen. Weil die Ethik allein nicht sittlich machen kann, schränkt Aristoteles' Ethik zuletzt ihren Anspruch ein. Im Einleitungskapitel sagt Aristoteles lapidar, daß die Ethik nicht auf Erkenntnis, sondern auf Handeln ziele; 36 im zweiten Buch heißt es, die Untersuchung habe den Sinn, daß wir sittlich werden; 37 im Schlußkapitel aber nimmt Aristoteles die Sicherheit zurück und meint, man müsse sich zufrieden geben, wenn die Ethik an der Tugend einen Anteil hat. 38 Wer von der Philosophie Orientierung im sittlichen Handeln erwartet, findet diese Erwartung bei Aristoteles anerkannt. Die aristotelische Anerkennung ist aber zugleich eine Kritik jener naiven Erwartung, daß eine sittlich engagierte Theorie selbst sittlich machen könne. Die philosophische Ethik ist keine sittliche Technik, die im Prozeß der Erkenntnis das Sittlichsein herstellt, noch ist sie eine Asketik, die Anweisungen gibt, wie man sittlich wird.

D e an. III 9, 4 3 3 a 4 - 6 . το τέλος èoTiv où 7l'aiσις ά λ λ ά

ττράξις (EN I 1, 1095a 5 f.). σκίττόμίθα ... ΐν' ά-γαθοί Ύβνώμβθα (II 2, 1103b 28). àya^TÒv δ' ίσως ίστίν ei ... μβταλάβοψβν της àytrriç. (Χ 10, 70

1179b 1 8 - 2 0 )

3. Der Ausgangspunkt der Ethik: wirkliche Sittlichkeit

a. Die Idee einer analytischen

Ethik

Negativ charakterisiert ist eine sittlich engagierte Philosophie nur per hiatum möglich. Was aber leistet sie positiv? Der zweite Methodenabschnitt der Nikomachischen Ethik nennt das Prinzip.1 Mit Berufung auf Piaton unterscheidet Aristoteles hier zwei Arten zu denken: ein Denken, das von den Prinzipien ausgeht, von einem anderen, das zu ihnen hinführt. 2 Die Prinzipien sind ein Erstes, aus dem etwas entsteht, besteht oder erkannt wird; 3 sie sind ein erstes Woher, 4 ein Ur-sprung. - Der Weg von den Prinzipien führt von den begrifflichen Elementen einer Sache zum Begriff der Sache oder von den Bedingungen zum Bedingten; es ist der Weg, der einen Begriff aus seinen Elementen zusammensetzt oder aber der deduktive Weg wissenschaftlichen Beweisens, der einen Sachverhalt aus seinem Ursprung, aus ersten und wahren Sätzen, heraus ableitet und erklärt. 5 Im Weg zu den Prinzipien wird der Ursprung allererst gesucht; der Sachverhalt wird reduktiv auf seine Bedingungen zurückgeführt, oder in einer Dihairese werden die Elemente eines Begriffs herausgearbeitet. Diesen methodischen Unterschied vergleicht Aristoteles mit einem Wettlauf, bei dem dieselbe Strecke zweimal durchmessen wird. Entsprechend sind die Methoden nicht getrennte, miteinander konkurrierende Forschungswege, sondern komplementäre Aspekte des Denkens. Es ist jeweils ein und derselbe Gedankengang, nur in verschiedener Richtung durchlaufen: die Synthese erklärt aus Elementen, die die Dihairese auseinanderlegt; die Deduktion beweist aus Gründen; die Reduktion legt sie erst frei. Diesen Dualismus philosophi1

2 3

EN I 2, 1095a 30/b 13.

οι άτο των άρχων λόγοι καί o i έτι τάς άρχάς. (a 31 f.) Met. V 1, 10134a 17-19.

4

το ττρώτον elvca όθεν (ebd., a 18).

5

Vgl. An. post. I 1. 71

scher Methodik läßt Aristoteles stehen; er interessiert sich nur für die Frage, welchen Weg das Denken zuerst nimmt. Das Denken knüpft an das an, was bekannt ist. In einer für die Struktur des Denkens fundamentalen Differenzierung spricht man vom Bekannten in zweierlei Bedeutung: vom Bekannten an sich und vom für uns Bekannten. 6 Eine Sache, klar und völlig durchsichtig, ist an sich bekannt. Bei dieser Klarheit und Durchsichtigkeit fangt das Denken nicht an; es strebt danach. Am Anfang forschenden Denkens steht das für uns Bekannte; das Denken hat nie eine Sache an sich zum Gegenstand, sondern eine primäre Reflexion. Auch die Ethik fangt, wie jede Forschung bei dem an, was wir schon wissen. 7 Diesen methodischen Grundsatz erörtert Aristoteles ausführlicher zu Beginn seiner Physikvorlesung: Der Weg der Untersuchung führt von dem, was seiner Natur nach undeutlicher, uns aber deutlicher ist, zu dem, was seiner Natur nach deutlicher und einsichtiger, uns aber undeutlicher ist. 8 Das für uns deutlichere Wissen ist ein noch undifferenziertes Wissen (Aristoteles nennt es ein „Zusammengeflossenes"), 9 eine ungegliederte Mannigfalt, wie wir sie in einem komplexen Wahrnehmen oder Verstehen aufnehmen. In dieser primären Phase des Wissens ist der Gegenstand nur im allgemeinen10 begriffen. Das Allgemeine ist der notwendige Ausgangspunkt für eine Dihairese, die aus der zunächst ununterschiedenen Einheit die Elemente und Prinzipien herauslöst und für sich und gegeneinander bestimmt. In der zweiten Phase des Wissens ist das primär Gewußte nicht so sehr um neue Gehalte bereichert als um eine neue Qualität. Die Leitidee der Philosophie als dihairetischer Wissenschaft ist die Klarheit. In einem Rückgang hinter das Faktum weist die Philosophie sukzessive jene Momente auf, die in der Sache synthetisch enthalten sind. Was in der Ausgangsphase des Wissens schon implizit gesetzt ist, wird durch die Dihairese explizit. Um philosophieren zu können, hat man grundsätzlich ein Vorwissen mitzubringen; Philosophie stellt das

6

7 8

9 10

τα μεν yàp ήμϊν τα δ' απλώς (EN I 2, 1095b 2 f.). Ihrer fundamentalen Bedeutung entsprechend nennt Aristoteles die Differenzierung noch häufiger: An.post. 1 2 , 71b 33 ff; Top. VI 4, 141b 3 ff; Phys. I 1, 184a 16 ff; Met. VII 3, 1029b 3 - 5 u.a. Ισως ουν ήμιν ye άρκτεον ατό των ήμίν -γνωρίμων. (EN I 2, 1095b 3 f . ) ανάγκη τον τρόπον τούτον τrpoáyeiv εκ των άσαφεστίρων μεν τη φύσει ημϊν δε σαφεστέρων έττϊ τα σαφέστερα τη φύσει καΐ yvωριμώτepa. (Phys. I 1, 184a 1 9 - 2 1 ) Zum Einleitungskapitel der Physik: Wagner, 3 9 0 - 3 9 5 und Ross, Phys. 4 5 6 - 4 5 8 . τα συγκεχυμένα (a 21 f.). των καθόλου (a 2 3 f.). Zur mehrfachen Bedeutung dieses Ausdrucks bei Aristoteles: weiter unten, Kap. II 5b.

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Wissen nicht ursprünglich her, sondern sie vergewissert sich eines schon Gewußten. Die Dihairese ist nicht die einzige Methode, um zu Prinzipien zu gelangen. Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik hat Aristoteles gezeigt, daß das sittliche Handeln aus dem Vorgriff auf ein Unbedingtes zu denken ist." In der Reflexion auf den Begriff des Glücks führt Aristoteles transzendentalreduktiv das sittliche Handeln auf jenes höchste Ziel zurück, das sich selbst genügt. Weil dieses Ziel, das Glück, die erste Bedingung der Möglichkeit alles Guten ist, heißt es deren Prinzip und Ursache. 12 Sowohl die dihairetische als auch die reduktive Methode führen also zu Prinzipien. Wenn die vorliegende Arbeit beide Methoden meint, spricht sie von Analyse. Eine Analyse läßt sich durch Umkehrung überprüfen: die Dihairese durch eine Synthese, die Reduktion durch eine Deduktion. Der synthetische Gedankengang setzt die Sache aus den dihairetisch gewonnenen Elementen und Prinzipien wieder zusammen, und die Deduktion leitet das Bedingte aus dem Bedingenden ab. Die Umkehrung der Analyse ist wie eine nachträgliche Probe, die zeigt, ob die Rechnung auch stimmt; wenn die Analyse sorgfältig genug ist, kann man sich die sekundäre Probe schenken. Geleitet von der Idee der Klarheit und im Ausgang von einem komplexen Wissen sucht Philosophie den Ursprung: die Elemente und Prinzipien dieses Komplexes analytisch freizulegen. Die Analyse ist das wesentliche Geschäft jeder Philosophie und auch die erste Aufgabe philosophischer Ethik. An diese Grundidee erinnert Aristoteles, wenn er im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik sagt, wir müssen mit dem anfangen, was uns bekannt ist.13 Deutlicher heißt es in der Eudemischen Ethik, man müsse von wahren, aber nicht klaren Vorstellungen zu klarem Wissen fortschreiten. 14 Die Methode jeder philosophischen Forschung, die Analyse, ist auch die Methode philosophischer Ethik. - Um einen wissenschaftlichen Argwohn gegen das sittliche Engagement zu zerstreuen: Die Idee einer analytischen Wissenschaft reflektiert nicht die spezifische Situation der Ethik, ihren Gegenstand oder ihr sittliches Engagement. Vom Begriff der Methode her macht Aristote-

" 12 13 14

Siehe oben, Kap. I l b . EN 1 12, 1102a 1 - 1 3 . EN I 2, 1095b 3 f. EE I 5, 1216b 3 2 - 3 5 : ίκ yàp τών αληθώς μϊν \ε·γομίνων ου σαφώς δί βσται και το σαφώς, μίταΚαμβάνουσιν àeì τα ~γνωριμώτίρα των άωθότων σνγ κεχυμίνως.

73

τροϊούσιν \ί·γίσθαι

les keinen Unterschied; was für jede Wissenschaft gilt, ist daher auch für die Ethik zu fordern: methodische Strenge. In der Idee einer analytischen Wissenschaft gewinnt das philosophische Engagement aristotelischer Ethik sein Profil. Aristoteles' Ethik ist Dihairese, sie ist Prinzipien- und Ursachenforschung; sie ist ganz allgemein die methodische Fortsetzung und Vollendung eines vorausgesetzten Wissens von Sittlichkeit. Nach dem sittlichen Modell ist die aristotelische Ethik ein Buch philosophischer Lebensweisheit.15 Gegen diese Auffassung ist einzuwenden, daß dem Begriff sekundären Wissens folgend sittliche Urteile nicht gefällt, sondern analysiert werden: kein Entwerfen, Rechtfertigen oder Kompromittieren; nicht die Lebensweisheit eines überlegenen Weltbürgers und am wenigsten eine „Schulmeister-Ethik", die den Menschen verkündet, sie müßten ganz anders leben. Einer streng analytischen Ethik ist jede sittliche Dogmatik, jede moralische Restauration oder Reform, fremd; auf emotionale Antriebe zum sittlichen Handeln kann sie verzichten.16 Die Philosophie lehrt nicht, wie die Welt sein soll, sondern wie sie zu denken ist. b. Die Voraussetzung

sittlich-politischer

Erfahrung

Ob als selbständiger Forscher oder nachvollziehender Hörer - wer die Sittlichkeit analysiert, muß von dieser Sittlichkeit etwas verstehen; ohne dieses Vorverständnis ist die philosophische Frage nicht möglich. Wenn das Vorwissen bei jedem vorausgesetzt werden kann, ist es wenig problematisch. Eine theoretische und rein formale Disziplin wie die transzendentale Logik, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Ganzen fragt, hat auf Grund ihrer Frage die Erkenntnis schon als wirklich gesetzt und im voraus verstanden. Da die Erkenntnis, „hinter unserem Rükken" immer gegenwärtig ist - selbst im Zweifel, ihrem defizienten Modus, ist ein Erkennen wirklich - , ist der Anfang der transzendentalen Logik jedem zugänglich. Wie die transzendentale Logik ein theoretisches Wesen voraussetzt, so müßte analog die Ethik ein sittliches Wesen voraussetzen, da vor jeder philosophischen Untersuchung die Sittlichkeit schon gesetzt und vorverstanden hat. Aristoteles stellt für seine Ethik jedoch eine weitergehende Bedingung. Der zweite Methodenexkurs der Nikomachischen Ethik, der zeigt, daß die philosophische Untersuchung bei einem Vorwissen anhebt, fordert, daß jeder, der

15 16

Siehe oben, Einf. Kap. 2b. Vgl. Dirlmeier, N E 269.

74

Vorlesungen über das Schöne und Gerechte und überhaupt über die politische Wissenschaft (und die Ethik ist eine politische Disziplin)17 mit Verständnis hören will, in guten Gewohnheiten aufgewachsen sein muß. 18 Von ihrer Voraussetzung her wird die Ethik nicht schon durch die allgemeine Idee einer analytischen Wissenschaft charakterisiert, sondern erst durch die Applikation dieser Idee auf eine besondere Situation. Die aristotelische Ethik, eine sekundäre Belehrung über Sittlichkeit, setzt das primäre Belehrtsein voraus; primär belehrt ist aber nur, wer selbst in sittlicher Gewöhnung aufgewachsen ist. Die theoretischen Disziplinen sind uns vertraut. Da die Struktur der praktischen Philosophie jener vertrauten Struktur zuwiderläuft, ist uns Aristoteles' These nicht geläufig. Daß eine Wissenschaft Voraussetzungen haben soll, die nicht nur das Wissen, sondern den Ausübenden, den Wissenschaftler selbst betreffen, diese These klingt fremd. Aristoteles aber beharrt auf seiner Voraussetzung; er nennt sie nicht nur im zweiten Methodenexkurs der Nikomachischen Ethik, sondern auch im ersten und begründet sie hier durch zwei Argumente. 19 1. Auf die didaktisch gewendete Frage, wen seine Abhandlung ansprechen könne, antwortet er: nicht den jungen Menschen. 20 - Wie läßt sich die Behauptung, daß über die Qualifikation zur Ethik ein so äußerliches Kriterium, wie das Alter, entscheiden soll, begründen? Ganz allgemein fordert Aristoteles von seinen Hörern, daß sie den Vortrag beurteilen können. 21 Die Philosophie informiert nicht über bisher unbekannte Fakten, die schlicht zu rezipieren sind, sondern sie analysiert einen schon bekannten Gegenstand, den man auf Grund eines Vorwissens Schritt für Schritt und im ganzen kritisch prüfen kann. Wer nicht gerade die gründlichen Kenntnisse des Fachmanns besitzt, wer aber auch nicht nur einen oberflächlichen Eindruck von der Sache hat, sondern mit ihr soweit vertraut ist, daß er eine wissenschaftliche Untersuchung vornehmen kann, den nennt Aristoteles einen Gebildeten und diesen Hörer spricht er hier

17 18

19 20 21 22

Siehe Kap. I lc. NE I 2, 1095b 4 - 6 : διό Sei τοις ideaiv ηχθαι καλώς τον ττβρί καλών και δικαίων καΐ όλως τών πολιτικών άκουσόμίνον ικανώς. (Ubers, nach Ross) I 1, 1094b 27-1095a 11. της πολιτικής ουκ ΐστιν oUeîoç ακροατής ò νίος. (a 2 f.) κρίνα (b 27 f.). ιπταιδαυμίνος (NE 1094b 28-1095a 2). Den Begriff der Bildung untersucht Aristoteles näher in PA I 1, 639a 1 ff. - PA I ist ursprünglich eine selbständige Schrift über Fragen der wissenschaftlichen Methode (I. Düring, 113).

75

Ein kritisches Bewußtsein fiir Ethik bringt der mit, der Lebenserfahrung hat: Erfahrung im Umgang mit Geld; Erfahrung in Situationen von Ärger, Lust und Zorn; Erfahrung von Klugheit, von Wissenschaft und Freundschaft; mit einem Wort - da Aristoteles das Handeln in all seinen Bereichen und Aspekten analysiert - Erfahrung in der ganzen Breite menschlichen Lebens. Diese reiche Lebenserfahrung - man könnte sie auch praktische Allgemeinbildung nennen, denn wer nicht nur in bestimmten Bereichen, sondern in allen gebildet ist, den heißt Aristoteles allgemein gebildet23 - , diese reiche Lebenserfahrung besitzt der junge Mensch nicht. 24 Die Erfahrung ist ein Modus des naiven Bewußtseins, ein Modus, der sich nach dem Einleitungskapitel der Metaphysik vom wissenschaftlichen Modus darin unterscheidet, daß die Sachverhalte nur in ihrer Faktizität, nicht auch in ihrer Begründung gewußt sind. 25 Der Erfahrene hält sich beim einzelnen auf 26 und sucht, durch den häufigen Umgang mit der Sache bekannt und vertraut zu werden. Dieses Vertrautwerden ist aber eine Frage der Zeit. 27 Weil sich Aristoteles' Ethik nicht auf transzendentale Begriffsanalysen beschränkt (etwa auf die formale Analyse eines höchsten Guts), sondern das Leben selbst analysiert, deshalb ist der junge Mensch für diese Ethik nicht geeignet. Eine Erfahrung des Gegenstandes ist für die Ethik nicht spezifisch; die Erfahrung ist auch für die Naturphilosophie oder ganz allgemein für all die Wissenschaften unerläßlich, die nicht wie die mathematischen oder mathematisierten Wissenschaften bloß auf reiner Rationalität beruhen; für all die Wissenschaften also, die nicht nur das Einüben ihrer Methode, sondern auch ein primäres Wissen ihrer Gegenstände voraussetzen. 28 Im Unterschied zur Naturerfahrung kann die Lebenserfahrung aber von zwei Aspekten: von einem sittlichen und einem sittlich neutralen her gedacht werden. Man sammelt seine Lebenserfahrung im Zusammenleben mit anderen; dieses Zusammenleben kann von zwei Aspekten: vom bloßen Überleben und vom guten Leben her gedacht werden. 29 Wer nun das Zusammenleben als eine arbeitsteilige Gesellschaft, als ein System der Lebensbedürfnisse und ihrer

23 24 25

26 27 28 29

-πάν πβταιδευμένος (1095a 1 f.). άπειρος yàp των κατά τον βίον πράξεων (a 3). Met. I 1, bes. 981a 28 f.: oi μίν yàp εμττεφοι το 6τι μϊν Ισασι, διότι δ'ουκ Vgl. Ross, Met. 1 1 4 - 1 2 0 und W. Bröcker, Kap. I 1. 981a 15 f. Vgl. N E II 1, 1103a 16 f. VI 9, 1142a 1 6 - 2 0 . Pol. I 2, 1252b 2 7 - 3 0 ; siehe oben, Kap. I l c .

76

Ισασιν.

Befriedigung sieht, wer die verschiedenen Berufe und ihr Zusammenspiel kennt, wer um die Ordnung des Tausch Verkehrs, um Kriegs- und Handelsbündnisse weiß, besitzt zwar Lebenserfahrung, aber noch kein ethisches Vorwissen. Da die Ethik keine Theorie des naturalen, sondern des sittlichen Handelns ist, erfordert sie Erfahrung des Polis-Lebens im sittlichen Sinn von Polis; sie erfordert Erfahrung im Zusammenleben von Freien, eine Erfahrung, die man im freien Zusammenleben macht. Daher sagt Aristoteles im zweiten Methodenexkurs deutlicher als im ersten, daß der Hörer seiner Ethik in guten Sitten und Gewohnheiten aufgewachsen sein muß. 3 0 Diese These impliziert drei begriffliche Momente: erstens ist der Hörer der sich politisch verstehenden Ethik nicht ein theoretisches, sondern ein politisches Wesen; die Gemeinschaft, in der er aufwächst, und ihre Sitten, Bräuche und Gesetze dienen nicht dem bloßen Leben, sondern dem sittlichen Leben, der Hörer ist ein politisches Wesen im sittlichen Sinn von Polis, er ist im antiken Sinn ein freies Wesen. 3 ' Zweitens ist das politische Leben nicht als bloße Möglichkeit vorzustellen, sondern der Hörer muß es tatsächlich vollziehen; und drittens muß er durch einen längeren Vollzug mit seiner Lebensweise hinreichend vertraut geworden sein, so daß er reiche politische Erfahrung besitzt. Da die Struktur des ethischen Erkennens beim produktiven Forscher nicht anders als beim nachvollziehenden Hörer ist, trifft Aristoteles' Argumentation, die zunächst nur dem Lernenden gilt, auch für den Lehrenden zu. So weitet sich die didaktische Frage nach dem geeigneten Hörer zu dem mehr begrifflich formulierten Problem aus, wo die aristotelische Ethik ihren Anfang nehme, wie ihr wissenschaftlicher Gegenstand gegeben sei. Die Antwort, die Ethik hebe bei der eigenen politischen Erfahrung an, ist nicht zu eng aufzufassen, so als ob jeder einzelne Teil der aristotelischen Ethik ohne die Erfahrung unverständlich bliebe. Die Aussage betrifft die Ethik als ganze. Die formale Analyse des Begriffs vom höchsten Gut, noch mehr die metaethischen Erörterungen setzen diese Erfahrung nicht voraus. Aber diese Teile der aristotelischen Ethik sind nicht selbst ihr Zweck; sie dienen den ausgedehnten Untersuchungen der Tugend (der sittlichen und der Verstandestugenden), den Untersuchungen der Lust, der Freundschaft und schließlich der beiden höchsten Lebensformen, des politischen und des betrachtenden Lebens. Nur wer selbst politische Erfahrung hat, kennt den Gegenstand und kann die Analysen Schritt für Schritt und als Ganzes kritisch verfolgen.

30

31

EN I 2, 1095b 4 - 6 : δώ òtl τοις Wtaiv ήχθαι κ α λ ώ ς τον irepì καΧών και δικαίων καί όλως πολιτικών άκουσόμενον ϊκανώς. Siehe oben, Kap. 1 l e .

77

Das theoretische Modell hält die aristotelische Ethik für eine Aufgabe der theoretischen Vernunft. 3 2 Diese Auffassung ist zu modifizieren. Da für eine Analyse der Gegenstand, dessen Elemente und Prinzipien untersucht werden, als wirklich gesetzt und im voraus verstanden ist, enthält die Analyse des sittlichen Handelns, die Ethik, eine vorgreifende Erkenntnis wirklicher Sittlichkeit, eine Erkenntnis, die nur der besitzt, der selbst ein sittliches Wesen ist und reiche Erfahrung im politischen Leben besitzt. - Der Ausgangspunkt der Ethik sind nicht bestimmte Urteile, die evident sind oder über die man sich geeinigt hat; die Ethik knüpft nicht an theoretische Vorbedingungen an, sondern an eine praktische; der wahre Anfang der praktischen Philosophie ist die eigene sittlich-politische Erfahrung. Wenn Kant in der Kritik der praktischen Vernunft das Prinzip sittlichen Handelns sucht und als Autonomie bestimmt, dann ist diese Analyse nicht durch reiche Lebenserfahrung bedingt. Einer formalen und transzendentalen Analyse kann auch ein politisch unerfahrener Mensch kritisch folgen. Gleichwohl ist Kants Analyse von der eigenen Sittlichkeit nicht unabhängig. Sie setzt ein sittliches Bewußtsein voraus, ohne das die Erörterung keinen Gegenstand und der Leser keinen Maßstab hat, um die Argumentation als zutreffend oder unzutreffend beurteilen zu können. So verstanden ist auch die sprachanalytische Ethik nicht sittlich neutral. Ohne ein Vorverständnis von Sittlichkeit läßt sich in der Sprache nicht das identifizieren, was zur Sprache der Moral oder Sittlichkeit gehört. 3 3 Reflektiert oder nicht: das ethische Subjekt ist nicht nur ein theoretisches, sondern notwendig auch ein sittliches Subjekt. Wer über sittliches Handeln nachdenkt, steht nicht auf einem archimedischen Punkt außerhalb. Der Ethiker ist kein neutraler Beobachter, aber auch kein voreingenommener Zuschauer; er ist philosophierender Mitspieler: Zuschauer und Schauspieler in einem. Um sittlich zu machen, hält Aristoteles eine „praxisnahe" Vorlesung; der Erfolg dieser Vorlesung hängt jedoch nicht nur von ihr selbst, sondern auch von ihren Hörern ab; 34 Aristoteles kennt die Situation, daß man sich mit praktischen Dingen beschäftigt, ohne daraus Nutzen zu ziehen; das ist die Gesetzessammlerei der Sophisten oder ein medizinisches Fachbuch in der Hand eines Laien. 35 Wissen, das Nutzen sucht, praktisches Wissen hilft allein dem,

32 33 34 35

Vgl. Einf. 2a. Siehe oben, Einf. Kap. 1. I 1, 1095a 4 - 1 1 . Diese Beispiele spricht Aristoteles in Hinblick auf die Politik aus: NE X 10, 1181a

12—b 12. 78

der die Sache (Gesetze geben, K r a n k e heilen) selber praktiziert und soweit kennt, daß er ihre W i s s e n s c h a f t beurteilen und im eigenen T u n v e r w e n d e n kann. Für seine Ethikvorlesung fordert Aristoteles deshalb ηθος, Charakter. Ethos bezeichnet im Griechischen den gewohnten Aufenthaltsort j e d e r A r t Lebewesen, dann auch die gewohnte Lebensweise. N u n unterscheidet sich der M e n s c h vom Tier darin, daß er in seine Lebensweise nicht instinkthaft hineinwächst, sondern daß er sie selbst gründet; es ist eine Lebensweise, die er sich in einem Bildungs- und Sozialisationsprozeß selbst schafft; eine Lebensweise, in der er nicht notwendig und k a u m als Jugendlicher schon „ z u h a u s e " ist. Das geringe Alter ist also nur der periphere Teil des aristotelischen Arguments. Letztlich mißt sich die Untauglichkeit eines Hörers nicht an der Zahl seiner Jahre, sondern daran, ob er noch blind und unbeherrscht seinen augenblicklichen Neigungen folgt 36 oder ob er im politisch-sittlichen Leben schon festen Stand gewonnen hat. 37 Aristoteles weiß um die Bedingtheit seiner praktischen Philosophie; sie ist nicht die Sache eines jeden und f ü r jeden. Vor aller sittlichen Beeinflußbarkeit durch die Ethik muß der Mensch im sittlich-politischen Leben schon zuhause sein. Die Erfüllung des sittlichen Engagements ist selbst sittlich bedingt. Ohne politische Erfahrung hat der Ethiker keinen philosophischen Anfang, ohne einen festen Stand im politischen Leben hat sein Anfang keinen Sinn. Die ethische Voraussetzung ist theoretisch und praktisch zugleich: Wer keine Erfahrung im Zusammenleben von Freien hat, für den ist ein Studium der aristotelischen Ethik weder möglich noch sinnvoll.

c. Das primäre

Wissen

W o und wie greift m a n das W i s s e n v o m politischen Leben philosophisch auf? W i e findet m a n j e n e empirischen Allgemeinheiten, die allen vertraut sind? Man fragt die Menschen selbst oder man hört (wie Aristoteles) auf ihre Reden. Die aristotelische Ethik geht von d e m aus, was die M e n s c h e n selbst über ihr Leben denken und sagen; dieser hypoleptischen Methode 3 8 folgen die meisten d e r Analysen, und zu Beginn der Analyse der Klugheit spricht Aristo-

36

37

38

1095a 4-9: τοις ιτάθβσιν άκοΚουθητικος ων ματαίως άκοΰσίταί καί άνωφελώς, ... καθάτπρ τοϊς άκρατίσιν. 1095a 6-8: δ ι α ί ρ ε ι δ' ούδΐν νίος την ήλικίαν η το ηθος veapôç- ού -γαρ παρά τον χρόνον ή ϋλλαι/ τάΧηθίς

TV βκάστοις

όράν,

ώστερ

κανών

ων. (III 6 , 1 1 1 3 a 3 2 f . )

1 1 1 3 a 3 3 / b 2 . Z u A r i s t o t e l e s ' M i ß t r a u e n „ d e n V i e l e n " g e g e n ü b e r v g l . a u c h III 13, 1118b 2 3 - 2 7 ; X 10, 1 1 7 9 b

10-18.

140

ten und den hier und jetzt situationsgerechten Mitteln; gedacht ist die Vermittlung des einen Guten mit der relativen Konstanz und Veränderlichkeit der Mittel, und diese Vermittlung leistet allein, wer tatsächlich sittlich handelt. Die Einheit des Sittlichen liegt im sittlich Handelnden. Um diese Einheit vollständig zu begreifen, ist ein weiteres Moment relativer Konstanz anzunehmen. Vortrefflich heißt nicht der, der die optimalen Mittel zu einem beliebigen Ziel findet, sondern wer sie zum richtigen Ziel findet. Das rechte Ziel verbürgt die sittliche Tugend; ihren Begriff denkt Aristoteles im Gattung-Art-Schema, die Art bestimmt er als „Mitte für uns", 40 die Gattung aber als eine Haltung. 4 ' 2. Der Begriff der Haltung gehört nach Kapitel 8 der Kategorienschrift zur Kategorie der Qualität. 42 Aristoteles unterscheidet hier vier Arten: erstens die Haltung und die Disposition, 43 zweitens die natürliche Fähigkeit, 44 drittens die Leidenschaften 45 und viertens die Figur und Form. 46 Im Kapitel II 4 der Nikomachischen Ethik lehnt sich Aristoteles an diese Klassifizierung an und zeigt in einer Differentialanalyse der Begriffe Leidenschaft, Fähigkeit und Haltung, daß die sittliche Tugend eine Haltung ist.47 Die Analyse enthält drei Momente des Begriffs vom sittlichen Handeln: Der Begriff der Leidenschaften bezeichnet das Moment des Motors im Handeln; 48 der Begriff der Fähigkeit jenes Moment, daß der Motor mir in bestimmter Weise zur Verfügung steht,49 die

40

μίσον προς ήμάς\ vgl. Kap. II 2c.

41

ίξις. Die Übersetzung schließt sich an Dirlmeier (feste Grundhaltung, Haltung), Gauthier/Jolif (état habituel) und Ross (states of character) an. - Aristoteles analysiert die sittliche Tugend (apeτη ηθική) in den Büchern II-V (NE). Kap. II 1 - 4 untersucht den Gattungsbegriff „Haltung" (ϊξις), ab Kap. II 5 wird der Artbegriff der Mitte behandelt; denn in der Überleitung sagt Aristoteles: Δ α 5è μη μόνον ούτως άτίϊν, οτι Ζξις, ά λ λ ά και ποία τις. (II 5, 1106a 14 f.) (Gigon, 8 9 übersetzt: „Was nun die Tugend gattungsmäßig ist, haben wir gesagt. Man muß aber nicht nur feststellen, daß sie eine Eigenschaft ist, sondern auch, was für eine.") 42 ποιότης (Qualität, Eigenschaft); daher ist Gigons Übersetzung (ίξις: Eigenschaft) nicht genau.

43 44 45 46

ίξις, διάθβσις (Cat. 8b 26-29a 13). δύναμις φυσική (9a 1 4 - 2 7 ) . πάθη (9a 28/lOa 10). σχήμα, μορφή (10a 1 1 - 2 6 ) .

47

Eine detaillierte Untersuchung der aristotelischen Differentialanalyse bei Joachim, 81-85. 4 * Aristoteles' Beispiele für Leidenschaften sind: Begierde, Zorn, Angst, Mut, ... (EN II 4, 1105b 2 1 - 2 3 ) . 49 Die Fähigkeit haben heißt, Zorn, Schmerz, Mitleid empfinden können: b 2 3 - 2 5 .

141

persönliche Anlage; die Haltung schließlich bezeichnet ein Selbstverhältnis: der Handelnde steht in einem Verhältnis zu seinen persönlichen Leidenschaften, und dieses Verhältnis hat die Qualität des Guten oder Schlechten. 50 Die Qualität des Verhältnisses hat Aristoteles durch das dialektische Denkmodell von Übermaß, Mangel und Mitte gedacht; wie aber denkt er das Verhältnis selbst, die Haltung? In seinem Grundmodell vernünftigen Strebens stellt Aristoteles das menschliche Handeln als eine Bewegung vor, deren Ablauf nicht von Natur bestimmt ist. Diesem Modell folgend, hebt er hier die Qualität der Haltung von der Qualität natürlicher Fähigkeit ab. Die natürlichen Fähigkeiten des einzelnen sind zeitlich früher als die entsprechenden Tätigkeiten. 51 Nicht wer viel gesehen und gehört hat, besitzt die Wahrnehmungsfähigkeit, sondern wer Auge und Ohr besitzt, kann hören und sehen. 52 Bei der sittlichen Tugend verhält es sich entgegengesetzt; sie ist keinem angeboren, sondern man muß sie sich - ähnlich wie die technischen Fertigkeiten - durch Ausüben aneignen; die sittliche Tugend entspringt einem Lernprozeß, der Gewöhnung. Wie man durch Bauen Baumeister und durch Kitharaspielen Kitharist wird, so wird man gerecht, indem man gerecht handelt, besonnen durch besonnenes und tapfer durch tapferes Handeln. 5 3 Die gute wie die schlechte Haltung erwirbt man durch fortgesetztes Handeln in Gefahrensituationen, in Geschäftsfragen, in Fragen von Lust und Schmerz, kurz - durch einen Prozeß der Einübung ins Leben. Wer wiederholt gut handelt, dem wird es zur Gewohnheit, in den verschiedensten Situationen die Mitte zu suchen und anzustreben. 54 Logisch gesehen liegt ein Zirkel vor. Wer sich daran gewöhnt, Gefahren auszuhalten, wird tapfer, und wer tapfer ist, wird leichter Gefahren aushalten. Die sittliche Tugend entsteht durch gutes Tätigsein und liegt dem Tätigsein zugrunde; die Tätigkeit ist früher und später zugleich. 55 - Genauer gesagt:

50 51

52 53 54 55

δέ καθ' ας' τρος τα πάθη ϊχομβν eli η κακώς (b 25 f.). τάς όυνάμίΐς ιτρότβρον, τάς èvepyeiaç varepov (II 1, 1103a 2 6 - 3 1 ) . Das Verhältnis gilt nur zeitlich und individuell gesehen. In Met. IX 8 zeigt Aristoteles nämlich, wie das Tätigsein dem Begriff ( λ ό γ ο ς ) , dem Wesen (ουσία) und der Zeit nach (χρόνος; hier „gattungsgeschichtlich" verstanden) früher als die Fähigkeit ist. Vgl. W. Brökker, 8 3 - 8 7 . II 1, 1103a 2 6 - 3 1 . II 1, 1103a 31/b 2. ίθος. In der scholastischen Distinktion von actus primus (ë£iç) und actus secundus (tvepytia) ist die Differenz von und ívípyua undialektisch, zu schematisch aufgefaßt.

142

Es liegt ein Zirkel vor, den man mehrfach durchläuft. Man gerät in Gefahren, meistert sie, beginnt tapfer zu werden, meistert Gefahren leichter und ist schließlich in einem eminenten Sinn tapfer. 56 Welchen Sinn hat es, den Zirkel in dieser Weise mehrfach zu durchlaufen? Aristoteles nennt drei Gründe. Die Haltung der Tugend besitzt erst der, der das sittliche Handeln nicht widerwillig, sondern gern tut. Im mehrfachen Durchlaufen des Zirkels werden die Leidenschaften geformt, die Neigung gebildet, und was ursprünglich vielleicht Schmerz bereitete, wird nun zur Freude (das Aushalten von Gefahren). 5 7 - Wer aus Haltung heraus gut handelt, der bejaht das Gute; er handelt aus freien Stücken und ist deshalb in einem eminenten Sinn gut. Aristoteles stellt weiterhin den Begriff der Haltung experimentierend in Frage: Ist schon der gerecht und besonnen, der gerecht und besonnen handelt, so wie man Grammatiker ist oder Musiker, wenn man Grammatik und Musik treibt? 58 - Man kann grammatisch Korrektes aus Zufall tun oder weil ein anderer es einem zeigt. 59 Daraus folgt, daß die Haltung erstens die eigene Haltung ist; das gut Handeln ist nicht äußerlich, sondern ein Teil der eigenen Persönlichkeit. Die Haltung ist zweitens eine Festigkeit; das Gute geschieht nicht aus Zufall, sondern mit einer Art von Notwendigkeit. Anfangs lag es in der Hand des Handelnden oder seiner Erzieher, ob er blind seiner Neigung folgt oder ob er die Mitte sucht und anstrebt. Wenn sich aber das Streben der Mitte wiederholt, dann gewinnt der Handelnde im Laufe der Zeit eine Kontrolle über seine spontanen Gefühle und Leidenschaften; das Gutsein ist keine bloße Möglichkeit mehr, die zufällig realisiert wird oder nicht, sondern ein „So und nicht anders"; der Handelnde ist in seinem Tun „sicher und ohne Wanken". 6 0 Von Natur aus sind die menschlichen Neigungen Begierde, Zorn, Angst, Mut, ... sehr wechselhaft und das Sehen des rechten Ziels daher ständig gefährdet. Wer aber eine sittliche Haltung erworben hat, bei dem sind auf Grund eines Prozesses der Einübung die natürlichen Antriebe auf das Gute fixiert, die

56 51

58 39

60

II 2, 1104a 27/b 3. Zur Tugend wird man erzogen, und Ziel dieser Erziehung ist es, daß man dort Freude und Schmerz empfindet, w o man soll: b 3 - 1 3 . II 3, 1105a 1 9 - 2 1 . kvbtxtTca 7 αφ' èvôç e'ivat η προς tv άπαντα avvreXeíν, η μάΚΚον κατ' άναXoyíav (b 27 f.; Übers, nach Gigon, 62).

150

Das Verhältnis „von einem her . . . " oder „zu einem hin . . . " heißt in der Schulterminologie (seit Averroes wahrscheinlich) 20 die „Attributionsanalogie". Auf Grund ihres Zusammenhangs zu jenem Gegenstand, der ein Attribut primär verdient, wird dasselbe Attribut auch auf andere Gegenstände „übertragen". So heißt nach dem klassischen Beispiel primär der Leib „gesund", dann auch eine Medizin, die den Leib gesund macht, eine Lebensweise, die die Gesundheit erhält, und jene Gesichtsfarbe, die die Gesundheit anzeigt. 21 Auf den Bereich der Ethik übertragen gibt es Gegenstände, die primär gut heißen (das Sehen, Erkennen, bestimmte Freuden und Ehren), und andere, die von der ersten her oder zu ihnen hin gut heißen (der Gesichtssinn, der das Sehen, die Ehrliebe, die die Ehren ermöglicht). Die Attributionsanalogie erklärt, wie das Gute in verschiedenen Kategorien ausgesagt werden kann (in der Kategorie der Substanz als Gott oder Geist, in der Kategorie der Qualität als die Tugenden ...); denn die mehrfache Bedeutung des Guten ist für Aristoteles ein weiteres Argument gegen die Ideenlehre. 22 Wie aber in der Kategorie der Qualität nicht nur die Ehrliebe, sondern auch die Gerechtigkeit, Tapferkeit, ... wie in derselben Kategorie verschiedenes gut heißen kann, ohne den Begriff der Kategorie für eine Idee, für einen homogenen Gehalt oder eine gehaltliche Form zu halten, ist noch nicht erklärt. Aristoteles' Instrument hierfür ist die Analogie (nach der Schul-Terminologie die „Proportionalitätsanalogie"). Die Eingangsfrage nach der Identität differenter Vollzüge, die Frage nach der Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit des Guten wird erst durch die (Proportionalitäts-)Analogie zureichend beantwortet; unter den methodischen Möglichkeiten, die Aporien der Ideenlehre zu lösen, der Attributions- und der Proportionalitätsanalogie, scheidet Aristoteles keine aus, gibt jedoch der zweiten den Vorrang. 2 3 Was Aristoteles unter der Proportionalitätsanalogie versteht, erläutert er durch ein Beispiel: „Was im Körper das Sehvermögen, ist in der Seele der Geist, und in einem anderen wieder ein anderes." 2 4 Nach einer Definition aus

2(1 21

22 23

24

Gauthier/Jolif, 46. Met. IV 2, 1003a 3 3 - b 10. Hier erläutert Aristoteles (durch die mannigfache Bedeutung des Ausdrucks „gesund"), wie man den Begriff des Seienden - ohne äquivok zu sein - doch in verschiedenen Bedeutungen aussagt. Vgl. auch Met. XI 3, 1060b 31 ff. 1096a 23-29. Aristoteles' Stilmittel: die Frage, ob die Proportionalitätsanalogie die geeignete Methode sei, leitet er mit der Wendung ή μάλλον (oder eher/vielmehr) ein. Vgl. Tricot 53, Anm. 1. ώς γ ά ρ ev σώματι όφις, tv ψυχή νους, κοά άλλο δη 'tv ά λ λ ψ . (1096b 28 f.)

151

dem Buch über die Gerechtigkeit bedeutet der aus der Mathematik stammende Begriff der Analogie 25 eine Gleichheit von Verhältnissen und verlangt mindestens vier Glieder. 2 6 Zwischen einer eindeutigen und einer mehrdeutigen Erkenntnis gibt es noch ein Mittleres: jene Erkenntnis, die nicht weniger streng und genau ist als eine eindeutige, aber ihrem Gegenstand entsprechend die Genauigkeit auf eine andere Weise erreicht, die analoge Erkenntnis. Zu ihrem Begriff gehören drei Momente. Erstens gibt die Analogie nur eine Auskunft über Verhältnisse 27 und läßt das Materiale und Formale, das Wesen und das Dasein der einzelnen Glieder unbestimmt. Zweitens betrifft sie nicht die Verhältnisse selbst, sondern das Verhältnis von Verhältnissen, und dieses Verhältnis von Verhältnissen ist drittens ein vollkommen bestimmtes, nämlich das der Identität. 28 Das Mißtrauen, mit dem man gewöhnlich der analogen Methode begegnet, entspringt zwei Gründen: erstens dem MißVerständnis, die Analogie bezeichne die unvollkommene Gleichheit zweier Verhältnisse zwischen ganz ungleichen Dingen; und zweitens dem für die natürliche Vorstellung ungewöhnlichen Sachverhalt, die Genauigkeit beziehe sich nicht nur auf Dinge oder Verhältnisse von Dingen, sondern auch auf die Verhältnisse von Verhältnissen, auf Verhältnisse zweiter Ordnung. Gelegentlich sagt man, das Gute sei ein „dehnbarer Begriff". Mit der Methode der Analogie läßt sich diese Redeweise aufklären. Die Analogizität ist die logische Qualität eines Begriffs, in dem die Mannigfaltigkeit nicht weniger als die Selbigkeit gedacht wird, die Mannigfaltigkeit in den unendlich variablen Gliedern, die Selbigkeit in der Invarianz des Verhältnisgefüges. Ferner wehrt die Analogie jede Form von Hypostasierung ab: das Gute ist weder als ein fertiges Handlungsschema noch als eine für sich existierende Idee gedacht, überhaupt nicht als eine höchste Substanz, sondern gleichsam als eine Formel,

25

Zum Begriff der Analogie: E. H. Hänssler, Zur Theorie der Analogie und des sogenannten Analogieschlusses ( I . - D . ) , Basel 1927; M. Hesse, „Aristotle's Logic of Analogy", in: The Philosophical Quarterly 15 (1965) 3 2 8 - 3 4 0 ; H. Krings, „Wie ist Analogie möglich?", in: Gott in Welt, Freiburg 1964, I 9 7 - 1 1 0 ; E. W. Platzek, Von der Analogie zum Syllogismus, Paderborn 1954; J. Stenzel; „,Eins durch Analogie'", in: ders., Zahl und Gestalt bei Piaton und Aristoteles, Darmstadt31959, 156-161.

26

η yàp àvaXoyia Ισότης tari Xòywv, και tv τίτταρσιν ίΧαχίστοις. (V 6, 1131a 31 f.; Übers, nach Gigon, 159). Vgl. Poet. 21, 1457b 16 ff. Dort definiert Aristoteles: το St áváXoyov Xtyí>>, όταν ομοίως txy το ôtvTtpov τρός το τρώτον και το τίταρτυν ττρός το τρίτον und gibt als Beispiel: der Becher verhält sich zu Dionysos wie der Schild zu Ares (b 2 0 - 2 2 ) .

27

λόγοι.

28

Vgl. H. Krings, 98.

152

als die Generalformel oder „Weltformel" sittlichen Handelns. Ohne daß das Gute relativistisch aufgelöst wird, ist das, was in concreto gut ist, doch nicht fixiert. Der Idee gegenüber ist ein analoger Begriff erstens inhaltlich beweglicher, denn das Gesamt des Materialen, die konkreten Vollzüge sittlichen Handelns sind dynamisch und doch fest gesetzt; zweitens verdeckt ein analoger Begriff nicht den je anderen Anspruch der Situation. Die Analogie ist jenes logische Mittel einer unbestimmten Bestimmtheit, wodurch das Gute als eines gedacht wird, ohne deshalb einen allgemeinen, in sich kohärenten Gehalt vorzustellen, der eine positive Bestimmung für den Einzelfall des Handelns zuläßt. Das Gute besteht nicht für sich, sondern ist jenes Allgemeine, das nur im Diesen wirklich ist; es ist der Inbegriff der Ordnung konkreter sittlicher Handlungen, eine Ordnung, die nicht ohne die Glieder besteht, die sie ordnet. In der Nikomachischen Ethik, im Zusammenhang der Ideenkritik, diskutiert Aristoteles den Analogiebegriff nicht so ausführlich; er glaubt, eine genauere Untersuchung sei einem anderen Bereich der Philosophie angemessener. 29 Die dem Begriff der Analogie zugrundeliegende Frage nach der Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit interessiert nämlich die Ethik nicht mehr als andere philosophischen Disziplinen; es ist die spekulative Frage nach der logischen Struktur des wissenschaftlichen Gegenstandes überhaupt und so eine Frage des menschlichen Erkennens vor sich selbst. 30 In seinem „Lexikon philosophischer Termini", im Buch Delta der Metaphysik, unterscheidet Aristoteles vier Arten von Einheit: erstens die numerische Einheit (ein bestimmtes Haus), zweitens die eidetische oder Arteinheit (der Sachbegriff „Haus"), drittens die kategoriale oder Gattungseinheit (Verstehensbegriffe unterschiedlicher Abstraktheit: „Gebäude" bis „Einheit") und viertens

29 30

1096b 3 0 f. H. Flashar vergleicht die Platon-Kritik der N E mit der der EE und kommt zu dem Schluß, die „Ideenkritik in der Ethik [sei] der deutlichste Ausdruck für die Auflösung der inneren Einheit von Ethik und Ontologie" ( „ D i e Kritik der Platonischen Ideenlehre in der Ethik des Aristoteles", 237). - Wenn auch Aristoteles gegenüber Piaton die Ethik als eine eigenständige Disziplin geschaffen hat, so zeigt zumindest der Begriff der Analogie auch einen Zusammenhang von Ethik und Metaphysik oder Ontologie. Die Forderung nach einer eigenständigen Philosophie des sittlichen Handelns ist nur eine Pointe der Platon-Kritik (ausgesprochen etwa: 1096b 32 ff.); die Suche nach einem neuen universellen Denkmittel, um logische Aporien der Ideenlehre (um Aporien, die in der Ethik genauso w i e in der Metaphysik auftreten) zu lösen, ist die andere Pointe.

153

die analoge Einheit. 31 Dann fragt er, welcher Einheit philosophisch der Vorrang gebühre. Die natürliche Vorstellung hält sich wahrscheinlich an die numerische Einheit; Aristoteles zeigt aber, daß der dominierende und begründende Einheitsvollzug die Analogie ist; denn sofern sich Dinge der Zahl, Art oder Gattung nach unterscheiden, sind sie doch der Analogie nach eines; 32 ohne den Hintergrund der analogischen Einheit sind kategoriale, eidetische und auch numerische Differenzen und Selbigkeiten, ist das Geschäft des menschlichen Denkens nicht möglich. 33 Das spekulative Grundproblem von Einheit und Mannigfaltigkeit des Guten wird durch den Analogiebegriff gelöst. Die Analogie des Guten vermittelt die Selbigkeit im Begriff guten Handelns mit seiner Veränderlichkeit und begründet so die Ethik als eine Wissenschaft. Da die Analogie eine fundamentale Methode des menschlichen Erkennens, ist, bezeichnet sie ein universelles Denkinstrument, das die aristotelische Ethik nicht nur in der genannten Weise verwendet. Mit Hilfe einer Analogie erläutert Aristoteles das methodologische Prinzip sachgerechter Klarheit. Die Frage, wann eine Wissenschaft genau ist, beantwortet er durch den Hinweis auf ein entsprechendes Problem im Bereich der Handwerke. Wie sich hier die Materialien unterscheiden, so dort die Natur der Untersuchungsgegenstände, und hier wie dort sind die Objekte material- oder sachgerecht zu vollenden. Dank der Gleichsetzung mit einem gewohnten Verhältnis, der materialgerechten Bearbeitung, wird ein noch ungewohntes Verhältnis, die sachgerechte Klarheit, einsichtig. 34 Weiterhin gilt die Veränderlichkeit menschlichen Handelns analog zur Veränderlichkeit des Gesunden, und das situationsgerechte Überlegen des Guten ist analog einer individuell ausgerichteten Diagnose und Therapie. 35 Beim Nehmen und Geben von Geld heißt die Mitte, sofern es um große Summen geht, Großzügigkeit, sofern um kleinere: Freigebigkeit. 36 Hinsichtlich der Ehre gibt es ebenfalls zwei sittliche Haltungen: zwischen Eitelkeit und Kleinmütigkeit die Großgesinntheit und zwischen dem Ehrgeiz und dem Ehrgeizlossein eine Haltung, die im Griechischen nicht eigens genannt ist. Aristoteles erklärt sie, indem er sie zu anderen Haltungen in ein Verhältnis setzt und 31

32 33 34 35 36

τα κατ' αριθμόν, κατ' είδος, κατά yévoç, κατ' àvaXoyiαν tv; (Met. V 6, 1016b 31-35). b 35-a 3. Vgl. Krings, 106 f. I 1, 1094b 11-14. Siehe oben, Kap. II la. II 2, 1104a 3 - 1 0 . Siehe oben, Kap. II 2a. μεγαλοπρέπεια, éXeuôepiôrrjç. Die Ubersetzung von μεγαλοπρέπεια mit „Großartigkeit" (Gigon) und „Großgeartetheit" (Dirlmeier) eliminiert den Tugendcharakter.

154

behauptet, die unbenannte Haltung verhalte sich zur Großgesinntheit wie die Freigebigkeit zur Großzügigkeit.37 c. Analogie

und

Dialektik

Ist ein Verhältnis bekannt, ein zweites ihm gleich, dann ist auch das zweite Verhältnis bekannt. Mit Hilfe der Analogie kann man eine Kette von Verhältnissen klären - sofern nur ein Verhältnis klar ist. Die Analogie bestimmt ein Verhältnis durch ein anderes; was aber bestimmt ein Verhältnis in sich selbst? Ein Beispiel für eine innere Verhältnisbestimmung ist der Begriff der „Mitte für uns". 38 Die „Mitte für uns" denkt praktisches Handeln als gut, Handeln, dessen Ziel man nicht in einem Produkt, sondern in der immanenten Vollendung des Tuns sieht. Technisch verstanden zielt ζ. B. das Kriegführen auf den Sieg, das Hausbauen auf ein wohnliches Haus, praktisch verstanden dagegen das Kriegführen auf ein tapferes Kämpfen, das Hausbauen auf ein gutes Bauen. Die Praxis im eminenten Sinn, das freie Tätigsein des Menschen, ist kein linear, sondern ein reflex strukturiertes Handeln, ein Tun, das sich in seinem Gutsein zum Ziel hat;39 das sittliche Gute existiert gar nicht, es sei denn im guten Handeln. Wenn das sittlich Gute nicht wie das technisch Gute aus dem Handeln hervorgeht, dann ist es empirisch gar nicht anzutreffen und kommt durch empirisch-induktive Methoden, durch Experimente und Gesetzeshypothesen, nicht in den Blick. Das sittliche Tun ist ein Vollzug gemäß einem Anspruch,40 das Verhältnis eines faktischen Vorkommens zu einem Sollen. Um dieses Phänomen eines geschichtlichen Sollens zu begreifen, erzeugt Aristoteles ein Spannungsfeld, die Spannung zwischen einem Mehr und einem Weniger, läßt den Gedanken das Spannungsfeld durchlaufen, um im Negieren des „Mehr" und „Weniger" die Position, die Mitte, zu erreichen, und so im logischen Nacheinander jenes simultane Wesen zu bestimmen, das unmittelbar gar nicht zu sehen, ist, das Gutsein eines praktischen Handelns. Der Begriff der „Mitte für uns" ist ein dialektischer Begriff. Ohne die beiden Relata, ein faktisches Tun und den darin liegenden Anspruch, konkret zu bestimmen, wird die Relation, das sittliche Handeln, allein in ihrer Relatio-

37 38 39

40

(ελευθερωτής: με^α\οτρετεια) = (Χ: με^/αΚοφυχία) (Il μέσον προς ήμάς. Siehe oben, Kap. II 2c. Zum Verhältnis von πράξις und ποίησις siehe oben, Kap. -πράξις κατά Xóyop. 155

7, 1107b 8 - 3 0 ) . I lb.

nalität und dynamischen Gespanntheit gedacht. Die konkrete Form sittlichen Handelns nennt der Begriff nicht. Der Ausdruck „Mitte für uns" begreift die Form sittlicher Formen, die Sittlichkeit, die in der Unbestimmtheit der Relata für den konkret j e anderen Anspruch der Situation offen ist, ohne das Handeln relativistisch aufzulösen und für beliebig zu erklären. Die dialektische Methode begreift beim Handeln das Verhältnis von Sein und Sollen; sie begreift praktische Vollzüge als sittlich. Die Identität der Verhältnisse, die Identität des Sittlichen in unterschiedlichen Vollzügen begreift die Analogie. Durch die Dialektik, die Bestimmung eines Begriffs durch ein Verhältnis, versteht man die Infrastruktur, durch die Analogie, die Bestimmung eines Verhältnisses durch ein anderes, die Makrostruktur sittlichen Handelns. Beide Denkinstrumente sind keine methodischen Antipoden, sondern notwendige Ergänzungen.

156

5. Der Begriff einer Grundriß-Wissenschaft

Die aristotelische Ethik bietet methodisch ein differenziertes Bild. Um ein bedingtes, ein geschichtliches Sollen zu verstehen, verwendet sie die Dialektik und die Analogie. Ist aber damit die Methodik der aristotelischen Ethik schon durchschaut? Denk sie nicht auch, neuzeitlich gesprochen, im Begriff des Glücks ein unbedingtes Sollen? Und wie verhalten sich die Methoden zueinander im Hinblick auf das Ziel der aristotelischen Ethik, kraft wissenschaftlicher Analyse den Menschen als sittliches Wesen zu emanzipieren? Das methodologische Schlüsselwort der Ethik, τύπω, wird selbst nicht näher erläutert. Aristoteles appelliert gewissermaßen an eine Evidenz, die sich mit dem anschaulichen Ausdruck einer „skizzenartigen" oder „umrißhaften" Erkenntnis einstellt.1 Zugleich leistet er aber dem Mißverständnis Vorschub, die Ethik verfahre methodisch weniger streng als andere Disziplinen. Überdies erfährt die Bedeutung des Ausdrucks je nach dem Zusammenhang eine andere Schattierung. So sind für die Nikomachische Ethik im groben drei Verwendungen zu unterscheiden: „umrißhaft" heißen vorläufige Aussagen der Ethik, einzelne Untersuchungen und die ganze Abhandlung selbst. a. Vorläufige Aussagen der Ethik Das fünfte Buch der Nikomachischen Ethik untersucht die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit. Dieses allgemeine Thema wird sogleich in drei Fragen präzisiert. 2 Bevor sich Aristoteles jedoch diesen Fragen selbst zuwendet, bestimmt er die geläufige Vorstellung von Gerechtigkeit3 und sagt von dieser

1

2

3

τύ7τψ wird mit „ u m r i ß h a f t " übersetzt und als „ g r u n d r i ß h a f t " interpretiert. Vgl. o b e n , K a p . II l c . V 1, 1129a 3 - 5 .

V 1, 1129a 6-10: όρώμβν δη τάντας την τοιαύτη ν ΐξιν βονΧομίνους Xéyetv δικαωαύνην, άφ' ης τρακτικοί

τύν δικαίων dal και άφ' ης δικαιοτραγούσι καϊ

157

βούΧονται

Bestimmung, daß sie „auch für uns als ein erstes umrißhaft zugrunde gelegt sei". 4 Während in der Bestimmung der Gerechtigkeit auf ein sittliches Phänomen reflektiert wird, die Bestimmung somit eine ethische Aussage ist, wird im folgenden Satz diese Bestimmung selbst reflektiert, und zwar auf die Art ihres Wissens hin. Das Problem des umrißhaften Wissens, das in dieser Reflexion zur Sprache kommt, ist ein metaethisches Problem. Da sich das Wissen von der Gerechtigkeit in einem Urteil artikuliert, bezeichnet der von Aristoteles adverbial verwandte Ausdruck - im Unterschied zu neuzeitlichen Verwendungen von „Typus" - nicht eine besondere Art von Begriffen; der Typus als Umriß ist kein Ordnungs-, Funktions- oder Sinnbegriff, den man im Gegensatz zum Klassenbegriff nicht definieren, wohl aber explizieren kann. 5 Genauso wenig handelt es sich um ein urteilslogisches Problem, um das Verhältnis von Subjekt und Prädikat einer Aussage. 6 Denn die Umriß-Bestimmung ist als „ein erstes zugrunde gelegt" 7 und ein Wissen bestimmt sich als ein erstes allein von einem zweiten Wissen her. Der Begriff des Umrisses setzt also zwei Phasen des Wissens über Gerechtigkeit voraus und die Vorstellung, daß das Wissen von der einen Phase zur anderen fortschreitet; das UmrißWissen selbst ist die erste Phase auf diesem Weg. Wenn die anfängliche Definition der Gerechtigkeit umrißhaft heißt, so wird damit das Weitergehen der Untersuchung antizipiert und von diesem Weitergehen her das vorliegende Wissen beurteilt. Die Anfänglichkeit des Umrisses gilt nicht als ein schlechthin erstes, sondern als ein „für uns erstes" Wissen, 8 das im Fortschreiten der Analyse von einem anderen Wissen überholt wird. Es ist somit nicht das erste Wissen, von dem die Zweiten Analytiken sprechen, jenes erste Wissen, aus dem das folgende Wissen begründet und das dadurch als wahr erwiesen wird. 9 Der Begriff des Umriß-Wissens findet sich nicht in der deduktiven Methode wissenschaftlichen Beweisens, sondern in der analytischen Methode wissenschaftlicher For-

4 5 6

7 8 9

τά δικαία- τον αυτόν δί τρόττον και wepì αδικίας, αφ' ης άδικονσι και βούΧονται τα άδικα. a 10 f.: διό και ημϊν -προώτον ώς tv τύττψ υτοκάσθω ταύτα. Α. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 37 f. Nach dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat gliedert Aristoteles die Urteile in bejahende und verneinende, in allgemeine, besondere und unendliche Urteile (An. pr. : I 1, 24a 16 f.). - Im ähnlichen Sinn ist Kants Urteilstafel konzipiert. ·πρώτον νποκείσθω. (a 11) -πρώτον ήμϊν (ebd.). An. post. I 2.

158

schung. - Wenn das anfängliche Wissen auch im Fortschritt der Analyse aufgehoben wird, so kann die Analyse auf dieses anfängliche Wissen doch nicht verzichten. Es ist keine unverbindliche Rede, keine Einleitung, durch die von außen an die Sache erst herangeführt werden soll, und auch kein Versuch, der durch einen besseren zu ersetzen ist. Das Umriß-Wissen hat die Aufgabe einer Grundlage oder Voraussetzung. 10 Ein Vergleich der anfänglichen Definition von Gerechtigkeit mit der im Laufe des fünften Buches folgenden Analyse soll die Art des Zugrundeliegens näher bestimmen. Im ersten Kapitel wird der in der umrißhaften Bestimmung genannte Begriff der Haltung mit dem der Wissenschaft und der Fähigkeit verglichen. Das zweite Kapitel beginnt mit der Vermutung, daß Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in mehrfachem Sinn ausgesagt werden; der weiteren Untersuchung geht es um die Auffacherung dieses mehrfachen Sinns. Das Gerechte wird in das Gesetzliche und das Gleiche eingeteilt; 11 jenes bezeichnet die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn (iustitia generalis), 12 dieses die Gerechtigkeit im spezifischen Sinn (iustitia particularis), 13 die selbst noch zu unterteilen ist. 14 Ferner ist das an sich Gerechte von dem für die Polis Gerechten unterschieden und in diesem das natürliche vom gesetzlichen Recht; 15 schließlich stellt Aristoteles die gerechte Tat dem Gerecht-Sein 16 und das Gerecht-Sein der Billigkeit gegenüber. 1 7 All diese Unterscheidungen schlüsseln den Begriff des Gerechten in seine Aspekte und Elemente auf, die im Verlauf der Untersuchung für sich und in ihrer Beziehung zueinander bestimmt werden. 1 8 In der anfanglichen Definition wird nicht das Gerechte, sondern die Gerechtigkeit erläutert, und zwar als eine Haltung gegenüber dem Gerechten. Dadurch ist das Grundverhältnis der Gerechtigkeit erfaßt, und dieses wird nicht nur im allgemeinen benannt, sondern auch in drei Grundmomente aufgeschlüsselt; die Gerechtigkeit ist jene Haltung, von der her man des Gerechten

10

" 12 13 14

15 16 17 18

ύττοκίίσθω (EN V 1, 1129a 11). V 2. V 3. V 4. Die eine Art betrifft die Zuteilung von Ehre, Geld und anderen Dingen (iustitia distributiva) (V 6), die andere Art ordnet den vertraglichen Verkehr (iustitia correctiva) (V 7).

V 10. V 10. V 14. Vgl. W. Siegfried, Der Rechtsgedanke

bei

159

Aristoteles.

fähig ist, es tut und auch will. 19 In der folgenden Dihairese wird diese Aufgliederung weder im Ganzen widerlegt noch in einigen Punkten berichtigt, ja sie wird nicht einmal erweitert. Wenn dieses Wissen von der Gerechtigkeit umrißhaft heißt, so ist der Umriß nicht der Versuch einer Darstellung, die hier und dort noch irrt. Er ist nicht eine Skizze, die durch eine andere Skizze oder das Bild selbst verworfen wird, sondern jene Skizze, die am Anfang des Malens erstellt und im weiteren Verlauf immer differenzierter ausgeführt wird. Der Umriß ist eine noch unbestimmte Darstellung der Sache, die durch das Ausmalen des Bildes, seine Fertigstellung, überholt wird. Was für das Malen die Skizze bedeutet, bedeutet für die Wissenschaft das Frühstadium der Untersuchung. Die durchgeführte Analyse bestimmt jenen Begriff, der für das Wesen der Gerechtigkeit entscheidend ist. Das ist der Begriff des Gerechten, der in der anfänglichen Definition bloß genannt, aber nicht erklärt wird. Insofern ist in dieser anfänglichen Definition zwar die Gattung der Gerechtigkeit, das Tugendsein, nicht aber auch die spezifische Differenz, das Gerechtsein, begriffen. - Auf ähnliche Weise könnte man jede andere Tugend definieren, ohne das Spezifische des Phänomens zu erkennen. Jenes anfängliche, relativ unentfaltete Wissen, das den Grundgedanken oder das Grundverhältnis der Sache erfaßt und die weitere Erforschung antizipiert, heißt Umriß. Der Begriff des Umrisses reflektiert auf eine Differenz, die sich wissenschaftlich einholen läßt. Um die Interpretation zu stützen, sollen zwei weitere Umriß-Bestimmungen skizziert werden. Im ersten Kapitel der Nikomachisehen Ethik fragt Aristoteles, welcher Wissenschaft oder Fähigkeit das höchste Gut zuzuordnen ist.20 In einer kurzen, aber sehr prägnanten Analyse zeigt er, daß das höchste Gut zur Politik gehört. 21 Nur dieses Grundverhältnis, das die Abhandlung von einer Individualethik absetzt und als eine politische Disziplin bestimmt, ist für den Zusammenhang der Ethik wichtig. Indem das Gute als ein politisch Gutes bestimmt wird, wird jener Grundgedanke genannt, der den Horizont aller ethischen Analysen bildet und die Fortsetzung der Ethik in die Politik begründet. 22

19 20 21 22

V 1, 1129a 6 - 9 . I 1, 1094a 25 f. 1094a 2 6 - b 11. Vgl. oben, Kap. I lc.

160

Im zweiten Buch folgt auf die Bestimmung der Tugend überhaupt 23 eine Übersicht, in der die Einzeltugenden gedrängt dargestellt werden. 24 Die Bestimmung der Freigebigkeit als Mitte beim Nehmen und Geben von Geld wird als umrißhaft bezeichnet25 und für die genauere Bestimmung wird auf später verwiesen. 26 Der Begriff der Mitte nennt den allgemein, schon vorher untersuchten Begriff von Tugend, der Ausdruck „Nehmen und Geben von Geld" jenen besonderen Lebensbereich, in dem sich die Freigebigkeit entfaltet. Dadurch ist die Freigebigkeit gegenüber den anderen Tugenden hinreichend bestimmt. Die Begriffe innerhalb dieser Bestimmung sind aber bloß genannt, nicht selbst bestimmt. Insofern ist die Sache nur im allgemeinen aufgefaßt; sie ist zwar umfassend, jedoch in gebotener Kürze erklärt; 27 diese Kürze gilt als eine Beschränkung der Genauigkeit. 28 Die Ungenauigkeit besteht weniger in einem Mangel an Exaktheit oder Präzision als in einem Mangel an detaillierter und differenzierter Analyse. Das Prinzip dieses Vorgehens spricht Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik im Anschluß an eine vorläufige Bestimmung des für den Menschen Guten aus: „Dies möge als Umriß des gesuchten Guten gelten; denn man muß wohl zuerst die Grundlinien ziehen und dann nachher das Bild ausführen. Sind die Grundlinien richtig gezeichnet, so sollte wohl jeder selbst weiterkommen und die Sache ausarbeiten. Auch ist die Zeit Entdecker solcher Dinge oder doch ein guter Helfer, wie denn auch der Fortschritt der Wissenschaften auf diese Weise zustandegekommen ist. " 29 Das zugrundeliegende Problem ist die methodische Sicherung für das Fortschreiten von Wissenschaften. Das Fortschreiten wird dadurch gesichert, daß zunächst der Grundgedanke erfaßt wird, an dem sich die weitere, die bisherige

23 24 25 26 27 28 29

II 2 - 6 . II 7. ίλευθίρώτης (II 7, 1107b 8-16). Sie findet sich in Kap. IV 1-3. Aristoteles spricht von éirì κεφαλαίου (Ross: summary): II 7, 1107b 14. bartpov be άκριβίστίρον περί αυτών διορισθήσβται (II 7, 1107b 15 f.). I 7, 1098a 20-25 (Übers. Gigon, 67) Aristoteles spricht hier nicht von τύπψ sondern von vepiypátpeLv, der Tätigkeit, aus der ein ,τύπος' hervorgeht. - Das Fortschreiten, auf das Aristoteles hier aufmerksam macht, ist in zweifachem Sinn zu interpretieren. Einerseits glaubt Aristoteles, daß seine Ethik die Grundzüge für weitere ethische Forschung enthalte; andererseits ist in der vorhergegebenen Bestimmung des menschlich Guten erst jenes Grundverhältnis der Sache angegeben, das durch Aristoteles selbst weiter aufgegliedert wird. - Für die obige Argumentation ist jedoch weniger dieser Doppelaspekt als das allgemeine methodische Prinzip entscheidend. 161

Aufgliederung ins einzelne fortsetzende Forschung ausrichtet. Von dieser Methode immanent fortschreitenden Analysierens sind jene Arten des Fortschreitens zu unterscheiden, die auf der Entdeckung neuen Materials oder der Erfindung neuer Kategorien beruhen. Während dort der Fortschritt im Übergang zu Neuem liegt, soll hier etwas schon Bekanntes noch bekannter werden. Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Fortschreitens bezeichnet der Umriß das jeweils frühere Stadium der Wissenschaft, wobei der Begriff des Früheren ein komparativer Begriff ist; er bezeichnet nicht einen fixen Punkt, sondern jedes Stadium der Wissenschaft, das im Vorgriff auf die abgeschlossene Entwicklung ein Vorstadium bedeutet. Diese relativ frühe Phase wissenschaftlicher Forschung ist begrifflich durch drei Momente qualifiziert: erstens ist der Grundriß der Sache erkannt, zweitens ist die Ausfüllung des Grundrisses, die vollkommene Bestimmung, mitgedacht, drittens ist die Ausfüllung nicht schon vorgegeben, sondern noch zu leisten. Noch an einer anderen Stelle, am Anfang der Physik, reflektiert Aristoteles auf ein immanentes Fortschreiten.30 Der Weg der Untersuchung - heißt es hier - führt von dem, was der Natur der Sache nach undeutlicher, uns aber deutlicher ist, zu dem, was der Natur der Sache nach deutlicher und einsichtiger, uns aber undeutlicher ist.31 Die Anfangsphase des Weges ist das für uns Deutlichere, ein noch komplexer Vorbegriff der Sache, der durch eine Dihairese in seine Elemente, Prinzipien und Ursachen aufgegliedert wird. Leitidee des Fortschreitens ist hier der Aspekt der Deutlichkeit oder Klarheit, während im Fortschreiten, von dem die Nikomachische Ethik spricht, die Ausführlichkeit des Untersuchens im Vordergrund steht. Die Anfangsphase ist nach der Physik eine komplexe Mannigfalt, 32 das ist ein vorwissenschaftliches Wissen; die Anfangsphase nach der Nikomachischen Ethik dagegen ist eine schon aufgegliederte, wenn auch erst vorläufig aufgegliederte Mannigfaltigkeit; sie ist das wissenschaftliche Wissen einer relativ frühen Phase. Beiden Methodenerwägungen geht es um das immanente Fortschreiten einer Untersuchung, und ihre Aspekte ergänzen sich; in der Physik wird das Fortschreiten mehr als ein Fortschreiten vom vorwissenschaftlichen zum wissenschaftlichen Wissen gesehen, in der Nikomachischen Ethik als ein Fortschreiten innerhalb des schon wissenschaftlichen Wissens. Entsprechend heißt die Ausgangsphase in der

30 31

32

Phys. I 1, 184a 10 ff. ανάγκη τον τρόττον τούτον Tpoáyeiν έκ των άσαφεστέρων μεν τη φύσει ήμιν δε σαφεστερων ετί τα σαφέστερα τη φύσεί καΐ γνωριμώτερα. εστί δ' ήμιν το ττρώτον δήλα και σαφή τα συ^κεχυμ'ενα μάλλον (184a 19-22). συ-γκεχυμενον.

162

Physik „das der Natur der Sache nach Unklare", 33 während im Begriff des Umriß-Wissens die Ausgangsphase eher positiv betrachtet wird; das Grundverhältnis der Sache gilt als erfaßt, nur die ausführliche Aufgliederung steht noch aus. Das Prinzip, zunächst den Grundgedanken einer Sache herzustellen und ihn dann weiter aufzugliedern, ist nicht allein für die Nikomachische Ethik charakteristisch. Dieser Begriff von Umriß-Wissen ist kein metaethischer, sondern ein allgemein metatheoretischer Begriff, der sich in den Magna Moralia und der Politik, der Metaphysik, in der Kategorienschrifi, der Topik und der Schrift über die Geschichte der Tiere findet.34 Die Art, den Grundgedanken darzustellen, ist recht unterschiedlich; eine anfängliche Definition, 35 eine vorläufige Analyse36 oder auch jene Bestimmung, die auf eine vorläufige Analyse folgt,37 heißen „umrißhaft"; ferner kann der Grundgedanke in derselben Schrift oder in einer Spezialuntersuchung38 fortgeführt werden. Der Begriff des Umriß-Wissens ist ein sehr anschaulicher, aber formal undifferenzierter Begriff. b. Ethische

Teilanalysen

In seiner Untersuchung des Glücks diskutiert Aristoteles die Meinung Solons, man solle jemanden erst nach dem Tode glücklich preisen.39 Diese Meinung wirft das Problem auf, inwiefern das Schicksal der Nachkommen und Freunde das Glück der Verstorbenen beeinflußt. Bevor er dieses Problem für den vorliegenden Zusammenhang löst, reflektiert Aristoteles auf die methodische

33

άσαφέστβρον

34

M M I 5, 1185b 1 - 3 ; I 34 (35), 1196b 13 f.; Pol. V 2, 1302a 1 8 - 2 0 ; VIII 7, 1341b 2 3 - 3 2 ; Met. VII 3, 1029a 7 - 9 (vgl. auch VII 2, 1028b 31 f.); Cat. 4, l b 27 f.; 10, 1 l b 1 9 - 2 1 ; Top. I 7, 103a 7 f.; I 14, 105b 19 f.; Historia ammaliarti I 7, 491a 7 f. S o die anfänglichen Definitionen der Gerechtigkeit und der Freigebigkeit: E N V 1, 1129a 6 - 1 1 ; II 7, 1107b 8 - 1 6 . S o die Bestimmung jener Wissenschaft, zu der die Frage nach dem höchsten Ziel gehört: EN I 1, 1094a 2 4 - b 11. In Met. VII 33 wird das Wesen {ουσία) zunächst in das jeweils zugehörige Sein, in das Allgemeine, die Gattung und das Substrat aufgegliedert, dann das Wesen als Substrat untersucht und schließlich eine erste Bestimmung des Wesens gegeben (VII 3, 1029a 7 - 9 ) . Die Fortführung in Spezialuntersuchungen bildet die Ausnahme; so D e an. II 4, 416b 3 0 f. (Theiler verweist auf das verlorene Werk irepi τροφής [Theiler, 116]; in Pol. VIII 7, 1341b 2 3 - 3 2 wird es den Fachleuten überlassen, den Bezug der Rhythmen und Melodien auf die Erziehung genauer zu untersuchen.)

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τη

φύσει.

EN I 11, 1100a 10 f. 163

Schwierigkeit und behauptet, daß eine umrißhafte Untersuchung hinreichend ist. Die Schwierigkeit gründet in der Natur des Gegenstandes. Aristoteles unterscheidet die Verschiedenheit der Ereignisse an sich von der unterschiedlichen Nähe des Verstorbenen zu ihnen.40 Aus dem Verhältnis beider Momente resultiert der Einfluß auf das Glück des Verstorbenen. Begriffslogisch handelt es sich im Einflußnehmen um eine zweigliedrige Relation, deren Bestimmtheit sich erstens aus den beiden Gliedern des Verhältnisses und zweitens aus der Art und Weise, in der sie miteinander ins Verhältnis gebracht werden, ergibt. Aus der Mannigfaltigkeit der Ereignisse und ihrer unterschiedlichen Nähe zum Verstorbenen soll folgen, daß eine ins Individuelle gehende Untersuchung 41 weitschweifig und grenzenlos ist.42 - Man spricht weitschweifig, wenn man eine Sache ausführlicher behandelt als es für das Thema notwendig und interessant ist; und jene Untersuchung ist grenzenlos, die sich ein prinzipiell unerreichbares Ziel setzt. Ist aber eine ins einzelne gehende Untersuchung weder möglich noch interessant, dann reicht es, über die Sache allgemein und im Umriß zu reden. 43 Eine umrißhafte Rede enthält jene Ausführlichkeit und Genauigkeit, die beim vorliegenden Thema allein sinnvoll ist. Die aristotelische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß das Geschick der Nachkommen und Freunde auf das Glück der Verstorbenen - wenn überhaupt - nur einen geringen Einfluß hat; vor allem kann es keinen glücklichen Menschen zu einem unglücklichen machen. - Diese Lösung nennt eine komparative Skala des Einflußnehmens, die Skala von geringem bis zu keinem Einfluß, und läßt die besondere Art, die Fülle der tatsächlichen Wirkungen auf das Glück, offen. Wer in einem bestimmten Fall den Einfluß eines Ereignisses auf einen Verstorbenen wissen will, findet einen Maßstab, mit dessen Hilfe er den konkreten Fall beurteilen kann; die Beurteilung selbst bleibt ihm aber überlassen. Die Relation, der Einfluß, wird allein in ihrer formalen Relationalität bestimmt, während die Relata und damit die Relation in ihrer konkreten Gestalt unbestimmt bleiben; die Sache ist zutreffend, nicht aber hinreichend, sie ist allgemein, 44 nicht auch in ihrer Besonderheit gewußt.

40 41

42 43 44

1101a 2 4 - 2 6 . 1 1 0 1 a 2 6 : καθ' ΐκαστον biaipûv - καθ' βκαστον bezeichnet im Unterschied zu καθ' έκαστα nicht die Arten einer Sache, sondern die Einzelfälle bzw. die Einzelpersonen (Joachim, 22). μακρό ν και άττίραντον (a 26 f.). καθόλου καθόλου

ôe λβχθΐν (a 27).

και τύτφ

τάχ'α

ν ίκανύς

164

Ιχοι (a 27 f.).

Diese Bedeutung des Allgemeinen ist von der Bedeutung des logisch und des methodologisch Allgemeinen zu unterscheiden; jenes bezeichnet die begriffliche Allgemeinheit der Wissenschaft, dieses die „schlichte Allgemeinheit" einer ungegliederten vorwissenschaftlichen Erkenntnis. 45 In der vorliegenden Untersuchung handelt es sich der schlichten Allgemeinheit gegenüber nicht um ein anfangliches, sondern um ein abschließendes Wissen. Ein abschließendes Wissen ist aber auch die begriffliche Allgemeinheit, das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, in dem aus einem vorliegenden, durchgängig bestimmten Ganzen nur jene Momente hervorgehoben werden, die auch für andere Ganze zutreffen. So ist die Gattung gegenüber den Arten und die Art gegenüber den Individuen ein begrifflich Allgemeines. Von dieser abstrakten Allgemeinheit unterscheidet sich das Umriß-Wissen in zwei Aspekten. Erstens ist es nicht die Gattung gegenüber ihren Arten, eine in sich kohärente Gehaltlichkeit, sondern jene Allgemeinheit einer Verhältnisbestimmung, in der allein der relationale Charakter des Verhältnisses bestimmt ist. Zweitens liegen die Relata nicht schon durchgängig bestimmt vor (von welcher Bestimmtheit der Umriß allerdings absieht), sondern ihre vollständige Bestimmtheit ist allererst zu setzen. Das Erkenntnisziel des Umriß-Wissens ist dem Erkenntnisziel der Abstraktion entgegengesetzt; der Umriß ist dem Besonderen nicht abgewandt, sondern auf das Besondere ausgerichtet, ohne es jedoch zu erreichen: er ist gleichsam eine noch ungesättigte Erkenntnis. Wenn sich die Untersuchung der Einflußnehmens in einem Umriß-Wissen vollendet, dann bleiben ihr die weiteren Bestimmungen, die konkreten Glieder des Verhältnisses, verschlossen. Sie sind aber nicht deshalb unbekannt, weil sie grundsätzlich gegeben, durch die vorliegende Analyse aber noch nicht entdeckt sind, sondern weil sie noch gar nicht existieren. Der konkrete Einfluß

45

Die begriffliche Allgemeinheit bestimmt Aristoteles in den Zweiten Analytiken als jene Verbindung von Subjekt und Prädikat, in der das Prädikat dem Subjekt in allen Fällen ( κ α τ ά -παντός) zukommt (Allaussage), und zwar nicht nur faktisch, sondern wesentlich (καθ' αυτό καί r¡ avrò) (Wesensaussage), weil nämlich das Subjekt das Prädikat materialiter impliziert (I 4, 73b 26 f.). - Das „schlichte Allgemeine" (Wagner, 395) bedeutet nach dem Einleitungskapitel der Physik jene erste Phase des Wissens, in der die Sache noch undifferenziert wahrgenommen oder verstanden wird. Dadurch ist jenes Generelle einer Vorstellung benannt, durch das weder das Besondere noch der Zusammenhang einer Sache und am wenigsten Grund und Möglichkeit der Sache erkannt sind (vgl. Ross, Phys. 4 5 6 - 4 5 8 ) . Diese allgemeine Vorstellung ist der Ausgang einer Dihairese, die die Bestandteile, Elemente und Prinzipien der Sache herausarbeitet (Phys. I 1, 184a 18 f f . ) .

165

von Nachkommen auf das Glück von Verstorbenen wird durch den jeweiligen Fall allererst gesetzt und in der Beurteilung des Falles gefunden. Da das Einflußnehmen begriffslogisch ein Verhältnis ist, das erst durch seine Glieder konkret bestimmt wird, die Ethik sich aber weniger für die Glieder an sich (die Ereignisse selbst und die Nähe der Verstorbenen zu ihnen) als für die Bestimmtheit ihres Verhältnisses interessiert, ist eine Untersuchung, die sich auf die konkreten Bestimmtheiten einläßt, weitschweifig. Überdies ist ein solches Vorhaben wissenschaftlich nicht möglich. Man kann zwar den besonderen Einfluß anhand möglicher Ereignisse und möglicher Beziehungen zu ihnen bestimmen. Eine solche Kasuistik läßt sich jedoch auf die unabsehbare Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse ein, ohne die tatsächlich vorliegenden Verhältnisse und somit ohne den konkreten Einfluß zu erkennen. Deshalb bestimmt die Ethik nicht die konkreten Verhältnisse selbst, sondern allein die mediale Selbigkeit der Verhältnisse; sie erkennt gleichsam das Strukturgitter der Sache. - Dieser für eine ethische Analyse spezifische Begriff des Umrisses unterscheidet sich in dreifachem Sinn vom allgemeinen Begriff. 1. Gegenüber der Umrißhaftigkeit vorläufiger Aussagen handelt es sich nicht um ein Wissen, das durch eine fortschreitende Untersuchung ausführlicher und genauer wird. Der ethischen Erkenntnis ist - wenigstens bei dem vorliegenden Thema - eine prinzipielle Grenze gesetzt; über eine grundrißhafte Kenntnis des Einflusses von Nachkommen und Freunden auf das Glück des Verstorbenen kommt die Philosophie nicht hinaus. Durch den Begriff einer grundsätzlichen Grenze ist das Wesen des Umrisses nur negativ interpretiert. Das Umriß-Wissen gilt aber für die Ethik als hinreichend. 46 Die vorliegende Untersuchung heißt nun deshalb hinreichend, weil sie ihren Gegenstand - im Unterschied zu einer weitschweifigen oder unabsehbaren Analyse - in der ihm gemäßen Ausführlichkeit und Zielsetzung abhandelt; das Umriß-Wissen, ein Strukturgitter der Sache, ist die für die Ethik einzig sinnvolle Genauigkeit. 2. Die Unbestimmtheit hat den präzisen Sinn, daß der Gegenstand, ein Verhältnis, in seinem medialen Charakter genau bestimmt wird, während die Glieder und damit die Konkretionen des Verhältnisses frei bleiben. 3. Der freie Raum wird nicht begrifflich gefüllt, sondern durch Entscheiden und Handeln. Nachdem die Nikomachische Ethik den allgemeinen Begriff von Tugend ausführlich und die einzelnen Tugenden in einem Schema vorläufig analysiert hat, folgt eine genaue Untersuchung der Einzeltugenden. Die erste, die

46

I I I , 1101a 27 f. 166

Untersuchung der Tapferkeit, 47 schließt mit dem Hinweis: „Über die Tapferkeit sei so viel gesagt; denn was sie ist, läßt sich aus dem Gesagten ohne Mühe im Umriß entnehmen." 48 Die Analyse beginnt mit der schon früher gemachten Bestimmung der Tapferkeit als der Mitte im Hinblick auf Furcht und Zuversicht. 49 In dieser Bestimmung wird der mediale Charakter der Sittlichkeit für den besonderen Bereich der Tapferkeit formuliert, aber noch nicht begriffen. Sie hat ähnlich wie die anfängliche, umrißhaft genannte Definition der Gerechtigkeit die Funktion, für die folgenden Unterscheidungen und genaueren Bestimmungen die Grundlage zu bilden. 50 Die Analyse selbst differenziert zunächst den Lebensbereich in seine Bestandteile und präzisiert das, was vornehmlich tapfer genannt wird, als „den edlen Tod vor allem im Krieg". 51 Dann werden die begrifflichen Momente der Mitte, der Zweck und die Art und Weise des Handelns, expliziert: tapfer sein heißt, um des Edlen willen ausharren, und zwar so wie es angemessen ist und die Vernunft es will. 52 Anschließend wird der Tapfere im Kontrast zum Tollkühnen, zum Prahler und zum Feigen charakterisiert, wodurch die begrifflichen Momente e contrario erhellt werden. 5 3 Die folgende Differentialanalyse gliedert die komplexe umgangssprachliche Vorstellung von Tapferkeit in sechs Arten auf, skizziert fünf Arten, die mit der eigentlichen Tapferkeit verwandt sind, und hebt sie dagegen ab. 54 Mit dem Problem von Lust und Schmerz in bezug auf die Tapferkeit endet die Untersuchung. 55 Wenn auch Aristoteles am Ende seine Ergebnisse nicht zusammenfaßt, so kann man doch ohne Schwierigkeit die entscheidenden Moment herausgreifen und in einer differenzierenden Wesensbestimmung von Tapferkeit

47

III 9 - 1 2 .

48

περί μεν ow ανδρείας

49

επί τοσούτον

ειρήσθω•

τί δ' εστίν,

ού χαΚεπόν

τύττψ ~γε περι-

λαβείν

εκ των είρημενων.

(III 12, 1 1 1 7 b 2 0 - 2 2 ; Ü b e r s , nach G i g o n ,

ότι μεν

ovv μεσάτης

περί

εστί

φόβους

και θάρρη,

ήδη φανερόν

121).

•γε'γενηται

(III 9 ,

1 1 1 5 a 6 f . ) . D i e B e s t i m m u n g ist aus der „ T a f e l " der e i n z e l n e n T u g e n d e n e n t n o m m e n : II 7 , 1 1 0 7 a 3 3 f. (περί 50

V g l . o b e n , Kap. II 5 a .

51

III 9.

52

III 10, 1. T e i l .

53

III 10, 2 . T e i l .

54

III 11.

55

III 12.

μεν ουν φόβους

167

καί θάρρη

ανδρεία

μεσάτης·).

vereinigen: Tapferkeit ist die Haltung, des Edlen wegen durch Überlegen die angemessene Mitte von Furcht und Zuversicht zu finden.56 In dieser Definition ist das mediale Wesen von Tapferkeit den Fehlhaltungen und den anderen Tugenden gegenüber nicht nur eindeutig benannt, sondern auch eindeutig begriffen; obwohl sie eine wissenschaftlich genaue Bestimmung ist, heißt sie doch umrißhaft. Von welchem anderen Wissen wird das wissenschaftlich genaue Wissen als umrißhaft beurteilt? - Die Wesensbestimmung der Tapferkeit ist eine relativ formale Bestimmung, die den analogen Charakter des Sittlichseins für den besonderen Bereich von Gefahrenlagen erklärt, konkretes Handeln aber nicht einholt. Sie erfaßt einen besonderen Lebensbereich; die konkrete Lebenswirklichkeit bleibt ihr jedoch verschlossen; an ihr gemessen ist die aristotelische Analyse umrißhaft. Würde die Analyse nicht an der Lebenswirklichkeit selbst, sondern nur am Begriff der Mitte gemessen, so käme sie gar nicht zustande; denn vor der differenzierten Bestimmung der Tapferkeit steht die noch undifferenzierte Bestimmung, und vor ihr die allgemeine Bestimmung der Tugend. Wäre die Untersuchung eine immanente Reflexion auf den Begriff der Mitte, dann würde sie nach der Analyse der „Mitte für uns" enden. Weil die Reflexion auf den Begriff der Mitte keinen Selbstzweck hat, sondern der Auslegung einer Lebens Wirklichkeit dient, geht die Analyse weiter. Dadurch bringt sie keinen immanenten Fortschritt der Wissenschaftlichkeit, sondern bringt die Wissenschaft der Lebenswirklichkeit näher: Dem Weitergehen liegt nicht die Idee einer logischen Perfektionierung des Wissens, sondern jenes sittliche Engagement zugrunde, das die Leitidee der aristotelischen Ethik bildet.57 Was theoretisch gesehen eine genaue Bestimmung des medialen Begriffs von Sittlichkeit ist, ist praktisch gesehen ungenau. Denn mit jenen Begriffen, die die Definition der Tapferkeit bilden, ist die Wirklichkeit erst global, der Zweck als das Edle, die Art und Weise des tapferen Handelns als angemessen und vernunftgemäß bestimmt. Man kämpft aber nicht nur um des Edlen willen, sondern man kämpft konkret, um Athen vor den Persern

56

57

Vgl. Thomas v. Aquin, 167: „virtus medio modo se habens secundum rationem rectam circa timorés et audicias propter bonum." το τέλος ίστίν ού -γνώσις ά λ λ ά τράξις. (I 1, 1095a 5 f.) und ού yàp Ινα άόύμ^ν TÍ eOTiv ή άρβτη σκεττόμίθα, ά λ λ ' ïc' àyotdoì -γενώμεθα (II 2, 1103b 27 f.). Vgl. oben, Kap. I 2a. 168

zu schützen; man kämpft nicht vernunftgemäß überhaupt, sondern man greift an oder man zieht sich zurück. Solche konkreten Verhaltensweisen sind auf Grund der unabsehbaren Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse vom Handelnden je anders und je selbst zu entdecken. An konkreten Bestimmungen gemessen ist Aristoteles' Analyse und überhaupt jede philosophische Analyse der Tapferkeit ein Umriß-Wissen. In ihr sind die für Tapferkeit eindeutigen Bedingungen gewußt, jedoch sind diese Bedingungen bloß die Momente einer analogen, nicht aber einer konkreten Bestimmung: der mediale Kern der Tapferkeit wird erkannt und zugleich in so universellen Konkretisierungsformeln wie „wie man soll, ..." 5 8 auf die Glieder der Mitte hingewiesen, ohne sie tatsächlich zu bestimmen. Es wird gleichsam ein Spielraum für den konkreten Zweck, die konkrete Lage, ihre Beurteilung und die daraus folgende Entscheidung freigelassen. Gegen diese wissenschaftliche Selbstbeschränkung kann man einwenden, der Spielraum sei für das Verhalten im Krieg (als dem vornehmlichen Bereich der Tapferkeit) zwar grundsätzlich notwendig, aber nicht in dem weiten Rahmen, wie ihn die aristotelische Ethik steckt. In einer Strategik oder Taktik kann das Verhalten im Krieg noch genauer analysiert werden. Strategik und Taktik sind aber technische Disziplinen, die lehren, wie man den Sieg in der jeweiligen Lage am besten erreicht; sie richten sich auf die Lage-Mittel-Relation und sind gegenüber der Haltung, ob man um des Edlen willen oder aus Angst vor Schande oder Schmerz kämpft, neutral. Für die Tapferkeit ist diese Differenzierung aber entscheidend. Vom technischen Standpunkt aus ist das Verhalten im Krieg gut, wenn man Erfolg hat; das Kämpfen gilt als die Kunst etwas hervorzubringen, das - vom Akt des Tuns gelöst - selbständig besteht und objektiv zu erkennen ist (ein geschlagener Feind, hohe Verlustziffern ...); vom praktischen Standpunkt aus ist dagegen das Verhalten dann gut, wenn es bestimmte Qualitäten hat; gegenüber dem Zornigen die Qualität des Umsichtigen, gegenüber dem Erfahrenen, von der Haltung her aber Feigen die Qualität des Unerschrockenen, gegenüber dem irgendwie Gezwungenen die Qualität, um des Edlen willen zu kämpfen. 59 Die Fortsetzung einer Analyse der Tapferkeit in einer Taktik oder Strategik ist daher eine μβτάβψσις eiç άλλο -γένος, der Übergang von einer ethischen zu einer technischen Untersuchung; bei diesem Übergang bleibt

58 59

ώς ôeï, . . . ; siehe oben, Kap. II 3a. Vgl. N E III 11.

169

zwar das Materialobjekt, das Verhalten im Krieg gleich, nicht aber das Formalobjekt, das sittliche Verhalten. 60 Da der Lebensvollzug je verschieden ist, es der Ethik aber nicht um die Verschiedenheit des Lebens Vollzugs als solchem geht, sondern allein um die Qualität des Tapferseins, begreift sie die Tapferkeit nicht konkret, sondern in ihren Grundzügen, in jenen hinreichenden, jedoch relativ formalen und globalen Bestimmungen, durch die ein Lebensvollzug tapfer ist. Die aristotelische Untersuchung der Tapferkeit erreicht ihr Ziel, nicht dem Erkennen, sondern dem sittlichen Handeln zu dienen, nur dann, wenn sie den Tapferen auch tapfer sein läßt. Das Tapfersein besteht aber im eigenen Erfinden der jeweiligen Mitte für uns, und dieses Erfinden ist nur kraft unerschrockenen Charakters und kluger Überlegung möglich. Nur dann emanzipiert die philosophische Analyse der Tapferkeit den Menschen als tapferes Wesen, wenn sie die sittliche Leistung freiläßt, wenn sie die ethische Fundamentaldifferenz 61 in ihre Methode aufnimmt und das Erfinden der Mitte dem Charakter und der Überlegung des Handelnden überläßt. Die Bedingung der Möglichkeit des philosophischen Freilassens ist ein Wissen in der Form des Umrisses, in dem die analoge Selbigkeit der verschiedenen sittlichen Leistungen, nicht aber die sittlichen Leistungen selbst, die in den wechselnden Umständen des Lebens konkret hervorzubringenden Glieder der Analogie erkannt sind. Eine Grundriß-Untersuchung erkennt genau das, was philosophisch zu erkennen ist. Die Bestimmtheit des Umrisses ist nicht nur die einzig mögliche, sondern auch die einzig sinnvolle Genauigkeit der Ethik. - Nur einem nachträglichen theoretischen Vergleich von ethischer Erkenntnis und konkretem sittlichen Tun erscheint die Unbestimmtheit als ein Mangel. In diesem theoretischen Vergleich ist jedoch jener Sinn der Ethik vergessen, daß sie als eine praktische Philosophie das Wissen um das sittliche Handeln, das die Hörer schon mitbringen, potenziert und so den Menschen als sittliches Wesen zu sich selbst kommen läßt. Die drei Momente des allgemeinen Begriffs von Umriß, daß der Grundriß der Sache erkannt, die vollkommene Bestimmung der Sache mitgedacht und die weitere Bestimmung noch zu leisten ist, erfahren im ethischen Begriff des Umrisses eine Spezifizierung. Der in der Analyse der Tapferkeit erkannte Grundriß ist die analoge Selbigkeit der Tapferkeit; die vollkommen bestimmte Sache ist die konkrete Lebenswirklichkeit; das weitere Bestim60 61

Vgl. die Differentialanalyse von τίχνη und πράξις Vgl. oben, Kap. 1 2c. 170

oben, Kap. I lb.

men, das eigene Erfinden der jeweiligen Mitte für uns, ist keine philosophische Aufgabe mehr. Ein Grundriß-Wissen ist die gegenüber dem tapferen Handeln angemessene philosophische Genauigkeit. „Umrißhaft" heißt auch die allgemeine Untersuchung der Tugend.62 Wenn nämlich auch die Begriffe der Haltung und der Mitte durch die Untersuchung hinreichend transparent werden, 63 so ist das, was durch die Begriffe verstanden werden soll, die konkrete Lebenswirklichkeit, nur in den Grundzügen erkannt. Bei der Untersuchung der Entscheidung im dritten Buch der Nikomachischen Ethik (III 4-5) ist nicht genau auszumachen, ob sie als vorläufige oder als in sich abgeschlossene Analyse umrißhaft heißt.64 Zwar spricht Aristoteles später noch über die Entscheidung,65 jedoch wird sie dort nicht direkt, sondern nur im Zusammenhang der Verstandestugenden thematisiert; überdies weist Aristoteles nicht auf diese Weiterfuhrung hin. Betrachtet man die Untersuchung der Entscheidung als eine vorläufige Analyse, so heißt sie umrißhaft, weil sie später noch weitergeführt wird; betrachtet man sie als in sich abgeschlossene Analyse, so ist sie umrißhaft, weil sie keine exemplarischen Entscheidungen darstellt, sondern nur das Strukturgitter jeder Entscheidung expliziert und es dem Handelnden überläßt, tatsächliche Entscheidungen zu fallen. c. Aristoteles ' Ethik als

Grundriß-Wissenschaft

Daß die Ethik nicht nur Einzelthemen, sondern ihren Gegenstand überhaupt umrißhaft untersucht - diese programmatische Behauptung stellt Aristoteles im ersten Methodenexkurs auf, und im vierten wiederholt er sie.66 Im Verlauf der Abhandlung selbst wird diese Idee nur bei einigen Teilanalysen wieder auf-

62

63 64

65 66

III 5, 1114b 2 6 - 2 7 : Κοινή μεν oìiv περί των αρετών είρηται ήμϊν τό τε γέ>>ος τύπφ, οτι μεσότητες ε'ισιν και οτι εξεις,. W i r haben also nun allgemein über die T u g e n d g e s p r o c h e n , haben sie der Gattung nach in U m r i s s e dahin b e s t i m m t , daß sie eine Mitte und ein Verhalten sind . . . (Gigon, 113). Vgl. o b e n , K a p . II 2 c und II 3a. In ihr heißt es abschließend: ή μεν ούν προαίρεσις τύπφ ειρήσθω, και περί ποΐά έστι και ότι των προς τα τέλη. (III 5, 1113a 12-14) Dirlmeier (332) hält die Untersuchung für vorläufig. Dirlmeier verweist auf VI 2, 1139a 3 1 - b 13; VI 13, 1144a 2 0 , 1145a 4. I 1, 1094b 1 1 - 2 1 ; II 2, 1103b 2 6 - 1 1 0 4 a 3. Vgl. o b e n , Kap. II l a .

171

genommen; 67 zum Schluß wird jedoch die ganze Abhandlung in vier Hauptthemen aufgegliedert und jedes dieser Themen, das Glück und die Tugenden, die Freundschaft und die Lust, gilt „in Umrissen hinreichend besprochen". 68 Bei den Tugenden gibt es zwei Arten: die sittlichen und die Verstandestugenden. 69 Zur ersten Art zählt die Tapferkeit, deren Analyse genau und doch umrißhaft ist, weil sie nämlich nicht am Begriff der Tapferkeit, sondern am konkreten Tapfersein gemessen wird. Dieser Maßstab entspricht der allgemeinen Forderung, die Ethik nicht des Erkennens, sondern des Handelns wegen zu betreiben. 70 Wie die Tapferkeit, so bezeichnet auch jede andere sittliche Tugend die Haltung der Mitte, den charakterlichen Aspekt am sittlichen Leben. Ferner dient jede ethische Analyse nicht dem Handeln. Die Methode bei der Untersuchung der Tapferkeit läßt sich daher verallgemeinern: Da die Konkretionen sittlichen Handelns kraft sittlichen Charakters und kluger Überlegung hervorzubringen sind, erkennt die Ethik für den jeweiligen Lebensbereich die dem sittlichen Handeln zugrunde liegende analoge Selbigkeit, während die sittliche Aufgabe, eine konkrete Entscheidung zu treffen, dem Handelnden je selbst und je neu zufallt. Die andere Art, die Verstandestugenden, werden im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik sowohl einzeln als auch im Verhältnis zueinander eindeutig bestimmt. 71 So gilt die Wissenschaft als jenes Wissen, das einen notwendigen Gegenstand hat, das lehrhaft ist und gegenüber seinem Gegenstand die Haltung des Beweisens einnimmt. 72 Dadurch ist der Begriff von Wissenschaft sowohl in sich als auch gegenüber den anderen Verstandestugenden genau erkannt; das konkrete und jeweils andere Ausüben von Wissenschaft ist jedoch freigelassen. Konkrete Wissenschaft ist nämlich nicht ein Beweisen überhaupt, sondern das Beweisen eines Sachverhalts auf die ihm gemäße Wei-

67

68

69 70 71

72

Unmittelbar umrißhaft werden folgende Analysen genannt: Die Analyse des Einflusses von Nachkommen auf das Glück von Verstorbenen (I 11, 1101a 26-28); die Analyse der Gattung der Tugenden (III 8, 1114b 26-28); die Analyse der Tapferkeit (III 12, 1117b 20-22); die Analyse des Glücks (X 6, 1176a 30 f.). Evtl. ist auch die Analyse der Entscheidung zuzurechnen (III 5, 1113a 12-14); vgl. oben, Kap. II 5b. *Aρ' ovv ti irtpX Tt τούτων (οι βίοι βύδαιμονες) και των àperùv, en 5è και ηδονής, ικανώς άρηται τοις τύποις (Χ 10, 1179a 33 f.). άρηταί ήθικαί καΐ διανοητικαί. το τέλος ίστίν ού yνώσις ά λ λ ά τράξις (I 1, 1095a 5 f.). Vgl. L. Η. G. Greenwood, Aristotle. Nicomachean Ethics Book VI with essays, notes and translation, Cambridge 1909. VI 3, 1139b 18-36.

172

se, ein Beweisen, das nicht in der Ethik dargestellt wird und auch nicht in den Zweiten Analytiken, auf die hier verwiesen wird. 7 3 Da es der Ethik um die Praxis geht, ist ihre Analyse der Wissenschaft eine immanent genaue, in bezug auf das Tun selbst jedoch umrißhafte Analyse. Nun ist der Begriff des Beweisens nicht ein Gattungsbegriff, unter den das mathematische oder das naturphilosophische Beweisen als Arten zu subsumieren sind; es gibt keine mathematische Art des Beweisens, wohl aber einen mathematischen Beweis, der sich vom naturphilosophischen Beweis in dem, was bewiesen wird, unterscheidet. Eine Sache beweisen heißt, sie aus ihren Gründen ableiten; 74 die Form des Beweisens beruht allein in dieser je selben Relation von wahrem und erstem Wissen zum begründeten Wissen. Tatsächliches Beweisen setzt aber auch die Bestimmtheit der Relata, die Bestimmtheit des begründenden und des begründeten Wissens voraus. Die Ethik erkennt den Gegenstand nur in seinen Grundzügen, in seiner analogen Selbigkeit, nicht auch in der konkreten Gestalt, wie sie durch tatsächliche Wissenschaft hervorgebracht wird. Die Wissenschaft und entsprechend die anderen Verstandestugenden werden nur umrißhaft analysiert. Ein weiteres Thema der Nikomachischen Ethik ist die Freundschaft, das Zusammensein im Vorgriff auf einen Nutzen, auf ein Angenehmes oder auf das Gute hin. 75 Im Verlauf der Untersuchung wird die Freundschaft in ihren verschiedenen Arten differenziert und jede dieser Arten wie auch ihr Verhältnis untereinander des näheren bestimmt. 76 Stärker als in den Untersuchungen der Tugenden geht Aristoteles hier auf Detail-Fragen ein. Im Bestreben, den Gegenstand möglichst umfassend und lebensnah zu bestimmen, untersucht er sogar so konkrete, geradezu kasuistische Probleme wie die Frage, „ob man die Gegenleistung nach dem Nutzen, den die Leistung für den Empfänger hatte, bemessen soll, oder nach der Leistung, die es für den Gebenden war". 7 7 Trotzdem wird nicht jede Detailfrage behandelt und vor allem wird das konkrete, nach den Umständen und Lebensverhältnissen wechselnde Zusammenleben von Freunden nicht erfaßt. Die Ethik richtet sich allein auf jene analoge Selbigkeit, daß sich ein faktisches Zusammensein aus dem Vorgriff auf einen Nutzen, ein Angenehmes oder das Gute hin konstituiert.

73 74

75 76 77

b 32 f. An. post. I 2. Vgl. E. Kapp, Art. „Syllogistik", Sp. 1 0 4 6 - 1 0 6 7 ; Ross, An. pr. et post.: 5 0 7 - 5 1 2 . Siehe oben, Kap. II 3a. N E VIII und IX. VIII 15, 1163a 9 - 1 2 (Übers. Gigon, 254).

173

Das dritte Grundthema der Nikomachischen Ethik, die Lust, wird an zwei Stellen abgehandelt. 78 Nach der zweiten Analyse ist die Lust - um das Umrißhafte exemplarisch darzustellen - ein Vollendungsmoment der Tätigkeit, 79 jenes Vollendungsmoment, das im Gerntun des jeweiligen Tuns gründet. „Lustvoll" heißt das, wozu man sich entscheidet, und „schmerzlich" das, was man flieht;80 beim sittlichen Handeln ist die Lust jener Aspekt des Frohen und Angenehmen, der aus der Bejahung des Lebens Vollzuges resultiert. Im Bejahen einer Tätigkeit setzt sich der Mensch in ein Verhältnis zu ihr; der Begriff der Lust ist ein relationaler Begriff. Wie es nun verschiedene Arten von Tätigkeiten gibt, so auch verschiedene Arten von Gerntun. 81 Da die konkrete Lust von der konkreten Tätigkeit abhängt, die konkrete Tätigkeit vom Handelnden je selbst und je anders gesetzt wird, wird die konkrete Gestalt philosophisch nicht bestimmt. Die Analyse ist umrißhaft, weil sie die Lust global als das Bejahungsmoment charakterisiert und auf diese Weise die Relation in ihrer Relationalität erfaßt, während die tatsächliche Bestimmung der Relation, die konkrete Gestalt des Bejahens, dem Handelnden freigegeben ist. Die Nikomachische Ethik schließt mit einer Untersuchung des Glücks, 82 die die im ersten Buch begonnene Analyse zu Ende führt. 83 Die erste Analyse des Glücks hat eigentlich einen doppelten Gegenstand. Die Frage nach dem, was für den Menschen gut ist, wird als die Frage nach jenem Ziel formuliert, das erstens um seiner selbst willen gewollt wird, 84 und das zweitens dem Wort nach als Glück zu bestimmen ist.85 Ein Ziel, das um seiner selbst willen gewählt wird, leitet nicht ein bestimmtes Streben, sondern macht das Streben überhaupt erst möglich; 86 es ist nicht der Begriff eines empirischen, sondern eines unbedingten Zieles; 87 es ist neuzeitlich gesprochen der transzendentale Begriff von Ziel. Denn das unbedingte Ziel, jenes höchste 78

79 80 81

82

VII 12-15; X 1 - 5 . Zum Verhältnis beider Analysen vgl. Dirlmeier, 567 f.; Gauthier/Jolif, 778-781; G. Lieberg, Die Lehre von der Lust in den Ethiken des Aristoteles, München 1958. TeXuol δί την ivtpyaav ή ηδονή (Χ 4, 1174b 23). τα μίν yàp ήδία τροαφοΰνταί, τα δί Χυτηρά ipevyovoiv (Χ 1, 1172a 25 f.). Daher wird die Lust nicht bloß im allgemeinen, sondern auch bei den verschiedenen Arten sittlicher Tätigkeit untersucht; bei der Tapferkeit ζ. B. im Kap. III 12. ευδαιμονία.

83

X 6-9.

84

τίΧος ... των τρακτών I 2, 1095a 14 ff. I I, 1094a 18-21.

85 86

87

6 δί avrò βουΧόμεθα

TO τίΧίώτατον (I 5, 1097a 30). 174

(I 1, 1094a 18 f.).

praktische Gut, 88 das das Leben schlechthin begehrenswert macht, 89 ist nicht die höchste Stufe einer Skala von Zielen. Diese Vorstellung wehrt Aristoteles ausdrücklich ab, wenn er es als jenes Ziel qualifiziert, zu dem kein anderes Ziel addiert werden kann. 90 Jedes empirisch Wünschenswerte kann durch das Zusammentreffen mit anderem Wünschenswerten noch überboten werden; unüberbietbar wünschenswert ist nur ein Ziel, das als Bedingung der Möglichkeit des Wünschens jedem empirischen Ziel vorausgedacht ist. Dieses unbedingte Ziel kann nicht empirisch erstrebt werden, sondern es ist als Begriff ein Produkt der Reflexion. Vom transzendentalen Standpunkt aus ist der Gegenstand nicht nur umrißhaft, sondern vollständig erkannt. Ist aber die logische Perfektionierung des Gedankens, die bloße Potenzierung des Wissens als Wissen ethisch angemessen? - Unter Glück versteht man nicht nur ein Prinzip, das rein für sich reflektiert werden kann, sondern die Relation des Prinzips auf tatsächliches Leben. In bezug auf eine Lebensweise, die glücklich macht, ist die Untersuchung zwar genau, aber abstrakt. 91 Die transzendentale Reflexion erfaßt das unbedingt Gute, ein rein Gedachtes, nicht dagegen das bedingt Gute, den Vorgriff eines geschichtlichen Lebens auf das höchste Gut; darauf bezogen sind die gegebenen Bestimmungen zwar genau, aber zu prinzipiell, zu inhaltsleer, als daß sie dem sittlichen Engagement der Ethik gemäß dem Handelnden sehr hilfreich sein könnten. 92 Da aber die transzendentale Analyse in sich vollendet ist, formuliert Aristoteles das Problem des für den Menschen Guten in einer neuen, konkreteren Frage, in der Frage nach jener Leistung, die für den Menschen charakteristisch ist.93 In der Antwort, das menschliche Gute sei eine Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend, 94 ist die Sache erst vorläufig begriffen, denn sowohl die

88 89

90 91

n

93 94

το πάντων άκρότατον των πρακτών ά·γαθών (I 2, 1095a 16 f.). το δ' αϋταρκες τίθεμεν δ μονούμενον α'ιρετον ποιεί τον βίον και μηδενός ένδεά (I 5, 1097b 14 f.). I 5, 1097b 16-20. Nach Abschluß der Analyse heißt es: ποθείται δ' εναρ^εστερον τί 'εστίν λεχθήναι (I 6, 1097b 23 f.). Gigon übersetzt, έναρ-γέστερον mit „genauer", Dirlmeier mit „deutlicher", Gauthier/Jolif und Tricot mit „plus clairement". Damit ist der Ausdruck jedoch zu formal übersetzt, denn Aristoteles spricht nicht wie sonst von ακριβής oder σαφής. ίναρΎεστερον heißt eher soviel wie: anschaulicher, leibhafter, plastischer, konkreter (vgl. Lidell & Scott, 556). Vgl. H. Buchner, „Grundzüge der aristotelischen Ethik", in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 71 (1963/64) 2 3 0 - 2 4 2 (241). το ëpyov του άνθρωπου (I 6, 1097b 24 f.). ψυχής ενεργεία κατ' άρετήν (1 6, 1098a 16 f.).

175

einzelnen Momente dieser Bestimmung wie auch ihr Verhältnis untereinander sind ungeklärt. Der noch ausstehenden Aufgliederung sind die folgenden Kapitel und Bücher der Nikomachischen Ethik gewidmet; von dort her heißt die schon gegebene Bestimmung im Sinne einer vorläufigen Aussage umrißhaft. Die ethisch endgültige Aussage über das Glück erfolgt in den Kapiteln X 6-9. Auf der Suche nach der höchsten Form sittlichen Lebens werden die transzendentalen Bestimmungen des unbedingten Zieles (das Sichselbstgenugsein, ...) aufgenommen und Formen des Lebens daraufhin beurteilt, wie sie begrifflich den formalen Bestimmungen genügen. In dieser Konfrontation zeigt sich, daß sich das menschliche Glück vor allem in der betrachtenden Tätigkeit des Geistes95 und an zweiter Stelle in einem Leben gemäß der sittlichen Tugend96 realisiert. Seine konkrete Gestalt gewinnt das Glück aber nicht in den Lebensformen, sondern in der Lebenswirklichkeit, im tatsächlichen Betrachten und im tatsächlichen politisch-sittlichen Handeln. Das Betrachten ist als Mathematik, Physik oder Metaphysik ein bestimmtes Betrachten, das sich dem jeweiligen Gegenstand gemäß je verschieden vollzieht. Entsprechend realisiert sich das politischsittliche Leben nicht als politisch-sittliches Leben überhaupt, sondern konkret als je selbst und je anders hervorzubringendes Tapfersein, Gerechtsein, ... Vom transzendentalen Standpunkt aus ist das Glück als das unbedingte Ziel zu denken; vom Handeln her, dem die Ethik dient, realisiert sich das Glück in einem konkreten Tätigsein, das aus dem Verhältnis zweier Momente zu denken ist, den tatsächlich vorliegenden Lebensverhältnissen und dem Vorgriff auf das sich selbst genügende Gute. In der Beurteilung der Lebensformen vom Begriff des Sichselbstgenügens her wird der Verhältnischarakter expliziert, während die tatsächlichen Glieder des Verhältnisses und somit auch das konkrete Verhältnis selbst, das glückliche Leben, dem Überlegen, Entscheiden und dem Tätigsein des Menschen freigegeben sind. d. Grundzüge

einer Rationalität

der

Freiheit

1. Das methodische Problem der aristotelischen Ethik, das Prinzip des Handelns, das Gute, in Relation zu geschichtlichem Handeln zu denken, ist unabhängig davon, ob man das Gute als das Ziel freien Strebens oder aber als den Zweck eines autonomen Willens versteht, ob man es in Relation zum sittlichen Handeln selbst oder zu den politischen Institutionen des Handelns

95 96

θεωρία. ό κατά την αΧΚην άρΐτήν (sc. βίος) (Χ 8, 1178a 9). 176

setzt, ob einige oder alle als politisch frei gelten. Methodisch entscheidend ist nicht die Eigenart der Relata, sondern die Relation selbst, der Vorgriff eines historisch-faktischen Handelns auf ein Unbedingtes, das Gute. Wenn aber die Idee der Grundriß-Wissenschaft nicht an die Gesetze und Sitten der Griechen, überhaupt nicht an ein bestimmtes historisches Ethos gebunden ist, wenn sie jenseits des Gegensatzes von Strebensethik und Willensethik steht, wenn sie ferner gegenüber dem thematischen Unterschied der Ethik zur Politik indifferent ist, dann charakterisiert diese Idee nicht allein die aristotelische Ethik, sondern jede Philosophie, die das Prinzip des Handelns, das Gute, im Verhältnis zu geschichtlichem Handeln und geschichtlicher „Koinoia" denkt. Für eine jede Philosophie, die die Freiheit menschlichen Handelns in ihrem geschichtlichen Kontext reflektiert, ist eine Grundriß-Analyse die angemessene Methode. Wenngleich die Methode nicht an die aristotelische Ethik gebunden ist, so läßt sie sich doch nicht auf jede Ethik, nicht einmal auf jede Philosophie der Freiheit übertragen. Eine transzendentale Ethik, die nicht das sittliche Handeln selbst, sondern nur sein Prinzip, den Begriff des unbedingt Guten reflektiert, analysiert einen rein gedachten Gegenstand. Ihrer Idee nach gibt sie in einer widerspruchsfreien und in sich abgeschlossenen Begriffskonstruktion ein symmetrisches Modell des Gegenstandes. - Wenn Aristoteles im Einleitungsbuch der Nikomachischen Ethik den Begriff eines höchsten Gutes denkt, wenn Kant in der Kritik der praktischen Vernunft fragt, „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange", 97 wenn Fichte im System der Sittenlehre das Prinzip der Sittlichkeit deduziert, 98 so sind solche Untersuchungen rein transzendentaler Natur. Für den Preis einer relativ inhaltsleeren Theorie stellen sie ihre Sache nicht nur umrißhaft, sondern vollständig dar. Noch weniger konstituiert sich die zeitgenössische sprachanalytische Ethik als eine Grundriß-Wissenschaft. - Da sich die sprachanalytische Ethik als die logische Untersuchung der Sprache der Moral versteht, 99 da ferner die Sprache ein geschichtliches Phänomen ist und der Ausdruck „Moral" das Moment des Unbedingten im Handeln anzeigt, scheint die sprachanalytische Ethik schon vom Begriff ihres Gegenstandes (der Sprache der Moral) her ein Unbedingtes in Relation zu einem geschichtlichen Moment zu denken und daher methodisch vor einem ähnlichen Problem wie die aristotelische Ethik zu stehen. Doch

97 98

99

M 7 8 8 , 30. Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, stück: „Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit". R. M. Hare, iii.

177

1. Haupt-

charakterisiert es die sprachanalytische Ethik, daß sie die dem Gegenstand immanente Relation zum Guten nicht aufhellt, sondern verdeckt. Indem sie nämlich den Begriff der Logik der Sprache faktisch auf den Begriff einer linguistischen Deskription reduziert, 100 eliminiert sie von ihrer Fragestellung her jene Dimension, die die sprachlichen Phänomene in einem wesentlichen Sinn als moralisch konstituiert, die Dimension der menschlichen Freiheit. Die sprachanalytische Ethik ist nicht nur deshalb sittlich neutral, weil sie sich normativer Stellungnahmen enthält.101 Sie ist es auch in dem emphatischen Sinn, daß sie an der Sprache nicht den sittlichen, sondern nur den linguistischen Aspekt expliziert. Sie versteht die Sprache der Moral gar nicht als einen praktischen, sondern als einen theoretischen Gegenstand. Eine Moralphilosophie, die nicht allein der Maximierung des Wissens, sondern dem sittlichen Handeln selbst dient, eine praktische Philosophie im emphatischen Sinn, eliminiert nicht (wie die sprachanalytische Ethik) die Dimension der Freiheit oder begnügt sich (wie eine rein transzendentale Ethik), Begriffe kontextfrei in sich selbst zu denken; vielmehr sucht sie Orientierungsschemata für das sittliche Handeln. Ihr Gegenstand ist kein Sein, sondern ein Sollen, jedoch nicht das unbedingte, sondern ein geschichtlich bedingtes Sollen. Nun läßt sich das Moment des Geschichtlichen nicht ableiten, und das Sollen ist eine notwendige Forderung, der man nicht notwendig entspricht; zwischen die Forderung und ihre Realisierung fallt ein Hiatus. Wenn jeder Begriff eine Art von Verfügung über die Sache schafft, so müssen die Begriffe der praktischen Philosophie, die Begriffe geschichtlichen Sollens, zugleich der Unverfügbarkeit des Geschichtlichen und dem freien Anspruch des Sollens gerecht werden. Nicht das Denken des unbedingten Sollens, sondern das Denken des bedingten Sollens macht die methodische Schwierigkeit der praktischen Philosophie aus. Die Grundriß-Methode sucht diese Schwierigkeit zu lösen. 2. Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, daß der Begriff der GrundrißWissenschaft ein einziges und uniformes Denkmittel bezeichnet. Da das sittliche Handeln nicht wie das Unbedingte ein strikt gedachter Gegenstand ist, bedarf die praktische Reflexion, sofern sie nicht leer sein will, einer „induktiven" Basis, welche die tatsächlichen sittlich-politischen Erfahrungen auf einen Vorbegriff bringt. Durch die „Induktion" gewinnt die Ethik ihren Ausgangspunkt überhaupt 102 und für ihre bestimmten Teile.103 - Um den Vorbegriff

100 101 102 103

Siehe oben, Einf. Kap. 1. Vgl. C. L. Stevenson, 1. Für Aristoteles: N E I 1, 1094a 1 - 3 : ... τά~γαθόν, oì> ττάντ' ίφίεται. Ζ. Β. der Ausgangsbegriff für die Untersuchung der Gerechtigkeit (V 1, 11).

178

weiter zu denken und im Weiterdenken die Reflexion immanent zu vollenden, führt sie in einer transzendentalen Reduktion den Vorbegriff von Sittlichkeit überhaupt auf ein Prinzip, das geschichtliche Sollen auf ein Moment des Unbedingten zurück: das sittliche Handeln entspringt einem freien Tätigsein - nach dem neuzeitlichen Denken einer autonomen Setzung, im aristotelischen Verständnis einem Tun, das sich selbst genug ist - , und das freie Tätigsein hat seinen Ursprung in der κοινωνία von Freien. - Der Aufgliederung des Vorbegriffs in seine Elemente und Prinzipien dient die Dihairese, der Bestimmung der Elemente, Prinzipien und des ersten Prinzips in sich selbst die Dialektik und Analogie;104 der Begriff der Grundriß-Wissenschaft schließlich rechtfertigt sich deduktiv aus dem Prinzip sachgerechter Klarheit und der Eigenart des Gegenstandes. Im Gegensatz zu einer Wissenschaftstheorie, die jede Wissenschaft von einer uniformen Denkweise her bestimmt, findet sich in einer umfassenden Theorie des sittlichen Handelns eine Vielfalt von Denkmitteln. Weil in der aristotelischen Ethik außer den generellen Verfahren der Analogie und der Dialektik auch andere Verfahrensweisen vorkommen, steht sie quer zu den traditionellen Einteilungen in formale oder materiale, in transzendentale oder hermeneutische Ethiken. Die Idee der Grundriß-Wissenschaft bezeichnet das dem Pluralismus von Verfahrensweisen zugrundeliegende eine methodische Prinzip. 3. Da der Gegenstand der praktischen Philosophie eine je geschichtlich zu erstellende Relation ist, kann er weder als Gesetz noch als Regel oder Allgemeinbegriff gedacht werden; der Begriff sittlichen Handelns enthält keine in sich kohärente Gehaltlichkeit, unter die ein konkretes geschichtliches Handeln subsumiert werden kann. - Zu seinem Begriff gehören vier Momente: Sittliches Handeln ist je anders; das Je-Andere ist nicht vorgegeben, sondern je selbst frei hervorzubringen; das freie Hervorbringen ist als etwas Selbiges zu denken und die Selbigkeit als eine analoge. Die einem solchen Gegenstand angemessene Reflexion muß zwischen jener „überschießendenRationalität", die ihrer Idee nach das menschliche Verhalten vollständig zu erkennen sucht und dadurch die Freiheit verdeckt, und jener Kapitulation des Denkens, die die Freiheit für unerkennbar erklärt, eine Mitte suchen. Im Begriff einer Grundriß-Methode ist - quer zum konventionellen Gegensatz von „rational" und „irrational" - diese originäre „Rationalität der Freiheit" gefunden.

104

Siehe oben, Kap. II 4b, c.

179

Die Orientierungsschemata, die dem sittliche Handelnden gegeben werden, bestehen aus Strukturgittern des sittlichen Handelns, die den Verhältnischarakter, die Relation eines Faktums zum Sollen, explizieren und das historisch und individuell Besondere (das veränderliche Ethos, die je anderen Lebens Verhältnisse und Umstände) freigeben. Auf diese Weise bleibt der Handlungsraum offen; diese Offenheit ist aber die der Freiheit angemessene Gründlichkeit. Im Offenlassen des Handlungsraumes enthält die Grundriß-Wissenschaft nämlich eine Provokation: Die Strukturgitter des sittlichen Handelns sind wissenschaftlich genau erkannt - die praktische Philosophie spricht dort verbindlich, wo der Gegenstand relationalen Charakter hat - ; die konkreten Gestalten dagegen sind vom Handelnden je neu und je selbst zu erfinden und zu setzen. Die Begriffe sind also so gefaßt, daß sie die Freiheit des Handelnden fordern und herausfordern. Damit sind sie aber an sich selbst nicht theoretische, sondern praktische (dynamische) Begriffe.

180

Literaturverzeichnis

Genannt sind nur die in der Abhandlung zitierten und die vornehmlich benutzten Textausgaben, Kommentare, Monographien und Aufsätze. Weitere Literaturhinweise zur aristotelischen Ethik enthalten die Bibliographien von F. Dirlmeier, NE 255-264 und von R. A. Gauthier/J. Y. Jolif, EN II 917-940.

I.

Textausgaben

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II. Kommentierte Ausgaben,

Übersetzungen und

Kommentare

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188

Namenregister

Akademie, die 113, 133, 148, 150 Albert, H. 17

Edel, A. 18 Empedokles 80 Etheokles 107 Eudoxos 113 Euripides 107 Eustrat 85

Archilaos 108 Aspas i us 85 Aubenque, P. 120 Averroes 151 Ayer, A. J. 17, 20

Fahrenbach, H. 17 Fichte, J. G. 64 , 98, 177 Flashar, H. 64, 153 Frank, E. 25 Fritz, Κ. v. 46, 103

Bassenge, F. 102, 106 Becker, H. 111 Bien, G. 29, 56, 64 Blair, G. Α. 46 Blumenthal, A. v. 112 Bonitz, Η. 89,111 Brandt, R. Β. 18 Bröcker, W. 40, 57, 76, 142 Buchner, Η. 175 Burnet, J. 29, 33, 85 Bywater, I. 89 Croce, Β.

Gadamer, H.-G. Gaiser, Κ. 65

17, 136

Gauthier, R. Α. 2 3 , 2 7 , 3 1 , 4 1 , 4 3 , 8 5 , 106, 108 f., I l l , 118, 120, 126, 132 f., 141, 144, 151, 174 f. Gigon, O. 19, 23, 33, 39, 46, 53, 80, 85, 89, 111, 120, 126, 132, 141, 150, 152, 154, 161, 167, 171, 173, 175 Goppelt, L. 112 Grant, Α. 29, 85, 89, 104 Greenwood, L. H. G. 172

84

Delabays, G. 128 Delius, H. 96 Delling, G. 118 Demokrit 46 Deutscher Idealismus 88 Dirlmeier, F. 22, 29, 41, 45 f., 66, 74, 85, 111, 120, 122, 132, 141, 154, 171, 174 f. Düring, I. 23, 29, 32, 59, 76

Habermas, J. 29 Hänssler, Ε. H. 152 Hardie, W. F. R. 27, 33 Hare, R. M. 17 f., 20, 177 Hartmann, N. 41, 128, 136

189

Hassemer, W. 112 Hegel, G. W. F. 12, 83, 129 Heinimann, F. 108 Heinze, R. 113 Heliodor (Pseudo-) 85 Hempel, C. G. I l l f. Hennis, W. 25, 29 f., 33 Hesiod 80 Hesse, M. 152 Heyde, J. Ε. 111 f. Hobbes, T. 12 f. Höffe, O. 11 Homer 133, 148

Newman, W . L. 51, 53 Nietzsche, F. 12 f. Nowell-Smith, P. H. 17 Olivus, P. J.

Piaton 25, 29, 46, 64 f., 71, 107 f., 112 f., 126, 128 f., 133, 148-150, 153 Platzek, E. W. 152 Priamos 145 Pythagoreer, die 148 Ramsauer, G. 85 Ritter, J. 51, 56, 58, 80, 83, 107 f., 136

Jaeger, W. 118,136 Joachim, H. H. 33, 43, 46, 85, 118, 141, 164 Jolif, J. Y.

126

Rolfes, E. 32, 85 Ross, W. D. 32, 40, 72, 75 f., 89, 111, 120, 132, 141, 161, 165, 173

23, 27, 31, 41, 43, 85,

106, 108 f., I l l , 118, 120, 126, 132 f., 141, 144, 151, 174 f.

Schadewaldt, W. 64 Schilling, H. 128 Schmidt, E. A. 22 Schulz, W. 88 Siegfried, W. 133, 159 Sokrates 66 f., 82 Solon 80, 163 Sophisten, die 107 f., 119, 133, 149

Kalchreuter, H. 128 Kant, I. 11-13, 25, 40, 44 f., 49 f., 58, 78, 97 f., 116, 127, 130, 158, 177 Kapp, E. 32, 173 Kaufmann, A. 112,158 Kerner, G. C. 17 Kittel, G. 112,118 Klaus, G. 22 Kretschmer, E. 111

Speusipp 113, 148 Stachowiak, H. 21 Stallmach, J. 46 Steinbach, E. 96 Stenzel, J. 152 Stevenson, C. L. 18 f., 178

Krings, H. 152, 154 Kuhn, H. 25, 29, 33 f., 84, 120, 126 Lang, P. 113 Lenk, H. 17, 19 Leonhard, R. 96 Lieberg, G. 174 Lloyd, G. E. R. 118

Stewart, J. A. 33, 85 Susemihl, F. 33 Teichmüller, G. 25, 27 f. Theiler, W. 42, 163 Themison 23 Thomas von Aquin 85,109,111,132 Topitsch, E. 112

Moore, G. E. 9, 13 Müller, A. 22 Müller, M. 50

Tricot, J.

190

85,111,120,132,151,175

Volkmann-Schluck, K.-H.

Wehrli, F.

126

Weil, E. Wagner, H. 40 f., 72, 165 Walter, J. 2 5 - 2 7 Weber, M. Ill

118 32

Wieland, W. Xenokrates

191

40 113