Potsdam 1945: Konzept, Taktik, Irrtum? [1 ed.] 9783428488766, 9783428088768

Auf der Potsdamer Konferenz wurde der Versuch unternommen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg (in Europa) aufget

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Potsdam 1945: Konzept, Taktik, Irrtum? [1 ed.]
 9783428488766, 9783428088768

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HEINER TIMMERMANN (Hrsg.)

Potsdam 1945

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 81

Potsdam 1945 Konzept, Taktik, Irrtum?

. Herausgegeben von

Heiner Timmermann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Potsdam 1945 : Konzept, Taktik, Irrtum? I hrsg. von Heiner Timmermann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V. ; Bd. 81) ISBN 3-428-08876-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-08876-X

e

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung Heiner Timmermann

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11 ll. Die Sichten der Siegermächte Alexei Filitow Die UdSSR und das Potsdamer Abkommen: Ein Beitrag zur Vorgeschichte ...... ... • •• . .. 15

Karl Drechsler Die USA des Jahres 1945 und die Potsdamer Konferenz. Herausforderungen - Chancen - vertane Möglichkeiten ........................................................ 29

Marianne Howarth Die Deutsche Einheit aus britischer Perspektive ..................................... 45

Dietmar Hüser Frankreich und die Potsdamer Konferenz - Die Deutsche Einheit in französischer Perspektive .................................................................. 59

llI. Die Potsdamer Konferenz und andere Staaten Gerhard Keiderling Die Potsdamer Konferenz in der Meinung der Berliner Öffentlichkeit 1945 ............... 87

Georg W. Strobel Die Potsdamer Konferenz als Minel der Sowjetisierung Polens ......................... 103

Detle! Jena J.W. StaIin und die polnische Frage vor und während der Potsdamer Konferenz. Zur sowjetischen Europa- und Polenpolitik im Zweiten Weltkrieg .......................... 125

Istvan Nemeth Die Potsdamer Konferenz und Ungarn ......... .

. ............................. 141

Dan Berindei Rumänien vor und nach der Potsdamer Konferenz ................................... 153

6

Inhaltsverzeichnis

Pavel Dufek Die Potsdamer Konferenz und ihre Reflexion in der tschechoslowakischen Presse .......... 167

Edita Ivanickowi Die Tschechoslowakei und die deutsche Frage von der Potsdamer Konferenz bis 1947 ...... 173

Wie land Wagner Tokio und die Stunde Null. Der innerjapanische Streit um die Potsdamer Erklärung ........ 181 IV. Sicherheitspolitische Aspekte

Olaf Groehler t Militärfragen auf der Potsdamer Konferenz .............. .

. .............. 195

Fran(:oise Sirjacques-Manfrass Die sicherheitspolitischen Aspekte der Potsdamer Konferenz

................... 205

August Pradetto Potsdamer Konferenz. Kalter Krieg und europäische Sicherheit heute. Kontinuitäten ............................................. 215 und Diskontinuitäten 1945/1995

Valerij Afanasjev Die So\\ljetunion als Schöpfer und Garant der auf der Potsdamer Konferenz festgeschriebenen lalta-Ordnung ...................................................... 231 V. Potsdam und die Folgen

Stuart Parkes Aspekte der Potsdamer Konferenz in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ........... 259

Tomasz G. Pszcz()!kowski Über die Relativität der Bewertungen der Folgen der Potsdamer Konferenz ............... 275

Wilfried Fiedler Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens fUr die Entwicklung des allgemeinen Völkerrechts ...................................... 293

Beate Ihme-Tuchel Folgen der Potsdamer Konferenz: Die "Friedensgrenze" an Oder und Neiße und die ostdeutsch-polnische "Völkerfreundschaft" in den fünfziger Jahren ...................... 305

Hannes Saarinen und Erkki Kouri Finnland - auch ein Opfer des Kalten Krieges? Historische Betrachtungen zur SteIlung Finnlands vor und nach der Potsdamer Konferenz ................................ 329

Inhaltsverzeichnis

7

Lothar Dralle

Die Potsdamer Konferenz als eine Etappe in den deutsch-russischen Beziehungen. In memoriam Alexander Fischer .................................................... 337 Elisabeth Molmir

Der Einfluß der Kriegsentschädigungen auf die ungarische Landwirtschaft ................ 357 GuntherMai

Das Potsdamer Abkommen und der Alliierte Kontrollrat .............................. 375 fan King

Die Nicht-Umsetzung des Potsdamer Abkommens und die Teilung Deutschlands .......... 393 Hans Maretzki

Die Potsdamer BeschlUsse und die DDR. Eine korrigierte ostdeutsche Sicht ............... 403 Autorenverzeichnis .............................................................. 429

I. Einleitung

Einführung

Von Heiner Timmermann Auf der Konferenz von Potsdam (17.7. - 2.8.1945) wurde der Versuch unternommen, die während und nach dem Krieg (in Europa) aufgetauchten Differenzen zwischen den Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkrieges auszuräumen. Die Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin und das Verhandlungsprotokoll der Konferenz von Potsdam enthalten weit mehr als nur Übereinkünfte über die künftige Behandlung Deutschlands. Die Texte des Abkommens sind bekannt. Sie wurden auf internationalen Kongressen und Symposien vielfach behandelt. Auf in Deutschland stattgefundenen Kolloquien sowie in in Deutschland publizierten Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen beschränkte man sich weitgehend auf die Deutschland betreffenden Themen des Abkommens und seiner Folgen und Wirkungen. Die in Deutschland umfangreichste und wissenschaftlich fundierteste Quellenedition zur Potsdamer Konferenz erschien 1992 in der Reihe "Dokumente zur Deutschlandpolitik". Inzwischen sind neue Dokumente und neue Fragen aufgetaucht, die insbesondere Quellen aus den ehemaligen OstblockJändern betreffen. Die Wissenschaftler aus diesen Ländern können zudem nach der Wende von 1989/90 ohne innere und äußere Zensur den wissenschaftlichen Gegenstand bearbeiten. Der vorliegende Sammelband setzt sich in vier Kapiteln mit Potsdam und den Folgen und Wirkungen auseinander: Die Sichten der Siegermächte, Die Potsdamer Konferenz und andere Staaten, Sicherheitspolitische Aspekte der Potsdamer Konferenz sowie Potsdam und die Folgen. Die Frageform des Titels läßt erkennen, daß nicht alle Fragen im Zusammenhang mit dieser bedeutenden Konferenz geklärt sind. Einige bisher ungelöste politisch-historische Probleme werden in diesem Sammelband aufgelöst, andere Problem felder und politische Aktionsfelder erscheinen in einem neuen Licht. Der Beitrag über "Militärfragen auf der Potsdamer Konferenz" von Olaf Groehler war der letzte größere Aufsatz, den der am 27. Dezember 1995 Verstorbene geschrieben und unmittelbar vor seinem Tod noch korrigiert hat. "Er war ein so begeisterter und kluger Historiker, dem seine Arbeit über alles ging", mit diesem Satz aus einem Brief der Witwe des Verstorbenen an den Herausgeber dieses Sammelbandes möchten wir Prof. Dr. Olaf Groehler auch in dieser Form gedenken. Für Kooperation und Veröffentlichung bin ich der Union-Stiftung Saarbrücken sehr dankbar.

11. Die Sichten der Siegermächte

Die UdSSR und das Potsdamer Abkommen: Ein Beitrag zur Vorgeschichte Von Alexei Filitow Das Potsdamer Abkommen wurde meistens in seinen Auswirkungen auf europäische und deutsche Geschichte gewürdigt und analysiert. Seine Geltung und Gültigkeit, sein Erfüllen und Nicht-Erfüllen, verschiedene Interpretationen seines Inhalts und seiner Bedeutung waren die Hauptprobleme, die im Zusammenhang mit einem Begriff "Potsdam 1945" ganz besondere Interessen erweckten und die Knotenpunkte der historischen Kontroversen bildeten. Die Vorgeschichte von Potsdam - im Gegenteil zu seiner "Nachgeschichte" - blieb und bleibt eher am Rande der Geschichtsschreibung.' Die Frage "wie es dazu kam", ist aber nicht weniger wichtig als die, "was daraus geworden ist". Das Wesen der Potsdamer Regelung kann nicht richtig verstanden werden, wenn man außer acht läßt, daß sie eine Fortsetzung und gewissermaßen die Krönung der Politik der bedingungslosen Kapitulation war. Der Streit um diese Politik (also auch um Potsdam) wird andererseits ziemlich einseitig und fruchtlos bleiben, wenn man nicht zwischen zwei Grundauffassungen, die hinter dem Begriff "bedingungslose Kapitulation" verborgen sind, unterscheidet. In einer Interpretation kann sie als Versuch, den Gegner zur Anerkennung der Niederlage und Waffenniederlegung zu zwingen, ohne ihm jede Vorstellung über sein zukünftiges Schicksal zu vermitteln, dargestellt werden. Die andere Deutung zeigt sie als ein Prozeß der Ausarbeitung der harten, aber konkreten Bedingungen, die dem Gegner präsentiert und von ihm in vollem Umfang angenommen und I Siehe u.a.: F. Faust. Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung. Frankfurt, 1964; 1. Hacker. Sowjetunion und DDR zum Potsdamer Abkommen. Köln, 1968; H. Timmermann. Bundesrepublik-DDR. Grundzüge im Vergleich. Opladen, 1984; M. Antoni. Das Potsdamer Abkommen. Trauma oder Chance? Berlin, 1985; W Benz. Potsdam 1945: Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland. München, 1986. Mehr auf die Genesis der Potsdamer Regelung orientiert: E. Deuerlein. Potsdam 1945. Ende und Anfang. Köln, 1870, und besonders die Beiträge von B. Meissner in: F. Klein, B. Meissner (Hg.) Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage. Teil I. Stuttgart, 1977; B. Meissner, Th. Veiter (Hg.). Teil 11. Wien, 1987; Die Deutschlandfrage von Jalta und Potsdam bis zur staatlichen Teilung Deutschlands 1949. Berlin, 1993 (Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichung No.443). Gisela Biewert (Bearbeitung): Dokumente zur Deutschlandpolitik. 11. Reihe Bd I, Die Konferenz von Potsdam, Erster Drittelband S. Xl., Frankfurt 1992.

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Alexei Filitow

vollstreckt werden sollten. "Bedingungslos" (Eigentlich bedeutet "bezogoworotschnaya kapitulatzija" nicht "bedingungslose", sondern "vorbehaltlose Kapitulation") bezeichnet in diesem Fall nicht das Fehlen der Kapitulationsbedingungen, sondern eher ihre Kompromißlosigkeit, Endgültigkeit, die kein Raum für Verhandlungen, Konzessionen oder Zweideutigkeiten zuläßt. Welche von diesen Konzeptionen war mehr charakteristisch für die sowjetische Deutschlandplanung während des Krieges? Welche hat in dem Potsdamer Abkommen ihre Verkörperung gefunden? Oder beide? In welcher Relation? Und warum? Das sind Fragen, die in diesem Beitrag beantwortet werden sollen. Noch vor einigen Jahren war die Beantwortung dieser Fragen kaum möglich. Der Historiker besaß zwar die Texte der Aussagen von sowjetischen Teilnehmern an den alliierten Konferenzen und die sowjetischen Dokumente, die auf diesen Konferenzen und in anderen Foren behandelt wurden. Von großem Interesse waren u.a. die Veröffentlichungen, die den sowjetischen Standpunkt in der Europäischen Beratenden Kommission beleuchten sollten. 2 Die Rolle, die dieses DreiMächte-Gremium in der Vorbereitung des "Besatzungsrechts" für Deutschland spielte, war enorm. Leider besagte vieles, was von der sowjetischen Seite den westlichen Partnern suggeriert wurde, wenig über die wahren Absichten und Handlungsmotive der sowjetischen Politik. "Die Küche", in der die politischen Entscheidungen vorbereitet wurden, blieb verborgen. Auch jetzt ist nicht alles klar, die Situation ist aber definitiv besser. Als die Hauptquelle für diesen Beitrag habe ich die Protokolle, "Tagebücher" und Arbeitspapiere der "Kommission für Waffenstillstand", die am 4. September 1943 beim "Volkskommissariat für äußere Angelegenheit" unter Vorsitz von K.E. W oroschilow gebildet wurde, benutzt. Diese Kommission war nicht die einzige, die sich mit den Problemen der zukünftigen Weltordnung befaßt hat. Gleichzeitig mit der "Woroschilow-Kommission" entstand die ,,Litwinow-Kommission", die mit zeitlich mehr entfernten Phasen der Nachkriegsregelung zu tun haben sollte (ihr amtlicher Titel lautet: "Kommission für die Fragen der Friedensverträge und der Nachkriegsordnung"). Später kam ein drittes Gremium hinzu, das mit den Problemen der Wiedergutmachung und den Reparationen betraut wurde, unter Vorsitz von I.M. Maiskij (',Maiskij-Kommission"). Unter diesen drei Planungsressorts war der Beitrag der Woroschilow-Kommission wohl der entscheidende. Erstens, weil ihre Mitglieder ihre Mandate als Grundlage zur Ausarbeitung künftiger permanenter Regelung betrachteten. Eigentlich hat die Geschichte der Friedensschlüsse nach dem Zweiten Weltkrieg diesen per2

Siehe: "Mezhdunarodnaya Zhizn" (Internationales Leben), Hefte 4-7, 1968.

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spektivischen Blick bestätitgt: die Texte der Friedensverträge (insoweit sie ausgehandelt worden sind) wiederholten grundsätzlich den Inhalt der Waffenstillstandsabkommen. Zweitens, da Woroschilow als Persönlichkeit viel näher zur Hauptfigur in der sowjetischen Hierarchie - Stalin - stand, als Litwinow oder Maiskij. Was den letzteren betrifft, fungierte er nicht nur als Vorsitzender der Reparationskommission, sondern auch als etwas wie ein ordentliches Mitglied der Woroschilow-Kommission (mag sein, ein wenig mehr, da er manchmal die Sitzungen geleitet hat - in Abwesenheit von Woroschilow und seines Stellvertreters, Marschal Schaposchnikow). Diese Rangfolge besagt etwas über das Gewicht und die Autorität von jeder Kommission. Und drittens, weil nur die Woroschilow-Kommission den direkten Kanal zur praktischen interalliierten Diplomatie besaß: Die Direktiven für den sowjetischen Vertreter in der Europäischen Beratenden Kommission (EBK), Botschafter in London, F.I. Gusew, wurden gerade von ihr ausgearbeitet und zur Bestätigung an Molotow (oder Stalin selbst) geliefert. Maiskij hat nur sporadisch an den Verhandlungen mit den westlichen Partnern teilgenommen (während der Jalta-Konferenz, während der kurzlebigen und fruchtlosen Tätigkeit der Moskauer trilateralen Reparations-Kommission, vor und nach Potsdam, kaum in Potsdam selbst), Litwinow wurde hermetisch von jeden Kontakten mit westlichen Diplomaten abgeriegelt (spätestens nach der Moskauer Außenministerkonferenz), und jede Information über die Arbeit der EBK und über die Nachkriegsplanung insgesamt wurde ihm vorenthalten. Mit welchen Ideen hat die "Woroschilow-Kommission" die sowjetischen Entscheidungs träger befruchtet? Am 6. Oktober 1943 wurde ein umfangreiches Dokument, betitelt "Grundfragen bei der Ausarbeitung der Dokumente über die bedingungslose Kapitulation der Achsen-Staaten" unterschrieben durch Woroschilow selbst, dem Volkskommissar für äußere Angelegenheiten, Molotow, eingereicht. 3 Der Titel war offensichtlich zu bescheiden. Es handelte sich nicht nur um die Fragen, sondern auch um die Antworten. Das Papier wurde in zwei Teile gegliedert. Der erste umfaßte "Die generellen Grundlagen", die sich auf alle Feindstaaten bezogen, dann folgten vier kleinere Kapitel, die konkrete Forderungen gegenüber Finnland, Rumänien, Ungarn und Deutschland enthielten. Der erste Teil wurde auch in mehrere Kapitel untergliedert: ,,Militärische Bedingungen", "Befreiung von Kriegsgefangenen und Zivilbürgern der Vereinten Nationen", "Verpflichtungen zum Abbruch der Beziehungen mit den anderen Achsen-Staaten", "Militärisch-wirtschaftliche Bedingungen", ,,Militärisch-politische Bedingungen", "Abschließende Artikel". 3

Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation (AARF) 06/6/150115, S. 199-204.

2 Timmennann

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Alexei Filitow

Es war seines Wesens nach ein erster Vorläufer von späteren Waffenstillstandsabkommen mit Satelliten-Staaten und, in bezug auf Deutschland, der Urkunde über die militärische Kapitulation, der Deklaration über die endgültige Niederlage vom 5. Juni 1945 und auch vom Potsdamer Abkommen. Natürlich, beide Hauptteile des Potsdamer Abkommens: "Politische Grundsätze" und "Wirtschaftliche Grundsätze" sind mehr detaillierter und breiter formuliert, aber im Prinzip handelte es um dasselbe: Kontrolle, Demilitarisierung, Denazifizierung, Wiedergutmachung. Dieses Dokument wurde aller Wahrscheinlichkeit nach mit Blick auf die bevorstehende Moskauer Konferenz der Außenminister vorbereitet. Es wurde aber dort nicht zur Besprechung vorgestellt. Seine gewisse inhaltliche Widersprüchlichkeit kann als eine der Ursachen für solche "Abstinenz" gelten. Eine "milde" Behandlung der zu kapitulierenden feindlichen Truppen (nur die SS-Angehörigen und das Personal von "ähnlichen Organisationen" sollen "interniert" werden, alle übrigen Soldaten und Offiziere werden demobilisiert) kontrastierte am schärfsten mit zu ,,harten" (und wenig realistischen) Forderungen nach vollen Wiedergutmachungen von "allen Schäden, die durch den Krieg den Ländern der Vereinten Nationen zugefügt worden sind." Obwohl Deutschland von drei Mächten besetzt werden sollte (die Besatzung von Finnland, Rumänien und Ungarn sollte im Gegenteil nur durch die Rote Armee allein verwirklicht werden), wurde keine Koordinierung zwischen den Oberbefehlhabern in Aussicht gestellt, geschweige denn eine Zonenteilung. Eine rege, sogar hektische Aktivität entwickelte die Kommission, als der britische Entwurf der Zonenteilung und die Behandlung Deutschlands nach der Kapitulation vom 15. Januar 1944 ihr zur Besprechung und Beantwortung vorgestellt wurde. Mindestens sieben Sitzungen der Kommission fanden in der Zeit vom 31. Januar bis 12. Februar 1944 statt, und mindestens drei Varianten des sowjetischen Gegenentwurfs wurden ausgearbeitet. Die endgültige Fassung vom 12. Februar (ein Text "Bedingungen der Kapitulation Deutschlands" (20 Artikel) und eine Direktive für Gusew mit Hinweisen auf die wichtigsten Unterschiede gegenüber dem britischen Vorschlag und mit empfohlener Argumentation zugunsten des sowjetischen Standpunktes) ist mit Stalin's eigener Handschrift (Dafür. I. Stalin) versehen. Ein sehr seltener Fall, was für die besondere Bedeutung des Dokumentes spricht. Der Entwurf vom 12. Februar 1944 war viel "härter" als der britische vom 15. Januar (und auch als ein sowjetisches Dokument vom 6. Oktober 1943). Mit Nachdruck wurde jetzt eine Forderung erhoben, der ganzen deutschen Wehrmacht den Status der Gefangenen zu geben. Zwei Argumente wurden angeführt: Erstens, "dieser Schritt wird zur endgültigen Entlarvung vom Mythos der Unbesiegbarkeit

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der deutschen Armee beitragen". Zweitens, "die rasche Befreiung von mehreren Millionen der deutschen Soldaten und ihr Strömen auf den Arbeitsmarkt in der Situation der erheblichen Verstörung der deutschen Wirtschaft und des deutschen Staatsapparates würden zur schwerwiegenden Erschütterungen in der inneren Ordnung führen".4 Interessanterweise hat die erste Variante des "Gegenentwurfs" eine Evakuierung der zu kapitulierenden deutschen Soldaten "nach Deutschland" vorgesehen; dieser Passus wurde aber dann gestrichen. Der Entwurf vom 6. Oktober endete mit einem Passus, der ein Recht der Alliierten zu Sanktionen im Fall der Nichterfüllung der Bedingungen der Kapitulation vorsah. Im Dokument vom 12. Februar lautete der 20. Artikel anders: .. Die Vertreter des Oberkommandos der Alliierten werden die ergänzende Forderungen in politischen, wirtschaftlichen, militärischen und allen anderen Bereichen präsentieren, die die deutsche Regierung und das deutsche Oberkommando sich bedingungslos zu eifüllen verpflichtet".'

Im Texte der Direktive für Gusew unterstrich man nachdrücklich: .. Derahschließende 20. Artikel hat eine wichtige Bedeutung, indem er von vornherein Deutschland in bezug auf die ergänzenden Bedingungen des Waffenstillstandes einbindet. Wir messen eine große Bedeutung der Einfiigung von diesem Artikel in der Urkunde bei ,,'

Was die Zonenteilung betraf, konstatierte man, daß "wir den britischen Vorschlag im Grunde annehmen". Im Unterschied zum britischen Standpunkt, der eine Präsenz, z.B. anglo-amerikanischer Truppen in der sowjetischen Zone (und umgekehrt) zumindestens nicht ausschloß, war die sowjetische Stellungnahme ganz kategorisch im Sinne "wessen Zone, dessen Truppen". Die massenhaften, unkontrollierbaren Kontakte zwischen Soldaten der "sozialistischen" und der "kapitalistischen" Staaten waren für die Sowjetplaner ein Schreckgespenst. 7 Die erste Fassung des Entwurfes (vom 4. Februar) spricht nicht von Zonen, sondern nur von einer "Demarkationslinie", die "zwischen Streitkräften der UdSSR einerseits und Streitkräften Großbritanniens und den USA andererseits hergestellt wird". Diese Linie zieht sich von Tromse in Norwegen, entlang der schwedisch-finnischen Grenze, dann durch Deutschland

4

Ebenda, 06/6/836/62, S. 10.

S

Ebenda, S. 8.

, Ebenda, S. 12. 7

2'

Ebenda, S. 11.

20

Alexei Filitow

" von Heiligenhajen aus entlang der Westküste der Mecklenburgischen Bucht über Lübeck, dann entlang der Westgrenze von Mecklenburg bis zur Eibe, weiter entlang dieses Flusses bis zur Verwaltungsgrenze der preußischen Provinz Anhalt, dann entlang der westlichen Grenzen der Provinz Braunschweig, weiter entlang der westlichen Verwaltungsgrenze der preußischen Provinzen Sachsen und Thüringen bis zur bayrischen Grenze, dann nach Osten entlang der nördlichen Grenze von Bayern bis zur tschechoslowakische Grenze in Hof; weiter entlang der westlichen, süd-westlichen und südlichen Grenze von der Tschechoslovakei bis zur Stadt Bratislawa, dann von dieser Stadt aus entlang des Flusses Dunai bis Silistria, weiter nach Osten entlang der rumänischen Grenze bis zur Küste des Schwarzen Meeres ....

Hier darf man ein gewisses Abweichen vom Programm des Entwurfs vom 6. Oktober 1943 sehen: Die westliche Hälfte Ungarns wurde den Westmächten zur Besatzung überlassen, und früher sollte das ganze Territorium Ungarns eine sowjetische "Domäne" sein. Vielleicht haben die Militärexperten in der Woroschilow-Kommission nicht besonders günstig die Perspektiven des sowjetischen Vorstoßes in süd-westlicher Richtung eingeschätzt. Oder in politischer Hinsicht schien ihnen die totale Beherrschung Ungarns zweitrangig. Übrigens sind diese Fragen mehr von akademischem Interesse, weil man schon in der zweiten Fassung (vom 8. Februar) die ganze Idee von einer "Demarkationslinie" vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer fallenließ. Stattdessen entstand der Gedanke der "gemeinsamen Besetzung" von Schleswig-Holstein, den vorgelagerten Inseln und Hamburg - offensichtlich als Gegenstück zur Zone "um Berlin" - um eine OstWest ,,Parität" zu wahren. Ein Streifen entlang der Ostseeküste sollte ein Korridor zu dieser zweiten "gemeinsamen Zone" bilden und den Sowjets die Schwierigkeiten, die die Alliierten später mit Verbindungswegen nach West-Berlin haben sollten, ersparen 9, Aber in der dritten, endgültigen Fassung verschwand auch diese "Paritätsidee" (Man nahm auch Abstand von einem Plan der Teilung Berlins in zwei geometrisch gleiche Hälften, der in der ersten Fassung vorhanden war). Als Ersatz schlug man die gemeinsame Besetzung Österreichs vor, wovon letzten Endes ein vierseitiger Status für Wien blieb. Der Entwurf vom 12. Februar 1944 beschränkte sich auf die vorwiegend militärischen Bedingungen der Kapitulation. Die prinzipiellen politschen und wirtschaftlichen Fragen blieben der nächsten Phase der Kommissionsarbeit vorbehalten. Sie dauerte bis etwa Mitte Juni, als die Kommission sich fast ausschließlich mit deutschen Fragen beschäftigte. (Die letzte Deutschland-orientierte Sitzung fand am 15. Juni statt.) Danach konzentrierte sie sich auf die Bearbeitung der Waffenstillstandsabkommen mit Finnland, Rumänien und Ungarn (Juli - August). Mittler• Ebenda, S. 94 . . • Ebenda, S. 80.

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weise brachte die EBK den Prozeß der Besprechung und Vereinheitlichung der verschiedenen Entwürfe zum Abschluß. Am 25. Juli nahmen die Vertreter der drei Mächte "die Bedingungen der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands" an und übergaben sie ihren Regierungen. In einem Brief an Strang und Winant, die Vertreter des UK und der USA in der EBK, teilte Gusew am 21. August "Bestätigung" durch die sowjetische Regierung mit. Am 25. August wurde das Dokument über den Alliierten Kontrollmechanismus übergeben. Die Tätigkeit der EBK war keineswegs damit beendet, auch nicht die der Woroschilow-Komrnission. Gleichwohl hatte ihre Intensivität etwas nachgelassen. Ein Teil seiner Funktionen hatten die operativen NKID-Abteilungen übernommen (z.B., ein Übersichts bericht über die Reaktion der kleineren europäischen Staaten auf das Dokument vom 25. Juli 1944 wurde durch den Chef der Dritten Europäischen Abteilung, A.A. Smirnow, verfaßt)10. Manchmal hatte die Kommission selbst relativ (oder potentiell) wichtige Papiere erarbeitet - wie z.B., "Vorschläge zur Gliederung und Zahlenstärke des sowjetischen Personalbestandes für die Tätigkeit in den Alliierten Kontrollorganen in Deutschland nach seiner Kapitulation" (22. September 1944) 11. Aber inwieweit diese Materialien ein Gehör von oben fanden, ist unklar, und die Vermutung liegt nahe, daß die Reaktion, wenn überhaupt, minimal war. Das letzte Bündel von Unterlagen, die eigentlich in modifizierter Form die schon in Mai-Juni 1944 erzielten Ergebnisse wiederholten, ist vom 30. November 1944 datiert. Die Kommission starb aus (oder schlief ein), etwas voreilig, man kann sagen, - wie auch der eigentliche "Verbraucher" ihrer "Produktion": die EBK. Es ist bezeichnend, daß ab 29. Juni keine Sitzungen der "großen" Kommission, und ab 29. August keine Sitzungen der "kleineren" Kommission (für Finnland, Rumänien und Ungarn) protokolliert sind. Siehe: AARF, 06/6/836/32, S. 60. Das klanglose Ende der Woroschilow-Kommission sollte nicht zur Unterschätzung ihrer Tätigkeit führen. Sie hat viel dazu beigetragen, um eine geschlossene, eindeutige und im großen und ganzen positiv-konstruktive Konzeption der ,,Behandlung Deutschlands" beziehungsweise der deutschen Nachkriegszeitszukunft zu formulieren. Die Hauptelemente dieser Konzeption wurden in der Periode zwischen Februar und Mitte Juni 1944 erarbeitet. Glücklicherweise ist gerade diese Periode am besten dokumentiert: Der Archivbestand spiegelt nicht nur die "Endprodukte" (Entwürfe und Kommentare) wider, sondern auch den "Produktionsprozeß" selbst: 10

Ebenda. 7 0-72.

11

Ebenda. 06/6/1501715, S. 468-473.

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Alexei Filitow

die Pläne, Fragestellungen, Arbeitspapiere und nicht zuletzt ihre Besprechung in einer sehr offenen Atmosphäre, reich an Kritik und Gegenkritik, die eine farbige Palette von verschiedenen Optionen und Meinungen aufweist. Der Entwurf vom 12. Februar 1944 ließ viele Grundfragen der zukünftigen Politik gegenüber Deutschland offen, sowohl in eng-militärischer und besatzungstechnischer Hinsicht (Wie sollen die Militärgüter verteilt werden? Wie soll man mit den von der Wehrmacht gebauten Festungen und Stützpunkten verfahren? Wie soll die "gemeinsame Besetzung" von Berlin und dann von Wien aussehen?) als auch im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Standortsbestimmung. Am 13. März 1944, als die Woroschilow-Kommission nach mehreren Sitzungen, in denen die Probleme Frankreichs, Norwegens und Belgiens behandelt wurden, sich wieder den deutschen Angelegenheiten widmete, bestimmte man sechs Themenkreise, die zur Bearbeitung unter Kommissionsmitgliedern verteilt wurden. 1. Zusätzliche militärische Bedingungen - Schaposchnikow 2. Kriegsgefangene, Internierte und gewaltsam entführte Bürger von den Vereinten Nationen - Basarow '2 3. Liquidierung des NS-Regimes, Auslieferung der Kriegsverbrecher und Deutschlands Beziehungen mit anderen Staaten - Krylow 13 4. Wirtschaft und Reparations- und RestitutionsverpfIichtungen Deutschlands Galaktionow '4 5. Organisation der Verwaltung von Deutschland - kein konkreter Berichterstatter 6. Protokoll über die Besetzung - Ignatjew l5 Die Ausarbeitung der entsprechenden Entwürfe kam relativ schnell voran: die von den Themenkreisen 1-4 wurden schon am 9. Mai an vier Empfänger (Stalin, Molotow, Wyschinski, Dekanosow) verschickt. Bald danach folgten die übrigen. Die Erläuterung von diesen Kommissions-Vorarbeiten würde den Rahmen dieses Beitrages bei weitem übertreffen. Nur einzelne Stichpunkte können hier angesprochen werden, und zwar in der Form eines direkten Zitierens mit möglichst kurzem Kommentar.

12

Sekretär der Kommission.

13

Völkerrechtler. später aktiv an der Vorbereitung der UNO-Satzung teilgenommen.

14

Polit-General. sein Auftrag wurde faktisch durch Majskij übernommen.

Il Oberst der Zaren-Armee. russischer Militärattache in Frankreich während des Ersten Weltkrieges. danach im Dienst der Sowjetmacht.

Die UdSSR und das Potsdamer Abkommen

Auszug aus dem Protokoll der Sitzung vom 26. April: Eine ausführliche Diskussion fand um die Frage, welche Militärliteratur aus den (deutschen) Bibliotheken und Aujbewahrungsdepots entfernt werden sollte, statt. Krylow: ... nur solche, die einer Propaganda von Militarismus und Agressionsideen dienen. Schaposchnikow ist dagegen. Alle Militärwerke sollen weggenommen werden unabhängig davon, wann und von wem sie geschrieben worden sind. Woroschilow: ... Wenn wir das deutsche Volk umerziehen wollen, müssen wir dazu seinen größten Teil gewinnen, und nicht uns darauf beschränken, es an die Kette zu legen, indem man ihm die Möglichkeit, jede Art von Literatur zu lesen, beraubt. Es ist unstrittig, daß man während der Wajfenstillstandsperiode die Deutschen möglichst streng behandeln soll, wir dürfen sie aber nicht der elementarsten Gewohnheiten berauben. Es gab die Zeit, als die Entente Kombinationen von jeder Art gegen Deutschland und das deutsche Volk 'ersann ... Damals hatten wir ein aufrichtiges Mitgefühlfür dieses Volk empfunden ... Woroschilow hatte gesagt, daß man bei der Durchfuhrung von Maßnahmen zur Demokratisierung Deutschlands von der Tatsache ausgehen sollte, daß die Deutschen auch nach der Kapitulation dieselben Menschen bleiben werden. Sie sollen aber nicht auf Grund der militaristischen. sondern der allgemeinen Literatur erzogen werden. Daraus folgt. daß nicht die ganze Militärliteratur in Deutschland beschlagnahmt und vernichtet werden soll, sondern nur solche, die in die besondere rechtzeitig vorbereitete und mit den Alliierten abgeredete Liste enthalten sei. Ignatjew bemerkt, daß die ganze Militärliteratur, die in Deutschland nach 1933 erschienen ist, sicherlich konfisziert werden soll. Schaposchnikow meint, daß keine guten militärwissenschaftlichen Werke nach 1933 erschienen ... Majskij meint, daß man mit der Vorbereitung der Liste gleich beginnen sollte. Issakow: Wir wissen öfters gar nicht unsere eigene Literatur, und um so schwerer könnte man (Diese Liste) vorbereiten ...

Es wurde entschieden, eine Liste vorzubereiten und der deutschen Regierung zu übergeben ... '6

Auszug aus dem Protokoll der Sitzung vom 27. April: (Behandlung eines Status von Angehörigen der deutschen Wehrmacht nach der Entwajfnung und ihrer Erklärung zu Kriegsg~langenen. - A.F.). Woroschilow: ... Alle diese Leute könnten ohne großes Risiko vor allem im Autobahnbau, im Wiederaujbau der zerstörten Gebäude und in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Die deutschen G~langenen in den Betrieben einzusetzen ist unzweckmäßig. Majskij: Sie können ganz leicht auch in der Industrie eingesetzt werden. Man kann die Sonderwerke bestimmen, in denen die gefangenen Deutschen arbeiten sollen. 16

Ebenda, S. 54.

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Alexei Filitow

Schaposchnikow: Die Arbeitsproduktivität von Kriegsgefangenen ist zu niedrig: nicht mehr als 30% von einer normalen Arbeitskraft ... Majskij: Es hängt von der Organisation ab ... Woroschilow: Die richtige UJsung wird erzielt, wenn wir die deutschen Kriegsgefangenen in der Landwirtschaji und speziell in den Feldarbeiten, die einen Saisoncharakter tragen, einsetzen. Die Arbeit in den Industriebetrieben und Fabriken ist aber permanent; die Deutschen nach der Kapitulation dort einzusetzen, getrennt von Familien, ist nicht leicht. Majskij: Man kann es so organisieren: eine Schicht wird eine andere ablösen ... Die deutsche Regierung wird eine Verpflichtung übernehmen, in einem rollierenden System Arbeiter zu schicken ... Schaposchnilow: Es soll nicht unbedingt mit den Alliierten abgesprochen werden; laut Haager Konvention können wir sie in jeder Art von Arbeiten, außer der militärischen Produktion, einsetzen ... Woroschilow: Die Haager Konvention ist hier nicht anwendbar; sie regelt die Behandlung der Kriegsgefangenen, die während der Kampfhandlungen genommen werden ... Ignatjew: Wir dülj'en nach der Erklärung, daß die deutsche Armee gefangengenommen ist, die Deutschen nach Hause entlassen, um dann, nach einer bestimmten Zeit, von der deutschen Regierung eine bestimmt Zahl der Arbeitskräfte zufordern ... 17

Auszug aus dem Protokoll der Sitzung vom 30, April: (Behandlung einer Zoneneinteilung in Berlin; Ignatjew plädierte zuerst für den südlichen Teil der Stadt als der am meisten geeignete für den sowjetischen Stationierungsraum, und zwar aus militärisch-strategischen Erwägungen (Tempelhof-Flughafen!); Majskij hielt den nördlichen Teil für die beste Variante: dort gab es viele Industriebetriebe, die für Reparationszwecke demontiert werden könnten .. - A.F.) Woroschilow: ... Die vorgemerkten Zonen sind Zonen, um sie zu verwalten, nicht um dort zu schalten und zu walten. Es ist unzulässig, jede der drei Zonen als ein Eigentum der Macht, die sie besetzen wird, zu betrachten. Wenn man diesen Weg einschlägt, muß man auch damit einverstanden sein, daß der nordwestliche Teil Deutschlands mit Ruhr- und Saarbecken, der für die Besetzung durch die britischen Truppen vorgemerkt ist, als ein Eigentum der britischen Regierung zu betrachten, womit man unter keinen Umständen einverstanden sein kann . ... Man muß vor allem die Erwägung, auf bequeme Verbindungswegefür die Besatzungsmächte in Deutschland und Berlin zur Versorgung ihrer Truppen in Betracht ziehen ... Majskij: Es wäre leichter, zu entnehmen und abzutransportieren wenn es (gemeint ist das Reparationsgut - A.F.) sich in unserer Zone befinden würde. Woroschilow: Die Idee ist im Grunde genommen richtig, aber man muß nicht nur dieses allein in Betracht ziehen und sich in Kleinigkeiten verzetteln ...

17

Ebenda, S. 91-93.

Die UdSSR und das Potsdamer Abkommen

25

(Es wurde entschieden, die Zonen wie f(Jlgl ZU verteilen: Östlicher Teil: für die UdSSR; süd-östlicher Teil: jiir USA; nord-westlicher Teil: fiir Großbritannien. A.F.)"

Und zuletzt ein Auszug aus dem Dokument vom 9. Mai "Entwurf der Bedingungen für Wirtschaft, Reparationen und Restitutionen": " ... 4. Die während des Bestehens des faschistischen Regimes künstlich geschaffenen industriellen Vereinigungen aller Art (Kartelle, Truste, Syndikate usw.) können nach der Forderung der Regierungen der UdSSR, Großbritanniens und USA aufgelöst oder reorganisiert werden nach Verfahren und innerhalb Fristen, die durch drei Mächte bestimmt werden. "./9

Diese Auszüge (sie könnten leicht vermehrt werden) sind anschaulich sowohl im Positivum als auch im Negativum. Einerseits findet man hier keine Rachegefühle, keine Sowjetisierungsabsichten und keine Neigung zur Teilung Deutschlands im Sinne der Abspaltung und Abriegelung der eigenen Zone. Andererseits sind auch einige Nachteile evident: Manches wurde ausführlich und allgemein positiv besprochen, aber nicht entschieden (z.B. die Frage der Kriegsgefangenen). Manches wurde entschieden in der Art und Weise, die gewisse Zweifel an deren Erfüllung erweckten oder die überaus höhere Anforderungen an der alliierten Kooperation implizierten (z.B. die Frage der Liste der "militaristischen Literaturwerke" oder die der Verhaftung unterliegenden Nazis - wie es in der hier nicht beachteten Sitzung am 4. Mai besprochen wurde 20) Wo die Entscheidung eindeutig und klar genug war,wurde sie später durch Entscheidungsträger so breit und allgemein überformuliert, daß es zu deren Inpraktikabilität und Verwässerung führen sollte (vgl. den obengenannten "Punkt 4" der wirtschaftlichen Direktive im Entwurf vom 9. Mai 1944 mit dem Entflechtungsgebot in Art. 12 des Potsdamer Abkommens). Man kann darüber streiten, was die Ursache war. Entweder die hektische Atmosphäre einer Gipfelkonferenz, die zur Improvisation anstatt Abgewogenheit beitrug, oder die allgemeine Verschlechterung der Beziehungen zwischen den "Großen Drei". Tatsache ist, daß "Potsdam" in gewissem Sinne ein Rückzug von "London" und ,,Moskau" (gemeint sind die Vorarbeiten der EBK und Woroschilow-Kommission) war. Zum Schluß kann man folgendes sagen: In der sowjetischen Planungsarbeit (wie in der westlichen, sei nebenbei bemerkt) koexistierten die beiden Varianten oder Interpretationen der Politik der bedingungslosen Kapitulation. Der Grundsatz der uneingeschränkten und nicht zu definierenden Besatzungsregie (Artikel 20 in dem sowjetischen Entwurf vom 12. Februar 1944 war nicht die erste Formulierung "Ebenda, S. 102-104. 19

Ebenda, S. 417.

20

Ebenda, S. 110 - 112.

26

Alexei Filitow

dieser Absicht, die ihren Ausdruck noch vor dem "italienischen Fall" gefunden hatte) stand im krassen Widerspruch mit der Vorstellung der sorgfältigen und ausgewogenen Ausarbeitung des Handlungsraumes der Besatzungsmächte, der präzis umrissen und eigentlich beschränkt werden sollte. Die Ereignisse der ersten Maitage von 1945, die im vollen Umfang noch geklärt werden sollten 21 , führten dazu, daß der ersten Variante Vorschub geleistet wurde. Alle Vorarbeiten der EBK wurden praktisch beiseite geschoben, und die Kapitulationsurkunde vom 7./9. Mai war im politischen Sinne nicht viel mehr als eine bloße Berufung auf "den Geist von Artikel 20". Mit dem Nichtvorhandensein einer deutschen Regierung oder Zentralverwaltung und mit dem rasch verschwindenden interalliierten Vertrauen und dem Kooperationswillen (zwei Säulen, auf denen die Arbeit von EBK- und Woroschilow-Kommission basierten 22 ) erwiesen sich die Vereinbarungen mehr und mehr als obsolet, ja als belanglos. Das rechtliche Vakuum, in dem die alliierte Besetzung Deutschlands begann, wurde auf zweifache Weise gefüllt: Erstens: durch einseitige Akte der jeweiligen Besatzungsmacht; zweitens: durch die beiden ErklärungenlMitteilungen: Deklaration vom 5. Juni und Potsdamer Abkommen vom 2. August. Die erste bezog sich vor allem auf die militärischen Bedingungen der Kapitulation, die zweite formulierte die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze und war von größerer politischer Tragweite und Bedeutung. Soweit die Großen Drei die Leistungen der EBK und ihrer nationaler "Einspeicher" inkorporierten 23 , kann man das Potsdamer 21 Siehe Lebedewa N. Bezogoworotschnaya Kapitulatziya aggressorow (Bedingungslose Kapitulation der Aggressoren). Moskau. 1989. S. 276-284. 22 Gunther Mai hat in seiner interessanten Studie (Deutschlandpolitische Entscheidungen im Alliierten Kontrollrat 1945-1948. in: Wilfried Loth (Hg.) Die deutsche Frage in der Nachkriegszeit. Berlin. 1994. S. 29-38. hier s. 34) die Perspektive der interalliierten Kooperation und deutscher "verwaltungsmäßiger Handlungsfahigkeit" als "unrealistischen Grundannahmen". die eigentlich nur ftir amerikanische Militärplaner charakteristisch waren. bezeichnet. Soweit es um die Vorarbeiten der Woroschilow-Kommission handelte. waren solche Erwartungen auch von der sowjetischen Seite geteilt. und die Frage nach ihrer Realitätsbezogenheit kann m.E. nicht von vornherein so eindeutig negativ geantwortet werden.

13 Die These. daß die USA .. entscheidenden Einfluß auf die Vorlagen und Formulierungen der Deutschland-Bestirrunungen der Potsdamer Übereinkunft" ausgeübt hat. die J. Hacker unter Berufung auf E. Deuerlein vertrat. ist kaum haltbar. um so mehr. daß der Verfasser selbst. wieder E. Deuerlein folgend. die EBK als .. das entscheidende - und auch einzige - Instrument zur Vorbereitung und Festlegung der alliierten Nachkriegspolitik in Deutschland" bezeichnet - und gerade in diesem Gremium war die amerikanische Haltung die passivste! Siehe: 1. Hacker. Einführung in die Problematik des Potsdamer Abkommens (F. Klein. B. Meissner - wie Anm. I. S. 9). idem. Die Nachkriegsordnung für Deutschland auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam. in: W. Becker (Hg.). Die Kapitulation von 1945 und der Neubeginn in Deutschland. Köln. 1985. S. 1-30. hier S. 4). Viel ausgewogener ist eine Darstellung von B. Meissner, dessen Analyse leider fast ausschließlich auf vier Dokumente der EBK konzentriert ist (Kapitulationsurkunde. Abkommen über die Zonen und Kon-

Die UdSSR und das Potsdamer Abkommen

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Abkommen als zwar unvollständiges, aber doch im großen und ganzen positives Dokument einschätzen. Als sie aber improvisierten und ohne tiefe Analysen die potentiell explosiven und komplizierten Fakten (wie Reparationen) zu entscheiden wagten, und zu oberflächlich und zu generalisierend die gut durchgedachten und abgewogenen Vorschläge der Planer außer acht ließen (Entflechtung), war das Ergebnis eher kontraproduktiv. Die Hauptprobleme der Nachkriegszeit - die Nuklearwaffe und ihre Gefahren wurden weder vor noch in Potsdam besprochen oder auch erwähnt. Das ist vielleicht der größte Vorwurf, der den damaligen Politikern gemacht werden darf.

trollmechanismus und Vier-Mächte-Deklaration), was seine Sichtweise nicht unbedeutend einengte. Siehe: B. Meissner. Die Vereinbarungen der Europäischen Beratenden Kommission über Deutschland von 1944-1945, in: F. Klein, B. Meissner (wie Anm.l), S. 43-57, idem. Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland vom Potsdamer Abkommen bis zu den üstverträgen, in: B. Meissner, Th. Veiter (wie Anm. 1), S. 25-54; idem. Die Frage der Einheit Deutschlands auf den alliierten Kriegsund Nachkriegskonferenzen, in: Die Deutschlandfrage von Jalta und Potsdam ... (wie Anm. 1), S. 7-28.

Die USA des Jahres 1945 und die Potsdamer Konferenz Herausforderungen - Chancen - vertane Möglichkeiten

Von Kar! Drechsler Der renommierte amerikanische Historiker Arthur M. Schlesinger, Jr., fragte in einem von der Zeitschrift "Diplomatie History" veröffentlichten Beitrag "Einige Lehren aus dem Kalten Krieg": "Können wir wirklich sicher sein. daß unser gegenwärtiges. von Emotionen geprägtes Urteil das letzte Wort und die endgültige Wahrheit sind? ... Unsere Urenkel werden möglicherweise wissen wollen. worin. um Himmels willen. jene Meinungsverschiedenheiten bestanden haben. die die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten fast dazu brachten. unseren Planeten in die Luft zu sprengen . ... unsere Nachkommen werden sehr wahrscheinlich erstaunt sein über die Ursachen des Kalten Krieges. die vielleicht trivial erscheinen mögen. und den in keinem Verhältnis dazu stehenden Auswirkungen. die das unwiderrufliche Ende der Geschichte hätten bedeuten können . .. }

Gemeinsam mit Schlesinger legten 20 Historiker, die allermeisten davon aus den USA, in einem von der "Diplomatie History" veranstalteten Symposium über "Das Ende des Kalten Krieges" ihre Ansichten dar. 2 Die Mehrzahl von ihnen hatte den 198911990 in der Sowjetunion und den Ländern Ostrnittel- und Südosteuropas gescheiterten Sozialismus immer abgelehnt. Trotzdem identifizierten sie sich nicht mit westlichem "triumphalism", stellten den Kalten Krieg im Rückblick nicht - wie einst John Foster Dulles - als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel, Ehrenmännern und Schurken dar und gingen nicht "von der vollkommenen Tugend der einen Seite und der absoluten Verderbtheit der anderen") aus, wie Schlesinger 25 Jahre vorher über John F. Kennedy geschrieben hatte. Sie bemühten sich, Konstruktives und Destruktives auf beiden Seiten ausgewogen zu beurteilen, Irrtümer und Fehlentscheidungen, Verblendung, Verstrickung und Schuld sowohl der USA als auch der I ArrhurSchlesinger,Jr., Some Lessons from the Cold War. In: Diplomatie History. Vol. 16, No. I, Winter 1992, S. 51. 2 The End of the Cold War: A Symposium, in: ebenda, S. 45-123; Vo1.l6, No. 2, Spring 1992, S. 223-318. Siehe aueh: Michael J. Hogan (ed.), The End of the Cold War: Its Meaning and Implieation, Cambridge U .Pr.1992.

3 Arthur M.

Schlesinger, Jr., Die tausend Tage Kennedys, DarmstadtlBerlinIWien 0.1., S. 281.

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Sowjetunion zu fragen.

Karl Drechsler ZU

sehen und nach Alternativen im Verlauf des Ost-West-Konflikts

Im folgenden soll versucht werden, von diesen Fragestellungen ausgehend die USA des Jahres 1945 und die Potsdamer Konferenz unter dem Blickwinkel der damaligen Herausforderungen, der genutzten Chancen und der vertanen Möglichkeiten zu sehen. Dabei werden neben der Außenpolitik vor allem Fragen der Innen-, Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik sowie die Problematik der Atombombe mit ihren vielfältigen politischen Aspekten berücksichtigt. Im Innern der USA fanden zwischen 1929, dem Beginn der great depression, und dem Ende des zweiten Weltkrieges Entwicklungen statt, die das Land tiefgreifend veränderten. In der depression decade, vom Ende der zwanziger bis zum Ende der dreißiger Jahre, übernahmen Präsident Franklin D. Roosevelt und seine Administration Aufgaben, aus denen sich der Staat nach den bis dahin gültigen Gesetzen und Normen strikt heraushalten sollte. Die Reformen des New Deal zielten darauf, mit der Krise und ihren verheerenden Folgen für große Teile der Bevölkerung fertig zu werden; allzu offenkundige Mißstände des American corporate capitalism zu korrigieren; die Individuen vor der übermäßigen, weitgehend unkontrollierten und anonymen Macht der Wirtschaftsimperien zu schützen; den Gewerkschaften bestimmte Rechte einzuräumen und wenigstens eine elementare Verantwortung des Staates für Arbeitslose, Alte und Arme zu garantieren. Damit entstanden erste Ansätze eines welfare state, eines Staates mit sozialer Verantwortung, der sich davon leiten ließ, daß Armut in größeren Dimensionen gefährliche, kaum kalkulierbare gesellschaftliche Sprengkraft entwickeln kann. Die USA gingen als einzige Großmacht ohne Zerstörungen, politisch, militärisch und wirtschaftlich gestärkt aus dem Krieg hervor und wurden zur Weltmacht. Von 1941 bis 1945 fanden keinerlei Kampfhandlungen auf amerikanischem Territorium statt. Die Weite der Ozeane trennte das Land von den Kriegsschauplätzen in Europa, Asien und Afrika. Es gab weder Bombardierungen noch sonstige direkte Einwirkungen von militärischen Handlungen. Verglichen mit anderen Ländern war die Zahl der etwa 400 000 Toten und 670 000 Verwundeten eher gering. Die Zivilbevölkerung brauchte zu ihrem Glück nicht die furchtbaren Opfer und Entbehrungen, das unermeßliche Leid und die bittere Not des Krieges kennenzulernen. Riesige Neuinvestitionen ermöglichten einen sprunghaften Anstieg der Produktion, der natürlich vor allem Rüstungsgüter betraf. Mehr als die Hälfte der Weltindustrieproduktion entfiel nunmehr auf die USA. Niemals zuvor in der modernen Geschichte und niemals danach gab es etwas Vergleichbares. Die Vereinigten Staaten konnten sich ferner auf die stärksten Luft- und Seestreitkräfte sowie außerdem auf das Monopol von Atomwaffen stützen.

Die USA des Jahres 1945 und die Potsdamer Konferenz

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Das jahrhundertelang von Europa geprägte internationale Staaten system bestand nicht mehr. Deutschland, über Jahrzehnte hinweg eine der Hegemonialmächte des Alten Kontinents, hatte bedingungslos kapituliert und zunächst aufgehört, als selbstständiger Staat zu existieren. Großbritannien und Frankreich, die Zentren riesiger Kolonialreiche, in denen, wie es hieß, die Sonne nie unterging, waren extrem geschwächt und erreichten ihre frühere Macht nie wieder. In Asien, Afrika und im Mittleren Osten begannen sich antikoloniale Bewegungen zu formieren, die nach Unabhängigkeit, nationaler Selbstbestimmung und souveräner Wirtschaft strebten. Die Niederlage Japans bedingte ein neues Kräfteverhältnis auch im Fernen Osten, in Südostasien und im Pazifischen Raum. Die Sowjetunion wurde, neben den USA, zur zweiten Weltmacht, allerdings primär auf Grund militärischer, nicht wirtschaftlicher Stärke. Sie beanspruchte für sich, einzige Alternative zum Kapitalismus und Zentrum einer weltweiten revolutionären Bewegung zu sein, der die Zukunft gehöre. Der Präsident und seine Administration, der Kongreß, die Spitzen gremien der Wirtschaft, die Führung der Streitkräfte und die gesamte politische Klasse, die in erster Linie über den weiteren Weg der Vereinigten Staaten entscheiden mußten, waren mit Problemen von ungeheurer Tragweite konfrontiert: Wie konnte und sollte die beispiellose wirtschaftliche und militärische Macht im Innern des Landes und nach außen genutzt werden? Was war erforderlich, um die von den Völkern ersehnte und in der Charta der Vereinten Nationen als Zielvorstellung proklamierte friedliche Nachkriegsordnung Wirklichkeit werden zu lassen? Würden die zwei Weltmächte - trotz scharfer Interessengegensätze, unterschiedlicher Wertvorstellungen und Ideologien, trotz divergierender Auffassungen in grundlegenden Fragen von Menschen- und Bürgerrechten, von Freiheit und Demokratie, Eigentum und sozialer Gerechtigkeit - willens und fähig sein, einen Modus vivendi zu fmden? Ließen sich die engen Beziehungen zu den europäischen Verbündeten, die am Kolonialismus festhalten wollten, mit amerikanischen Vorstellungen von Dekolonialisierung vereinbaren?4 In der Schlußphase des Krieges und unmittelbar danach formulierten unterschiedliche Kräfte der Gesellschaft ihre divergierenden Auffassungen von der Zukunft des Landes. An dem einen Ende der breitgefächerten politischen Skala befanden sich linksliberale und weiter links stehende Kreise sowie die im Congress of Industrial Organizations (CIO) zusammengeschlossenen Gewerkschaften. Sie forderten ein progressive pro gram for America, eine Weiterführung dessen, was mit dem New Deal begonnen worden war. Es sollte beträchtlich über die bisherigen Reformen hinausgehen, Vollbeschäftigung und Gesundheitsversicherung 4 Vgl. Dazu und zum folgenden: Robert Grijjith (ed.), Major Problems in American History Since 1945: Documents and Essays, Lexington, Mass.lToronto 1992, S. 1-3, 146 f.

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Karl Drechsler

einschließen, Chancengleichheit für alle, mehr soziale Sicherheit, die Überwindung der Armut, eine gerechtere Verteilung des Reichtums sowie der daraus abgeleiteten politischen Macht, gleiche Rechte statt Segregation und Diskriminierung ethnischer Minoritäten und Gleichberechtigung der Geschlechter. 5 Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen ging es um eine auf Interessenausgleich, auf Verständigung, Frieden und Sicherheit gerichtete Außenpolitik, die Kooperation und nicht die Konfrontation mit der Sowjetunion, die Unterstützung der Vereinten Nationen und ihrer Charta, die Überwindung aller Überreste des Faschismus und Militarismus in der Welt. Millionen von Amerikanern waren für solche Überlegungen einer größeren political participation, für ein neu es Verständnis von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit durchaus offen, ohne daß sie sich selbst zu liberalen oder gar linken Ideen bekannten. Die bitteren Erlebnisse der vorangegangenen Jahre, der Einsatz des Lebens in einem Krieg, der - wie immer wieder verkündet - eben für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit geführt wurde, sowie die neuartigen Erfahrungen, die Frauen und Afroamerikaner bei ihrer Arbeit in der Rüstungsindustrie, letztere vor allem während ihres Dienstes in den Streitkräften gemacht hatten, beeinflußten das Denken und Fühlen beträchtlicher Teile der Bevölkerung und warfen zahlreiche Fragen auf, die bis dahin nicht gestellt worden waren. Der aus diesen Erwartungen resultierende Druck der öffentlichen Meinung zählte zu den Faktoren, die die amerikanische Haltung in Potsdam nicht unwesentlich mit beeinflußten. Am anderen Ende der politischen Skala standen konservative, rechtsgerichtete Kreise vor allem, aber nicht nur der Republikanischen Partei, unterstützt von einer Mehrheit des big business. Sie hatten die Rooseveltsche Reformpolitik nach anfänglicher Zustimmung als zu weitgehend, als eine angeblich unmittelbare V orstufe zu Sozialismus und Kommunismus abgelehnt und verlangten jetzt die Rückkehr zur ''Normalität'' der Zeit vor der great depression. Der New Deal-Staat sollte, wenn schon nicht ganz beseitigt, so doch in ihrem Sinne weitgehend umgestaltet werden, auf Eingriffe in die Wirtschaft wieder verzichten und nur noch in extremen Fällen sozial wirksam werden. Die außenpolitischen Vorstellungen dieser Kreise waren noch weniger klar umrissen, aber doch wesentlich beeinflußt durch die Ideen eines American Century und einer Pax Americana. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sollte nur solange fortgesetzt werden, wie amerikanische Interessen sie unbedingt erforderlich machten. Ernest R. May hat in einem Beitrag über "Die U.S.-Regierung, ein Vermächtnis des Kalten Krieges" die Meinung vertreten, daß es 1945 drei Varianten, drei

, Vgl. Alan Wolfe, The Roots of Postwar PoIitics, in: ebenda, S. 20-31.

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mögliche Schwerpunkte künftiger Regierungstätigkeit gab. 6 Die erste Möglichkeit, um den Herausforderungen der Nachkriegszeit gerecht zu werden, war seiner Meinung nach eine Regierung, die sich den gewachsenen internationalen Verpflichtungen des Landes stellte, sich aber doch auf die Lösung innerer Probleme konzentrierte. State Department und militärisches Establishment hätten ein größeres Gewicht bekommen, im Zentrum wären aber, wie in den dreißiger Jahren, die Ministerien für Finanzen, Inneres, Landwirtschaft, Arbeit und Handel geblieben. Die gleichen Schwerpunkte müßten auch die legislative Tätigkeit bestimmt haben. Die zweite Möglichkeit war eine Regierung, deren Hauptaufgabe in der Sphäre der internationalen Wirtschaftsbeziehungen lag, mit einer Dominanz des Außen-, des Handels- und des Finanzministeriums. Priorität auf der Agenda des Kongresses hätten der internationale Handel, Investitionen im Ausland, Währungen und Wechselkurse sowie die Interdependenzen zwischen politischen, wirtschaftlichen und außenwirtschaftlichen Entwicklungen bekommen. In der spezifischen Situation von 1945 am wenigsten wahrscheinlich war die dritte von May gesehene Variante, eine Regierung beinahe wie in Kriegszeiten, mit einem Übergewicht des military establishment und den Problemen der militärischen Sicherheit im Mittelpunkt: die Administration eines national security state, wie er seit 1948/49 Wirklichkeit wurde. Die internen Vorbereitungen auf Potsdam durch das State Department und andere Ministerien sowie das Auftreten von Präsident Harry S. Truman während der Konferenz machten deutlich, daß die zweite der genannten Varianten favorisiert wurde, eine Regierung, die sich neben inneren Problemen auf internationale Wirtschaftsbeziehungen konzentrierte. Es ging um die Gestaltung einer friedlichen, von Kooperation und nicht Konfrontation geprägten Nachkriegsordnung, die den USA mit ihrer überlegenen Wirtschaftsrnacht weltweit die günstigsten Bedingungen bieten sollte. Als unbedingte Voraussetzung dafür mußten ein Konflikt mit der Sowjetunion vermieden und die Grundlagen für eine wenn auch noch so komplizierte amerikanisch-sowjetische Zusammenarbeit gelegt werden. Diese Fragen waren am Verhandlungstisch in Potsdam immer präsent, auch wenn es um Deutschland ging, um Polen und andere Länder Ostmittel- und Südosteuropas, um Italien, den Nahen oder den Fernen Osten.

-~.

__ . _ - - - - - - - - -

Emest R May. The U.S. Govemment. a Legaey ofthe Cold War. in: Diplomatie History. VoL 16. No. 2. Spring 1992. S. 269-277. 6

3 Timrnennann

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Von den insgesamt 60 Positionspapieren, den sogen. Briefing Book Papers,' die in den Wochen vor Potsdam für den Präsidenten ausgearbeitet wurden, behandelten 15 ausschließlich ökonomische Probleme, viele andere, die einzelne Länder betrafen, gingen im analytischen Teil und in den daraus abgeleiteten Empfehlungen ausführlich auf diese Aspekte ein. Das widerspiegelte die umfangreiche Debatte über die globale Dimension amerikanischer Wirtschaftsinteressen, die seit 1942/1943 intern und in der Öffentlichkeit geführt worden war. Wenige Tage nach dem Tod Roosevelts und der Übernahme der Präsidentschaft durch Harry S. Truman erhielt dieser ein Grundsatzpapier von Außenminister Stettinius mit dem Titel: "Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Ziele". Im Punkt "Außenwirtschaftspolitik" wurde über die amerikanischen Interessen und den Zusammenhang zwischen internationalen Wirtschaftsbeziehungen und dauerhafter Friedensordnung festgestellt: "Unser Land sollte die Führung übernehmen bei der Verwirklichung einer internationalen Wirtschaftspolitik, die darauf gerichtet ist, unser materielles Wohlergehen und das anderer Länder zu fördern, die Ausdehnung eines gegenseitig vorteilhaften internationalen Handels auf multilateraler und gleichberechtigter Basis zu ermutigen und jenen stabilen Stand von Prosperität und Beschäftigung in der ganzen Welt zu erreichen, ohne den die Aussichten für dauerhaften Frieden und Sicherheit düster sind."R In einem Memorandum "Amerikanische Interessen im Krieg und im Frieden. Nachkriegsvereinbarungen zur Handelspolitik", das im Rahmen eines Studienprogramms des einflußreichen Council on Foreign Relations im Januar 1944 vorgelegt wurde, hieß es: "Aus dem Krieg mit enorm ausgeweiteten Produktionskapazitäten hervorgehend, werden die Vereinigten Staaten ein eindeutiges Interesse am freiestmöglichen Zugang zu ausländischen Märkten haben."Y Auch maßgebliche Konzerne propagierten diese Auffassungen, so die zum Rockefeller-Imperium gehörende Standard Oil Company, New Jersey: "Die bittere Erfahrung von zwei blutigen und teuren Kriegen zeigt, daß der internationale Handel verstärkt, klüger geplant und erleichtert werden muß - nicht gehemmt oder blockiert."lo In diesen und anderen 7 Foreign Relations ofthe United States. Diplomatie Papers (im folgenden: FRUS): The Conference of Berlin (The Potsdam Conference) 1945. 2 Bde, Washington 1960; weitere, unveröffentlichte Briefing Book Papers: National Archives, Washington, D.C.: Depal1ment of State, 740.00119 Potsdam, Berlin Meeting of Heads of Government.

, Alternative Concepts of Uni ted States Foreign Policy, 1943-1947: European and Global Aspects of Postwar Relations with the Soviet Union. Documents, ed. and with an Introduction by Karl Drechsler in Cooperation with Chrisla Link, Berlin 1992, Dok. 15, S. 69. 'Ebenda, Dok. 5, S. 38. 10 Ebenda, Dok. 4, S. 31: Blueprint for World Trade: A Statement of Policy by Standart Oil Company (New Jersey), Ende 1943/Anfang 1944.

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ähnlichen Stellungnahmen wurde nachdrücklich gefordert, die Weltwirtschaft der Nachkriegszeit neu zu organisieren und zu strukturieren, alle Zollschranken, Devisenkontrollen und sonstigen Handelshindernisse zu beseitigen, Kontingentierungen und Limitierungen von Im- und Exporten abzuschaffen sowie den freien Zugang zu sämtlichen Märkten und Rohstoffgebieten der Welt zu gewährleisten. Stillschweigend vorausgesetzt wurde dabei, daß alles, was den Vereinigten Staaten nütze, auch für den Rest der Welt von Vorteil sei. Diese Überlegungen wurden in starkem Maße auch von innenpolitischen Erwägungen bestimmt. Eine Ausarbeitung der National Planning Association vom November 1944 über "Amerikas neue Möglichkeiten im Welthandel" kam zu folgenden Schlußfolgerungen: "Indem wir den Kapitalbedarf der Welt befriedigen, können wir einen zeitweiligen, aber wesentlichen Stimulus für die heimische Produktion gewinnen und am Ende von der größeren Stabilität und Kaufkraft profitieren, die Industrialisierung und höhere ökonomische Effizienz im Ausland bewirken werden.,,11 Noch deutlicher wurden die Zusammenhänge von Innen-, Wirtschafts-, Außenwirtschafts- und Arbeitsbeschaffungspolitik in einer Ausarbeitung von Harry L. Hopkins, des engsten persönlichen Beraters von Roosevelt: "Die ernsteste Gefahr für unser System der freien Marktwirtschaft (competitive system) sind die Existenz oder das Weiterbestehen von Massenarbeitslosigkeit. ... Wir führen diesen Krieg nicht nur um Sicherheit vor räuberischen Feinden im Ausland, sondern auch vor ebenso gefährlichen Feinden hier bei uns zu Hause Arbeitslosigkeit, Krise, Not.,,12 Damit knüpfte er an Auffassungen an, die Roosevelt in seiner Botschaft zur Lage der Nation am 6. Januar 1941 - mit dem Blick auf Nazideutschland, aber auch die Sowjetunion - verkündet hatte: "Eine gute Gesellschaft ist in der Lage, Plänen der Weltbeherrschung und gleichzeitig fremder Revolutionen ohne Furcht zu begegnen.,,13 Der größte Teil der politischen Klasse der USA ging bis weit in das Jahr 1945 hinein davon aus, daß nur durch die Kooperation mit der Sowjetunion, wie schwierig sie auch immer sein würde, eine stabile und dauerhafte, den amerikanischen Interessen förderliche Nachkriegsordnung aufgebaut werden konnte. Roosevelt betonte das noch einmal mit großem emotionalen Engagement in seinem Bericht über die JaIta-Konferenz: "Wir werden die Verantwortung für die globale Kooperation übernehmen müssen, oder wir werden die Verantwortung für einen weiteren globalen Konflikt tragen müssen." Der Weltfrieden kann nicht nur "ein amerika11

FrankIin D. Roosevelt Library, Hyde Park, N. Y.: Hopkins Papers 210, Post War Trade.

12

Alternative Concepts, Dok. 7, S. 43, 45: Harry L. Hopkins, Your Job after the War, 31.8.1944.

13

The Public Papers and Addresses ofFranklin D. Rooseveit, 1940 Volume, New York 1941,

S.672. 3'

36

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nischer Frieden oder ein britischer Frieden, ein russischer, ein französischer oder ein chinesischer Frieden sein .... Es muß ein Frieden sein, der auf dem kooperativen Bestreben der ganzen Welt beruht.,,14 In zahlreichen Papieren wurde auf die Vorteile enger amerikanisch-sowjetischer Wirtschafts beziehungen hingewiesen. So vertrat die Foreign Economic Administration schon am 31. Dezember 1943 die Ansicht, "daß die Grundlage für einen enormen Nachkriegshandel zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion besteht", da letztere beträchtliche Importe benötigen werde, die die USA liefern könnten und wollten. 15 In dem bereits zitierten Memorandum des Council on Foreign Relations hieß es: "Es ist nicht das Ziel noch wird es das Ergebnis des gegenwärtigen Krieges sein, alle Staaten zu einem einheitlichen Typ wirtschaftlicher Organisation umzubauen. Bei der Gestaltung der Handelspolitik müssen wir die Koexistenz und die Teilnahme sowohl von 'liberalen' als auch von 'geplanten' Wirtschaften ('Iiberal'and 'planned' economies) anerkennen.,,16 Der Grundgedanke eines Memorandum der Foreign Economic Administration vom 14. Mai 1945 lautete: "Freundschaftliche Beziehungen zwischen den U.S. und der UdSSR sind unbedingt erforderlich, wenn der Weltfrieden für die nächsten Generationen gesichert werden soll."17 Das Papier einer offenkundig links orientieren Press Research, Inc., Washington, D.C., stellte am 4. Juni 1945 fest: "Für die nächste Generation sind die Beziehungen U.S. - UdSSR das Weltproblem Nr. 1. Wenn die beiden größten wirtschaftlichen und militärischen Mächte in der Geschichte kooperieren, wird die Welt Prosperität und Frieden haben." Und dann folgen Sätze mit einer fast prophetischen Aussage: "Wenn ihre Beziehungen von Bitterkeit und Mißtrauen bestimmt sein werden, wird die Welt sich selbst durch ein Wettrüsten schwächen ... Solch eine Rivalität würde die Energien und Ressourcen sowohl der Sowjetunion als auch der Vereinigten Staaten erschöpfen ... "18 Der Grundgedanke der im Vorfeld von Potsdam erarbeiteten Briefing Book Papiers bestand darin, der Präsident sollte bei den Verhandlungen dafür eintreten, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im wesentlichen weiterzuführen. Im Ergebnis kontroverser innerer Debatten setzte sich damit eine Konzeption durch, die das Schwergewicht noch einmal auf die Kooperation und nicht die Konfronta14 Ebenda, Volume 194445, New York 1950, S. 570 ff.: Address to the Congress Reporting on the YaltaConference, 1.3.1945. 15

Alternative Concepts, Dok. 3, S. 29.

16

Ebenda. Dok. 5. S. 36.

17

Ebenda, Dok. 17. S. 73.

18

Ebenda, Dok. 23, S. 86, 93.

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tion legte. Stärker als in Jalta kamen aber auch traditionelle antikommunistische und antisowjetische Motive und Argumente zum Ausdruck, ferner das Bestreben, amerikanische Vorstellungen von Demokratie, freien Wahlen und pluralistischen Gesellschaften international mit mehr Nachdruck durchzusetzen und eine Wiederholung des stalinschen Terrors der dreißiger Jahre, dieses Mal möglicherweise nicht nur in der UdSSR, sondern auch in den im sowjetischen Einflußbereich liegenden Ländern, nicht einfach hinzunehmen. Die amerikanische Delegation sollte ferner, wie es hieß, dazu beitragen, die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Großbritannien wieder zu entspannen. Die Stellungnahme der Chiefs of Staffvom 16. Mai 1944 wurde noch einmal ausdrücklieh in die Arbeitspapiere für Potsdam mit aufgenommen. Ihr Kernsatz lautete, daß die USA einen eventuellen Krieg mit der UdSSR zwar nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen könnten. Die amerikanische Nachkriegspolitik müßte deshalb "die Solidarität der drei Großmächte aufrechtzuerhalten suchen und in aller anderen Hinsicht Bedingungen schaffen, die bezwecken, eine lange Periode des Friedens zu gewährleisten."19 Es ist dies eines der nicht gerade sehr zahlreichen historischen Dokumente, in denen sich Militärs nachdrücklich für Entspannung, internationale Zusammenarbeit und Frieden engagieren. Am 25. April 1945 hatte Kriegsminister Henry L. Stimson den gerade zwei Wochen im Amt befindlichen Präsidenten ausführlich über die Entwicklung der Atombombe informiert. In einem dabei überreichten Memorandum hieß es: "Innerhalb von vier Monaten werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach die schrecklichste Waffe fertiggestellt haben, die es je in der menschlichen Geschichte gegeben hat." Ihre Entwicklung auch durch andere Staaten sei nur eine Frage der Zeit. Dann werde die Welt einer solchen Bombe ausgeliefert sein. "Mit anderen Worten, die modeme Zivilisation könnte vollständig zerstört werden." Alle im Zusammenhang mit dieser neuen Waffe auftauchenden Probleme würden "eine erstrangige Frage unserer außenpolitischen Beziehungen" werden. 20 Die erste atomare Versuchsexplosion fand am 16. Juli 1945, einen Tag vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz, in der Wüste von New Mexico statt. Am 21. Juli wurde der Präsident ausführlich darüber informiert, daß die Kraft der atomaren Explosion weitaus stärker gewesen sei, als ursprünglich erwartet, und daß die Bombe bald zur Verfügung stehe. Noch in Potsdam entschied Truman, sie zum \9 Die Konferenzen von Malta und Jalta, Department of State USA, Dokumente vom 17. Juli 1944 bis 3. Juni 1945, Düsseldorf 0.1., S. 100 ff.; FRUS: The Conference of Berlin (The Potsdam Conference), Vol. I, Washington 1960, Dok. 224, S. 264 ff. 20 Harry S. Truman Library, Independence, Missouri (im folgenden: HSTL): Papers of Harry S. Truman, 227, PSF, Historical Files, Atomic Bomb 1945; Henry L. Stimson and McGeorge Bundy, On Active Service in Peace and War, New York 1947, S. 635 f.

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frühestmöglichen Zeitpunkt gegen Japan einzusetzen. Stimson und George C. Marshall, der Generalstabschef der Armee, kamen zur Überzeugung, daß der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan nicht mehr unbedingt erforderlich sei. Praktische Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Konferenz wurden daraus allerdings nicht gezogen. Das Wissen um die Bombe gab den Eingeweihten aber ein neues Gefühl der Stärke, das jedoch noch weit entfernt war von jener "Arroganz der Macht", die 1. William Fulbright später mit Sorge registrierte. Knapp sechs Wochen nach dem Ende der Potsdamer Konferenz, einen Monat nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki schlug Stimson dem Präsidenten in einem Memorandum eine Vereinbarung mit der Sowjetunion vor, "deren allgemeiner Zweck darin bestehen würde, den Gebrauch der Atombombe als Instrument des Krieges zu kontrollieren und zu begrenzen und die Entwicklung der Atomkraft so weit wie möglich auf friedliche und humanistische Ziele zu lenken und zu fördern.,,21 Eine solche Partnerschaft mit der UdSSR werde zweifellos auch dazu beitragen, langfristig einen Transformationsprozeß in der sowjetischen Gesellschaft einzuleiten. Am 18. und 21. September wurden die Vorschläge Stimsons im Kabinett beraten. Anschließend reichten die Regierungsmitglieder dem Präsidenten auf dessen Wunsch die eigenen Überlegungen noch schriftlich ein. Dabei spitzte sich die Diskussion auf die Frage zu, ob die USA das Wissen von der Atombombe für sich behalten oder mit anderen Staaten teilen sollten. Stimson wurde u.a. von Handelsminister Henry A. Wallace, vom amtierenden Innenminister Abe Fortas sowie vom amtierenden Kriegsminister Robert P. Paterson unterstützt. Wallace faßte ihre Ansichten am 24. September zusammen: "Meines Erachtens wird die Chance für eine echte und dauerhafte Kooperation der Welt umso größer sein, je früher wir unsere wissenschaftlichen Kenntnisse ... mit anderen teilen. Solches Handeln würde ... die Voraussetzung für vernünftige internationale Vereinbarungen schaffen, die die Kontrolle und die Entwicklung der Atomenergie für friedliche Zwecke und nicht für solche der Zerstörung garantieren.'.22 Gegen die Vorschläge Stimsons wandten sich u.a. Justizminister Thomas C. Clark, Finanzminister Fred M. Vinson, Marineminister James V. Forrestal und der an der Debatte teilnehmende Senator und Präsident pro tempore des Senats, Kenneth McKellar. Dieser formulierte: "Es scheint mir nicht weise zu sein, sondern unklug und gefährlich für die Verteidigung unserer Nation, einen Krieg provozierend und bedrohlich für den Frieden, wenn wir diese Formel (gemeint ist eine

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FRUS: 1945 Vol. 2. S. 40 ff.

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Alternative Concepts. Dok. 31, S. 112.

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fiktive Fonnel der Atombombe - K.D.) an Rußland, England, Kanada oder irgend eine andere Nation geben.'>23 In dieser internen Debatte wenige Wochen nach dem Ende der Potsdamer Konferenz kamen zwei grundverschiedene politische und militärische Konzepte zum Ausdruck. Stimson und diejenigen, die ihn unterstützten, erkannten die enorme Bedrohung, die die Atombombe für die weitere Existenz der Menschheit bedeutete. Sie waren sich darüber im klaren, daß in dem gerade begonnenen Atomzeitalter Kriege eine prinzipiell andere Dimension bekamen als in der Vergangenheit. Ihrer Ansicht nach hatten die Großmächte nur noch die Möglichkeit, über alle Gegensätze hinweg gemeinsam den Frieden zu erhalten oder gemeinsam in einem nuklearen Inferno unterzugehen. Wallace schrieb in seinem Papier: "Die Gefahr wird wachsen, unsere Position und die der nationalen Sicherheit werden sich weiter verschlechtern, wenn wir unseren gegenwärtigen Kurs fortsetzen, eine nutzlose Geheimhaltung zu geWährleisten und gleichzeitig ein Arsenal von Atombomben anzulegen.,,24 Die Opponenten Stimsons setzten dagegen auf eine Politik der Stärke, auf die militärische Überlegenheit, die durch die alleinige Verfügung über die Atombombe wenigstens zeitweise gegeben war. Die komplizierten wissenschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und technologischen Kenntnisse, die die militärische und die friedliche Nutzung der Atomenergie ennöglichten, hielten sie für eine "Formel", die man anderen mitteilen, aber auch geheimhalten könne, wenn man nur wolle. Sie glaubten, daß die UdSSR ohne amerikanische Hilfe lange Zeit, eventuell zwei Jahrzehnte brauchen würde, um den Wissens stand der USA von 1945 zu erreichen. Die Atombombe wollten sie als Mittel politischen Drucks, vielleicht auch als Waffe in einem möglichen militärischen Konflikt einsetzen. Am 3. November 1945 stellte das Joint Intelligence Comrnittee erstmals Überlegungen an, welche sowjetischen Städte Ziele für Atombomben sein könnten. Genannt wurden u.a. Moskau, Leningrad, Baku und Grosny. Im sachlich-trockenen Stil eines wissenschaftlichen Reports hieß es: "Die 20 lohnendsten Ziele für Atombomben sind eine Reihe gemischter Industriegebiete, in denen Forschungszentren, Spezialbetriebe und die wichtigsten Regierungs- und Verwaltungsstellen am stärksten konzentriert sind. Ihre Wahl gewährleistet eine maximale Nutzung der Potenzen der Atomwaffen.,,25 Natürlich war dies kein Einsatzplan, verfügten die USA zu diesem Zeitpunkt doch gar nicht über einsatzfähige Atombomben. Es 23

HSTL: Papers of Harry S. Truman, 112, PSF, General File, Atomic Bomb.

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Alternative Concepts. Dok. 31, S. 112.

2' Bernd GreinerlKurt Steinhaus, Auf dem Weg zum 3. Weltkrieg? Amerikanische Kriegspläne gegen die UdSSR. Eine Dokumentation, Köln 1980, Dok. 3, S. 75 f.; MichaeL S. Sherry, Preparing for the Next War: American Plans for Post war Defense, 1941-45, New HavenILondon 1977, S. 213.

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war lediglich eine militärische bzw. geheimdienstliche Eventualplanung, eigentlich nur ein Sandkasten- oder Gedankenspiel. Trotzdem wurde damit eine neue Richtung militärischen Denkens eingeleitet, das die Verwendung der Bombe gegen den Alliierten des gerade zu Ende gegangenen Krieges und potentiellen Gegner der Nachkriegszeit für möglich, angemessen und erfolgversprechend hielt. Die Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz waren ein Komprorniß, der den internationalen Macht- und Kräfteverhältnissen am Ende des zweiten Weltkrieges entsprach. Sie bedeuteten einen Sieg der Vernunft im Interesse der Menschheit, für deren größten Teil nach den gerade zu Ende gegangenen Opfern und Leiden ein neuer Krieg undenkbar und unvorstellbar war. Das insgesamt positive Ergebnis des Treffens wurde ermöglicht, weil die Großen Drei mit der festen Absicht nach Potsdam gekommen waren, trotz aller sich abzeichnenden neuen Konflikte mit dem Aufbau einer friedlichen Nachkriegsordnung zu beginnen. In Washington herrschte noch die Ansicht vor, daß ein solches internationales System die günstigsten Rahmenbedingungen für die Wahrung der amerikanischen Interessen bot, wie sie in den Wochen und Monaten vor Potsdam für die Innen-, Wirtschaft-, Außenund Außenwirtschaftspolitik sowie für die Arbeitsbeschaffungspolitik formuliert worden waren. Regierungen und Öffentlichkeit in den USA sowie in anderen Ländern der Antihitlerkoalition würdigten, zum Teil fast euphorisch, den sowjetischen Beitrag zum Sieg über die Barbarei des Faschismus. Auch Stalin - "Unele Joe" - wurde von vielen in einem neuen Licht gesehen. Seine Verbrechen der dreißiger Jahre, die "Säuberungen", Repressalien und Schauprozesse, schienen der Vergangenheit anzugehören. Respekt fanden sein starker Wille, seine Härte und Durchsetzungskraft, die Fähigkeit, in den extremen Situationen von Sieg oder Niederlage alles auf ein Ziel zu konzentrieren, die Bevölkerung zu mobilisieren und zu disziplinieren. Winston Churchill, wenigstens zeitweise, vor allem aber Franklin D. Roosevelt anerkannten den Pragmatismus, den Stalin in einer Reihe komplizierter Fragen der internationalen Beziehungen gezeigt hatte. Einflußreiche Kreise in vielen Ländern, besonders auch in den USA, waren überzeugt, daß es möglich sein würde, die Kooperation zum Grundprinzip der Nachkriegsbeziehungen zwischen den Mächten der Grand Alliance zu machen. Auch die Entwicklung in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas wurde von vielen in den USA noch recht differenziert und in mehrere Richtungen hin offen gesehen. Man war sich darüber klar, daß in dieser Region - von Polen im Norden bis Bulgarien im Süden - ein starker Linkstrend herrschte, beträchtliche Teile der Bevölkerung tiefgehende Reformen, vor allem auf dem Agrarsektor, wünschten und daß dabei eigenständige Reform- bzw. revolutionäre Prozesse einerseits mit der Befreiung und Besetzung durch die Rote Armee andererseits zu einer; in sich äußerst widersprüchlichen

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Entwicklung verschmolzen. Mit Sorge und Ablehnung wurde registriert, daß es in der Politik Moskaus gegenüber diesen Ländern eine Reihe von Maßnahmen gab, die massive Einmischung signalisierten, vor allem in Polen. Noch meinten und hofften aber auch viele in den USA, daß das sowjetische Gesellschaftsmodell nicht einfach übertragen, sondern eine Herrschafts- und Regierungsform gefunden werden könnte, die sowohl sowjetischen als auch amerikanischen Sicherheitsinteressen und Demokratievorstellungen gerecht würde. In der internen Diskussion in den Vereinigten Staaten tauchte dabei auch das wohl weniger zynisch als realpolitisch gemeinte Argument auf, man dürfe der UdSSR im Verhältnis zu ihren westlichen Nachbarn nicht eine Politik verweigern, die man selbst gegenüber den Ländern der Karibik sowie Mittel- und Südamerikas praktiziere. 1945 und 1946 gab es in den USA - genau wie in der Sowjetunion - aber auch schon die Ansätze jenes Feindbildes, das mit seiner Dämonisierung und Kriminalisierung der anderen Seite für den späteren Kalten Krieg charakteristisch werden sollte. In diesem Sinne betätigten sich damals öffentlich vor allem die Hearst- und die McCormick-Presse. Einem solchen Denken gab u.a. auch die zum rechten Flügel der Republikanischen Partei gehörende Abgeordnete Clare Boothe Luce Ausdruck. Eine am 1. Juni 1945 veröffentlichte Rede gipfelte in der unverhüllten Drohung: "Es darf nicht dabei bleiben, daß es zwei Welten gibt, wie es heute der Fall ist - die Welt des Totalitarismus und die Welt der demokratischen Ideale. Diese zwei Welten sind dazu verurteilt, in Konflikt miteinander zu geraden."26 Der amtierende Außenminister der USA Joseph C. Grew schrieb in einem zunächst vor allem zur Selbstverständigung, nicht zur Weiterverbreitung gedachte Papier im Vorfeld der Potsdamer Konferenz, am 19. Mai 1945, den eigentlich ungeheuerlichen Satz: "Ein künftiger Krieg mit Sowjet-Rußland ist so sicher, wie nur irgend etwas in dieser Welt sicher sein kann.'.27 Vor, während und in den Monaten nach dem Treffen der Großen Drei wurde im Ansatz schon manches von dem sichtbar, was in den folgenden Jahren, besonders nach 1948/49, den Ost-West-Konflikt prägen sollte. Arthur M. Schlesinger, Jr., spricht in dem eingangs zitierten Beitrag für die amerikanische Seite ebenso wie für die sowjetische von den fallacies of the Cold War, von den großen Irrtümern und Fehleinschätzungen des Kalten Krieges. 28 Dazu gehörte mit an erster Stelle the fallacy of overinterpreting the enemy, die falsche Überinterpretation des Feindes. Diesem wurden weitgesteckte aggressive Ziele, die Unfähigkeit zu friedlicher 2.

Alternative Coneepts, Dok. 20, S. 86.

27 Joseph C. Grew, Turbulent Era: A Diplomatie Reeord ofForty Years: 1904-1945. Ed. By Walter Johnson, Assisted by Naney Harvison Hooker, Vol. 2, Boston 1952, S. 1445 f. 28

Schlesinger, Some Lessons, S. 47-53.

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Koexistenz mit der anderen Seite und letztlich das bewußte Streben nach Krieg unterstellt, was es in dieser Form im Osten wie im Westen niemals gab. Der Feind verfügte dieser Meinung nach über einen master plan, eine Blaupause der Weltherrschaft und handelte mit diabolischer Konsequenz, um sein Ziel zu erreichen. Solche Überlegungen wurden für die amerikanische Seite erstmals in einer Denkschrift ausgesprochen, die der Sonderberater des Präsidenten Clark M. Clifford diesem im September 1946 vorlegte. An dem Papier hatten in den vorangegangenen Wochen und Monaten alle in Frage kommenden Ministerien und Behörden mitgearbeitet. Die Hauptgedanken lauteten: Die Führer der UdSSR glauben, daß eine friedliche Koexistenz zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten nicht möglich ist. Sie gehen letzlich von der Zerstörung der kapitalistischen Staaten durch die kommunistischen aus (ultimate destruction of capitalist states by communist states). Den ihrer Ansicht nach unvermeidlichen Konflikt wollen sie aber hinausschieben, um die Sowjetunion weiter zu stärken und sie so auf den "clash" mit den westlichen Demokratien vorzubereiten. 29 Truman war von diesen Einschätzungen und den daraus abgeleiteten Empfehlungen offenkundig derart schockiert, daß er erst einmal alle Exemplare einziehen und verschließen ließ. Eine etwas moderatere Variante solcher Überlegungen - später wurde daraus die sogen. Domino-Theorie - hatte der damalige amerikanische Botschafter in Moskau, W. Averell Harriman, schon eineinhalb Jahre früher, im April 1945, formuliert: "Wenn die Sowjetunion erst einmal die Kontrolle über ihre Nachbarregionen erlangt hat, wird sie versuchen, die nächsten angrenzenden Länder zu durchdringen. ,,30 1945/46 gab es ansatzweise auch schon the fallacy of a zero-sum game, den Irrtum von einem Null-Summen-Spiel, um noch einmal einen Begriff von Schlesinger zu verwenden. Jeder Gewinn der einen Seite bedeutete demzufolge automatisch einen Verlust für die andere. Kompromisse, die beiden Seiten nutzten, wurden dabei von vornherein ausgeschlossen. Es war vor allem die zeitweilige alleinige Verfügung über die Atombombe, die maßgebliche amerikanische Politiker dazu verleitete, diese Waffe als politisches und militärisches Druckmittel einzusetzen, um die Sowjetunion Schritt für Schritt zum Nachgeben zu zwingen. Im Januar 1946 äußerte Truman in einem Gespräch mit seinem Außenminister James F. Byrnes: "Wenn man ihm (Rußland - K.D.) nicht die eiserne Faust zeigt und die stärkste Sprache spricht, werden wir einen neuen Krieg erleben. Es gibt nur eine

29 Arthur Krock, Mernoirs: Sixty Years on the Firing Line, New York 1968, S. 389 ff.; Alternative Concepts, Dok. 54, S. 198-209.

30FRUS: 1945 Vol. 5, S. 841.843.

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Sprache, die die Russen verstehen, nämlich: Wie viele Divisionen habt ihr? ... Ich habe es satt, die Sowjets in Watte zu packen" (I'm tired ofbabying the Soviets).31 Auch in der ersten Nachkriegszeit, als die Streitkräfte der USA demobilisiert und die Verteidigungsausgaben drastisch reduziert wurden, gab es schon Überlegungen und Entscheidungen, die zum gefährlichen Wettrüsten des Kalten Krieges führen und jede Rüstungsbegrenzung von vornherein blockieren soUten. So wurde in dem bereits zitierten Clifford-Memorandum vom September 1946 festgesteUt: Die USA müßten stark genug sein,um die UdSSR effektiv eindämmen zu können. Sie soUten darauf vorbereitet sein, unter bestimmten Umständen einen atomaren und biologischen Krieg zu führen. Die Vereinigten Staaten müßten ferner stets davon ausgehen, daß eine Begrenzung atomarer und offensiver Langstreckenwaffen vor aUem sie, nicht aber die Sowjetunion schwächen würde. 32 Als Eisenhower und Chruschtschow sich 1959, vierzehn Jahre nach der Potsdamer Konferenz, in den USA trafen, war die Begrenzung des Wettrüstens ein wichtiges Thema. Eine Episode ihres Gespräches ist besonders aufschlußreich: Eisenhower fragte seinen Gast, wie es im Kreml ablaufe, wenn die Militärs Gelder für den Aufbau eines bestimmten neuen Waffensystems forderten. Chruschtschow erwiderte, daß er oft erst einmal ablehne. Wenn seine Generäle und Marschälle ihn nach einiger Zeit aber erneut bedrängten und ihm versicherten, die Amerikaner seien dabei, eben dieses System zu installieren, bleibe ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben und die geforderten Mittel zu gewähren. Darauf Eisenhower: So hatte ich mir das vorgesteUt. Genau so läuft es bei mir ab.

31 HarryS. Truman, Memoiren, Bd. 1: Das Jahr der Entscheidungen (1945), Stuttgart 1955, S. 599 ff.; farnes F. Byrnes, All in One Lifetime, New York 1958, S. 402 f.

" Krock, S. 389 ff.; Alternative Concepts, Dok. 54, S. 206 f.

Die Deutsche Einheit aus britischer Perspektive Von Marianne Howarth A. Einleitung zur Thematik In Großbritannien, wie in anderen europäischen Ländern, wurden die Potsdamer Konferenz und das Potsdamer Abkommen unmittelbar mit der Teilung Deutschlands verbunden. Dabei wurde oft davon ausgegangen, daß mit der Aufteilung des Landes in Besatzungszonen, wie in Jalta beschlossen, ein Hauptziel der britischen Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit erfolgreich erfüllt worden sei. Viele Beweise und Argumente sprachen scheinbar für eine britische Unterstützung der permanenten Teilung Deutschlands. Obwohl zum Beispiel die Jalta-Beschlüsse die spätere Wiedervereinigung nicht ausschlossen und die daraus resultierende Teilung [Zerstückelung] Deutschlands zwar als Provisorium gelten sollte, wurde der Besatzungszeit bekanntlich kein Endtermin festgesetzt.

Eine permanente Teilung Deutschlands schien auch in das britische Konzept eines Machtgleichgewichts in Europa zu passen. Traditionell konzipierte Großbritannien die Rolle als Weltmacht gleichzeitig als Mittel, den Frieden und die politische Stabilität in Europa zu garantieren. Außenpolitisch sollte die Fortsetzung der Kriegskoalition für einen dauerhaften Frieden in Europa sorgen. Deutschlandpolitisch spielte die Demokratisierung der gesellschaftlichen Institutionen eine wichtige Rolle, und die britische Besatzungspolitik wurde dadurch charakterisiert. Beispiele waren der Wiederaufbau einer freien Presse, die Demokratisierung des Bildungswesens und die Modernisierung der Gewerkschaften. Für die britische Deutschlandpolitik der späten 40er und frühen 50er Jahre war ebenfalls klar, daß im Kontext des Kalten Krieges die Schaffung eines westdeutschen Verbündeten "ein notwendiges Gegengewicht gegen die bedrohende Macht der Sowjet-Union"! wurde. Weitere Beweise für die scheinbare Bereitschaft Großbritanniens, in der Nachkriegszeit die Teilung Deutschlands als Voraussetzung für die Sicherung einer europäischen Friedensordnung zu betrachten, sind nicht schwer zu identifizieren. I "a necessary countelWeight to the threatening power of the Soviet Union". Roger Morgan. Britain and Germany since 1945 : Two Societies and Two Foreign Policies. 1988 Annual Lecture. German Historical Institute. London. 1989. S. 8.

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Weder die Labour-Regierung unter Attlee noch die späteren konservativ-geführten Regierungen Churchills, Edens und Macmillans setzten sich energisch dafür ein, die Teilung zu überwinden bzw. den Status quo in Europa radikal zu verändern. Doch eine solche Skizze übersieht einen sehr wichtigen Aspekt der britischen Deutschlandpolitik, einen Aspekt, der gleichzeitig als konstanten Faktor beschrieben werden kann, nämlich die Befürwortung der deutschen Einheit innerhalb der europäischen Friedensordnung der Nachkriegszeit. Die britische Deutschlandpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit zielte nicht auf die permanente Teilung Deutschlands. Für Großbritannien stand die Wiedervereinigung Deutschlands immer als Ziel auf der Tagesordnung. Wie ein britischer Botschafter 1986 kommentierte, "Tatsächlich kann Großbritannien in der Frage der Wiedervereinigung auf eine ungebrochene, eindeutige Position zurückblicken."2 Für Großbritannien war es ebenfalls immer klar, daß ein wiedervereinigtes Deutschland die Eigenschaften der Bundesrepublik verkörpern würde. Im Laufe der Jahre wurde die Solidarität mit Bonn in der Frage der Wiedervereinigung zu einem wichtigen Bestandteil der deutsch-britischen Beziehungen. Doch mit der Zeiit akzeptierte die britische Regierung die Existenz von zwei deutschen Staaten als notwendiges, wenn auch vorübergehendes Übel, welches den Frieden und die Stabilität in Europa gewährleisten sollte. Daher erschien im HerbstlWinter 1989/90 die zunächst sehr negative Haltung der Premierministerin Thatcher in der Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit als unangenehme Überraschung für Bonn. Diese Haltung führte zu einer Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen, von der sie sich auch heute nicht völlig erholt haben. In diesem Beitrag soll der Platz der deutschen Einheit in der britischen Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit näher besprochen werden. Dabei sind zwei Hauptthemen zu identifizieren: Erstens, der Prozeß der Akzeptanz der Teilung Deutschlands als Ausgangspunkt für die britische Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit und zweitens die Ähnlichkeiten und die Unterschiede in der britischen Haltung der deutschen Einheit gegenüber zwischen 1945 und 1989/90.

B. Die Teilung Deutschlands als Ausgangspunkt für die britische Deutschlandpolitik Historisch gesehen zielte die britische Europapolitik auf das sogenannte Gleichgewicht in Europa, wobei für Großbritannien eine zentrale Rolle als Garant dieses Gleichgewichts vorgesehen wurde. Bis 1945 spielte Großbritannien diese Rolle 2 Peter Unwin, Die Außenpolitik Großbritanniens, in Weltpolitik, hrsg. von Karl Kaiser und HansPeter Schwarz, Stuttgart 1986, S. 347.

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von einer Position der Stärke als unabhängige Weltmacht; die globalen politischen Realitäten der Nachkriegszeit stellten aber die Fortsetzung dieser Rolle auf der bisherigen Basis in Frage. Zu den Fehlern der britischen Außenpolitik der Nachkriegszeit zählte die Tatsache, daß in britischen Regierungskreisen diese radikale Verminderung des internationalen Status erst sehr langsam begriffen wurde. Unter diesen Gesichtspunkten zählte für Großbritannien ein einheitliches Deutschland zu den politischen Gegebenheiten Europas. Historisch wurden die deutsch-britischen Beziehungen auf dieser Grundlage geführt und entwickelt. Darüber hinaus beruhten die deutsch-britischen Beziehungen auf einer kulturhistorischen Grundlage, für die aus britischer Perspektive drei Hauptfaktoren charakteristisch waren. Als erster ist eine Bewunderung für Deutschland als philosophische und kulturelle Führungskraft Europas zu nennen. Diese Einschätzung galt besonders für das gemeinsame intellektuelle Gedankengut der Aufklärung und für den Höhepunkt der deutsch-britischen Kulturbeziehungen des 19. Jahrhunderts. Als zweiter Faktor war der Einfluß der Königin Victoria und deren Prinzgemahl Albert zu bemerken. Das königliche Ehepaar wirkte als Symbol - sowohl für die Masse wie auch für die Elite - der deutsch-britischen Interessenidentität im Bereich des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts, der naturwissenschaftlichen Forschung und Entwicklung und der politischen Führungsklasse. Drittens aber, und im Jahre 1945 waren diese noch aktuell und akut, sind die schmerzhaften Erinnerungen an zwei Weltkriege als negativer Faktor von sehr großer Bedeutung. Das deutsch-britische Verhältnis wurde durch Antagonismus und Scham, Konfrontation, Wettstreit und Verrat ernsthaft belastet und unter Druck gestellt; nach 1945 mußte der Rahmen, innerhalb dessen sich die Beziehungen hätten entwickeln können, selber wiedergutgemacht werden, um positive Fortschritte zu ermöglichen. Doch gerade die Tatsache, daß aus beiden Weltkriegen Großbritannien als Siegermacht hervorgegangen ist, verbunden mit der wirtschaftlichen Zerstörung Deutschlands durch alliierte Luftangriffe, und der politischen Zerstörung durch N aziherrschaft,3 bedeutete, daß 1945 Großbritannien die Wiederherstellung der deutschen Einheit als politisches Fernziel betrachten mußte und wenig Grund hatte, die Erreichung dieses Ziels zu befürchten. Im Gegensatz: wo es die deutsche Frage anging, stärkten die beiden Siege und die Selbsteinschätzung als Weltmacht die britische Regierung in ihrer Erwartung, auch in der Nachkriegszeit das Gleichgewicht in Europa garantieren zu können. 3 Public Record Office. F037 1146868. The Build-up of the German Administration. Foreign Office. 2. Juli 1945.

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Die Potsdamer Konferenz markierte eine Modifikation in der britischen Haltung, wenn nicht einen Wendepunkt. Die Beschlüsse über die Besatzung Deutschlands als provisorische Maßnahme, die in Potsdam bestätigt wurden, wurden von britischer Seite sowohl mit Skepsis wie auch mit Enttäuschung registriert, weil sie das Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit mittels der Errichtung einer deutschen Zentralregierung nur schwer erreichbar machten. Nach britischer Meinung setzten aber vor allem die Vereinbarungen über die Reparationspolitik zwangsläufig einen Prozeß in Gang, der zur vollständigen Teilung führen würde. Troutbeck, Leiter der Deutschlandabteilung im Foreign Office, kommentierte im Juli 1945, wie Hermann Graml berichtet, "die Reparationsvereinbarung mit dem Satz, es sei nur schwer vorstellbar, 'daß eine solche Regelung Deutschland nicht vollständig in zwei Hälften teilt, so sehr wir auch versuchen mögen, ein derartiges Ergebnis zu verhindern ..,,.

Charakteristisch für diese wenig optimistische, doch sehr realistische Haltung war vor allem ein wachsendes Mißtrauen den sowjetischen Absichten gegenüber. Die größte Bedrohung des Gleichgewichts kam - nach britischer Meinung - von der Möglichkeit eines kommunistisch beeinflußten bzw. dominierten Deutschlands. Um dieser Bedrohung zu begegnen, brauchte Großbritannien die politische, militärische und vor allem finanzielle Unterstützung der Amerikaner, für die andere internationale politische Ziele wichtig waren und die ja ihre eigenen Gründe hatten, ihre Armeen aus Europa abzuziehen. In der Zeit zwischen der Jalta-Konferenz und der Potsdamer Konferenz wuchs bei Churchill dieses Mißtrauen. Er versuchte mehrmals, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß die sowjetische Politik mit tiefster Besorgnis zu betrachten sei. Nach Roosevelts Tod intensivierte er diese Anstrengungen in der Hoffnung, den außenpolitisch noch unerfahrenen Truman für seine Sicht zu gewinnen. Schon am 12. Mai 1945 benutzte er in einem Telegramm an Truman den Ausdruck, der im folgenden Jahr in seiner Fulton-Rede weltberühmt werden sollte: "Vor der Front der sowjetischen Truppen ist ein eiserner Vorhang niedergegangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht". 5 Mit diesem Mißtrauen verbunden ging das Ziel, die traditionelle Rolle als Weltmacht auch in der Zukunft weiter spielen zu können. Um dieses zu erreichen, wünschte Großbritannien die Fortsetzung der Kriegskoalition in der Nachkriegszeit, denn "Wenn nicht mehr zu dritt oder zu viert debattiert und entschieden wurde, wenn die Allianz vollends zerfiel, wenn die Polarisierung Großbritannien 4

Hennann Grarnl, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Frankfurt. 1985. S. 104.

, Public Record Office. PREM 495/1.

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ans westliche Lager fesselte, dann verlor die britische Stimme zwangsläufig an Gewicht, schrumpfte der Handlungsspielraum gegenüber den stärkeren amerikanischen Freunden, geriet Großbritannien unweigerlich in Gefahr, zum abhängigen Juniorpartner der westlichen Führungsrnacht USA abzusinken ... 6 Unter diesem Gesichtspunkt entwickelte die britische Regierung eine sogenannte "duale Politik" [dual policy], wobei die Außenministerkonferenzen eine zentrale Rolle spielen sollten. Diese Konferenzen dienten dem Ziel, ein Forum für alliierte Verhandlungen über einen Friedensvertrag zu gestalten; für die Öffentlichkeit wurde auf diese Weise der Eindruck der fortbestehenden alliierten Zusammenabeit gewährleistet. Die Historikerin Anne Deighton ist aber der Meinung, daß für Großbritannien das Hauptziel darin bestand, mittels einer wirksamen westlichen Allianz eine Containment-Politik gegenüber der sowjetischen Machtpolitik zu betreiben? Von dieser Perspektive aus müßte die Wiederherstellung der deutschen Einheit einen sekundären Platz einnehmen. Die britische Deutschlandpolitik zielte in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorrangig darauf, "drakonische" (so Troutbeck im Juli 1945) wirtschaftliche Maßnahmen zu treffen, eine gesunde demokratische Basis zu schaffen und eine effektive Entnazifizierungspolitik durchzuführen .. Eine Auswirkung dieser Haltung, die 1989/90 von Wichtigkeit werden sollte, ist die Verbindung der deutschen Einheit mit der Stellung Großbritanniens als unabhängiger Weltmacht - ein Punkt, der unten näher untersucht werden soll. Hier darf erwähnt werden, daß der Regierungswechsel von der konservativen zur Labour-Führung, der während der Potsdamer Konferenz stattfand, keine Veränderung in den Grundlinien der britischen Deutschlandpolitik mit sich brachte. Sowohl die neue Labour-Regierung unter Attlee und vor allem sein Außenminister Bevin wie auch Churchill, jetzt als Oppositionsführer, warnten vor der wachsenden sowjetischen Gefahr und befürworteten eine Politik, deren Hauptziel darin bestand, den westlichen Einfluß in West-Europa zu stärken. In diesem Sinne hatte sich die britische Position etwas schneller als die amerikanische entwickelt. Churchills Fulton-Rede vom März 1946, wo er erneut vom Eisernen Vorhang in Europa sprach, fand diesmal ein größeres Echo bei den Amerikanern. Kurz darauf, im Mai 1946, diskutierte das britische Kabinett zum ersten Mal ernsthaft die Möglichkeit einer permanenten Teilung Deutschlands, um die weitere westliche Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern und damit den Prozeß, der in

6

Graml, op.cit. S.93.

7 Anne Deighton, The Impossible Peace; Britain, The Division of Germany and the Origins of the Cold War, Oxford, 1990, S. 6.

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Potsdam in Gang gesetzt wurde, zu Ende zu bringen. 8 Während dieser Zeit wurde die Grundlage für einen überparteilichen Konsens in der Frage der Deutschlandpolitik gelegt, der in seinem breiten Umfang bis heute noch gilt. Die Frage des britischen Weltmachtstatus ist mit diesen Überlegungen eng verbunden. Die ernste wirtschaftliche Situation sowohl in Großbritannien wie auch in der britischen Besatzungszone, vor der sich die britische Regierung befand, machte die weitere amerikanische Teilnahme am Wiederaufbau Europas unentbehrlich. Die britische Regierung verstand aber sehr klar, daß ohne eine starke sicherheitspolitische Imperative für die USA mit dieser finanziellen Unterstützung nicht zu rechnen sei. Die daraus resultierende Stärkung des amerikanischen Einflusses auf Europa paßte zwar gut in das britische Selbstverständnis der Rolle Großbritanniens in der internationalen Politik der Nachkriegszeit ein. Churchill entwickelte das Konzept der drei sich überlappenden Kreise (und zwar die USA, das Commonwealth und Europa), die die Schwerpunkte der britischen Außenpolitik bestimmten. Auf Grund einer britisch-amerikanischen Partnerschaft hoffte die britische Regierung, die amerikanische Europapolitik zu ihrem Vorteil weiter zu beeinflussen. Wichtige Schritte in diesem Prozeß waren erstens die Pläne für die Schaffung der Bizone und zweitens die Rede Außenminister Bevins im Januar 1948, in der er für eine starke Westliche Union argumentierte, die eine einheitliche anti-sowjetische Politik betreiben sollte. Es erhebt sich dann die Frage, welche Rolle die Wiederherstellung der deutschen Einheit in dieser Politik spielte. Um diese Frage zu beantworten, kann festgestellt werden, daß die Wiedervereinigung Deutschlands für Großbritannien im Laufe der Jahre vom zweiten Platz auf der Tagesordnung rückte, d. h. nach dem erfolgreichen demokratischen Wiederaufbau der Bundesrepublik und deren Integration in das westliche Bündnissystem, und zu einem politischen Fernziel wurde. Die britische Regierung nahm eine sehr pragmatische Haltung in dieser Frage ein, die weitgehend vom Ost-West-Verhältnis und von der etwas distanzierten Position Großbritanniens im europäischen Integrationsprozeß bestimmt wurde. Auf das Ziel der Wiedervereinigung wurde zwar nie offiziell verzichtet - so lange sie noch höchst unerreichbar schien. Seitens der Labour-Regierung und in der britischen Kontrollkommision wurde mit einem Fortbestehen der Vierrnächtekontrolle und einer Besatzungszeit von bis zu 40 Jahren gerechnet;9 letztere sollte sicher ausreichen, die Entnazifizierung und die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft 'Ebenda, S. 73n. • James P. MaylWilliam E. Paterson, Die Deutschlandkonzeptionen der britischen Labour Party, 1945-1949, in Politische und Ökonomische Stabilisierung Westdeutschlands 1945-1949, hrsg. von Claus Scharf und Hans-Jürgen Schröder, Wiesbaden, 1977, S. 91.

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durchzuführen, um dadurch die Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus unter Kontrolle zu halten. In der Zeit zwischen 1945 und 1989/90 wurde die Ernsthaftigkeit der britischen Befürwortung der deutschen Wiedervereinigung nur einmal auf die Probe gestellt. IO Nach dem Scheitern der Genfer Gipfelkonferenz 1959 argumentierten einige prominente Labourabgeordnete von den Oppositionsbänken für die sogenannte de-facto Anerkennung der DDR als Mittel, den Dialog zwischen den beiden deutschen Staaten über deren eventuelle Vereinigung zu ermöglichen. 11 Diese Idee sollte innerhalb der Labour-Partei noch mehr Unterstützung finden, als zwei Jahre später West-Berlin durch den Bau der Mauer abgeriegelt wurde. Trotz weitgehender Empörung in der britischen öffentlichen Meinung über den Bau der Berliner Mauer 1961 wuchs innerhalb der Labour-Partei die Unterstützung für eine de-facto-Anerkennung, diesmal als Mittel, den Ost-West-Verhandlungsweg zu ebnen. 12 Doch von Regierungsseite her spielte die strikte Ablehnung der politischen Legitimität der DDR eine wichtige Rolle in der Unterstützung sowohl für die Wiedervereinigungspolitik der westlichen Allianz wie auch für die politische, wirtschaftliche und militärische Integration der Bundesrepublik in den Westen. In London wurde klar verstanden, diese Politik sei notwendig, um der sowjetischen Hegemonialpolitik Grenzen zu setzen. Tatsächlich nahmen die Westmächte den Bau der Berliner Mauer zum Anlaß, ihre Unterstützung für die deutsche Wierdervereinigung innerhalb eines westlichen Bündnisses zu bestätigen. Auch der Abschluß von Willy Brandts Ostpolitik im Jahre 1972 änderte diese Einstellung nicht grundsätzlich; die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Großbritannien und der DDR im Frühjahr 1973 wurde als weitere U nterstützung für die politischen und diplomatischen Ziele eines wichtigen und engen Partners, nicht als Bruch mit der bisherigen Politik verstanden. Die DDR mußte sich mit dieser zweitrangigen Stellung einfach abfinden.

IO

Stalins "Wiedervereinigungsangebot" des Jahres 1952 fand in Großbritannien keine Resonanz.

11 Marianne Bell, Britain and the GDR - The Politics of Non-Recognition, M.Phii Thesis, University ofNottingham, 1978, S. 215 - 235.

Marianne Howarth (forrnerly Bell), East Germany at Westminster - The Campaign for Recognition, GDR Monitor, No. 5, Sommer 1981, S. 6-7. 12

4*

Labour Party Annual Report, 1961, S. 163 - 180.

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C. Die Ähnlichkeiten und die Unterschiede in der britischen Haltung 1945 und 1989190 Damit wird das zweite Thema in diesem Beitrag schon angeschnitten, nämlich die Notwendigkeit im Jahre 1989 für die britische Deutschlandpolitik sich an neue Verhältnisse in Deutschland zu gewöhnen. Angesichts der Treue, die Großbritannien der Bundesrepublik in der Frage der Wiedervereinigungspolitik jahrzehntelang geleistet hatte, sollte mit britischer Unterstützung für die ernstzunehmenden Möglichkeiten einer Wiederherstellung der deutschen Einheit zu rechnen. Dieser Prozeß setzte sich aber nur sehr langsam und seitens der britischen Regierung mit großem Bedenken ein. Zwei Einflüsse scheinen hier eine Rolle zu spielen. Erstens - und hier war die britische Regierung keineswegs isoliert - wie andere Staaten verstand die britische Regierung den sowjetischen Reformprozeß unter Gorbatschow zunächst hauptsächlich als begrüßenswerte Liberalisierung der innenpolitischen Ordnung in den osteuropäischen Staaten, nicht aber als Bedrohung des machtpolitischen Status quo in Europa. Frau Thatcherhatte schon ein gutes persönliches Verhältnis zu Gorbatschow entwickelt. In der bi-polaren Welt der 80er Jahre hoffte sie, soweit wie möglich normale Beziehungen zur SowjetUnion zu entwickeln. Die Gelegegenheiten, den Handel und den Export auf- und auszubauen, waren hier von Wichtigkeit. Nach Gorbatschows Besuch in Großbritannien im Dezember 1984 beschrieb sie ihn in der Presse als "einen Mann, mit dem wir Geschäft machen können". Damit griff sie auch auf die alte Perspektive Churchills von der Rolle Großbritanniens in der Weltpolitik zurück. Mehrere Kommentatoren haben die romantischen Aspekte von Churchills und Thatchers Bild der Weltrolle Großbritanniens erwähnt. Churchill betonte immer wieder das Große in Großbritannien. Dieses Bild prägte auch die Haltung Thatchers. 13 Gestützt sowohl durch den Sieg im Falkland-Krieg und die starke innenpolitische Position ihrer Partei wie auch durch ihre ausgezeichnete persönliche Beziehung zum amerikanischen Präsidenten Reagan interpretierte Thatcher die neuen Entwicklungen im sowjetischen Bereich als Bestätigung der Richtigkeit der westlichen - sprich britischen '- politischen Linie in der Weltpolitik der 80er Jahre. Vor allem hat die Thatcher-Regierung die mögliche Bedeutung des Endes der Breshnew-Doktrin und der Adoptierung der sogenannten Sinatra-Doktrin für die europäische Ordnung unterschätzt. Die Reaktionen der chinesischen Führung auf 13 .. A romantic idea of what Britain should be was at the heart of Thatcherism", Interview mit PaJrick Cosgrave, Politischer Berater bei Margaret Thatcher, 1975-79, The Living Dead, Fernsehsendung, BBC 2, 13.6.95.

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den Protest am Tiannamen-Platz im Mai 1989, die von der britischen Fernsehjournalistin Kate Adie einem weltweiten Fernsehpublikum besonders detailliert und tapfer nahegebracht wurden, lieferten der britischen Regierung eine Einsicht in die mögliche offizielle Reaktion auf ähnliche Ereignisse in der DDR und anderen osteuropäischen Staaten. Der Anfang der öffentlichen Protestbewegung in der DDR und die Softline der ungarischen Regierung sowie die schnelle Änderung des politischen Klimas in Osteuropa im Sommer und im Herbst 1989, die rasch zur Öffnung der Berliner Mauer und schließlich zur Wiederherstellung der deutschen Einheit führten, stellten die Grundprinzipien der britischen Deutschlandpolitik in Frage. Schon im September 1989 ließ Thatcher Gorbatschow wissen, daß die NATO wegen der möglichen Gefährdung der Bipolarität in Europa über die Wiedervereinigung Deutschlands Bedenken habe - Bedenken, die damals auch von Gorbatschow und der Sowjet-Union geteilt wurden. 14 Als zweiter Einfluß sind die Kindheitserfahrungen Thatchers vielleicht von Bedeutung. Während des Krieges in der mittelenglischen Provinzstadt Grantham großgeworden, scheint Thatcher im Moment der Wiederherstellung der deutschen Einheit auf das stereotypische Feindbild Deutschlands als herrschaftsüchtige Großmacht zurückgreifen zu wollen. Interessant sind in dieser Hinsicht die Parallele mit Churchill, obwohl Churchill keine tiefeingebettete Deutschlandfeindlichkeit vorzuwerfen wäre. Aber wie Churchill seinerzeit hatte Thatcher vor ihrem Amtsantritt wenig persönlichen Kontakt zu Deutschland oder zu Deutschen. Wie Churchill wurde ihr Deutschlandbild zunächst unter dem Einfluß eines Weltkrieges gestaltet und im Falle Thatchers dauerhaft negativ geprägt. 15 Wie dem auch sei, Thatcher reagierte nach der Öffnung der Berliner Mauer aus bündnispolitischen Gründen zunächst sehr besorgt auf die schnelle Reaktion Bundeskanzler Kohls, der seine Reise nach Polen unterbrach, um am 10. November 1989 an den Feierlichkeiten in Berlin teilzunehmen. Knapp drei Wochen später legte er dem Bundestag sein Zehn-Punkte-Programm vor, ohne in der Zwischenzeit den Rat seiner engsten Verbündeten gesucht zu haben. Sein Zögern, die Position der Bundesrepublik in der Frage der Oder-Neiße Grenze klarzumachen, gab für Großbritannien weitere Gründe, einen deutschen Alleingang in östliche Richtung zu befürchten. Das Ergebnis war ein wenig produktiver Versuch, den Annäherungsprozeß zwischen Ost und West zu bremsen, um britische Interessen,

'4 Margaret Thatcher, op. cit., S. 792. '5 Gordon A. Craig, Churchill and Germany, in Churchill, hrsg. von Robert Blake und W. Roger Louis, Oxford, 1993, S. 350. David Marsh, Germany and Europe - The Crisis of Unity, London, 1994,S. 45.

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so wie sie von Thatcher artikuliert wurden, zu gewährleisten. Schwerpunkt dieser Interessen war das Machtgleichgewicht in Europa, welches durch ein wiedervereinigtes Deutschland in Frage gestellt werden könnte. 16 Zum ersten Mal seit der unmittelbaren Nachkriegszeit gingen die deutschlandpolitischen Interessen Großbritanniens und der Bundesrepublik deutlich auseinander. 17 Es folgte eine Periode der Unsicherheit und der Bitterkeit in den deutschbritischen Beziehungen. Das ohnehin schlechte persönliche Verhältnis zwischen Thatcher und Kohl erreichte im Frühjahr 1990 seinen niedrigsten Punkt und konnte erst Ende Februar 1990 durch das geschickte Manövrieren Außenminister Hurds und die Vereinbarungen über die 2+4-Verhandlungen gerettet werden. 18

D. Potsdam 1945 - Berlin 1989/90 Um diese für die Thatcher-Regierung uncharakteristische Periode der Unsicherheit näher zu erklären, ist es nützlich, diese Zeit mit der britischen Haltung zur Zeit der Potsdamer Konferenz zu vergleichen. Hier soll aber zunächst ein Unterschied genannt werden, der von Wichtigkeit scheint, nämlich die Differenzen zwischen Thatcher und ihrem Außenminister, Douglas Hurd, in dieser Frage. Im Gegensatz zu 1945 vertraten Downing Street und das Foreign Office über die geeignete britische Reaktion auf innen- und außenpolitische Entwicklungen in Deutschland und im Sowjetbereich unterschiedliche Meinungen. Im allgemeinen aber ist die negative Reaktion Thatchers auf ähnliche Überlegungen zurückzuführen wie im Jahre 1945. Damals führten die Überlegungen zu einer schnellen und flexiblen Revision der britischen Hauptziele in bezug auf die Deutschlandpolitik. Im Jahre 1990 kam zwar die Revision etwas verspätet, so daß Großbritannien mit seinen westlichen Partnern außer Schritt geriet, doch waren die Überlegungen ähnlich. Dazu zählten aus britischer Perspektive an erster Stelle Besorgnisse über eine Bedrohung des Gleichgewichts in Europa und eine Wiederauflebung des Nationalismus in Deutschland. Um, wie Thatcher in ihren Me~oiren schreibt, diese Gefahr zu vermeiden, zielte ihre Politik auf den Aufbau der Demokratie in der ehemaligen DDR und eine Verlangsamung des Einheitsprozeßes, weil eine ver-

16

Margaret Thatcher, op. cit., S.790.

17 Die britische öffentliche Meinung teilte die negative Haltung der Regierung zu dieser Zeit keineswegs im selben Maße. \8

The Guardian, 21. Februar 1990.

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größerte Bundesrepublik die europäische Ordnung destabilisieren würde. 19 Wie 1945, aber aus anderen Gründen, sah die britische Regierung 1989/90 keinen Grund, die deutsche Einheit schnell wieder herzustellen. Im Gegensatz zu 1945 aber, als die permanente Teilung Deutschlands weder als Notwendigkeit noch als politische Priorität gesehen wurde, schien 1989/90 die Existenz von zwei Staaten in Deutschland gewisse sicherheitspolitische Vorteile für Europa anzubieten, die der britischen Regierung in der damaligen Situation attraktiver als die Alternative eines deutschen Großstaates schienen. Mit dieser Überlegung verbunden ging die Erwartung, daß die wirtschaftliche Stärke des wiedervereinigten Deutschlands zwangsläufig zu einer deutschen Hegemonie in Europa führen würde. 20 Dies wiederum würde die Unterminierung der erst vor kurzem wiedergewonnen britischen Prestige im internationalen Kontext mit sich bringen. Über den tatsächlichen Stand der DDR-Wirtschaft zu dieser Zeit waren wenig zuverlässige Informationen vorhanden. In dieser Hinsicht hatte Großbritannien wie andere Länder 1990 größeren Grund, ein einheitliches Deutschland zu befürchten als es 1945 der Fall war. Wie im Jahre 1945 bestand 1990 für Großbritannien eine Ungewißheit über sowjetische Ziele und Absichten. 1945 ging es zwar um tiefes Mißtrauen der sowjetischen Politik unter Stalin gegenüber. 1990 aber ging Großbritannien davon aus, daß Gorbatschows Stellung und damit der junge Reformprozeß im Sowjetbereich durch eine zu schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten gefährdet werden könnte. Diese Haltung wurde jedoch im Februar 1990 in Frage gestellt, als Kohl (der seine Verbündeten auch hier nicht konsultiert hatte) und Gorbatschow sich über das Prinzip einigten, daß das deutsche Volk die Einheit der Nation bestimmen sollte. Unter diesen Bedingungen war für Großbritannien die Frage der zukünftigen Rolle der Nato und der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO von großer Wichtigkeit Es wurde für notwendig gehalten, eine mögliche Isolation der Sowjet-Union zu vermeiden, um ein Gegengewicht zu Deutschland zu leisten. Um diesen sicherheitspolitischen Rahmen in Europa zu garantieren, bestand für Großbritannien die Notwendigkeit, wie auch im Jahre 1945, sich auf die Amerikaner zu verlassen. In dieser Hinsicht wurde Großbritannien enttäuscht. In der Zeit zwischen November 1989 und März 1990 argumentierte Großbritannien gegen die schnelle

'9 Margaret Thatcher, op. ci!., S. 813 - 814. 20 Stephen Padgett, British Perspectives on the Gennan Question, Politics and Society in Gennany, Austria and Switzerland, Vol. 3, No.l, 1990, S. 32 - 37.

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Wiedervereinigung Deutschlands und für die Stärkung des westlichen Bündnisses von einer isolierten Position, die an Churchills Warnungen vor einem Eisernen Vorhang im Jahre 1945 erinnert. Die Amerikaner teilten die deutschlandfeindliche Haltung Thatchers nicht, hatten vielmehr Vertrauen in Kohl und unterstützten ihn bei seinem Vorhaben, von dieser einmaligen Gelegenht:it, das geteilte Deutschland wirtschaftlich uind politisch zu vereinigen, zu profitieren. Die Kühlung der sogenannten Special Relationship [Sonderbeziehung] zwischen Großbritannien und den USA, die mit dem Amtsantritt Präsidenten Bush bemerkbar war, und die amerikanische Bewertung der Bundesrepublik als engsten europäischen Verbündeten spielten dabei eine maßgebliche Rolle.

E. Schlußbemerkungen In diesem Beitrag ist versucht worden, an Hand des britischen politischen Verhaltens gegenüber Deutschland 1945, zur Zeit der Potsdamer Konferenz, und 1989/90 zur Zeit der Wende, einige kontinuierliche Aspekte der britischen Deutschlandpolitik zu identifizieren und zu besprechen. Als Schlußbemerkung sind folgende Überlegungen hervorzuheben. Erstens, wie im Frühjahr 1945 suchte Großbritannien 1990 eine Lösung des Problems der Wiederherstellung der deutschen Einheit auf internationaler Ebene; 1945 mittels der Außenministerkonferenzen der Alliierten, 1990 mittels der EG-Außenministerkonferenzen und der 2+4 Verhandlungen. Ein solcher Mechanismus schien für die Selbsteinschätzung Großbritanniens als Weltmacht wichtig. Zweitens, im Gegensatz zu Potsdam - und als Streitpunkt mit Kohl - bewertete die britische Regierung 1990 die sowjetische Rolle bei der Entwicklung der Deutschland- und Europapolitik sehr positiv. Auf Grund dessen wollte Großbritannien die Sowjet-Union in den zukünftigen europäischen Rahmen integrieren und auf diese Weise, das Machtgleichgewicht in Europa garantieren. Drittens, trotz anfänglicher Schwierigkeiten hat Großbritannien die Realität der deutschen Einheit als Grundlage der heutigen bilateralen Beziehungen akzeptiert. Auf der einen Seite kann die hohe britische Investition in die neuen Bundesländer und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen z. B. Rover und BMW nur positiv bewertet werden. Auf der anderen Seite bedeutet das nicht, daß sich diese Beziehungen immer problemfrei entwickeln; zum Beispiel, der Austritt Großbritanniens aus dem Europäischen Währungssystem im September 1992 war in beiden Ländern auf Regierungsebene mit einem bitteren deutsch-britischen Streit verbunden, der manchmal ganz persönliche Dimensionen annahm. Ähnliches gilt für die Kritik der britischen Regierung, die in letzter Zeit von der deutschen Regie-

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rung, von den deutschen Medien und von deutschen Umweltschutzorganisationen wegen der Beschlüsse der Firma Shell UK in bezug auf die Verschrottung der Ölplattform, Brent Spar, zum Ausdruck gebracht worden ist. Die euro-skeptischen, anti-föderalistischen Elemente in der britischen Politik reagieren darauf mit voraussehbarer Empörung. Aber es sind nicht wenige in Großbritannien, die darauf hinweisen, daß eine ebenso heftige Kritik der neuen französischen Politik, in der Paziflk Nukleartests durchzuführen, seitens der deutschen Regierung in vergleichbarem Maße bislang ausgeblieben ist. Die ersten britischen Reaktionen auf die Möglichkeiten der Wiederherstellung der deutschen Einheit wurden sowohl von der britischen Haltung dem geteilten Deutschland gegenüber geprägt wie auch durch die Notwendigkeit beeinflußt, in der post-bipolaren Welt den sicherheitspolitischen Rahmen des Kalten Krieges weiter beizubehalten. Diese Zeiten sind vorbei. Die heutige britische Deutschlandpolitik muß darauf zielen, flexibel und zukunftsorientiert zu sein und dabei eine Bilanz zwischen den Lehren der Vergangenheit und den Gelegenheiten der Zukunft zu ziehen.

Frankreich und die Potsdamer Konferenz· Die Deutsche Einheit in französischer Perspektive Von Dietmar Rüser "La lecture du long communique de Potsdam fait penser a maintes resolutions genevoises qui.[aute de pouvoir enoncer un accord sur le fond. renvoyait soigneusement ades procidures. Cest ce que fait la Confirence de Potsdam pour les probLemes les plus graves ... ..I

Über Jahrzehnte hinweg galt die französische Deutschlandpolitik nach Befreiung und Kriegsende in Wissenschaft und Öffentlichkeit als eine kompromißlose Revanchepolitik, die sich von den Pariser Ansätzen der ersten Nachweltkriegszeit nicht grundsätzlich unterschied. 2 Die Vorwürfe bewegten sich vor allem auf zwei Ebenen, die aufs Engste miteinander zusammenhängen. Zum einen habe Frankreich territoriale Höchstforderungen gestellt bis hin zur Annexion des linken Rheinufers, des Ruhrgebiets sowie des Saarlandes, daneben eine "Zwergstaatenpolitik" betrieben mit dem Ziel einer Zerstückelung Deutschlands in eine Vielzahl souveräner Einzelstaaten. 3 Zum zweiten habe Frankreich das Potsdamer Abkommen unterlaufen, durch ausdrückliche Vorbehalte gegen Zentralverwaltungen und Wirtschaftseinheit den Alliierten Kontrollrat zur Handlungsunfähigkeit verdammt und somit die deutsche Teilung schon früh maßgeblich präjudiziert. 4 I MAE, Note du jurisconsulte du departement. Jean Basdevant, au Ministre [Georges Bidaultl a.s. Communique de Potsdam, 07.08.45, AMAE Y (1945/49) 676.

2 Als klassische Darstellungen zur französischen Deutschlandpolitik ohne Zugang zu staatlichen Archivmaterialien vgl. Frank Roy Willis, The French in Germany 1945-1949, Stanford 1962; Adalben Korff, Le revirement de la politique fran~aise a l'egard de I'Allemagne entre 1945 et 1950, AmbillyAnnemasse 1965; Alfred Grosser, La IV e Republique et sa politique exterieure, 3.Auflage, Paris 1972. Traditionelle Deutungsmuster zuletzt bei Andre Kaspi, La Liberation de la France (Juin 1944 - Janvier 1946), Paris 1995, S.243f.

'Klassisch Hans-Jürgen Wünschei, Die Teilungspläne der Alliierten und die Forderungen Frankreichs nach Abtrennung des linken Rheinufers 1943-1947, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 5 (1979) S.357-372 (36lff.); zuletzt Jochen Dankert, Deutschlandpolitische Vorstellungen de GaulIes, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 39 (1991) S.211-230 (214ff.). • Klassisch Ernst Deuerlein, Frankreichs Obstruktion deutscher Zentralverwaltungen 1945, in: Deutschland-Archiv 4 (1971) S.466-491; ,zuletzt Jürgen Schwarz, Französische Deutschlandpolitik von 1944 bis 1953, in: Heinrich Bodensieck e.a., Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung bis zum Tode Stalins. Berlin 1994. S.63-82 (68ff.).

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Die Öffnung der französischen Archives seit Mitte der 80er Jahre ermöglichte es, solch pauschale Aussagen zu überprüfen. Die Konfrontation mit den Quellen führte rasch zu neuen Fragestellungen, Einschätzungen und Gewichtungen,6 zunächst auf der besatzungs-, dann auch auf der deutschlandpolitischen Ebene. 7 In vier Schritten soll im folgenden versucht werden, einige Aspekte aufzuzeigen, die dem traditionellen Bild französischen Vorgehens als rein destruktiv entgegenstehen und schon für das Jahr 1945 eine komplexere Sichtweise nahelegen. Zunächst gilt es einige Strukturelemente der Deutschlandplanungen vorzustellen, die sich schon im äußeren Widerstand bzw. gleich nach der Rückkehr in die Metropole im Sommer 1944 abzeichneten und langfristig Wirkkraft behielten. Dann soll die französische Haltung zur politischen bzw. wirtschaftlichen Einheit Deutschlands analysiert werden, wie sie sich aus den frühen Regierungsrichtlinien im Vorfeld Potsdams ableiten läßt. Danach geht es um die Konferenz als solche, um die Reaktionen Frankreichs auf deren Ergebnisse und die interalliierte Politik in der Frage deutscher Zentralverwaltungsstellen. Schließlich soll auf die Bedeutung Potsdams für die Pariser Entscheidungsprozesse zur deutschen Frage und die praktische Deutschlandpolitik der Folgezeit eingegangen werden.

A. Elemente früher französischer Deutschlandplanungen Im äußeren Widerstand, vor allem seit Herbst 1943 in Algier, entstanden die ersten langfristig relevanten Planungsarbeiten zur deutschen Frage nach Kriegs5 Als Archivkürzel finden im folgenden Verwendung: AMAE (Archives du Ministere des Affaires Etrang~res, Paris), AMF (Archives Jean Monnet, Genf), AN (Archives Nationales, Paris), AOFAA

(Archives de l'Occupation Fran~aise en Allemagne et en Autriche, Colmar), APGG (Archives privees Gilbert Grandval, Saint-Cloud), IPMF (Institut Pierre Mend~s France, Paris), SAAN (Service des Archives de I'Assemblee Nationale, Paris), SAEF (Service des Archives du Minist~re de I'Economie et des Finances, Paris / Fontainebleau) und SHAT (Service Historique de I'Arrnee de Terre, Vincennes). Als Abkürzungen für publizierte Quellen dienen: DBPO (Documents on British Policy Overseas, London), FRUS (Foreign Relations of the United States / Diplomatie papers, Washington) und JORF (Journal Officiel de la Republique Fran~aise, Paris). • AIs neuesten Überblick zur Forschungslage vgl. Rainer Hudemann, Frankreichs Besatzung in Deutschland. Hindernis oder Auftakt der deutsch-französischen Kooperation? in: Joseph Jurt (Hg.), Von der Besatzungszeit zur deutsch-französischen Kooperation, Freiburg 1993, S.237-254 sowie RudolfMorsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung.und Entwicklung bis 1969, 3.Auflage, München 1995, S.139ff. 7 Als Pionierstudien seien erwähnt Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988 sowie Martina Kessel, Westeuropa und die deutsche Teilung. Englische und französische Deutschlandpolitik auf den Außenrninisterkonferenzen 1945-1947, München 1989.

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ende. Federführend tätig wurde unter Führung de Gaulles eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die sich bei der Befreiung Frankreichs in deutschlandpolitischen Schlüsselpositionen wiederfinden sollten, sei es in der Provisorischen Regierung, sei es in der Spitzenverwaltung. Dazu gehörten - um nur einige zu nennen - Herve Alphand, Laurent Blum-Picard, Maurice Couve de Murville, Maurice Dejean, Guillaume Guindey, Rene Massigli, Rene Mayer, Pierre Mendes France, Robert Marjolin, Jean Monnet, Andre Philip oder Rene Pleven. 8 Die 1943/44 erstellten Konzeptionen behandelten selbstverständlich sämtliche Facetten des Deutschlandproblems. Nach Jahren der Besatzung und Ausbeutung, des Krieges und Exils, ging es grundsätzlich darum, Rang und Größe der Nation wiederherzustellen, es ging um Möglichkeiten zur Modernisierung Frankreichs und um die Nutzung aller sich bietenden Chancen auf dem Weg dorthin. Es wurde die Abtrennung westdeutscher Territorien mit allen Vor- und Nachteilen diskutiert, die Frage eines möglichen Zusammenschlusses westeuropäischer Länder und Regionen, das Problem deutscher Reparationen und Restitutionen. Dennoch war 1943/44 nicht 1917/18. Dabei spielten die - selbst gemachten oder wahrgenommenen - Erfahrungen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ein gewichtige Rolle, vor allem aber die Traumata der 30er Jahre. Gerade den jüngeren Akteuren galten sie als Inbegriff für den politischen, wirtschaftlichen und moralischen Verfall des Landes, als Nährboden des militärischen Desasters vom Juni 1940 und als Gegenbild dessen, was sie sich für das Nachkriegsfrankreich erhofften, nämlich die Schaffung einer anerkannten modernen Industrienation im westlichen Europa. 9 Die neuen französischen Führungskräfte besaßen ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Notwendigkeit möglichst flexibler und anpassungsfahiger Deutschlandstrategien, um angesichts der Unsicherheiten über die Zielvorstellungen der "Großen Drei" eigene Handlungsspielräume nicht mittel- und langfristig einzuengen. Sie sorgten sich um die fatalen Konsequenzen einer rein repressiven Politik bzw. einer "Morgenthauisierung" beim östlichen Nachbarn und erkannten die Vorteile eines Deutschland, das unter organischer Kontrolle der Alliierten für den Wiederaufbau Europas produziert. Sie thematisierten die Nachteile von materieller Not, Arbeitslosigkeit, Unzufriedenheit und Unruhe inmitten des alten Kontinents und sahen bereits am geopolitischen Horizont die mögliche Ausnutzung eines solchen • Vgl. Dietmar Hüser, Frankreichs "doppelte Deutschlandpolitik". Dynamik aus der DefensivePlanen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996, S.227-252. • Zum Einvernehmen einer ganzen "classe politique" darüber, daß sich künftiges Machtpotential in der Weltpolitik primär anhand von Wil1schaftskraft mißt, vgl. Rene Girault / Robert Frank (Hg.), La puissance fran~aise en question 1945-1949, Paris 1988, vor allem die Beiträge von Girault, Frank sowie von Michel Margairaz.

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Chaos in Deutschland durch die Sowjetunion nach dem erwarteten Rückzug der angelsächsischen Truppen. Schließlich wußten sie sehr wohl um die eigene machtpolitische Schwäche bei Kriegsende und um die Grenzen rationaler Planung in Deutschlandfragen aufgrund der Vielzahl innen- und außenpolitischer Unwägbarkeiten. Schon 1944/45 galt in Paris das Ziel einer dauerhaften relativen ökonomischen Überlegenheit Frankreichs in Westeuropa als eine ganz maßgebliche Garantie künftiger Sicherheit und Friedensbemühungen, gleichzeitig als Mittel und Fundament einer integrationsorientierten Deutschlandpolitik. Dafür galt es die Basis zu legen. Die Frage war, wie dies geschehen sollte. Durch Reparationen und Restitutionen? Selbstverständlich, jedoch möglichst extensiv und möglichst kurzzeitig, weniger zur Ruinierung der deutschen Industrie als zur Erlangung eines deutlichen Vorsprungs im Rennen um ein wirtschaftliches Übergewicht im Nachkriegseuropa. Durch eine Internationalisierung der Ruhr? Auf jeden Fall, doch schon unter Berücksichtigung der potentiellen sowjetischen Rolle in einem zu etablierenden Kontrollsystem für Förderung und Verteilung der Ruhrkohle. Durch politische Abtrennungen auf dem linken Rheinufer?1O Die Debatten setzten sich fort zwischen vielfach schattierten Anhängern de Gaullescher Visionen mit einem - zumindest tendenziell - Primat der Politik und Skeptikern, die früh unter dem Primat der Wirtschaft ihre Stimme erhoben, um Sinn, Zweck und Erfolgsaussichten solcher Forderungen in Frage zu stellen. I I Es sind solche Ansätze, die nahelegen, daß die 1944/45 nach außen vertretenen maximalistischen Deutschlandpositionen nach innen einer Option im Diskussionsprozeß entsprachen, die sich im Laufe des Jahres 1945 zunehmend von anderen überlagert fand. Diese Maximalismen gehorchten von vornherein eben auch den innen- und außenpolitischen Zwangslagen Frankreichs bei der Befreiung. Sie bildeten nicht zuletzt eine Antwort auf die fundamentale Frage, wie man verhandlungstaktisch am sinnvollsten mit der eigenen machtpolitischen Schwäche umzugehen hatte, um dennoch möglichst viel für die Nation herauszuholen. Offiziell waren sie es, die damals immer wieder mit Vehemenz innerhalb wie außerhalb des Hexagons vertreten wurden. Inoffiziell war die Provisorische Regierung allerdings längst vor der Potsdamer Konferenz von einer monolithischen Deutschlandhaltung 10 V gl. mit detaillierten Quellenbelegen Dietmar Hüser, Das Rheinland in der französischen Deutschlandpolitik. Realität und Rhetorik der Abtrennungsforderung 1943-1948, in: Tilman Koops / Martin Vogt (Hg.), Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten - 1919-1930 und 1945-1949, Koblenz 1995, S. 103-128. 11 Auf den Punkt gebracht nun bei Georges-Henri Soutou, Frankreich und die Deutschlandfrage 1943-1945, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkrieges, Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S.75-116 (85-91).

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weit entfernt. Die ersten Rahmenrichtlinien des Comite intenninisteriel des affaires allemandes et autrichiennes legten zwei Tage nach Konferenzbeginn Zeugnis ab von Offenheit und Ambivalenz Pariser Vorstellungen, von fortgesetzten bzw. fortzusetzenden Diskussions- und Entscheidungsprozessen der Zentrale. 12

B. Richtlinien zur politischen bzw. wirtschaftlichen Einheit Deutschlands Wie stand nun Frankreich im Vorfeld der Potsdamer Konferenz zu den Problemen einer politischen bzw. wirtschaftlichen Einheit Deutschlands sowie zur Frage der Kooperation mit den "Großen Drei,,?13 Ohne jeden Zweifel gehörte eine möglichst weitreichende politische Dezentralisierung zu den Kernzielen. Zwar blieb der Grad einer solchen Dezentralisierung umstritten, zwar blieben die Begrifflichkeiten zwischen Staatenbund und Bundesstaat verschwommen, doch kennzeichnete das de Gaullesche Diktum "plus de Reich centralise" einen Konsens der gesamten politischen Klasse. Praktische Wirkungen zeitigte dies auf zonaler Ebene etwa in dem Versuch, die einzelnen FBZ-Länder zunächst voneinander abzuschotten, in der Ablehnung eines einheitlichen Rheinstaates, aber auch in der kritischen Distanz gegenüber einer zu frühzeitigen nationalen Ausrichtung politischer Parteien und Gewerkschaften, wodurch Dezentralisierungs- und Demokratisierungsprämissen unvenneidlich in ein starkes Spannungsverhältnis gerieten. Umstrittener war dagegen das Problem wirtschaftlicher Einheit in Deutschland. Zunächst blieb die "question de principe qui commande toute notre action en Allemagne" offen: sollte man die deutsche Wirtschaftseinheit bewahren, "ce 'qui a pour avantage de faciliter notre action de contröle et le paiement des reparations" oder sollte man eine "decentralisation progressive" befürworten, "ce qui compliquerait la täche du Conseil de Contröle et rendrait plus difficile les paiements des reparations?"14 Erst seit Mitte Juli 1945 bezog die Provisorische Regierung klar Stellung. Das Comite economique verabschiedete eine präzisierende Besatzungsdirektive, die dezidiert für eine einheitliche wirtschaftliche Behandlung Deutschlands durch die 12 Vgl. SGCIAAA, Directives pour notre action en Allemagne (Document n° 1 du CIAAA) sowie Note sur le probleme allemand (Document n03 du CIAAA), 19.07.45, AN 457 AP 60. . J3 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Auswertung der ersten Direktiven, die das Comit6 interminist6riel des affaires allemandes et autrichiennes (CIAAA) sowie das Comit~ ~conomi­ que interminist~riel (CEI) unter Vorsitz de GaulIes im Juli 1945 verabschiedeten und die Provisorische Regierung anschließend an General Koenig in Baden-Baden sandte.

'4 Vgl. MAE, Dir.Eco., Note a.s. d~sarmement ~conomique et financier de l'Allemagne, 07.07.45, AN F37 189, a.iJ.

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Alliierten eintrat. Dort hieß es, daß "une politique fran~aise d'administration independante, meme si elle avait pour objet une dislocation des territoires restes allemands, presenterait plus d'inconvenients que d'avantages," zumal die bizarr abgegrenzte französische Zone "un gage de moindre valeur que les autres zones" bilde. Daher müsse man eine "politique d'administration ou de contröle commune aux quatre puissances occupantes" anvisieren und "rester sur la reserve quant aux tendances federatives qui pourraient se manifester dans notre zone."IS Die Entscheidung zugunsten deutscher Wirtschaftseinheit fand sich in der Sitzung des Comite economique vom 13.Juli 1945, in der die Diskussion des zitierten Dokuments auf der Tagesordnung stand, bestätigt und bildete in den künftigen Instruktionen die Leitlinie französischer Politik. Als konsensfähige Minimalforderung offenbarte sich im Wirtschaftskomitee unabhängig vom Ausgang der Potsdamer Konferenz die Verwirklichung einer "direction unique du contröle entre les mains des Allies de l'Ouest" sowie die Schaffung einer "banque centrale d'emission" .16 In der Debatte um das sinnvollste Vorgehen in Deutschland, entweder einer Politik "tendant a la stabilisation de l'economie a un niveau a determiner" oder einer "politique·de prelevements massifs ... quelles qu'en puissent etre les consequences pour l'economie allemande," fiel während dieser Zusammenkunft der einstimmige Beschluß, daß "le but immediat a atteindre est le contröle integral par les Allies de l'economie de l'Allemagne, de son credit et de sa monnaie," um eine "organisation systematique de la faillite realisee au lendemain de la guerre 1914-1918 par Schacht" von vornherein auszuschließen. In beiden Richtlinien, der Ausgangsversion wie auch dem ergänzten "rapport definitif',17 erschien im übrigen die Ruhrabtrennung als ein Kontrollmittel unter anderen. Beide hielten schon das konzeptionelle Instrumentarium für den Fall eines Scheitems des Separierungsprojekts bereit, um Frankreich bei langer militärischer Besetzung des Gebiets durch industrielle Beteiligungen und Verschränkungen sowie durch effiziente Arbeit internationaler Gremien die erstrebten Kontroll-, Verfügungs- und Verteilungsrechte an der dortigen Kohle-, Koks- und Stahlproduktion dauerhaft zu sichern. Entgegen weitverbreiteter Ansichten gab es bereits im Juli 1945 - bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der politischen Dezentralisierungsmaxime - einen "MAE, Dir.:Eco., Note a.s. d~sarmement ~conomique et financier de l'Allemagne, 13.07.45, AN 457 AP63. '6 Vgl. CEI,

R~union

du Comit~ ~conomique du 13 juillet 1945, SAEF 5 A 13.

17 Vgl. ~re de la production industrielle, Schreiben Va1abr~gue an leRn mit Übersendung des Document n0185, 25.09.45, AN F12 10105.

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Konsens über die Notwendigkeit einer ökonomisch einheitlichen Behandlung Deutschlands, und dies ging nicht nur auf Initiativen der technischen Ressorts zurück. Selbst im Quai d'Orsay plädierte man für ein Deutschland als "entite economique unique", für eine gemeinsame alliierte Kohle-, Industrie-, Landwirtschafts-, Reparations-, Lohn-, Preis-, Geld-, Banken-, Steuer-, Importund Exportpolitik sowie für gemeinsame Maßnahmen bei der Bewältigung der Transport- und Kommunikationsprobleme. Zur Wahrnehmung der Aufsichtsfunktionen des Alliierten Kontrollrats über die deutsche Wirtschaft sah man gar die Schaffung von "organismes administratifs allemands" vor. lB Nur wenige Tage später führte die erste Direktive des Comite interministeriel weitere Gründe auf, die gegen eine besatzungspolitische Autarkiepolitik sprachen: "/I faut eviter que notre politique en Allemagne soit pour nous une charge inutiLe et se limite assurer Les frais d'administration et d'entretien d'une region qui n 'a pas, eile seule, des moyens d'existence suffisants. La politique de zones ... para't offrir, au stade actue~ plus d'inconvenients que d'avantages . .. , Si nous vouLons eviter que cette zone ne tombe a Ia charge de La communaute fran(:aise ... il ne faut pas que cette zone soit coupee des sources de ravitaillement et de debouches que constituaient pour elle Les autres regions de L'Allemagne. "19

a

a

Gerade die prekäre sozio-ökonomische Situation im eigenen Land und die Furcht vor einem wirtschaftlich wie psychologisch fatalen "Subventionsunternehmen FBZ" ließen Paris eine zonale Abschottung von den übrigen deutschen Gebieten ablehnen und eine deutsche Wirtschaftseinheit befürworten, sofern dies zunächst dem "inreret majeur d'une decentralisation politique" nicht entgegenstand. Kurz: politische Einheit, nein; ökonomische Einheit, ja!20 Neben politischen Gründen2l waren es vor allem solche wirtschaftlichen Überlegungen, die Frankreich prinzipiell auf das Funktionieren der Vier-Mächte-Verwaltung erpicht sein ließ. In den Pariser Julianweisungen hieß es, das deutsche 11 Vgl. MAE. Dir.Pol.. Directives relatives au contröle de I'Allemagne. o.D .• vermutlich 12.07.45. AMAE Y (1944/49) 687. 19

SGCIAAA. Document n°l. 19.07.45. AN F60 3034/2. a.i.f.

20 In diesem Sinne schon früh Rainer Hudemann. Wirkungen französischer Besatzungspolitik. Forschungsprobleme und Ansätze zu einer Bilanz. in: Ludolf Herbst (Hg.). Westdeutschland 19451955. Unterwerfung. Kontrolle. Integration. München 1986. S.167-181 (I 76f.).

21 Dazu gehörte etwa die in Kreisen französischer Deutschlandakteure konsens fähige Einschätzung. Frankreich könne sich als machtpolitisch schwächster Partner sowieso keinen Alleingang ohne fatale Folgen erlauben. daneben die Furcht. Deutschland würde Zwistigkeiten unter den Alliierten konsequent zu seinen Gunsten ausnutzen und so die französische Sicherheitsstrategie untergraben.

5 Timmennann

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Territorium und dessen Wirtschaftspotential bildeten eine nützliche "gage commun". Sie sollte erstens verhindern, daß ein Teil dieses Potentials einem der drei anderen allein zufiel. Sie sollte zweitens dazu beitragen, daß die französische Wirtschaft von den stärker industrialisierten Zonen mitprofitierte. 22 Dies hätte es ermöglicht, auf eine dauerhaft extensive ökonomiscile Nutzung zugunsten des eigenen Wiederaufbaus zu verzichten und eine Desavouierung konstruktiver Vorhaben auszuschließen. Die gemeinsame Nutzung deutscher Wirtschaftsressourcen bildete unter der Prämisse eines Gelingens alliierter Zusammenarbeit für die Provisorische Regierung eine große Chance zur Verwirklichung sicherheitspolitischer Ziele in Deutschland, nämlich der dauerhaften ökonomischen Überlegenheit bei gleichzeitiger Annäherung in anderen Bereichen. Allerdings galt dies tatsächlich nur unter der genannten Prämisse. Frankreich besaß demnach grundsätzlich keinerlei Interesse an einem Scheitern der alliierten Kooperation und einem Rückzug auf das eigene Besatzungsgebiet in Südwestdeutschland. Bezeichnenderweise erwähnten die Julidirektiven dies als "l'hypothese la plus defavorable.,,23 Diese französischen Grundhaltungen bargen besonders in zweierlei Hinsicht beträchtliches Widerspruchspotential für die Zukunft. Zum einen plante die Regierung - trotz der Vorteile, die man sich von einer geglückten Zusammenarbeit und einem einheitlichen Vorgehen in Deutschland versprach - die Möglichkeit eines Scheitems gebührend ein. Die mißtrauische Grundhaltung Frankreichs gegenüber der sowjetischen Politik trug dazu erheblich bei, und de Gaulle hob bereits in der ersten Sitzung des Comite intenninisteriel am 20.Juli 1945 hervor:

a

"Er! cas d'ichec du systeme quatre, nous pourrons essayer de nous rabattre sur un systeme de coopiration a trois. Mais il est a craindre que celui-ci, par suite d'un dipart des amiricains aplus ou moins breve ichiance. ne devienne un systeme a deux, qui sera peut-etre aliatoire. "24

Mit dieser - durchaus weitsichtigen - internen Aussage antizipierte der Regierungschef drei Sachverhalte, die in der Folgezeit gerade gegenüber den "Großen Drei" Rückendeckung für die französische Deutschlandpolitik boten. Einmal verdeutlichte er im engen Kreis relevanter Akteure das Risiko, das die Sowjetunion in seinen Augen für die künftige französische Sicherheit darstellte, 22

Vgl. SGCIAAA, Document n° 1. 19.07.45. AN F60 3034/2.

23

SGCIAAA. Document n03. 19.07.45. AN 3034/2.

24

Vgl. Compte rendu du CIAAA, 20.07.45. AN 3034/2.

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ein Risiko, das eine kurzfristige taktische Zusammenarbeit zwar erlaubte, doch unter keinen Umständen die naive Hoffnung auf eine langfristige Partnerschaft implizierte. Das de GaulIesche Eintreten für eine dauerhafte Präsenz amerikanischer Truppen in Europa seit April 1945 2s scheint symptomatisch für die frühe Einsicht in die momentan gegenüber der deutschen Gefahr bedeutendere sowjetische Bedrohung sowie das fortwirkende Rapallo-Trauma. Die mehrfach gegenüber den Angelsachsen geäußerte Furcht vor den "Russen am Rhein", vor einer sowjetisch dominierten deutschen Zentralregierung, läßt sich nicht auf rein taktische Geplänkel im diplomatischen Verkehr reduzieren, sondern entsprach der ehrlichen Besorgnis französischer Entscheidungsträger. 26 Dann räumte er den Konflikten zwischen Angelsachsen und Sowjets deutlich Priorität sowie qualitative Andersartigkeit gegenüber den Schwierigkeiten ein, die französische Deutschlandpositionen möglicherweise hervorrufen konnten. Frankreich mußte demnach zu keinem Zeitpunkt wirklich und ernsthaft befürchten, von einer Dreier-Koalition der anderen Besatzungsmächte aus manövriert zu werden. Schließlich bezog de Gaulle unmißverständlich Stellung für den Fall eines definitiven Auseinanderbrechens der Vier-Mächte-Zusammenarbeit: Frankreich wußte von Anfang an sehr wohl, welchen politisch-ideologischen Werten es sich verpflichtet fühlte, welchem Lager es sich im Ernstfall zuzuwenden hatte, mit wem sich auf lange Sicht noch Kooperationschancen ergaben und mit wem nicht. Von einer wirklichen Schaukelpolitik zwischen Ost und West, von "dechirements du choix entre Moscou et Washington'027, konnte regierungsintern gar keine Rede sein, allenfalls - aufgrund taktischer Erwägungen nach innen wie außen - im offiziellen Diskurs der Akteure. Die zweite Schwierigkeit neben dem Pariser Mißtrauen gegenüber Moskau lag im offensichtlichen Spannungsverhältnis zwischen abgelehnter Behandlung

" Vgl. Instruktionen an die französische Delegation filr die UNO-Grilndungskonferenz von San Francisco, zit nach Diskussionsbeitrag von Georges-Henri Soutou, in: De GauBe en son siecle, Bd.5: L'Ewupe, Paris 1992, S.517. Zu de Gaulles pessimistischer Einschätzung, was die Verbleibdauer von US-Truppen in Deutschland anbelangte, vgl. schon MAE, Secretariat des Conferences, Le probleme rhenan-westphalien et la situation franyaise, 22.01.45, AN 457 AP 60. ,. V gl. dazu auch Bidaults Bemerkungen vor dem außenpolitischen Ausschuß der Konstituante, SAAN Com.Aff.Etr. 05.12. u. 12.12.45, wo er als wesentliches Argument gegen deutsche Zentralverwaltungsstellen im Sinne des Potsdamer Abkommens anführte, daß mit deren Etablierung Washington sofort seine Soldaten aus Deutschland abzöge. 27 In diesem Sinne Annie Lacroix-Riz, Securite franyaise et menace militaire allemande avant la conclusion des alliances occidentales. Les dechirements du choix entre Moscou et Washington 19451947, in: Relations Internationales n051 (1987) S.289-312.

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Deutschlands als politischer Einheit und befürworteter Behandlung Deutschlands als wirtschaftlicher Einheit. Denn obschon ökonomische Einheit wie auch "alliierte Einheit" für Paris Chance und Notwendigkeit zugleich waren, gerieten beide Perspektiven rasch in Konflikt mit der - durch verinnerlichte Geschichtsbilder vom "Hitler-Staat" als konsequente Weiterführung des preußisch dominierten Deutschen Reiches unter Bismarck und Wilhelm 11. - französischen Zentralismusfurcht auf politischer Ebene. Dies war spätestens der Fall mit dem Bekanntwerden des Potsdamer Abkommens am 31.Juli 1945 und der darin enthaltenen Forderung nach zentralen deutschen Verwaltungsabteilungen. Schon zwölf Tage zuvor hatte das Comite interministeriel Koenig gewarnt, die gemeinsame Kontrolle dürfe nicht "devier vers le retablissement d'une autorite centrale en Allernagne. ,,28 Dieser Leitlinie entsprachen auch die Instruktionen der Folgemonate, Schritte in diese Richtung abzulehnen. 29 Es waren solche Vetos, die dazu Anlaß gaben, Frankreich der Obstruktion des Alliierten Kontrollrats und der Präjudizierung der deutschen Teilung zu bezichtigen. Doch litt - wie zu zeigen sein wird - die alliierte Kooperation in Berlin nicht nur unter den französischen Vorbehalten gegenüber den Potsdamer Behörden, und es gibt gute Gründe, die traditionellen Obstruktionsthesen zu nuancieren. 3D

c. Potsdamer Beschlüsse, Pariser Reaktionen und interalliierte Politik

Die Situation Frankreichs auf der internationalen Bühne des Frühjahrs 1945 war durchaus zwiespältig. Gewiß war Churchill seit den letzten Kriegsmonaten immer mehr in die Rolle eines Mentors französischer Interessen gegenüber Roosevelt und vor allem gegenüber Stalin hineingewachsen, und das britische Engagement hatte 28

SGCIAAA, Document n° I, 19.07.45. AN F60 3034/2.

29Vgl. SGCIAAA. Organisation de I'administration des transports en Allemagne (Document n024 du CIAAA). 19.09.45. AOFAA Cab.Koenig Pol. I B 3; SGCIAAA, Document n025. 19.09.45, ebd.; DOCisions prises par le CIAAA. 25.09.45. AN F60 303412; Decisions prises par le CIAAA. 15.10.45. AOFAA Cons.pol. 8 14; Decisions prises par le CIAAA. 18.01.46, AMAE Y (1944/49) 651.

'0 Daß die historische Realität sich komplexer darstellte. als die vielfach einseitigen Schuldzuweisungen für ein Scheitern der Vier-Mächte-Verwaltung an die "vierte Siegermacht" annehmen lassen. betonen - mit z.T. unterschiedlicher Quellenbasis. Argumentation und Gewichtung - Henry Rollet. Les vetos franyais au Conseil de Contröle interallie et I'unite allemande 1946-1948. in: Revue d'Histoire Diplomatique 101 (1987) S.99-114; Gunther Mai. Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945-1948. Von der geteilten Kontrolle zur kontrollierten Teilung. in: Aus Politik und Zeitgeschichte 823 (1988) S.3-14; Rainer Hudemann. Frankreich und der Kontrollrat 1945-1947. in: Klaus Manfrass/Jean-Pierre Rioux (Hg.). France - Allemagne 1944-1947. Paris 1990. S.97-118; Elisabeth Kraus. Ministerien für ganz Deutschland? Der Alliierte Kontrollrat und die Frage gesamtdeutscher Zentralverwaltungen. München 1990. S.79-119.

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zu einer beträchtlichen diplomatischen Aufwertung geführt. Im November 1944 wurden die Franzosen als viertes Mitglied in die European Advisory Commission aufgenommen; französische Truppen erhielten das Recht, sich an den Kämpfen zur endgültigen Niederringung des "Tausendjährigen Reiches" zu beteiligen; auf der Jaltakonferenz Anfang Februar 1945 bekam die Provisorische Regierung die lang ersehnte eigene Besatzungszone im Nachbarland zugestanden sowie die Teilhabe an der alliierten Verwaltung Deutschlands; im Mai 1945 wurde Frankreich als eines von fünf Mitgliedern in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen berufen. Eine solche weltpolitische Prestigesteigerung, die ohne gaullistische Obstinenz kaum denkbar schien,31 verbesserte die Ausgangsposition für die Durchsetzung gewisser internationaler Ordnungs- und Zielvorstellungen, ließ sich darüberhinaus als Mittel innenpolitischer Integration einsetzen. Dennoch handelte es sich um eine rein formale, nicht faktische Gleichberechtigung. Eine Einladung nach Jalta 32 brachte sie ebensowenig ein wie zur Potsdamer Konferenz nach Berlin: entgegen gaullistischer Wunschvorstellungen hatten sich aus den "Großen Drei" noch nicht die "Großen Vier" entwickelt: weder politisch-militärisch noch finanz-ökonomisch war Frankreich 1944/45 eine Großmacht. 33 Das Potsdamer Abkommen vom 2.August 1945 wurde Frankreich zwei Tage zuvor auszugsweise von den Botschaftern der Alliierten übermittelt. 34 Es machte dem französischen Kooperationswillen tatsächlich einen Strich durch die Rechnung, als es im Rahmen der "Politischen Grundsätze" unter Punkt 9./IV. die Einrichtung "einiger wichtiger zentraler deutscher Verwaltungsabteilungen ... , an deren Spitze Staatssekretäre stehen",35 vorsah und damit eine andere wesentliche Zielvorstellung der Provisorischen Regierung, die politische Dezentralisierung, zu durchkreuzen drohte.

3\

Diese Diagnose teilt beispielsweise Grosser, IVe Republique, S.17f.

32 Zur Einschätzung, daß sich die Abwesenheit in J alta ganz und gar nicht zuungunsten Frankreichs auswirkte, vgl. Note, La dec1aration de Jalta et les positions fran~aises, 13.02.45, AMAE Y (1944/49) 121.

33 VgJ. z.B. Rene Girault, La France est-elle une grande puissance en 1945? in: Maurice Vaisse (Hg.), Le 8 Mai 1945, La victoire en Europe, Lyon 1985, S.195-219 (216f.). 34 VgJ. z.B. Telegramm Bevin an Morrison zur Weiterleitung an Duff Cooper in Paris, 31.07.45, DBPO l/I, S.1061f. JS Potsdamer Abkommen vom 8.Februar 1945, auszugsweise abgedruckt bei Klaus-Jörg Ruhl (Hg.), Neubeginn und Restauration, Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949, München 1982, S.112-120 (115).

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Eine erste offizielle Stellungnahme als Reaktion auf die Beschlüsse von Potsdam erfolgte exakt eine Woche später in Form von sechs gleichlautenden Briefen Bidaults an die Botschafter der "Großen Drei" in Paris. Darin brachte der Außenminister seine Vorbehalte zum Ausdruck gegenüber der "creation de Departements administratifs centraux qui seraient diriges par des secretaires d'Etat dont la juridiction s'etendrait ... a l'ensemble du territoire allemand. ,,36 Frankreich wandte sich wie später immer wieder hervorgehoben - weder grundsätzlich gegen "une certaine unite de traitement," gegen zentrale Organe als solche, noch gegen eine ökonomische Einheit Deutschlands, sondern einzig und allein gegen deutsche Zentral verwaltungsstellen mit Staatssekretären als politischen Beamten an der Spitze, die man als Keimzelle einer künftigen Zentralregierung, als vorweggenommene Entscheidung über die Organisationsstruktur eines künftigen deutschen Gemeinwesens betrachtete. Auf der Londoner Außenministerkonferenz vom 11.September bis zum 2.0ktober 1945, in deren Verlauf die französische Verhandlungsdelegation mit einem präzisierenden Memorandum auf die Widersprüchlichkeit der Potsdamer Beschlüsse aufmerksam machte und erneut die ablehnende Haltung der Provisorischen Regierung gegenüber der eventuellen Errichtung einer deutschen Zentralregierung und der Bildung von Zentralverwaltungsstellen "a direction allemande" bekräftigte,37 stand die deutsche Frage nicht im Zentrum der Debatten. Als das Memorandum am 26.September tatsächlich diskutiert wurde, kam ein inhaltlicher Beschluß über das Problem der deutschen Westgrenze, an dessen Lösung Frankreich die Etablierung solcher Organe band, nicht zustande. Vielmehr schlug der sowjetische Außenminister Molotov die Klärung der Frage "through diplomatie channels" vor. 38 Zwei Tage danach einigten sich die Außenminister schließlich darauf, die Erörterungen auf bilateraler Ebene fortzusetzen. 39 Sie gaben damit der im Memorandum vom l4.September erhobenen Forderung nach Beratung und Beschlußfassung über die rheinland-westfälische Region implizit statt und nahmen in Kauf, daß dem Pariser Kontrollratsvertreter untersagt wurde, Maßnahmen zuzustimmen, die einem solchen Beschluß vorgriffen. 3. Lettres adressees aux Ambassadeurs. 07.08.45. in: Documents fran~ais relatifs 1ll'Allemagne. AoQt 1945 - F~vrier 1947. Paris 1947.5.7-11. 31

Vgl. M~morandum. 14.09.45. in: Documents fran~ais relatifs 1ll'Allemagne. 5.l3ff.

31 Vgl. United 5tates Delegation Minutes of the 23.Meeting of the Council of Foreign Ministers. 26.09.45. FRU5 1945 (11) 5.4ooff. sowie die britische Version. DBPO I1II. 5.382-388. Die "voie diplomatique" wurde von französischer 5eite später immer wieder als Rechtfertigung zitiert. vgl. z.B. MAE. Dir.Eur .. Histoire de l'affaire des administrations centrales allemandes. 12.01.46. AN 457 AP 61. 3'

Vgl. den Resolutionstext. 28.09.45. FRU5 1945 (Il) 5.429ff.

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Dieser "Diskussions- und Entscheidungsvorbehalt,,4Q stellte die Legitimationsgrundlage des Koenigschen Verhaltens im Berliner Kontrollrat dar. 41 Er besaß weder Verhandlungskompetenzen für den Problemkreis deutscher Zentralverwaltungsstellen, noch konnte er in der Folgezeit die Konstituierung solcher zentraler Behörden unterstützen, die für Frankreich politische Präjudizwirkung haUen. 42 Künftig scheiterten zentrale deutsche Verwaltungsstellen im Sinne Potsdams am Einspruch aus Paris. Der geschilderte Kontext nuanciert bereits die gängigen Vorstellungen einer konsequent destruktiven französischen Politik mit "Teilungsfolge" in Berlin aus fehlendem Verlangen nach einem funktionstüchtigen Kontrollrat, aus mangelndem Interesse an einer einheitlichen Behandlung des Nachbarlandes. Auch die praktische Arbeit der Groupe fran~ais du Conseil de Contröle, die eine aktivere Rolle übernahm als lange angenommen, relativiert solche Thesen: Im sozialpolitischen Bereich etwa - einem der wenigen wirklich erforschten Politikfelder - hielt sich die Baden-Badener Militärregierung bei Maßnahmen vor Ort weitaus enger an Kontrollratsbeschlüsse als die Briten oder Amerikaner. 43 Schließlich sind zwei weitere, eng miteinander zusammenhängende Elemente näher zu beleuchten, zum einen die französischen Kompromißvorschläge zur Schaffung alliierter Koordinierungsinstrumente, zum zweiten die alles in allem wenig eindeutigen Haltungen der "Großen Drei" zu diesem Problem. Tatsächlich betrieb Frankreich im Kontrollrat zu keinem Zeitpunkt eine "Obstruktionspolitik" um der Obstruktion willen, denn es wehrte sich nicht gegen zentrale Behörden als solche, unterbreitete gar den Alliierten eigene Vorschläge in diese Richtung. Noch bevor auf der Londoner Außenministerkonferenz das französische Memorandum zur Sprache kam, konfrontierten die Franzosen auf der 9. Kontrollratssitzung am 22.September die übrigen Mitglieder mit einer Position, die keineswegs monolithisch war. Sie machten ihre Einwände gegen eine zentrale deutsche Verkehrs- und Eisenbahnverwaltung geltend und plädierten für eine Organisation 40 Zur Bindung Frankreichs an das Potsdamer Abkommen und zur völkerrechtlichen Geltungskraft der Pariser Vorbehalte vgl. Michael Antoni. Das Potsdamer Abkommen - Trauma oder Chance? Geltung. Inhalt und staatsrechtliche Bedeutung für Deutschland. Berlin 1985. S.45f.

• , Vgl. D&:laration faite au Conseil de Contröle allie. 01.10.45. in: Documents fran~ais relatifs A I'Allemagne. S.16 . •2

Vgl. die Auflistung der Ablehnungen bei Rollet. Les vetos fran~ais. S.99f.

• 3 Vgl. dazu Hudemann. Frankreich und der Kontrollrat. S.lIOff. sowie ders .• Sozialpolitik im deutschen Südwesten. S.140 u. 170-206.

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auf regionaler Basis mit übergeordneten Koordinierungsgremien. Sie erhoben keinen Einspruch gegen den Plan. zentrale Organe für Fernmeldewesen. Post und Statistik einzurichten. da Frankreich dies nicht als "war potential question" ansah. 44 Diese Differenzierung bestätigte fünf Tage später Rene Mayer dem amerikanischen Botschafter45 und trat ebenso wie Koeltz im Koordinierungsausschuß am 12.0ktober für die Etablierung alliierter Zentralbüros zur Kontrolle und Lenkung des Fernmelde- und Transportwesens in Deutschland ein. 46 Für solche Nunacen waren allerdings weder Sokolovskij noch Robertson allzu aufgeschlossen. erst recht nicht Clay.47 Der Wunsch nach eingehenderer Beschäftigung mit der französischen Position schien äußerst gering. Diese geriet danach zunehmend in den Strudel interalliierter Klärungs- sowie respektiver Entscheidungsprozesse zum Deutschlandproblem bzw. zur französischen Haltung. was schließlich eine allseitige Blockierung im Kontrollrat heraufbeschwor. 48 Auf französischer Seite paßte sich der regierungs amtliche Standpunkt in der Zentralverwaltungsstellenfrage ein in die im Widerstand erprobte gaullistische "Strategie des schwierigen Partners". aufgrund eigener Unsicherheiten und Ignoranz alliierter Forderungen zunächst Maximales zu fordern. um wenigstens Minimales zu erreichen. doch war dies nicht unumstritten. Während sich in Paris die Kontroverse zwischen dem Regierungschef und seinem Finanz- und Wirtschaftsminister Pleven um das Primat von Politik oder Ökonomie in Deutschland und um die Rückwirkungen der einen oder anderen Entscheidung auf die hexagonalen Finanzen und Modernisierungsfortschritte drehte. traten die Besatzungsspitzen in Baden-Baden oder Berlin vor allem aus besatzungspolitischen Sachzwängen für ein geschmeidigeres Vorgehen ein. 49 konnten jedoch gegenüber de Gaulles Unnachgiebigkeit in dieser Frage nicht durchdringen.

44

Vgl. Telegramm Murphy an Byrnes, FRUS 1945 (II1) S.87lff.

4S

Vgl. Telegramm Caffery an Byrnes, 27.09.45, FRUS 1945 (111) S.878.

46

Vgl. Telegramm Murphy an Byrnes, 13.10.45, FRUS 1945 (1II) S.882f.

.7 Vgl. Telegramm Bidault an Bonnet, 03.11.45, AMAE Y (1944/49) 395. Zuletzt dezidiert dazu Gunther Mai, Deutschlandpotitische Entscheidungen im Alliierten Kontrollrat 1945-1948, in: Wilfried Loth (Hg.), Die deutsche Frage in der Nachkriegszeit, Berlin 1994, S.29-66 (42) .

.. Vgl. bereits Michel Virally, L'administration internationale de l'Allemagne du 8 mai 1945 au 24 avri11947, Paris 1948, S.lOIf./Anm.114 . • 9 Für Berlin vgl. Rotival an Koeltz, Note concernant la position franyaise vis-~-vis des organismes centraux, 03.11.45, AOFAA Cab.Koenig Pol. V A I oder Telegramme Koeltz an SGAAA im NovemberIDezember 1945, AMAE Y (1944/49) 282. Für Baden-Baden vgl. sogar Saint-Hardouin, Note pour le Secretaire general, 01.12.45, AN 457 AP 61.

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Erst Anfang März 1946 erfolgte ein präzisierendes Insistieren seitens der französischen Regierung, was Sinn und Zweck solcher alliierten Büros anbelangte. Sie tauchten sinngemäß in einem Antwortschreiben Bidaults an seinen amerikanischen Amtskollegen als "services techniques allemands" wieder auf, die dem Kontrollrat die Prüfung technischer Fragen erleichtern und für eine verbesserte Koordinierung der Vier-Zonen-Verwaltung sorgen sollten. Am 12.Juli, dem letzten Tag der Pariser Außenministerkonferenz, sowie am IO.August 1946 im Kontrollrat konkretisierte Frankreich schließlich Organisation und Zuständigkeiten der "bureaux allies". Sie waren als deutsch-alliierte Verwaltungsstellen mit Informations-, Prüfungs- und Exekutivaufgaben konzipiert und hätten unter Aufsicht des Kontrollrates ihre Beschlüsse bei stark beschränkten Einspruchsmöglichkeiten der Zonenbefehlshaber direkt als Anweisungen an die Lokalverwaltungen weiterleiten können. 50 Die Vorschläge waren gegenüber den "Großen Drei" ohne Aussicht auf Erfolg. 5\ Und ebensowenig wie Clay den französischen Kompromißofferten vom Herbst 1945 überhaupt Beachtung geschenkt hatte, ließ er sich nun auf eine Debatte oder Analyse konkretisierter Vermittlungsversuche ein,52 obwohl offenbar innerhalb der amerikanischen Militäradministration eine größere Bereitschaft zu Diskussion und Entgegenkommen vorherrschte 53 und Frankreich sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, daß "le rejet par le General Clay de notre projet etait plus un geste de mauvaise foi qu'un acte motive par des reproches fondees. ,,54

so Vgl. Lettre adressee a I'Ambassadeur des Etats-Unis, 01.03.46; Dec1aration faite a la reunion des Ministres des Affaires etrangeres, 12.07.46; Dec1aration faite bzw. Memorandum remis au Conseil de Contröle alM, 10.08.46, abgedruckt in: Documents franyais relatifs a l'Allemagne, S.20-23, 33f. u. 3539. Zur weiteren Veranschaulichung der Struktur von alliierten Büros vgl. Brief Noiret an Schneiter mit Schema d'organisation, 22.08.46, AMAE Y (1944/49) 377. 51 Zu den Reaktionen aus französischer Sicht vgl. Telegramme Noiret an Schneiter, 10., 16., 28. u. 30.08.46, AMAE Y (1944/49) 377 sowie den Teil IX des Kontrollratsberichts zu Kapitel VI: Administrations centrales, 20.02.47, SHAT I K 237/3. 52 Vgl. Telegramme Murphy an Bymes über Reaktionen zu alliierten Büros, 11., 17. u. 29.08.46, FRUS 1946 (V) S.590ff., 592f. u. 595f. sowie Memorandum Clay an Bymes, The Gennan Problem, November 1946, in: Jean Edward Smith (Hg.): The papers of General Lucius D. Clay, Gennany 19451949, Bd.1, Bloomington / London 1974, S.279-284 . . 53 Vgl. Brief Charmasse an Bidault a.s. fusion economique des zones anglaise et americaine, 21.08.46, AMAE Y (1944/49) 377.

5< Dies die Aussage eines Clay-Mitarbeiters am 10.10.46, kolportiert von Noiret an Schneiter, Opinion officieuse de la delegation americaine sur le projet franyais de bureaux allies, 21.10.46, AMAE Y (1944/49) 377; vgl. daneben im Rückblick den Brief vQn de Courcel an Koenig, 24.12.46, AMAE Y (1944/49) 290.

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Auf der anderen Seite erschienen im Sommer 1946 die Chancen für die Schaffung von gemeinsamen alliierten Büros ohnehin merklich reduziert. Anders als Clay, derparadoxerweise noch an den Potsdamer Kooperationsmaximen festhielt, gegenüber Frankreich jedoch alles tat, um Kompromissen den Boden zu entziehen, räumte inzwischen das mitten im europapolitischen Neuorientierungsprozeß befmdliche Washingtoner State Department55 der sowjetischen Gefahr zunehmend einen höheren Stellenwert ein als der deutschen. London hatte "die Wende der britischen Deutschlandpolitik" endgültig im März!April 1946 vollzogen und diskutierte längst über gemeinsame Verwaltungsstrukturen der westlichen Zonen. 56 Der Wille zur Viererkooperation schwand mehr und mehr. Ob deutsche Zentralverwaltungsstellen oder alliierte Büros, die internationale Entwicklung sollte bald beides überrollen. Der Pariser Vorschlag machte Mitte 1946 kaum mehr Sinn. Der verhandlungstaktische Wechsel vom gaullistischen "Nein, danke" zum Bidaultschen "Ja, aber" mit stärkerer wirtschaftlicher Kompensationsorientierung erfolgte jedenfalls in dieser Frage zu spät, um Frankreich noch einen hohen Erlös für kompromißbereiteres Handeln zu bescheren. In der Debatte um deutsche Zentralverwaltungsstellen hatte - bei allen Fragezeichen, die hinsichtlich Klarheit, Grad und Umsetzbarkeit der de GaulIeschen Zerstückelungsrhetorik angebracht erscheinen57 - die Prinzipientreue des Regierungschefs bis zu seinem Rücktritt verzögernde Wirkungen für ein insistierendes Vorantreiben der Diskussion um die alliierten Büros, das die Regierung erst seit Ende Januar 1946 wieder ernsthaft ins Auge fassen konnte. Auf der Ebene praktischer Besatzungspolitik hielt man sich ohnehin nicht strikt an die gaullistische Dezentralisierungsmaxime, machte sie nicht zuletzt abhängig von Sachzwängen vor Ort und verwaltungs- bzw. kommunikationstechnischen Problemlagen, so daß de GaulIes Demission letztlich besatzungspolitisch ein weniger einschneidenes Ereignis darstellte. Und selbst deutschlandpolitisch bildete de GaulIes Intransigenz weder den einzigen noch den entscheidenden Faktor auf dem Weg zur deutschen Teilung. Gegen eine pure, einseitig französische Obstruktionspolitik spricht daneben die Tatsache, daß Paris mit Skepsis und Vorbehalten gegenüber deutschen Zentralverwaltungsstellen im Kontrollrat nie allein stand, dies nur offensiv und offensichtlich "Vgl. z.B. Telegramm Kennan an Bymes aus Moskau, 06.03.46, FRUS 1946 (V) S.516-520; zur französischen Wahrnehmung, daß die USA nun eine Zweiteilung Deutschlands anstrebten, vgl. Telegramm Bonnet an Bidault, 05.06.46, AMAE Y (1944/49) 370.

5. Vgl. Falk Pingel, Die Russen am Rhein? Zur Wende der britischen Deutschlandpolitik im Frühjahr 1946, in: Vfz 30 (1982) S.98-116 (104-108). 57

Vgl. Pierre Gerbet e.a., Le rel~vement 1944-1949, Paris 1991, S.447/Anm.6.

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zum Ausdruck brachte. Damit wurde sowohl den sowjetischen als auch den britischen Repräsentanten die Möglichkeit eröffnet, die respektiven Unsicherheiten bzw. die tatsächlichen Positionen hinter den erwarteten Vetos zu verbergen. Die Franzosen in Berlin machten die Zentrale mehrfach darauf aufmerksam, daß "les Delegues russes et anglais n'ont pas paru, en seance, affectes outre mesure par notre position. ,,58 Kaum anders als bei den westlichen Siegermächten befanden sich die sowjetischen Deutschlandplanungen bei Kriegsende noch im Fluß. Nach Abkehr von Aufteilungsprojekten gegenüber Deutschland war die Entscheidung zwischen einer auf Gesamtdeutschland zielenden Ausrichtung und einer Konzeption, die eine Konzentration auf Verfügungsgewalt und Nutzungschancen der sowjetisch okkupierten Regionen in den Vordergrund rückte, nicht gefallen. Dem Wunsch nach Mitsprache über ganz Deutschland, nach Zugriff auf die Ruhrressourcen, nach Verhinderung einseitiger Aktionen und Machtzuwächse der Westmächte stand eine Politik beiseite, die eifersüchtig über das autonome Handeln in Ostdeutschland wachte, die ohne vorherige Absprache Strukturveränderungen einleitete und Maßnahmen auf den Weg zu bringen suchte, die gesamtdeutsche Präjudizien im eigenen Interesse schufen. Idealtypisch mußte der östlichen Siegermacht an zentralen deutschen Verwaltungen liegen, mit denen sie Einfluß auf die Westzonen nehmen konnte, ohne Einmischungen in das eigene Besatzungsgebiet befürchten zu müssen, doch erwies sich dies rasch als illusorisch. Es war gewiß kein Zufall, daß in den Monaten nach Potsdarn regelmäßig ein sowjetisches Veto erfolgte, wenn Frankreich sicherheitspolitisch irrelevanten Koordinierungsgremien zuzustimmen gedachte. 59 Ganz offensichtlich profitierte die UdSSR von französischen Einsprüchen, um zumindest offiziell an der Errichtung gesamtdeutscher Zentralverwaltungen festzuhalten. 60 51 Telegramm Koenig über Berthelot an Bidault, 01.10.45, AMAE Y (1944/49) 688. Zur Pariser Wahrnehmung, daß im Grunde Frankreich für Großbritannien und die Sowjetunion die Kastanien aus dem Feuer hole, vgl. z.B. MAE, Dir.PoI., Note, Allernagne, 03.12.45, AN 457 AP 61; zum potentiellen Schaden für das internationale Ansehen Frankreichs, der aus seiner offensiven Haltung im AKR erwachsen könne, vgl. bereits Maurice Dejean, Note pour 1e Ministre, 26.10.45, AN 457 AP 6.

,. Vgl. schon Donald C. Watt, Hauptprobleme der britischen Deutschlandpolitik 1945-1949, in: C/aus Scharf / Hans-Jürgen Schröder (Hg.), Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die Britische Zone, Wiesbaden 1979, S.l5-28 (19). 60 Vgl. Jochen Laufer, Konfrontation oder Kooperation? Zur sowjetischen Politik in Deutschland und im Alliierten Kontrollrat 1945-1948, in: Alexander Fischer (Hg.), Studien zur Geschichte der SBZ/DDR, Berlin 1993, S.57-80 (68ff.). Von einem lebhaften Interesse Stalins an einer Vier-MächteVerantwortung im Sinne Potsdarns spricht Wilfried Lath, The East-West conflict in historical perspective. An attempt at a balanced view, in: Contemporary European History 3 (1994) S.l93-202

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Der anfängliche Eindruck, daß "the Russians oppose any proposal that is likely to open a window into their zone,,,61 daß die Sowjets mit deutschen Zentralverwaltungen "veulent etre les maitres des organisations de Berlin estimant que de la ils rayonneront ulterieurement dans toute l'Allemagne,"62 verfestigte sich zusehends. Koeltz und dessen Mitarbeiter berichteten mehrfach über sowjetische Reserven,63 Amerikaner und Briten deuteten wiederholt an, daß "l'attitude fran~aise dans la question des administrations centrales avait fourni un alibi trop commode a la Russie.,,64 Allein schon aufgrund der Einschätzung sowjetischer Vorhaben mochten die Franzosen nicht recht an einen Alleingang der "Großen Drei" unter Ausgrenzung Frankreichs glauben,65 schien es doch, als übernähme "un nouvel opposant" dessen bisherige Rolle, sobald es selbst diese aufgäbe,66 schien es doch, als akzeptiere die östliche Siegermacht solche Einrichtungen "qu'a l'une des deux conditions suivantes: - ou bien qu'elles n'aient pas de pouvoir effectif dans les zones; - ou bien qu'elles soientcompletement sous la coupe sovietique.,,67 Und auch gegenüber der britischen Haltung waren Sorgen von französischer Seite überflüssig.

(197), der allerdings an anderer Stelle - vgl. ders., Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S.57 - zugesteht, daß Moskau "wenig tat, um die Blockierung einer zonenübergreifenden politischen Organisation des Reiches durch Frankreich zu überwinden." Konzeptionelle Überlegungen und praktische Politik fielen allemal auseinander . • , Brief Strang an Harvey, 05.10.45, DBPO UV, S.186-189 (189). General Beauchesne, ApeIYu d'ensemble sur la situation a Berlin a la date du ler novembre 1945 Komandantura, 06.11.45, am 15.11.45 von Saint-Hardouin an Bidault weitergeleitet, AMAE Y (1944/49) 283. 62

a I'echelon

63 Vgl. z.B. Telegramm Koeltz an Koenig bzw. an CGAAA, 10.11.45, AOFAA Cab.Koenig Pol. III AI; Telegramm Sergent an Couve de Murville und Alphand, 05.02.46, AOFAA Cons.pol. B I 3/10; Telegramm Koeltz an CGAAA, 05.04.46, am 09.04.46 von Mayer an BidauIt weitergeleitet, AMAE Y (1944/49) 370 .

.. Pierre Leroy-Beaulieu, Entretien avec I'ambassadeur Murphy, 03.06.46, AMAE Y (1944/49) 391; zuvor andeutungsweise Brief Saint-Hardouin an Dejean a.s. conversation avec le Conseiller politique americain, 09.10.45, AMAE Y (1944/49) 283 oder Telegramm J.c. Paris aus London, 01.12.45, AMAE Europe (1944/49) Allemagne 75 . •, Vgl. dazu z.B. Telegramm de Courcel an Saint-Hardouin, 08.11.45, AMAE Y (1944/49) 283 oder Telegramm Koeltz an SGAAA, o.D .. am 28.11.45 von SGAAA an MAE weitergeleitet, ebd . •• V gl. Telegramm Saint-Hardouin an Bidault über Gespräch mit Strang, 17.11.45, AMAE Y (1944/49) 283 . •7

Brief Rene Mayer an Regierungschef Gouin sowie an Bidault, 08.02.46, AN 363 AP 6.

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Die "Lustlosigkeit"68 Großbritanniens basierte auf der Furcht vor einer Verwirklichung sowjetischer Zentralverwaltungskonzeptionen mit langfristigen Einflüssen der neuen Großmacht auf die gesamtdeutschen Verhältnisse und ohne Einwirkungsmöglichkeiten der Westmächte auf die Vorgänge im Osten Deutschlands. 69 Daher reagierten die Briten gelassener als die amerikanische Militärregierung auf die ersten französischen Reserven, und bereits am 2l.September 1945 teilte Strang dem Foreign Office augenzwinkernd mit, man werde weiter die Etablierung deutscher Zentralverwaltungen unterstützen, doch gehe er davon aus, daß Harvey "will not regard the French proposals with an unsympathetic eye. ,,70 Bevin selbst bat wenige Tage später Byrnes "not to press the French too hard," erteilte seinerseits Montgomery eine solche Anweisung7! und informierte Bidault ebenso rasch "a titre confidentiel" über seine Direktiven und seinen Einsatz zugunsten Frankreichs gegenüber dem amerikanischen Außenminister. 72 Während Robertson in Berlin gegenüber London ebenso wie Clay gegenüber Washington73 durchzusetzen versuchte, daß "strong pressure should be put on the French to agree to the establishment of central administrative agencies without prejudice to ultimate settlement of Rhineland question, ,,74 konnte man sich im Quai d'Orsay relativ sicher sein, daß dies nicht geschehen würde, erst recht nicht durch Bevin, der den Franzosen gerade zu Beginn seiner Amtszeit nachdrücklich zu verstehen gab, daß eine "Anglo-French Alliance" den Eckpfeiler seiner Westeuropapläne darstelle. Eine Ablehnung der beiden britischen Kompromißvorschläge vom 16. und 24.0ktober durch die Provisorische Regierung 75 fiel umso 6. So schon Hermann Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen, FrankfurtlM. 1985, S.l46; ähnlich Victor H. Rothwell, Britain and the Cold War 19411947, London 1982, S.297ff. •• Vgl. Z.B. Anne Deighton, Towards a "western" strategy. The making of British policy towards Germany 194546, in: dies. (Hg.), Britain and the first Cold War, London 1990, S.53-70 (57-61) oder - am Beispiel der Ruhr-Internationalisierung - Sean Greenwood, Bevin, the Ruhr and the division of Germany: August 1945 - December 1946, in: Historical Journal 29 (1986) S.203-213 (204ff. u. 211). 70

Brief Strang an Harvey, 21.09.45, DBPO IN, S.144f.

71 Vgl. Telegramm Bevin an Montgomery, 30.09.45, DBPO IN, S.179/Anm.3 sowie Brief Cooper an Dixon, 04.10.45, DBPO I1II. S.484ff.

n Vgl. Entretien Bidault-Bevin, 03.10.45, AN 457 AP 6. 73

Vgl. z.B. Murphy an Byrnes, 28.09.45, FRUS 1945 (111) S.878f.

7. Telegramm Robertson an War Office, 05.10.45, DBPO IN, S.178-182 (l8lf.); ähnlich Telegramm Montgomery an Control Office, 30.10.45, ebd., S.306ff.

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Vgl. Telegramm Bidault an Massigli, 06.11.45, AMAE Y (1944/49) 282.

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leichter, als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bereits dem ersten Entwurf eine Absage erteilt hatten 76 und Großbritannien selbst weiterhin nicht den Eindruck vermittelte, es gestehe deutschen Zentralverwaltungsstellen, selbst in entschärfter und für Frankreich möglicherweiser akzeptabler Form, allzu hohe Bedeutung zu. 77 Von einem Drängen oder gar von Druck seitens der Briten konnte weder deutschlandpolitisch die Rede sein, noch besatzungspolitisch, wo Koenig befriedigt zu berichten wußte, daß "les Britanniques evitent avec nous ces sujets irritants," als hätten sie die Anweisung erhalten "de ne point nous ennuyer avec la question des Administrations centrales. ,,78 Darin unterschieden sich die britischen Vertreter in Berlin ganz grundlegend von den amerikanischen. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß die Amerikaner die einzigen waren, die völlig hinter der Schaffung deutscher zentraler Verwaltungsbehörden standen. 79 Dies gilt zumindest für die amerikanische Militärregierung, allen voran Clay, der in französischer Sicht der große "Buhmann" war, dessen besatzungspolitische "simplicite brutale,,80 in krassem Gegensatz zu den deutschlandpolitischen "Zukkerbrotofferten" des State Department81 stand. Außenminister Byrnes sowie seine Spitzenbeamten lehnten es grundsätzlich ab, Frankreich zur Zustimmung zu gesamtdeutschen Organen, wie sie die "Großen Drei" damals flxiert hatten, zu zwingen. In Washington herrschte allerdings durchaus keine einheitliche Meinung dazu vor, die regierungsinternen Divergenzen waren ebenso beachtlich wie beständig. Während Clay, der wie kein anderer an der Vision einer Zusammenarbeit mit den Sowjets im Herzen des alten Kontinents festhielt,82 ständig über Kriegsminister 7. Vgl. Telegramm Massigli an Bidault, 24.10.45. AMAE PAAP 217/63. 77 Vgl. Telegramm Massigli an Bidault. 10.11.45. AMAE Y (1944/49) 283 oder die Äußerungen Harveys. 12.11.45. DBPO IN. S.287/Anm.10.

" Telegramm Koenig an Mayer. 05.03.46. AN 363 AP 6. 79 Dies auch das unzweideutige Ergebnis bei Anne Deighton. The impossible peace. Britain. the division of Gennany and the origins of the Cold War. London 1990. S.67-76 sowie bei Kessel. Westeuropa und die deutsche Teilung. S.42.

"'Telegramm Koeltz an SGAAA. am 21.12.45 von Berthelot an Bidault. AMAE Y (1944/49) 283. 11 Vgl. z.B. Brief Bymes über Caffery an Bidault. 01.02.46. FRUS 1946 (V) S.496ff. sowie die Reaktion Chauvels. Brief an Bidault, 06.02.46. AN 457 AP 80 . • 2 Vgl. dazu lohn H. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay. Der Weg zur Bundesrepublik 1945-1949. München 1983, S.210 u. 333.

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Patterson, manchmal über Landwirtschaftsminister Anderson, 83 versuchte, das State Department zur Ausübung jeder nur möglichen Art von Druck auf die Provisorische Regierung zu bewegen, unternahm dieses "no steps to bring pressure to bear upon the French to cooperate with the other members of the Control Council"84 und wimmelte ein solches Ansinnen in der Folgezeit durchweg als kontraproduktivab. 85 Es flüchtete sich zwar oftmals in verbale, vage formulierte Zugeständnisse gegenüber dem Pentagon, doch ohne letztlich entsprechende Handlungen folgen zu lassen. Byrnes - nicht anders als später sein Nachfolger Marshall - erschien es aufgrund potentieller Zuspitzung der innerfranzösischen Lage und Zunahme der kommunistischen Einflußchancen86 kaum möglich, bei Gegensätzen in der deutschen Frage die wirtschaftliche und militärische Überlegenheit Washingtons in politische Pressionen umzumünzen. Demzufolge war der französische Handlungsspielraum gegenüber dem östlichen Nachbarland allemal größer, als dies der Machtstatus Frankreichs in der Nachkriegswelt nahelegte. 87 Paris wußte allerdings nicht, inwieweit Clays Versuche, Druck auf der Besatzungsebene unter Umgehung diplomatischer Höflichkeiten auszuüben, von Wa-

'3 Vgl. Murphyan Byrnes über Clay im AKR, 28.09.45, FRU5 1945 (111) 5.878f.; Minutes of Meeting of the 5ecretaries of 5tate, War and Navy, 06.11.45, ebd., 5.892f.; Patterson an Byrnes, 21.11. u. 10.12.45, ebd., 5.908f. u. 917; später dann Murphy an Byrnes, 24.02., 04.04. u. 17.08.46, FRU5 1946 (V) 5.505ff., 536f. u. 592f. Zu Anderson vgl. Telegramm Clay, 11.04.46, ebd., 5 ..540 .

.. Antwort Matthews an Clay, R6sum6 of Meeting at 5tate Department, 03.11.45, in: Smith (Hg.), The papers ofGeneral Lucius D. Clay, Bd.l, 5.111-117 (112). "Vgl. Acheson an Patterson, 12.12.45 u. 12.01.46, FRU5 1945 (111) 5.919f. u. 923f.; Byrnes an Caffery, 01.02.46 FRU5 1946 (V) 5.496ff.; Byrnes an Patterson, 10.04.46, ebd., 5.539f.; Byrnes an Murphy mit Mitteilung an Clay, 20.04.46, ebd., 5.771-777; Acheson an Patterson, 24.04.46, 5.540/Anm.86; Memorandum of Conversation by Matthews bez. Gespräche zwischen Bidault u. Byrnes, 01.05.46, FRU5 1946 (11) 5.204ff.; Byrnes an Murphy, 19.07.46, FRU5 1946 (V) 5.579f. •• Zur Washingtoner 50rge im Vorfeld Potsdams, es sei mit einer Radikalisierung des PCF zu rechnen, vgl. z.B. Possible resurrection of Communist International, 02.06.45, FRU5 1945 (Conference of BerJin) 5.269-280 (270f.); Paris wußte selbstverständlich um die amerikanischen Befürchtungen, vgl. z.B. Maurice Dejean, Note, 17.08.45, AMAE Y (1944/49) 19 oder später Telegramm Bonnet, 31.01.46, AMAE B Arn6rique (1944/52) Etats-Unis 119. Wie wenig solche Destabilisierungsvermutungen realhistorisch aus der Luft gegriffen waren, untermauert nun Philippe Buton, Les lendemains qui d6chantent. Le parti communiste fran~ais a la LiMration, Paris 1993, 5.195-215 . • 7 Zu den relativen diplomatischen Erfolgen des machtpolitisch 5chwachen gegenüber dem machtpoJitisch 5tarken vgl. unzählige Beispiele bei lrwin M. Wall, The United 5tates and the making ofpostwarFrance 1945-1954, New York 1991 sowie bei Hüser, Frankreichs "doppelte Deutschlandpolitik", 5.657-698.

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shington aus gedeckt oder mißbilligt wurde. 88 Dabei hätte er schon früh den amerikanischen "Alleinvertretungsanspruch" in der Frage deutscher Zentralverwaltungsstellen erkennen können, als nacheinander Großbritannien und die Sowjetunion im September/Oktober 1945 eine Dreimächtekooperation unter Ausschluß Frankreichs ablehnten. 89 In der Tat stießen Konsens und Solidarität der "Großen Drei" im Alliierten Kontrollrat spätestens dann an Grenzen, wenn Frankreich einem Vierer-Vorschlag zustimmte oder aus einer laufenden Debatte gänzlich ausscherte, wenn auf Worte Taten folgen sollten und die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten, was Funktionsweise und Orangisationsstruktur zentraler deutscher Gremien anbelangte, offen zutage traten. 90 Die französische Politik im Berliner Kontrollrat läßt sich vor diesem Hintergrund schwerlich als pure Obstruktion abqualifizieren. Zwar nahm Frankreich eine unverrückbare Haltung zur Frage deutscher Zentralverwaltungsstellen gemäß Potsdamer Vorstellungen ein, doch stand sein ökonomisches Interesse an einem funktionsfähigen Kontrollrat ebenso außer Frage wie das Bemühen um praktische Mitarbeit, um zonale Umsetzung von Beschlüssen, um alternative alliierte Koordinationsorgane. Die "verspätete Siegennacht" war keineswegs der" große Schurken beim Drama der deutschen Teilung."91 Für das Scheitern des Alliierten Kontrollrats gab es in der Tat viele Gründe. Dabei waren der verfassungsrechtliche Dualismus zwischen Kontrollrat und Zonenkommandeuren,92 die sorgenvolle westliche Wahrnehmung der sowjetischen Politik in Osteuropa und damit die seit Potsdam angelegten,93 seit Frühjahr 1946 offensichtlichen Vorboten des Kalten Krieges letztlich weitaus höher einzuschätzen als die Ablehnung deutscher Zentralverwaltungstellen durch Frankreich mit mehr oder weniger stillschweigender Absegnung durch die Sowjetunion und Großbritannien . .. Diese Frage bei Koenig. Telegramm an Mayer. 05.03.46. AN 363 AP 6. "Vgi. etwa Wolfgang Krieger. General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949. Stuttgart 1987. S.l07f. 90

Vgl. Kraus. Ministerien für ganz Deutschland. S.133.

9' So Hans-Peter Schwarz. Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den lahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949. 2.Auflage. Stuttgart 1980. S.xXXVI zu den ansonsten "verdienstvollen" Arbeiten von lohn Gimbel. 92

In diesem Sinne Mai. Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland. S.4 u. 14.

93 Für beide Seiten zu hoch veranschlagt Rolf Badstübner. Die sowjetische Deutschlandpolitik im Lichte neuer Quellen. in: Loth (Hg.). Die deutsche Frage in der Nachkriegszeit. S.102-135 (104f.) das Kompromiß- und Kooperationspotential des Potsdamer "Friedensprojektes" .

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D. Die Rolle Potsdams in der Pariser Deutschlandpolitik 1945/46 Die Potsdamer Konferenz von Juli/August 1945 fiel in eine Phase deutschlandpolitischer Klärung in Paris, und die Berliner Ergebnisse beeinflußten wiederum solche Prozesse. Für diejenigen, die damals noch an Zweckmäßigkeit und Durchsetzungschancen maximalistischer Deutschlandforderungen glaubten,94 vor allem an politische Separierungen von Rhein und Ruhr sowie an eine AufspliUerung Deutschlands im Sinne des Westfälischen Friedens, war das Potsdamer Abkommen ein offensichtlicher Schritt in die falsche Richtung. 9s Die folgenden Etappen diplomatischer Verhandlungen konnten die wachsende Desillusionierung nur verstärken, was die Frage territorialer Garantien anbelangte. 96 Die Washingtoner Gespräche de GaulIes und Bidaults mit Truman und Byrnes vom 21. bis zum 25.August 1945 offenbarten zwar einerseits die potentielle Instrumentalisierbarkeit innerfranzösischer Problem lagen und deutschlandpolitischer Maximalismen zugunsten finanzieller und diplomatischer US-Konzessionen, andererseits aber die völlige Chancenlosigkeit, maximalistische Ansprüche faktisch durchzusetzen. 97 Die Londoner Außenministerkonferenz von September/Oktober verlief diesbezüglich nicht gerade ermutigender98 und ließ de Gaulle ein Scheitern konstatieren "dont rien n'annonce qu'il puisse etre rt!pare avant

94 Der Großteil der eingangs zitienen Entscheidungsträger gehöne nicht oder nicht mehr dazu, Skepsis scheint aber auch bei Bidault und selbst bei de Gaulle angebracht. Zu de Gaulle vgl. Raymond Poidevin, Roben Schuman. Homme d'Etat 1886-1963, Paris 1986, S.185 oder lean-Pierre Rioux, France 1945. L'ambition allemande et ses moyens, in: Manfrass / Rioux (Hg.), France - Allernagne, S.37-46 (39). Zum Versuch einer Nuancierung klassischer Bilder der "Großen Drei" französischer Deutschlandpolitik nach Kriegsende vgl. Dietmar Hüser, Charles de Gaulle, Georges Bidault, Roben Schuman et I'Allemagne 1944-1950. Conceptions, actions et perceptions, erscheint in: Francia 23/3 (1996).

'" Vgl. Soutou, Frankreich und die Deutschlandfrage, S.IOO oder lohn W. Young, France, the Cold War and the western alliance 1944-1949. French foreign policy and post-war Europe, Leicester 1990, S.61. 96

Dazu auch Gerbet e.a., Le relevement, S.44f.

97 Vgl. Compte rendu des conversations de Gaulle-Truman, 22.08.45, AMAE Y (1944/49) 19; Conversation entre M. Georges Bidault et M. James F. Byrnes, 23.08.45, ebd.; Note de l'audience donnee par M. Byrnes a M. Bidault, 24.08.45, AMAE PAAP 217/59; zusammenfassend MAE, Dir.Amer., Conversations aWashington et a New York sur cenains problemes europeens, 31.08.45, AMAE Y (1944/49) 19. 98

Vgl. Telegramme Bidault an der Gaulle, 12. u. 28.09.45, AN 457 AP 6.

6 Timmermann

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longtemps," da die britische, amerikanische und sowjetische Regierung "ne se decident aucunement a adopter les bases que nous avons proposees."99 Schließlich blieben auch die bilateralen Gespräche mit London (16.-26.10.), mit Washington (3.-21.11.) und mit Moskau (16.-26.12.) ergebnislos: die Erfolgsaussichten für territoriale Separierungen und Aufsplitterungen im Nachbarland tendierten endgültig gegen Null. IOO Dies galt für de Gaulle, dies galt für Bidault, dies galt für den Quai d'Orsay. Dies galt daneben für den Generalstab, der früh darauf hinwies, daß klassische geostrategische Deutschlandziele ala Foch und die Verschanzung hinter einer "muraille de Chine"l0l im Zeitalter der - kurz vor Beginn der Potsdamer Konferenz in New Mexico erstmals gezündeten - Atombombe nicht mehr allzu viel Sinn mache. Dies galt schließlich - und erst recht - für die technischen Ressorts und die Gruppe um Jean Monnet, die von vornherein nichts mit politischen Abtrennungsvorhaben im Sinn und schon früher für ein Primat der Wirtschaft gegenüber dem der Politik plädiert hatten, nicht zuletzt um die Besatzungskosten in erträglichen Grenzen zu halten. I02 Der Kontrollratsbeschluß vom 20.September 1945 über deutsche Im- und Exporte tat ein übriges, um der Rue de Rivoli die Gefahr eines "Selbstausbeutungskreislaufs" mit erheblichem Abfluß der dringend anderweitig benötigten Devisen vor Augen zu führen. 103 Die Rheinlandforderungen traten mehr und mehr in den Hintergrund,I04 statt dessen wurde die Ruhrinternationalisierung durch die drei westlichen Besatzungsmächte regierungsintern zunehmend als maßgebliches Ziel 99 Vgl. Brief de GaulJe an Koenig, 29.10.45, in: Chartes de Gaulle, Lettres, Notes et Camets, Bd.6: 1945-1951, Paris 1984, S.l06ff.; zuvor bereits Telegramm de GaulJe an Bidault, 29.09.45, ebd., S.89f. 100 Vgl. zusammenfassend de Courcel, Premieres reactions de Londres, Washington et Moscou aux projets fran~ais sur la Ruhr et la Rhenanie, AMAE Y (1944/49) 396. 101 GPRF, EMDN, lere et 4eme Section, Note d'orientation relative au traite de paix a imposer a I'Allemagne, 06.12.46, AMAE Y (1944/49) 356; zuvor z.B. GPRF, EMGDN, 4°Section, Note, Politique allemande, 31.07.45, AMAE Y (1944/49) 687 oder GPRF, EMDN, lere Section, Memoire relatif a la securite fran~aise en AIJemagne, 08.04.46, am 11.04.46 von Juin an Gouin und Bidault gesandt, AN 457 AP 60. 102 Vgl. z.B. für Rene Pleven seine Briefe an Pierre Mendes France, 11.01. u. 16.02.45, IPMF DPMF 44-2 oder das Interview, das er Serge Bromberger gab, Armer ou reconstruire, in: Samedi-Soir, 08.09.45.

103 Erste Hinweise darauf bei Christoph Buchheim, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945-1958, München 1990, S.42 sowie nun bei Hüser, Frankreichs "doppelte Deutschlandpolitik", S.384-387 u. 395f. 104 In diesem Sinne auch Heinrich Küppers, Staatsaufbau zwischen Bruch und Tradition. Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz 1946-1955, Main~ 1990, S.4I-50 sowie Corine Defrance, La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin 1945-1955, Strasbourg 1994, S.43-50.

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definiert. lOS Die Absicherung französischer Kontroll-, Verfügungs- und Verteilungsrechte an der dortigen Kohle- und Stahlproduktion sollte künftig eine wirtschaftliche Überlegenheit Frankreichs gegenüber dem Nachbarn und damit den europäischen Frieden dauerhaft garantieren. Der wachsende Realitätssinn des Großteils Pariser Deutschlandakteure im Laufe des Jahres 1945 zeitigte Konsequenzen, die vordergründig paradox erscheinen mochten. Angesichts der fortwährenden innen- und außenpolitischen Relevanz wirklichkeitsfremder Deutschlandhaltungen waren sie jedoch mehr als plausibel und konsequent. Einerseits kam es regierungsintern zu einer Konzentration der Planungsarbeiten auf deutschlandpolitische Realziele, also Positionen, für die man sich tatsächlich Erfolgschancen ausrechnete. Dazu gehörte - wie erwähnt - vor allem die Internationalisierung des Ruhrgebiets, daneben eine modifizierte Dezentralisierungskonzeption, die sich an einer möglichst weitreichenden Stärkung der Ländergewalten gegenüber einer künftigen Zentrale bei gleichzeitiger Akzeptanz gewisser einheitlicher Strukturen orientierte und den Pariser Detailplanungen zur Schaffung von Rheinland-Pfalz seit dem Frühjahr 1946 den Weg bahnte. 106 Andererseits erfolgte keineswegs eine offizielle Annulierung traditionell benannter Höchstforderungen. Vielmehr wurden sie gegenüber der französischen Öffentlichkeit sowie im diplomatischen Verkehr aufrechterhalten als deutschlandpolitische Maximalpositionen, Ansprüche also, um deren Durchsetzung es längst nicht mehr ging, die aber - wie die Thesen zur politischen Abtrennung westdeutscher Territorien - als "Verhandlungsmasse" ein beträchtliches Instrumentalisierungspotential bargen. 107 Der Quai d'Orsay sah sich jedenfalls im Frühsommer 1946 trotz der" opposition generale au detachement politique de la Ruhr et de la Rhenanie" nicht veranlaßt, Verhandlungspositionen zu räumen: "Le Gouvernement fran,ais n 'a pas de raison de modifier La position qu 'iL a prise sur Le detachement poLitique de La Ruhr. On n 'aper,oit pas d'ailleurs Les avantages que

------_._--_.~_.

__ ...

I'" Vgl. auch Kessel, Westeuropa und die deutsche Teilung, z.B. S.30 I. Zum französischen Wunsch

einer "Westmächte-Internationalisierung" aus Sorge vor dem möglichen Einfluß der Sowjetunion vgL Telegramme Bidault an de Gaulle, 27.09. u. 28.09.45, AN 457 AP 6.

1116Vgl. z.B. MAE, Dir.Adm., Note sur la Rhenanie, 07.03.46, AMAE Y (1944/49) 390; Instruktion Bidault an Koenig, 04.07.46, AMAE PAAP 338/8. 1117 VgL auch Wilfried Loth, Die französische Deutschlandpolitik und die AnHinge des Ost-WestKonflikts, in: Manfrass / Rioux (Hg.), France - Allemagne, S.83-96 (87). 6'

84

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nous procurerait dans l'immediat une revision de nos theses . ... Il n'existe aucune raison de modifier Les propositionsfranraises {ci /'egard de La Rhinanie/. "J08

Das dezidierte offizielle Postulat einer Abtrennungspolitik auf dem linken Rheinufer, wie es die französische Diplomatie noch auf der Moskauer Außenministerratstagung im MärzJApril 1947 beibehalten sollte, hatte spätestens seit der Jahreswende 1945/46 intern keinen realen Hintergrund mehr: aus Maximalzielen waren Maximalpositionen geworden, Sie dienten Paris längst als "Beruhigungspillen" nach innen angesichts des Druckpotentials einer germanophoben französischen Öffentlichkeit und einer hegemonialen kommunistischen Partei,109 und sie dienten als "bargaining chips" 110 nach außen angesichts der internationalen Nutzungsmöglichkeiten hexagonaler Zwänge zugunsten amerikanischer Finanzhilfen sowie deutschlandpolitischer Realziele. Auf diesem Weg zur "doppelten Deutschlandpolitik", wie sie sich im Winter 1945/46 herauskristallisierte, bildete die Potsdamer Konferenz eine wichtige Etappe. Denn was in der Folgezeit für die hexagonale wie internationale Öffentlichkeit als Bestätigung und Verhärtung französischer Forderungen aussah, entsprach regierungsintern einem weiteren Schritt zur Desillusionierung. Er erhöhte letztlich das Gewicht konstruktiver Elemente gegenüber destruktiven innerhalb der vielschichtigen Pariser Deutschlandplanungen und stärkte diejenigen Kräfte, die schon zuvor - im wohlverstandenen Interesse Frankreichs - Zweifel an Chancen, Sinn und Zweck vergangenheitsorientierter Ansätze angemeldet und auf lange Sicht zukunftsträchtigere Wege vor Augen hatten.

10. Vgl. Note Alphand a.S. problemes allemands, 18.07.46, AMAE PAAP 217/63. Zuvor ähnlich Brief Alphand an Bidault, 02.02.46, AN 457 AP 61; Telegramm Alphand an französische Botschafter, 30.03.46, AMAE Y (1944/49) 370; Herve Alphand, Note pour le Ministre, 16.05.46, AMAE Y (1944/49) 356. 109 Vgl. ausführlich Dietmar Hüser, Frankreich, Deutschland und die französische Öffentlichkeit 1944-1950. Innenpolitische Aspekte deutschland politischer Maximalpositionen, in: Stefan Martens (Hg.), Vom "Erbfeind" zum "Erneuerer", Aspekte und Motive der französischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Sigmaringen 1993, S.19-64; daneben ders .. Ventres creux, mentalites coUectives et relations internationales. La faim dans les rappons franco-allemands d'apres-guerre, in: Francine-Dominique Liechtenhan (Hg.), Europe 1946 - Entre le deuil et l'espoir, Brüssel 1996, S.141-164.

110 Dazu lohn Gillingham, CoaI, steel, and the rebinh ofEurope 1945-1955. The Gerrnans and the French from Ruhr conflict to economic community, Cambridge 1991, S.156.

ill. Die Potsdamer Konferenz

und andere Staaten

Die Potsdamer Konferenz in der Meinung der Berliner Öffentlichkeit 1945 Von Gerhard Keiderling Am 27. Mai 1945 richtete J. W. Stalin an Winston S. Churchill "persönlich und geheim" ein Telegramm: "Herr Hopkins, der in Moskau eingetroffen ist, hat im Namen des Präsidenten ein Dreiertreffenfür die nächste Zeit vorgeschlagen. Ich halte dieses Treffen für notwendig und glaube, daß es am bequemsten in der Umgebung von Berlin durchzuführen sein würde. Das wäre richtig und politisch gut. Haben Sie Einwände dagegen?"}

Zwei Tage später telegraphierte Churchill hocherfreut: "Ich werde mich sehr freuen, mit Ihnen und Präsident Truman in allernächster Zeit in dem, was von Berlin übriggeblieben ist, zusammenzutreffen. ,,'

Die weiteren Absprachen liefen unter dem von Churchill vorgeschlagenen Code "Terminal" über diplomatische Kanäle. Man einigte sich auf den 15. Juli 1945 als Beginn des Treffens in Potsdam. Unter strengster Geheimhaltung wurden im Hohenzollern-Schloß Cecilienhof die Konferenzräume und im Villenvorort Babelsberg die Quartiere der drei Delegationen hergerichtet. Ein Schienenstrang der Eisenbahnstrecke von der sowjetischen Grenze bis Berlin wurde in Eile auf die russische Breitspur umgenagelt, damit Stalin, der sich vor dem Fliegen fürchtete, mit seinem Salonzug direkt bis Potsdam fahren konnte. Die Berliner Presse meldete am 18. Juli 1945 die Zusammenkunft der "Großen Drei", doch die Bevölkerung bekam vom Geschehen nicht viel mit. Gewiß, man registrierte die gestiegene alliierte Geschäftigkeit in der Stadt, die langen Wagenkolonnen, die Beflaggung, die unzähligen Stelltafeln mit dem Konterfei Stalins und seinem Ausspruch: "Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat aber bleibt". Es bedrückten die Berliner ganz andere Nöte. Zweieinhalb Monate nach Kriegsende war das Alltagsleben in der "Reichstrümmerstadt" noch immer hart, entbehrungsreich und ein Kampf ums Überleben. I Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941 - 1945. Hg. Kommission für die Herausgabe diplomatischer Dokumente beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin (Ost) 1961, S. 445.

2

Ebenda, S. 444.

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Die Potsdamer Konferenz - damals auch Berliner Konferenz genannt - endete am 2. August 1945 um 0.30 Uhr. Die "Mitteilung über die Konferenz der drei Mächte", eine verkürzte Fassung des "Protokolls"3, kam am 4. August 1945 in die Berliner Presse. An diesem Tage schrieb Ruth Andreas-Friedrich, eine im antifaschistischen Widerstand engagierte Journalistin, in ihr Tagebuch: "Große Schlagzeilen in allen Zeitungen. >Das Potsdamer Schlußabkommen. Gemeinsame Politik in allen Besatzungszonen. Einigung über die Friedensordnung in Europa.< Ein Stein fällt uns vom Herzen. Also kein neuer Krieg."

Nachdem sie die Einzelheiten über Wiedergutmachung, Gebietsabtrennungen und Umsiedlungen gelesen hatte, fällte sie das Urteil: "Das sind doch Kautschukparagraphen! Auslegbar nach Belieben und Laune. [. .. ] So hatte ich mir die Dinge nicht vorgestellt. Das Potsdamer Abkommen beginnt mir unheimlich zu werden . ...

A. Die "Volksstimmung" Neben Tagebuch-Aufzeichnungen und anderen autobiographischen Überlieferungen sind Berichte deutscher Verwaltungen und Parteien, meist von Besatzungsbehörden angefordert, die wichtigsten Quellen für die damalige "Volksstimmung" . Die Siegermächte bekundeten ein dringliches Interesse daran, die Meinung der Deutschen zu aktuellen und perspektivischen Fragen zu erfahren, um die eigene Politik besser darauf einstimmen zu können. Während die Amerikaner demoskopische Umfragen, die man mit Ja oder Nein beantwortete, bevorzugten, begnügten sich die Sowjets mit Berichten, die allerdings nicht frei von Servilität waren. Im Juni 1945 hatte die sowjetische Kommandantur von den Bürgermeistern der Berliner Verwaltungsbezirke Berichte über Reaktionen auf die Deklaration der Vier Mächte vom 5. Juni 1945 abgefordert. An diesem Tage waren die vier Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen in Deutschland in Berlin-Wendenschloß zusammengekommen und hatten die "Erklärung in Anbetracht der Niederlage

J V gl. die Texte des "Protokolls" und der "Mitteilung" in: Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945. Band 6: Die Potsdamer (Berliner) Konferenz der höchsten Repräsentanten der drei alliierten Mächte - UdSSR. USA und Großbritannien (17. Juli- 2.August 1945). Dokumentensammlung. Hrsg. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. MoskaulBerlin (Ost) 1986. S. 383 ff.

• RuthAndreas-Friedrich. Schauplatz Berlin. Tagebu 7haufzeichnungen 1945 - 1948. Frankfurt a. M. 1986. S. 89 f.

Die Potsdamer Konferenz in der Meinung der Berliner Öffentlichkeit

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Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands" sowie die Mitteilungen über das alliierte Kontrollverfahren und über die Einrichtung von Besatzungszonen und einem besonderen, von allen vier Mächten gemeinsam zu besetzenden und zu verwaltenden Gebiet "Groß-Berlin" veröffentlicht. 5 In Erwartung des Einmarsches westalliierter Truppen in Berlin - infolge von Verzögerungen beim Rückzug von amerikanischen und britischen Verbänden aus den Westgebieten der sowjetischen Besatzungszone fand er erst am 4. Juli 1945 statt - wünschten die Sowjets die Grundhaltung der Bevölkerung zu eruieren. Meistens mit devoten Sätzen wie: "Das Verhältnis unserer Bevölkerung zu den Besatzungsbehörden, insbesondere zu den Soldaten und KommandosteIlen der Roten Armee, ist als gut zu bezeichnen"6 beginnend, brachten die Berichte die Ambivalenz in den Einstellungen der Berliner zu den "Russen" klar zum Ausdruck. Einerseits würdigten sie die Entschiedenheit, mit der diese die Normalisierung des Lebens, besonders die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, nach Kriegsende vorangetrieben hatten, andererseits drückten sie Betroffenheit und Sorge über fortdauernde Rechtsunsicherheit und Übergriffe von Sowjetsoldaten aus. 7 Ohne Umschweife hieß es im Bericht aus Berliri-Pankow vom 24. Juli 1945: "Große Teile unseres Kleinbürgertums sehen in den Engländern und Amerikanern die bessere Seite der Besatzungsmacht, von deren Verhalten sie persönlich Erleichterungen erhoffen. Diese Meinung geht bis weit in die Arbeiterkreise, weil Disziplinlosigkeit der Roten Armee sich jetzt auch innerhalb der Arbeiterschaft auswirkt. ".

Nach Abschluß der Potsdamer Konferenz holte die sowjetische Stadtkommandantur von den Bezirksbürgermeistern der acht Stadtbezirke des Ostsektors erneut Berichte ein, von denen sie sich einen Stimmungswandel in der Bevölkerung, eine positive Beurteilung im Vergleich zu den inzwischen in die Stadt eingezogenen drei Westrnächten und eine Zustimmung zu den Potsdamer Beschlüssen, die weitgehend Stalins Intentionen entsprachen, erhoffte.

j

Vgl. Amtsblatt des Alliierten Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. I, Berlin 1946, S.

7ff. 6 Landesarchiv Berlin (AußensteIle Stadtarchiv [im folgenden: LAB (STA)l. Rep. 145/1, Nr. 145, BI. 7.

7 Vgl. Gerhard Keiderling, "Als Befreier unsere Herzen zerbrachen". Zu den Übergriffen der Sowjetarmee in Berlin 1945, in: Deutschland Archiv, Köln, H.3, 1995, S. 234 ff.

• Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMOBAreh), BPA, U3/8/086.

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Zu ihrem Erstaunen bekundeten die Berliner nur ein geringes Interesse an dem Schlußdokument des Krieges, das doch wesentlich ihr eigenes Schicksal vorbestimmte. Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Lichtenberg begründete dies in seinem Bericht vom 13. August 1945 so: "Die Bevölkerung hat außerordentlich große akute Sorgen, die jeden einzelnen persönlich angehen, so daß für Dinge allgemeineren Charakters, die nicht nur das Heute und Morgen betreffen, kaum noch Raum bleibt. [' .. J Die Kennntnisnahme durch Rundfunk ist nicht möglich, dafür ist das Dokument zu lang; und nur wenige Menschen haben Rundfunk. Die Kenntnisnahme durch die Zeitungen ist wegen der Zeitungsknappheit erschwert. Trotzdem hat selbstverständlich in der Bevölkerung eine Stellungnahme stattgefunden. Nur sind die Potsdamer Beschlüsse nicht Gegenstand lebhafter Diskussionen gewesen, sondern man hat zu ihnen erst in zweiter Linie Stellung genommen. ,,.

Die Einschätzung traf zu: Nur eine interessierte Minderheit der Berliner Bevölkerung - vorwiegend die in den neuen Parteien, Gewerkschaften, Organisationen und Verwaltungen aktiven Kräfte - verfolgte die politischen Vorgänge. Sie war über die Grundziele der alliierten Besatzunspolitik weitgehend informiert und stellte sich auf eine lange Besatzungszeit ein, in der Deutschland als politisch und wirtschaftlich Ganzes behandelt werden sollte. Die Mehrheit der Deutschen fühlte sich demgegenüber dem Willen der Sieger und Besatzer weitgehend ausgeliefert. Bei den Älteren war die Erinnerung an Versailles und seine Folgen präsent. Die in allen parteipolitischen Lagern gegebene Einstellung zur Besatzung brachte der Bezirksbürgermeister von Berlin-Lichtenberg in seinem schon zitierten Bericht vom 13. August 1945 auf den Punkt: "Die Bedingungen sind sehr hart und haben Auswirkungen, die heute noch gar nicht zu übersehen sind. Jedoch hätte man gegen noch härtere Bedingungen nichts unternehmen und nichts einwenden können; denn wer den Krieg verliert, muß sich dem Sieger fügen. Das gilt in noch höherem Maße [ur ein Land, das den Krieg nicht nur verloren, sondern ihn auch begonnen hat. Die Härte ist also nicht den Vereinten Nationen, sondern allein Hitler und denen, die ihn stützten, insbesondere auch denen, die durch seine Anfangserfolge zu 'Herren-Menschen' wurden, zl/zuschreiben. Mit einer Milderung der Bedingungen durch unterwürfiges Benehmen der Deutschen rechnet man nicht. Es besteht dafür auch keine Neigung, im Gegenteil. Nachdem es sehr vielen Deutschen 12 Jahre lang unmöglich war, sich als Deutsche zu bezeichnen, ohne mit Hitler identifiziert zu werden, wächst das Nationalbewußtsein in erfreulicher Weise. Jetzt aber beruht es nicht auf dem furor teutonicus und Militärmärschen, sondern auf der Liebe zu der in Not und Verfall geratenen Heimat. Das Bedürfnis und die Notwendigkeit, das eigene Haus zu reinigen, trägt dazu bei. Auch von Uneinigkeiten unter den Alliierten verspricht man sich keine Milderung der Lage. Mögen Meinungsverschiedenheiten vorhanden sein, so werden sich die Alliierten doch immer darin einig bleiben, daß der Nazismus und preußische Militarismus

9

Archiv für Christlich-Demokratische Politik St. Augustin, 1 - 222, Nr. 00111.

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ausgerottet werden müssen. Die BevöLkerung hofft. daß das gründLich und schnell geschehe. Ihr Ruhebedüifnis ist sehr groß. Sie sehnt daher keineswegs Uneinigkeit unter den Alliierten herbei; denn diese würden nur auf dem Rücken der deutschen BevöLkerung ausgetragen werden. "/0

B. Die Positivreaktionen auf Potsdam Nachdem - gefördert durch Besatzungsmacht, Parteien und Medien - im Verlaufe des Monats August 1945 eine öffentliche Debatte über das Potsdamer Abkommen in Gang gesetzt worden war, ließen sich Grundhaltungen fixieren. Übereinstimmend bekundeten die Berliner tiefe Genugtuung, daß sich die Goebbels-Propaganda vom Rückfall auf ein Hirtenvolk a la Morgenthauplan und von Massenzwangsdeportationen nach Sibirien nicht bewahrheitete. Es wurde berichtet: "Die Bevölkerung hat langsam begriffen. daß die russische Besatzungsbehörde nicht die Absicht hat. das deutsche VoLk zu vernichten. sondern im Gegenteil bestrebt ist. Deutschland die GrundLage eines Wiederaufbaues zu geben. "11

Ähnlich wurden die Proklamationen der Westalliierten aufgenommen. Die Aussicht auf eine demokratische Wiedergeburt und auf Wiedereingliederung in die Familie der friedliebenden Völker wurde dankbar begrüßt. Die Zielformulierung "Demokratisierung" wurde allgemein als eine Rückkehr zu geläuterten "Weimarer Verhältnissen" verstanden, wobei die Vorstellungen über die Wege dahin, über die Wiederherstellung demokratischer Strukturen und über die Vergangenheitsbewältigung noch unklar waren. Demgegenüber zeichnete sich im Spätsommer 1945 in der Berliner Bevölkerung ein weitgehender Konsens in der unterschwelligen Ablehnung einer kommunistischen Entwicklung ab. Die Grunde hierfür lagen nicht allein in einem tradierten Antikommunismus und in Nachwirkungen von Goebbels' Antisowjetismus, sondern ebenso in den schokkierenden Begegnungen mit Rotarmisten im ApriUMai 1945 und im Mißtrauen gegenüber den Parolen der KPD. die allgemein als "Russenpartei" bezeichnet wurde. Das Programm der KPD vom 11. Juni 1945, das die Aufzwingung des "Sowjetsystems" verwarf und statt dessen die "Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk" forderte 12 , fand eine skeptische Aufnahme, wie aus internen Lagebeurteilungen der KPD-Führung 10

Ebenda.

11

LAB (STA). Rep. 13111, Nr. 298, BI. 95.

12

Deutsche Volkszeitung, Berlin, Nr. I vom 15. Juni 1945.

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bekannt. Ihre Parole von der "revolutionären Demokratie", die "über Weimar hinaus" gehen müsse, wurde als eine Camouflage ihres tatsächlichen Sowjetisierungskurses aufgefaßt. Die Berliner verbanden ihre Demokratie-Vorstellung in erster Linie mit den Werten von Freiheit und Recht, Ordnung und Sicherheit, die sie bei den Westmächten garantiert sahen. Ungeteilte Zustimmung gab es zu den Potsdamer Bestimmungen über Entmilitarisierung und Entnazifizierung. "Nehmt uns die Nazis weg", so erscholl es überall. I3 Hinter diesem beschwörenden Ruf verbarg sich die Schwäche der Deutschen, die außerstande gewesen waren, mit der Hitler-Diktatur selbst Schluß zu machen, aber auch die Dreistigkeit vieler, die im nachhinein angeblich nie etwas mit den Nazis im Sinne gehabt hätten. Die Potsdamer Bestimmung über die Dezentralisierung der deutschen Wirtschaft "mit dem Ziel der Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, die sich besonders in Form von Kartellen, Syndikaten, Trusts und anderen Monopolvereinigungen verkörpert"'4, erregte zunächst kein Aufsehen. Erst die antimonopolistische Kampagne der KPD ab Herbst 1945, die im Juni 1946 im sächsischen Volksentscheid über die entschädigungslose Enteignung der Betriebe der Nazi- und Kriegsverbrecher gipfelte, trug diese Bestimmung als einen "revolutionären Akt" ins Bewußtsein der Ostdeutschen. Die kommunistische Radikalität stieß dabei auf das Unverständnis vieler Arbeiter, die bei einer Zerschlagung der Konzerne und Großbetriebe um ihren Arbeitsplatz, um ihre Werkswohnung und ihre Sozial- und Altersversorgung bangten ..Das Stichwort "Volkseigentum" löste damals noch keine Reaktionen aus.

c. Die Negativreaktionen auf Potsdam Hauptsächlich bewegten die Deutschen am Potsdamer Abkommen zwei Dinge: erstens das Ausmaß der Gebietsverluste im Osten, mit denen keiner gerechnet hatte, zweitens die Reparationen, die man im Grunde anerkannte, doch in ihrer Tragweite als erhebliche Belastung weit in die Zukunft empfand. Eigensinnige und nationalistische Überlegungen wurden mit dem Hinweis auf die gefährdete Volksernährung vorgetragen. Leidenschaftlich wurde über die Grenzziehung im Osten und die Umsiedlung der Deutschen diskutiert. Von dem schier unaufhörlichen Flüchtlingsstrom war Berlin in besonderer Weise betroffen. Täglich kamen Tausende durch die kriegs13

LAB (STA), Rep. 145/1, Nr. 145, BI. 5.

'4 Die Sowjetunion auf den internationalen Konferenzen, Bd. 6, S.406.

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zerstörte Stadt, die eine Betreuung erwarteten und einen Verbleib erhofften. Die Berliner in ihrer historisch gewachsenen Affinität zum deutschen Osten hofften, daß die Oder-Neiße-Linie nur ein Provisorium bliebe, bis - wie es im Dokument hieß - eine Friedenskonferenz die endgültige Grenze festlegen würde. Große Emotionen verursachte die Reparationsfrage. Über die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung der durch deutsche Aggression und Okkupation bei anderen Völkern angerichteten Schäden bestand in der Bevölkerung ein genereller Konsens. Die Parteien und Gewerkschaften hatten sich hierzu zustimmend geäußert. Dennoch löste die Potsdamer Mitteilung, daß Deutschland "in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und Leiden", die es überfallenen und okkupierten Staaten zugefügt hatte, einen Ausgleich schaffen müsse l5 , heftige Reaktionen aus. Schockierend wirkte der Umstand, daß die angekündigten Reparationen in Berlin realiter bereits seit Wochen in umfassender Weise getätigt wurden. Ende Mai 1945 begannen die sowjetischen Beutekommandos und Demontagetrupps mit dem Abbau von Betriebsanlagen, wobei sie sich zunächst auf die künftigen Westsektoren konzentrierten. Die Rigorosität, mit der nicht nur ehemalige Rüstungsbetriebe ausgeräumt wurden, löste in der Arbeiterschaft, die oft unter großen Anstrengungen die Trümmerbeseitigung und Produktionsaufnahme vorgenommen hatte, Unmut aus. In einem Bericht aus Berlin-Pankow vom 25.August 1945 hieß es: "Die Maßnahmen der Maschinen-Demontage werden nur von bewußten Antifaschisten als notwendig anerkannt. Selbst in antifaschistischen Kreisen gibt es Stimmen. die diese Maschinen-DemontagenJür übertrieben halten. mit der Formulierung: Wie soll man Reparationen zahlen. wenn alle Maschinen abgezogen werden! -Aus Kreisen der Facharbeiter der Metallindustrie kommen Widerstände. weil diese Arbeitskräfte nicht mehr gewillt sind. umzulernen. Die mittlere Industrie ist ebenfalls beunruhigt und enttäuscht darüber. daß keinerlei Entschädigung gezahlt wird. "'6

Ein anderer Bericht vom 5. August 1945 ging in der Beurteilung noch weiter: "In bürgerlichen Kreisen wird das gesamte Dokument der Berliner Konferenz so beurteilt. daß alle Maßnahmen im öffentlichen Leben und der Wirtschaft nur das Ziel haben. die Reparationszahlungen und -lieferungen zu erreichen und nicht die Absicht dahinter steckt. einen selbständigen wirtschaftlichen Körper Deutschlands auch in späterer Zeit zu gestatten. ,,"

II

Vgl. ebenda. S. 407f.

16

SAPMO.BArch. BPA I /3/8/ 086.

17

Ebenda.

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Eine öffentliche Diskussion der sowjetischen Demontagepraxis untersagte die KPD als Sachwalterin der östlichen Besatzungsmacht, so daß sich auch die anderen Parteien zurückhielten. Allein die Gewerkschaften, die in den Betrieben den Zorn der Arbeiterschaft verspürten, brachten den Mut zum Widerspruch auf. Im "Wirtschaftlichen Notprogramm des FDGB Berlin" vom 3. August 1945 hieß es: "Ohne das Recht der Siegerstaaten antasten zu wollen. glauben die Gewerkschaften, doch daraufhinweisen zu müssen. daß ein bestimmter Prozentsatz von Maschinen die notwendige Leistungskapazität sichern muß. wenn die Existenzgrundlage für die deutsche Arbeiterschaft weiter gewährleistet bleiben soll. [ ... } Überblickt man die Maßnahmen in ihrer Gesamtheit. dann drängt sich die Frage auf, ob nicht ein Weg zu finden ist, der zwar den Völkern gibt. was durch Hitler bei ihnen vernichtet wurde. aber zugleich die Weiterarbeit des deutschen Volkes sichert. "IR

Aus Furcht, ihren Einfluß auf die Industriearbeiterschaft zu verlieren, machte sich schließlich die KPD die Forderung nach Reparationen aus der laufenden Produktion anstelle der Demontage zu eigen. Doch nahm die SMAD bis Ende 1947 auf derartige Wünsche wenig Rücksicht. 19

D. Die Haltung der KPD zu den Potsdamer Beschlüssen Von den neuen antifaschistisch-demokratischen Parteien, Gewerkschaften und Organisationen, die im Zuge des SMAD-Befehls Nr. 2 vom 10. Juni 1945 in Berlin mit einem Reichsanspruch entstanden waren, war die Stellungnahme der Kommunistischen Partei Deutschlands von größter Relevanz. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Potsdamer Abkommens forderte die KPD-Führung ihre Parteiorganisationen zum "gründlichen Studium" und zur ausführlichen Propagierung des Dokumentes auf. Vor Bezirksparteileitungen und auf Landesparteikonferenzen referierten am 5. August 1945 Walter Ulbricht in Thüringen, Anton Ackermann in Sachsen und Franz Dahlem in MecklenburgVorpommern, am 12. August Fred Oelßner in Sachsen-Anhalt und am 9. und 16. August Wilhelm Pieck in Berlin bzw. in der Provinz Brandenburg. In einem Leitartikel der "Deutschen Volkszeitung", dem Organ der KPD, vom 5. August 1945 gab der Parteivorsitzende Wilhelm Pieck eine Orientierung. Grundanliegen der KPD war es, die Potsdamer Beschlüsse, die - wie ihr Zustandekommen bewies - einen sorgfältig abgestimmten Komprorniß zwischen kon.. SAPMO-BArch, ZPA, NL 182, Nr. 1151, BI. 9. '" Vgl. Rainer Karlsch, "Arbeiter, schützt Euere Betriebe!" Widerstand gegen Demontagen in der SBZ. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Berlin. 1994, H. 3, S. 380 ff.

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vergierenden und divergierenden Auffassungen der Drei Mächte hinsichtlich der Behandlung Deutschlands in der Besatzungsperiode darstellten, zu einer Plattform gemeinsamer Politik von SMAD und KPD zu machen. In Wort und Schrift stellte die KPD folgende Argumentationslinien heraus:

1. Dank der beharrlichen Zurückweisung imperialistischer Zerstückelungspläne hätte die Sowjetunion in Potsdam einen Sieg für die Sache des Friedens und der Demokratie errungen. Pieck: "Das Dokument atmet die Größe Stalins. Nur durch seinen Einfluß ist uns die Möglichkeit des Wiederaufbaus gegeben.[ ... ] Die Konferenz gibt uns allen die Möglichkeit, die Rolle der SV klar zu sehen. ,,20 2. Enge Verbundenheit mit der Sowjetunion als einer "Bastion des Friedens und des Fortschritts" und ihr langjähriger Kampf gegen Faschismus und Krieg würden der KPD das historische Recht auf Führung der deutschen Nation einräumen. Pieck: "Wir als Kommunisten sind die einzige Partei, die einen konsequenten Kampf gegen den Faschismus geführt hat. [... ] Wir müssen dazu beitragen, das deutsche Volk ideologisch umzuwälzen. [... ] Immer waren es die reaktionären Kräfte des deutschen Volkes, die sich verbündet haben, den Bolschewismus zu verhindern. [... ] Aber durch unser jetziges Bündnis mit der SV wird es uns gelingen, den Kampf konsequent zu führen. Wir müssen die Führerin des deutschen Volkes sein."21 Karl Maron, damals stellvertretender Oberbürgermeister Berlins, ergänzte: "Die Möglichkeiten, die uns die Dokumente lassen, werden beweisen, ob wir in der Lage sind, zu führen. Wir müssen bei allen Diskussionen immer die positiven Seiten der Dokumente herausstreichen.,,22 3. Aus der Gleichsetzung von einer Reihe Bestimmungen des Potsdamer Abkommens mit Forderungen ihres Aufrufs vom 11. Juni 1945 leitete die KPD eine "wissenschaftlich begründete" und völkerrechtlich bestätigte Allgemeingültigkeit ihres Revolutionskonzepts für ganz Deutschland ab. Alle bereits eingeleiteten oder angekündigten "revolutionären Akte" wurden mit dem Potsdamer Abkommen begründet und gerechtfertigt, selbst dort, wo es - wie im Falle der entschädigungslosen Enteignung der Großindustrie und der Bodenreform expressis verbis keine Bezugspunkte gab.

20 Bericht über die Sitzung der Bezirksleitung Berlin der KPD vom 9. August 1945. in: SAPMOBAreh. BPA. I1VOI6. 21

Ebenda.

22

Ebenda.

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Ulbricht zehn Jahre später: "Zwischen den Grundaufgaben des Potsdamer Abkommens und dem Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945, dem sich der antifaschistisch-demokratische Block angeschlossen hatte, bestand völlige Übereinstimmung. '~J

Die Integration der Potsdamer Beschlüsse in die KPD-Strategie der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" als Vorstufe zur "sozialistischen Revolution" und ihre Instrumentalisierung im politisch-taktischen Bereich vollzog sich im August/September 1945 in einer Weise, die eine Gutheißung und Förderung seitens der sowjetischen Besatzungsmacht zu Recht vermuten ließ. Umgekehrt profitierten die Sowjets im bald ausbrechenden Streit mit den Westmächten über die Einhaltung des Potsdamer Abkommens von einer Konstellation, bei der sie sich auf die Unterstützung deutscher politischer Kräfte berufen konnten. Der nächste Schritt im offenkundig abgestimmten Vorgehen von SMAD und KPD galt der Gewinnung der sogenannten Bündnispartner für das geschilderte Programm.

E. Die Block-Kundgebung vom 12. August 1945 Am 3. August 1945 kam der Gemeinsame Ausschuß der Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien - am 14. Juli 1945 von Vertretern der KPD, SPD, LDP und CDU gebildet und später "Block" genannt - im Berliner Stadthaus zu seiner 3. Sitzung zusammen. Namens der KPD schlug Wilhelm Pieck vor, auf der geplanten Kundgebung der Einheitsfront am 12. August 1945 zum Potsdamer Abkommen Stellung zu nehmen. Es wurde eine aus Walter Ulbricht (KPD), Erich W. Gniffke (SPD), Arthur Lieutenant (LDP) und Ernst Lemmer (CDU) bestehende Kommission zur Vorbereitung gebildet. 24 Bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Erklärung zeigten sich erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Mit dem Argument, als besiegtes Volk gezieme es sich nicht, die Abmachungen der Sieger zu begrüßen, wollten CDU und LDP ihren Einfluß auf die nichtkommunistische Mehrheit in der Bevölkerung nicht gefährden, wohl wissend, daß eine Reihe der alliierten Bestimmungen als außerordentlich 2] Walter Ulbricht, Zur Geschichte der neuesten Zeit. Die Niederlage Hitlerdeutschlands und die Schaffung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Band I, I. Halbband, Berlin (Ost) 1955, S. 205. UIbricht führte diese "gesetzmäßige Übereinstimmung" auf "die Stalinsche Konzeption der Nachkriegsentwicklung in Deutschland" zurück.

24

SAPMO-BArch, ZPA, NL 90, Nr. 500, BI. 17.

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hart empfunden würde. Konkret ging es um die Fragen der Mitschuld, der Ostgebiete, der Umsiedlungen und der Reparationen. Hierin wollte man sich nicht festlegen, nicht als Fürsprecher der Besatzungsmächte erscheinen. Auf der 6.Sitzung des CDU-Gründungsausschusses vorn 9. August 1945 trug der Parteivorsitzende Andreas Hermes seinen Standpunkt vor: "Für die Christlich-Demokratische Union ergibt sich die Einstellung daraus, daß die Potsdamer Beschlüsse auf der einen Seite noch nicht endgültig sind und daß die Reichseinheit gewahrt bleibt und daß auf der anderen Seite Hoffnungen auf eine weitere entlastende Entwicklung bestehen können. I ... ] Die Union sehe keine Veranlassung, die Potsdamer Beschlüsse negativ zu beurteilen, und sie übersehe nicht, daß ein alliierter Wille, das deutsche Volk leben zu lassen, vorhanden sei. ,as

Anders die Reaktion der KPD; sie konnte und wollte die sowjetische Besatzungspolitik nicht aus einer kritischen Distanz betrachten. Wilhelm Pi eck erklärte arn 9. August 1945: "Es sind keine leichten Bedingungen.I ... ] Aber keine Partei daif sich der Verantwortung entziehen. I... ] Die anderen Parteien möchten die Mitschuld des deutschen Volkes am Krieg verschweigen, um damit die Besatzungstruppen zu erpressen. Das zu tun, bedeutet dem Faschismus Vorschub zu leisten. "2.

In der Beratung des seit dem 19. Juni 1945 bestehenden Gemeinsamen Arbeitsausschusses von KPD und SPD vorn 9. August 1945 setzten die Kommunisten einen Resolutionsentwurf durch, in dem nach Mitteilung Grotewohls sozialdemokratische Bedenken zur Oder-Neiße-Linie der "Zensur" zum Opfer fielen. 27 Der Entwurf wurde den bei den bürgerlichen Parteivorständen unterbreitet. 28 Andreas Hermes korrigierte den Entwurf kräftig, indem er Vokabeln wie "Imperialismus", "Groß- und Rüstungskapital" herausstrich, ebenso die Charakterisierung der Reparationen als "Gebot der Gerechtigkeit" sowie die Gebietsabtrennungen im Osten als "unvermeidliche Folge verbrecherischer Gewaltpolitik" . Über diese Einwände kam es in der 4.Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses der Einheitsfront der Parteien vom 11.August 1945 zu einer heftigen Debatte, bei " "Echte Idee der Union." Protokolle des Berliner Gründerkreises der CDU 1945. Eine Gabe der DDR-CDU an den ersten gemeinsamen Parteitag der CDU in Hamburg, o. O. (Berlin) und o. J. (1990), S. 18 f. 2.

SAPMO-BArch, BPA, 1/21016.

27 V gl. Frank Moraw, Die Parole der "Einheit" und die Sozialdemokratie, Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 104.

2' Wortlaut in: Bundesarchiv Koblenz. Nachlaß Jakob Kaiser, Nr. 22; abgedruckt in: Siegfried Suckut. Blockpolitik in der SBZlDDR 1945 - 1949. Die Sitzungsprotokolle des zentralen Einheitsfront-Ausschusses. Quellenedition (Mannheimer Untersuchungen zu Politik und Geschichte der DDR. Bd. 3), Köln 1986, S. 81 f.

7 Timmermann

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der Hennes mit einer Ablehnung der Resolution drohte, "sollte die Gegenseite auf unmöglichen Formulierungen bestehen. ,,29 Besorgt um den Fortbestand ihrer Blockpolitik, lenkte die KPD ein. Die beschlossene und am nächsten Tag veröffentlichte Resolution begrüßte in verhaltenen Worten die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, die "die Möglichkeit zur friedlichen Erneuerung unseres Vaterlandes" geben, und bekräftigte "die Zusammenarbeit und die feste Einheitsfront der vier Parteien. ,,30 Von den umstrittenen Themen war nur die Reparationsfrage angesprochen worden: "Die eindeutige Erklärung. daß die Abtragung der Reparationen dem deutschen Volke genügend Wirtschaftskraft lassen wird. um ohne Hilfe von außen zu leben und zu einer mittleren europäischen Lebenshaltung zu gelangen. richtet unseren Blick in die Zukunft. Wir werden hart arbeiten müssen. "11

Die Kundgebung des "Blocks" am 12. August 1945 im Großen Sendesaal des Berliner Rundfunks in der Masurenallee manifestierte nach außen hin eine Geschlossenheit der vier Parteien, die es in Wirklichkeit nicht gab. Die Reden der vier Parteivorsitzenden - Wilhelm Pieck (KPD), Otto Grotewohl (SPD), Andreas Hermes (CDU) und Waldemar Koch (LDP) - ließen Nuancen sehr wohl erkennen. 32 Das Tauziehen um die Potsdam-Resolution hatte tiefer liegende Gründe und nachhaltige Auswirkungen. Die beiden bürgerlichen Parteien CDU und LDP, aufgrund der Parteienzulassung gemäß SMAD-Befehl Nr.2 zu einem Zusammengehen mit KPD und SPD im Rahmen eines "Blocks" genötigt, sahen in der ersten gemeinsamen Kundgebung eine Gelegenheit, ihren bereits bei der Blockgründung am 14. Juli 1945 bekundeten Willen zu Selbständigkeit öffentlich zu machen. Da die LDP wenig Widerstandswillen an den Tag legte, blieb es der CDU vorbehalten, der kommunistischen Blockpolitik - wie es Hermes ausdrückte - "die Giftzähne" auszubrechen. 33 Mehr als ein achtungsgebietendes Zeichen vermochte der Kreis um Hennes, Kaiser und Lemmer nicht zu setzen. Allerdings reichte das aus, damit SMAD und KPD in der Folge behutsamer mit ihren "Bündnispartnern" umgingen. Ein Bruch zwischen den Parteien lag damals in keinerlei Interesse.

29

Bundesarchiv Koblenz. NL Kaiser. Nr. 22; Suckut. Blockpolitik. S. 82.

30 Wortlaut in: SAPMO-BArch. ZPA. NL 90, Nr. 500. BI. 20 ff.; Deutsche Volkszeitung vom 14. August 1945; Suckut. Blockpolitik. S. 83 f.

31

Ebenda.

32

Wortlaut der Reden in: Deutsche Volkszeitung vom 14. und 15. August 1945.

33

Bundesarchiv Koblenz. NL Kaiser, Nr. 22; Suckut, Die Blockpolitik, S. 82.

Die Potsdamer Konferenz in der Meinung der Berliner Öffentlichkeit

99

F. Die KPD-Versammlungskampagne Die Heftigkeit, mit der über die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz öffentlich diskutiert wurde, blieb weder der SMAD noch der KPD verborgen. Allerdings machte man sich die Motivsuche und noch mehr die Schlußfolgerung nach üblichem Schema recht leicht. Auf der Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin vom 9. August 1945 fragte der spätere Landesvorsitzende Waldemar Schmidt: 'Woher kommt diese Stimmung der Bevölkerung über die Potsdamer Beschlüsse? Die Faschisten sind enttäuscht, denn sie hatten sich immer noch gewünscht und vorgestellt, daß es zu ernsthaften Differenzen und zur Trennung zwischen der S. U. und den Alliierten kommen wird. Welche politischen Konsequenzen ziehen wir aus den Potsdamer Beschlüssen? Die nächsten Schulungstage werden bringen die Klarstellung, Ausnutzung und Wegebnung der Potsdamer Beschlüsse. Uns sind alle Chancen des Wiederaufbaus gegeben. Es liegt an uns. wie wir sie ausnutzen. Wir müssen mehr an die Öffentlichkeit treten, müssen mehr das Gesicht der Partei zeigen ...34

Eine Umfrage im KPD-Unterbezirk Berlin-Mitte vom August 1945 ergab jedoch ein erschütterndes Resultat: "Es bestehen bei fast allen Unklarheiten oder falsche Auffassungen. Wir müssen unbedingt dafür Sorge tragen, daß unsere Genossen in allen Fragen des Dokumentes Klarheit bekommen, damit sie auch gute Propagandisten sind. Es muß für die nächsten Referentenkurse das Schulungsthema sein. ".15

So wurde denn auch verfahren. Der KPD-Parteivorstand beschloß, das Thema "Potsdamer Konferenz" in die seit Juli 1945 laufende Parteischulung sowie in das Lehrprogramm der Parteischulen aufzunehmen. 36 Entsprechende Schulungsmaterialien wurden ausgearbeitet. In der Partei presse nahm die Erläuterung des Potsdamer Abkommens breiten Raum ein. Auf der Sitzung des Berliner Partei vorstandes vom 15. September 1945 wurde gefordert: "Es müßte eine Kampagne durchgeführt werden mit dem Thema 'Die Potsdamer Beschlüsse'.,,3? Nachdem die Zeitungen im sowjetischen Sektor Berlins schon am 4. August 1945 die "Mitteilung der Potsdamer Konferenz" veröffentlicht hatten, gaben noch im Herbst

"SAPMO-BArch, BPA, 1/2/016. 3S

Ebenda.

" Das Schulungsthema "Die Berliner Beschlüsse" wurde im August 1945 in der Berliner KPDParteiorganisation an drei Abenden behandelt: "Politischer Teil. wirtschaftliche Grundsätze, Reparations- und Grenzregulierung." Vgl. SAPMO-BArch, BPA, 1/3/8/086. 37

7"

SAPMO-BArch, ZPA, NL 182, NT. 951, BI. 26.

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1945 der sowjetische SWA-Verlag und deutsche Verlage den Text in mehreren Broschüren mit sehr hoher Auflage heraus. Im Anschluß an die Berliner Block-Kundgebung vom 12. August 1945 führte die KPD ähnliche Veranstaltungen in vielen Städten der Ostzone durch. Walter Ulbricht gab hierzu am 13. August 1945 in einem Interview mit dem Berliner Rundfunk eine Anleitung. 38 Über die Gewerkschaften wurden die Beschäftigten in Betrieben, Verwaltungen und Einrichtungen angesprochen. 39 Eine von der Funktionärkonferenz des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes Groß-Berlin am 9. August 1945 angenommene Entschließung zu den Potsdamer Beschlüssen bewegte sich ganz im Rahmen der von der KPD am gleichen Tage im zentralen Blockausschuß eingebrachten Fassung. 40 KPD-Funktionäre sorgten auch dafür, daß das Thema in den Bildungsabenden der Frauen- und Jugendausschüsse sowie in Versammlungen von Haus- und Straßengemeinschaften behandelt wurde. Wie bei anderen kommunistischen Kampagnen öffnete sich eine Kluft zwischen dem Aktionismus des Parteiapparates und der Akzeptanz der KP-Propaganda in der Bevölkerung. Der "Chefideologe" Fred Oelßner mußte im Parteivorstand am 26. Oktober 1945 einräumen: "Es ist uns jetzt gelungen, eine Einheits-Kundgebung der vier Parteien zustande zu bringen, in der ein gemeinsamer Beschluß für die 'Beschlüsse der Berliner Konferenz' angenommen wurde. Das ist eine politische Tatsache. Wir haben leider bis heute noch immer nicht richtig gelernt, Kampagnen zu führen. Wir haben die 'Berliner Beschlüsse' nicht ausgenutzt in unserer täglichen Arbeit, haben sie nicht zum Ausgangspunkt genommen. '04'

Vor allem in der Reparations- und Ostgrenzfrage, die in der Bevölkerung zum Maßstab der Bewertung der Potsdamer Beschlüsse gemacht wurden, hatten die KPD-Funktionäre einen schweren Stand. "Vgl. Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 11, Berlin (Ost) 1955, S. 449 ff. 39 Auf der GroB-Berliner Funktionärkonferenz der KPD vom 12. Oktober 1945 hob Ulbricht hervor: "Es ist allgemein bekannt, daß die freien Gewerkschaften in Berlin eine besonders intensive Aufklärungsarbeit unter der Arbeiterschaft über die Beschlüsse der Berliner Konferenz und des Kontrollrats durchgeführt haben. Das ist auch bisher von den Besatzunsgsbehörden anerkannt worden." SAPMO-BArch,ZPA,1311-2/114, BI. 33; abgedruckt auch in: Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 11, S. 500.

4. Vgl. Gewerkschaftlicher Neubeginn. Dokumente zur Gründung des FOGB und zu seiner Entwicklung von Juni 1945 bis Februar 1946. Herausgegeben und eingeleitet von Horst Bednareck, Albert Behrendt und Dieter Lange, Berlin (Ost) 1975. S. 71 ff. ., SAPMO-BArch, ZPA, I 2/2/27.

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Der Parteivorsitzende Pi eck klagte: "Ich habe/ast keinen Kursus miterlebt - und ich habe viele abgehalten -. wo nicht die Frage der neuen Ostgrenzen gestellt wurde. wo nicht aus den Kreisen unserer Genossen die besorgte Frage auftauchte: ja. werden wir nicht wirklich ein Volk ohne Lebensraum?'~2

Es lag an der Grundstimmung in der Bevölkerung, daß die KPD in den beiden genannten Fragen Ansätze einer selbständigen deutschen Politik, die sie ansonsten immer großspurig im Munde führte, artikulierte - ein Kurs, den die SED noch einige Zeit beibehielt.

G. Der Legitimationszweck In der Versammlungskampagne der KPD vom Herbst 1945, gebilligt und gefördert durch die sowjetische Besatzungsmacht, war der künftige Legitimierungs- und Instrumentalisierungszweck des Potsdamer Abkommens in nuce angelegt, und zwar in dreifacher Hinsicht: 1. Mit der Herauskehrung einer besonderen Rolle der Sowjetunion als angeblich einzige Interessenvertreterin des deutschen Volkes wurde eine "Ostorientierung" propagiert, die die Deutschen für das "Sowjetmodell" empfänglich machen sollte. Kritik und Ablehnung der "imperialistischen Westmächte" hatten in diesem Konzept antipodische Funktionen. Perspektivisch bedeutete dies die Ausrichtung und Anbindung der gesellschaftlichen Entwicklung in SBZlDDR an die Großmacht Sowjetunion. 2. Mit der demonstrativen Betonung einer Übereinstimmung von Potsdamer Abkommen und dem Juni-Aufruf der KPD sollte eine vermeintliche Identität von nationalen und international-völkerrechtlichen Interessen herbeigeredet werden, aus der eine einmalige "historische Chance" zu einem "antifaschistischdemokratischen Wandel" in Richtung "realer Sozialismus" abgeleitet wurde. Perspektivisch bedeutete dies, mangelnde Akzeptanz bei der eigenen Bevölkerung durch "objektive Faktoren" wie "völkerrechtliche Verbindlichkeit" und "Friedenssicherung auf deutschem Boden" auszugleichen. 3. Mit der Anpreisung des Potsdamer Abkommens als "Magna Charta" des deutschen Volkes wurde die "Geburt eines neuen Deutschlands" verbunden, die infolge einer behaupteten Nichtverwirklichung der Potsdamer Bestimmungen in Westdeutschland nur im Osten erfolgen konnte. Allein die DDR sie danach der einzig rechtmäßige, weil vorgeblich in Kongruenz zum Potsdamer Abkommen befindliche deutsche Staat. 42

SAPMO-BArch. ZPA. I 215/40.

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In diesem Geiste wurden mehrere Generationen in der DDR erzogen und indoktriniert. Die politisch-agitatorische Prozedur war simpel und von Walter Ulbricht schon 1955 auf die vereinfachende Formel gebracht worden: "Das 'Ja' oder 'Nein' zu den Prinzipien von Potsdam wurde so zum entscheidenden Kriterium für Fortschritt oder Reaktion. [ur Einheit oder Spaltung. für friedliche Aufbauarbeit oder Wiedererstarken des Militarismus und schließlich für Frieden oder Krieg. Alles. was in Deutschland die Geleise auf den alten Kurs von Krise. Krieg und Not des Volkes zurückstellen wollte. vereinte sich unter der Losung 'Los von Pots· dam'.· ..J

Hier ist die Rede gewesen von der Aufnahme der Potsdamer Beschlüsse durch die Berliner Bevölkerung im Herbst 1945. Darlegungen und Schlußfolgerungen gelten prototypisch auch für die Bevölkerung in der SBZ. In den Westzonen, der späteren Bundesrepublik Deutschland, fand eine diametral entgegengesetzte Rezeption der Potsdamer Beschlüsse statt. Zumeist blieb schon der historische Fakt unbekannt. Dies ist eine Geschichte, die gesondert untersucht werden muß .

•3

Vlbricht. Zur Geschichte der neuesten Zeit. S. 202.

Die Potsdamer Konferenz als Mittel der Sowjetisierung Polens Von Georg W. Strobel Die Potsdamer Konferenz leitete die machtpolitische Durchsetzung des Kommunismus in Osteuropa, seine Sowjetisierung, ein. Hierbei erhielt Polen von der Sowjetunion eine Schlüsselrolle zugedacht, wozu der Gedanke seiner Einverleibung als Sowjetrepublik von den Moskauer polnischen Kommunisten gegen Mitte1943 aufgegeben werden mußte. Für die Erreichung einer Zustimmung der antikommunistischen polnischen Gesellschaft zum Potsdamer Abkommen und damit deren Einbindung in und Nutzung für die politischen Pläne Moskaus, wofür Polen auf Betreiben der Sowjetunion gleicherweise als Morgengabe wie als Gegenleistung für seine abgetrennten Gebiete jenseits des Bug ostdeutsches Gebiet erhielt, was vom späteren Parteivorsitzenden Boleslaw Bierut noch Ende August 1945 als Kompensationsleistung bezeichnet wurde I, spielten auch Spekulationen auf das tradierte polnische Deutschlandsyndrom eine klug kalkulierte Rolle, auf tradierte Prädispositionen und psychopolitische Vorbehalte gegenüber Deutschland also, die die eigene gesellschaftliche Ablehnung in Polen substituieren sollten. Die mit Unterstützung der Roten Armee im Spätsommer 1944 im befreiten Teil Polens die Regierungsrnacht übernehmenden Kommunisten wurden nämlich schon in der Vorkriegszeit und nicht erst seit dem Polen aufteilenden MolotowRibbentrop-Pakt von Ende August 1939 kurz vor dem Überfall beider auf Polen als eine staatsfeindliche und volksverräterische "Zydokomuna" ("Judenkommune") mit antisemitischem Zungenschlag abgelehnt. Dafür gab es viele Gründe, wobei Juden mit Kommunisten gleichgesetzt wurden. Die polnischen KommuI Boleslaw Bierut, damals Parlaments präsident, sagte am 24. August 1945 auf einer Pressekonferenz in Warschau: ,,Die Regelung der Grenzfrage zwischen Polen und der Sowjetunion hat den territorialen Bestand des polnischen Staates geändert. Sie hat von Polen bedeutende Gebiete im Osten abgetrennt.. .. Die Verkleinerung des polnischen Territoriums durch die Regelung der Grenzfrage im Osten mußte kompensiert werden durch eine entsprechende Festlegung der polnischen Westgrenze. Übrigens war schon damals, als die Sowjetunion zum ersten Male diese Frage aufwarf, das Problem in der Weise behandelt worden, daß Polen eine entsprechende Kompensation im Westen erhalten müsse". Auszugsweise übersetzte Wiedergabe der Ausführungen Bieruts, in: Georg W. Strobel, Deutschland - Polen. Wunsch und Wirklichkeit. Eine Dokumentation zum Problem der Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 und zur Frage der polnischen Vorbedingungen. Bonn Bruxelles New York 1971, 2. erw. Aufl., S. 40.

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nisten verneinten zusammen mit ihren deutschen Genossen die "konterrevolutionäre" Rückgliederung des preußischen Teilungsgebietes auf Kosten Deutschlands wie überhaupt die Unabhängigkeit Polens bereits seit Mitte 1918, bildeten auf polnischem Boden im Hinterland der 1920 vorrückenden Roten Armee, in Bialystok, eine von der ostpolnischen jüdischen Bevölkerung verbreitet begrüßte Gegenregierung und setzten später die Staatsgrenzen der Republik im Sinne des kommunistischen Selbstbestimmungsrechts der Völker bis zur Lostrennung in Frage und trachteten, sie zugunsten Deutschlands und der Sowjetunion zu verändern. Die Situation von 1945 war insofern ganz besonders schizophren, als nunmehr deutsches Staatsgebiet bereits einige Monate vor der Potsdamer Konferenz als "polnisch" von den Sowjetbehörden übernommen worden war, obwohl der polnische Kommunismus seit seinem V. Parteikongreß im Juli 1930 programmatisch die von der KP Deutschlands mit den bei den Erklärungen vom Spätsommer 1930 zur "Oberschlesien-Frage"2 und zur "nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes,,3 sowie später auch noch von der Erklärung der Essener Konferenz aller west- und mitteleuropäischen KP's vom l. Januar 1933 4 unterstützte Ansicht vertreten hatte, daß westliche Teile Polens ethnisch deutsch seien und daher im Zuge des Selbstbestimmungsrechts gerechterweise Deutschland spätestens bei der Übernahme der Herrschaft durch den Kommunismus zugeschlagen werden müßten 5 . Auf diese Weise wurde von der KP Polens pflichtschuldig ein Beitrag zur Installierung eines Europa revolutionierenden "Räte-Großdeutschland" oder "Sowjet-Großdeutschland", wie es auch genannt wurde, geleistet. Hier sind die Ursachen für die zwei Jahre bis Ende 1948 dauernde "nationale Phase" der SED 2 Flugblatt mit dem Wortlaut der Erklärung der Bezirksleitung Oberschlesien der KPD vom 27. September 1930, in: SP Germany. Kommunistische Partei Deutschlands. Bezirk Oberschlesien. Hoover-Library, Stanford University, Stanford, Calif. 3 Wortlaut der Erklärung des ZK der KPD vom 24. August 1930 und ihrer Begleitumstände, in: Lothar Berthold, Das Programm der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes vom August 1930, Berlin (Ost) 1956.

• Mobilmachung des proletarischen Internationalismus zum Kampf gegen das Versailler Raubsystem, gegen die Kriegsgefahr und den Chauvinismus, in: Inprekorr, Berlin, 10.1.1933. - Es handelt sich um das Organ der Kommunistischen Internationale (=Komintern) ..Internationale Pressekorrespondenz", das unregelmäßig mehrmals wöchentlich erschien und sich der abkürzenden Bezeichnung .. Inprekorr" bediente. , Projekt Programu Komunistycznej Partii Polski (Sekcji Mi vdzynarod6wki Komunistycznej)

(Entwurf des Programms der KP Polens I Sektion der Kommunistischen Internationale!), in: Materialy

do programu KPP (Materialien zum Programm der KPP), Moskwa 1933, S. 150ff. - Der Entwurf, der vor der Auflösung der KPP Ende 1937 nicht mehr angenommen wurde, ist auf dem darauffolgenden VI. KPP-Kongreß im Oktober 1932 jedoch bestätigt worden. Vgl. VI Zjazd KPP (VI. Kongreß der KPP), Warszawa 1932, S. 18ff.

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seit dem Spätsommer 1946 zu suchen, in der auf Grund einer in diesem Sinne abgefaßten gemeinsamen Erklärung der KPD und der KP Polens vom 29. Januar 1933 anläßlich eines Friedens- und Grenztreffens in Gleiwitz die Oder-NeißeGrenze abgelehnt wurde 6• Auch während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg kam keine Verständigung zwischen der nationalen, von der Londoner Exilregierung geführten Untergrundbewegung und den von Moskau gesteuerten polnischen Kommunisten zustande. Die Verhandlungen über eine Aktionseinheit wurden 1943 von Wladyslaw Gomulka geführt, dem späteren kommunistischen Parteiführer und Minister für die "Wiedererlangten Gebiete", wie das übernommene deutsche Staatsgebiet genannt wurde. Die nationale Untergrundführung hatte Ende 1943 mit ,,Antyk" daraufhin eine eigene Organisation für den politischen Kampf gegen den Kommunismus ins Leben gerufen und einen Kampf gegen "zwei Feinde", gegen Deutschland und gegen den sowjetischen Kommunismus, angesagt. Stellenweise wurde er von den eigenen Partisaneneinheiten mit großer Brutalität ausgetragen. Eine antikommunistische Widerstandsbewegung, übrigens im Zusammenspiel mit ukrainischen Nationalisten, mit denen man sich noch wenig früher unnachsichtig bekämpft hatte, die nun aber der Kampf gegen den Kommunismus, den eigentlichen Feind beider, einte, hielt sich in Polen während der ersten Jahre der kommunistischen Nachkriegsregierung und wurde auf polnischem Gebiet erst durch grenzübergreifende polnisch-sowjetisch-tschechoslowakische Militäreinsätze gegen Ende 1948 zerschlagen, bei denen der polnische stellvertretende Verteidigungsminister General Swierczewski 1947 ums Leben kam, der legendäre General Walter der Internationalen Brigaden des spanischen Bürgerkrieges. Trotz der politischen Gegensätze und der Widersprüchlichkeit der kommunistischen Haltung von 1945 zu derjenigen der dreißiger Jahre wurden die Polen im Westen verändernden Ergebnisse der Potsdamer Konferenz aber von den allermeisten Polen akzeptiert. Das drängt die Frage auf, wieso und warum solches geschehen konnte. Immerhin bedeutete diese Akzeptanz außer für die Durchsetzung und Stabilisierung der abgelehnten kommunistischen Herrschaft in Polen und für die deutsch-polnischen Beziehungen auch für die sowjetische Strategie in Europa sehr viel, so daß diese Frage mit aller ihrer Ambivalenz eine eigene historische Bedeutung gewinnt. 6 Wortlaut in: Polish Subject Collection. Hoover-Institution on War, Revolution and Peace. Stanford University, Stanford, Calif. - Zur Gesamtproblematik vgl. Georg W. Strobel, Nationalitätenprobleme in Ostmitteleuropa, Räte-Großdeutschland und Grenzfragen als Mittel kommunistischer Revolutionsstrategie, in: Nationales Selbstverständnis und politische Ordnung. Abgrenzungen und Zusammenleben in Ost-Mineleuropa bis zum Zweiten Weltkrieg. Hrsg. Von Hans Hecker und Silke Spieler, Bonn 1991, S. 113ff.

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Für die Beantwortung ist es nötig, die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz für Polen zu rekapitulieren: Polen wurde aus seiner ostmitteleuropäischen Randlage westwärts bis an die Oder und Lausitzer Neiße verschoben, wobei Stettin, der historische Getreideausfuhrhafen Westpolens, entgegen dem Sinn und Geist von Potsdam, wonach die Grenze entlang des Unterlaufs der Oder verlaufen sollte, Polen samt Hinterland einverleibt wurde. Völkerrechtlich unbeachtet blieb, daß auch das unter Völkerbundmandat stehende eigenständige Völkerrechtssubjekt der Freien Stadt Danzig zu Polen kam, das sich das Dritte Reich beim Überfall auf Polen 1939 völkerrechtswidrig einverleibt hatte, obwohl Österreich, das andere dem Dritten Reich eingegliederte völkerrechtliche Subjekt, nach Kriegsschluß seine Eigenständigkeit zurückerhielt. Nahezu das gesamte östlich der Oder und Lausitzer Neiße gelegene Gebiet fiel an Polen, von dem es noch die dort verbliebene oder von ihrer Flucht zurückgekehrte deutsche Bevölkerung mit Billigung aller am Potsdamer Abkommen beteiligten Staaten aussiedeln durfte. Das relativiert zwar die Verantwortung Polens für die Vertreibung, nicht aber für die Art und Weise ihrer Durchführung. Ein Teil der in der Heimat verbliebenen deutschen Zivilbevölkerung wurde zur Zwangsarbeit in Polen herangezogen, übrigens auch im Kohlebergbau unter Tage, oder zum gleichen Zwecke von sowjetischen und polnischen Behörden in die Sowjetunion deportiert. Ihre Mortalitätsrate war hoch. Dazu trugen ebenfalls verschiedene polnische Konzentrationslager wie Potulice, Lambinowice, Jaworzno, Sikawa oder das weitergeführte NS-Konzentrationslager Auschwitz bei. Neben ihnen gab es örtliche Konzentrierungspunkte für die von der Kriegswalze auf ihrer Flucht eingeholten Menschen, die nicht mehr an ihre Heimatorte zurückgelassen oder auch aus ihren Wohnungen ausgewiesen wurden, um einströmenden Polen Platz zu machen, und an den Konzentrierungspunkten Zwangsarbeit leichterer Art verrichten mußten, um überhaupt leben zu können. In vielem ähnelte die Situation derjenigen der Ende 1939/Anfang 1940 aus den neugeschaffenen Reichsgauen ausgesiedelten Polen, die Platz für Deutsche zu machen hatten. Meist wurden Frauen, Kinder und Greise in den Konzentrierungspunkten festgehalten. Im Zusammenhang mit Flucht, Vertreibung und Deportation wird von mindestens zwei Millionen Toten ausgegangen, wobei die Schwankungsbreite der Schätzungen groß ist. Also: Übernahme des meisten deutschen Staatsgebietes durch Polen und Vertreibung sowie Deportation der deutschen Restbevölkerung, die immer noch in die Millionen ging. Durch die Bestimmungen der Potsdamer Konferenz wurde Polen erstmals in seiner Geschichte der erträumte national und konfessionell geschlossene, dazu noch westwärts ausgreifende Staat. Das besaß eine enorme psychopolitisch befriedigende Bedeutung und brachte dem neuen, aber fatalerweise kommunistischen Polen sogar die Unterstützung des Episkopats und der polnischen Geistlichkeit.

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Einige Jahre später sollte dieser prima facie überraschende Umstand in einem Gedenkstein in der Kathedrale von Kolberg Ausdruck finden, auf dem auch noch der Zurückdrängung des Protestantismus gedacht wurde, - übrigens ebenfalls ein Erfolg der kommunistischen Politik auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens. Bei einer solchen umfänglichen Erfüllung tradierter Wünsche der Nation und ihrer Kirche, der "polnischen Kirche", wie sie sich selber versteht, verwundert nicht weiter, daß die Kirche in diesen Gebieten von Anfang an zu jenen Kräften zählte, die die ehedem deutschen Gebiete als polnisch zu stabilisieren und bevölkerungspolitisch entsprechend zu konsolidieren suchte, lange bevor noch eine einigermaßen effiziente staatliche Verwaltung vorhanden war, und damit aus nationaler Verstrickung der Sowjetisierung zur Hand ging, ohne es zu erkennen? Priester wirkten an der Vertreibung mit, wobei sie sich noch Jahrzehnte später öffentlich mit einigem Stolz und großem Selbstbewußtsein in einer öffentlichen Pressediskussion dazu bekannten und trotz des vergebenden und um Vergebung bittenden Briefes der polnischen an die deutschen Bischöfe nicht bereit waren, einsichtig und selbstkritisch ihr damaliges unversöhnliches Verhalten zu reflektieren. Für die Haltung und Rolle der "polnischen Kirche" ist bezeichnend, daß einer der höchsten Würdenträger des Episkopats Ende der sechziger Jahre meinte, 1945 sei das ehedem deutsche Gebiet bei seiner Übernahme nahezu restlos entvölkert gewesen, was selbst damals zugänglichen offiziellen Bevölkerungsstatistiken Polens widersprach. Schon immer war die "polnische Kirche" für die Nation ein meinungsbildendes und politisch bestimmendes Vorbild gewesen. Besonders als historische Bewahrerin und politisches Beispiel prägte sie das Verhalten der Nation, leitete sie an, wurde von ihr wiederum verehrt und gehört. So formte sie während der verschiedenen Zeiten der Unfreiheit im 19. und 20. Jahrhundert die politische Meinung und die Einstellung der Gesellschaft. Gesellschaftspolitisch umso bedeutsamer war daher ihre bedeutungsmäßig über Polen hinausgreifende konsolidierende Rolle in der Anfangsphase des kommunistischen Staates und der Sowjetisierung Mittelosteuropas. Kardinal Hlond gab Mitte 1945 noch vor der Potsdamer Konferenz gegenüber seinen deutschen bischöflichen Mitbrüdern in den neu erworbenen Gebieten sogar wahrheitswidrig vor, im Namen und im Auftrag des Papstes zu handeln, als er die deutschen Bischöfe nötigte, zugunsten polnischer Administratoren ihre Bischofssitze zu räumen. Das ermöglichte den Aufbau einer funktionierenden polnischen Kirchenadministration in diesen Gebieten schon ab Sommer 1945, bevor es noch eine ähnlich effektive staatliche oder 7 Anfang Mai 1955 erklärte das Episkopat trotz zwischenzeitlicher Bedrückung, daß es "zusammen mit dem ganzen Volke auf dem Boden der Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze steht". "Wir können nicht gleichgültig der Gefahr gegenüberstehen, die für unser Vaterland und für den Frieden durch die Anfachung der Tendenzen jener Deutschen entsteht, welche gegenüber Polen revisionistisch eingestellt sind". Vgl. Trybuna Ludu, 6.5.1955.

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parteiliche gab. Die deutschen Bischöfe und Priester wurden verdrängt und vertrieben, katholische Deutsche von den polnischen Priestern und von den neuen, zusammengewürfelten Gemeinden als Katholiken bestenfalls zweiter Klasse empfunden, wenn überhaupt, denn nach geltender Volksmeinung hatten Deutsche ja Protestanten zu sein. Wegen Sprachschwierigkeiten konnten sie keine Beichte ablegen, wodurch sie auch nicht mehr in den Genuß der Gnade der Heiligen Sakramente kamen 8 • Den protestantischen Deutschen wurde wiederum, und das in Ostpreußen sogar noch bis in die jüngste Vergangenheit, mit der Wegnahme und konfessionellen Umfunktionierung ihrer Kirchen die letzte Zuflucht in ihrer tragischen Situation und der religiöse Ruheort geraubt. Letzten Endes ging es den deutschen Katholiken aber nicht viel besser, da ihre Kirchen auch nicht mehr die ihrigen waren. Christliche Barmherzigkeit war genau so wenig gefragt, wie in den Besatzungsjahren gegenüber Polen. Doch für die Gesellschaft waren das Fingerzeige für ihren Umgang mit Deutschen sowie für das Einverständnis in die Grenzverschiebung Polens westwärts, letzten Endes aber auch für die Ausraubung dieser Gebiete und ihrer Menschen, die zu der sprachlichen Bezeichnung "Szaber" führte 9 . Alles das konsolidierte das kommunistische Regime. Bezeichnenderweise ging das Regime aber schon wenig später ebenso brutal gegen die ihm hilfreich zur Seite getretene "polnische Kirche" vor, gewissermaßen als Dank für die erhaltene Unterstützung. Die 1945 eingetretene Situation vergällte vielen Deutschen ihre Heimat so sehr, daß sie die Vertreibung bald als eine Erlösung aus ägyptischer Gefangenschaft empfanden. Es wäre zu einfach, wollte man die allgemeine polnische Akzeptanz für die Potsdamer Beschlüsse nur auf die Schrecken und Leiden, auf die Bevölkerungsverluste durch Erschießungen, Konzentrations- und Todeslager, die je nach Zählung mindestens drei und maximal sechs Millionen Menschen betrugen, abhängig

• Franz Scho/z, Zwischen Staatsräson und Evangelium. Kardinal Hlond und die Tragödie der ostdeutschen Diözesen. Tatsachen - Anfragen - Hintergrunde, Frankfurt 1988. - Msgr. Dr. Franz Scholz war zuletzt ab 1972 Professor der Universität Augsburg für Systematische Theologie (Christliche Ethik). Zur Gesamlproblematik vgl. Georg W. Strobel, Der Einfluß der Religion in der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Polens. I. Vortragsveranstaltung im Rahmen der bestehenden Patenschaft zwischen der Volksbank Dudweiler und der Fachrichtung Katholische Theologie in der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes, 0.0. 0.1. (Saarbrucken 1982). 9 Mariusz Urbanek, Wielki Szaber (Der große 'Szaber'), in: Polityka, Warszawa, 29.4.1995; - in Auszügen übersetzt: Informationen und Bericht - Digest des Ostens, Königstein, Nr. 5, Mai 1995, S.lff.

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davon, ob die jüdischen Opfer als Polen mitgezählt werden, sowie Widerstandsund Kriegshandlungen, die Auszehrung und Verzweiflung, auf die Zwangsarbeit, auf die Inhaftierung und Deportierung von Geistlichen, auf die Schließung der allermeisten Kirchen für Polen in den neuen Reichsgauen sowie auf die vielen Erniedrigungen und Demütigungen in der deutschen Besatzungszeit zurückzuführen, die bereits seit dem Spätherbst 1939 von umfangreichen Vertreibungen von Polen sowohl aus den Deutschland völkerrechtswidrig als Reichsgaue einverleibten westlichen Landesteilen wie aus Städten und Landstrichen des Generalgouvernements begleitet war, um Wohn- und Siedlungsraum für die aus ganz Europa ,,heim ins Reich" zusammenströmenden Deutschen zu schaffen. Bereits im Winter 1939 machten die Baltendeutschen den Anfang. Das sollte bestimmend für die internationale Einmütigkeit in Potsdam bezüglich der späteren Vertreibung der Deutschen werden, obgleich das beklagte Unrecht neu es Unrecht nicht zu Recht werden lassen kann. Die Ursachen der Akzeptanz der Potsdamer Beschlüsse, die natürlich von alledem mitbestimmt waren, liegen noch viel tiefer. Sie sind historisch seit mindestens dem 17. Jahrhundert tradiert und vom Verhältnis zu Deutschen, zu Preußen und zu Deutschland bestimmt, das vor allem in der Zeit der mehr als hundertjährigen Unfreiheit Polens zur Stärkung des nationalen Selbstverständnisses als Kompensation für den Niedergang des Staates und als Bindemittel der Nation syndromartig herausgebildet wurde. Begünstigt wurde es nach 1918 durch die vielen in Schulen als historische Fakten behandelten Mythen und Legenden, mit denen das polnische Geschichtsbewußtsein sowie die polnische Gesellschaft, internalisiert in den frühesten Sozialisationsjahren, außerordentlich intensiv lebten. Der rationale Westen ist kaum imstande zu begreifen, welche irrationale politische und psychologische Bedeutung von ihnen ausgeht. Zu beachten ist dabei, daß in Polen schulischer Geschichtsunterricht vor allem der patriotischen Erziehung zu dienen hat. Schon in den ersten Schulklassen des besonders prägenden frühen Sozialisationsalters wurden seit 1918 Generationen von Schülern von Legenden, die als reale Geschichte ausgegben wurden, und von patriotischen Liedern und Gedichten geprägt. Dazu gehört vieles. Zuoberst sind die "eisernen Grenzpfähle" (,,:lelazne slupy Chrobrego") zu nennen, die König Boleslaw Chrobry, der Tapfere, schon Ende des 10. Jahrhunderts in die Odermündung gerammt habe, was die Grenzvorstellungen Polens versinnbildlichte. Hierher gehört die Legende vom König Popiel, den Mäuse, die als Sinnbild für Deutsche verstanden wurden, aus seinem Turm in Kruszwica verjagt haben sollen, ebenso wie die Legende von der Königstochter Wanda, die den Tod gewählt habe, um keinen Deutschen, den Rüdiger der Nibe-

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lungensage, heiraten zu müssen lO • Einzureihen sind hier ferner alle jenen Sprüche, die besonders im polnischen 19. unfreien Jahrhundert überaus populär waren, im Volksmund, in Zeitungen und Zeitschriften aber nach wie vor herumgeistern. Vor allem die Teilnahme an den drei Teilungen Polens macht Preußen für Polen bis auf den heutigen Tag zum eigentlichen Beelzebub Europas, daneben aber auch die umstrittene, aber einseitig und nicht ganz zu Recht unnachsichtig verurteilte Politik Preußens ll seit der zweiten "germanisierenden" Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie machten die Sprüche unter Polen außerordentlich populär und überzeugend. Zu ihnen gehörten der bis heute verbreitetste "So lange die WeIt besteht, wird der Deutsche dem Polen niemals Bruder sein" ("P6ki swiat swiatem nie b~dzie nigdy Nierniec Polakowi bratem"), wie die ursprüngliche Version lautet, der bereits 1688 von Waclaw Potocki in seinen "Moralia" ("Die Moralien") als Ergebnis seines Vergleichs von Polen mit Deutschen benutzt wurde, und der ihm ähnliche "Wie aus dem Winter kein Sommer werden kann, so wird ein Deutscher nie Bruder werden" (,,Jak z zimy nie b~dzie lata, tak z Niemca nie b~dzie brata"). Über Generationen prägten sie zusammen mit einer patriotisch herzstärkenden, aber deutlich deutschkritischen Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts das polnische Verständnis von und die Haltung gegenüber Deutschen, - bemerkenswerterweise aber lange vor den für die gegenseitigen Beziehungen so unheilvollen Teilungen Polens, an denen Preußen zwar teilnahm, sie gedanklich sogar antizipierte, sie aber letztendlich nicht ausgelöst hatte 12 • Die endgültige Auslöschung Polens von der Landkarte Europas, was Preußen vorgeworfen wird, auf die es aber 1807 als Großherzogtum Warschau noch einmal zurückgekehrt war, beschloß jedoch die auf dem Wiener Kongreß 1815 versammelte europäische Staatengemeinschaft, was bei den populären Sprüchen ebenso wie in der herzerhebenden, aber stark verzeichnenden Nationalliteratur und im Geschichtsbewußtsein untergeht. Ergänzt wurde alles durch Stereotypen wie Pole-Katholik und Deutscher-Protestant, was zwar selbst für Preußen wirklichkeitsfern, trotzdem aber unter Polen psychopolitisch einprägsam und bei der bigotten Volksfrömmigkeit vorurteilsmäßig sehr wirksam 101. Kurczewski. Nar6d w socjologii i ideologii polskiej (Die Nation in der polnischen Soziologie und Ideologie), Warszawa 1979; Tadeusz Biernat, Mit polityczny (Der politische Mythos), Warszawa 1989; Wbdysbw KopaliJiski, Slownik mit6w i tradycji kultury (Lexikon der Mythen und der Kulturtraditionen), Warszawa 1985. 11 Georg W. Strobel, Denken und Handeln in den polnischen Teilungsgebieten und in Polen nach 1918. Ein politisch-ethischer Vergleich, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, Marburg 1995, Heft 2, S. 191-270.

12 Wojciech WrzesiJiski, Wr6g czy sl\siad? Z badari nad ksztaltowaniem si~ obrazu Niemca wsr6d Polak6w (Feind oder Nachbar? Forschungen zur Bildung des Bildes des Deutschen in Polen), in: W cieniu przeszlosci. 0 stosunkach polsko-niemieckich (Im Schatten der Vergangenheit. Über die polnisch-deutschen Beziehungen), Warszawa 1986, S. 133ff.

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war. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges und der Besatzungszeit leisteten zu alledem einen eigenen Beitrag, so daß die populären Sprüche, die Legenden und die Nationalliteratur einer ganzen Epoche zusammen mit dem menschenverachtenden Geschehen bei dem besonderen polnischen historischen Langzeitgedächtnis, welches zum psychokulturellen und psychopolitischen Merkmal der Polen geworden ist, die Masse der Polen deutschkritisch beeinflußten, - wenngleich es auch anderes gab 13 • Obwohl mit alledem keine konkreten territorialen Ansprüche verbunden waren, so konnten sie dem legenden- und mythenumwobenen Geschichtsbild der Polen durchaus entnommen werden. Das populäre Geschichtsverständnis der Polen, das durch grob vereinfachende Darstellungen der akademischen Historiker in volkstümlichen Büchern und Artikeln gefördert wird, verleibt seit jeher die westslawischen Stämme der polnischen Nation ein, - was allein schon insofern unlogisch ist, als ja auch Tschechen, Sorben und Slowaken eigene westslawische Nationen bilden. Auf diese Weise wird aber das polabische Siedlungsgebiet, das über das westelbische Wendland nördlich bis an die Kieler Förde reichte, indirekt als polnisch verstanden. Bereits 1808 formulierte der polnische Reformpolitiker Hugo Kolllltaj, daß dieses neue, aus dem durch Napoleons Gnaden 1807 entstandenen Großherzogturn Warschau zu restituierende Polen Preußen mindestens bis an die Oder zurückzudrängen habe, bis an die "eisernen Grenzpfähle" Chrobrys. Damals wurde das mit so großer öffentlicher Zustimmung bedacht, daß Kolll}tajs Traktat bis 1810 drei Auflagen erreichte. Die Jahre nach dem Novemberaufstand von 1830, der bezeichnenderweise in Mittelund Süddeutschland, aber stellenweise auch in Preußen eine Welle enthusiastischer Polenfreundschaft auslöste, die im Hambacher Fest Mitte 1832 ihren politischen Höhepunkt fand, wurden zu Jahren der Besinnung auf die ruhmreiche Geschichte des Intermarium-Reiches der Jagiellonen zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Dieses im Sinne Kolllltajs und der Legende weit nach Westen ausgreifende "GroßPolen" ("Wielka Polska") wurde zu einem beliebten, hoffnungs- und verheißungsvollen Sujet in der polnischen Dichtung und Literatur des untergegangenen, im Novemberaufstand gedemütigten Polen. Julian Tomaszewicz sah ein Polen "vom Dnepr bis zur EIbemündung", Konstanty Gaszynski forderte polnische "eiserne Grenzpfahle an Dnepr und Saale". Wincenty Pol zeichnete in seinem Epos von 1835, das er "Lied von unserem Lande" ("Piesn 0 ziemi naszej") nannte, das künftige Polen als erträumte Verheißung am eindringlichsten, dazu poetisch am vollendetsten. Das unter vielen ähnlichen Gedichten und Liedern am begehrlichIl Während der deutschen Besatzungszeit fanden sich verschiedenenorts polnische intellektuelle Zirkel zusammen, um Goethe und Schiller zu lesen und sich mit deutscher Literatur und Musik zu beschäftigen, dabei auch mit Richard Wagner. dem Polenfreund und Schöpfer der Ouvertüre "Polonia", wobei ihnen, weil Zusammenkünfte mehrerer Personen bei Strafe verboten waren, im schlimmsten Falle sogar der Tod drohte.

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sten aufgesogen ,,Lied" Pols, dessen drei ersten Auflagen seit 1843 bezeichnenderweise aber gerade im gescholtenen Preußen, in Posen, erscheinen konnten, zeichnete ein Groß-Polen zwischen Rügen, Oder, Düna und Dnepr einschließlich Stettin, Breslau, Königsberg, Kiev und Polock bis kurz vor Moskau1 4 • Mit dem Jahr 1918, das Polen die Unabhängigkeit wiedergab, kamen an den Prädispositionen des 19. Jahrhunderts geschärfte Vorstellungen von einem von ,,Meer zu Meer" ("od morza do morza") reichenden, mächtigen Polen auf, das sich sogleich aufmachte, als Gegengewicht zu seinen beiden großen Nachbarn ein "Drittes Europa" zu bauen. Allein schon wegen seiner historischen Vormauerfunktion für das Abendland gegenüber dem Osten, seiner wehrhaften Rolle als "antemurale christianitatis", komme ihm die herausgehobene Stellung im mittelosteuropäischen Gürtel zu, womit Dank abgestattet und Anerkennung des abendländischen Europa gegenüber dem unerwartet wie Phönix aus der Asche wiedererstandenen, im Wiener Kongreß 1815 zum vierten Male geteilten und brutal endgültig ausgelöschten Polen, wodurch Rußland bis nach Mitteleuropa vordringen konnte, erwiesen werden könne. Nun werde es das Abendland gegen den sowjetischen Kommunismus wie einstmals gegen die ebenfalls Weltanspruch stellende Orthodoxie schützen, - eine Vorstellung, die der "Solidarnosc"-Vorsitzende Lech Wal~sa noch 1981 für seine Bewegung wiederholte. Der Gedanke von einer führenden Rolle Polens, das als Gegengewicht in Ostmitteleuropa ein "Drittes Europa" anführen und ein "Wielka Polska", ein Groß-Polen, werden solle, das "Großmächtigkeit" ("Mocarstwowosc") ausstrahlt, wurde zur Staatsideologie Vorkriegspolens, - in seinen politischen Auswirkungen von der Geschichtsschreibung übrigens viel zu wenig beachtet. Wincenty Pols "Lied von unserem Lande" wurde zur verbindlichen Schullektüre, viele der Lieder, Gedichte und Legenden gingen sogar in die Vorschulerziehung ein und wurden Gegenstand von Schullehrplänen, wie die auswendig zu lernende, gereimte Sage von der Königstochter Wanda. Nachdem das Gebiet um Posen, die "Wielkopolska" ("Großpolen"), noch vor der Friedenskonferenz von Versailles Anfang 1919 mit Gewalt Polen einverleibt 14 Der 1807 geborene Wincenty Pol war, was gleichermaßen auf die Bedeutung der deutschpolnischen Symbiose wie auf die Assimilationskraft der polnischen Kultur und Gesellschaft hinweist, ein in erster Generation polonisierter Sohn des aus Lublin im Jahre 1809 von den österreichisches Gebiet zwückerobemden Polen nach Lemberg vertriebenen, aus dem preußischen Ermland stammenden dortigen Landrats mit Namen Poil von Pollenburg. Wincenty Pol, der sich im Amtsverkehr seines eigentlichen Namens Vinzenz Poil von Pollenburg bediente, dichtete anfangs wie sein Bruder in Deutsch. Erst die Teilnahme am Novemberaufstand 1830, den er als mit dem Kreuz Virtuti Militari ausgezeichneter Leutnant beendete, "taufte" ihn "mit Blut" zum Polen - womit er auf seine Verwundung anspielte -, wie er in eindruckvollen Gedichten bekannte, den "Piesni Janusza" ("Lieder des Janusz"), die er 1832 in der Emigration in Dresden schrieb.

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worden war, kamen bei der Vorbereitung der Versailler Friedenskonferenz umfangreiche, territoriale Ansprüche gegenüber Deutschland auf, die dort vorgetragen wurden und die Potsdamer Lösung aus dem Jahre 1945 vorwegnahmen. Im Gespräch waren Oberschlesien, Hinterpommern bis Kolberg ebenso wie Danzig, Königsberg und das gesamte Ostpreußen, das Polen nach dem Lehnseid Herzog Albrechts von Brandenburg-Ansbach vom Jahre 1525 zustehe, wie argumentiert wurde, - übrigens auch im postkommunistischen Polen als die Frage der Umwandlung der russischen Exklave Kaliningrad zu einer deutsch-russischen Freihandelszone aufkam. Die Konzeption eines "ethnographischen Polen", die in der Umgebung des Staats gründers J6zef Pilsudski entstand, führte dazu, daß das künftige Polen noch vor Versailles für die bevorstehenden Parlamentswahlen in Wahlkreise aufgeteilt wurde, die auch Oberschlesien, die Wielkopolska und das südliche Ost - sowie das ganze Westpreußen einschließlich Allenstein, Lyck und Danzig erfaBten, deren man sich "ethnographisch" sicher war. Die großen politischen Einfluß besitzende, im Oktober 1921 gegründete Organisation "Verband zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete" ("Zwillzek Obrony Kres6w Zachodnich") mit ihrer Veteranenorganisation "Verband der Wielkopolska-Aufständischen" ("Zwillzek Powstanc6w Wielkopolskich") verlangte seit Anfang der zwanziger Jahre eine territoriale Ausdehnung Polens auf Kosten Deutschlands, was die deutscherseits durch Revisionsforderungen und die Kritik und Ablehnung der Wiederherstellung Polens ohnehin grob belasteten gegenseitigen Beziehungen zusätzlich zuspitzte. Ende Juli 1930 wurde auf einer ihrer Massenkundgebungen in Puck die zum offiziösen Programm werdende Forderung aufgestellt: "Wir verlangen eine Ausdehnung des polnischen Küstengebietes, und wir werden so lange danach rufen und verlangen, bis die polnische Fahne wieder in Danzig, über Ermland und Masuren sowie fern an der EIbe, mindestens aber in Stolp wehen wird"15. In der Öffentlichkeit wurde sie mit großer Zustimmung aufgenommen. Von nun an wiederholten sich solche Vorstellungen in unregelmäßigen Abständen, so bereits im Zusammenhang mit den Präventivkriegsdrohungen gegenüber Deutschland zu Anfang der dreißiger Jahre, und fanden - unterschwellig angedeutet oder abgeschwächt - Einzug in die Reden von Politikern und Militärs, darunter auch des nach dem Tode des Staatsgründers Marschall Pilsudski im Spätfrühjahr 1935 zu seinem Nachfolger, Oberbefehlshaber und Marschall ernannten General Rydz-Smigly, der sich schon früher auf diese Weise zum kämpferischen und stolzen Mahner der Nation profiliert hatte. u Archiwum Wojew6dzkie w Poznaniu: PZZ, Nr. 352, S. 3D, zit. Nach: Marian Mroczko, Polska mysl zachodnia wobec rewizjonizmu niemieckiego (1918-1939) (Der polnische West-Gedanke und der deutsche Revisionismus), in: Niemcy wobec konfliktu narodowosciowego na G6mym SIIlSku po I wojnie swiatowej (Deutschland angesichts des Minderheitenkonflikts in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg), Poznari 1988, S. 111. 8 Timmermann

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Sogar die Akademie der Wissenschaften ("Polska Akademia Umiej~tnosci") beteiligte sich daran, wozu sie Legenden auf Bildpostkarten visualisierte, wie die "eisernen Grenzpfahle" Chrobrys, die sie in der kriegerischen Form von in der Odermündung eingerammten Schwertern mit dem piastischen Adler am Knauf versinnbildlichte. Hitlers Forderungen an Polen seit dem Herbst 1938, seine ernsten Drohungen und Kriegsvorbereitungen blieben in Polen naturgemäß nicht folgenlos. Doch sie gingen in eine bezeichnende Richtung. In der GeselIschaft bildete sich die VorstelIung heraus, die von Rundfunk, Presse und durch Auftritte von Politikern sowie Militärs tatkräftig gefördert wurde, daß im Falle eines Krieges mit Deutschland das ihm überlegene Polen unter der genialen Führung des in Wirklichkeit sehr durchschnittlichen, eitlen Rydz-Smigly siegreich kämpfen und durch die Eroberung von Danzig, Königsberg, Breslau und möglicherweise sogar Berlin, wie noch bis in die ersten Kriegstage in Zeitungen gelesen werden konnte, den Grundstein für das ersehnte mächtige "Groß-Polen" in der Nachkriegszeit legen werde. Bei diesen Aussichten war Kriegsmüdigkeit nicht verbreitet. Ein Bericht des Leiters der Ostabteilung des Foreign Office und seines Begleiters nach einer ausgedehnten Polenreise an das eigene Amt vom Anfang Juni 1939 wirft ein bezeichnendes Bild auf die Einstellung der Gesellschaft und der Verantwortlichen in Polen. Die allermeisten der hochgestellten polnischen Gesprächspartner, zu denen neben höchsten Ministerialbeamten auch Generalstabs- und höhere Linienoffiziere zählten, gingen bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Deutschland, die sie für unausweichlich hielten und der sie keineswegs abgeneigt waren, aber nicht vom Zaune brechen wollten, von einem schnellen Sieg mit erheblichen Gebietsgewinnen aus: mindestens Ostpreußen mit Königsberg, daneben aber auch Breslau und wahrscheinlich noch einiges mehr. Bestätigt wird dies noch durch Tagebuchaufzeichnungen hoher Offiziere, darunter auch des späteren Oberbefehlshabers des bewaffneten polnischen Widerstandes General Grot-Rowecki. Nach dem Kriege, der lokal nicht begrenzt bleiben dürfe, sondern trotz der eigenen Überlegenheit ein "allgemeiner (europäischer) Krieg" werden müsse, visierten die polnischen Gesprächspartner ein "Groß-Polen" an, so im englischen Bericht. Bei einem Kriegsausbruch mit Deutschland sahen sie ein ,,furchtbares Massaker unter den Volksdeutschen" voraus. Die Menschen in Polen verlange es eben nach einem "Gang gegen die Deutschen", was ein Abteilungsleiter im polnischen Außenministerium noch dahingehend ergänzte, daß er den beiden Engländern von "Kriegsgeist in der Bevölkerung", von einer "antideutschen Einstellung" sowie von "Appetit auf deutsches Bauernland" berichtete. Von dem "übermäßigen Selbstvertrauen und vom Chauvinismus", die sie überall festgestellt hatten, zeigten sich die Engländer befremdet und zogen geradezu

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prophetisch eine mögliche Teilung des ungerechtfertigt überheblichen Polen unter Deutschland und die Sowjetunion in Erwägung l6 , wie es später auch geschehen sollte. Solchermaßen waren aber die politischen und psychologischen Weichen der polnischen Politik für das Kriegsende bereits vor dem Überfall Deutschlands gestellt Sie sprachen alle für die spätere Potsdamer Lösung, die sie psychologisch indirekt vorbereiteten. Die Forderungen gegenüber dem kriegsverursachenden Deutschland, die während des Krieges von der legalen polnischen Regierung im Exil sowie von der Gesellschaft in der besetzten Heimat formuliert wurden, schlossen erwartungsgemäß an diese Konzeptionen an. In einem Memorandum vom Ende November 1939 an England, Frankreich und an den US-amerikanischen Präsidenten Roosevelt wurde erstmals nach Kriegsbeginn dazu offiziell Stellung genommen 17 • Die polnische Exilregierung forderte für die Zeit nach Kriegsschluß Ostpreußen und die Freie Stadt Danzig, ein eigenes Völkerrechtssubjekt, unbedingt, darüberhinaus aber noch weitere Gebiete, - mindestens bis Kolberg, um die Grenze zu Deutschland zu begradigen. Die Ansprüche auf Oberschlesien ergaben sich aus den drei oberschlesischen Aufständen von 1919, 1920 und 1921 geradezu automatisch und ganz selbstverständlich, denn dieses Gebiet wurde auf solchem Hintergrund als eindeutig polnisch und auch Polen zugehörig angesehen. In einer Instruktion der Exilregierung an den sich in der Heimat formierenden Offiziers-Widerstand wurde Anfang Dezember 1939 gefordert, die Untergrundkräfte sollten sich bereithalten, bei einer Landung der Allierten an der Ostseeküste, ausgehend von Dänemark, zusammen mit ihnen Ostpreußen und die Weich sei niederungen für Polen frei zu kämpfen und in Oberschlesien, auch im deutschen Teil, einen Aufstand der Oberschlesier auszurufen, der Polen Oberschlesien bis zur Oder einbringen sollte, denn Oberschlesier, Masuren und Kaschuben seien "ethnisch" Polen. Seit 1941 wurden die Vorstellungen über eine Westausdehnung Polens im heimatlichen Untergrund akut. Bereits Ende 1940 wurde von den sich um das illegale Blatt "Szaniec" scharenden nationalistisch-rechten bis faschistoiden Organisationen ein Programm veröffentlicht, in dem nicht nur eine Grenze an Oder und Lausitzer Neiße, sondern erstmals überhaupt auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung gefordert wurde. Dazu wurde dann 1944 unter dem Posener Universitätsprofessor Zygmunt Wojciechowski ein "West-Institut" ("Instytut Zachodni") im Untergrund zur Vorbereitung der Westausdehnung und Vertreibung 16

Abdruck in deutscher Übersetzung, in: Deutsche Ostkunde, Waiblingen 1983, Nr. I, S. 8f.

17 Michal Kwiatkowski, RZlid i Rada Narodowa RP w swietle fakt6w i dokument6w od wrzesnia 1939 do lutego 1942 (Regierung und Nationalrat der Republik im Lichte von Fakten und Dokumenten zwischen September 1939 und Februar 1942), London 1942.



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gegründet, das ideologisch und politisch an die Arbeit des aus dem "Verband zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete" Mitte der dreißiger Jahre hervorgegangenen halb offiziellen "Polnischen West-Verband" ("Polski Zwiqzek Zachodni" = PZZ) anknüpfte. Dieses Institut wurde übrigens nach 1945 in Posen fortgeführt, behielt seinen Namen und seine gezielt deutschlandkritische Aufgabenstellung bei. Bezeichnenderweise erhielt es als Anerkennung bereits im postkommunistischen Polen den Namen seines nationalistischen Gründers als Ehrennamen hinzugefügt. Es versucht seit 1990 unter Verzicht auf seine jahrzehntelange Tradition, aber weitgehend mit den gleichen Mitarbeitern, nunmehr mit einigem Erfolg als Mittler zwischen Deutschland und Polen zu agieren. Mitte 1941 entwickelten Sozialisten und Bauernparteiler, die sich aber bald wieder davon distanzierten, in dieser Untergrundsituation ein "Programm Volkspolens" ("Program Pol ski Ludowej"). In ihm wurde eine erhebliche Westausdehnung Polens bei gleichzeitiger Vertreibung der deutschen Bevölkerung sowie der Gedanke einer Föderation ostmittel- und südosteuropäischer Staaten mit einem Groß-Polen als Herzstück und Führungsrnacht entworfen, ähnlich der Konzeption des ,,Dritten Europas" aus der Vorkriegszeit und der späteren Potsdamer Lösung I8 • Während das "Programm" die Ostgrenze Polens aus der Vorkriegszeit akzeptierte und ihre Restitution nach dem Kriege erwartete, verlangten die am rechten Flügel stehenden Untergrundgruppierungen zusätzlich eine Erweiterung Polens nach Osten, wie sie seinerzeit für eine kurze Zeit Lenin den Polen Ende 1919 angeboten hatte l9 , was ein "slawisches Imperium" unter polnischer Vorherrschaft mit Warschau als Hauptstadt begründen sollte, das von der Oder und Lausitzer Neiße bis mindestens zum Dnepr und zur Düna gereicht hätte. Angesichts der Vorstellungen in der Heimat schlug die Londoner Exilregierung

im Dezember 1942 nach langen und kontroversen Diskussionen den Westalliierten

konkret eine Grenze an Oder und Lausitzer Neiße vor, worin sich im Gegensatz 18 Program Polski Ludowej. in: Polish Underground Collection. Hoover-Institution on War. Revolution and Peace, Stanford University, Stanford, Calif. Christoph Kleßmann. Das "Programm Volkspolens" von 1941, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. München 1973, Nr. I. S. 103ff.. dort jedoch mit irritierenden Unklarheiten bezüglich der Vorgeschichte und der Zeitumstände. - Zum Gesamtkomplex vgl. MichaJ Siiwa, Polska mysl socjalistyczna 1918-1948 (Die polnische sozialistische Idee 1918-1948), Wroclaw 1988. S. 217ff. 19 Lenin ließ über seinen Unterhändler Marchlewski-Karski Ende 1919 erklären.er halte eine Grenze zu Polen am Dnepr für möglich. Die Verhandlungen in Mikaszewicze führten wegen einer falschen Einschätzung der Situation im revolutionären Rußland durch Pilsudski und dessen Absicht, seine "Interrnarium"-Föderationsvorstellungen mit Hilfe der Ukraine Petljuras zu verwirklichen, zu keinen Ergebnissen. Vgl. Adiutantura Centralna Naczelnego Dow6dztwa. R6zne: Akta sprawy pertraktacji z Sowieckim Czerwonym Krzyzem. Teka 84. Pilsudski-Institute of America for Research in the Modern History of Poland. New York.

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zur Ostgrenze alle politischen Gruppierungen des Exils einig waren. Aus dem übernommenen deutschen Gebiet müßte die einheimische deutsche Bevölkerung ausgesiedelt werden, wurde zusätzlich gefordert. Politische Vorstellungen aus der Vorkriegszeit, die auf einer Gleichsetzung von westslawischen Polaben mit Polen gründeten, wurden insofern aufgegriffen, als für Polen im besiegten Rest-Deutschland Militärstützpunkte gefordert wurden, insbesondere auf Rügen, Fehmarn und am schleswig-holsteinischen Nordostseekanal, bemerkenswerterweise aber unter Mißachtung der Souveränität Dänemarks auch auf Bornholm. Diese Vorstellungen blieben für die polnische Exilregierung auch für die Zeit nach Mitte 1945 verbindlich, als ihr die Anerkennung der Westmächte entzogen wurde 20 . Im Grunde ging ihre Haltung erheblich über die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz hinaus. Die Akzeptanz für die Exilforderungen war bei allen Polen gleich welcher politischer Couleur seit 1941 so allgemein und nachdrücklich, daß auch die Potsdamer Beschlüsse sie befriedigen mußten. Doch sie wurden nicht mehr von dieser nationalen, in Polen weiterhin als legal angesehenene Regierung erreicht, sondern von der als Gegenregierung zu ihr entstandenen kommunistischen. Das sah die polnische Gesellschaft sehr wohl. Sie begriff aber auch, daß in den Beschlüssen vorherige, essentiell nationalpolnische und nicht kommunistische Vorstellungen bezüglich Deutschland verwirklicht worden sind, wie sie die KPP noch vor zehn Jahren gegen den politischen Willen der Nation besessen hatte. Doch angesichts der Nähe zu den nationalorientierten, aus dem Untergrund hervorgegangenen Vorstellungen und besonders noch wegen der Akzeptierung der kommunistisch herbeigeführten Beschlüsse durch die politisch meinungsbildende und richtungsweisende, traditionsgebundene und nationale "polnische Kirche", wie es sich aus ihrem Verhalten ergab, wurden sie von der polnischen Gesellschaft politisch uneingeschränkt gutgeheißen und angenommen. Die kommunistischen Polen waren in ihren Vorstellungen hingegen immer von der Sowjetunion abhängig. Bis zur Teheraner Konferenz Anfang Dezember 1943 scheint sich die Sowjetunion bezüglich des künftigen Verlaufs der polnischen Westgrenze keineswegs klar gewesen zu sein. Einen Monat nach Teheran, Anfang Januar 1944, wurden Wanda Wasilewska, die Vorsitzende der Vorläuferorganisation der späteren kommunistischen Gegenregierung, des in Moskau entstandenen "Verbandes polnischer Patrioten" ("Zwi/lzek Patriot6w Polskich") und StalinVertraute, sowie General Berling, der die diesem Verband unterstellten polnischen Armeeverbände aus Deportierten, sowjetischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen aufstellte und befehligte, die nach dem Abzug der Anders-Armee 1942 20 Sikorski. Soldier and Statesman. A Collection of Essays ed. by Keith Sword, London 1990, insbes. der Beitrag von Sarah Terry und meine Rezension, in: Zeitschrift für Ostforschung, Marburg 1994, Nr. 43, S. 132f.

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nach Mittelost-Asien auf britisches Gebiet gebildet wurden, zu Stalin bestellt. Im Kreise führender sowjetischer Partei- und Militärführer eröffnete er ihnen den Verlauf der künftigen polnischen Grenze zu Deutschland, ohne mit ihnen vorher darüber irgendetwas abgestimmt zu haben. Er zeichnete für sie selber überraschend eine Grenze entlang der Oder und Lausitzer Neiße einschließlich Ostpreußen. Da sie zur Ostsee entlang der Dievenow verlaufen sollte, so daß Usedom und Wollin ganz bei Deutschland geblieben wären, wandte General Berling ein, daß Polen nicht nur den Hafen Stettin mitsamt Stadt, sondern auch einen schiffbaren Zugang zur Ostsee benötige, den die Dievenow nicht biete. Der wegen falscher Information ärgerliche Stalin zeigte sich aber zugänglich. Mit dem Lineal zog er eine Linie auf der Landkarte von hart westlich Swinemünde bis südlich Stettin an die Oder, womit die Kaiserfahrt und der Stettiner Hafen samt Stadt für Polen gesichert waren; - Berling vermutet, daß die von Stalin damals gezeichnete Grenze in Ostpreußen, die noch Königsberg, das ganze Samland und sogar litauisch besiedelte Gebiete für Polen vorsah, später ebenfalls mit dem Lineal zugunsten der Sowjetunion verändert wurde. Die Details aus Berlings Memoiren werden durch Aufzeichnungen Wanda Wasilewskas in den Grundaussagen bestätigel. Mit dieser festen Grenzkonzeption, die weitgehend an die Untergrund-Programme von 1940-1941 und an die exil pol nischen Regierungsvorstellungen von 1942 angelehnt war, ging Stalin in die folgenden Verhandlungen, auch wenn deren Darstellungen nahelegen, er sei noch keineswegs festgelegt gewesen und habe, wie in Jalta, mit Churchill um die künftigen polnischen Grenzen im Bereich der Neiße unentschlossen gefeilscht und habe in Potsdam einen Komprorniß entlang der Queis zwischen den bei den Neißen erwogen und sogar seinen polnischen Statthaltern nahegelege2 • Stalins festgefügte Ansichten zur Grenzfrage zeigt nicht nur das Geheimabkommen mit der kommunistischen Gegenregierung Polens vom Ende Juli 1944, das eine Grenzziehung gemäß der Anfang 1944 vorgetragenen garantierte, dementgegen Stalin aber dem Nationalkomitee ,,Freies Deutschland" zur gleichen Zeit versicherte, daß Deutschland die Staatsgrenze von 1937 erhalten bleiben werde, falls sich die Wehrmacht auf diese Grenze zurückziehe, was das Nationalkomitee noch Anfang Januar 1945 in Aufrufen verbreitete23 , sondern auch 21 Zygmunt Berling. Wspomnienia. Wolnosc na przetarg (Erinnerungen. Freiheit zu versteigern). Warszawa 1991. S. 329ff. - Eine auszugsweise Übersetzung mit zusätzlichen Erklärungen. in: Georg W. Strobel. Wie Stalin Grenzen in Ostmitteleuropa zog. Zu Zygmunt Berlings Erinnerungen. in: Osteuropa, Stuttgart 1992. S. 1078ff.

21 vgl. hierzu: Carsten Li/ge. Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie als Nebenprodukt alliierter Großmachtpolitik während des Zweiten Weltkrieges. FrankfurtlMain 1995. 23 Das Nationalkomitee .,Freies Deutschland" verbreitete seine Flugblätter nicht nur über der Ostfront. sondern auch im Ausland. Dazu unterhielt es Außenstellen in Schweden. der Schweiz. in

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die erreichte Potsdamer Lösung. Stalins doppelzüngige, ausgeklügelte Strategie und die geschickte Potsdamer Verhandlungsführung waren eben bei der Rationalität und Vertrauensbereitschaft seiner westlichen Verhandlungspartner sowie ihrem Goodwill für sie nicht faßbar und auch für die spätere Geschichtsschreibung nur wenig verständlich 24 • Auf der Potsdamer Konferenz wurden die polnischen Grenzinteressen vornehmlich und am nachhaltigsten von Stalin und der Sowjetunion vertreten, wozu in einer kritischen Verhandlungssituation bei Zustimmung aller Verhandlungsseiten seine polnischen Statthalter nach Potsdam beordet, am 24. Juli angehört und später in Stalins Verhandlungsspiel eingebunden wurden. Auf diesem Hintergrund wurde fortan in Polen dargelegt, die endgültige Grenzziehung im Westen sei allein den polenfreundlichen Konzeptionen Stalins und der Standhaftigkeit der Sowjetunion zu verdanken, was nicht einmal falsch war, was aber angeblich allein im nationalen Interesse aller Polen in brüderlicher Verbundenheit erfolgt sei, welches jedoch weit weniger stimmt, sondern zum Sowjetisierungskalkül Stalins gehörte. Die legale polnische Exilregierung und Sukzessor Vorkriegspolens, dazu Konzeptionsträgerin dieser Grenze, war durch den kurz vorher erfolgten Entzug ihrer völkerrechtlichen Anerkennung durch die Westalliierten, zuvörderst England, aus dem politischen Geschehen ausgeschieden und an der Potsdamer Entscheidung nicht mehr beteiligt, was wiederum den politischen Absichten Stalins entgegenkam und das an der Seite der Westalliierten kämpfende Polen im Stich ließ. Dieser Umstand machte es der "Vorläufigen Regierung der nationalen Einheit", die in Warschau unter Hinzuziehung von drei exilpolnischen Politikern, darunter dem ehemaligen Exil-Ministerpräsidenten Stanislaw Mikolajczyk Mitte 1945 parallel zur Ausschaltung der Exilregierung gebildet worden war, möglich, die Konferenzlösung als ihren nationalen Erfolg auszugeben, was durch die Beteiligung der Exilpolitiker an der Regierung noch besonderen nationalen Segen erhielt. Diesem Geschehen, gestützt mit dem tradierten Deutschlandsyndrom, entlehnte die kommunistische Regierung Polens ihre fehlende nationale Legitimation und Identifikation25 • Daher erhielt die deutsche Frage, wie sie die Potsdamer Konferenz löste, in Polen nicht nur eine außen-, sondern auch eine innenpolitische Funktion mit einer ganz eigenen, auf die Anlehnung an die Sowjetunion ausgerichteten außenpolitischen Bedeutung und wurde zum machtstabilisierenden und machterhaltenden, sowjetiKanada und Mexiko. Eine Augblattsammlung befindet sich im Archiv des Ukrainian Cultural and Educational Center, Winnipeg, Ma. 24 Als vorerst letztes Beispiel vgl. Man/red Gönemaker, Zwischen Krieg und Frieden. Die Potsdamer Konferenz 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/95, Bonn 1995, S. 13ff. 2$ Georg W. Strobel, Polen und die deutsche Frage, in: Günther Wagenlehner (Hrsg.J, Die deutsche Frage und die internationale Sicherheit, Koblenz 1988, S. I 74ff.

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sierenden Instrument kommunistischer Politik in Polen. Dementsprechend wurde sie innenpolitisch vielfaltig instrumentalisiert, insbesondere in den innenpolitisch für sie kritischen Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre. Unnachsichtiger und brutaler Chauvinismus in der deutschen Frage und gegenüber Deutschen, der der Gesellschaft nahegebracht und von ihr zum allergrößten Teil auch bereitwillig akzeptiert wurde, schien ihr die einzige Möglichkeit, ihre keineswegs unumstrittene Herrschaft zu rechtfertigen. Bereits Ende Februar 1945, Monate vor Kriegsende und lange vor der Potsdamer Konferenz, forderte Wladyslaw Gomulka öffentlich nicht nur die von Stalin längst festgelegte und zugesicherte Westgrenze, sondern mit harten, sehr unnachsichtigen Vokabeln auch eine Vertreibung aller Deutschen, wobei er auf dem Hintergrund der für die fernere Zukunft vorausgesagten ,,Revancheabsichten, die noch lange im deutschen Volke wach sein werden", die Erwartung formulierte, daß dies "das polnische Volk instinktiv zur (nationalen) Einigung" führen werde, womit er bereits sehr früh die nationale legitimative Strategie der Kommunisten andeutete und zugleich Sprachregelungen für die Zeit nach dem Kriegsende festiegte 26 . In diesem Sinne postulierte Gomulka dann Ende Dezember 1945, daß die Westgrenze Polens auch "Vorbedingung für einen dauerhaften Frieden in Europa" sd7 • So konnte neben der frühzeitigen Legitimitätsund Identitätsfunktion der deutschen Frage für die polnischen Kommunisten fortan in das politische Geschehen die Formel eingeführt werden, daß jeder, der das Recht Polens an der Oder-Neiße-Grenze auch nur anzweifele, den Frieden in Europa störe und ein Feind Polens sowie ein Gegner des Friedens sei. Über allem thronte aber der national instrumentalisierte Umstand, daß die kommunistische und nicht die nationalpolnische Exilregierung es fertiggebracht habe, erstmals in der Geschichte Polens einen dazu auch noch konfessionell geschlossenen Nationalstaat zu schaffen und damit auch den ewigen Traum der "polnischen Kirche" zu verwirklichen. Darin lag aber das Fatale für sie, die sich ihm, dem national und konfessionell geschlossenen Staat der Polen, aus historischer Tradition nicht zu verschließen vermochte,' auch wenn er von Kommunisten und ihrem totalitären Regime geschaffen wurde, das sie sonst ablehnte. Schon in der Frühzeit der kommunistischen Herrschaft in Polen wurde auf diese Weise sehr geschickt und zweckvoll das politische Stereotyp instrumentalisiert: Kommunismus =Patriotismus =Deutschfeindlichkeit. Unnachsichtig wurde es zur 26 Wortlaut, in: Ksztaltowanie si~ podstaw programowych PPR w latach 1942-1945 (Die Gestaltung der Programmgrundlagen der PPR !Polnische Arbeiter-Parteil in den Jahren 1942-1945), Warszawa 1958, S. 330. - Auszugsweise Übersetzung, in: Georg W. Strobel, Deutschland - Polen, a.a.O., S. 38f.

27 Whdyshw Gomulka, Artykuly i przem6wienia (Artikel und Reden.) Bd. I. Warszawa 1962, S. 50ff. - auszugsweise Übersetzung, in: Georg w. Strobel, Deutschland - Polen, a.a.O., S. 41.

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Durchsetzung und Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft eingesetzt, wobei Tausende ehemals nationalpolnischer Untergrundkämpfer in Gefängnisse und weitergeführte ehemalige deutsche Konzentrationslager, wie Auschwitz, häufig dazu ohne Gerichtsurteil, verbracht wurden. Dort saßen sie zusammen mit Deutschen, autochthonen Oberschlesiern und Kriegsverbrechern unterschiedlicher Herkunft ein28 • Von Anfang an galt instrumentativ der Satz: Der kommunistische Staat ist die höchste Ausprägung des polnischen Patriotismus und beste Verwirklichung nationaler polnischer Staatlichkeit in der Geschichte der polnischen Nation. Die Legenden, Sprüche und Mythen mit negativem Deutschenbezug wurden zu tragenden Inhalten dieser Instrumentalisierung, so daß der mit Potsdam verfestigte Gegensatz zu Deutschland nicht nur zur wichtigsten Säule des kommunistischen Polen, sondern auch zu einem nationalen Einigungs- und Bindemittel sowie Kampfinstrument gegen innenpolitische Gegner wurde29 • Als mangelnder Patriotismus und als unzureichende und damit unpatriotische Haltung wurde hingegen Deutschfreundlichkeit ausgegeben. Als Deutschfreundlichkeit galt schon eine kritische oder reflektierende Beschäftigung mit der Deutschlandpolitik der eigenen kommunistischen Regierung oder aber die Hoffnung der oppositionellen Kräfte auf die früheren Westalliierten, wie es sich bei den Parlamentswahlen im Januar 1947 oder bei der Hoffnung auf den Marshall-Plan für Polen herauskristallisierte, sich aber bereits früher abgezeichnet hatte. Allein solches genügte, um als "Feind Polens" diskriminiert und innenpolitisch ausgeschaltet zu werden, wenn nicht gar ins Gefängnis oder Straf- und Arbeitslager zu wandern, möglicherweise sogar in die Sowjetunion deportiert zu werden, weil, so wurde argumentiert, mit Hilfe der Westalliierten ein unpatriotischer, staatlich und national verderblicher Einfluß auf Polen genommen werden sollte. Die Westalliierten seien allein schon deswegen polenfeindlich, weil sie sich mit dem Marshall-Plan für den Wiederaufbau Deutschlands engagierten, der gerade deswegen von Polen stolz abzulehnen sei 30. Es war eine geschickte, obwohl einseitig 21 Georg W Strobel, Die ethnischen Beziehungen in Oberschlesien unter besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhundens, in: Oberschlesien als Brücke zwischen Polen und Deutschen. Symposion vom 8. - 9. Mai 1990 in OpoleIPolen. Begegnungen 3/90 (= Evangelische Akademie MülheimlRuhr), 0.0. 0.1. (Mülheim 1990), S. 52ff.

29 Georg W. Strobel, Das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen und seine Bedeutung für die Ost-West-Beziehungen, in: Hanns-D. Jacobsen. Heinrich Machowski, Dirk Sager (Hrsg.), Perspektiven für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Festschrift zum 20jährigen Bestehen des Politischen Clubs Berlin, Baden-Baden 1988, S. 156ff. 30 Unter den offiziellen Losungen zum I. Mai der staatstragenden kommunistischen PPR (Polska Pania Robotnicza) befand sich im Jahre 1946 an 19. Stelle die Losung: "Wer den Deutschen hilft ist ein Gegner Polens. Hinweg mit den Versuchen zur Rettung Deutschlands, die von Kreisen der ausländischen Reaktion unternommen werden!" (vgl. Glos ludu, 18.4.1946). Als Antwon auf die

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Georg W. Strobel

verfälschende Propaganda, die mit dem deutschen Problem über Jahrzehnte bei immer größerer Akzeptanz die Gesellschaft in Polen regierte, ganz gleich wie sehr sich die Bundesrepublik um Polen bemühte und dessen Interessen auch international wahrnahm, und die politische Atmosphäre bis in die postkommunistische Zeit in Teilen der Gesellschaft vergiften sollte, konnten doch die zweckvollen, identifikations- und legitimitäts orientierten Feindbilder angesichts ihrer tradierten deutschkritischen Prädispositionen nachhaltig befestigt werden. Sie abzubauen, wäre eine wichtige Aufgabe gemeinsamer deutsch-polnischer Bemühungen, gerade im Gefolge der unmißverständlichen Anerkennung der in Potsdam gezogenen deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands, die aber nicht nur in Teilen der polnischen Gesellschaft neben Hoffnungen auch neue, noch immer nicht ganz überwundene Ängste hervorgerufen hat, trotz einer mittlerweile anderen offiziellen Haltung. 31 Die in Potsdam festgeschriebene Grenzziehung mit der Vertreibung von Deutschen aus ihrer Heimat, was Millionen Polen durch ihre "Repatriierung" aus den der Sowjetunion zugefallenen Teilen des ehemaligen Ostpolen und durch ihre vorherige Zwangsverbannung bis in asiatische Teile des Großreiches sowie andererseits durch die deutsche Besatzungspolitik in den Reichsgauen ähnlic;h zu erdulden hatten, verbreitet aber alles das allein als Schuld der kriegsverursachenden Deutschen empfanden, verfestigte nicht nur den Gegensatz zu Deutschland und zu den Deutschen, ein sehr tiefsitzendes Syndrom, sondern wurde zu einem notwendigen Freundschaftsband mit der Sowjetunion umstilisiert, dem einzigen Garanten der polnischen Unabhängigkeit und Staatlichkeit, welche allein die Sowjetunion unter Riesenopfern erkämpft habe, und damit zum Patron der polnischen Besitzstandswahrung gegenüber Deutschland geworden sei. Im Ergebnis der polenfeindlichen Deutschfreundlichkeit der Westmächte sei die Sowjetunion berühmte Stuttgarter Rede James Byrnes' zur Grenzziehung in Potsdam vom 6. September 1946 gaben die PPR und die damals noch eigenständige PPS (Polska Partia Socjalistyczna = Polnische Sozialistische Partei) einen gemeinsamen Offenen Brief heraus, in dem Bymes polemisch vorgeworfen wurde, die ,.Existenz und die Unabhängigkeit Polens angegriffen" zu haben (Glos ludu, 13.9.1946). Auf dem III. Kongreß der Industrie der Wiedergewonnenen Gebiete in Stenin Anfang September 1947 führte Wladyslaw Gomulka aus, daß ..die Bankiers der Welt ihre Kapitalhilfe nicht zum Wiederaufbau Polens, sondern zum Aufbau Deutschlands geben", obwohl der Marshall-Plan Polen einschließen sollte, das ihn nach anfänglicher Zustimmung dann doch noch zurückweisen mußte, obwohl seine Leistungen bereits in den daraufhin abzuändernden Drei-Jahres-Plan eingearbeitet waren. Weiter meinte Gomulka: ..Wir sind nicht gegen den Wiederaufbau eines friedlichen und demokratischen Deutschland. Aber wir sind gegen die bevorzugte Behandlung beim Aufbau eines chauvinistischen Schumacher-Deutschland". Vgl. Glos Iudu, 8.9.1947. - Auszugsweise Übersetzung aller Texte, in: Georg W. Strobel, Deutschland - Polen, a.a.O. 31 Georg W. Strobel, Der Normaiisierungsprozeß zwischen Polen und Deutschland seit 1989, in: Eichholz-Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung, Bonn 1996, Nr. 2: Polen und Deutsche, S. Sff.

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der überhaupt einzige verläßliche Freund Polens. Mit ihr müsse Polen auch wegen seiner durch die deutschen Revisions- und Revancheabsichten bedrohten Unabhängigkeit, die Gomulka noch vor Kriegsschluß und lange vor der endgültig den territorialen Wandel schaffenden Potsdamer Konferenz "prophetisch" und sprachregelnd Ende Februar 1945 vorhergesehen hatte, unverbrüchlich verbunden bleiben - was besonders unter den "repatriierten" ostpolnischen Westsiedlern trotz ihrer schlimmen sowjetischen Erfahrungen seine Wirkung nicht verfehlte und ähnlich auch noch im postkommunistischen Polen, insbesondere von ihnen, zu hören ist. Solchermaßen gelang es den kommunistischen Machtträgern, sich über ihre eigene Herrschaftszeit hinaus nicht nur als Hüter polnischer nationaler und staatlicher Interessen zu profilieren, sondern auch die Gesellschaft über Jahrzehnte erfolgreich mit dem Deutschlandsyndrom zu manipulieren, - bemerkenswerterweise trotz der nie ganz verlorengegangenen politisch-ideologischen Gegensätze. In solchen Zusammenhängen geht die Bedeutung der Potsdamer Beschlüsse über ihre für Polen legitirnitätsstiftende, machterhaltende Funktion sowie ihre territorialverändernde Rolle noch weit hinaus, so sehr mit ihr auch tradierte Wünsche und politische Vorstellungen der Nation befriedigt werden konnten, was andererseits aber die Durchsetzung der sowjetischen Ziele in Polen und Europa begünstigte. Es war eine tragische und fatale Ambivalenz, in die die polnische Nation und ihre Kirche gerieten. Potsdam wurde zum Ausgangspunkt der ostmitteleuropäischen Sowjetisierung, die mit Polen ihren Nachkriegsanfang nahm. Für Polen führte Potsdam zur erneuten Vergewaltigung einer stolzen und für das abendländische Europa historisch hochverdienten Nation, die an einem Wendepunkt ihrer modernen Geschichte einmal mehr von allen früheren Verbündeten schmählich und undankbar im Stich gelassen wurde, was angesichts des großen und aufopferungsvollen Beitrags polnischer Flieger zur ,,Battle of Britain" und des heldenhaften Einsatzes exilpolnischer Verbände zur Deckung des englischen Rückzugs aus Narvik 1940 unter gewaltigen eigenen Verlusten ganz besonders für England gilt.

J. W. StaUn und die polnische Frage

vor und während der Potsdamer Konferenz Zur sowjetischen Europa- und Polenpolitik im Zweiten Weltkrieg

Von Detlef Jena Die UdSSR hatte vor dem zweiten Weltkrieg eine dem eigenen Schutz dienende Politik der europäischen "kollektiven Sicherheit" betrieben. Nach deren Scheitern teilte sie aus dem gleichen Grunde mit Deutschland den ostmitteleuropäischen Cordon sanitaire in beiderseitige Einflußsphären auf. Die aggressiv-imperiale ultima ratio nutzte nichts: Stalin erlaubte Hitler den Krieg gegen Polen und seit dem 22. Juni 1941 befand sich die UdSSR selbst im Krieg gegen Deutschland. Der Krieg schuf neue Voraussetzungen für Stalins künftige politische Absichten gegenüber Europa und vor allem in Bezug auf jenen für Rußland traditionellen Sicherheitsstreifen zwischen Finnland und Jugoslawien. Stalin wollte diesen Streifen, dessen staatspolitische Gestaltung nach 1918 mit dem Willen der Westmächte nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in einen ethnisch durchmischten Teppich von Nationalstaaten umgewandelt worden war, nunmehrunabhängig von der Souveränität der dort lebenden Völker - in eine von der Roten Armee beherrschte Sicherheitsbarriere vor allem gegen Deutschland verwandeln. Damit sollte zugleich eine Kontrolle über das besiegte Deutschland ausgeübt werden, die garantierte, daß dieses Deutschland niemals wieder zu einer Bedrohung für die sowjetischen Sicherheitsinteressen werden könnte. Für die mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten besaß diese Konzeption Stalins Konsequenzen: wenn sie dem deutschen Einfluß entzogen werden sollten, durften dort keine Kräfte Regierungsgewalt ausüben, die der UdSSR feindlich gegenüberstanden. Wer aber Freund und wer Feind war, bestimmte allein Stalin selbst. Damit wollte Stalin zugleich sichern, daß das Wirtschaftspotential der Region für die Beseitigung der Kriegsschäden und den Aufbau der UdSSR genutzt werden konnte. Ein entsprechendes wirtschaftspolitisches Kontrollsystem sollte die Region gegen Einflüsse aus dem kapitalistischen Westen abschirmen. Und schließlich: mit der Hinwendung Ostmittel- und Südosteuropas zum sowjetischen Modell der Gesellschaftsorganisation sollte ein Beispiel für die "Gesetzmäßigkeit" eines weltweiten sozialistischen Siegeszuges geschaffen werden.

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Mit anderen Worten: Stalin strebte mit seinen nach Westen vorrückenden Armeen, auf der Grundlage der Tatsache, daß die UdSSR zur stärksten kontinentalen Macht Europas aufstieg, die uneingeschränkte Kontrolle über Mittel- und Osteuropa an. Dabei war nicht daran gedacht, eine Einordnung der einzelnen Länder in die Sowjetunion vorzunehmen. Im Gegenteil: Stalin erkannte sehr wohl, daß die komplizierten zwischenethnischen Probleme in der Region nur eine nationalstaatliche Struktur erlaubten und daß diese staatliche Organisationsform zugleich die Vorherrschaft der UdSSR ganz wesentlich begünstigte. Ganz in diesem Sinne hatte Stalin bereits die Kriegsziele im November 1943 formuliert. 1 Stalin war jedoch ein Mensch, der offizielle Erklärungen nur abgab, wenn es ihm unabdingbar erschien. Viel mehr ließ er Tatsachen sprechen, übte sich in Lakonie und wartete auf die Schwächen und Fehler seiner Partner und Gegner. Das galt ganz besonders für die Schwerpunktprobleme. Polen bildete ein Kernstück der sowjetischen Europa- und Osteuropapolitik. Hier wurden Stalins strategische und praktische Eigenarten im Umgang mit den osteuropäischen Völkern besonders deutlich sichtbar. Wenn man die Antworten Stalins vom 4. Mai 1943 auf Fragen des Korrespondenten der New York Times, Parker, liest, so scheint die sowjetische Haltung unmißverständlich. Auf die Frage, ob die UdSSR nach der Niederlage Hitlerdeutschlands "ein starkes und unabhängiges Polen" wünsche, schrieb Stalin ohne Umschweife: "Unbedingt wünscht sie das." Nach den sowjetisch-polnischen Beziehungen und deren Grundlage - ebenfalls nach dem Kriege - befragt, antwortete Sta1in: "Auf die Grundlage dauerhafter, gutnachbarlicher Beziehungen und gegenseitiger Hochachtung oder, wenn das polnische Volk es wünscht, auf die Grundlage eines Bündnisses zur gegenseitigen Hilfe gegen die Deutschen als die Hauptfeinde der Sowjetunion und Polens." 2 Ein Blick auf die Nachkriegsrealitäten spricht eine andere Sprache: für Stalin war Polen der Schlüssel zu Deutschland. In Polen richtete die UdSSR eigene wirtschaftliche, militärische und politische Institutionen ein. Stalins Versprechen, kein polnisches Territorium zu annektieren, wurde nicht eingehalten. Stalin griff in die innere soziale und politische Struktur Polens ein. Und Stalin benutzte Polen und die sowjetisch-polnischen Beziehungen während des Krieges, um seine Maximalforderungen gegenüber den verbündeten Westmächten durchzusetzen. 1 Vgl. JosejW. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Berlin-Ost 1951, S. 142 f.

2Ebenda, S.117 f.; vgl. dazu auch, Curt Gasteyger, Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945 - 1990. Eine Darstellung und Dokumentation Uber das Europa der Nachkriegszeit, Bundeszentrale für politische Bildung, Studienreihe, Bd. 285, Bonn 1990.

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Die Politik der UdSSR sowohl gegenüber Deutschland, als auch im Verhältnis zu den Verbündeten, bezüglich der angestrebten politischen Ordnung in Osteuropa und in Gesamteuropa, läßt sich an einem konkreten Beispiel demonstrieren: an Stalins Rolle bei der Fixierung der Oder-Neiße-Linie, der sowjetisch-polnischen Grenze und der Teilung Ostpreußens während des Krieges, auf der Potsdamer Konferenz und bei der praktisch-politischen Ausgestaltung der Nachkriegsordnung in Mittelosteuropa. 3 Sta1in mißtraute jedem, nicht nur seinen westlichen Verbündeten, sondern auch den polnischen Kommunisten. Die Verbrechen gegen die Po nische Kommunistische Partei sind hinreichend bekannt. Polen spielte seit dem Beginn des Krieges 1941 eine zentrale Rolle in Stalins Überlegungen. Schon damals soll er sich geweigert haben, "den Polen nach Kriegsende die Gebiete zurückzugeben, in die die Sowjets 1939 aufgrund des Abkommens mit den Nazis eingerückt waren." 4 Als die UdSSR und Polen auf massiven britischen Druck hin am 30. Juli 1941 einen Bündnisvertrag schlossen, annullierten sie zwar die Aufteilung Mittelosteuropas durch die Geheimen Zusatzprotokolle in den Verträgen zwischen Deutschland und der UdSSR vom 23. August und vom 28. September 1939, aber Stalin war nicht bereit, den Status quo ante anzuerkennen. Er wurde in dieser Haltung von den Engländern unterstützt. Der britische Außenminister Antony Eden erklärte am 31. Juli 1941 in einer Rede vor dem Unterhaus ausdrücklich, daß England in dem Geheimprotokoll mit Polen vom 25. August 1939 keine Garantie für die polnisch-sowjetische Grenze übernommen hätte. 5 Nach Churchills Vorstellungen sollte der Chef der polnischen Exilregierung in London, Sikorski, im Herbst 1941 nach Moskau reisen, um, solange die UdSSR sich nach Beginn des deutschen Überfalls in der militärisch und politisch schlechteren Lage befand, die sowjetisch-polnischen Fragen komplex zu lösen. Als Sikorski jedoch Anfang Dezember 1941 endlich in Moskau eintraf, war sich Stalin der Unterstützung durch die USA und England bereits sicher. Die UdSSR gab schon den Ton in Osteuropa an und der polnische Stellenwert begann bereits zu sinken. So waren die Verhandlungen zwischen Sikorski und Stalin von Stalins J Vgl. dazu auch vor allem den Aufsatz: Alexander Uschakow, Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie, in, Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage. J. Teil: Geschichte und rechtliche Grundlagen, hrsg. v. Friedrich Klein und Boris Meissner, bearb. v. Hans-Günther Parplies, Wien-Stuttgart 1977, S. 67 - 90 .

. • George F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten, Stuttgart 1968, S. 206. l Vgl. Documents on Polish-Soviet Relations 1939-1945, Bd. 1, London 1961, S. 143 f. Der entsprechende Passus hatte den Wortlaut: "Die Regierung der UdSSR anerkennt, daß die sowjetischdeutschen Verträge des Jahres 1939 bezüglich der territorialen Veränderungen in Polen ihre Geltung verloren haben."

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Argwohn geprägt und wurden kaum konstruktiv geführt. Stalin ließ demonstrativ in Saratow ein "Manifest für das polnische Volk" verabschieden, das die Gründung eines "Verbandes der polnischen Patrioten" ankündigte. Die Verhandlungen über die Anders-Armee und die Bemühungen, einen Teil der polnischen Streitkräfte aus der UdSSR nach Persien zu verlegen, verstärkten Stalins Mißtrauen. Gleichzeitig, auf dem Bankett am 3. Dezember 1941, stellte Stain zum ersten Mal die Frage nach der Oder als künftiger Westgrenze Polens und nach dem Schicksal Ostpreußens, das er innerhalb der sowjetischen Grenzen sehen wollte. Das Problem war aufgeworfen, mehr noch nicht. Sikorski, getrieben von der realen Angst, daß sich Rußland und Deutschland auch im weiteren Verlauf des Krieges über Polens Kopf hinweg irgendwie einigen könnten, brachte Stalin zu einer Deklaration, in der es hieß, daß sie gemeinsam mit den Alliierten "den Krieg bis zum vollständigen Sieg und der endgültigen Vernichtung der deutschen Eindringlinge" führen werden. 6 Wenige Tage nach Sikorski besuchte Eden Moskau. Stalins Position verbesserte sich mit dem Sieg der sowjetischen Truppen vor Moskau weiter und er glaubte schon jetzt, sich kaum noch an die Deklaration mit Sikorski halten zu müssen. Es gelang ihm, die Frage der polnisch-sowjetischen Beziehungen aus der interalliierten Kompetenz auszuklammern. Stalins Prinzip des "Bilateralismus" und die freie Hand, die er von den Westmächten in Osteuropa erhielt, hinderten auch später Churchill daran, die polnische Frage zu "internationalisieren". Überraschend für Eden war, daß Stalin forderte, die Westmächte sollten die sowjetische Westgrenze entlang der Curzon-Linie anerkennen. Eden lehnte unter Hinweis auf die Atlantikcharta eine Stellungnahme ab. Interessant war jedoch, daß aus Stalins Bemühungen zu schlußfolgern war, daß auch die Sowjetregierung ihre Westgrenze nur als eine de facto - Grenze betrachtete, die es nun juristisch zu fixieren galt. Und alle weiteren Bemühungen erschöpften sich lediglich in dem Versuch, ihr einen de jure Status zu verleihen. 7 In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, daß sowohl von der polnischen Exilregierung, als auch in der UdSSR Arbeitsgruppen eingesetzt wurden, die sich mit der künftigen Gestalt Polens befassen sollten. Sie standen miteinander in Verbindung und Stalin war zu jeder Zeit über den Stand der Arbeiten informiert. Nach Stalins Anregung gegenüber Sikorski wurde der Gedanke, die polnische • Ebenda, S. 246. 7 Vgl. dazu auch: Alexander Uschakow: Die Oder-Neisse-LinielGrenze und der Hitler-Stalin-Pakt, in,Die historische Wirkung der östlichen Regionen des Reiches. Vorträge einer Tagung zum vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1989, hrsg. v. Hans Rothe, Köln Weimar Wien 1992, S. 311 f.

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Westgrenze an Oder und Glazer Neiße zu verschieben, zuerst in London ausführlicher debattiert. Dort gab es auch den Gedanken, Polen sollte sich an der Okkupation Deutschlands beteiligen und seine Ansprüche gegenüber den Alliierten stärker durchsetzen. Das entsprach nicht Stalins Interessen. Er fühlte sich bereits als der Souverän in der polnischen Frage und wollte seine Ziele lieber in bilateralen oder Einzelgesprächen mit rivalisierenden polnischen Gruppen durchsetzen. Polen nahm so auch nicht an den großen Kriegskonferenzen teil. Stalin spielte. Im Januar 1942 wurde in Warschau mit Komintern-Kadern die "Polnische Arbeiterpartei" gegründet. In ihrer Deklaration vom 1. März 1943 betonte die Partei "in Anlehnung an die UdSSR", die Grenzen des künftigen polnischen Staates sollten von der Bevölkerung umstrittener Gebiete "auf der Grundlage der Selbstbestimmung selbst" entschieden werden. Die Komintern sekundierte vier Wochen später: Zur Frage der Grenzen Polens sei es notwendig, klar den Willen des ukrainischen, weißrussischen und litauischen Volkes von 1939 anzuerkennen. Dafür könne Polen "seine Positionen im Westen und an der Ostsee festigen." 8 Auf der Konferenz von Teheran 1943 spielte Polen nur am letzten Tag eine Rolle. Churchill kam Stalin entgegen und schlug die Kompromißformel vor: "Im Prinzip wurde festgestellt, daß sich das Gebiet des polnischen Staates und des polnischen Volkes von der sog. Curzon-Linie bis zur Oder erstrecken soll, einschließlich Ostpreußens und der Provinz Oppeln." 9 Allerdings, weder Churchill noch Roosevelt sind in Teheran bereit gewesen, über Polen und seine Grenzen das letzte Wort zu sprechen, bzw., die Grenzen völkerrechtlich verbindlich zu fixieren. Unmittelbar nach der Konferenz meldete sich auch die polnische Regierung in London zu Wort. In 14 Thesen legte sie ihren Standpunkt zur Besetzung Deutschlands und zur polnischen Westgrenze dar. Stalin aber drängte. Da er die Alliierten nicht sofort für sich gewinnen konnte, schlug er nun eine andere Taktik ein - ohne die Verbündeten. In der Silvesternacht 1943/44 bildete sich in Warschau aus linken Kräften der polnische Landesnationalrat - als Antwort auf Teheran und weil Stalin nun versuchte, die polnische Territorial- und Grenzfrage mit einer von ihm kontrollierten Regierung im sowjetischen Interesse zu lösen. Diese Maßnahme war indessen langfristig vorbereitet worden. Schon am 25. April 1943 hatte Stalin die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung abgebrochen und eine eigene politische Organisation der in der UdSSR lebenden Polen, den "Verband der polnischen Patrioten" gründen • Zitiert nach, ebenda, S. 312 f. 9

Die Teheraner Konferenz 1943, Köln 1986, S. 138.

9 Timmermann

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lassen. Stalin hatte in der entsprechenden Note jedoch nicht vom "Abbruch", sondern nur von der "Unterbrechung" der Beziehungen gesprochen. Das war ein doppeldeutiger Schritt: Stalin ließ offen, zu welcher polnischen Vertretung er die Beziehungen wieder aufnehmen würde und zum anderen konnte die UdSSR nun bei der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen bestimmte Forderungen stellen, zumal sie sich in der polnischen Frage damals auf die aktive Unterstützung durch Churchill verlassen konnte - obgleich auch nicht ohne wenn und aber. Die Rote Armee überschritt im Januar 1944 die Ostgrenze Vorkriegspolens. Regierungschef Mikolajczyk gab in London eine Erklärung ab, die mit dem britischen Außenminister Eden abgestimmt worden war. Stalin beschimpfte daraufhin den polnischen Regierungschef, verärgert über die Deklaration, und forderte ein starkes, mit der UdSSR und der Tschechoslowakei verbündetes Polen: die Frage der Courzon-Linie sei durch eine Volksabstimmung und durch die sowjetische Verfassung entschieden. Stalin drohte Mikolajczyk offen, indem er auf die positive Arbeit des Verbandes der Polnischen Patrioten verwies. Mikolajczyk bat nun die britische und die amerikanische Regierung um ihre Vermittlung, was Stalin brüsk zurückwies und nun seinerseits forderte, alle "faschistischen und imperialistischen Kräfte" aus der polnischen Regierung zu entfernen. Churchill beschwor Mikolajczyk, die Courzon-Linie als polnische Ostgrenze anzuerkennen und wollte sich dafür einsetzen, daß Polen deutsches Gebiet bis zur Oder einschließlich Ostpreußens erhalten sollte. Allerdings, so einfach wie es scheinen mag, entwickelte sich die polnische Frage zwischen Briten, Russen und Polen keineswegs. Besonders im ersten Halbjahr 1944 spitzten sich die gegenseitigen Beziehungen in dieser Frage außerordentlich zu. Dafür stehen einige Fakten. Die polnische Regierung fragte z.B. am 23. Januar offiziell bei Außenminister Eden an, ob sie von Großbritannien und den USA Garantien für die Unabhängigkeit Polens erhalten könnte und ob sie damit rechnen könnte, daß die polnischen Ost- und Westgrenzen in einem internationalen Dokument von allen drei Großmächten bestätigt werden würden. Churchill informierte Stalin und der antwortete mit der erneuten Forderung nach personeller Umbildung der polnischen Regierung. Außerdem stellte Stalin ein Junktim zwischen der Abtretung Königsbergs an die UdSSR und der Curzon-Linie her, wie es offensichtlich bereits in Teheran besprochen worden war. Die polnische Frage gestaltete sich in dieser Phase so kompliziert, daß Stalin und Churchill zeitweilig auf ihre Erörterung verzichteten. Wie die Fragen gelöst werden konnten, hing in starkem Maße davon ab, welche innerpolnischen Verhältnisse bis zu diesem Zeitpunkt unter den agierenden polnischen politischen Kräften geschaffen worden waren, wie sich die Beziehungen

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zwischen der Londoner Regierung und den sozialistischen und kommunistischen Kräften in Warschau, bzw. auch innerhalb der kommunistischen Politiker entwikkelt hatten. Dieses ganze komplizierte Geflecht von Wechselwirkungen, in das natürlich auch Stalin, die Sowjetregierung, die Komintern und der Kriegsverlauf hineinwirkten, kann hier nicht in allen Verästelungen nachvollzogen werden. Vor allem führte es zu weit, die Machtkämpfe zwischen verschiedenen kommunistischen Gruppierungen, zwischen dem "Landesnationalrat" um Gomulka, dem Moskauer Büro Polnischer Kommunisten und den politischen Absichten der polnischen Armee in der UdSSR zwischen 1942 und 1944 im Detail nachvollziehen zu wollen. 10 Für den vorliegenden Zusammenhang ist festzuhalten, daß Gomulka im März 1944 eine Delegation des Landesnationalrates unter Marian Spychalski über die deutsch-sowjetische Front nach Moskau entsandte, um die gegensätzlichen Standpunkte hinsichtlich der Zukunft Polens zu beraten. In der zweiten Maihälfte empfing Stalin die Delegation. Er war grundsätzlich bereit, den Landesnationalrat als einzige politische Vertretung anzuerkennen, aus der später eine polnische Regierung hervorgehen könnte. Stalin hielt es zwar für verfrüht, jetzt bereits eine kommunistische polnische Regierung zu proklamieren, aber er mußte reagieren, denn der Verband der polnischen Patrioten erklärte, daß er den Landesnationalrat Gomu1kas als einzigen legitimen Vertreter des polnischen Volkes anerkenne. Stalin mochte diese Art der Solidarisierung der Polen untereinander nicht. Er war sich eigentlich der Loyalität des Landesnationalrats ihm gegenüber relativ sicher und teilte Gomulkas These von der Priorität der einheimischen politischen Kräfte gegenüber den Exillanten. Unter diesen Voraussetzungen - der Existenz des Landesnationalrats als legitimer politischer Kraft im Innern Polens - glaubte Stalin, eine neue Situation für die Verhandlungen mit den Westmächten über die polnische Frage geschaffen zu haben. Er unternahm auch im Juni 1944 einen letzten Versuch - diesmal ohne die Vermittlung durch die Westmächte - um mit der Londoner Exilregierung unter Mikolajczyk in ein direktes Gespräch zu kommen. Sta1in hoffte, daß die Einbeziehung Mikolajczyks seine Positionen gegenüber den Westmächten verbessern würde. Der sowjetische Botschafter in London, Lebedew, verlangte von Mikolajczyk die Anerkennung der Curzon-Linie, den Widerruf der "Katyner Beschuldigungen" und die personelle Umgestaltung der Londoner polnischen Regierung. Da es sich hier jedoch um die gleichen Forderungen handelte, die Stalin schon Anfang 1944 Churchill mitgeteilt hatte, lehnte Mikolajczyk auch dieses Mal ab und die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis.

IOVgl. dazu Alexander Uschakow, Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie, S. 78 ff. 9*

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Das veranlaßte Stalin, die Delegation Spychalskis - die man vorübergehend zu den polnischen Truppen geschickt hatte - wieder zu sich zu bestellen und mit ihr über eine künftige polnische Regierung zu verhandeln. Stalin folgte ostentativ der Ansicht Gomulkas: das Land selbst muß die Regierung tragen. Sollte es wider alle Erwartungen doch noch zu einer Einigung mit der Londoner Regierung kommen, so seien die wichtigsten Ministerien und das Oberkommando der Streitkräfte "von uns zu besetzen". 11 Am 6. Juli 1944 kam eine weitere Delegation aus Warschau in Moskau an. Sie stand unter der Leitung des Generals Rola-Zymierski. Am 15. Juli verhandelten alle miteinander und Stalin erteilte jetzt die Order, ein polnisches Komitee der nationalen Befreiung zu bilden. Bisher war noch keine Einigung über die künftige polnische Westgrenze erreicht worden. Hier soll nun Stalin das erste Mal über die Lausitzer Neiße gesprochen haben. Zumindest nennt das polnische Protokoll über die Gespräche die Lausitzer Neiße als Grenze, spricht aber auch von Breslau. Stalin wird sich mithin wohl noch nicht konkret und endgültig festgelegt haben. 12 Zunächst mußte eine polnische kommunistische Regierung gebildet werden. Am 18. Juli 1944 wurde aber erst einmal die "Delegatura Krajowej Rady Narodowej" gebildet, eine Vertretung ohne Regierungscharakter, weil die wichtigsten Kommunisten, Wladislaw Gomulka und Boleslaw Bierut, nicht in Moskau waren. Stalin rügte das polnische Verhalten. Auf sein Drängen nannte sich die "Delegatura" am 20. Juli 1944 in "Komitee der Nationalen Befreiung" um. Stalin setzte sich mit seinem Wunsch, diese polnische Regierung auf sowjetischem Gebiet zu belassen, nicht durch. Sie wurde in Chelm ausgerufen, dem ersten polnischen Ort, den die Rote Armee besetzte und trug nicht die Bezeichnung "Regierung", sondern "Lubliner Komitee". Stalin besaß allen Grund, den wahren Charakter des Komitees zu verschleiern. Er versuchte hier nicht nur Gomulka auszuschalten, indem die wichtigsten Ministerposten aus dem Verband der Polnischen Patrioten und aus dem Büro Polnischer Kommunisten in der Sowjetunion - und nicht aus dem Landesnationalrat besetzt wurden. Vor allem sollten die Alliierten über Stali!ls Alleingang in der polnischen Frage getäuscht und ausmanövriert werden. Andrei Wyschinski verhandelte mit den Polen in Moskau über die Wiedereinsetzung einer polnischen Verwaltung. Polen sollte nicht als besetztes Gebiet behandelt werden und man einigte sich über die Verwaltungsfragen recht schnell. Aber die Verwaltung konnte nur funktionieren, wenn ihr Bereich definiert war, d.h., die Grenzen des künftigen Pawlowicz, Strategia Frontu Narodowego PPR 111. 1943 - VII. 1944, Warschau 1965, S. 162.

11

J.

12

Vgl. ebenda, S. 171.

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polnischen Staates. Diese Verhandlungen waren schwierig und Molotow drohte gar mit einer sowjetischen Militärregierung in Polen. 13 Am 25. Juli 1944 kam es unter Teilnahme Stalins zur entscheidenden Sitzung. Molotow legte dar, daß die Großmächte die Oder und die Glazer Neißte als polnische Westgrenze vorgesehen hätten. Die Polen beriefen sich ihrerseits auf eine frühere Zusage der Russen über eine Korrektur der Curzon-Linie und auch das Manifest des "Lubliner Komitees" hatte zu Stalins Ärger lediglich vage von der Möglichkeit "einer polnisch-sowjetischen Verständigung in Grenzfragen" gesprochen und nicht von der Anerkennung der Curzon-Linie. Nunmehr forderten die Polen auch noch Ostpreußen für sich. Stalin geriet außer sich. 14 Er war zu diesem Zeitpunkt bereits fest entschlossen, einen großen TeilOstpreußens mit Königsberg und Elbing bis zur Weichselmündung an die UdSSR anzugliedern. Stalin argumentierte historisch, die Sowjetunion brauche ein Stück deutscher Erde, auf der "1914 die russische Armee blutete", ein Bild, das ihm Churchill eingeredet hatte. Schließlich - in der Manier, die er schon am 23. August 1939 bei den Verhandlungen um den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag praktiziert hatte - nahm er einen Bleistift und zog quer durch Ostpreußen eine gerade Linie, die heute der Grenze mit Polen entspricht. 15 In dieser Beratung mit Stalin soll auch die Entscheidung über die Lausitzer Neiße als Westgrenze gefallen sein. Der Chef des Lubliner Komitees, OsobkaMorawski, schrieb sich selbst später dafür die Initiative zu. 16 In Wirklichkeit wird die Idee aber wohl von Stalin oder dem Politbüro der KPdSU ausgegangen sein. Man einigte sich, daß Stettin künftig zu Polen gehören sollte und auch in dem Streit um den Nationalpark von Bialowieza kam es zu einem teilenden Komprorniß. Stalin ließ zwei wichtige Abkommen vorbereiten und am 26. und 27. Juli 1944 unterzeichnen. Die Abkommen besaßen für seine weitere Verhandlungsführung mit den Westmächten besondere Bedeutung. Ein Abkommen übertrug die Verwaltung der polnischen Gebiete westlich des Bug dem "Lubliner Komitee". 17 Der Vertrag verzichtete auf die direkte sowjetische Herrschaft über Polen, erfüllte 13 VgJ. E. Puarcz. Sprawa granic Polski w ukladach miedzy P. K. W. N. a ZSSR (Die Frage der polnischen Grenzen in den Abkommen des Komitees der Nationalen Befreiung mit der UdSSR). in: Zeszyty Historyczne (Historische Hefte). Paris. Heft 15. S. 207 .

.. VgJ. ebenda. S. 202. 15

VgJ. E. Puacz. die Frage der polnischen Grenze. S. 208.

16

VgJ. die Warschauer Zeitschrift "Polytika" vom 24. Juli 1965.

17 Den deutschen Text des Abkommens über die Verwaltung Polens vgJ. bei Boris Meissner. Das Ostpakt-System. Frankfurt am Main. Berlin 1955. S. 24.

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jedoch den Tatbestand der indirekten Intervention bzw. Verfassungsintervention. 18 Das zweite Abkommen, in der Nacht vom 26. zum 27. Juli 1944 unterzeichnet, betraf die Grenzen Polens im Westen und im Osten. Mit beiden Abkommen fixierte Stalin faktisch ohne mit den Alliierten zu sprechen, den territorialen Bestand Polens. Namentlich das Grenzabkommen war streng geheim, es wurde z.B. erst im Jahre 1967 in polnischer Sprache veröffentlicht. 19 Stalin verfolgte mit der Geheimhaltung drei Ziele: das polnische Territorium wurde für ihn völkerrechtlich verbindlich fixiert; seine schwierigen Beziehungen zu Churchill und Roosevelt sollten nicht zusätzlich belastet werden, aber Stalin hielt mit dem Vertrag eine verdeckte Karte unter dem Tisch; das "Lubliner Komitee" sollte nicht zusätzlich aufgewertet werden. Die Folgen des zweiten Weltkrieges scheinen überwunden und neue politische Kombinationen stehen heute auf der Tagesordnung. Damit ändert sich jedoch nicht die historische Tatsache, daß die beiden Abkommen ein Schritt zu Stalins Macht über Polen bedeuteten: er hatte die strategischen Grenzen seines Imperiums schon nach Westen verschoben, obwohl mit den Verbündeten noch keine endgültigen Regelungen für die Nachkriegsordnung vereinbart worden waren. Während der Vertrag die polnisch-sowjetische Grenze in vier Artikeln, ausgehend von der Curzon-Linie, detailliert regelte, lautete der Artikel 4 des Abkommens: "Die Regierung der UdSSR hat auch anerkannt, daß die Grenze zwischen Polen und Deutschland entlang einer westlich von Swinemünde bis zum Fluß Oder verlaufenden Linie, wobei die Stadt Stettin auf polnischer Seite verbleibt, weiter aufwärts des Flusses Oder bis zur Neiße und von hier entlang des Flusses Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze, festgelegt werden soll." Die sowjetische Regierung verpflichtete sich, bei der Festlegung der Staats grenzen zwischen Polen und Deutschland die Forderung auf Festlegung der Grenze entlang der genannten Linie zu unterstützen. 20 Das waren keine theoretischen Erwägungen, sondern praktische Politik. Im Dezember 1944 besuchte de Gaulle Moskau. In den Gesprächen vertrat er die Meinung, eine deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiß~ trenne Deutschland und Polen. Polen könne jetzt nicht mehr - wie vor dem zweiten Weltkrieg - zwischen den beiden expandierenden Großmächten Deutschland und Rußland poli11

Alexander Uschakow. Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie. S. 85.

19V9l. FN 50 bei Alexander Uschakow. Die OderlNeisse-LinieiGrenze und der Hitler-Stalin-Pakt. S. 316 und S. 326. 20 Den vollständigen Vertragstext in deutscher Sprache vgl. Alexander Uschakow. Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie. S. 89 f.

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tisch lavieren. Stalin entgegnete, daß er eine deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße als "Blockpolitik" betrachten würde, die einen deutsch-polnischen Ausgleich gerade verhindern solle. Hinsichtlich der Festlegungen zur östlichen und zur westlichen Grenze Polens gab es Unterschiede. Über Ostpreußen z.B. verfügte Stalin, ohne die Westmächte überhaupt zu fragen. Die Formulierung des Artikels 4 aber besagte, daß die UdSSR sich für die Festlegung der Grenze an Oder und Neiße international einsetzen werde. Unklar blieb aber das Verhältnis zwischen den konkreten Formulierungen im Vertrag und der polnischen Interpretation, es handele sich um die westliche Neiße. Der Vertrag sprach nur von der "Neiße", nicht aber ausdrücklich von der Lausitzer Neiße. Eine Woche nach dem Vertragsabschluß besuchte Mikolajczyk mit Billigung Chrchills die sowjetische Hauptstadt. Churchill hoffte, die polnische Regierung in London überzeugen zu können, einem Austausch polnischer gegen deutsche Ostgebiete zuzustimmen, damit Stalins Option auf die Lubliner Regierung gegenstandslos würde. Mikolajczyk gegenüber hat Stalin hier zum ersten Mal die Neiße als polnische Westgrenze genannt. 21 Und Mikolajczyk versagte sich nicht. Monate später, am 2. November 1944, in dem bekannten Cadogan-Brief, unterstützte das britische Foreign Office die Forderung der polnischen Exilregierung nach der Oder-Neiße-Linie, einschließlich Stettins, als polnischer Westgrenze. 22 Um diesen Brief hat es nach dem zweiten Weltkrieg erhebliche Debatten gegeben, vor allem, weil er nicht von der Lausitzer, sondern von der Glazer Neiße ausgegangen ist. Der Cadogan-Brief ist erst im Juni 1947 veröffentlicht worden. Der damalige polnische Außenminister Modzelewski erklärte am 22. November 1947 im Auswärtigen Ausschuß des polnischen Parlaments, daß "nach unserer Auffassung und der Auffassung der Experten des Völkerrechts" dieser Brief nach wie vor rechtserheblich sei. Er betonte auch, daß sich Attlee, als er das Potsdamer Abkommen unterzeichnete, mit den in dem Cadogan-Brief enthaltenen Verpflichtungen in Übereinstimmung befunden habe. Im Unterschied dazu erklärte Bevin am 4. Juli 1947 im britischen Unterhaus, der Cadogan-Brief sei lediglich ein einzelnes Glied in der langen Kette der Verhandlungen zwischen den Großmächten über die polnische Frage gewesen und: alle diese Verhandlungen seien durch den Abschluß des Potsdamer Abkommen überholt worden. 23 21

Vgl. Documents on Polish-Soviet-Relations 1939 - 1945, Bd. 2, London 1967, S. 316.

22Vgl. G. Rhode/W. Wagner, Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie in den diplomatischen Verhandlungen während des zweiten Weltkrieges, Stuttgart 1959, S. 151 f. 23

Vgl. ebenda, S. 153.

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Bevin kannte jedoch damals nicht den geheimen sowjetisch-polnischen Vertrag vom 26.127. Juli 1944. Aber, das sowjetische Verhalten bewies eigentlich, daß auch die Sowjetregierung auf dem Standpunkt stand, daß durch das Potsdamer Abkommen frühere Abkommen ersetzt worden sind. Nach der Formulierung auf der Jalta-Konferenz sollte der polnische Staat "im Norden und im Westen einen bedeutenden Gebietszuwachs erhalten." Das war im Februar 1945 ! Wenn es dort weiter hieß, daß zum Umfang dieses Gebietsgewinns zu gegebener Zeit die Meinung der neugebildeten polnischen Regierung der Nationalen Einheit eingeholt werden sollte, dann widersprach das sowohl dem Kenntnisstand der verschiedenen inneren polnischen politischen Gruppierungen, als auch dem Moskauer Vertrag vom Juli 1944 und auch dem Cadogan-Brief. Aber diese Fassung des Jalta-Kommuniques wurde von der UdSSR und Polen im Sinne ihrer "Blankett-Theorie" ausgelegt. Diese Theorie vertrat namentlich der polnische Völkerrechtler L. Ehrlich. Danach haben die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz - entsprechend den Festlegungen von Jalta im Februar 1945 nicht über die Gebietsgewinne Polens zu entscheiden gehabt, sondern sich darauf beschränkt, die Annahme der Offerte durch die polnische Regierung zur Kenntnis zu nehmen. 24 Auf der Potsdamer Konferenz kam die sowjetische Seite mit dieser Interpretation jedoch nicht zum Erfolg. Im Gegenteil. Am 21. Juli 1945 kam es auf der Potsdamer Konferenz zu einem Konflikt zwischen dem neuen amerikanischen Präsidenten Truman und Stalin - in der polnischen Frage. Herbert Feis schrieb darüber: "Truman steuerte auf der Plenarsitzung am 21. Juli kühn in den Fragenkomplex hinein. Er hatte gerade den maßgebenden Bericht von General Growes über die eindrucksvollen Ergebnisse der Erprobung von SI in der New-Mexico-Wüste gelesen ... Er sei der polnischen Provisorischen Regierung gegenüber freundlich eingestellt, und wahrscheinlich könne eine volle Übereinstimmung über die Wünsche der Sowjetregierung erreicht werden. Aber, so erklärte er abschließend, sie müßte durch Aussprache erreicht werden." Und über Stalins Reaktion auf dieses Angebot schrieb Feis: "Stalins Antwort würde jeden Advocaten zum Ruhme gereichen. Hatte die Erklärung von Jalta nicht festgestellt, daß Polen Gebiete nördlich und westlich seiner früheren Grenzen abgetreten werden sollten? .. Hatte nicht die Polnische Provisorische Regierung ihre Auffassung zur Kenntnis gebracht?" 2S

24 Vgl. LEhrlich, Suwerennosc Polski na ziemiach zachodnich i polnocnych. Zagadnienia prawne, Kattowitz 1962, S. 13. 2' H. Feis, Zwischen Krieg und Frieden. Das Potsdamer Abkommen, Frankfurt am Main-Bonn 1962, S. 211.

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Völkerrechtlich betrachtet, sah Stalin die Jalta-Beschlüsse als ein Angebot an die Polen an, die mit ihrer Annahme in Potsdam vertraglichen Charakter angenommen hätten. Der Rechtsgrund für den Erwerb der deutschen Ostgebiete durch Polen läge bei dieser Konstruktion daher nicht im Potsdamer Abkommen, sondern in den Entschlüssen von Jalta. Zumindest im Hinblick auf den Vertrag mit dem Lubliner Komitee war Stalins Haltung somit in Potsdam zweideutig. Truman erkannte und sprach das ganz offen aus. In seinen Memoiren schrieb er: "In Jalta, sagte Stalin, sei lediglich bestimmt worden, daß Polen deutsche Gebiete erhalten solle. Die Ziehung der Westgrenze sei aber offen und die Sowjetregierung nicht gebunden. Ich wandte mich Stalin zu: 'Sie sind nicht gebundenTfragte ich. 'Nein', antwortete er." 26 Damit hatte Stalin natürlich die Unwahrheit gesagt und es war darum auch nicht verwunderlich, daß dieser Wortwechsel in den von der UdSSR veröffentlichten Protokollen nicht ausgewiesen ist. 27 Molotow war am 24. Juli gezwungen, seinen Generalissimus zu korrigieren. Er räumte ein, daß das Verhältnis der UdSSR zur Regelung der polnischen Grenzen "von anderer Art" sei. "Die Sowjetunion sei verpflichtet, die polnischen Ansprüche zu unterstützen." 28 Aber das Geheimabkommen vom Juli 1944 nannte auch Molotow nicht. Stalin beeilte sich dagegen, noch auf der Potsdamer Konferenz dieses Geheimabkommen den Beschlüssen dieser Konferenz anzupassen. Zunächst ließ er sich seinen Anspruch auf Königsberg von den Westmächten bestätigen - über diesen Anspruch sollte in einer Friedenskonferenz endgültig entschieden werden. Sofort nach der Konferenz schloß die UdSSR am 16. August 1945 mit der neuen polnischen Regierung einen Grenzvertrag. In Abänderung des Artikels 2 im Geheimabkommen vom 26./27. Juli 1944 wurde in Ostpreußen bis zu einem Friedensvertrag mit Deutschland lediglich eine vorläufige Demarkationslinie vereinbart, so daß die zunächst übliche Bezeichnung "unter polnischer Verwaltung stehend" bei dem politischen Charakter des Potsdamer Abkommens vollauf gerechtfertigt war. Am 6. September 1946 hielt der amerikanische Außenminister Byrnes in Stuttgart eine Rede und bestätigte darin erneut, daß die Grenzfrage erst noch in einem Friedensvertrag geregelt werden müsse. In Polen geriet man in große Unruhe, weil am 14. September 1946 im Berliner "Neuen Deutschland" ein Artikel von Max 26

H.S. Truman, Memoiren, Bd. I, Stuttgart 1955, S. 365.

27 Diese sowjetischen Protokolle wurden von Alexander Fischer 1968 in Köln in deutscher Sprache herausgegeben. (Teheran - Jalta - Potsdarn). 2B

Feis, Zwischen Krieg und Frieden, S. 216.

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Fechner veröffentlicht wurde, in dem dieser Gedanke von dem provisorischen Charakter der Grenze und der Notwendigkeit eines Friedensvertrags demonstrativ unterstützt wurde. Auch Wilhelm Pieck und Franz Dahlem äußerten sich in dem gleichen Sinne. Die polnische Regierung sah in dem ganzen Vorgang einen Versuch zur Grenzrevision und protestierte beim amerikanischen Botschafter in Warschau gegen die Rede von Byrnes. Polens Außenminister Olszewski erblickte darin einen "unfreundlichen Akt" der amerikanischen Regierung und reiste nach Paris zu dem sich dort gerade aufhaltenden Molotow, um den zu einer eindeutigen Stellungnahme in der polnischen Grenzfrage zu bewegen. Molotowerklärte tatsächlich am 16. September 1946 die Oder-Neiße-Linie zur endgültigen polnischen Westgrenze. Über die "Demarkationslinie" in Ostpreußen wurde nicht gesprochen. Polen und die UdSSR verabschiedeten sogar nach Warschauer Drängen eine "gemeinsame Interpretation" der Potsdamer Beschlüsse, die als offizielle Richtlinie galt Am 23. Oktober 1946 äußerte sich auch Stalin noch einmal persönlich in einem Interview zu der Frage. Auch für ihn war die Oder-Neiße-Grenze endgültig. Inzwischen ist die Frage der Oder-Neiße-Grenze aus den Wirren der Kriegsund Nachkriegszeit zu einer bi- und multilateral völkerrechtlich verbindlchen Größe geworden. Sie stellt auch einen politischen status quo dar und das vereinigte Deutschland hegt keine Absichten, an diesem Zustand etwas zu ändern. Interessant bleiben zwei Aspekte: Die Erinnerung daran, welche geschichtlichen Wege die heutige territorial-politische Gestaltung Europas genommen hat und: während die Oder-Neiße-Grenze aus gutem Grunde unangetastet erscheint, gibt es hinsichtlich der Grenzen in Ostpreußen und der Curzon-Linie nach dem Zerfall der UdSSR mit allen staats- und völkerrechtlichen Folgen über- und unterschwellige Bewegungen. Polen, Litauen und Rußland, aber auch bestimmte deutsche Interessen wirken hier hinein und es ist kaum als Zufall zu werten, daß dem deutschen Besucher im baltischen Raum immer wieder die Frage gestellt wird, wie sich denn das vereinigte Deutschland zur territorialpolitischen Zukunft Königsbergs und Ostpreußens verhalte. Objektiv betrachtet ist die Frage für die deutsche Politik eindeutig geregelt. Im Potsdamer Abkommen ist die politische Zukunft des nördlichen Ostpreußen um Königsberg eindeutig geregelt worden - eindeutiger als die entsprechenden Zusagen gegenüber Polen mit Blick auf das südliche Ostpreußen, Hinterpommern, Neumark und Schlesien. Das alles mag so sein und Nostalgiker wie politische Abenteurer zu Spekulationen veranlassen. Für Deutschland gibt es eine Verbindlichkeit: der 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 hat unmißverständlich bestimmt: "Seine (Deutschlands) Außengrenzen werden die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sein und werden am Tag des Inkrafttretens dieses Vertrages endgültig sein."

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Die völkerrechtliche Verbindlichkeit ist indessen nur eine Seite vieler Probleme. Nach 1945 ist Stalins Rechnung vollkommen aufgegangen. Trotz aller Beteuerungen auch der politischen Führung in der DDR erwies sich in Polen die OderNeiße-Grenze als ein "ständig brennender Konfliktherd". 29 Folgt man heutigen polnischen Autoren, so haben die Verträge 1950 in Görlitz und 1970 über die Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland "die Psychose der deutschen Gefahr" nicht gemildert. Das besaß seine Ursachen auch darin, daß die neue polnisch-sowjetische Grenze zum Tabu erklärt wurde. Offiziell wurde die Sowjetunion als der beste Garant der Oder-Neiße-Grenze betrachtet, "doch haben die Entscheidungen von Jalta bei der polnischen Bevölkerung die Überzeugung vertieft, die geopolitische Lage Polens müsse mit einem gewissen Fatalismus getragen werden, und eine deutsch-russische Interessengemeinschaft habe antipolnischen Charakter." 30 Die politische Geographie Osteuropas hat sich nun grundlegend verändert und damit auch die von Stalin und den Westmächten geprägte Oder-Neiße-Grenze. Sie hat ihre damals formulierte Funktion eingebüßt und ist nun zur politischen Grenze zwischen der Europäischen Union und den osteuropäischen Reformstaaten geworden. Sie markiert die Grenze zwischen dem europäischen Markt und Wirtschaftsgebilden, deren Zielrichtung noch nicht eindeutig definiert ist. Und sie begrenzt die NATO gegenüber einem riesigen Territorium sicherheitspolitischer Unwägbarkeiten. Polen und andere Reformstaaten wollen in die Europäische Gemeinschaft, wollen Mitglieder der NATO werden, um den Anschluß an Europa zu finden und zu halten. Das bedeutet auch, den Charakter der Oder-Neiße-Grenze neu zu bestimmen. Ein mögliches Konzept wäre die Europäisierung dieser Grenze. Erst wenn das gelungen ist, wird der Geist Stalins über dieser Flußgrenze endgültig überwunden sein. Das aber verlangt viel. Das heutige Territorium Polens und seine Grenzen sind im Ergebnis des zweiten Weltkrieges, des Willens Stalins und der Siegermächte entstanden. Sie sind nicht das Ergebnis einer demokratisch-freien Entscheidung des polnischen, deutschen, ukrainischen, belorussischen, litauischen, russischen, tschechischen und slowakischen Volkes. Der territoriale Status quo wird als stabilisierender Friedensfaktor in Europa betrachtet. Europäisierung der polnischen Westgrenze bedeutet Demokratisierung dieser Grenze - wie auch der polnischen Ostgrenze. Aber welche Konsequenzen daraus erwachsen, vermag der Historiker 29 Anna Wolff-Poweska. Polen - 50 Jahre danach. Zwischen traumatischer Erbschaft und pragmatischer Gegenwart. in: Osteuropa. 1995. H. 5. S. 428. 30

Ebenda. S. 429.

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nur dem Lauf der Zeit und den Politikwissenschaftlern zu überlassen. Zumindest bedeutet das, daß sich alle beteiligten Völker und Staaten in den Grundlagen ihrer Politik auf europäische Dimensionen stellen. Dieses Ziel aber liegt noch in weiter Feme.

Die Potsdamer Konferenz und Ungarn Von Istvan Nemeth A. Das Waffenstillstandsabkommen vom 20. Januar 1945 zwischen Ungarn und der Sowjetunion Anfang Dezember 1944 stimmten die Sowjetunion und durch ihre Vermittlung auch die Alliierten zu, eine demokratische Macht in Ungarn zu organisieren, die im Interesse der militärischen Umstellung des Landes entschlossen eingreifen sollte. Als nötige Rechtsgrundlage und minimale Voraussetzung zur Stabilisierung der neuen Macht empfahl die Sowjetunion, den Auftrag der neuen ungarischen Regierung, sofern die Möglichkeit bestehe, durch außerordentliche Wahlen zu legitimieren. Von sowjetischer Seite wurde empfohlen: als Muster sollte zur Formulierung eines Manifestes und zur Ausübung der anfänglichen Tätigkeit der ungarischen Regierung das polnische Manifest vom Juli 1944 dienen - da es nuanciert formuliert und unnötiger radikaler Forderungen ledig war. Zu der Delegation des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunistischen Partei (Emö Gerö und Imre Nagy) in Moskau schlossen sich die Mitglieder der vorherigen Waffenstillstandsdelegation von Reichsverweser Mikl6s Horthy und die übergelaufenen ungarischen Generäle an, deren Teilnahme die Sowjetunion forcierte, um die an der deutschen Seite noch kämpfenden ungarischen militärischen Kräfte zu desorganisieren. An der die Regierung vorbereitenden Beratung vom 5. - 6. Dezember 1944 i.n Moskau nahmen ungarischerseits Emö Gerö, Gabor Faragho, Bela Mikl6s, Imre Nagy, Geza Teleki, Janos Vörös und Istvan Tarnay, als Sekretär der Delegation, teil. Der sowjetische Außenminister Molotow stellte der ungarischen Delegation, die zur Provisorischen Regierung nach U ngaro zu sendenden sowjetischen Beauftragten vor. Die Verbindung zwischen General Malinowski und der ungarischen Delegation erhielt General Susaikow aufrecht, Puschkin wurde als Budapester Gesandter, Grigoriew als Sekretär dem Gesandten zugeteilt. Die außen ordentlichen Wahlen wurden zwischen dem 15. und 19. Dezember 1944 in dem befreiten Gebiet, das nahezu die Hälfte des Territoriums von Ungarn ausmachte, in rund fünfzig Städten und Großgemeinden durchgeführt. Von den 230 gewählten Abgeordneten wurde am 21. Dezember in Debrecen die Provisori-

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sche Nationalversammlung auf breiter sozialer Basis, mit Vertretern von Industriearbeitern, landlosen Bauern, der Intelligenz, von Handwerkern zusammenberufen. Parteienzugehörigkeit der Provisorischen Nationalversammlung: Ungarische Kommunistische Partei (MKP) Unabhängige Kleinlandwirtepartei (FKF) Sozialdemokratische Partei (SZDP) Nationale Bauernpartei (NPP) Bürgerliche Demokratische Partei (PDP) Parteilose

90 Abgeordnete 43 43 16 13 12

39,1 % 24.4 % 18,7 % 7,0% 5,6% 5,2%

230

100,0 %

Die Provisorische Nationalversammlung proklamierte, daß sie "das Steuerruder des herrenlosen Landes in die Hand nimmt, als Ausdruck des nationalen Willens, der Träger der ungarischen Souveränität!". Dann erkannte sie das von der Ungarischen Kommunistischen Partei am 30. November 1944 in Debrecen veröffentlichte und von der Ungarischen Nationalen Unabhängigkeitsfront am 2. Dezember für das nationale Programm erklärte Aktionsprogramm an. Am 22. Dezember wählte die Provisorische Nationalversammlung die Provisorische Nationalregierung von Ungarn mit der folgenden Zusemmensetzung: Ministerpräsident - Generaloberst Bela Mikl6s Dalnoki, parteilos; Innenminister - Ferenc Erdei (Nationale Bauernpartei); Finanzminister - Istvan Vasary (Unabhängige Kleinlandwirtepartei); Außenminister - Janos Gyöngyösi (Unabhängige Kleinlandwirtepartei); Kultusminister - Graf Pal Teleki, parteilos; Verteidigungsminister - Generaloberst Janos Vörös, parteilos; Minister für Landwirtschaft - Imre Nagy (Ungarische Kommunistische Partei), Handelsminister - J6zsef Gabor (Ungarische Kommunistische Partei); Justizminister - Agoston Valentiny (Sozialdemokratische Partei); Minister für Industrie - Ferenc Takacs (Sozialdemokratische Partei); Minister für Versorgung - Generaloberst Gabor Faragho, parteilos; Volkswohlfahrtminister - Dr. Erik Molnar (Ungarische Kommunistische Partei). Die Politik der Provisorischen Nationalen Regierung wich erheblich von der Politik der Provisorischen Nationalen Versammlung ab. Zwei Drittel der Minister stellten die Parteien der Ungarischen Nationalen Unabhängigkeitsfront. Vier Minister gehörten - als Parteilose die gesamtnationalen Aufgaben zum Ausdruck bringend - zu konservativen Kreisen. Die Provisorische Nationale Regierung deklarierte schon am Tage ihres Zustandekommens den Bruch mit Deutschland, und am 28. Dezember 1944 erklärte sie ihm den Krieg. Gleichzeitig bat sie die Alliierten um Waffenstillstand. Nachdem

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sie die Provisorische Nationalregierung anerkannt hatten, als eine Macht, die kompetent ist, das Waffenstillstandsabkommen abzuschließen, empfingen sie in den ersten Tagen des Jahres 1945 die ungarische Delegation in Moskau. Die Verhandlungen über die gemeinsamen Waffenstillstandsbedingungen, die unterbrochen wurden, als der Lostrennungsversuch von Reichsverweser Mikl6s Horthy gescheitert war, begannen in der sowjetischen Hauptstadt mit den drei Großmächten erneut. Nach den Beratungen zwischen dem 27. Dezember 1944 und dem 15. Januar 1945 unter dem Vorsitz von Molotow und unter der Beteiligung von Harriman, Botschafter der USA in Moskau, sowie von Balfour, britischer Geschäftsträger in Moskau, kam es zu Verhandlungen am 15. Januar mit den Vertretern der beiden unmittelbar interessierten kleineren Verbündeten: Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Am 18. und 19. Januar nahm auch die ungarische Delegation an diesen Verhandlungen teil. In den Dreimächte-Verhandlungen versuchten die westlichen Alliierten das allgemeine Übergewicht der sowjetischen Führung in Ungarn zu verringern. Sie empfahlen die Benennung "Alliierte sowjetische Oberkommandatur" durch die Benennung "Alliierte Kontrollkommission" zu ersetzen, um ein Organ zu schaffen, in dem die Vertreter der drei Großmächte gleiche Rechte haben. "Politische Direktiven dürften im Rahmen der Alliierten Kontrollkommission nicht ausgegeben werden, solange die amerikanischen und englischen Vertreter ihre Meinungen dazu nicht äußerten" betonte die amerikanische Regierungsanweisung an ihre Delegation. Die westlichen Alliierten erreichten auch ihre Teilnahme an der. Verwaltung der Wiedergutmachungsleistungen, wie Harriman nämlich meinte: "Wer die Wiedergutmachungslieferungen kontrolliert, kann praktisch auch die ungarische Wirtschaft kontrollieren und beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluß auch in anderen Richtungen ausüben." Obwohl Harriman den sowjetischen Standpunkt, der Warenlieferungen innerhalb von sechs Jahren im Werte von 50 Mill. Dollar pro Jahr vorsah, akzeptabel fand, schlug er jedoch seinem Außenministerium vor, im Interesse der amerikanischen Ziele den Druck auf die sowjetische Regierung zu steigern. In der Frage der Wiedergutmachung stellte die amerikanische Regierung um ihren Vorbehalt auszudrücken eine Note in Aussicht. Die drei Großmächte lehnten den tschechoslowakischen Anspruch ab, Ungarn zur Aufnahme und Betreuung expatriierter Angehöriger der ungarischer Minderheit aus der Tschechoslowakei zu verpflichten. Es wurde aber ein anderer tschechoslowakischer Antrag angenommen, jede legislative und verwaltungsmäßige Maßnahme, die mit der Rückgliederung "von tschechoslowakischen und jugoslawischen Gebieten" dem Territorium von Ungarn in Verbindung standen,

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für ungültig zu erklären. Abgelehnt wurde noch ein tschechoslowakischer Antrag, den Kriegszustand zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn in dem sowjetisch-ungarischen Waffenstillstandsabkommen vom Zeitpunkt des ersten Wiener Schiedspruchs (2. November 1938) zu rechnen. Aber die Tschechoslowakei wurde neben der Sowjetunion unter den Alliierten als ein Land erwähnt, mit dem Ungarn ebenfalls im Kriegszustand stand. Schließlich wurden die tschechoslowakischen Delegierten - trotz ihres Antrages - nicht in die Arbeit der Alliierten Kontrollkommission einbezogen, und der Text des Waffenstillstandsabkommens blieb unverändert. In einem Brief versicherte Molotow der tschechoslowakischen undjugoslawischen Regierung, daß ihre Vertreter an den Sitzungen der Kommission teilnehmen dürfen, wenn es sich um Fragen handelt, von denen sie tangiert würden. Der jugoslawische Botschafter schlug vor - aufgrund mangelhafter Regierungsanweisungen -, daß Ungarn ein für allemal auf territoriale Forderungen in Zusammenhang mit den im Krieg besetzten Gebieten verzichten soll. "Mit diesem Antrag" - schrieb Harriman in seinem Bericht - "war keiner unter uns einverstanden, wir lehnten ihn also ab." Der andere jugoslawische Antrag forderte Ungarn auf, "alle Kriegsverbrecher, die auf jugoslawischem Gebiet Verbrechen begangen, auszuliefern". Dieses wurde von den drei Großmächten ohne weiteres im Abkommen übernommen. Anschließend hat Molotow durch seine kompromißsuchenden Vorschläge die englischen und amerikanischen Vorbehalte geschickt abgewiesen. Die ungarische Delegation bekam eine eintägige Frist, das Waffenstillstandsabkommen zu überprüfen und den eigenen Standpunkt zu formulieren. Nachdem die ungarische Delegation in der Beratung einige Fragen gestellt hatte, trug sie etliche Bitten vor, um Änderungen zu erzielen. Unter anderem bat sie, die Summe der Wiedergutmachung zu verringern und die Zahlungsfrist von sechs Jahren auf 10 Jahre zu verlängern. Außenminister Molotow lehnte alle ungarischen Bitten als unerfüllbar ab. Man änderte den Text des Abkommens nicht und betrachtete diesen von den Vertretern der drei alliierten Großmächte ausgearbeiteten Text als endgültig. Was den Inhalt und den Rahmen des ungarischen Waffenstillstandsabkommens oder den Empfang der Delegation bzw. den Umgang mit dem Land betraf, können keine wesentlichen Unterschiede im Vergleich zu Rumänien, Finnland und Bulgarien festgestellt werden. Ungarn erzielte als wesentlichstes Ergebnis: das Waffenstillstandsabkommen wurde am 20. Januar 1945 um 15.30 Uhr nach Moskauer Zeit unterzeichnet. In der Einleitung des ungarisch-sowjetischen Waffenstillstandsabkommen wurde festgestellt, daß die Provisorische Nationalregierung Ungarns auf die

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Waffenstillstandsbedingungen der Regierungen der drei Großmächte, die im Namen der Vereinten Nationen festgelegt wurden, eingeht. Punkt 1 des Abkommens stellt fest, daß Ungarn den Krieg gegen die Alliierten beendete, jede Beziehung zu Deutschland unterbreche und ihm den Krieg erkläre. Ungarn verpflichtete sich zur Entwaffnung der deutschen Streitkräfte und zur Übergabe ihrer Soldaten als Kriegsgefangene sowie zur Internierung der deutschen Staatsangehörigen. Es verpflichtete sich, mindestens acht ungarische Divisionen zur Verfügung zu stellen. Die entsprechenden Punkte schrieben vor, Ungarn solle sich auf die Grenzen von 1937 zurückziehen, alle seine, die angegliederten Gebiete betreffenden späteren Maßnahmen für ungültig zu erklären, die freie Bewegung der alliierten Streitkräfte im Lande zu sichern und dazu mit allen Mitteln beizutragen. Die ungarische Regierung wurde verpflichtet, die Kriegsgefangenen und Staatsbürger der Alliierten freizulassen und ihnen Hilfe zu leisten. Es wurde vorgeschrieben, alle verfolgten Personen zu befreien und ihnen Hilfe zu gewähren, alle sie betreffenden Zwangsmaßnahmen außer Kraft zu setzen. Es wurde gefordert, die aus den alliierten Ländern requirierten Gegenstände zurückzugeben, das in Ungarn befindliche deutsche Kriegsmaterial als Kriegsbeute zu übergeben, das ganze deutsche Vermögen zu sperren, die das Eigentum der Alliierten bildenden Schiffe als Operationsbasis zur Verfügung zu stellen, alle die Tätigkeit der Alliierten Kontrollkomission fördernden Ansprüche zu befriedigen. Das ungarisch-sowjetische Waffenstillstandsabkommen - ähnlich wie es auch in den rumänischen und bulgarischen Abkommen prinzipiell begründet und methodisch vorgeschrieben wurde - stellte die Wiedergutmachungsquote Ungarns auf 300 Mil!. Dollar fest, die innerhalb von sechs Jahren in gleichen Raten zu tilgen sei. Aus dieser Summe sollten 200 Mil!. für die Sowjetunion, 70 Mil!. für Jugoslawien, 30 Mill. für die Tschechoslowakei bezahlt werden. Darüber hinaus wurde Ungarn verpflichtet, später festzustellende Kriegsentschädigungen für bestimmte Nationen der UNO, miteinbegriffen ihre Staatsangehörigen - wegen der an ihren Eigentümern verursachten Schäden - zu zahlen. Es wurde bestimmt, die ungarische, zivile Verwaltung in Landesteilen, die 50 bis 100 km von der Front entfernt liegen, wiederherzustellen. Zur Kontolle des Waffenstillstandsabkommens wurde die Alliierte Kontrollkommission ins Leben gerufen. Die bei den Wiener Schiedssprüche vom 2. November 1938 und 30. August 1940 wurden für ungültig erklärt, es wurde bestimmt: "Die vorliegenden Bedingungen werden im Augenblick der Unterzeichnung in Kraft treten." Bei den Reparationslieferungen für die Sowjetunion dem englischen Antrag entsprechend, wie auch in den mit Rumänien und Finnland abgeschlossenen 10 Timmennann

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Abkommen, wurde das stabile Preisniveau von 1938 genommen und - im Einverständnis mit den Alliierten - die feste Goldparität des amerikanischen Dollar angewandt (I Unze Gold= 35 Dollar). Die Weltmarktpreise von 1938 wurden bei Fabrikindustriewaren um 10 Prozent, bei schwerindustrielIen Anlagen um 15 Prozent erhöht.

B. Die Potsdamer Konferenz und ihre Folgen Die recht hohe Wiedergutmachungsquote stellte die in Trümmern liegende ungarische Wirtschaft 1945-1946 vor nicht erfüll bare Aufgaben. Die Reparationslieferungen für 1945 machten ein Viertel des Nationaleinkommens aus. Dazu kamen die Verpflegungskosten für die im Lande befindlichen sowjetischen Streitkräfte in einer Stärke von 1-1,5 Mil!. Mann und für die Alliierte Kontrollkommission, die in den ersten zwei Jahren noch zusätzlich etwa 10 Prozent des damaligen Nationaleinkommens betrugen. Die zerstörte ungarische Wirtschaft war nicht imstande, dieser großen materiellen Belastung völlig nachzukommen. Ungarn konnte über die militärischen Verpflegungskosten hinaus weder 1945 noch in der ersten Hälfte des Jahres 1946 nicht mal die Hälfte der Jahresrate der Reparationen für die Sowjetunion bezahlen. Die real geleisteten Reparationen betrugen auch so rund 17 Prozent des Jahresnationaleinkommens. Sich auf in Potsdam erworbene Rechte berufend, zog die Sowjetunion als Wiedergutmachungsgegenstände auch demontierte Industrieeinrichtungen aus Ungarn ab. Von seinen Rechten machte sie aber nicht mehr Gebrauch, als die ungarischen Regierungsorgane sie baten, die Interessen der ungarischen Wirtschaft zu beachten; im Rahmen der Wiedergutmachung wurden Produktionseinrichtungen im Durchschnitt bis etwa acht Prozent der Vorkriegskapazität demontiert und abtransportiert. Im Juli 1946 - als die ungarische Wirtschaft nicht imstande war, die Reparationen zu zahlen - stimmte die Sowjetunion zu, die Wiedergutmachungsfrist von sechs auf acht Jahre verlängern. Entsprechend dem Wiederaufbautempo der ungarischen Industrie wurde ein System proportional allmählich steigender Raten eingeführt. Als Ungarn 1948 ein Drittel der Wiedergutmachungsquote (64,7 Mil!. Dollar) an die Sowjetunion tilgte, erließ die sowjetische Regierung die Hälfte der gebliebenen Schuld (rund 67 Mil!. Dollar). Gleiche Vergünstigungen gewährte die Sowjetunion auch Finnland und Rumänien. In dieser Geste der Erleichterung war nicht schwer zu erkennen, wie sich freundschaftliche Verbindungen neuen Typs zwischen der Sowjetunion und Ungarn herausbildeten. Zu einer eigenartigen wirtschaftlichen Lage führte eine Bestimmung der Potsdamer Konferenz: Die in den von der Sowjetunion besetzten, früher mit Deutsch-

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land verbündeten Ländern befindlichen deutschen Vermögen und deutschen Auslandsguthaben kamen als Wiedergutmachung der Sowjetunion zu. Da 13/14% der ungarischen Bergbau- und Industrieunternehmungen zu deutschen Firmen gehörten bzw. unter deutscher Finanzkontrolle standen, ging rund die Hälfte der in Ungarn befindlichen Firmen mit ausländischer Beteiligung in sowjetisches Eigentum über. Ab 1946 verwandelten sich diese Firmen allmählich in ungarisch-sowjetische gemeinsame Unternehmungen. Dazu kamen noch die für Deutschland zu zahlenden ungarischen Passiva, da die Siegermächte die viel größere deutsche Schuld Ungarn gegenüber 1,5 Milliarden Mark nicht anerkannten. Zwei Drittel der von Ungarn erhaltenen Summe wurden allerdings durch die Sowjetunion in Ungarn in Form gemischter Unternehmungen investiert. Ähnliche Formen gemischter Unternehmungen gestalteten sich auch in anderen mitteIosteuropäischen Ländern, in den früher mit Deutschland verbündeten Staaten und auch in Siegerstaaten, wie in Rumänien, Jugoslawien, Österreich, sogar auch in China. Ihre völlige Liquidierung erfolgte in Form der Verkaufes Mitte der 50er Jahre, als die Sowjetunion auch ihre aufgrund des Potsdamer Abkommens erworbenen ungarischen Beteiligungen im Werte von 45 Mil!. Dollar dem ungarischen Staat verkaufte. Aus dem Waffenstillstandsabkommen und der Politik der Alliierten Großmächte folgte, daß sich sowjetische Militärorgane bemühen sollten, in den besetzten ungarischen Gebieten überall den früheren ungarischen Staatsapparat wiederherzustellen. Die unmittelbaren Kriegsinteressen forderten nämlich eine möglichst optimale Ordnung im Hinterland. Diese Ordnung versuchte die sowjetische militärische Führung herzustellen, indem sie sich auf die früheren Organisationen und Fachmänner stützte und mit neuen Formen und Menschen nicht experimentierte. Das entsprach auch den Interessen der Koalition, die auf antagonistischer gesellschaftlich-politischer Basis enstand. Von 1944 bis 1947 wurden die nationalen Kommissionen und anderen Volksorgane, die sich unter politischer Beeinflussung und aus Koalitionsgründen zusammenschlossen, nicht zu staatlichen Organen, sie bekamen "nur" politische, soziale und Massenbewegungsfunktionen. Durch den Friedensvertrag wurde aber diese Gebundenheit völlig beseitigt. Nach 1945 führte es zu einer schwierigen Situation, daß ein erheblicher Teil der erwachsenen Bürger aus seiner Heimat zwangshaft entfernt wurde oder nicht mehr zurückkehren konnte. Das heutige Gebiet des Landes verlor nahezu 450.000 Bürger (mehr als die Hälfte davon machten die deportierten Juden aus, rund 125.000 fielen als Soldaten, 28.000 starben bei der Belagerung von Budapest, infolge der Bombardierungen starben 16.000 im Lande, und über 40.000 Kriegsgefangene starben in Lagern). Der gesamte Menschenverlust des Landes in dem während des Krieges verwalteten größeren Gebiet ist auf etwa 700.000-750.000 10"

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Personen zu schätzen, die Mehrheit dieses Verlusts machten die Rassendiskriminierten aus. In dem heutigen Gebiet des Landes gefangengenommen wurden von den Siegermächten während der Kriegsereignisse insgesamt 850.000-900.000 ungarische Soldaten oder Zivilisten, davon gerieten rund 550.000-570.000 Mann in sowjetische Kriegsgefangenschaft (in der Sowjetunion, in Ungarn, Österreich, in der Tschechoslowakei, in Deutschland). Dazu kamen noch die deportierten und verschleppten Massen, etwa 400.000. Ohne diese große Menge an Arbeitskräften stand der Wiederaufbau vor großen Schwierigkeiten. Von den rund 580.000 Bürgern, die unter der Leitung von Ferenc Szalasi nach Westen transportiert wurden, gerieten etwa 300.000-320.000 Mann in von den westlichen Alliierten besetzte Gebiete in die Kriegsgefangenschaft. Bis zum Kriegsende blieben 60.000 Jugendliche in Deutschland, die sog. "Levente" (l4-bis 18 Jährige in vormilitätischer Ausbildung), die die Pfeilkreutzier verschleppten. Die sowjetische Regierung ließ noch vor der Unterzeichnung des Friedensverträges 300.000 Mann nach Ungarn zurückkehren, die westlichen Länder führten auch rund 590.000 Kriegsgefangene zurück. Mehr als die Hälfte der Kriegsgefangenen durfte also vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags heimkehren. Bald nach dem Abschluß des Friedensvertrags kehrten alle ungarischen Kriegsgefangenen und Verschleppten aus den westlichen Besatzungszonen zurück. Die Heimkehr der Kriegsgefangenen aus Frankreich, Belgien, Dänemark, Holland und Jugoslawien wurde 1947 durch zwischenstaatliche Vereinbarung gewährleistet. Im Oktober 1947 blieben nur 41.000 ungarische Kriegsgefangenen in den westlichen Zonen Deutschlands und Österreichs zurück. Bald nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags begann es mit dem allgemeinen Rücktransport der Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. Bis Ende 1947 wurden 120.000, bis Ende Oktober 1948 80.000 Mann freigelassen. Gleichzeitig durften die Gefangenen heimkehren, die als Zivilisten mit den Kriegsgefangenen verschleppt wurden. Während der Waffenstillstandsperiode durfte die ungarische Regierung, gleich wie die anderen früher mit Deutschland verbündeten Länder, nur durch die Alliierte Kontrollkommission außenpolitische Tätigkeit ausüben und Verbindungen knüpfen. Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland forderte die Provisorische Nationalregierung noch im August 1945 - eine Woche nach der Potsdamer Konferenz - auf, in praktisch kürzester Zeit die Aussiedlung von 450.000 Deutschen aus Ungam vorzubereiten. Die Potsdamer Konferenz weitete diese Aussiedlungsaktion auf sowjetische Initiative auf Ungarn aus, da die Sowjetunion erhoffte, dadurch

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ihre Versprechung der tschechoslowakischen Regierung gegenüber erfüllen zu können, wonach die ungarische Minderheit aus der Slowakei an der Stelle der aus Ungarn auszusiedelnden Deutsche angesiedelt werden sollte. Als die ungarische Regierung aufgrund der Potsdamer Entscheidung die Aussiedlung der Ungarndeutschen vorbereitete, wurde sie durch zwei Faktoren zwingend beeinflußt. Mehrere Zehntausend Szekler aus Bukowina wurden aufgrund der ungarisch-rumänischen Vereinbarung von Mai 1941 in der Batschka angesiedelt, die im Oktober 1944 auf Befehl evakuiert wurden und sich bei Baja provisorisch aufhielten. Die andere dringende Frage war, wie man das weitere Schicksal der Bürger der ungarischen Minderheit in der Slowakei lösen kann, die aufgrund "der kollektiven Verantwortlichkeit" in der Slowakei interniert und dann vertrieben wurden. Dabei schlug die tschechoslowakische Regierung vor, in den leergewordenen Gebieten der ausgesiedelten Ungarndeutschen die ungarische Minderheit aus der Slowakei anzusiedeln. Mit der Ansiedlung der Ungarndeutschen in der amerikanischer Besatzungszone begann man im Januar 1946, der Plan konnte aber nicht termingerecht erfüllt werden. Überprüfungen, örtlicher Wiederstand, Unwissenheit der ministeriell Beauftragten und Parteiinteressen verlangsamten die Aktion. Auch der amerikanische Oberbefehlshaber legte immer mehr Hindernisse in den Weg der Aussiedlungen. Im Mai 1947 ließen die Amerikaner die Aussiedlungen völlig einstellen. Im Sommer 1947 vereinbarten die sowjetische und ungarische Regierung, bis zur Aufbebung der amerikanischen Sperre die Aussiedlungen in die sowjetische Besatzungszone vorzunehmen. In dieser Zone wurden 50.000-54.000 Ungarndeutsche angesiedelt. Laut den ungarischen Organen machte die Gesamtzahl der ausgesiedelten Ungarndeutschen 127.000 aus, nach anderen Berechnungen kann sie auf 177.000-bis 230.000 geschätzt werden. Alles in allem erreichte die Gesamtzahl der ausgesiedelten Ungarndeutschen nicht die vom Alliierten Kontrollrat vorgesehene Zahl. In eine schwierige Lage wurde die ungarische Regierung durch die Benessche Politik gebracht, die das Zustandekommen des tschechoslowakischen Nationalstaates mit der Forderung nach der Aussiedlung der ungarischen Minderheit verband. Sie erzielte die Zwangsaussiedlung von 600.000 Bürgern der ungarischen Minderheit. Ungarn pflichtete natürlich der tschechoslowakischen Auffassung nicht bei, aufgrund deren die in der Slowakei lebende ungarische Minderheit eine aus Kriegsverbrechern bestehende Volksschicht bilde und zur kollektiven Aussiedlung verurteilt sei. Auch die Alliierten hießen diese Pläne nicht gut. Die von tschechoslowakischer Seite angestrebte Zwangsaussiedlungspflicht wurde weder in den Entscheidungen der Goßmächte noch im ungarischen Friedensvertrag erwähnt.

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Nach mehreren Versuchen wurde ein Abkommen im Februar 1946 zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn über den Bevölkerungsaustausch unterzeichnet. Aufgrund dieser Vereinbarung verließen während der folgenden 2Y2 Jahre 73.000 in Ungarn lebende Slowaken das Land. Die Angehörigen der ungarischen Minderheit wurden gezwungen, sich in Ungarn anzusiedeln. Ihre Zahl betrug mehr als 100.000. Die Zwangsaussiedlungen der ungarischen Minderheit aus der Slowakei fanden erst 1948 ein Ende. Im Herbst dieses Jahres bekamen die zur ungarischen Nationalität Gehörenden schon wieder staatsbürgerliche Rechte. Während der Jahre 1946-1947 wurden durch reslowakisierende Verordnungen 135.000137.000 Farnilien mit insgesamt 327.579 Mitgliedern gezwungen, ihre ungarische Herkunft und Nationalität abzuleugnen. Sie alle baten um ihre Reslowakisierung in der Hoffnung, daß sie dadurch der zwangsläufigen Aussiedlung entgehen könnten. Die Verordnung vom Juni 1946 über die zwangsläufige Reslowakisierung wurde erst 1954 außer Kraft gesetzt. Einen gesonderten Teil der An- und Aussiedlungen bildeten andere Bevölkerungsbewegungen im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen. Aus den auf Grund des Waffenstillstandabkommens evakuierten sog. rückgegliederten Gebieten siedelte eine beträchtliche ungarische Bevölkerung in das heutige Gebiet Ungarns. In erster Linie handelte es sich um Angestellte der Administration und bestimmte Volksgruppen, die während der Rückgliederung und Besetzung von 1938-1941 auf diesen Gebieten ansiedelten. Zu diesen erwähnten Volksgruppen gehörten die während des Krieges in der Batschka angesiedelten Bukowiner und Moldauer Szekler, die Ende des Krieges zusammen mit den Ansiedlern der ordensähnlichen Kriegerorganisation ("Vitez") gezwungen waren, die zu Jugoslawien wieder rückgegliederte Batschka zu verlassen. Die rund 13.000 Familien (47.500 Personen) ausmachenden Flüchtlingsgruppen wurden in den südöstlichen Komitaten des Landesteils "Jenseits der Donau" in den durch Bodenreform und die Aussiedlungen der Ungarndeutschen Gebieten angesiedelt. Die Zahl der durch die Grenzen des heutigen Ungarns einströmenden ungarischen Bevölkerung ersetzte mit der aus der Slowakei ausgesiedelten ungarischen Volksgruppe zahlenmäßig nicht nur den Verlust, der sich aus der Aussiedlung der Ungarndeutschen, der Ungarnslowaken (73.000), der im Westen gebliebenen Emigranten (50.000), der Auswanderer (25.000) ergab, sondern ergab eine positive Bilanz zeigte: Sie betrug insgesamt 350.000.

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c. Ungarn und die Pariser Friedenskonferenz Die Pariser Friedenskonferenz war einberufen, die Rolle Ungarns im Kriege endgültig abzuschließen. Im April 1945 erörterten die ungarischen Koalitionspartner das den Frieden vorbereitende Programm der Regierung eingehender, sie vereinbarten, daß Ungarn auf der Friedenskonferenz allein nur gegenüber Rumänien - das auch zu den besiegten Ländern gehörte - mit Bezug auf das rumänische Waffenstillstandsabkommen, das die Zugehörigkeit Nordsiebenbürgens noch nicht bestimmte, territorialen Anspruch auf rund 22.000 km2 erheben sollte. Aufgrund seiner Stellungsnahme vom 7. Mai 1946 empfahl der Rat der Außenminister jedoch die Wiederherstellung des Zustandes vom 31. Dezember 1937. In den westlichen Verhandlungen der ungarischen Regierungsdelegation machten die USA und Großbritannien keine Versprechen, in der Friedenskonferenz die ungarischen Friedensziele, konkreter die ungarischen territorialen Ansprüche zu unterstützen, bzw. die USA waren dazu nur im Falle bereit, wenn auch die Sowjetunion gleich vorgehe. Am 29. Juli wurde im Paris die Friedenskonferenz von 21 Siegerstaaten des Zweiten Weltkrieges eröffnet. Am 5. September wurde die ungarisch-rumänische Grenze von den Siegermächten entsprechend der Lage vor dem zweiten Wiener Schied spruch wiederhergestellt. Die dem Zustand von 31. Dezember 1937 entsprechende Grenze wurde durch die ungarische territoriale und politische Kommission zugunsten der Tschechoslowakei modifiziert: Drei ungarische Gemeinden mit einem Gebiet von 43 km2 wurden der Tschechoslowakei angegliedert. Die modifizierende Empfehlung der Siegermächte im Friedensvertrag schloß die Möglichkeit der im Interesse der Aussiedlungen durchzuführenden einseitigen tschechoslowakischen Aktionen aus und zwang die Tschechoslowakei zu unmittelbaren Verhandlungen. Über die wirtschaftlichen Verpflichtungen Ungarns verhandelte die Ökonomische Balkankommission. Der ungarischen Delegation wurde nicht einmal Gehör geschenkt. Die USA schlugen - als wirtschaftliche Hilfe für Ungarn - die Herabsetzung der Wiedergutmachung von 300 auf 200 Mill. Dollar vor. Die Vertreter der Sowjetunion lehnte diesen Antrag ab. Auch ein anderer Antrag, der auf die Zurückerstattung der ins Ausland verschleppten ungarischen Vermögen zielte, wurde abgelehnt. Dasselbe Geschick wurde der gegen Deutschland bestehenden, mehrere Hundertmillionen Dollar ausmachenden ungarischen Forderung zuteil. Aber gleichzeitig wurden deutsche Forderungen gegen Ungarn als ungarische Passiva bestimmt, die Ungarn der Sowjetunion bezahlen sollte. Der Stand der Landstreitkräfte von Ungarn wurde auf 60.000, der Stand der Luftwaffe auf 5.000 Mann begrenzt.

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Der am 10. Februar 1947 in Paris unterzeichnete Friedensvertrag bedeutete eine große Last für die wiederaufzubauende ungarische Wirtschaft. Der Friedensvertag verpflichtete die ungarische Regierung, solche Güter und kulturellen Werte auszuliefern, deren Herkunft und Eigentumsrecht zumindest ein Thema weiterer Diskussionen sein könnte. Der Friedensvertrag bestimmte die Nationalitätenfrage als innere Angelegenheit des Staates, in dem die fragliche Nationalität lebt. Die nichtregulierte Nationalitätenfrage konnte durch die deklarative Anerkennung der menschlichen Freiheitsrechte, die Annahme der Charta der Vereinten Nationen nicht gelöst werden, da eine Minderheit nur dann von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen kann, wenn diese Rechte in konkreten Rechtsregeln verankert werden. Die mittel-osteuropäischen Kleinstaaten konnten eine wichtige Lehre ziehen: es war beinahe egal, wer was tat, mit wem wer sich verbündete, wer gegen wen Widerstand leistete. Ihr Schicksal gestaltete sich gleich. Der eine bekam das als Lohn, der andere als Strafe: die Lauwärme der unter sowjetischer Kontrolle aufblühenden, mit Gewalt zusammengebastelten konservierten Mißgeburt-Volksdemokratien.

Literaturhinweis A nemet kerdes 1945-1990. (Die deutsche Frage 1945-1990). Dokumentumgyüjtemeny (Eine Dokumentation) Hrsg. von Istvan Nemeth. Budapest, 1993. Dokumente zur Deutschland-Politik. 11. Reihe, Band I. Die Konferenz von Potsdarn. Bearbeitet von Gisela Biewer. Verantwortlich für die Übersetzung aus dem Englischen: Hannelore Nathan. Hrsg. vom Bundesminister des Innem. Neuwied und Frankfurt. 1992. Ferenc, Fejtö: A nepi demoknicüik törtenete (Histoire des democraties populaires) 1972. Budapest

1972 - Parizs 1991. György, R3nki: A masodik viIaghaborU gazdasagtörtenete. (Die Wirtschaftsgeschichte des Zweiten

Weltkrieges) Budapest, 1990. Magyarorszag tört6nete 1945-1990. (Geschichte Ungarns 1918-1990) Hrsg. von Ferenc Pölöskei und andere. Budapest, 1995. Mihtily, Korom: Magyarorszag Ideiglenes Nemzeti Konnanya es a fegyverszünet (1944-1945).

Akademiai Kiad6, Budapest, 1981. (Die Provisorische Nationale Regierung Ungarns und der Waffenstillstand 1944-1945). Teheran, Jalta, Potsdarn. Dokumentumgyüjtemeny (Eine Dokumentation) Budapest, 1969.

Rumänien vor und nach der Potsdamer Konferenz Von Dan Berindei Die geopolitische Lage des Landes führte zwangsläufig dazu, daß Rumänien in den Zweiten Weltkrieg verwickelt wurde. \ Das System von Allianzen, das Rumänien in der Zwischenkriegszeit nach der Vollendung seiner staatlichen Einheit eingegangen war, zerfiel Ende der dreißiger Jahre. Rumänien war isoliert, und im Sommer 1940 mußte es schwere territoriale Einbußen hinnehmen. Ende Juni bekam Rumänien die Auswirkungen des Paktes Ribbentrop-Molotow voll und unmittelbar zu spüren. Nach einem Ultimatum mußte es Bessarabien und die Nordbukowina an die Sowjetunion abtreten. Dann folgte der sogenannte Wiener Schiedsspruch, durch den Rumänien gezwungen wurde, Nordsiebenbürgen (mit 2.300.000 Einwohnern, davon mehr als 1.400.000 Rumänen) Ungarn zu überlassen. Schließlich wurde aufgrund des mit Bulgarien getroffenen Abkommens diesem die Süddobrudscha, das sogenannte Quadrilater, zurückgegeben, das Rumänien durch den Frieden von Bukarest 1913, der dem Zweiten Balkankrieg ein Ende setzte, überlassen worden war. Insgesamt büßte Rumänien innerhalb von weniger als zwei Monaten mehr als ein Drittel seines Territoriums der Zwischenkriegszeit, etwa 100.000 Quadratkilometer, und 7 Millionen Einwohner, zum größten Teil Rumänen, ein. König earol 11. wurde für den Niedergang Großrumäniens verantwortlich gemacht und gezwungen, zugunsten seines Sohnes Michael I. abzudanken. Die Macht aber übernahm in Wirklichkeit General Ion Antonescu, der sie erst ein halbes Jahr mit der Legionärsbewegung teilte, dann aber durch eine Militärdiktatur gänzlich an sich riß. Indem er am 23. November 1940 dem Dreierpakt beitrat,z integrierte General Antonescu Rumänien den Achsenmächten - Rumänien wurde niemals besetzt, und Antonescu persönlich erfreute sich einer echten Wertschätzung seitens des mächtigen Diktator Deutschlands.

1 Siehe Romania in anii celui de-al doilea razboi mondial (Rumänien während den Jahren des Zweiten Weltkriegs), Bukarest, 1989,Bd. I-III; siehe auch Andreas Hillgruber, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch-rumänischen Beziehungen, Wiesbaden, 2. Auflage, 1965. 2 F.C. Nanu, Condica tratalelor si aaltor legaminte ale Romaniei incepand din anul 1354 (Register der Verträge und der anderen Pakte Rumäniens seit 1354), Bukarest, 1942, Bd. III, S. 82.

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Am 22. Juni 1941 trat Rumänien an der Seite von Deutschland in den Krieg gegen die Sowjetunion ein. um seine ein Jahr vorher im Osten verlorenen Provinzen zu befreien. 3 Die Befreiungskampagne für diese Territorien wurde von allen Rumänen begrüßt. die Meinungsverschiedenheiten tauchten in jenem Augenblick auf. als Antonescu beschloß. die Militäraktionen jenseits der Grenzen der wiedereroberten Gebiete weiterzuführen. Das hätte Antonescu aber in Wirklichkeit und auf politischer und militärischer Ebene nur schwer vermeiden können. Auf diese Weise beteiligte sich Rumänien an einem Krieg. der es mehr als 629.000 Tote. Vennißte und Verwundete kostete. 4 Die rumänische Armee nahm an der Schlacht um Odessa teil. sie gelangte bis in die Nogai-Steppe. kämpfte auf der Krim. am Don-Bogen. in der schrecklichen Schlacht um Stalingrad. und wurde dann in die schweren Rückzugskämpfte verwickelt. die mit der Schlacht um die Moldau im Sommer des Jahres 1944 endeten. s Nach anfänglichen Erfolgen und insbesondere nach der Befreiung der Ostprovinzen sah sich Rumänien mit einer verzweifelten Lage konfrontiert: Rückzug. schwere Truppenverluste. die Front näherte sich den Landesgrenzen und dann der Beginn der Invasion des nationalen Territoriums. Bis 1944 hatte es Rumänien. obwohl seine Militärkräfte an einem Krieg jenseits der Grenzen beteiligt waren. geschafft. einen hohen Wirtschaftsstand beizubehalten. Rumänien war von Bombenangriffen verschont geblieben. Marschall Antonescu hatte Disziplin und Ordnung durchgesetzt. und die Weizenproduktion des Landes war ausreichend. um den Inlandsbedarf zu decken und Exporte nach Deutschland zu leisten. Deutsche Soldaten schickten aus Rumänien Hunderte und Aberhunderte Lebensmittelpakete an die Familien zuhause. Wären nicht die Todesopfer an der Front gewesen. die viele Familien zu beklagen hatten. so wäre der Krieg in Rumänien kaum wahrgenommen worden. bis dann die Rote Armee sich den Landesgrenzen näherte und in die rumänischen Gebiete eindrang. Ab jenem Augenblick gehörte der Krieg zum Alltag. wurde immer bedrückender. Die Gebiete im Osten waren von militärischen Aktionen betroffen und die Bevölkerung gezwungen. ihre Heimat zu verlassen und zu flüchten. Im April begannen die Luftangriffe auf die Hauptstadt Bukarest. die Bombenabwürfe über die Erdölförderungsgebiete und andere Zonen. Es wurde gleichzeitig immer deutlicher. daß die deutsche Armee in der allgemeinen militärischen Lage und angesichts der starken gegnerischen Alliierten nicht mehr 3

Bessarabien und Nordbukowina.

4 Aleksandru Dutu. Efectivele si pierderile armatei romane in cel de-al doilea razboi mondial (Bestände und Verluste der rumänischen Armee während des Zweiten Weltkriegs). in "Armata Romaniei". Bukarest. nr. 30 (Juli-August 1995). S. 2.

5

Siehe Romania in anii celui de-al doilea razboi mondial ...• Bd. I-III.

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imstande war, die Situation zu bewältigen, und daß man, trotz wiederholter Versprechungen von Hitler an Antonescu,6 nicht mehr auf effiziente Aktionen seinerseits an der rumänischen Front hoffen konnte. Ein Ausweg aus dieser Situation mußte für Rumänien gefunden werden. Obwohl er von den politischen Entscheidungsträgem der Opposition, die die wichtigsten Parteien des Landes umfaßte, und auch von König Michael gedrängt wurde, konnte sich Marschall Antonescu nicht entschließen, sich von den Achsenmächten loszusagen. Als die Front in der Moldau durchbrochen wurde und die sowjetische Offensive am 20. August begann, schritten die vom König koordinierten Oppositionskräfte zur Tat: Am 23. August 1944 fand der Staatstreich statt.? Marschall Antonescu wurde entmachtet und verhaftet. Es wurde einseitig das Einstellen der feindlichen Handlungen gegen die Vereinten Nationen proklamiert. Als dann aber Hitler, der die wirkliche Lage nicht verstand, das Angebot eines friedlichen Rückzugs der deutschen Armee zurückwies und befahl, gegen die "Putschisten" vorzugehen,8 begannen bereits in der Nacht vom 23. auf den 24. August die Kämpfe zwischen den rumänischen und deutschen Militärkräften. Und während die rumänische Armee schwere Kämpfe aufnahm, nahm die sowjetische Armee, die dank dem Seitenwechsel der Rumänen Hunderte Kilometer des Vormarsches als einfache strategische Handlung durchführen konnte, etwa 130.000 rumänische Soldaten gefangen, die den Befehl erhalten hatten, den Kampf einzustellen. 9 Die Sowjetunion berücksichtigte weder das Einstellen der Kampfhandlungen noch die Beteiligung der rumänischen Armee an den Militäraktionen der Vereinten Nationen, nachdem der deutsch-rumänische Konflikt ausgebrochen war. Der Waffenstillstand wurde nach einer gezieIten Verzögerung, nachdem die rumänische Armee das gesamte Territorium befreit hatte und die Rote Armee vordringen konnte, ohne zu Kampfhandlungen gezwungen zu sein, erst am 12. September in Moskau abgeschlossen. IO Aufgrund der Bestimmungen des Waffenstillstandes wurde Rumänien unter dem Deckmantel einer alliierten Kontroll• Andreas Hillgruber, Hg., Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler, Frankfurt am Main, 1980, Bd.lI. 7 Siehe Gheorghe Buzatu, Hg., Actul de la 23 august 1944 in context international (Der Akt vom 23. August 1944 im internationalen Zusammenhang), Bukarest, 1984. 8 23 August 1944. Documente (23. August 1944. Urkunde), Bukarest, 1984, Bd. 11, p. 440-441 (Auszug vom Kriegstagebuch des Oberkommandos der Heeresgruppe Südukraine, Band 4, Teil I, 20.08.-5.09.1944).

• Gh. Buzatu, Romania si razboiul mondial din 1939-1945 (Rumänien und der Weltkrieg von 19391945), Jassi, 1995, S. 45. 10

23 August 1944. Documente ... , Bd. 11, S. 707-711.

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kommission, in deren Rahmen der amerikanische und englische Vertreter nicht in der Lage waren, sich dem Willen der Sowjetunion zu widersetzen, praktisch der sowjetischen Okkupation ausgesetzt. Diese war, mit stillschweigender Billigung ihrer Alliierten, zur eigentlichen Herrscherin im Lande geworden. Trotz Besetzung und fürchterlicher Ausbeutung stürzte sich Rumänien mit der Gesamtheit seiner Kräfte in den neuen Krieg. Durch das Waffenstillstandsabkommen war Rumänien verpflichtet worden, 12 Divisionen zur Verfügung zu stellen. ll Im Lande selbst kam es zu einer schweren politischen Krise, nachdem während einer Monate dauernden Übergangszeit drei Regierungen hintereinander folgten, die unter die Leitung erst von General Sanatescu, dann von General Radescu gestellt wurden und in denen die im Juni 1944 in Koalition getretenen vier Parteien (die Nationale Bauernpartei, die Liberale Partei, die Sozialdemokraten und die Kommunisten) vertreten waren. Diese von der Sowjetunion provozierte Krise, um entscheidende Änderungen bewirken zu können, führte durch die Beseitigung der antikommunistischen Parteien zu einer völligen Abhängigkeit Rumäniens gegenüber Moskau. Die Sowjetunion stützte sich auf die im Oktober 1944 zwischen Churchill und Stalin getroffene Vereinbarung, nach der ihre Zuständigkeit in Rumänien auf 90 Prozent festgelegt wurde - im Gegenzug erhielt Großbritannien einen ähnlichen Prozentsatz in Griechenland _,12 und setzte am 6. März 1945 die Regierung Petru Groza anstelle der Regierung Radescu durch. Die sogenannte Regierung einer umfassenden demokratischen Konzentrierung von Dr. Groza, die von Andrei Vasinski durchgesetzt wurde, war eine ministerielle Formation, in der die Vertreter der Kommunisten die Schlüsselpositionen innehatten und aus der die Vertreter der historischen Parteien ausgeschlossen waren. Währenddessen war die Einbindung Rumäniens in seinen neuen Krieg total. 13 Die rumänischen Divisionen beteiligten sich an Operationen, die bis zum 25. Oktober 1944 zur vollständigen Befreiung des Landesterritoriums im Nordwesten durch die Rückeroberung Nordsiebenbürgens führten. Danach wurden sie, genauso wie seinerzeit bei den Kriegshandlungen im Osten, in Aktionen jenseits der Landesgrenzen verwickelt, in den Feldzug in Ungarn und in der Tschechoslowakei, wobei einige Einheiten sogar bis nach Österreich gelangten. Die rumänischen Divisionen wurden in den gefährlichsten Situationen eingesetzt, gleichzeitig aber dann von den Positionen entfernt, damit ihnen nicht die Genugtuung von Erfolgen 11

Ebenda. S. 707.

12

Winston S. Churchill. The Second World Wax; London 1985. Bd. VI. S. 197-198.

13

Romania an anii ce1ui de-al doilea razboi mondial .... Bd. 11 und 1II.

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gewährt wurde. So geschah es anläßlich des Kampfes um Budapest, wo die rumänischen Einheiten nach schweren Verlusten kurz vor Beendigung des Kampfes auf eine andere Front befohlen wurden. In nur achteinhalb Monaten bezifferten sich die Verluste der rumänischen Armee auf 170.000 Tote, Verwundete und VermiBte. 14 In den knapp neun Monaten seiner Teilnahme am Zweiten Weltkrieg an der Seite der Vereinten Nationen nahm Rumänien übrigens den vierten Platz ein, was Anzahl der Beteiligten und der menschlichen Verluste betrifft. 15 Desgleichen ist es eindeutig, daß durch die nach dem 23. August 1944 unternommenen Aktionen Rumänien zur Verkürzung des grausamen Weltkrieges beigetragen hat, in den Europa und Teile Asiens und Amerikas mehr als ein halbes Jahrzehnt verwickelt waren. Im Protokoll vom 11. Februar der Konferenz von Jalta 16 wurde festgehalten, daß sich die drei Großmächte verpflichteten,"den Völkern Europas, die von der Naziherrschaft befreit wurden, sowie den Völkern der ehemaligen Satellitenstaaten der Achse zu helfen, ihre dringlichsten politischen und wirtschaftlichen Probleme durch demokratische Mittel zu lösen". Gleichzeitig wurde noch betont, daß dieser Prozeß mit Mitteln durchgeführt werden sollte, "die es den befreiten Völkern erlauben sollte,die letzten Überreste des Nazismus und Faschismus zu beseitigen". Obwohl noch festgelegt wurde, daß "provisorische Regierungsbehörden" gebildet werden sollen, die "in weitem Maße repräsentativ für alle demokratischen Kräfte sind", und auch die Abhaltung von "freien Wahlen" vorgesehen waren, wurden durch die Bestimmung betreffend die Beseitigung des Faschismus die Tore für die Einmischung der Sowjetunion weit geöffnet. In Bukarest eingetroffen, handelte Väsinski nicht nur mit Bestimmtheit, sondern auch mit Brutalität, während die Interventionen der anglo-amerikanischen Vertreter nur ihre Ohnmacht unter Beweis stellten. General Schuyler beispielsweise machte General Vinogradov am 28. Februar darauf aufmerksam, daß gemäß den Abkommen in Jalta in Rumänien "eine Regierungskoalition, in der alle politische Gruppierungen vertreten sein sollen", funktionieren solle. 17 Am nächsten Tag 14

Alesandru Dutu, a.a.O., S. 2.

!S Florin Constantiniu u.a., 200 zile mai devreme. Rolul Romäniei in scurtarea celui de-aldoilea razboi mondial (200 Tage f!Üher. Die Rolle Rumäniens zur Verkürzung des Zweiten Weltkriegs, Bukarest, 1985, S. 230. 16 La Documentation fran~aise, Recueils et monographies. Principaux textes de politique internationale de l'annee 1945. Presidence du Conseil. Minist~re des Affaires Etrang~res. Centre de Documentation, Paris, 1952, S. 9-13. 17 I. Scurtu, Herausg., Romania. Viata politica in documente. 1945 (Rumänien. Das politische Leben in Urkunden. 1945), Bukarest, 1994, S. 154-155.

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protestierte er zusammen mit dem Vizemarschall der Royal Air Force, Stevenson, dem britischen Vertreter in der alliierten Kontrollkommission, gegen die Weigerung der sowjetischen Seite, die in Rumänien entstandenen politischen Probleme der Erörterung der Kommission zu unterbreiten. 18 Am sei ben Tag besuchte der amerikanische Vertreter Burton Berry Väsinski, der ihm die Nichtbildung einer Regierungskoalition im Geiste der Konferenz von Jalta damit begründete, daß einige - selbstverständlich die historischen bürgerlichen Parteien - "absurde Forderungen" formuliert hatten. 19 Zweifelsohne war Berry von der kategorischen Haltung des sowjetischen Vertreters überrascht., zieht man das Telegramm in Betracht, das er am 24. Februar von Grew, dem Interim-Staatssekretär der Vereinigten Staaten, erhalten hatte. In diesem Dokument forderte Grew ihn auf, "das rumänische Volk nicht an der künftigen Existenz des Landes als unabhängiger Staat zweifeln zu lassen. Grew wies auf den Wunsch der Vereinigten Staaten hin, daß gemäß dem, was in Jalta entschieden worden war, in Rumänien eine Regierung "der Koalition, die alle politischen Gruppierungen und sozialen Klassen vertrat", gebildet werden soll, und verlangte, daß "Änderungen in der Verwaltung durch Mittel der Unordnung oder durch Gewaltanwendung oder Einschüchterung" nicht geduldet werden sollen. Auch sollte den Kommunisten nicht erlaubt sein, "Waffen zu tragen".20 Die Instruktionen des amerikanischen Vertreters waren unrealistisch, zieht man die realen Machtverhältnisse der drei Großmächte in Rumänien in Betracht. Die Sowjets kümmerten sich durch Druckausübung allein um die Bildung der neuen Regierung, so daß ihre Ziele einer Vorherrschaft in Erfüllung gingen. Die Existenz Rumäniens "als unabhängiger Staat" war für lange Zeit kompromittiert, in 50 der 58 Kreise wurden "Änderungen in der Verwaltung durch Mittel der Unordnung" vorgenommen/ l und die Kommunisten blieben bewaffnet, bis die repressiven Strukturen des kommunistischen Staates gebildet waren! Drei Tage nach ihrer Bildung bekam die Regierung vom 6. März 1945 von der Sowjetunion Nordsiebenbürgen zurück, wo die sowjetischen Behörden während der vorangegangenen Regierungen die rumänischen Behörden beseitigt hatten. 22 Das war eindeutig eine Methode, um zu versuchen, der neuen Regierung PopulariIS

Ebenda, S. 162-163.

19 I. Chiper, Florin Constantiniu, Adrian Pop, Sovietizarea Romäniei. Perceptii anglo-americane (Die Sowjetisierung Rumäniens. Angloamerikanische Perzeptionen), Bukarest, 1993, S. 118-119.

20

Ebenda, S. 107.

21

Ebenda, S. 131.

22

Romania. vata politica... , S. 198.

Rumänien vor und nach der Potsdamer Konferenz

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tät in den Augen der Öffentlichkeit zu verschaffen. Am 23. März wurde die Agrarreform dekretiert,23 die ebenfalls zur Popularität der Regierung Groza beitragen sollte. Im Grunde genommen wurden dabei nahezu eineinhalb Millionen Hektar Boden enteignet, von denen 1.109.562 Hektar an fast eine Million Familien verteilt wurden. Die zugeteilten Flächen sollten sich als unzureichend erweisen, doch spielte das keine Rolle, zumal sich jetzt die Kollektivierung abzeichnete. Wichtig war es, das Vertrauen eines Teils der Bauernschaft zu gewinnen, bis die kommunistische Partei ihre Stellungen auf inländischer wie ausländischer Ebene festigte! Die Einschüchterung der Gegner war das Hauptziel der neuen Regierung. Die Motivation hatte Vasinski selbst geliefert, als er am 5. März 1945, am Vortag des Amtsantritts der neuen ministeriellen Formation, Berry schrieb und betonte, daß die "Konferenz auf der Krim" "die Ausrottung von den Wurzeln her der letzten Spuren des Nazismus und Faschismus" forderte. 24 Es war also kein Zufall, daß die neue Regierung sofort nach ihrer Bildung dazu überging, den Staatsapparat "zu säubern", Strafen gegenüber den - zu Recht oder Unrecht - der Kriegsverbrechen beschuldigten und am "Desaster des Landes" schuldigen Personen zu verhängen und die "sofortige Umorganisierung des Polizei- und Gendarmerieapparats" einzuleiten. 2s Indem in den meisten Fällen imaginäre Schuldfragen aufgeworfen wurden, wurde die Tätigkeit der großen Parteien, die nicht zur Regierung gehörten, durch Repressionen behindert, ja, sogar paralysiert. Währenddessen hatten die Interessen der Großmächte dazu geführt, daß die Antwort auf die Geschehnisse in Rumänien sehr schwach war, und das insbesondere seitens Großbritanniens, das das Prozentabkommen abgeschlossen hatte und nichts riskieren wollte, was seine Positionen in Griechenland hätte gefährden können. Das britische Kriegskabinett reagierte auf ein Telegramm aus Bukarest vom Vizemarschall der Royal Air Force, Stevenson, in dem er darauf hinwies, daß er "in jedem Augenblick" "einen Antrag auf Asyl in der britischen Botschaft seitens des König Michael und der Königinmutter" erhalten könnte/6 nur, indem es seine Stellung aufgrund der Vereinbarung mit Stalin betreffend Griechenland begründete. Der Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten schlug sogar vor, daß dem König und seiner Mutter Asyl von den Vereinigten Staaten gewährt werden sollte. 27 Churchill schrieb am 8. März an Präsident Roosevelt, er sei "be23

Ebenda, S. 225-228.

24

Ebenda, S. 180-1 g1.

" Ebenda, S. 193. 26

I. Chiperu.a .. a.a.O., S. 127-129.

27

Ebenda, S. 126-127.

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trübt... über die jüngsten Ereignisse in Rumänien", wo "es den Russen gelungen ist, mit Gewalt und durch falsche Erklärungen die Führung einer kommunistischen Minderheit durchzusetzen", und stellte fest, daß Stalin eine "allen demokratischen Ideen absolut widersprechende ... Orientierung" verfolge, wobei "die Prinzipien von lalta" "in Rumänien" völlig "mit den Füßen getreten würden". Obwohl er solche Feststellungen machte, erklärte Churchill Roosevelt, es wäre "in dieser Phase ein Fehler" gewesen, sich mit Stalin "auf ein Gespräch zu diesem Problem" einzulassen, ziehe man die englischen Interessen in Griechenland in Betracht, wo Stalin sich nicht einmischte, und die anglo-amerikanischen Interessen in Polen, wo es prioritär sei, ein Abkommen mit der Sowjetunion abzuschließen. 28 Zehn Tage nach der Amtseinführung der Regierung Groza berichtete Burton Berry von den pessimistischen Einschätzungen Iuliu Manius, dem Vorsitzenden der wichtigen Nationalen Bauernpartei in Rumänien, der der Sowjetunion das Recht absprach, allein das Schicksal Rumäniens zu bestimmen, indem er sich dabei auf das Abkommen von lalta berief. Maniu schätzte sogar, daß sein Land "zugunsten der Russen" verloren sei,und schloß die Hypothese einer Annexion nicht aus!29 König Michael erklärte seinerseits während einer Begegnung mit Berry, er sei überzeugt, die kommunistischen Führer beabsichtigten, ihn zu "diskreditieren" und dann zu "eliminieren". Die Bildung der neuen Regierung betreffend, die er "Regierung Vasinski" nannte, stufte er dieses Ereignis nicht nur als "ein internes, sondern ein internationales Problem" ein. 30 Nachdem die Sowjets Männer und Frauen im besten Alter, Angehörige der deutschen Bevölkerung in Rumänien, massenweise verschleppt hatten, was auch eine Anzahl von Rumänen betraf/I gingen sie dazu über, Druck auszuüben, um eine Zwangsrepatriierung der Bessarabier und der Bukowinaer durchzusetzen. 32 Die Vertreter der rumänischen Seite versuchten dabei, viele ihrer Mitbürger vor dieser drohenden Maßnahme zu retten. Schwerwiegende Probleme bereitete auch die Durchführung des drakonischen Waffenstillstandsabkommens. 33 Die gesamte rumänische militärische Flotte war von den "sowjetischen Kräften" übernommen worden, einschließlich die Material- und Munitionslager. Die während der Kampf2. Ebenda. S. 139-141. 2.

Romania. Viata politica...• S. 210-212.

30

Ebenda. S. 243-244.

31

Ebenda. S. 169.

32

Ebenda. S. 252-262.

33

Ebenda.S. 270-279.

Rumänien vor und nach der Potsdamer Konferenz

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handlungen von der rumänischen Armee gemachten deutschen Gefangenen waren ebenfalls von den Sowjets übernommen worden. Auch gingen an die Sowjets mehr als 22.000 Waggons, über 250 Lokomotiven, Riesenmengen von Lebensmitteln, Erdölprodukten, Industrieanlagen, Holz. Die Ausgaben für die Durchführung der Bestimmungen des Waffenstillstandes wurden Ende Juni 1945 auf rund "rund 900 Milliarden Lei" geschätzt. 34 Der rumänische Staat war verpflichtet worden, den Sowjettruppen im Durchmarsch oder auf dem Rückzug Unterkunft und Verpflegung und zusätzlich "Geldsummen zur Verteilung an die Truppe und die Offiziere" zu sichern. 3s Die politische Lage in Rumänien war kompliziert. Die Regierung Groza verließ sich auf die sowjetische Unterstützung, die traditionellen historischen Parteien hingegen waren in ihrer öffentlichen Tätigkeit paralysiert; ihre öffentlichen Versammlungen und ihre Presseorgane wurden behindert oder sogar verboten. Obwohl die Sowjetunion Alleinherrscherin in der Zone Europas war, die sie besetzt hatte, vollzog sie ihre Aktionen etappenweise, so daß sie allzu heftige Reaktionen seitens ihrer großen Allianzpartner vermeiden konnte. Gleichzeitig suchte die Sowjetunion, was Rumänien betraf, den Herrscher noch zu schonen. Mehr als das am 6. Juli 1945 wird König MichaelI. durch ein Dekret des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Orden "Victoria" verliehen" für die mutige Tat, die Politik Rumäniens entschieden zu wenden ... in einem Augenblick, als die Niederlage Deutschlands noch nicht eindeutig war".36 Dies geschah 11 Tage, bevor in Potsdam die Konferenz der Führer der siegreichen Großmächte eröffnet wurde, wo die Siegesbilanz vorgenommen und Entscheidungen getroffen wurden, von denen das Schicksal eines bedeutenden Teils der Menschheit abhängig war. Vor und während der Potsdamer Konferenz schritten auch die historischen Parteien zur Tat und machten auf den Ernst der Lage in Rumänien aufmerksam. "Au moment Oll l'on decide du sort de la democratie en Europe", stand in einer Denkschrift, die Dinu Bratianu, der Vorsitzende der nationalliberalen Partei, am 25. Juli, eine Woche nach Beginn der Arbeiten der Konferenz, an die Führer der siegreichen Großmächte richtete, "Le peuple roumain se voit prive d'un gouvernement representant ses veritables aspirations, d'un parlament qui soit lareelle expression de sa volonte, de la libre manifestation de sonopinion publique qui pourrait refleter son ideal et ses aspirations". Bratianu richtete "un pressant appel aux Chefs des Nations Unies, afin que les principes democratiques enonces dans les decisions de 34

Ebenda.

35

Ebenda, S. 279.

36

Ebenda, S. 286-287.

11 Timmcnnann

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la conference de Yalta, puissement egalement trouver une application sincere en Roumanie". Die Regierung Groza wurde beschuldigt, daß sie unter dem Vorwand, der Kriegszustand dauere an, "de graves mesures restrictives des libertes publiques" getroffen hatte, "supprimant la liberte de la presse, de la parole, des reunions, instituant un regime d'oppresion". 37 Am 17. Juli wurde die Potsdamer Konferenz eröffnet. 38 Eines der Probleme, die die drei siegreichen Großmächte beschäftigten, war auch die Zukunft der ehemaligen Satellitenstaaten Deutschlands, ohne dabei Rücksicht zu nehmen, daß einige von ihnen, so wie es der Fall Rumäniens war, zu einem gewissen Zeitpunkt auf Seiten der Vereinten Nationen getreten waren. Bereits auf der ersten Sitzung brachte Präsident Truman das Problem der Anerkennung der Regierungen in Rumänien und Bulgarien sowie die freien Wahlen, die in diesen Ländern stattfinden sollten, zur Sprache. In der darauffolgenden Sitzung machte Byrnes einen Vorschlag zur Tagesordnung der Konferenz, wonach als erster Punkt "die Angelegenheit der Prozedur und der Mechanismen der Friedensverhandlungen und die territoriellen Probleme" zu stehen habe, da er der Ansicht war, daß "die vorrangige und wichtigste Aufgabe des Ministerrates ist, die Friedensprojekte mit Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland auzuarbeiten". Während der Erörterungen warf Churchill am 19. Juli das Problem auf, daß die Sowjetunion 400.000 Bruttoregistertonnen finnische Handelsschiffe sowie einige rumänische Handelsschiffe an sich nahm.

Auf der Sitzung vom 20. Juli wurde mit Nachdruck das Problem der politischen Lage in Rumänien und Bulgarien behandelt, wobei aufgezeigt wurde, daß auf der Versammlung der Außenminister der drei Großmächte der amerikanische und britische Minister das Problem der Presseeinschränkungen in den beiden Ländern zur Sprache gebracht haben. Molotow entgegnete, daß es sich um "unvermeidbare Einschränkungen der Presse in Kriegszeiten" gehandelt habe, und versicherte, daß unter den neuen Bedingungen eines Friedens, die Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten "in beachtlicher Weise ausgeweitet" werden sollen. Byrnes hatte damals interveniert und vorgeschlagen, ein Abkommen zwischen den drei Siegermächten für die Überwachung der Wahlen in Italien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Ungarn zu treffen sowie für den freien Zugang und die völlige Bewegungsfreiheit der Journalisten der drei Großmächte in den betreffenden Ländern zu sorgen. Molotow antwortete darauf, er sehe keinerlei "Notwendigkeit, Sonderbeobachter nach Rumänien und Bulgarien zu schicken".

37

Ebenda, S. 289-293.

31

Siehe Tbe Tehran, Yalta and Potsdam Conferences. Documents, Moscow, 1969.

Rumänien vor und nach der Potsdamer Konferenz

163

Auf derselben Sitzung, als Truman das Problem einer Anerkennung der Rolle stellte, die Italien im Krieg an der Seite der Vereinten Nationen gespielt hatte, brachte Stalin das Problem der Länder aus seinem Einflußbereich zur Sprache und erwähnte die im Vergleich zu den drei italienischen, an Seite der Vereinten Nationen kämpfenden Divisionen weitaus höheren militärischen Beiträge Bulgariens und Rumäniens. Truman gab zu, daß auch die Stellung der anderen Satellitenstaaten einer Überprüfung bedürfte. Auch auf jener Sitzung erläuterte Stalin das Problem der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit den ehemaligen Satellitenstaaten, also auch mit Rumänien, wobei er daran erinnerte, wie im Falle Italiens vorgegangen worden war. Auf diese Frage kam man auf der Sitzung vom 21. Juli zurück, als Truman dann erklärte, daß die Vereinigten Staaten noch nicht "vorbereitet" seien, "diplomatische Beziehungen mit jenen Staaten aufzunehmen". Stalin beharrte noch, denn er verfolgte damit eindeutig das Ziel einer "Legalisierung" der von der Sowjetunion eingesetzen Regierungen durch seine großen Partner - diese aber weigerten sich. Am 22. Juli wurde die Konferenz der drei Großmächte informiert, daß auf der Sitzung der Außenminister die Probleme Rumäniens, Bulgariens und Ungarns erörtert worden seien, wobei die westlichen Minister vorgeschlagen hatten, den Wahlvorgang in diesen Ländern zu überwachen - ein von der Sowjetunion nicht gebilligter Vorschlag -, günstige Bedingungen für die Tätigkeit von Vertretern der Weltpresse zu schaffen und die Arbeitsbedingungen der alliierten Kontrollkommissionen zu ändern (im Sinne selbstverständlich einer tatsächlichen Präsenz der amerikanischen und britischen Vertreter). Was die beiden letzten Angelegenheiten betraf, hatten die Außenminister beschlossen, einen Unterausschuß zu bilden. Am 24. Juli wurden den drei Großen die Ergebnisse der Arbeiten der Außenminister betreffend die Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen vorgelegt, wobei die Sowjetunion insistierte, daß in dieser Frage Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland dieselbe Behandlung zukommen solle wie Italien, während die anderen Mächte das ablehnten, indem sie den nichtdemokratischen Charakter mancher Regierungen aus dem Herrschaftsgebiet der Sowjetunion beanstandeten. Die Vereinigten Staaten schlugen einen Zusatzantrag vor, aufgrund dessen den betreffenden Staaten Unterstützung versprochen wurde, falls sich an der Macht "repräsentative demokratische Regierungen" befinden sollten. Das Problem kam zur Erörterung, und Byrnes und Eden setzten sich für den Sonderfall Italien ein. Stalin mischte sich ein und behauptete, er sehe da keinerlei Unterschiede. Er sagte sogar, daß nicht behauptet werden könne, die Regierungen in Rumänien, Bulgarien und Ungarn seien "weniger demokratisch" als jene Italiens, oder daß in Rumänien und Bulgarien weniger repräsentative Regierungen tätig wären als die italienische. Truman ergriff das Wort und erklärte mit einer gewissen 11'

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Gewandtheit, um den betreffenden Staaten dieselbe Behandlung zukommen zu lassen, sei es erst einmal notwendig, "free information" erhalten zu können, was diese Länder betrifft. Er sagte zu Stalin, falls er mit der Bewegungs- und Informationsfreiheit zufrieden sei, solle er ruhig die diplomatischen Beziehungen zu den betreffenden Staaten aufnehmen (was übrigens Stalin im Falle Rumäniens am 6. August auch tun sollte !). Der sowjetische Diktator entgegnete, die vorgebrachten Freiheitseinschränkungen seien auf die Kriegsbedingungen zurückzuführen, und schließlich wären die Sowjets ähnlichen Restriktionen ihrerseits in Italien unterworfen gewesen. Sowohl Truman als auch Churchill widersetzten sich den Argumenten von Stalin, und Churchill sagte zu diesem Zeitpunkt, daß sich die britische Mission in Rumänien "in Bedingungen einer Isolierung" befande, "die an eine Internierung erinnere". Stalin wurde wütend und behauptete, es handele sich dabei nicht um die Wirklichkeit, sondern um "Fiktionen"! Churchill ging erneut auf die schwierige Lage ein, in der sich der Marschall der Royal Air Force, Stevenson, in Bukarest befunden hat Stalin antwortete ihm, auch der sowjetische Vertreter in Italien "habe keinerlei Rechte". Churchill erwiderte, diesbezüglich können keine Vergleiche gezogen werden - Italien auf der einen Seite, Rumänien auf der anderen. Obwohl Truman die Diskussion entschärfen wollte, ergriff er Churchills Seite in dieser Angelegenheit. Da griff Byrnes ein und schlug die akzeptablere Formulierung "anerkannte Regierungen" statt "repräsentative Regierungen" vor. Stalin erklärte diese Formulierung als akzeptabler und suggerierte gleichzeitig eine Formulierung betreffend die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen der drei Mächte, "jede einzeln, in nächster Zukunft mit Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland". Die Diskussion verlief weiterhin heftig. Churchill bot dem Diktator aus dem Kreml Widerstand, während Truman sich einlenkender erwies und vorschlug, das Problem solle zur Analyse den Außenministern überwiesen werden. Auf der Sitzung vom 28. Juli wurde die Diskussion über die Zulassung der ehemaligen Satellitenstaaten in die Vereinten Nationen wieder aufgenommen, ebenso über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu ihnen. Stalin intervenierte wiederum sehr heftig, was erneut unter Beweis stellte, daß in der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen indirekt die Sache der Legitimierung der sowjetischen Aktionen in jenem Gebiet lag. Als am 31. Juli Byrnes den Drei ein Dokument vorlegte über die Gewährleistung von neuen Arbeitsbedingungen innerhalb der alliierten Kontrollkommissionen in Rumänien, Bulgarien und Ungarn, in dem Sinne, daß deren Mitglieder Arbeitssitzungen abhalten sollten und daß Erleichterungen den amerikanischen und britischen Mitgliedern zugesichert werden sollten, verweigerte Stalin eine sofortige Diskussion.

Rumänien vor und nach der Potsdamer Konferenz

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Am 1. August schlug Stalin erstmals vor, daß das deutsche Eigentum überall in der Welt von den Vereinigten Staaten und Großbritannien übernommen werden soll, während er dieses Recht für die Sowjetunion in Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland in Anspruch nahm. Auf derselben Sitzung wurde man sich einig über die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der alliierten Kontrollkommissionen, ausgehend von dem am 31. Juli vorgelegten Dokument und aufgrund von einigen sowjetischen Vorschlägen. Anschließend ging die Diskussion über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu den ehemaligen Satellitenstaaten weiter, die unter sowjetische Vorherrschaft geraten waren, wobei Stalin nachdrücklich in die Diskussion eingriff. Schließlich sorgte ein von Bevin, dem neuen britischen Außenminister, formulierter Vorschlag, der die Zustimmung Stalins fand, für die Lösung des Problems.

Zum Abschluß der Arbeiten der Konferenz wurde im Schlußbericht unter anderem festgelegt: "Die drei Regierungen sind der Ansicht, daß eine Beendigung durch Abschluß von Friedensverträgen der gegenwärtigen anomalen Lage in Italien, Bulgarien, Finnland und Rumänien wünschenswert ist". "Die drei Regierungen", wird weiter gesagt, "haben ... den Ministerrat für Außenbeziehungen " beauftragt, "die Friedensverträge mit Bulgarien, Finnland, Ungarn und Rumänien vorzubereiten." Nach Abschluß der Friedensverträge sollten die betreffenden Staaten unterstützt werden, in die Organisation der Vereinten Nationen einzutreten, und die drei Regierungen würden "in nächster Zukunft und einzeln und mit Rücksichtnahme auf den Stand der Dinge zu jenem Zeitpunkt die Frage der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen" zu den vier Staaten "untersuchen". Und es wurde nicht vergessen, zu erwähnen, daß die "Vertreter der alliierten Presse alle Freiheiten haben werden, die Weltöffentlichkeit über die Ereignisse" in den betreffenden Ländern "zu informieren". Ebenfalls im Schlußbericht wurden die sowjetischen Vorschläge betreffend die "Verbesserung" der Tätigkeit der alliierten Kontrollkommissionen in Rumänien, Bulgarien und Ungarn zur Kenntnis genommen. Die Arbeiten der Potsdamer Konferenz hatten die antikommunistischen Kräfte in Rumänien, die geglaubt hatten, die Sowjetunion werde gezwungen sein, Zurückhaltung zu üben, mit Hoffnung erfüllt. Ermutigt von den Führern der großen historischen Parteien, trat König Michael in den sogenannten "königlichen Streik", zog sich nach Sinaia zurück und hörte auf, seine verfassungsmäßige Funktionen auszuüben, da die Regierung sich geweigert hatte - auf seinen Antrag hin -, zurückzutreten, damit die Möglichkeiten der Bildung einer von allen drei Großmächten akzeptierten demokratischen Regierung gegeben war. In Wirklichkeit war alles nur eine Illusion, obzwar ein amerikanischer Vertreter sich beeilt hatte, den König zu ermutigen und ihm zu versichern, daß die Vereinigten Staaten auf "eine Gleichheitsposition mit den Russen zu gelangen" wünschten. 39 Ein britischer diplomati-

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scher Vertreter war weitaus ehrlicher, als er dem Monarchen erklärte, daß "die britische Regierung nicht beabsichtige, ihm Ratschläge zu erteilen oder ihn zu ermutigen ... , da sie ihm und den Oppositionschefs keinen Schutz vor den Folgen des Versuch eines Regierungsumsturzes bieten könne".40 Zwar ist es wahr, daß Byrnes England und der Sowjetunion am 21. August vorgeschlagen hatte, zusammenzuarbeiten, um den König bei der Bildung seiner neuen Regierungzu unterstützen,41 doch Groza stellte seinen Regierungskollegen die Wirklichkeit viel klarer dar, als er ihnen mitteilte, daß die Sowjetunion sich dem Austausch seines ministeriellen Kabinetts "kategorisch" widersetze. 42 Währenddessen ging die Politik der Härte weiter, und zwar dermaßen, daß selbst der liberale Tatarescu, stellvertretender Regierungspräsident, mit seinem Rücktritt drohte, falls der Druckausübung und den Verhaftungen kein Ende gesetzt wird. 43 Im Oktober wurde die Bildung der ersten "Sovroms" bekanntgegeben44 - Instrumente zur völligen Unterwerfung der rumänischen Wirtschaft gegenüber der Sowjetunion. Am 8. November veranstaltete die Jugend eine promonarchistische und Antiregierungs-Demonstration, doch das war nur ein "Schwanengesang"! Zwischen dem 16. und 26. Dezember 1945 fand dann in Moskau eine Konferenz der Außenminister der drei Großmächte statt, die König Michael "nahelegte" , in die Regierung Groza je einen Vertreter der bei den großen historischen Parteien, der liberalen und der Bauernpartei, aufzunehmen. Es war ein peinlicher Kompromiß, zu dem der Monarch gezwungen wurde. Im Grunde genommen waren die Würfel gefallen, und der Prozeß der Unterjochung eines Teils von Europa, einschließlich Rumäniens, durch die Sowjetunion konnte nicht mehr aufgehalten werden.

39

Romänia. Viata politica...• S. 324-325.

4.

Ebenda. S. 324.

4' Ebenda. S. 328. 42

Ebenda. S. 337.

43

Ebenda. S. 352-355.

44

Ebenda. S. 372-373.

Die Potsdamer Konferenz und ihre Reflexion in der tschechoslowakischen Presse Von Pavel Dufek Die Potsdamer Konferenz beeinflußte oder bestimmte sogar das Aussehen des Nachkriegs~uropas. Das gilt besonders von Miueleuropa, das heißt von Deutschland und seinen Nachbarstaaten, vor allem von Polen, aber auch von Österreich und der Tschechoslowakei. In meinem kurzen Beitrag konzentriere ich mich darauf, wie die Potsdamer Konferenz in der tschechoslowakischen Presse wahrgenommen und interpretiert wurde. Zuerst muß jedoch die allgemeine politische Situation und Gliederung der politischen Kräfte in der Tschechoslowakei erwähnt werden. Am 4. April wurde in Ko§ice die Koalitionsregierung gebildet. Zu ihrem Vorsitzenden wurde Zdenek Fierlinger, linker Sozialdemokrat, gewählt. Weiter beteiligten sich an der Regierung folgende Parteien: Tschechoslowakische national-sozialistische Partei, Kommunistische Partei der Tschechoslowakei und Kommunistische Partei der Slowakei, Demokratische Partei, mit ihrer Hauptbasis in der Slowakei, und Tschechoslowakische Volkspartei, die sich besonders auf die christlich orientierte Bevölkerung stützte. Neben den Vertretern der politischen Parteien waren auch Parteilose Mitglieder der Regierung, wie der Außenminister Jan Masaryk und der Minister der nationalen Verteidigung Ludvik Svoboda. Diese Regierung kam schon nach Prag am 10. Mai, und mit ihrer Ankunft begann auch die Erneuerung des demokratischen politischen Lebens. Seine Grenzen wurden aber mit dem Ko§icer Regierungsprogramm gezogen, unter anderem durch die Reduktion der Anzahl von politischen Parteien. Eine deutsche politische Partei wurde nicht zugelassen. Man kann sagen, daß diese ,Jirnitierte Demokratie" den Kommunisten sehr erleichterte, im Februar 1948 die Macht zu ergreifen und zu monopolisieren und die Wahlen bereits im Jahre 1946 zu gewinnen. Trotz einer gewissen Einheitlichkeit der Ansichten, die mit der Reduktion der Anzahl der politischen Parteien verbunden war, läßt sich sagen, daß die Presse in der Tschechoslowakei verhältnismäßig genau die Präferenzen der einzelnen Parteien reflektierte. Die Presse der Nachkriegstschechoslowakei war nämlich

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pluralistisch im Ganzen, jedoch nicht unabhängig. Die einzelnen politischen Parteien gaben ihre Tageszeitungen heraus: Die Tschechoslowakische sozialdemokratische Partei "Pnivo lidu" (PL), die kommunistische Partei "Rude pnivo" (RP), die Volkspartei "Lidova demokracie" (LD), die Nationalsozialisten "Svobodne slovo" (SS). Außerdem erschienen auch relativ unabhängige Tageszeitungen, wie "Svobodne noviny"(SN) und "Zemedelske noviny" (ZN) und die von jungen Kommunisten herausgegebene "Mlada fronta" (MF). Die Partei zeitungen spielten neben der reinen Nachrichtenvermittlung auch eine propagandistische und politisch-formierende Rolle. Ich nehme deshalb an, daß wir schon im Zusammenhang mit dem Verlauf und den erwarteten Ergebnissen der Potsdamer Konferenz die Meinungsprofilierung der politischen Parteien bezüglich der Nachkriegsrichtung Europas, also auch Deutschlands und der Tschechoslowakei, beobachten können. Keine Tageszeitung sandte nach Potsdam Sonderkorrespondenten, alle Zeitungen übernahmen Nachrichten der Presseagenturen. Als Grund kann man wohl Probleme technischen (z.B. Akkreditierung und Transport), aber auch finanziellen Charakters bezeichnen. Die erste die Potsdamer Konferenz betreffende Nachricht brachten "Pravo lidu" (schon am 9. Juli) und "Svobodne slovo" (am 10. Juli). Beide Tageszeitungen berichteten auf dem Titelblatt darüber, daß sich Präsident Truman auf den Weg nach Berlin machte. "Lidova demokratie" brachte dann am 11. Juli auf dem Titelblatt einen Artikel über das vorgesehene Programm der Konferenz: Frage der deutsch-polnischen Grenze, Reparationen, der Krieg im Fernen Osten, Bestrafung der Kriegsverbrecher. Pythisch lautet ein Satz des Artikels: "Man glaubt, daß die Konferenz solche Prinzipien festsetzt, deren Interpretation nicht zu Meinungsunterschieden führen wird, wie die Erläuterung der Entscheidungen der Konferenz in Jalta." Am 14. und 15. Juli informierten aufgrund der Nachricht der Agentur Reuter die meisten Zeitungen (außer "Pravo lidu") über die Reise der leitenden Vertreter und der Mitglieder der Delegationen. Es ist beachtenswert, daß, während "Lido va demokratie" und "Svobodne slovo" diese Nachricht in einer deutlichen graphischen Form auf das Titelblatt einfügten, "RuM pravo" sie erst auf der zweiten Seite veröffentlichte. Über die Eröffnung der Potsdamer Konferenz und Anfangstagesordnung benachrichteten am 17. Juli S.N., L.D .. S.S., PIL. und R.P. gemäß der Meldung der Agentur Reuter. Selbstverständlich erschwerte die Position aller Nachrichtenmedien die Entscheidung der Konferenzteilnehmer, über den Verlauf und die Ergebnisse der Verhandlungen bis zur Herausgabe des Schlußkommuniques zu berichten. Dies galt auch für die Tschechoslowakische Presse, die nur auf bestimmte Meldungen fremder Agenturen (Reuter, United Press, AFP, ANS und TASS) angewiesen war. In der Auswahl und im Ordnen der Nachrichten

Die Potsdamer Konferenz und ihre Reflexion in der tschechoslowakischen Presse

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sowie in den folgenden Kommentaren zeigte sich jedoch deutlich die Voreingenommenheit einzelner Zeitungen. Am 19. Juli veröffentlichte RP auf dem Titelblatt einen umfangreichen, TASSNachrichten ausnützenden Aufsatz über die Ansichten einiger sowjetischer Tagesblätter über die Potsdamer Konferenz. Ich führe hier ein im Lichte späterer Ereignisse charakteristisches Zitat an, ursprünglich aus "Krasnaja zvezda": "Alles hängt vom gegenseitigen guten Willen, vom gegenseitigen Verständnis und von der realistischen Beurteilung der tiefen Veränderungen ab, zu denen es in Europa und auf anderen Kontinenten kam". Der Thematik der Nachkriegsgestaltung widmete sich auch der Kommentar von M. Galuska auf der zweiten Seite, dessen Hauptideen waren: Die Einheit der Siegermächte ist notwendig, um das neue Anwachsen von Faschismus zu verhindern. Der Kommentator warnte vor den "zersetzenden Bemühungen der polnischen Emigrantenregierung". Und für die Schlüsselursache des Scheiterns des Versailles-Friedens hielt er "den Versuch, die Sowjetunion zu isolieren. Die TASS-Nachricht nützten selbstverständlich auch andere Zeitungen aus, aber keine im mit RP vergleichbaren Maße. LD betonte in diesen Tagen eher die Westorientierung. Im Kommentar vom 19. Juli "England und wir" verlangte Pavel Tigrid eine intensivere politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit Großbritannien. Am 21. Juli machte Jan Cermak in demselben Blatt auf die Tatsache aufmerksam, daß "es kein Geheimnis ist, daß es keine einheitliche Betrachtung des Deutschland-Problems unter den einzelnen Mächten gibt." Gleichzeitig warnte er jedoch vor der Weltteilung in Einflußsphären einzelner Großmächte. Mit der Frage der Zukunft Deutschlands, befaßte sich der Kommentar von Antonin Bohac i "Svobodne slovo" vom 22. Juli. Ei war scharf anti-deutsch orientiert, wie es einem der Flügel der national-sozialistischen Partei eigen war. Der Autor brachte seinen Standpunkt mit folgenden Worten zum Ausdruck: "Die Macht zum Kampf mit den größten Völkern der Welt gab Hitler (betont im Text des Artikels) das Deutschtum, nicht die nazistische Nationalideologie." Die einzige Möglichkeit, Deutschland an der künftigen Machtexpansion zu hindern, sah er in der wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Schwächung Deutschlands, das heißt in der territorialen Verkleinerung. Über den weiteren Verlauf der Konferenz informierten die Tageszeitungen durchgehend auf den Titelblättern. Am 24. Juli brachten sie gleich die von den Agenturen TASS, Reuter und UP übernommenen Nachrichten, jede Zeitung aber im anderen Verhältnis. Am nächsten waren sich an diesem Tage SS und RP, die identisch auf dem Titelblatt im Leitartikel unter dem gleichen Titel: "Die Weltaufmerksamkeit auf Berlin gerichtet" Teile des Kommentars der Moskauer Zeitung ,,Pravda" übernahmen. RP zitierte sie etwas ausführlicher und mit einer evidenten Tendenz, wie die folgenden Aussagen beweisen: "Das Moskauer Blatt Pravda

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enthüllt das Nest der Schwarzen Reaktion". Als Urheber des neuen Krieges wurden Herbert Hoover und der Vorsitzende der American Federation of Labour, Gree, bezeichnet, weil sie die gemeinsame britisch-amerikanische Okkupation Polens und eine internationale Kontrolle der polnischen Angelegenheiten verlangten. Man muß nicht bemerken, wessen Politik dieses Feindbild diente. Weder LD noch SN, die dieselben Informationsquellen benutzten, orientierten ihre Artikel so antiamerikanisch und betonten eher das Moment der Zusammenarbeit der Großmächte. Die Pause in den Verhandlungen der Konferenz, die entstand, damit Churchill und Attlee nach Britannien zur Verkündung der Wahlergebnisse abreisen können, wurde zum Hauptthema der Informationen vom 25. Juli. Meistens übernahmen die Tageszeitungen Nachrichten der Agentur Reuter und ergänzten sie nach den Angaben von United Press bzw. ANS. Nicht eine Tageszeitung machte bis zu dieser Zeit auf Clement Attlees Anwesenheit in Potsdam sowie auf einen eventuellen Regierungswechsel in Großbritannien aufmerksam. Nur LD veröffentlichte am 26. Juli auf dem Titelblatt den Aufsatz "Die Bedeutung der Wahlen für die Außenpolitik Englands", in dem die Meinung vom Kommentator UP Charles Halliman präsentiert wurde, daß Churchill in den Wahlen verliere. Am nächsten Tag, den 27. Juli, veröffentlichten alle Tageszeitungen auf der ersten Seite in einer graphisch deutlichen Form die Ergebnisse der Wahlen in Britannien. Derselben Thematik widmeten sie ihre Aufmerksamkeit im vergleichbaren Maße auch am 28. und 29. Juli, als unter anderen auch die Nachricht von C. Attlees Rückkehr nach Potsdam veröffentlicht wurde. Allgemein wurde Attlees Beteue.rung hervorgehoben, daß alle in Potsdam von Churchill vereinbarten Beschlüsse auch für ihn verbindlich werden. Auf Grund der übernommenen Materialien spekulierte man bezüglich bestimmter Änderungen in den Präferenzen der britischen Außenpolitik, besonders was einige Personalverschiebungen (z.B. Lord Halifax) betraf. Der Potsdamer Konferenz widmeten am 29. Juli SN und SS ihre Kommentare. Der Autor des Kommentars in SN war der ehemalige tschechoslowakische Botschafter in Ungarn und Österreich Hugo Vavrecka. Er brachte darin seine Anschauung zum Ausdruck, daß "sowohl Rußland, als auch die Alliierten im Westen größeres Interesse an der allgemeinen Stabilität in Mitteleuropa haben, als nur an den Beziehungen zu dem oder jenem Donaustaat." Eindeutig sprach er sich für die enge Zusammenarbeit der Großmächte aus, und in bezug auf Deutschland unterstützte er keine zu drakonischen Lösungen. Im anderen Geist wurde der Kommentar von Antonin Bohac in SS geschrieben. Nach seiner Überzeugung konnte man sich nicht auf die "geistige Umerziehung" des deutschen Volkes verlassen, die europäische Sicherheit konnte, seiner Meinung nach, nur dann gesichert werden, wenn "Deutschland materiell (= ökonomisch) und, was die Macht betrifft, so

Die Potsdamer Konferenz und ihre Reflexion in der tschechoslowakischen Presse

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schwach und seine Nachbarn so stark gemacht werden, daß es nicht imstande wäre, jemanden anzugreifen." In den nächsten Tagen rekapitulierten die Zeitungen den Verlauf der Konferenz und befaßten sich mit ihrem kommenden Abschluß. Erwähnt wurde vor allem die Ankunft der polnischen Delegation zu Verhandlungen und weiter dann die Spekulation, daß einige erstrangige Probleme - z.B. Dardanellen und Festlegung der deutsch-polnischen Grenze - erst später, auf einer Friedenskonferenz im Jahre 1946, gelöst werden. Für das zweitrangige Problem wurde im Hinblick auf eventuelle Uneinigkeiten unter den Großmächten die Frage der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus den östlichen Gebieten gehalten. Am 3. August informierten alle Tageszeitungen in Leitartikeln auf den Titelblättern über den Abschluß der Konferenz, RP unter dem Titel "Unsere Anordnung der Aussiedlung prinzipiell anerkannt." Den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz widmeten sich die Tagesblätter auch in den nächsten Tagen. SS veröffentlichte am 4. August die Übersetzung des Schlußkommuniques in der vollständigsten Form und graphisch mit Fettdruck. Am 5. August erschien hier ein Kommentar von Prokop Drtina, in dem er die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung als "den größten diplomatischen und politischen Sieg unseres Volkes in seiner ganzen Geschichte" bezeichnete. Ähnlich gefärbt war auch der Kommentar in RP zu den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz von demselben Tage. RP kehrte zur Konferenz noch mit dem Redaktionskommentar vom 7. August zurück, in dem man sich lobte, daß Deutschland im Verbündetenlager keine Beschützer fand wie nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der zweiten Seite publizierte RP den Widerhall der Ergebnisse der Konferenz in der sowjetischen Presse. Der letzte Beitrag, der unmittelbaren Verlauf und Ergebnisse der Potsdamer Konferenz betraf und den alle Tageszeitungen brachten, war die Veröffentlichung der von Präsident Truman nach seiner Rückkehr in die USA gehaltenen Rundfunkrede. Wenn wir das Verhalten der einzelnen Tageszeitung zur Potsdamer Konferenz bewerten sollten, muß man feststellen, daß den ausführlichsten und vollständigsten Nachrichtendienst LD und SN hatten. Eindeutig war bei ihnen die Bemühung festzustellen, die tschechoslowakische Politik in westliche Richtung im Geiste der demokratischen Freiheit und Kooperation zu orientieren. SS erlag ab und zu einer übertriebenen nationalen Begeisterung (bzw. der anti-deutschen Orientierung der Objektivität). Diese Stellung entsprach völlig der politischen Linie der Tschechoslowakischen national-sozialistischen Partei. PL, von der Sozialdemokratie herausgegeben, bemühte sich, objektiv über die Potsdamer Konferenz zu informieren, obwohl in linken Intentionen, sein rein technisch-journalistisches Niveau war aber leider sehr niedrig. RP seiner ideologischen Orientierung treu, trat an die Nachrichten immer aus links-kommunistischen populistischen Positionen heran. Deut-

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Pavel Dufek

lich ist bei diesem Blatt auch seine Unterordnung unter die Ansichten der sowjetischen Presse und damit auch der sowjetischen Politik. Ich glaube, daß man feststellen kann, daß sich schon im Sommer 1945 in der tschechoslowakischen Presse in der Sache der Potsdamer Konferenz die unterschiedlichen Präferenzen in der außenpolitischen Orientierung der einzelnen politischen Parteien zeigten. Im Laufe der folgenden Jahre vertieften sie sich nur.

Die Tschechoslowakei und die deutsche Frage von der Potsdamer Konferenz bis 1947 Von Edita I vanickova Die Tschechoslowakei als einer der zwar kleinen, doch Siegerstaaten der Antihitlerkoalition begrüßte die Entscheidung, zu der die Großmächte in Potsdam gelangten, mit besonderer Genugtuung. Präsident Eduard Benes, die tschechoslowakische Regierung, aber auch die Öffentlichkeit verstanden nämlich das Abkommen der Großen Drei vor allem als eine der grundlegenden internationalen Garantien für den Schutz der Republik vor der deutschen Gefahr. Die Erklärung dieser kurzen These ist in den Jahren des Krieges zu suchen, als eine neue tschechoslowakische außenpolitische Konzeption entstand. Die Exilregierung Benes in London formulierte sie unter dem starken und nicht verblassenden Eindruck von München, und sie war primär ganz und gar durch die Angst vor der deutschen Gefahr motiviert. Die Nachkriegsgarantien gegen diese Gefahr sollten der erneuerten CSR folgendes bieten: erstens, das neukonzipierte Bündnissystem der Republik, das sich sowohl nach Osten als auch nach Westen orientieren würde; zweitens, die Neuordnung der Nationalitätenverhältnisse im Staat, die die potentielle deutsche Gefahr von innen her bannen sollte; und drittens, eine politische und wirtschaftliche Ordnung der Verhältnisse in dem besiegten Deutschland, die eine Wiederholung seiner Eroberungszüge unmöglich machen würde. I Mit zwei Grundsätzen der tschechoslowakischen Konzeption korrespondierte das Potsdamer Abkommen direkt. Mit seinen konkreten Bestimmungen über Deutschland und der vorgesehenen Beteiligung aller vier Großmächte an ihrer Realisierung schuf es an erster Stelle in den Augen der tschechoslowakischen Politiker nicht nur unmittelbare, sondern vor allem langfristige äußere Garantien für eine ungestörte Entwicklung der Republik. Der genannte Aspekt wurde von 1 Vgl. auch KarelKaplan: Pravda 0 Ceskoslovenslcu 1945-1948 (Die Wahrheit über die Tschechoslowakei 1945-1948). Praha 1990. S.5-22; Edita Ivanickovti: Ceskoslovensko. Pol'sko a nemecU otazka 1939-1947 (Die Tschechoslowakei. Polen und die deutsche Frage 1939-1947). in: Stredmi a juhovychodmi Eur6pa - sondy do vyvoja v 40. rokoch (Mittel- und Südosteuropa - Sonden in der Entwicklung in den 40er Jahren). Bratislava 1992. S.4-47; Tomtis Stanek: Odsun Nemcu z Ceskoslovenska 1945-1947 (Die Abschiebung der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945-1947), Praha 1991, S.32-51.

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allen politischen Kräften der CSR in der gesamten Nachkriegszeit hervorgehoben. Während der Unterzeichnung und Veröffentlichung des Potsdamer Abkommens wurde dieser wichtige Faktor allerdings von einer anderen Tatsache überschattet, und zwar dadurch, daß die Großmächte in Potsdam die Abschiebung der deutschen Bevölkerung aus dem Lande gebilligt hatten. Für Präsident Benes und die tschechoslowakische politische Repräsentation bedeutete der Potsdamer Beschluß über die Umsiedlung der Deutschen einerseits die Bestätigung jener Vorgehensweisen, die im Lande in bezug auf die Deutschen schon eine gewisse Zeit lang spontan und mit unterschiedlichen (meist inadäquaten) Methoden realisiert wurden. Andererseits betrachtete man ihn zugleich auch als internationale Zustimmung zur Schaffung innerer Garantien gegen die Gefahr einer erneuten deutschen Aggression, das heißt, als die Ausräumung des letzten Hindernisses der "Endlösung" der deutschen Frage in der wiederhergestellten Republik, die in Fonn eines Transfers der gesamten deutschen Minderheit durchgeführt werden sollte. In ihren Vorstellungen wurde damit der entscheidende Schritt zur Schaffung des sog. Nationalstaates der Tschechen und Slowaken getan, und in diesem Zusammenhang ist auch ihre offiziell zum Ausdruck gebrachte Enttäuschung über die Tatsache, daß die Großmächte in Potsdam nicht zugleich auch über die Abschiebung der ungarischen Minderheit entschieden hatten, zu erwähnen. 2 Der Potsdamer Beschluß über die Umsiedlung der Deutschen hatte dabei eine weitere, man kann sagen, indirekte Auswirkung: zu einem Zeitpunkt, als die gesamte Gesellschaft, und zwar vor allem die tschechische, von einer Welle des deutschfeindlichen nationalen Radikalismus erfaßt war, festigte dieser Beschluß die Positionen des sich fonnierenden Nachkriegsregimes der Republik und seiner Protagonisten. Und nicht nur deren Positionen. Die genannte Lösung, die nach tschechoslowakischer Ansicht in erster Linie von Stalin durchgesetzt wurde, trug später vor allem als propagandistisches Mittel in den Händen der Kommunisten zu einer engeren Anlehnung der Tschechoslowakei an die Sowjetunion bei. Die Verbindung der Potsdamer Beschlüsse besonders mit der Umsiedlung der Deutschen, machte sich in der Tschechoslowakei ein knappes halbes Jahr nach ihrer Verabschiedung bemerkbar. Erst als der sog. organisierte Transfer "angelaufen war", begannen weitere Fragen des tschechoslowakischen Interesses am dem Potsdamer Abkommen in den Vordergrund der Aufmerksamkeit zu rücken. Das war unter anderem auch die Forderung nach einer Neuregelung der Grenze zu 2 Die These von dem Nationalstaat der Tschechen und Slowaken als Garantie der künftigen Sicherheit der CSR wurde in der Konzeption der tschechoslowakischen Exilregierung seit Anfang 1944 durchgesetzt, und mit ihr argumentiene man auch im Grundmemorandum der Regierung über die Lösung der Minderheitenproblematik in der emeuenen CSR, das am 24. August 1944 an die European Advisory Commission adressien wurde.

Die Tschechoslowakei und die deutsche Frage

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Deutschland. 3 Diese Problematik verlagerte sich jedoch in den Bereich der tschechoslowakisch-polnischen Beziehungen und wurde Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten. Es handelte sich dabei um deutsche Gebiete, auf die beide Seiten Anspruch erhoben hatten und die trotz des tschechoslowakischen Ansuchens4 durch die Potsdamer Beschlüsse - laut der damaligen Interpretation Prags "zeitweilig" - an Polen fielen. Der bilaterale Streit zwischen der CSR und Polen wurde im Juli 1946 durch das direkte Eingreifen Stalins gelöst: ihm zufolge sollte die Frage der umstrittenen Gebiete Gegenstand von Verhandlungen innerhalb von zwei Jahren nach Abschluß des tschechoslowakisch-polnischen Bündnisvertrages werden. s Die ganze Angelegenheit hatte jedoch eine viel breitere Auswirkung. Die tschechoslowakischen Vertreter nahmen anfangs im Hinblick auf ihre eigenen Absichten nur sehr vorsichtig zur Frage der sog. Endgültigkeit der polnischen Grenze an Oder und Neiße Stellung. Für die tschechoslowakische Seite hieß das nicht, daß sie die polnischen Ansprüche im Prinzip ablehnte, sondern es war für sie eher eine Frage der Endgültigkeit der deutschen Grenze überhaupt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1946 wandelte sich aber die Situation. "Die Verschiebung" des tschechoslowakisch-polnischen Streits um deutsches Gebiet "in die Zukunft", motiviert - wie das nach Stalins Intervention begründet wurde - durch das Bestreben, die gemeinsame Position gegenüber Deutschland nicht zu schwächen, zwang die tschechoslowakische Diplomatie zu einer klaren Stellungnahme auch zur Oder-Neiße-Grenze. Unter dem Druck von außen bestätigte sie offiziell nicht nur, daß sie diese Grenze für endgültig halte 6, sondern erklärte ihre Erhaltung auch zu einer Frage des eigenen Interesses 7 • .

3 Das komplexeste Dokument mit tschechoslowakischen Grenzforderungen an Deutschland war das Aide-M6moire, das der Außenministerkonferenz der vier Großmächte in Paris im April 1946 vorgelegt wurde. Archiv des ehemaligen Föderalen Außenministeriums der CSFR (im weiteren AFMZV CSFR), Abteilung A-GS 1945-1954, Deutschland, Karton Nr. 174.

• Die Forderung der tschechoslowakischen Regierung an die Alliierten vom 31. Mai 1945. Ebenda. 'Der Vertrag wurde am 10. März 1947 abgeschlossen. • Die Stellungnahme der tschechoslowakischen Delegierten auf der Konferenz der stellvertretenden Außenminister in London am 20. Januar 1947 anläßlich der Vorlegung des Memorandums der CSR zur deutschen Frage. AFMZV CSFR, Abteilung A-GS 1945-1954, Deutschland, Kan. Nr. 174. 7 Interview des Regierungsvorsitzenden der CSR Klement Gottwald in der Zeitschrift Svetov6 rozhledy, Januar 1947. In: Dokumenty a materi41y k dejimim ceskoslovensko-polskych vztahu 19441948 (Dokumente und Materialien zur Geschichte der tschechoslowakisch-polnischen Beziehungen 1944-1948). Praha 1985, S. 197-198.

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Edita Ivanickov'

Wenn wir von weiteren Zusammenhängen absehen, können wir die Umstände der Lösung des tschechoslowakisch-polnischen Konflikts als einen weiteren erfolgreichen Schritt Stalins bei der Formung seines Satellitenblocks verstehen, bei dem er die Karte der deutschen Gefahr ausspielte. Man kann allerdings nicht behaupten, daß schon damals - das heißt in der zweiten Hälfte 1946 - beide Länder automatisch als verlängerter Arm Moskaus gehandelt hätten, wie das nach der Gründung des Informbüros und dem Machtantritt der Kommunisten der Fall war. Zumindest im Falle der Tschechoslowakei war diese Frage schwieriger. Bekanntlich verpflichtete sich die Tschechoslowakei durch die Unterzeichnung des Bündnisvertrages mit der Sowjetunion im Dezember 1943 dazu, die sowjetische außenpolitsche Linie unter anderem gegenüber Nachkriegsdeutschland zu verfolgen 8 , und diesen Grundsatz vertrat sie auch nach der Potsdamer Konferenz. Das Motiv für dieses Handeln war aber primär nicht die pro-sowjetische Haltung von Präsident Benes bzw. anderer tschechoslowakischer Politiker (mit Ausnahme der kommunistischen), sondern die deutschfeinliche Haltung. Die Überzeugung, daß Aggressivität und Expansionsbestreben dauernde Eigenschaften Deutschlands seien, die Enttäuschung über die Haltung des Westens zur Zeit des Münchner Abkommens und das Bestreben, die "fortbestehende" deutsche Gefahr mit möglichst harten Maßnahmen zu paralysieren, das alles fesselte die Tschechoslowakei während des Krieges an Moskau. Dieses Denkmodell behielten die tschechoslowakischen nichtkommunistischen Politiker aber auch unter den veränderten Nachkriegsbedingungen bei. Zu einem Zeitpunkt, als es im Gegenteil notwendig gewesen wäre, die Frage der Verteidigung der Republik mit der demokratischen Bewegung in Europa zu verbinden, verfolgte die tschechoslowakische Außenpolitik weiterhin die sowjetische Linie in der deutschen Frage in der Überzeugung, daß sich damit ihre eigenen Interessen und Ziele erfüllen würden. Gleichzeitig aber versuchte sie bis in die zweite Hälfte des Jahres 1947 in diese Grundorientierung auch ihre Bewertung der Entwicklung der deutschen Frage einzubringen und im Rahmen eines solchen Herangehens auch eigene Teilentscheidungen zu treffen. Dazu gehörte zum Beispiel das Bestreben, die antideutschen Garantien für die Sicherheit der Republik um das Vertragsbündnis mit Frankreich zu erweitern, oder die tschechoslowakische Bereitwilligkeit, auch die Vorschläge der westlichen Großmächte für die Lösung der deutschen Angelegenheiten in Betracht zu ziehen, und zwar vor allem in wirtschaftlichen Fragen. Im großen und ganzen kann man sagen, daß die tschechoslowakische Politik zu Kompromissen geneigt war, mit denen sie bestrebt war, "den wahrscheinlichen "Expressis verbis bestätigte das Präsident Eduard Benes im Gespräch mit Stalin und Molotow im Dezember 1943 in Moskau. Vojtech Mastny: Benesovy rozhovory se Stalinem a Molotovem (Benes' Gespräche mit Stalin und Molotow). In: Svedectvf, Nr. 47, 1974, S. 482·485.

Die Tschechoslowakei und die deutsche Frage

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Punkt der gegenseitigen Übereinstimmung zwischen der Sowjetunion und den übrigen Großmächten vorherzusehen,,9. Die Existenz eines bestimmten eigenen Manövrierraumes war für die tschechoslowakische Außenpolitik charakteristisch bis fast zum kommunistischen Umsturz im Februar 1948. Dieser Raum wurde aber schon vor dem Februar immer kleiner, nicht nur unter dem wachsenden Druck der heimischen Kommunisten und Moskaus, sondern auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der internationalen Situation. Vor allem die tschechoslowakische Politik in der deutschen Frage, beruhend auf den Potsdamer Grundsätzen und gleichzeitig auf einer pro-sowjetischen außenpolitischen Orientierung, geriet an einen Scheideweg zusammen damit, wie sich die Interpretation des Potsdamer Vertrages durch die Großmächte und die Sowjetunion immer mehr voneinander entfernte. In diesem Dilemma überwog die außenpolitische Orientierung der Republik. Und zwar wiederum nicht nur wegen des Drucks Moskaus und der heimischen Kommunisten. Hätte die CSR in das "andere Lager" überwechseln wollen, so hätte ihre Regierung - einschließlich der nichtkommunistischen Politiker - die eigenen Ansichten zu ihrer "Deutschlandpolitik" ändern müssen. Diese Voraussetzung war jedoch nicht real. Die Unfähigkeit zu einer neuen Betrachtungsweise der internationalen Zusammenhänge der Lösung des deutschen Problems zeigte sich vor allem an der Jahreswende 1946/1947, als die Zusammenarbeit der Großen Vier unaufhaltsam zu zerfallen begann. Präsident Benes und die Exilregierung in London, aber auch die kommunistische Führung Gottwaids in Moskau vertraten schon seit dem Krieg den Standpunkt, daß das, was nach der Kriegsniederlage mit Deutschland geschehen sollte, vor allem Sache der Großmächte der Antihitlerkoalition sei. Daher fonnulierten sie auch außer den Fragen des besonderen tschechoslowakischen Interesses (wie etwa die Abschiebung der Deutschen, territoriale und einige wirtschaftliche Forderungen) gar nicht detaillierter ihre Ansichten zu den einzelnen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Nachkriegsentwicklung Deutschlands. Das erste und man muß sagen auch das einzige komplexe Material in dieser Hinsicht war erst das Memorandum, das im Januar 1947 der Konferenz der stellvertretenden Außenminister in London vorgelegt wurde. Dieses Dokument, vorbereitet als Unterlage für die Verhandlungen über den Friedensvertrag mit Deutschland, spiegelte einerseits die tschechoslowakischen Ansichten im Zusammenhang mit den Hauptpunkten des Potsdamer Abkommens Deutschland betreffend, aber gleichzeitig auch die Verschiebung in ihrer Interpretation wider. Für diese Inter• Tschechoslowakisch-polnische Verhandlungen über die Vorbereitung des Friedensvertrags mit Deutschland, Warschau 21. Juni 1947. AFMZV CSFR, Territorialer Bereich Deutschland 1945-1959.

Kart. Nr. 25.

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pretation war außerdem charakteristisch, daß sie zwischen den divergierenden Standpunkten der Sowjetunion und der westlichen Großmächte lavierte. Das Memorandum bestand aus zwei Teilen: aus allgemeinen Grundsätzen, nach denen sich die Lösung des deutschen Problems richten sollte, und den speziellen tschechoslowakischen Forderungen, die in den Entwurf des Friedensvertrags aufgenommen werden sollten. Gemeinsamer Nenner aller seiner Punkte unter Berufung auf das Potsdamer Abkommen war die Forderung nach Kontrolle. Und zwar einer "Kontrolle, an der alle vier Großmächte teilnehmen sollten, die sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Geschehens und auf das gesamte Territorium Deutschland beziehen würde, einer Kontrolle, die eine einheitliche Anwendung der gemeinsam vereinbarten Grundsätze garantieren würde"lo. Kurz, eine Kontrolle von allem, in allem und überall, und zwar unter der weiteren Grundvoraussetzung - der fortgesetzten Zusammenarbeit der Großmächte. Diese These war in der tschechoslowakischen Politik nicht neu, sondern sie bildete sich schon während des Krieges heraus. Schon damals hatte sich gezeigt, daß im Mittelpunkt des Sicherheitsinteresses der erneuerten Republik nicht das Dilemma "ein einheitliches oder geteiltes Deutschland", sondern die Frage seiner langjährigen und tiefgehenden Kontrolle seitens der Siegermächte stand. 11 Zur Zeit der Vorbereitung des Memorandums, das heißt Ende 1946, aber stellte das Bestehen auf einer so radikalen Kontrolle die tschechoslowakische Außenpolitik in die Position seines Subjekts, das damit entweder die Ansichten zugunsten einer der Großmächte sondierte (in diesem Fall der Sowjetunion, was aber von bisher bekannten Dokumenten nicht bestätigt wird), oder sie reagierte zu wenig realistisch auf die sich vollziehende Entwicklung. Ähnlich wirkte auch einer der Vorschläge betreffs der Fragen der Wirtschaftsstruktur Deutschlands. Die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens über die wirtschaftliche Abrüstung Deutschlands interpretierend, verlangte die tschechoslowakische Diplomatie im Interesse der Beseitigung der Möglichkeit der "Schaffung einer Basis für reaktionäre und aggressive Kräfte" die umfassende Nationalisierung in ganz Deutschland, und zwar nicht nur der von den Nazis selbst, sondern auch von ihren Unterstützern besessenen Unternehmern l2 . Also die Nationalisie10 Das Memorandum der tschechoslowakischen Regierung. vorgelegt am 22. Januar 1947 der Konferenz der stellvertretenden Außenminister in London. In: Dokumenty a materüUy k otazce mfrove smlouvy s Nemeckem (Dokumente und Materialien zur Frage des Friedensvertrages mit Deutschland). Praha 1961. S. 26. 11 Hubert Ripka: Ceskoslovensko v nove Evrope. (Die Tschechoslowakei im neuen Europa). London 1945. S. 45-51.

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Das Memorandum der tschechoslowakischen Regierung .... S. 26.

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rung eigentlich fast der gesamten deutschen Industrie, was zu diesem Zeitpunkt nicht einmal von den Sowjets deklariert wurde. Auch wenn das Memorandum eine Menge weiterer Anregungen und spezieller tschechoslowakischer Forderungen enthielt, konzentrierte sich die Diskussion auf der Londoner Konferenz gerade auf die oben erwähnten zwei Kreise. Vor allem die Fragen des französischen und amerikanischen Vertreters zielten darauf ab, daß die tschechoslowakische Delegation ihre Vorstellungen konkretisierte. Die Antwort war die Versicherung, daß die tschechoslowakische Seite diese Probleme weiter auszuarbeiten beabsichtigte und auf einem internationalen Forum später vorlegen würde. Dazu kam es allerdings nicht mehr, da die Tschechoslowakei nach dem kommunistischen Umsturz im Lande auch die Reste des autonomen Handelns auf der internationalen Szene verlor und zusammen mit den übrigen Ländern des Ostblocks auch in der deutschen Frage nur Vollstrecker der Absichten Moskaus wurde.

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Tokio und die Stunde Null Der innerjapanische Streit um die Potsdamer Erklärung

Von Wieland Wagner A. Der Krieg geht weiter Als die Potsdamer Konferenz im Juli 1945 begann, gehörte der Zweite Weltkrieg in Europa bereits der Vergangenheit an. Die alliierten Siegermächte gingen daran. die Nachkriegsordnung zu gestalten. Auf dem pazifischen Kriegsschauplatz aber tobten die grausamen Gefechte mit erhöhter Energie weiter!. Das Kriegsende schien zu Konferenzbeginn noch in weiter Feme; das amerikanische Militär faßte eine Invasion auf der südlichen japanischen Hauptinsel Kyushu 2 frühestens für den 1. November 1945 ins Auge. Der Krieg in Ostasien und die Frage seiner Beendigung bestimmten daher sowohl das Vorfeld als auch den Ablauf der Potsdamer Konferenz ganz wesentlich.

I Die Fülle an westlichen u. japanischen Darstellungen über Verlauf und Beendigung des Pazifischen Krieges ist auch für den Fachmann kaum noch zu überblicken. Die folgenden Angaben beschränken sich daher auf zentrale weiterführende Arbeiten. Das Vorgehen der militärischen und zivilen japanischen Führer während des Pazifischen Krieges und insbesondere die japanische Diskussion um Potsdam läßt sich imgrunde nur vor dem Hintergrund der Modernisierung Japans seit Öffnung des Landes in der Mitte des 19. Jahrhunderts nachvollziehen. Zu den tieferen Wurzeln des japanischen Expansionismus in Asien s. die Studie des Verfassers: Japans Außenpolitik in der frühen Meiji-Zeit (1868-1894). Die politische und ideologische Grundlegung des japanischen Führungsanspruchs in Ostasien. Stuttgart 1990. sowie Beasley. W. G.: J apanese Imperialism 1894-1945. Oxford 1987. Zur unmittelbaren Vorgeschichte: Iriye. Akira: The Origins ofthe Second World War in Asia and the Pacific. London 1989. Zum Kriegsverlauf: Ienaga. Saburo: The Pacific War. World War 11 and the Japanese. 1921-1945. New York 1978. und zu dessen Beendigung vor allem: Alperovitz. Gar: Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam. New York 1965. sowie die in westl. Sprachen (leider) nach wie vor unübertroffene Darstellung von Butow. Roben l.e.: Japan's Decision to Surrender. Stanford. CaIif. 41965. Auf japanisch s. insb. Fujiwara. Akira: Shöwa Tennö no jOgonen sensö. Tökyö 1991; Hattori. Takushiro: Dai Tö-A-sensö zenshi. Tökyö 1953. für das folgende vor allem Bd. 4.

2 Bei der Wiedergabe japanischer OI1S- und Personennamen wird im vorliegenden deutschen Text aufLängenzeichen (ö. 0) verzichtet. Längenzeichen werden nur in den japanischen Literaturangaben verwandt. Die Nennung japanischer Personennamen richtet sich in Text und Fußnoten nach japanischer Praxis. d.h. der Familienname ist dem Vornamen vorangestellt.

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Wieland Wagner

Bereits die Tenninplanung für das Treffen der Alliierten wurde indirekt durch das Geschehen in Ostasien beeinflußt: Der amerikanische Präsident Harry S. Truman hatte die ursprünglich für Anfang Juli geplante Konferenz bis Mitte Juli hinausgezögert, wohl auch um die Entwicklung der atomaren Wunderwaffe abzuwarten 3 , von der sich die militärischen Planer in Washington eine erhebliche Verkürzung des pazifischen Krieges erhofften. Einen Tag vor Beginn der Potsdamer Konferenz, am 16. Juli, testeten die USA in der Wüste von New Mexico erfolgreich die Atombombe4 • Ein in seinem Selbstbewußtsein gestärkter Truman vermerkte am 18. Juli in seinem Tagebuch, daß es nun möglich sein werde, das japanische Kaiserreich noch vor einem Kriegseintritt der Sowjetunion zur Kapitulation zu zwingens. Der kommunistische Kriegspartner, von Truman noch am Vortag zur Beteiligung am Krieg in Ostasien gedrängt, sollte nun von der Mitgestaltung der Nachkriegsordnung in Ostasien ausgeschlossen werden. Mit dem atomaren Faustfand in Händen schien den Vereinigten Staaten die Rolle als unangefochtene Weltmacht sicher. Präsident Truman und Außenminister James F. Bymes setzten nun mehr ganz auf die Atomwaffe, die sie in jedem Fall auch einsetzen wollten. Als Kriegsminister Henry L. Stimson vorschlug, die Japaner durch eine "Probeexplosion" der Atombombe vorzuwarnen, lehnte der Präsidentdies ab 6 • Am 24. Juli gab Truman den Befehl, den Abwurf der Atombombe für die Zeit nach dem 3. August vorzubereiten. Auch ließ Truman aus dem Entwurf der Potsdamer Erklärung vom 26. Juli 1945 eine Passsage streichen, die den Fortbestamd des japanischen Kaiserhauses garantierte und den Japanern möglicherweise die Annahme der Kapitulation erleichtert hätte. Statt dessen enthielt das Dokument nur mehr den vagen Hinweis, das japanische Volk könne in freier Selbstbestimmung seine künftige Regierungsfonn wählen7 • Die Erklärung der

3

Arai, Shinichi: Genbaku toka e no michi. TOkyO 1985, S. 181.

• Zu den AtombombenabwUrfen auf Hiroshima und Nagasaki sowie deren Planung s. auch den Beitrag des Verfassers: Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki. In: Salewski, Michael(Hrsg.): Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute. München 1995, S. 72-94, der sich mit der Problematik des vorliegenden Aufsatzes z.T. überschneidet. Ausführlich: Rhodes, Richard: Die Atombombe oder Die Geschichte des 8. Schöpfungstages. Nördlingen 1988, und Wyden, Peter: Day One. Before Hiroshima and After. New York 1984. 5 Vgl. den Tagebucheintrag v. 18. Juli, Abdruck in: Ferrell, Robert H.(Ed.): Offthe Record. The Private Papers ofHarry S. Truman. New York u.a. 1980 (i. folgenden zit. TB), S. 53f.

• Stimson, Henry L, and Bundy, McGeorge: On Active Service in Peace and War. London, New York, Melboume, Sydney, Cape Town 1948, S. 364ff. 7

Abdruck in Butow, S. 243f.

Tokio und die Stunde NulI

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USA, Großbritanniens und Chinas 8 vom 26. Juli liest sich vor diesem Hintergrund geradezu als Rechtfertigung für den bereits beschlossenen Einsatz der Bombe9 • Das Schicksal von Hiroshima war in Potsdam praktisch besiegelt worden. Im folgenden sollen zunächst kurz der Verlauf des Pazifischen Krieges sowie die zaghaften japanischen Friedensbemühungen vor und während der Potsdamer Konferenz umrissen werden; anschließend soll die Reaktion der Japaner auf die Beschlüsse von Potsdam beleuchtet werden.

B. Der Pazifische Krieg und die japanischen Friedensfühler Der japanische Siegeszug im Westpazifik, der mit dem Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 begonnen hatte, war am 5. Juni 1942 jäh ins Stocken geraten: In der See- und Luftschlacht bei den Midway-Inseln verlor die kaiserliche Marine vier ihrer besten Flugzeugträger; im Februar 1943 mußten sich die Japaner unter schweren Verlusten von der Insel Guada1canal zurückziehen. Fortan drängten die von Japans Militärs als dekadente Nation von "Kaufleuten" unterschätzen Amerikaner die kaiserlichen Krieger Insel um Insel Richtung Norden zurück lO • Als im Juni 1945 der Archipel Okinawa fiel, war die sogenannte "Großostasiatische Wohlstandssphäre" auf das japanische Mutterreich zusarnmengeschrumpfe 1• Japan lag militärisch und wirtschaftlich am Boden. Angesichts der Serie verheerender Niederlagen hatten gemäßigte Kräfte in der japanischen Führung bereits im Juli 1944 den Rücktritt des Hauptkriegstreibers, Premierminister General Tojo Hideki, erzwungen. Während einer Übergangszeit unternahm zunächst eine Art Koalitionsregierung beider Waffengattungen unter Premierminister General Koiso Kuniaki und Marineminister Yonai Mitsumasa erste zaghafte Schritte, um Möglichkeiten zu einer Beendigung des Krieges auszuloten. Allerdings fehlte dem glücklosen Koiso von vornherein die nötige Rückendeckung des Heeres. Wichtige strategische Entscheidungen, z.B. bei der Abwehrschlacht auf den Philippinen Ende 1944, traf der Generalstab, ohne den Premier vorher zu konsultieren. Anfang April 1945 betrauten die kaiserlichen • Die Sowjetunion hatte nicht unterzeichnet, da der sowjetisch-japanische Neutralitätspakt noch fonnelI in Kraft war. • Darauf deutet auch Trumans Tagebucheintrag v. 25. Juli hin, vgl. TB, S. 56. 10 Zur gegenseitigen - rassistischen - Sichtweise der Kriegsgegner: Dower. lohn: War Without Mercy. Race and Power in the Pacific War. New York 1986.

11 Ausführlich zur "Großostasiatischen Wohlstandssphäre" und dem japanischen Vorgehen in Südostasien: Kobayashi. Hideo: Nihon gunsei-ka no Ajia. Tökyö 1993, insb. S. l3lff.

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Hofkreise um Lordsiegelbewahrer Kido Koichi den ehemaligen Marine-Admiral Suzuki Kantaro mit den Regierungsgeschäften. Premierminister Suzuki und sein Außenminister Togo Shigenori wußten, daß Japan den Krieg nicht gewinnen konnte. Im Februar hatte bereits der ehemalige Premierminister Fürst Konoe Fumimaro den Tenno gedrängt, den Krieg zu beenden. Andernfalls könne die unausweichliche Niederlage in eine kommunistische Revolution münden, welche letztlich auch das japanische Kaiserhaus ins Verderben ziehen würde l2 • Als Japans Achsenpartner Deutschland am 8. Mai 1945 vor den Alliierten kapitulierte 13 , wurde die aussichtslose Lage des Kaiserreiches vollends offenbar l4 • Als Reaktion darauf beschloß der Oberste Kriegsrat am 11. Mai 1945, Gespräche mit der Sowjetunion aufzunehmen ls . Verfolgten die friedensgeneigten Kräfte um Außenminister Togo mit diesem Schritt die Absicht, über Moskau Friedensfühler gegenüber den Westmächten auszustrecken, ging es den Militärs vorrangig darum, den befürchteten Kriegseintritt Stalins so lange wie möglich hinauszuzögern, um den Endsieg vorbereiten zu können: Kamikaze-Kämpfer und mit Bambusspeeren bewaffnete Zivilisten sollten die erwartete Invasion der Alliierten auf Kyushu abwehren. Sowohl der Friedensflügel als auch die Endsiegsfanatiker innerhalb der Regierung hofften bis zum Schluß auf das Wohlwollen Stalins. Dabei hatte der sowjetische Diktator Japan schon im Herbst 1944 als Aggressor gebrandmarkt und im April 1945 den japanisch-russischen Neutralitätspakt von 1941 gekündigt. Stalin dachte nicht daran, die umfangreichen Gebietszusagen aufs Spiel zu setzen, die ihm die Westalliierten im geheimen Zusatzabkommen von Jalta (11. Februar 1945) für den Fall zugesagt hatten, daß Stalin in den Krieg gegen Japan

12 Butow, S. 47-50; vgl. auch die Biographie von Olea, Yoshitake: Konoe Fumimaro. Tökyö 71988, insb. S. 200f.

Illm November 1936 hatte Japan mit Deutschland den Antikominternpakt und im September 1940 mit Deutschland und Italien den Dreimächtepakt geschlossen. Dazu ausführlich: Martin, Bemd: Die Einschätzung der Lage Deutschlands aus japanischer Sicht: Japans Abkehr vom Bündnis und seine Hinwendung aufOstasien (1943-1945). In: Messerschmidt, Man/red, u. Guth, Ekkehart (Hrsg.): Die Zukunft des Reiches: Gegner, Verbündete und Neutrale (1943-1945). Herford, Bonn 1990 (=Vorträge zur Miliwgeschichte 13) S. 127-146, und ders.: Der Schein des Bündnisses - Deutschland und Japan im Krieg (1940-1945), in: Krebs, Gerhard; Martin, Bernd (Hrsg.): Formierung und Fall der Achse Berlin - Tokyo. Tokio 1994, S. 27-53.

" Offiziell bekundete die japanische Regierung jedoch weiter trotzig ihren Siegeswillen, vgl. "Doitsu köfuku ni kansuru seifu seimei" v. 9.5.1945, Abdruck i. GaimushO (Hrsg.): Nihon gaikö nenpyö narabini shuyö bunsho (i. folg. zit. Gaikö nenpyö), Bd. 2, S. 611. Il Vgl. 'Tai-so köshö höshin", in: Gaikö nenpyö, S. 611f. Zujap. Überlegungen s. auch Hattori, Bd. 4, S. 26lf.

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eintrae 6 • Als der Oberste Kriegsrat am 10. Juli 1945 beschloß, Fürst Konoe auf eine Friedensmission nach Moskau zu entsenden, war dieser Plan deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt: Nach Rücksprache mit Präsident Truman in Potsdam wies Stalin den japanischen Friedensfühler am 18. Juli zurück. Obwohl Japans Botschafter in Moskau, Sato Naotake, seiner Regierung in verzweifelten Telegrammen die Aussichtslosigkeit der Lage ausmalte l7 , bestand Tokio weiter auf Gesprächen mit der sowjetischen Führung. Allerdings sollte Stalins Außenminister Molotow den Vertreter Japans erst nach seiner Rückkehr aus Potsdam, am 8. August, empfangen, und zwar nur, um ihm die Kriegserklärung an Tokio auszuhändigen. Zwei Stunden später, um ein Uhr Tokioter Ortszeit, marschierten 1,7 Millionen sowjetische Soldaten in die von den Japanern beherrschte Mandschurei ein. Erst jetzt begann Tokio, sich ernsthaft mit der Potsdamer Erklärung auseinanderzusetzen.

c. Japans Reaktion auf die Potsdamer Erklärung Die japanische Regierung empfing den Wortlaut der Potsdamer Erklärung am 27. Juli, einen Tag nach deren Verkündung durch die Alliierten. Zwar lehnten die führenden Militärs das bedingungslose Ultimatum rundweg ab, doch Außenminister Togo meinte in dem Dokument eine Bestätigung seiner Friedensstrategie über die Sowjetunion zu entdecken. Er verwies auf den Umstand, daß Stalin die alliierte Erklärung nicht unterschrieben habe und trotz Kündigung des Neutralitätspaktes mit Japan nach wie vor an das Vertragswerk gebunden sei. Angesichts des Patts zwischen Friedensgeneigten und Kampfwilligen zog es die handlungsurifähige japanische Führung vor, zunächst einmal überhaupt nicht auf die Potsdamer Erklärung zu reagieren und sich solange in offizielles Schweigen zu hüllen, bis der sowjetische Außenminister Molotow aus Potsdam nach Moskau zurückkehren und den japanischen Botschafter empfangen würde. Allerdings sorgte Ministerpräsident Suzuki am 28. Juli dafür, daß die Weltöffentlichkeit Japans Entgegnung auf Potsdam als offizielles "Nein" auslegen mußte: Seine Regierung, so verkündete Suzuki, messe der Deklaration keinen besonderen Wert zu; man werde das Dokument stillschweigend übergehen und bis zuletzt für den Sieg kämpfen. Auch wenn der Regierungschef mit seiner (im japanischen Original-Wortlaut) mißverständlichen Formulierung nur die Hinhaltepolitik des

16

Abdruck i. Butow, S. 242.

17

Vgl. insb. Satos Schreiben an Togo v. 20. Juli 1945, Abdruck in: Gaikö nenpyö, S. 621-624.

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Kabinetts umschreiben wollte 18 : Vom Ergebnis her lieferte er den USA die Rechtfertigung für den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. In der Potdamer Erkärung hatten die Alliierten Japan zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert; als Alternative habe das Kaiserreich ,die unverzügliche und völlige Zerstörung zu gewärtigen. Diese abstrakte Warnung riß die zerstrittene Staatsspitze jedoch ebensowenig aus ihrem lähmenden Patt wie die Verwüstung der westjapanischen Provinzmetropole Hiroshima. Im Gegenteil: Die Militärs, die nach preußisch-deutschem Vorbild am Kabinett vorbei direkten Zugang zum Kaiser besaßen, spielten den Bombenabwurf zunächst herunter; und die zivilen Führer bekamen erst einen Tag später mit, daß es sich bei der neuen Waffe um eine Atombombe handelte 19 • Truman hatte geglaubt, die Japaner durch Hiroshima zur sofortigen Annahme von Potsdam bewegen zu können; doch die politische Wirkung der Bombe war verpufft. Statt nun mehr unverzüglich gegenüber dem Kriegsgegner einzulenken und das sinnlose Blutvergießen im Pazifik dadurch zumindest um Tage zu verkürzen, dachten die Machthaber in Tokio in erster Linie daran, wie sie das politische Überleben des Kaisers sichern könnten2o • Erst am 9. August, unter dem Eindruck des Kriegseintritts der Sowjets und des Atombombenabwurfs auf die südjapanische Hafenstadt Nagasaki befaßte sich die japanische Führung wieder gemeinsam mit der Potdamer Erklärung. Die höfischen Berater des Tenno waren vor allem durch den Kriegseintritt des Sowjetreiches geschockt21 • Nicht nur, daß die Hoffnung auf Moskau damit endgültig hinfällig geworden war, vielmehr schien auch der befürchtete kommunistische Umsturz in Japan in den Bereich des Möglichen zu rücken. Der Friedensflügel um Lordsiegelbewahrer Kido entfaltete nun mit Billigung des Tenno hektische Aktivitäten, um den Krieg rasch zuende zu bringen. Doch selbst am Tage von Nagasaki stand die

I.

Zur unterschiedlichen Interpretation von Suzukis Äußerungen durch Japaner und Alliierte s. auch Wyden, S. 233. " So z.B. Außenminister Togo, vgl. GaimushO (Hrsg.): ShQsen shi-roku. T6ky6 1987, S. 535f. Den Vorgaben des Militärs entsprechend bemühte sich auch die japanische Presse, die Bedeutung der Atombombe herunterzuspielen. So versuchte die Zeitung "Ösaka Asahi Shinbun" vom 9. August die Hoffnung zu wecken, Japan werde rechtzeitig eine wirksame Gegenwaffe gegen die Atombombe entwickeln. (Abdruck in [rie. Tokuro u.a. (Hrsg.): Shinbun shQsei. Sh6wa-shi no sh6gen. Bd. 19: Genbaku, k6fuku, kyQ-taisei h6kai, T6ky6 1988, S. 285). Zur jap. Reaktion auf die Atombombe u. zu den nachfolgenden inneljap. Diskussionen auch: Hattori, a.a.O., S. 318ff. 20 Die zentrale Rolle in den Überlegungen der Staatsspitze spielte die Wahrung des sogenannten japanischen 'Nationalwesens' (kokutai) mit dem Kaiser an der Spitze. Vgl. die aufschlußreichen Tagebucheinträge von Lordsiegelbewahrer Kido ab 6. August, hier insb. v. 7. August, in: Kido Koichi Nikki, Bd. 2, S. 1222.

21 Ebd" Eintrag v. 9. August, S. 1223; s. auch Fujiwara. Akira: Nihon no haisen to genbaku t6ka mondai, In: Hitotsubashi RonshO 1979 (4), S. 485-497.

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von den Alliierten verlangte "bedingungslose" und sofortige Kapitulation für die Japaner zunächst nicht zur Debatte. Außenminister Togo sprach sich zwar grundsätzlich dafür aus, die Waffen zu strecken, jedoch nur unter der Bedingung, daß der Fortbestand des Kaiserhauses garantiert werde. Die Militärs um Heeresminister Anami Korechika und Generalstabschef Umezu Y oshijiro gingen jedoch noch weiter: Sie verlangten, daß die in der Potsdamer Erklärung angekündigte alliierte Besatzung auf ein Minimum begrenzt werde und daß die Japaner ihre Truppen selbst entwaffnen und Kriegsverbrechen in eigener Regie aburteilen könnten22 • Tatsächlich spekulierten die Heeresführer jedoch weiter auf den Endsieg, oder doch zumindest darauf, den Alliierten in einer Entscheidungsschlacht empfindliche Verluste zuzufügen. Heeresminister Anami faßte die Stimmung der Militärs in folgenden Worten zusammen: Würden die Alliierten nicht auf die japanischen Forderungen eingehen, müßten die Japaner "tapfer kämpfen und das Leben im Tod finden. Ich bin sicher, wir werden dem Feind große Verluste zufügen. Und selbst wenn uns dies nicht gelingt, ist unser Einhundert-Millionen-Volk bereit, in Ehre zu sterben und dadurch den Taten der japanischen Rasse ein ruhmreiches Gedenken zu sichern,m. Die Hauptursache für den ungebrochenen Durchhaltewillen des Militärs lag im Erwartungsdruck des eigenen Offizierscorps. Für das kaiserliche Heer war es undenkbar, kampflos die Waffen zu strecken; der Kapitulation war der Opfertod für den göttlichen Herrscher vorzuziehen. Die Gefahr eines Militärs-Putsches schwebte daher als ständige Bedrohung über den Beratungen von Kabinett und Oberstem Kriegsrat24 • Hinzu kam, daß die führenden Generäle von der Kapitulation nichts Gutes zu erwarten hatten, zumal die Potsdamer Erklärung ausdrücklich auf der Kapitulation des Militärs und nicht etwa des japanischen Volkes bestand. Nachdem die japanische Staatsspitze am 9. August über acht Stunden mit fruchtlosen Debatten verbracht hatte, führte erst eine mitternächtliche Krisensitzung in 22

Butow. a.a.O.; s. auch Kido Kaichi Nikki. a.a.O., 8. Aug., S. 1223.

23 Zit. n. Tolami. lohn: The Rising Sun, The Decline and Fall ofthe Japanese Empire. New York 1970. S. 913f (dt. Übers. v. Verf.). T's populärwissenschaftliche Darstellung ist nach wie vor die umfassendste Abhandlung über den Pazifischen Krieg in einer westlichen Sprache.

'" Der blutige Putschversuch radikaler Heeresoffiziere vom 26. Februar 1931 war den japanischen Führern nur allzu deutlich in Erinnerung. Ministerpräsident Suzuki war damals schwer verletzt worden. Ein weiterer wesentlicher Faktor sowohl ftIr den Durchhaltewillen der Heeresführung als auch für die - aus westlicher Sicht - frappierende Kampfmoral der japanischen Soldaten ist im feudalen japanischen Kriegerethos (Bushido =Weg des Kriegers) zu sehen. der auch in der Nachkriegszeit noch japanische Verhaltensweisen nachhaltig beeinflußt. Zum Bushido: BIomberg. Catharina: The Heart ofthe Warrior. Origins and Religious Background ofthe Samurai System in Feudal Japan. Sandgate. FolkestonelKent 1994, u. Nitobe. lnazo: Bushido. The Soul of Japan. Tokio 1969.

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Anwesenheit des Kaisers im Luftschutzkeller des Palastes den Durchbruch herbei: In einer dramatischen Abkehr von der Tradition trug Suzuki dem Tenno, dem sonst nur die Billigung einstimmiger Kabinettsbeschlüsse oblag, die Schiedsrichterrolle über die Frage von Krieg oder Frieden an. Der Kaiser schlug sich auf die Seite der Friedensbefürworter und erklärte, Japan solle die Deklaration von Potsdam unter der Bedingung annehmen, daß die Position des Kaiserhauses gewahrt bleibe2s . Zwar unterrichtete Außenminister Togo am 10. August die Kriegsgegner über die japanische Entscheidung26, doch bis Japan die Potsdamer Erklärung tatsächlich annahm, vergingen noch fünf Tage zähen Streits. Der amerikanische Außenminister Bymes sollte dazu später erklären, nie sei für ihn die Zeit so langsam vergangen als in jenen Tagen 27 . Denn als hätte der Tenno sein Machtwort gar nicht gesprochen, brach der Streit zwischen Militärs und Zivilisten aufs Neue aus, sobald die amerikanische Antwort auf die bedingte japanische Kapitulationsbereitschaft eintraf. Der sogenannten Bymes-Note zufolge sollten der Kaiser und die japanische Regierung vom Zeitpunkt der Kapitulation an dem Oberkommandierenden der Alliierten unterstellt sein28 . Entsprechend der Potsdamer Deklaration sei die endgültige Entscheidung über die Regierungsform des Landes dem freien Willen des japanischen Volkes anheimgestellt. Mit der ausdrücklichen Erwähnung des Kaisers ließen die USA die Möglichkeit eines Fortbestands der japanischen Dynastie faktisch offen und bauten ihrem Kriegsgegner somit jene goldene Brücke für die Annahme der Kapitulation, welche sie ihm in der Potsdamer Erklärung noch verweigert hatten. Durchgesetzt hatten sich damit die Pragmatiker in Washington, die sich vom politischen Überleben des Kaisers eine geordnete Rückführung japanischer Truppen aus Übersee und eine Erleichterung der amerikanischen Besatzungspolitik versprachen. Indes willigten die japanischen Militärs erst in die Kapitulation ein, nachdem der Tenno am 14. August ein zweites Machtwort gesprochen und erklärt hatte, Japan müsse "das Unerträgliche ertragen und das Untragbare erdulden,,29.

25 Zur Position des Kaisers s. Wetzler. Peter: Kaiser Hirohito und der Krieg im Pazifik. Zur politischen Verantwortung des Tenno in der modemen japanischen Geschichte. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (89) Heft 4, S. 611-644. 2.

Gaiko Nenpyo, S. 631.

27

Zit. in Marx. Joseph L.: Nagasaki. The Necessary Bomb? New York 1971, S. 115.

2. Abdruck i. Butow, S. 245. 2' Abdruck der kaiser!. Erklärung in Lu. David J.(Ed.): Sources of Japanese History. Vo!. 2. New York 1974, S. 176f. (Dt. Übers. v. Verf.)

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In den letzten Kriegstagen zeigte sich, daß selbst die Autorität des japanischen Kaisers nicht unumschränkt, sondern letztlich an den Konsens der Führung gebunden war. Gleichsam bis zur letzten Minute stritten die japanischen Führer um den Wortlaut der kaiserlichen Kapitulationserklärung. In der Nacht vom 14. auf den 15. August, besetzten radikale Offiziere den Kaiserpalast und ein Studio des staatlichen Fernsehsenders NHK, um die Übertragung von Hirohitos Kapitulationserklärung zu verhindern. Rebellische Truppenteile beschossen den Amtssitz von Ministerpräsident Suzuki, steckten dessen Privatwohnung in Brand und verfolgten den greisen Regierungschef durch halb Tokio 30. Doch letztlich fügte sich das Militär in den Willen des Herrschers und streckte kampflos die Waffen.

D. Schluß: Versäumte Chancen Die zähe Auseinandersetzung innerhalb der japanischen Führung um die Kapitulation stand in einer engen, aber auch äußerst widersprüchlichen Beziehung zur Potsdamer Konferenz. Die Forderungen Amerikas, Großbritanniens und Chinas vom 26. Juli schwebten stets über der innerjapanischen Diskussion. Doch war die von den Alliierten geforderte "bedingungslose" Kapitulation zunächst für alle Führungskreise indiskutabel. Daran änderte auch die Atombombe nichts, deren erfolgreiche Erprobung die Haltung der Amerkaner auf der Potsdamer Konferenz deutlich verhärtet hatte. Erst als der - durch den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima um sechs Tage beschleunigte - Kriegseintritt der Sowjetunion die letzten japanischen lllusionen zunichte machte, der demütigenden Kapitulation entgehen zu können, wurde die Potsdamer Erklärung für Tokio zur alleinigen Diskussiongrundlage. Doch das Hauptkriterium blieb für die Japaner der Fortbestand der Kaiserdynastie. In seiner Rundfunkansprache vom 15. August, bei der die meisten japanischen Untertanen zum erstenmal die Stimme ihres göttlichen Herrschers vernahmen, erklärte der Tenno: "Nachdem es Uns gelungen ist, die Struktur des Kaiserreiches zu bewahren, wissen Wir uns immer mit euch, unseren guten und treuen Untertanen, verbunden und verlassen uns auf eure Aufrichtigkeit..."31. Aus Sicht der Tokioter Führung war das Hauptanliegen gegenüber den künftigen Besatzern erreicht: die Bewahrung des Kaiserhauses. Von diesem Kriterium, und nicht etwa von einer allgemeinen Friedensliebe, ließ sich Hirohito leiten, als er die Annahme der alliierten Kapitulation anordnete. Das Elend der eigenen Bevölkerung spielte in den Überlegungen des Herrschers und der zerstrittenen Führungsclique keine 30

Dazu ausführlich: The Pacific Was: Reseas:ch Society: Japan's Longest Day. New York 1986.

31

Zit. n. Lu. S. 177.

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Rolle. hn Gegenteil: Durch ihr sinnloses Hinauszögern der Kapitulation waren sie dafür verantwortlich, daß sich die Zahl der japanischen Kriegsopfer beträchtlich erhöhte. So schwer die japanische Verantwortung sowohl für den Ausbruch als auch für die Verlängerung des Pazifischen Krieges wiegt, so augennmig ist auf der anderen Seite aber auch das Versäumnis der Potsdamer Konferenz, das Kriegsende rasch herbeizuführen. Ihrem in Absatz Eins der Erklärung vom 26. Juli formulierten Angebot, Japan solle eine Gelegenheit erhalten, den Krieg zu beenden, kamen die Teilnehmer der Potsdamer Konferenz letztlich nicht nach. Zwar waren sowohl Stalin als auch Truman über die Friedensfühler der Japaner informiert; der sowjetische Diktator weihte Truman in Potsdam persönlich in die Tokioter Avancen ein32 • Und da die Amerikaner die Geheimcodes der Japaner entschlüsselt hatten, waren sie ohnehin über die innerjapanischen Überlegungen im Bilde. Gleichwohl ließen beide Staatsmänner die Chance ungenutzt, die japanischen Fühler zumindest auszuloten, sondern handelten das Thema geradezu betont beiläufig während einer Verhandlungspause auf dem Cecilienhof ab 33 • Der Kalte Krieg warf bereits seine Schatten über Potsdam, und sowohl Stalin als auch Truman waren entschlossen, sich ihre jeweiligen Nachkriegsplanungen in Fernost nicht durch japanische Friedensmanöver durcheinanderbringen zu lassen. Doch mit ihrer verspäteten Konzession an den japanischen Friedensflügel in Form der Byrnes-Note wichen die USA imgrunde von der Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Japans ab, die sie seit dem alliierten Treffen von Casablanca 1943 immer wieder wiederholt hatten. Auf diese Weise widerlegten sie zugleich die eigene Rechtfertigung für die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki. Dies sollte sich später auch an der widersprüchliche Besatzungspolitik der Amerikaner in Japan zeigen. Sieht man einmal von der Forderung nach begingungsloser Kapitulation sowie der Drohung mit der Verwüstung des japanischen Kaiserreiches ab, nahmen imgrunde schon die versöhnlichen Passagen der Potsdamer Erklärung das spätere wohlwollende amerikanische Besatzungsregiment vorweg 34 • Nachdem der Tenno auf amerikanischen Druck hin seiner Göttlichkeit entsagt hatte, beließen ihn die Besatzer im Zuge der 1946 verkündeten Verfassung 32

Vgl. TB v. 18. Juli, S. 53.

33 Vgl. auch Truman, Harry S.: Year of Decision, New York 1965, Bd. I, S. 437 (=Taschenbuchausausgabe des Originals v. 1955).

,. So z.B. Abs. 9, 10, 11, 12, vgl. Lu, S. 173f. Zu den amerikanischen Besatzungsplänen während des Krieges: Ward. Robert E.: Presurrender Planning. Treatment ofthe Emperor and Constitutional Changes. In: Ders.; Sakamoto. Yoshikazu (Hrsg.): Democratizing Japan. The Allied Occupation. Honolulu 1987, S. 1-41.

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als sogenanntes "Symbol" des japanischen Volkes auf dem Chrysamthemen1hron. Als Hauptschuldigen setzten sie im Tokioter Kriegsverbrecherprozeß (1946 bis 1948) die japanischen Militärs auf die Anklagebank. Dagegen blieben die Verantwortlichen aus Bürokratie und Wirtschaft von Säuberungsmaßnahmen weitgehend verschont; sie konnten sich fortan dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des Inselreiches zuwenden35. Im Gegenzug für die wohlwollende Behandlung gaben sich die japanischen Eliten als "gute Verlierer,,36. Nun war es der amerikanische Besatzungsgeneral Douglas MacArthur, der sich nach dem Vorbild früherer Militärshogune den Tenno politisch nutzbar machte. An die Stelle des Schicksalskampfes zwischen den asiatischen "Habenichtsen" und den "dekadenten" Angelsachsen war nun das gleichsam konfuzianische Verhältnis zwischen fürsorglichem amerikanischen Lehrmeister und kindlich ergebenem Verbündeten gerückt. Angesichts des beginnenden Kalten Krieges brachen die Amerikaner ihr gigantisches pädagogisches Experiment jedoch 1947/48 ab: Statt des von Roosevelts "New Deal" beeinflußten linken Reformeifers prägte für den Rest der Besatzungszeit das Bündnis mit Japans konservativen Kräften die amerikanische Politik37 . Den Besiegten wurde überhastet die demokratische Reife zugesprochen. Einer eingehenden Auseinandersetzung mit ihrer Kriegsverantwortung wurden die Japaner auf diese Weise enthoben38. Mit dem in Potsdam besiegelten Einsatz der Atombombe hatten die Sieger ohnehin in letzter Minute dafür gesorgt, daß sich die Japaner nach 1945 weniger als Täter, sondern eher als Opfer des Pazifischen Krieges sehen sollten39 . 35 Nakai, Akio: Die ''Enbnilitarisierung'' Japans und die "Entnazifizierung" Deutschlands nacb 1945 im Vergleich. In: Beiträge zur Konfliktforschung 18 (1988), Heft 2, S. 5-21; Minear, Richard H.: Victor's Justice. The Tokyo War Crimes Trial. Princeton 1971; Baerwald, Hans H.: The Purge of Japanese Leaders under Occupation. Berkeley 1959.

"Japans Nachkriegs-Premier Yoshida Shigeru, zit. n. Dower, S. 305. 37 Japan erhielt seine Souveränität im Zuge des Friedensvertrags von San Francisco und des USjapanischen Sicherheitsvertrags von 1951 zwilck. - Die Wende in der Besatzungspolitik, die sich u.a. in der Säuberung linker Beamter und Gewerkschafter auswirkte, vollzogen die Amerikaner bereits vor dem Ausbruch des Koreakriegs 1950.

3' Selbst im Gedenkjahr 1995 konnten sich Japans Koalitionsparteien, Sozialisten und Liberaldemokraten, erst nach wochenlangem Streit auf eine gemeinsame Parlamentsresolution zum "50. Jahrestag des Kriegsendes" einigen. Diese bringt zwar ein allgemeines Bedauern tiber den japanischen "Aggressionskrieg" zum Ausdruck, enthält jedoch keine Entschuldung gegentiber den ostasiatischen Nachbam. (Wort!autnach "Nihon Keizai Shinbun" v. 7.6.1995, S. 1). Zur Weigerung der Japaner, sich kritisch mit ihrer Verantwortung für den Pazifischen Krieg auseinanderzusetzen, s. aus journalistischer Perspektive: Buruma, lan: Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. Mtinchen, Wien 1994. 39 Zum ausgeprägten japanischen Opferbewußtsein s. Iwamatsu, Shigetoshi: Hankaku to sensö sekinin. "Higaisha" Nihon to "kagaisha" Nihon. Tökyö 1982.

IV. Sicherheitspolitische Aspekte

Militärfragen auf der Potsdamer Konferenz Von Olaf Groehler t Im Gegensatz zu den Konferenzen von Teheran und Jalta, wo die Regierungsoberhäupter der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion den militärischen Fragen beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet und gemeinsame Beratungen mit ihren militärischen Oberbefehlshabern durchgeführt hatten, spielten militärische Fragen auf der Konferenz von Potsdam auf den ersten Blick keine entscheidende Rolle. Jedenfalls verzichteten sowohl Truman, Churchill bzw. Attlee als auch Stalin darauf, gemeinsame Konferenzen mit ihren führenden Militärs durchzuführen. Das dokumentierte bereits deutlich die Zusammensetzung der sowjetischen Delegation. Während die amerikanische und britische Delegation mit einem großen Aufgebot von Spitzenmilitärs in Potsdam-Babelsberg erschienen, darunter die jeweiligen Oberbefehlshaber der drei Teilstreitkräfte George MarshalI, Ernest King und Henry Arnold bzw. auf britischer Seite Alan Brooke, Charles Portal und Andrew Cunnigham, folgte die Auswahl der sowjetischen Militärdelegation mehr dem Prinzip, einige wenige Militärs zu integrieren und keineswegs eine repräsentative Vertretung der führenden Militärs anzustreben. Der wichtigste Partner auf sowjetischer Seite war der Chef des Generalstabes der Roten Armee, Antonow, und der Chef des Stabes der Luftstreitkräfte, Fallalejew, der indes nicht einmal in der offiziellen Liste der sowjetischen Delegationsteilnehmer aufgeführt wurde. Demgegenüber waren zwar zwei Marinevertreter anwesend, der Volkskommissar für die Seekriegsflotte, Kusnezow, und sein Stabschef Kutscherow, die indes angesichts des begrenzten sowjetischen Marinepotentials im Fernen Osten eher eine marginale Rolle spielten. I Der scheinbar geminderten Rolle der Militärs auf der Potsdamer Konferenz unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa entsprach die 1 Siehe die Aufstellung der Delegationen laut Mitteilung über die Berliner Konferenz der drei Mächte vom 2. August 1945 in: Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 1945, Bd. 6, Die Potsdamer (Berliner) Konferenz der höchsten Repräsentanten der drei alliierten Mächte - UdSSR, USA und Großbritannien (17. Juli - 2. August 1945). Dokumentensammlung, Moskau - Berlin 1986, S. 413 - 415.

13·

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dürre Formulierung des Abschlußkommuniques, in dem es lakonisch hieß: "Während der Konferenz fanden Begegnungen zwischen den Stabschefs der drei Regierungen über militärische Fragen gemeinsamen Interesses statt".2 Genauer gesagt: Während der Konferenz traten die amerikanischen Joint Chiefs of Staff zu 7 Sitzungen zusammen. Das waren aufflHlig weniger Zusammenkünfte, als sie die Diplomaten zu absolvieren hatten. So konnten es sich die Militärs auch leisten, strikt die Sonntagsruhe einzuhalten. Bereits am 27. Juli verließen King und Arnold die Konferenz. Achtmal traten die amerikanischen und britischen Stabschefs zu gemeinsamen Sitzungen im Rahmen der Combined Chiefs of Staff zusammen, die stets am Nachmittag stattfanden, nachdem sich die Amerikaner am jeweiligen Vormittag über ihr eigenes Vorgehen abgestimmt hatten. Es fand eine Sitzung der Stabschefs aller drei Mächte statt sowie eine separate Begegnung zwischen den sowjetischen und amerikanischen Militärs am 26. Juli im Schloß Cecilienhof. Ferner traten die britischen und amerikanischen Stabschefs am 24. Juli zu einer Besprechung mit Churchill und Truman zusammen. Wie schon gesagt, war das Arbeitsprogramm der Militärs somit ungleich bescheidener als das der Diplomaten und Wirtschaftsexperten auf der Potsdamer Konferenz. Faktisch beendeten die Militärs ihre Tätigkeit auch fast eine Woche früher als die gesamten übrigen Konferenzteilnehmer. Ab 27. Juli spielten militärische Fragen im engeren Sinne auf der Potsdamer Konferenz keine Rolle mehr. Durchmustert man die Besprechungen der Militärs, so ergibt sich eine klare zeitliche Ablauffolge: die erste Phase der Militärverhandlungen war von einem britisch-amerikanischen Dialog geprägt, die zweite wurde von den Verhandlungen zwischen den amerikanischen und sowjetischen Militärs bestimmt. Hauptgegenstand aller Militärbesprechungen war die Fortführung und rasche Beendigung des Krieges gegen Japan. Jedoch standen hinter diesen vordergründigen militärischen Erörterungen naturgemäß politische Grundsatzentscheidungen. In sie flossen nicht nur die Erfahrungen seit der Beendigung des Krieges in Europa ein, sondern sie zielten auch darauf ab, über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus gehende militärpolitische Festlegungen zu treffen, für die in Potsdam.mindestens die Weichen gestellt werden sollten. Insofern scheint die Bedeutung des britisch-amerikanischen Militärdialogs von der Forschung zu Unrecht durch den heraufziehenden weltpolitischen Gegensatz USA - Sowjetunion in den Schatten gedrängt worden zu sein.

2 Ebenda.

S. 413.

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Das britische Militärkonzept, das bereits im Vorfeld der Potsdamer Konferenz entwickelt worden war und der intensiven Diskussion innerhalb der politischen Klasse Großbritanniens über künftige Fragen der Militär- und Sicherheitspolitik Ausdruck verlieh3, läßt sich auf folgende Hauptpunkte bringen: Die britischen Militärs und Politiker gehörten zu den eloquentesten Befürwortern einer Modifikation der Kapitulationsbedingungen gegenüber Japan, namentlich im Hinblick auf eine flexible Haltung gegenüber der japanischen Forderung nach Erhalt der Dynastie. Sowohl Feldmarschall Brooke als auch Churchill regten bei ihrem amerikanischen Partner wiederholt an, ihre bisherige Kompromißlosigkeit zu überdenken, in erster Linie wohl deshalb, um so den unberechenbaren Konsequenzen eines sowjetischen Kriegseintriues im Fernen Osten die Spitze zu nehmen. 4 Viel Hoffnung indes setzte man nicht darauf, denn das zweite britische Hauptanliegen bestand darin, von den USA einerseits eine stärkere Beteiligung an den Endkämpfen auf den japanischen Hauptinseln einzufordern, der wenigstens mit drei bis fünf Divisionen symbolisch den britischen Kriegsanteil unterstreichen sollte, andererseits eine Aufhebung der bisherigen militärischen und damit auch politischen Trennungslinien in Südostasien anzustreben. Der Hauptzweck dieses Unterfangens bestand darin, daß wesentlich die ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich und die Niederlande ihre einstigen Besitzungen von den Japanern einnehmen sollten. s Darüber hinaus jedoch verlangte Großbritannien, überhaupt größeres Mitspracherecht an den strategischen Entscheidungen des Fernostkrieges zu erhalten, entsprechend britischem Selbstverständnis als Großmacht. Dahinter stand aber zugleich auch die Erwägung, wie sie besonders deutlich im Memorandum der Britischen Chiefs of Staffvom 15. Juli 1945 ausgesprochen wurde, die während des Krieges gewachsene gemeinsame Organisation der Combined Chiefs of Staff auch nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges aufrechtzuerhalten. Die Aufrechterhaltung derartiger britisch - amerikanischer Sonderbeziehungen setzte nach britischer Auffassung zugleich Distanz und Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion voraus 6• Das amerikanische Oberkommando, dessen Streitkräfte die Hauptlast im Kriege gegen Japan trugen, verhielt sich gegenüber den britischen Vorschlägen einerseits flexibel, 3 Vgl. lulian Lewis, Changing Direetion. British Military Planning for Post-war Strategie Defenee, 1942 - 1947, London 1988, S. 98 ff.

• lohn Ehrman, Grand Strategy, Vol.VI Oetober 1944 - August 1945, London 1956, S. 302/303 und Foreign Relations of the United States. Diplomatie Papers. The Conferenee of Berlin (The Potsdam Conferenee) 1945 (in Two Volumes), VoIlI, Washington 1960, S. 36/37. 5 Ehrman,

a.a.O., S. 252 ff.

• FRUS, vol. I, S. 825.

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andererseits wie eine unumstrittene Führungsrnacht. Hatte bis Ende 1944 bei den amerikanischen Militärs die Überzeugung dominiert, nur im äußersten begründeten Notfall ein stärkeres britisches Engagement im Femen Osten zuzulassen7 , so gestanden die amerikanischen Militärs nunmehr den Briten sowohl eine Veränderung der Operationszonen zu, was Mountbattan sowohl die Eroberung von Indochina, von Malaya, Hongkong und Niederländisch-Ostindien ennöglichte, und stimmten auch einer symbolischen Beteiligung britischer Streitkräfte am Endkampf gegen Japan zu. Zugleich machten sie aber mit aller Entschiedenheit deutlich, daß sie im Femen Osten an keinem vereinten Oberkommando interessiert waren, sich jeweilige Entscheidungsfreiheit vorbehielten, die britischen Militärs zwar infonnieren würden, aber ihre Entscheidungen aus eigener Machtvollkommenheit und eigener Lagebeurteilung treffen würden, ungeachtet britischer Zustimmung oder Ablehnung. Churchill sah sich nach dem Scheitern aller seiner Bemühungen, schon während des Krieges eine über den Krieg hinausreichende Militärorganisation zementieren zu können, am 24. Juli 1945 zu der resignierenden Feststellung genötigt: "What was good enough for the United States would certainly be good enough for the British. ,,8 Es waren - wie Feldmarschall Brooke notierte - Brosamen für England, die vom reichgedeckten amerikanischen Tisch für sie abfielen. 9 Dieselbe Entschlossenheit legte das amerikanische Oberkommando auch in der Frage amerikanisch - sowjetischer Zusammenarbeit im Fernostkrieg an den Tag. Einerseits versuchten die Briten analog der Vereinbarung auf dem europäischen Kriegsschauplatz die Amerikaner auf den Grundsatz zu verpflichten, daß gegenüber der Roten Armee nur ein koordiniertes Vorgehen in Frage käme, was von US-Seite glatt abgelehnt wurde, und nur ein sehr spärlicher Austausch gegenseitiger Militär- und Geheimdienstinfonnationen stattfinden sollte, was ebenfalls auf völlig amerikanische Ablehnung stieß, die sich für einen wesentlich großzügigeren Infonnationsfluß aussprachen, ohne strikte Beachtung des Prinzips der Gegenseitigkeit. Auch hier betonten Marshall und King das Recht auf restlose eigene Entscheidungsfreiheit. 10 Intern kritisierte man die englische Initiative als Anmaßung, als den Versuch, eine Art Vonnundschaft zu beanspruche~, um so eine unan-

1 Maurice Matloff, United States Anny in World War 11, The War Department, Strategie Planning for CoaJition Warfare, Washington 1959, S. 496.

I

FRUS, vol. 11, S. 344.

9

David Fraser, Alanbrooke, London 1982, S. 498.

10

FRUS, vol. 11, S. 114.

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gemessene Position in der strategischen Entscheidungsfindung zu erklimmen. 11 In der Haltung der amerikanischen Militärs dokumentierte sich auf der einen Seite eindrucksvoll das gewachsene Selbstbewußtsein der Militärs, das bis zur Arroganz der Macht neigte, auf der anderen Seite eine hohe Flexibilität, die zumindest zum Zeitpunkt der Konferenz von Potsdam noch jede einseitige Fixierung auf einen Bündnispartner strikt vermeiden wollte. Dies fand seinen deutlichen Ausdruck bei der gemeinsamen Tagung der Stabschefs der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion am 24. Juli 1945. Dominiert wurde die Beratung von Marshall und Antonow, während die britischen Militärs nur eine beiläufige Statistenrolle neben den amerikanischen und russischen Militärs spielten, die zwar höflich die britischen Erklärungen zur Kenntnis nahmen, aber keiner Diskussion für würdig befanden. 12 Hier zeichnete sich auch auf dem militärischen Sektor ab, daß sich nur die Generale zweier Mächte als weltpolitische Entscheidungsträger empfanden. Dem entsprach, daß die zweite Militärbesprechung, an der Generale der Roten Armee teilnahmen, unter Ausschluß der britischen Stabschefs am 24. Juli 1945 nur als amerikanisch-sowjetischer Dialog stattfand. Auch das Klima der amerikanisch-sowjetischen Militärverhandlungen war in Potsdam ein völlig anderes als noch in Jalta. War auf der Krim - nach jahrelangem, ergebnislosen Drängen der USA - die Bereitschaftserklärung Stalins, drei Manate nach Beendigung des Krieges in Europa in den Krieg gegen Japan einzutreten von amerikanischer Seite als großer rnilitärpolitischer Erfolg gewertet worden, den sich Stalin territorial auf Kosten Japans und einflußmäßig auf Kosten Chinas teuer abkaufen ließ, so hatten sich unter dem Einfluß der erfolgreichen Kriegsführung im Pazifik, der See- und Luftblockade Japans und der schweren Luftbombardements gegen die japanische Kriegsindustrie und die japanischen Großstädte, vor allem aber das Wissen um die absehbare Verfügbarkeit der Atombombe die Ansichten um den Wert des sowjetischen Kriegseintrittes gewandelt. Ein Teil der amerikanischen Generalität, angeführt besonders von Heeresgeneralen, an ihrer Spitze George Marshall, hielt ungeachtet aller Differenzierungen an der Ansicht fest, daß ein sowjetischer Kriegseintritt den amerikanischen Sieg über Japan wesentlich befördern, vor allem aber verlustsparender gestalten würde. Die Generale der Air Force schwankten in ihrer Auffassung, während der Oberbefehlshaber der amerikanischen Seestreitkräfte, Ernest King bereits am 18. Juni 1945 in einer Besprechung der Joint Chiefs of Staff erklärte, daß ein russischer Kriegseintritt zwar nach wie vor wünschenswert, aber nicht eine unabdingbare Vorausset11

Ebenda. S. 100.

12

Ebenda. S. 344 - 353.

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zung zur Niederringung Japans sei, der deshalb auch politisch nicht zu hoch bezahlt werden sollte. 13 Der gemeinsamen Auffassung der Militärs schloß sich am 18. Juni 1945 Präsident Truman an. Er erklärte, daß es einer seiner Ziele auf der kommenden Konferenz sein werde, von Rußland alle Unterstützung im Krieg gegen Japan zu erhalten, die möglich ist. 14 Nachdem der Testversuch der ersten Kernwaffe am 16. Juli 1945 in Alamogordo erfolgreich verlaufen war, erhielten jene Skeptiker eines sowjetischen Kriegseintritts wie King, Marineminister Forresta1, Admiral Leahy oder Air Force General Eaker Auftrieb, die den Wert des sowjetischen Kriegseintrittes gegen Japan nun noch stärker in Zweifel zogen. Auf der ersten Sitzung der amerikanischen Stabschefs in Babelsberg am 16. Juli gab deshalb Admiral Leahy die Losung aus, hinsichtlich des sowjetischen Kriegseintrittes in Fernost sollten die Russen auf die Amerikaner zukommen und initiativ werden. ls Dies stellte eine völlige Abkehr der bisherigen amerikanischen Strategie dar, die bislang über Jahre vergeblich gedrängt hatte, von sowjetischer Seite - aus durchaus einsichtigen Gründen - immer wieder hingehalten worden war, die aber auch seit der Konferenz von Jalta keinerlei ernsthafte Bemühungen an den Tag gelegt hatte, den amerikanischen Wünschen nach konkreten Vorbereitungen in irgendeiner Weise entgegenzukommen. Die Gewichtsverschiebung in Potsdam war ganz offensichtlich. War ursprünglich aus amerikanischer Sicht der sowjetische Kriegseintritt als eine conditio sine qua non für die Beendigung des Krieges im PazifJk angesehen worden, so figurierte ein sowjetischer Kriegseintritt nunmehr als ein gewichtiger Faktor unter vielen, der den Krieg abkürzen und amerikanische Verluste mindern könnte. So es eine amerikanische Hauptsorge über die Fortsetzung des japanischen Widerstandes gab, so resultierte sie aus der Furcht vor einer Verselbständigung der japanischen Militärkaste, die in China und Nordostchina den Krieg auch dann fortsetzen könnte, wenn das Mutterland bereits kapituliert hätte, was den Krieg im Femen Osten zeitlich erheblich verlängert hätte. 16 Auf sowjetrussischer Seite sind nach bisheriger Kenntnis die ersten effektiven Maßnahmen zur Vorbereitung des Kriegsschauplatzes Fernost seit April 1945 getroffen worden. Ende Juni wurden die generalstabsmäßigen Vorbereitungen abgeschlossen.1 7 Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Sowjetrußland "FRUS. vol. I, S. 910. '< Ebenda, S. 909. ,S FRUS, vol. 11. S. 31. '6 John R. Deane, The Strange Alliance. The Story of the American Efforts at Wartime Cooperation with Russia, London 1947, S. 238. 17

S. M. Schtemenko, Im Generalstab, Berlin 1969, S. 346 ff.

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so oder so in den Krieg gegen Japan eingegriffen hätte. Die Auskünfte über die Antrittsbereitschaft der Roten Armee differierten. Stalin sprach am ersten Tag der Konferenz von Potsdam von Mitte August J8 , General Antonow dagegen am 24. Juli 1945 von Ende August. 19 Bezeichnend ist, daß der für die Koordinierung der sowjetischen Operationen im Femen Osten verantwortliche Marschall Wassilewski am 16. Juli 1945 von Stalin aus Potsdam angerufen wurde. Stalin wollte von Wassilewski erfahren, ob man die Operation schon zehn Tage früher beginnen könnte, was Wassilewski für unmöglich erklärte. "Warum er diese Frage vor Konferenzbeginn gestellt hat," so Wassilewski, "sagte er mir damals nicht. Am 16. Juli also, als Stalin anrief, konnte er noch nicht wissen, daß wenige Stunden zuvor in Los Alamos die Dicke (Deckname der Bombe) detoniert war. Vermutlich ließ er sich von allgemeinen militärischen und politischen Überlegungen leiten."2o Wenn wir indes heute wissen, daß die sowjetischen Physiker im Atornlaboratorium Nr. 2 bereits innerhalb von 24 Stunden die Nachricht von der Zündung der ersten amerikanischen Atombombe erreichte 21 und von der Monopolisierung der sowjetischen Informationen ausgehen, kann wohl eher davon ausgegangen werden, daß der Anruf Stalins aus Potsdam durchaus in erster Kenntnis des amerikanischen Tests erfolgte. Daraus würde sich auch durchaus die sowjetische Verhaltens strategie in Potsdam erklären lassen, die zum Erstaunen und zur Verblüffung des langjährigen Chefs der amerikanischen Verbindungskommission in Moskau, General Deane, erstmals restlos auf alle amerikanischen Forderungen nicht nur verbal einging, sondern in kürzester Zeit auch restlos einlöste. 22 Aus Stalins Sicht fand offenbar ein Wettlauf zwischen dem sowjetischen Kriegseintritt und dem Abwurf der ersten Atombombe über Japan statt. Es kann wohl kaum bezweifelt werden, daß die sowjetische Absicht darauf hinauslief, vor dem ersten Abwurf einer Kernwaffe in den Krieg gegen Japan einzutreten. Zu bedenken ist ferner, daß aus Stalins Sicht die gesamten Verhandlungen bis zum 24. Juli 1945 durchaus in Kenntnis darüber geführt wurden, daß auf amerikanischer Seite ein neues Waffensystem zum Einsatz kommen würde, das hartnäckig vor ihm geheimgehalten wurde. Dies erklärt auch das über Jahrzehnte mystifizierte Verhalten Stalins am Mittag des 24. Juli 1945 auf die eher beiläufige Mitteilung Trumans, daß die USA sich im Besitz einer

11

Die Potsdamer (Berliner) Konferenz, a.a.o., S. 38. FRUS, vol. 11, S. 45.

. " FRUS, vol. 11, S. 345. 20

A.M. Wassilewski. Sache des ganzen Lebens, Berlin 1977. S. 511.

21

Andreas Heinemann-GrÜder. Die sowjetische Atombombe, Münster 1992. S. 74.

22

Deane. a.a.O., S. 275.

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neuen Waffe befinden. 23 Stalin mußte keine Überraschung unterdrücken, da er offenbar selbst längst in Kenntnis dieses Geheimnisses war. Seine Reaktionen gegenüber Molotow, denen Shukow als Zeuge beiwohnte, wie auch sein nächtliches Telegramm an Berija, die sowjetische Atomforschung nunmehr zu beschleunigen, wie auch sein Mitte August 1945 mit Munitionsminister Wannikow und Professor Kurtschatow geführtes Gespräch: "Das Gleichgewicht ist gestört. Stellen Sie die Bombe her - sie wird eine große Gefahr von uns nehmen,,24 bezeugen, daß Stalin durchaus die Bedeutung der Mitteilung Trumans verstand, im Interesse der Weiterverfolgung sowjetischer Fernostpolitik jedoch so tat, als ob er deren Bedeutung nicht voll erfaßt hätte. Für die Haltung der sowjetischen Militärdelegation blieb das Truman-StalinGespräch jedoch keineswegs folgenlos. Hatte General Antonow einen sowjetischen Kriegseintritt in der Militärbesprechung am 24. Juli 1945 noch von einer Reihe durch die Amerikaner zu schaffender Voraussetzungen abhängig machen wollen, insbesondere was amerikanische Zufuhren und einen amerikanischen Flotteneinsatz an den sowjetischen Küsten betraf, so trat er am 25. Juli 1945 mit einem völlig veränderten Konzept den amerikanischen Stabschefs gegenüber, die zur Klärung des sowjetischen Kriegseintrittes am 24. Juli ultimativ die Beantwortung von fünf Fragen verlangt hatten, nämlich hinsichtlich der Einrichtung zweier amerikanischer Wetterstationen auf sowjetischem Territorium, der Festlegung von Operationenzonen der See- und Luftstreitkräfte bis hinein in sowjetisches Hoheitsgebiet, der Einrichtung eines Verbindungsstabes zwischen dem US~ und sowjetischen Oberkommando in Fernost sowie schließlich der Nutzung sowjetischer Luft- und Seebasen in Fernost für Reparaturen, medizinische Zwecke USW. 25 Bislang waren derartigen Vereinbarungen langwierige Prozeduren der Realisierung gefolgt, am 26. Juli 1945 stimmte Antonow - nach kurzem Widerstand - restlos allen amerikanischen Forderungen zu. Verständlich war diese sowjetische Reaktion nur mit Blick darauf, daß im Wissen um die amerikanische Atombombe den USA nicht der geringste Anlaß gegeben werden sollte, einen 13 Harry S. Truman, Memoiren, Bd. I, Das Jahr der Entscheidungen (1945), Stuttgart 1955, S. 416, farnes F.Byrnes, Speaking Frankly, New York 1947, S. 263, Williarn D. Leahy, I was there. The Personal Story of the Chief of Staff to Presidents Roosevelt and Truman. Based on His Notes and Diaries Made atthe Time, New Yorlc 1950, W. Averell Harrirnan / Elie Abel, In geheimer Mission. Als Sonderbeauftragter Rooseve1ts bei Churchill und Stalin 1941 -1946, Stuttgart 1979, S. 381.

,. David Holloway, Entering the Nuclear Arms Race: The Soviet Decision to Build the Atomic Bomb, 1933 - 1945 in: Social Studies ofScience, Heft 11/1981, S. 183, G.K. Shukow, Erinnerungen und Gedanken, Bd. 2, Berlin 1969,S. 371, Allan Bullock, Hitler und Stalin, Parallele Leben, Berlin 1991, S. 1173, Dmitri Wo/kogonow, Stalin. Triumph, und Tragödie. Ein politisches Porträt, Düsseldorf 1989, S. 671. 15

FRUS, vol.I1, S. 408 - 417.

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sowjetischen Kriegseintritt im letzten Augenblick zu verzögern. In der sowjetischen Literatur wie auch in den einschlägigen Dokumentenveröffentlichungen ist der Ablauf der sowjetisch-amerikanischen Militärverhandlungen in Potsdam nicht dokumentiert worden, nicht zuletzt im Hinblick darauf, um an der Fiktion der kriegsentscheidenden Rolle der Sowjetunion auch im Fernen Osten festzuhalten. Da die Thematik meines Beitrages sich auf die militärischen Verhandlungen in Potsdam beschränken will, würde es zu weit führen, den atomaren Komplex mit seinen Folgewirkungen hier weiter auszuführen. Im Hintergrund aller militärpolitischen Entscheidungen der USA stand indessen der am 24. Juli 1945 von Präsident Truman gegebene Befehl, ab 3. August 1945 - also einen Tag nach Beendigung der Konferenz von Potsdam - die erste Atombombe zum Einsatz gegen Japan zu bringen und zwar sowohl als ein Mittel, um den Krieg gegen Japan abzukürzen, wie auch als ein Instrument, mit dem ein politisch-strategisches Ziel verfolgt wurde, das außerhalb Japans lag, nämlich die Sowjetunion mit der Vernichtungswirkung der Atombombe zu beeindrucken und sowjetische Entscheidungen in Asien und besonders in Europa im Sinne der Westalliierten zu beeinflussen. Unter diesem Blickwinkel kann über die amerikanisch-sowjetischen Militärverhandlungen in Potsdam geurteilt werden, daß die Szenerie der Tagungen einen Rauchvorhang vor die Tatsache zog, daß beide Seiten in einen untergründigen Wettlauf darüber eingetreten waren, wer zuerst seine Waffen gegen Japan zum Einsatz bringen würde. Japan war nicht mehr Hauptobjekt, sondern Subjekt geworden, auf dessen Kosten und Schultern bereits Auseinandersetzungen weltpolitischen Formats ausgetragen wurden. Faßt man die Ergebnisse der Militärverhandlungen in Potsdam zusammen, so sind sie meines Erachtens von folgenden Faktoren bestimmt: 1. Großbritannien verlor de facto in Potsdam seine Rolle als eine militärische Führungsmacht, einerseits aufgrund seines begrenzten militärischen Potentials, andererseits bereits im Schlepptau amerikanischer Atompolitik. Ganz eindeutig zeichneten sich die neue militärische Weltmachtstellung vor allem der USA, aber nach Eintritt der UdSSR in den Fernostkrieg, auch die der Sowjetunion ab. Das militärische Kräfteverhältnis, das über Jahrzehnte die Weltpolitik bestimmen sollte, gewann in Potsdam eindeutig an Konturen. 2. Ungeachtet dessen bedeutete Potsdam in militärpolitischer Hinsicht noch keineswegs den Zerfall des Antihitlerbündnisses und die Entstehung zweier militärischer Blöcke. Nach wie vor hielt man sich namentlich auf amerikanischer Seite, unterstellt wohl auch für die sowjetische Seite, zwei Optionen offen: die der bedingten Kooperation und die der Konfrontation. Meines Erachtens fiel die

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Entscheidung zugunsten der Konfrontation erst im Ergebnis wachsender Differenzen in Europa zu einem späteren Zeitpunkt. 3. Die amerikanische Annahme, die Sowjetunion mittels der absoluten Waffe, der Atombombe, gefügig für politische Kompromisse machen zu können, mußte angesichts des wissensmäßigen Vorlaufs der Sowjetunion über Stand und Ergebnisse der amerikanischen Atomforschung sowie der sowjetischen Hochrechnungen über den Zeitpunkt, eine atomare Parität mit den USA erreichen zu können, von vornherein als gescheitert angesehen werden. Für die UdSSR bedeutete das amerikanische Atombombenmonopol im Sommer 1945 durchaus keine Überraschung, sondern war offensichtlich ein Faktor, der seit langem einkalkuliert worden war. Eine Überraschung aus sowjetischer Sicht konnte höchstens der frühe Zeitpunkt des Ersteinsatzes einer Kernwaffe gegen Japan am 6. August sein. Das zeitweilige amerikanische Kernwaffenmonopol schien zwar vorübergehend das militärische Kräfteverhältnis zugunsten der Westalliierten zu verändern, langfristig jedoch - wie schon im Herst 1945 in den USA und im Frühjahr 1946 in Großbritannien realistischerweise analysiert - geriet das bisherige militärische Kräfteverhältnis endgültig aus den Fugen, wenn es auch der Sowjetunion gelang, was man allerdings für viele Jahre für ausgeschlossen hielt, in den Kreis der Atombombenmächte einzudringen. Insofern beinhaltete der militärpolitische Hintergrund der Konferenz von Potsdam auch die Öffnung der Büchse der Pandora, an der die Weltgemeinschaft über fast fünf Jahrzehnte kranken sollte, weil sie ein neues Kapitel im Rüstungswettlauf der Großmächte aufschlug, das die Welt an den Abgrund ihrer Selbstvernichtung stoßen konnte.

Die sicherheitspolitischen Aspekte der Potsdamer Konferenz Von Fran'toise Sirjacques-Manfrass Die Potsdamer Konferenz war eine Etappe im Prozeß des AuseinandeITÜckens der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, der schon früher begonnen hatte und unübersehbar war. Doch gleichzeitig stellte die Potsdamer Konferenz auch eine Wende dar. Die latenten Konflikte spitzten sich zu, die Entscheidungen skizzierten die Konturen einer neuen Weltordnung, die eine definitive Zäsur bedeutete. Und sie bedeutete eine doppelte Zäsur. Es war die Zäsur mit dem Mächtesystem der Vorkriegszeit. Europa verlor seine Vormachtstellung in der Welt. Anstelle des europäischen Staatensystems und des europäischen Gleichgewichts tritt nun ein globales Gleichgewicht, das von den zu Weltführungsmächten avancierten bisherigen Randmächten, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, bestimmt wird und dessen Machtgesetz sich Europa nolens volens zu unterwerfen hat. Im Lager der Sieger und in dem der Besiegten sind die europäischen Nationalstaaten nicht mehr in der Lage, die internationale Politik als eigenständige Faktoren zu bestimmen. Das besiegte Deutschland wird für Jahrzehnte mehr zum Objekt als zum Subjekt der Weltpolitik. Großbritannien möchte zwar zur alten Gleichgewichtspolitik zurückkehren, kann aber nur in Anlehnung an die USA seine Interessen vertreten. Frankreich sucht wiederum vergeblich, sich durch eine hinhaltende Obstruktionspolitik Gehör zu verschaffen. Doch die europäische Machtposition befindet sich bereits im Zustand der Auslöschung. Es war aber auch eine Zäsur mit jener One-World-Vorstellung, die nicht zuletzt der amerikanische Präsident gehegt hatte, mit einer neuen Weltordnung, die den Frieden sichern und in der Charta von San Francisco ihren Niederschlag finden sollte. Wenn auch noch schemenhaft, so waren doch in Potsdam schon die Konturen einer bipolaren Weltordnung unverkennbar, die - wenn überhaupt - nur einen prekären, auf Waffengewalt gestützten Frieden zwischen zwei antagonistischen Lagern vorausahnen lassen konnte.

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Potsdam bedeutete also gleichzeitig Kontinuität und Zäsur. Es war die Kontinuität einer längst begonnenen Entwicklung der zunehmenden Interessendivergenzen innerhalb einer Koalition, deren Brüchigkeit bereits offenkundig wurde, weil ihr nun der Kitt, der sie zusammengehalten hatte, der gemeinsame Gegner fehlte. Zwar war während der Vorbereitungsphase der Konferenz der Krieg gegen Japan noch nicht zu Ende. Und nicht zuletzt deshalb drängten die Amerikaner, die die Hauptlast des Kriegs im Pazifik zu tragen hatten, zu einem Entgegenkommen gegenüber der Sowjetunion, weil sie sich im überaus verlustreichen Krieg gegen Japan eine gewisse Entlastung durch eine sowjetische Kriegserklärung an Japan erhofften. Doch abgesehen davon, daß die Sowjetunion hier keine Eile erkennen ließ, konnte Japan nicht die gleiche bindende Funktion in einer Koalition, die nicht umsonst "anti-Hitler-Koalition" hieß, erfüllen. Ohnehin ging es um Europa. Und es war eine entscheidende Zäsur, gleichsam die Wiege eines neuen Mächtesystems, die ihren Ausdruck im konfrontativen Streben zwischen dem sowjetischen Drang zum "weg von Jalta" und weg von den dort unter dem Zwang der Kriegsräson aktzeptierten Kompromißformel einerseits und dem Beharren der Westalliierten auf eine Rückkehr zu "Jalta" und seinen Vereinbarungen andererseits fand. Wenn aber die Kriegskoalition zu diesem Zeitpunkt bereits brüchig war, bedurfte es, damit die Konturen der bipolaren Weltordnung, die die sicherheitspolitische Konstellation von mehr als vier Jahrzehnten darstellen würde, erkennbar werden, zweier entscheidender Momente, die nicht voraussehrbar waren und von denen zumindest ein als in seiner Bedeutung und Tragweite kaum erkannter Rettungsversuch einer vom Scheitern bedrohten Konferenz ins Spiel gebracht wurde. Es waren die Teilung Europas und die Teilung Deutschlands. Und es waren diese beiden Momente, die trotz aller Unfertigkeit, gar Unverbindlichkeit - die Vereinbarungen von Potsdam waren ja kein internationaler Vertrag, sondern eine Zusammenfassung von Beschlüssen und Empfehlungen - die entscheidenden Schritte auf dem Weg zur Sicherheitsstruktur der Nachkriegszeit bildeten.

A. Die Teilung Europas Gewiß ist in Potsdam die europäische Teilung noch nicht vollzogen worden, sie kündigte sich aber unwiderruflich an. Sie ist in ihren großen Zügen bereits erkennbar und wird bereits an der sogenannten "Polenfrage" exemplifiziert, die zum Symbol des Zerfalls der west-östlichen Koalition wurde. Doch der Bruch der west-östlichen Koalition ist nicht Ursache der sich anbahnenden Spaltung Europas. Er ist nur Ausdruck dafür, daß die Spaltung kaum vermeidbar war, als nicht mehr die militärischen Zielsetzungen im Vordergund

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standen und die rivalisierenden Interessen überdeckten, sondern daß nun die politischen Interessen die Oberhand gewannen. Das Ende des Kriegs in Europa ermöglichte die Rückkehr zu machtpolitischen Kategorien, und am deutlichsten trat diese veränderte Interessenlage bei den sowjetischen Zielen hervor. Moskau verabschiedete sich in den von den sowjetischen Anneen eroberten Regionen Ostund Südosteuropas von einer Politik der Interessensphäre im traditionellen Sinne, die ihren legitimen Sicherheitsbedürfnissen hätte entsprechen können und strebte danach, Ost- und Südosteuropa in ein von der Sowjetunion abhängiges Vorfeld zu verwandeln. Ganz im Sinne seines Wortes gegenüber Milovan Djilas: "Wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein System ein, soweit seine Annee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein", fordert Stalin in Osteuropa - so H. Graml- ' nicht mehr "sowjetfreundliche" , sondern "moskauhörige" Regierungen. Die sicherheitspolitischen Interessen werden durch machtpolitische Bestrebungen ersetzt, die nun der sowjetischen Außenpolitik den Charakter einer Expansionspolitik verleihen, deren Zielsetzung die Kontrolle und die Gleichschaltung der Regierungen in den ost- und südosteuropäischen Staaten ist. Paradigmatisch für diese neuen machtpolitischen Bestrebungen der sowjetischen Außenpolitik war die Polenfrage. Ungeachtet des in Jalta erreichten Kompromisses, der die Einbeziehung nichtkommunistischer Exil-Polen in eine neue polnische Regierung vorsah, machte Stalin keine Anstalten, die polnische Regierung umzubilden. Die leidige Frage, an der die Potsdamer Konferenz schon zu scheitern drohte, endete zwar in einem neuen Kompromiß, der eine bescheidene Umbildung vorsah, an der Lage in Polen aber praktisch nichts änderte. Damit hatte man sich aber de facto von "Jalta" verabschiedet, und die "Deklaration über das befreite Europa", in der Stalin die Mitverantwortung der USA und Großbritanniens für Ost- und Südeuropa anerkannt hatte, drohte mithin zu Makulatur zu werden, zumal die Polenfrage auch im Hinblick auf die übrigen ost- und südosteuropäischen Staaten als "Testfall" Geltung besaß. Der Zusammenprall der sich immer noch an dem One-W orld-Konzept orientierenden pluralistischen politischen Vorstellungen der Anglo-Amerikaner in Bezug auf Ost- und Südosteuropa mit den auf die Herausbildung von quasi SatellitenStaaten in Ost- und Südosteuropa zielenden machtpolitischen Bestrebungen Stalins bedeutete nicht nur das Ende der ost-westlichen Kriegskoalition, es schaffte durch einen andauernden politischen Antagonismus die Grundlage des späteren OstWest-Gegensatzes. So wie Churchill an Stalin schrieb, war damit nicht nur die Entstehung zweier Lager unvermeidlich, sondern auch die Kollision beider Lager. Sicherheitspolitisch gesehen ist aber die Frage, ob die sich nun anbahnende euroI H. Gram!, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands, Konflikte und Entscheidungen. FrankfurtIMain. 1985. S. 79.

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päische Spaltung eine - gewiß auf Waffengewalt und später auf dem sog. "Gleichgewicht des Schreckens" beruhende - doch relativ stabile bipolare Weltordnung ankündigte oder ob die europäische Spaltung den Keim einer militärischen Konfrontation beinhaltete. Nicht allein in London, sondern auch in Washington bestand die Furcht, daß die Festigung sowjetischer Herrschaft in Osteuropa die Ausdehnung sowjetischen Einflusses und bald auch sowjetischer Macht bis zur europäischen Atlantikküste vorbereitet - schreibt H. Grame. Nicht zuletzt G. Kennan neigte dazu, in der sowjetischen Außenpolitik ein uferloses Machtstreben zu erkennen, das auf einem nicht zu saturierenden Expansionismus fußte. Doch orientierte sich tatsächlich Stalins Außenpolitik eher - um noch einmal mit H. Graml zu sprechen - an den Kategorien eines überkommenden russischen Imperialismus, und damit fand sie ihre "grundsätzliche Limitierung" auf "jene Regionen in Europa und im Fernen Osten, die bereits dem zaristischen Rußland als natürliche Objekte seines Zugriffs gegolten hatten,,3. So ließ er den Anglo-Amerikanern in Griechenland, Italien und Frankreich freie Hand. Seine Unterstützung der dortigen kommunistischen Parteien hielt sich durchaus in Grenzen, und ohnehin glaubte er kaum an einen revolutionären Umsturz außerhalb des sowjetischen Machtbereichs. Übrigens ging auch de Gaulle, als er in den 60-er Jahren sein europäisches "grand dessein" formulierte, von einer "saturierten" sowjetischen Macht aus. Zwar nährten auch der sowjetische Anspruch auf militärische Stützpunkte in der Türkei sowie das Eintreten Molotows für die jugoslawischen Ansprüche auf Triest und schließlich auch die Vorstellung Stalins, ein sowjetisches Mandat über eine italienische Kolonie in Nordafrika zu erhalten, den Verdacht eines sowjetischen Strebens nach einer Kontrolle über den ganzen Mittelmeerraum. Schließlich ließ aber Stalin seine Forderungen hinsichtlich der Türkei fallen und sagte grundsätzlich einen Abzug der sowjetischen Armee aus dem Iran zu, wenngleich die TriestFrage sowie die Frage der italienischen Kolonien noch offen blieben. Doch gleichzeitig nährte der politische Antagonismus das Mißtrauen auf beiden Seiten. Es mag sein, daß für Stalin Machtpolitik und Sicherheitspolitik identisch gewesen sind. Die Sowjetisierung Osteuropas mußte aber für die Westmächte einen bedrohlichen Charakter haben. Nach der deutschen bedingungslosen Kapitulation mußte die politische Gleichschaltung des sowjetischen Vorfeldes weniger als ein defensives sicherheitspolitisches Streben als die Herstellung eines Aufmarschgebiets für eine Expansionspolitik erscheinen. Wiederum vermochte Stalin das westliche Beharren auf Pluralismus in den Staaten des sowjetischen Vorfelds als 2

Ibid.

3

Ibid.

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Verneinung der sowjetischen Sicherheitsbedürfnisse, gar als Wiederauflage einer antibolschewistischen Interventionspolitik, zu empfinden. Wenngleich die in Potsdam eingeleitete Spaltung Europas nicht unbedingt in eine unmittelbare militärische Konfrontation münden sollte, führte der politische Antagonismus zweifelsohne dazu, daß die eigentlich nach dem gewonnenen Krieg fällige Abrüstung und der Abbau der militärischen Kapazitäten nun nicht mehr ratsam erschienen. Daraus und aus der Befürchtung, daß der politische Konflikt auch in eine militärische Konfrontation ausarten könnte, sollte sich bald der Rüstungswettlauf entwickeln, der auch zu den Grundstrukturen des "bewaffneten Friedens" der europäischen Nachkriegsordnung zählen würde. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Ost-West-Gegensatz, dessen Weichen in Potsdam gestellt wurden, nicht durch eine Entscheidung verschärft wurde, die zunächst als Rettungsanker einer vom Scheitern bedrohten Konferenz gedacht und deren Tragweite vielleicht noch nicht völlig absehbar sein konnte. Es war die wenn auch nicht de jure jedoch de facto eingeleitete Teilung Deutschlands.

B. Die Teilung Deutschlands Eigentlich waren die Regierungschefs der drei Siegermächte, die nach Potsdam gekommen waren, um die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung festzulegen und die Friedensverträge vorzubereiten, in bezug auf Deutschland von ihren noch in Jalta vorgetragenen Plänen schon stillschweigend abgerückt. Hatten die Westmächte in Teheran und Jalta den Gedanken einer Teilung, gar einer Zerstückelung Deutschlands noch ausführlich erörtert, waren sie nun von diesem Gedanken abgekommen. Und die Sowjetunion übrigens auch, die in Jalta an Teilungsplänen noch mitgewirkt hatte. In einem gleichsam stillschweigenden Einvernehmen war das Prinzip der Einheit Deutschlands zu Beginn der Konferenz akzeptiert worden, wenn auch über die Ostgrenze Deutschlands unterschiedliche Auffassungen herrschten, da die Sowjetunion die westliche Verschiebung Polens anstrebte. Zwar war die Potsdamer Konferenz nicht als Friedenskonferenz vorgesehen - wohl aber als Vorbeitung für eine Friedenskonferenz. Und es lag in der Logik der Dinge, wie E. Deuerlein unterstreicht,4 daß - wollte man später zu einer friedlichen Regelung für Deutschland kommen - eine Einheitlichkeit der politischen Entwicklung bewahrt werden mußte. Zwar hielten die USA noch am Prinzip einer militärischen Kontrolle fest und befürworteten noch nicht die Herausbildung einer deutschen Regierung. Doch war mit dem Vorschlag der Institutionalisierung eines Rates der fünf Großmächte (Sowjetunion, Großbritannien, Vereinigte Staaten, Frankreich • Ernst Deuerlein, Potsdam 1945 - Ende und Anfang, Köln 1970, S. 156. 14 Timmermann

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und China) beabsichtigt, zunächst einmal Friedensverträge mit den ehemaligen deutschen Verbündeten zu entwerfen und dann einen Friedensvertrag mit Deutschland in Angriff zu nehmen, was schließlich bedeutete, daß eine deutsche Regierung gebildet werden sollte. Doch waren die alten und die neuen Streitpunkte so zahlreich, daß die Konferenz bald zu scheitern drohte. Es prallten nicht nur die westlichen Vorstellungen von pluralistischen politischen Systemen in Ost- und Südeuropa mit dem Moskauer Streben nach Sowjetisierung der östlichen Länder zusammen. Nicht nur die sowjetische Abkehr vom in Jalta erreichten Komprorniß in der Polenfrage hatte schon die Konferenz an den Rand des Scheiterns gebracht. Auch die von Moskau angestrebte Westverschiebung Polens stellte einen neuen Streitpunkt dar. Im Prinzip hatten die Westmächte die polnische Westverschiebung zwar akzeptiert, doch die Weigerung Stalins, sich an die Vereinbarungen von Jalta zu halten, wonach die deutsche Ostgrenze erst auf einer Friedenskonferenz festgelegt werden sollte, war plötzlich ein mächtiges Hindernis auf dem Weg zu einer Einigung, die immer problematischer erschien. Und noch eine Reihe von Streitfragen, wie die von der Sowjetunion der Prager Regierung aufgedrängte Abtretung der KarpatoUkraine, der Rückzug der sowjetischen Truppen aus dem Iran, die Triest-Frage sowie die Frage der italienischen Kolonien ließen ein Scheitern der Konferenz zum Greifen nahe erscheinen. Zur Rettung der Konferenz griff nun der amerikanische Außenminister Byrnes zu dem Vorschlag einer Teilung der Reparationspolitik, verbunden mit einer Konzession in der Grenzfrage. War die britische Delegation in Potsdam noch von einem Reparationsgebiet in den Grenzen von 1937 ausgegangen, machte nun Byrnes den Vorschlag, um das noch in Jalta vorhandene relative Einvernehmen unter den Kriegsalliierten wiederherzustellen, die strittige Frage der deutschen Gesamtschuld und der Höhe der deutschen Reparationen zunächst beiseite zu legen und das Reparationsgebiet zu teilen. Demzufolge sollte jede Besatzungsmacht ohne Einmischung der anderen die von ihr als angemessen erachteten Reparationen aus ihrer Besatzungszone holen. Darüber hinaus erklärten sich die USA bereit, wenn die Sowjetunion den Vorschlag akzeptierte, Ostdeutschland bis zur Oder und zur westlichen Neiße unter polnische Verwaltung zu stellen und nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone zu betrachten. Damit war aber das Prinzip der Einheitlichkeit Deutschlands schon aufgegeben, wenn auch im Abkommen von Potsdam von "Deutschland als wirtschaftliche Einheit" sowie von der "deutschen" Industrie oder vom "deutschen Volk" die Rede sein sollte. "Potsdam-Deutschland" - schreibt E. Deuerleins - "war nicht nur das, 'lbid. S. 107.

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was der Zweite Weltkrieg von Deutschland übriggelassen hatte, es war auch eine durchaus beachtenswerte Zusage für die Zukunft". Die sicherheitspolitischen Konsequenzen der in Potsdam eingeleiteten deutschen Teilung erscheinen im Nachhinein vielleicht noch schwerwiegender als die Entstehung zweier gesellschaftspolitisch antagonistischer Lager, zumal die deutsche und die europäische Teilung deckungsgleich waren. In der Tat war die deutsche Teilung ein hochgradiger Destabilisierungsfaktor in der neugeschaffenen Nachkriegsordnung. Hätte noch die Entstehung einer bipolaren Nachkriegsordnung, wenngleich die sowjetische Machtpolitik im östlichen Teil Europas notwendigerweise Gegenkräfte mobilisierte und zentrifugale Momente förderte, doch relativ stabil sein können, so war die nun geöffnete "deutsche Frage" ein Moment, das die Stabilität der Nachkriegsordnung von vorneherein als zeitlich begrenzt erscheinen ließ, ihr den Charakter eines Provisoriums, einer historischen Parenthese, verlieh, die nur mit Waffengewalt aufrechterhalten werden konnte. Sie war es auch, die einer eventuellen Emanzipation der östlichen Länder, einer Lockerung des sich herausbildenden "Ostblocks" sowie einer Abkehr der Sowjetunion von einer Machtpolitik und ihre Rückkehr zu einer klassischen Sicherheitspolitik definitiv im Wege stand - und nicht zuletzt de Gaulle, der eine Überwindung des Kalten Krieges anstrebte, hatte sie die "europäische Frage par excellence" genannt. Die Vermengung der deutschen und der europäischen Teilung ließ ein intersystemares Gleichgewicht, das nicht auf die gegenseitige militärische Abschreckung gebaut gewesen wäre, nicht zu. Wenn schon der gesamtgesellschaftliche und politische Antagnonismus zwischen den beiden Lagern Mißtrauen, Unsicherheit, gar Unterstellungen hervorrief, dann um so mehr die deutsche Teilung. War der Wunsch der Deutschen zur Einheit legitim, konnte er wiederum nur destabilisierend in der ohnehin fragilen bipolaren Nachkriegsordnung wirken, weil, jederzeit durchaus plausibel, den Deutschen unterstellt werden konnte, die Überwindung der Nachkriegsordnung anzustreben. So wurde nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs durch die deutsche Teilung das Bedürfnis der Sicherheit vor Deutschland unter anderen Prämissen wiederhergestellt, weil nicht nur im östlichen Lager die Befürchtung einer mit Waffengewalt angestrebten Wiedervereinigung zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1945 vorhanden war. 6 6 So sagte einmal General Poirier, einer der Theoretiker der gaullistischen Nuklearstrategie, der Verfasserin gegenüber, daß die französische Befürchtung, die Bundesrepublik könnte eines Tages mit der Hilfe der NATO die Wiedervereinigung mit Gewalt anstreben, auch ein Grund für Frankreichs Austritt aus der Militärorganisation gewesen sei. Frankreich wollte nicht "in einen Krieg verwickelt werden, der seinen Interessen nicht entspricht". General Poirier weiterhin zufolge war auch diese Überlegung für das gaullistische Streben nach der Nuklearfahigkeit mitbestimmend.

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Mit der in Potsdam beschlossenen Teilung des Reparationsgebiets drohte nicht nur Wirklichkeit zu werden, was ohnehin manche britische Politiker und Diplomaten schon fürchteten, und deshalb auf eine relativ bescheidene deutsche Reparationsschuld gedrängt hatten; und zwar daß damit der Sowjetunion die Rechtfertigung geliefert würde, zur Eintreibung ihrer Ansprüche auf lange Zeit Truppen in ihrer Besatzungszone zu stationieren. Dies sollte wiederum die USA veranlassen, entgegen ihrer ursprünglichen Vorstellung, sich aus Europa zurückzuziehen, ihre militärische Präsenz in Europa aufrechtzuerhalten. Mit der fortdauernden Truppenstationierung wurden die beiden Teile Deutschlands zum jeweiligen Vorfeld beider antogonistischer Lager und die Weichen des Kalten Krieges gesteilt.

C. Die verfehlte neue "Friedensordnung" Die in Potsdam skizzierten Konturen der "Nachkriegsordnung" waren nicht geeignet, "Frieden" zu schaffen. Aus dieser verfehlten "Friedensordnung" konnte sich bestenfalls ein "bewaffneter Friede" entwickeln, der bald als "Kalter Krieg" in die Geschichte einging und dessen fragiles Gleichgewicht immer wieder Spannungen ausgesetzt wurde, die in einen heißen Krieg zu degenerieren drohten. "Potsdam" war zwar nicht "Versailles"; der "Morgenthau-Plan" war rechtzeitig wieder vergessen worden, so daß der Grundfehler von Versailles, die wirtschaftliche Überbelastung des besiegten Feindes, der vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre den politischen Erfolg des Nationalsozialismus mitbegünstigt hatte, sich nicht wiederholte. Doch lagen auch in der schon schemenhaft in Potsdam erkennbaren neuen europäischen Ordnung Momente, die diese neue Ordnung als prekär erscheinen ließen. Insbesondere waren Destabilisierungsmomente eingebaut und Revisionsansprüche angelegt, die das eigentliche Charakteristikum einer dauerhaften Friedensordnung, die Stabilität, von vorneherein in Frage stellten. Sie verliehen von vornherein dieser neuen Ordnung den Charakter der Instabilität und zwangen geradezu, eine künstliche Stabilität nur mit Hilfe von Waffengewalt aufrechtzuerhalten. Denn Revisionsansprüche ergaben sich nicht nur aus der deutschen Teilung, sie waren auch - um mit Graml zu sprechen - mit den in Potsdam akzeptierten neuen polnischen Grenzen und mit der Vertreibung der Deutschen sowie mit der Feindschaft, die die Alliierten damit zwischen einigen Staaten des sowjetischen Imperiums und Deutschland geschaffen hatten, begründet. Dieser Revisionsanspruch - so Graml weiter - mußte für geraume Zeit ein bestimmender Faktor europäischer Politik sein, schon wenn Deutschdland schwach blieb, erst recht aber, wenn es wieder erstarkte. Als logische Folge entwickelten Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn ein Bedürfnis der Sicherheit vor Deutschland, das sie unweigerlich zur Anlehnung an eine Großmacht nötigte. 7

Die sicherheits politischen Aspekte der Potsdamer Konferenz

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Daß das bipolare System, dessen Weichen in Potsdam gestellt wurden, doch vier Jahrzehnte lang währte, konnte nur mit einem doppelt hohen Preis erreicht werden. Diese Ersatzstabilität, die sich nicht aus der Ausgewogenheit des Systems ergab, konnte nur zum einen um den Preis eines nie dagewesenen Rüstungswettlaufs einigermaßen gesichert werden, der zu einer einmaligen Anhäufung von Waffen und Waffensystemen in bei den antagonistischen Lagern führte, und das prekäre Gleichgewicht immer wieder aus den Fugen geraten zu lassen drohte. Zum anderen war der politische Preis des bipolaren modus vivendi die strikte Anerkennung der europäischen Teilung und der politischen Unterwerfung der östlichen Länder im sowjetischen Machtbereich. Daß Europa aufgehört hatte, ein bestimmender Faktor der Weltpolitik zu sein, war zuerst eine Folge des Weltkrieges. Es war die logische Folge davon, daß erst die unvergleichlich größeren Reserven der bisherigen Randmächte über Sieg und Niederlage entschieden hatten. Und es war nur folgerichtig, daß das sich in Potsdam anbahnende globale Gleichgewicht von den zu Weltführungsrnächten avancierten ehemaligen Randmächten bestimmt wurde. Die sich in Potsdam ankündigende politische und gar drohende militärische Konfrontation zwischen den beiden sich herausbildenden Lagern hatte aber auch zur Folge, daß das Sicherheitsbedürfnis der europäischen Staaten sie auch zur Anlehnung an die zur Vormacht ihres jeweiligen Lagers mutierenden beiden neuen Weltmächte drängte. Daraus sollte sich das Bündnissystem ergeben, das die Grundstruktur der bipolaren Ära bilden sollte. Gewiß haben die Bündnisse summa summarum schließlich ein Element der Stabilität in die Nachkriegsordnung - und mit ihr die europäische Geschichte - für mehr als vier Jahrzehnte gleichsam "eingefroren". Der politische Konflikt zwischen der Sowjetunion und den Westmächten war keine Folge der Potsdamer Vereinbarungen. Er war nur durch das gemeinsame Ziel der ostwestlichen Anti-Hitler-Koalition in den Hintergrund getreten. Daß er, nachdem dieses gemeinsame Ziel einmal erreicht war, wieder in den Vordergrund trat, war nicht unbedingt überrachend. Die Potsdamer Vereinbarungen haben aber durch die dort de facto geschaffene doppelte Teilung Europas und Deutschlands die Strukturen einer nun weltweiten politischen Konfrontation geschaffen. Sie haben das Sicherheitsbedürfnis als determinierenden Faktor der Außenpolitik nicht nur der aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen beiden Weltmächte, sondern auch sämtlicher europäischer Staaten postuliert. Die Potsdamer Vereinbarungen haben ebenfalls dazu beigetragen, daß die Sicherheitsstruktur der europäischen

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Vgl. H. Graml, a.a.O., S. 101.

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Nachkriegsordnung auf zwei antagonistischen Militärbündnissen beruhte, die mit der ständig angestrebten Überlegenheit als von ihnen vorausgesetzter Stabilitätsfaktor in den konfrontativen Strukturen wiederum fortdauernd Destabilisierungsmomente ins prekäre Gleichgewicht der Blöcke einbrachte. Das permanente Oszillieren zwischen der angestrebten globalen Stabilität und den sich immer erneut ergebenden Destabilisierungselementen, das das hervorstechendste Charakteristikum der Nachkriegsära blieb, war auch die Folge einer politischen Ordnung, die von Anfang an auf Konfrontation angelegt war. In Potsdam stand die Wiege des Kalten Krieges.

Potsdamer Konferenz, Kalter Krieg und europäische Sicherheit heute Kontinuitäten und Diskontinuitäten 1945/1995

Von August Pradetto Unter auch noch in den letzten Kriegsmonaten ungeheuren Verlusten eroberten im März und April 1945 die sowjetischen Armeen unter den Marschällen Schukow und Konew Danzig und Wien und stießen in Richtung Berlin vor. Der Westen Deutschlands wurde von amerikanischen und britischen sowie mit ihnen verbundenen Einheiten anderer Nationen erkämpft. Damit blieb Deutschland die Atombombe erspart. Hätte der Krieg länger gedauert, wären die neuen atomaren Waffen, von europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern in den USA entwikkelt, auf die größten deutschen Städte niedergegangen. Die Alliierten besiegten Deutschland, bevor die Bombe einsatzbereit war. Im Pazifik zogen sich die Kämpfe unter erbittertem Widerstand der japanischen Truppen bis in den Sommer. Die erste Nuklearwaffe wurde über Hiroshima am 6. August gezündet. Einen Tag nach dem zweiten Atombombenabwurf am 9. August über Nagasaki kapitulierte Japan. In Deutschland hatten unterdessen nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 7. bzw. 8. Mai 1945 die Regierungen Großbritanniens, der USA, der UdSSR und Frankreichs I die Regierungsgewalt übernommen. Deutschland wurde in Besatzungszonen aufgeteilt. Auf der Potsdamer Konferenz legten die drei Siegermächte USA, England und Sowjetunion fest, wie weiter mit Deutschland verfahren werden sollte; die Vereinbarung wurde am 2. August unterzeichnet. Ein Alliierter Kontrollrat, bestehend aus den Oberkommandierenden der vier Besatzungsmächte, sollte die oberste Regierungsgewalt ausüben. Eine deutsche Zentralregierung war auf absehbare Zeit nicht vorgesehen. Die Aufgaben des Kontrollrats bestanden laut Abkommen in einer völligen Abrüstung und Entmilitarisierung, der Vernichtung der Rüstungsindustrie, einer Entnazifizierung, der Verurteilung der deutschen Kriegsverbrecher, der Demokratisierung des politischen Lebens, ferner der Dekonzentration und Dekartellisierung der Wirtschaft. Die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße sollten von Polen, der Nordteil Ostpreußens von der I Frankreich war auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 von den USA. Großbritannien und der Sowjetunion aufgefordert worden, "eine Besatzungszone zu übernehmen und als viertes Mitglied an der KontroUkomission teilzunehmen". Die Erklärung von Jalta, in: Potsdamer Abkommen 1950:8.

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Sowjetunion verwaltet werden. Die endgültige Festlegung der deutschen Grenzen wurde einem Friedensvertrag vorbehalten. Aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn sollte die deutsche Bevölkerung nach Deutschland ausgewiesen werden. 2

A. Deutschland: Integration durch Konfrontation Glimpflich davon kam der westliche Teil Deutschlands, der nach den Gebietsabtrennungen im Osten verblieben war, in der Frage der Reparationsleistungen. Im Abschnitt "Reparationen" der Potsdamer Vereinbarung wurde auf die Erklärung von Jalta (11.2.1945) Bezug genommen, "wonach Deutschland gezwungen werden" sollte, "in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und die Leiden, die es den Vereinten Nationen verursacht hat, und wofür das deutsche Volk der Verantwortung Dicht entgehen kann, Ausgleich zu schaffen". Die Produktionskapazitlit, soweit "entbehrlich für die Industrie, die erlaubt sein wird", sollte entfernt oder vernichtet werden. Die Bezahlung der Reparationen sollte Deutschland gerade soviel "Mittel belassen, um ohne eine Hilfe von außen zu existieren", und zwar vor allem auf agrarischer Basis. Durch die alliierte Kontrolle der deutschen Wirtschaft wollte man sicherstellen, daß der Lebensstandard in Deutschland "den mittleren Lebensstandard der europäischen Länder nicht übersteigt". Deutschland verdankte es weniger einer positiven Integrationsstrategie als vielmehr dem Kalten Krieg, der Konkurrenz zwischen den USA und der Sowjetunion sowie dem Bemühen um eine Absicherung der in ihrem Einflußbereich liegenden ökonomischen, politischen und schließlich auch militärischen Kapazitäten, daß auf diese Bestimmungen des Potsdamer Abkommens in West- wie in Ostdeutschland bald verzichtet wurde. 3 Unter anderen Verhältnissen wäre West-Deutschland auch nicht so schnell in den Genuß des "Marshall-Plans" gekommen. Ohne Kalten Krieg hätte das Land für den Krieg, für die mehr als 50 Millionen Toten, die 100 Millionen Invaliden, die sechs Millionen systematisch ermordeter Juden, die ungeheuren Zerstörungen härter büßen müssen.

, Vgl. Potsdamer Abkommen 1950 : 13 ff. Alle folgenden Zitate aus dem Potsdamer Abkommen beziehen sich auf diese Quelle. 3 Die drei Westmächte stellten in einer Erklärung vom 25. Mai 1952 fest, daß sie irgendwelche Reparationsansprtiche aus der laufenden Produktion nicht geltend gemacht hätten und nicht geltend zu machen beabsichtigten. Die Sowjetunion erklärte in einem am 23. August 1953 mit der DDR unterzeichneten "Protokoll über die Einstellung der Erhebung der deutschen Reparationszahlungen und über andere Maßnahmen zur Erleichterung der mit den Folgen des Krieges verbundenen finanziellen und wirtschaftlichen Verpflichtungen der Deutschen Demokratischen Republik", die Erhebung von Reparationszahlungen sowohl in Fonn von Warenlieferungen als auch in jeder anderen Fonn würde völlig eingestellt. Vgl. Die Gesamtverfassung Deutschlands 1962 : 224; Hacker 1968 : 117 ff.

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Bis zu den Brüsseler Beschlüssen hatte die britische Regierung darüber hinaus eine westeuropäische Union unter Ausschluß Deutschlands favorisiert. Der am 17. März 1948 zwischen Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg auf 50 Jahre geschlossene Pakt richtete sich gegen eine mögliche erneute Bedrohung durch Deutschland und sollte von vornherein die BündnispflichtGroßbritanniens sicherstellen. Sechs Jahre später, im Oktober 1954, wurde der Beitritt Deutschlands und Italiens akzeptiert. Der Fünf-Mächte-Vertrag mutierte in die Westeuropäische Union (WEU). Die durch das Land verlaufende Demarkationslinie ließ Deutschland von einem Paria der Weltgemeinschaft zum vorgeschobenen Posten und zu einem begehrten Objekt der Konkurrenz zwischen den Großmächten werden. Es ist eine der surrealen Pointen, die die Ironie der Geschichte zu bieten hat, daß nach 1945 in einem gewissen Ausmaß doch noch eintrat, was Hitler bis zum April 1945 gehofft hatte: daß Deutschland, wenn auch beschädigt, davonkommen könnte, wenn wegen der Differenzen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion der Kampf zwischen diesen Lagern ausbräche. Ebenso wenig hätte es ohne den Ost-West-Konflikt so schnell eine Wiederaufrüstung und die Installation deutscher Armeen gegeben. Laut Potsdamer Abkommen waren alle Waffen und die Mittel zu ihrer Herstellung in die Gewalt der Alliierten zu legen oder zu vernichten. Deutschland sollte "nie wieder" die Möglichkeithaben, Kriegsmaterial anzuhäufen oder herzustellen. Verboten und für die Zukunft zu unterbinden war laut den Beschlüssen "die Produktion von Waffen, Kriegsausrüstung und Kriegsmittel, ebenso wie die Herstellung aller Typen von Flugzeugen und Seeschiffen". Davon war zehn Jahre später keine Rede mehr. Wie die reale politische Entwicklung verschiedene Festlegungen im Potsdamer Abkommen für Deutschland außer Kraft setzte, so war dies auch in Bezug auf andere Vereinbarungen und Absichtserklärungen der Fall, die ganz Europa und die internationale Politik betrafen. "Präsident Truman, Generalissimus Stalin und Premierminister Attlee verlassen diese Konferenz, welche das Band zwischen den drei Regierungen fester geknüpft und den Rahmen ihrer Zusammenarbeit und Verständigung erweitert hat, mit der verstärkten Überzeugung, daß ihre Regierungen und Völker, zusammen mit den Vereinten Nationen, die Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens sichern werden", hieß es im ersten Abschnitt der Beschlüsse. Makulatur wurden mit der Nachkriegsentwicklung diesbezügliche Absichtserklärungen in weiteren für die Ordnung nach 1945 relevanten Abkommen und Vereinbarungen, u.a. in der Erklärung von Teheran vom Dezember 1943 (Die Erklärung von Teheran vom 1.12.1943, in: Potsdamer Abkommen 1950 : 7) und der Erklärung von Jalta vom Februar 1945 (Die Erklärung von Jalta (Krim-

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Konferenz) vom 11.2.1945, in: Potsdamer Abkommen 1950: 8 ff.). Die Erklärung von Jalta sah ein "gemeinsames Vorgehen bei der Lösung der politischen und wirtschaftlichen Probleme des befreiten Europa auf demokratischer Grundlage vor". Was die demokratische Grundlage indes sein sollte, darüber gingen in der Nachkriegszeit die Meinungen von Anfang an auseinander. Das gleiche galt für die in der Erklärung deklarierte Bestätigung der Grundsätze der Atlantik-Charta, die schon 1941 von Roosevelt und Churchill aus der Taufe gehoben worden war. (Atlantik-Charta vom 14. August 1941, in: Vertrags-Ploetz 1959 : 199 f.) Darin war als zentraler Punkt die Freiheit eines jeden Volkes benannt worden, "sich seine Staatsform selbst zu wählen". Nach Auffassung Moskaus war dies aufgrund der Besatzung durch die Westmächte in den Westzonen Deutschlands nicht gegeben, genauso wenig wie die Westmächte dies in der Ostzone gewährleistet sahen. Die auf der Krim-Konferenz getroffene Vereinbarung, "eine Dauereinrichtung zu regelmäßigen Beratungen der drei Außenminister" zu installieren, reichte nicht viel weiter als bis zur konstituierenden Sitzung in London.

B. Europäische Konstellationen 1945 und 1995 Unter machtpolitischen Gesichtspunkten bestand ein wesentliches Ergebnis des Zweiten Weltkriegs darin, daß die USA und die UdSSR zu ökonomisch, politisch und sicherheitspolitisch dominierenden Supermächten aufstiegen. Aus europäischer Sicht waren dies bisher Randmächte gewesen; nun wurden sie zu den zentralen Akteuren nicht nur auf der Weltbühne allgemein, sondern speziell in Europa. Einen besonders rapiden Aufstieg erlebte Stalins Sowjetunion. Sie ging nicht nur als Militärmacht ersten Ranges aus dem Krieg hervor. Sie vermochte es, sich den halben Kontinent unterzuordnen, einschließlich eines Teils Deutschlands. Sie stellte in den folgenden Jahren militärisch die Parität zu den USA her, ihr politisches und ideologisches System breitete sich auf viele Länder und Regionen der Welt aus. 50 Jahre später, nach dem Ende des Kalten Kriegs, existiert die Sowjetunion nicht mehr, und mit ihr ist ihr politisches und ideologisches System in den meisten der ehedem von ihr abhängigen Staaten verschwunden. Der Nachfolgestaat Rußland hat nur mehr die Hälfte der Bevölkerung der früheren UdSSR, und das Gebiet, das vom Kreml aus regiert wird, ist auf jenes Territorium zusammengeschrumpft, von dem aus die Zaren vor 350 Jahren ihre Expansion begonnen hatten. Rußland ist keine Weltmacht mehr. Das Land erwirtschaftete im Jahre 1994 ein Bruttoinlandsprodukt, das dem Belgiens entspricht. Rußland verfügt über Atomwaffen, aber seine Armee ist in einem so desolaten Zustand, daß selbst das

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vergleichsweise winzige Tschetschenien mit einer Bevölkerungszahl, die unter der von Hamburg liegt (l,2 Millionen), nur mit Mühe unter Kontrolle gebracht werden kann. Die Sowjetunion gewann - zusammen mit den Westmächten - den mörderischen Krieg 1941-1945. Die Auseinandersetzung im Kalten Krieg, der zugleich für sie selbst ein vierzig Jahre währender Friede war, verlor sie. Kein äußerer Zwang brachte das Sowjetsystem zu Fall. Es implodierte vielmehr. Um mit Paul Kennedy zu sprechen: Die Sowjetunion ging an Überdehnung zugrunde, territorial und militärisch. Ihre ökonomischen Grundlagen trugen ihre ambitiöse Außen- und Militärpolitik immer weniger. Die Sowjetunion verlor also nicht, wie gelegentlich behauptet wird, spät aber doch den Zweiten Weltkrieg, sondern den Frieden, der danach kam. Ihr System war friedensunfähig nicht zuletzt in dem Sinne, daß es sich den Gegebenheiten und Anforderungen des Friedens - unter anderem einer adäquaten ökonomischen Entwicklung - nicht anzupassen vermochte. Auch die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika relativierte sich nach dem Ende des Kalten Kriegs. Zwar verblieben die USA nunmehr als einzige Supermacht auf der Weltbühne. Doch vor dem Hintergrund des Endes der Bedrohung durch den militärisch hochgerüsteten und in ideologisch-politischer Gegnerschaft und weltweiter Konkurrenz lauernden Gegenübers schwand die Relevanz einer auf globale Eindämmung sowjetischer Ambitionen gerichteten Macht. Ausdruck und Konsequenz dessen ist unter anderem, daß Signalen, die aus Washington kommen und die früher in vielen Staaten der Welt oberste Priorität genossen, heute vielfach nur noch dann ein Stellenwert eingeräumt wird, wenn sie den eigenen Interessen entsprechen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war - etwas pathetisch formuliert - das Ende der Europäer als weltpolitische Akteure gewesen. Das Ende des Kalten Kriegs weckte Hoffnungen auf ein neues europäisches Zeitalter. Die Buchtitel, die in den letzten Jahren erschienen sind, bezeugen dies: "Europas vereinigte Staaten" (KühnhardtlPöttering 1991), "Großeuropa" (Kraus 1990), "Die Renaissance Europas" (Souchon 1992), "Europa auf dem Weg zur Weltmacht" (Laqueur 1992) usw. Es waren nicht zuletzt die Atomwaffen gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Suprematie der Supermächte befestigt und zugleich eine Basis für ihre weltpolitische Monopolstellung abgegeben hatten. Anfang der neunziger Jahre beschlossen die Supermächte per Vertrag, ihre Kernwaffenbestände um zwei Drittel zu verringern. 1995 stimmten fast alle Länder der Welt dem Atomwaffensperrvertrag zu. Moskau bat bei der Europäischen Union um technische und finanzielle Hilfe bei der Verschrottung. Europa wurde souverän, was, wie bestimmte politische Entwicklungen auf dem Kontinent bewiesen, den Krieg auf dem

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Gebiet des früheren Jugoslawien eingeschlossen, nicht in jedem Fall positive Auswirkungen zeitigte. Jedenfalls ließ die global offenkundige Bedeutungsminderung des militärischen und die Bedeutungssteigerung des ökonomischen Faktors Europa (gegenwärtig vor allem noch EU-Europa) zu einer Macht mit Weltgeltung werden, auch wenn die traditionellen weltpolitischen und militärischen Insignien einer Weltmacht nicht vorhanden sind. Europa verfügt über das größte industrielle Potential unter allen Regionalmächten, und es ist der dominierende Akteur im Welthandel. V or diesem Hintergrund erscheinen nach dem Ende der Bipolarität die Fundamente für die Neukonstruktion eines Sicherheitssystems in Europa im Vergleich zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg höchst verschieden. Es gibt indes Kongruenzen und Analogien hinsichtlich der für die sicherheitspolitische Entwicklung relevanten Grundlagen im Jahre 1945 und im Jahre 1995, und sie sind bei genauerer Betrachtung nicht unbeträchtlich. Fixiert wurden die gemeinsamen Intentionen und die Prinzipien, die zukünftig das Leben der Völker und die Beziehungen zwischen ihnen determinieren sollten, noch vor der Potsdamer Konferenz, im Juni 1945, in der Charta der Vereinten Nationen, im Jahre 1990 in der Charta von Paris. Nach 1945 resultierte die Diskrepanz zwischen Absichtserklärung und realer Entwicklung aus vielen miteinander verknüpften Faktoren; ein zentrales Moment jedoch war das Machtstreben, das die bei der Neukonstruktion von Sicherheit in Europa beteiligten Hauptakteure an den Tag legten. Die sowjetische Führung begann, noch bevor der Krieg zu Ende war, auf den Territorien, die die Rote Armee von der Wehrmacht befreit hatte, die politischen Verhältnisse in ihrem Sinne zu manipulieren und so die ihr auf den Konferenzen von Teheran und Jalta zugestandene Einflußsphäre politisch abzusichern und sukzessive gleichzuschalten. Höhepunkte dieser Entwicklung waren in politischer Hinsicht die Einführung des Sowjetsystems in den meisten unter Moskauer Kuratel stehenden Staaten ab 1948, in ökonomischer Hinsicht die Einbindung in den (1949 gegründeten) Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Sicherheitspolitisch wurden die Satelliten über ein Netz bilateraler Vereinbarungen an Moskau geknüpft, das im Jahre 1955 durch den Warschauer Pakt ergänzt wurde. Ebenfalls bereits vor Kriegsende bereitete die Führung in Washington die Absicherung anderer Teile Europas und der Welt als ihre Einflußzone vor. Die Gründung des Internationalen Währungsfonds, der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und das Allgemeine Handelsabkommen (GATT) waren organisatorische Konsequenzen einer Strategie, die bereits 1942 auszuarbeiten begonnen worden war. Die USA verfaßten eine ökonomische Welt-

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ordnung, die ihnen den wirtschaftlichen und politischen Einfluß auf jene sicherte, die sich zur "freien Welt" bekennen wollten. (Vgl. Bachmann 1945) Druck auf die Absicherung ökonomischer Einflußsphären übten ab Kriegsende auch die exportorientierte S9wie die Rüstungsindustrie der USA aus. Sie fürchteten, auf den Rückgang der Regierungsausgaben könnte eine Nachkriegsrezession folgen, wenn die überseeischen Märkte nicht geöffnet würden. Das von den USA etablierte ökonomische System begünstigte diejenigen, die am produktivsten waren (an vorderster Stelle die Vereinigten Staaten selbst) und benachteiligte jene, die weniger produktiv waren. Zusammen mit den ohnehin schwierigen Nachkriegszeiten steigerte dies die soziale Unzufriedenheit und damit aber auch das Risiko einer Abwendung von den USA sowie der Akzeptanz alternativer Systemvorstellungen - und dergestalt aus der Sicht Washingtons die "sowjetische Gefahr". Um so mehr wurde diese an den Pranger gestellt und versucht, sie einzudämmen - politisch, militärisch, aber auch durch wirtschaftliche Hilfe für diejenigen, die nicht unter die Kontrolle Moskaus geraten sollten, u.a. durch den "Marshall-Plan", der erst im Juni 1947 in die Wege geleitet wurde. (Vgl. Adress by Secretary of State 1947; in: Schlesinger 1973 : 52 ff.) Darüber hinaus drängten vor allem die Militärs in den USA, die Kontrolle über den Zugang zu strategisch wichtigen Materialien zu sichern. Auch die USA nutzten ihre militärischen Erfolge, um Terrain abzusichern. Wo amerikanische Soldaten ihren Fuß hinsetzten, wurden Stützpunkte für die Nachkriegszeit errichtet. Wie die Rote Armee für die Etablierung sowjetischer Strukturen, erwiesen die US-Truppen sich als nützlich, um die Gestaltung der Verhältnisse nach amerikanischen Vorstellungen abzusichern. Ein weiteres Motiv bestand im Interesse militärischer Apparate, die mit dem Kriegsende absehbaren Schnitte im Rüstungsund Militärhaushalt in aus ihrer Sicht erträglichen Grenzen zu halten.

c. Das sicherheitsbedingte Feindbild Ihre expansive Machtpolitik legitimierten die USA wie die UdSSR mit der Bedrohung durch die je andere Seite. Die rigorosen Sicherheitsperzeptionen und strategien gingen einher mit einer extremen Feindbildproduktion. Sie schlugen sich binnen weniger Jahre in Aufrüstungsprogrammen nieder, die man zur Zeit des Potsdamer Abkommens für völlig absurd gehalten hätte. Die neu erfundenen Technologien und Rüstungsgüter schufen wiederum die möglichen negativen Szenaria, die dann wechselseitig die Rechtfertigung für neue Verteidigungsmaßnahmen und Rüstungsanstrengungen darstellten. Die Feindbilder, die von der jeweiligen Seite gezeichnet wurden - der auf die Unterjochung der gesamten Welt

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abzielende, weltrevolutionäre Kommunismus bzw. der welthegemoniale Ambitionen verfolgende amerikanische Imperialismus - waren die ideologische Grundlage für eine in der Geschichte der Menschheit nicht dagewesene Entwicklung der Rüstungsindustrie und eines militärischen Wettlaufs, der ökonomische und soziale Entwicklungsmöglichkeiten im Westen einschränkte und die sowjetische Wirtschaft ruinieren half. Beide Weltmächte beanspruchten, die Völker gegen die je andere "unterstützen" zu müssen, und beide überboten sich mit einer globalen Stützpunktpolitik und einer beispiellosen Aufrüstung auch mit ihnen verbündeter Staaten. Moskau versuchte, wo es ging, kommunistisch-diktatorische Regime zu etablieren. Auf der Gegenseite blieb, legitimiert mit dem Hinweis auf die "rote Gefahr" und die "nationale Sicherheit", nicht selten der Impetus von Freiheit und Demokratie auf der Strecke. Die USA unterstützten auch noch die unappetitlichsten Diktaturen, wenn sie nur proamerikanisch waren und die Errichtung amerikanischer Militärbasen zuließen. Es ging darum, Verbündete im globalen Kampf zu finden und sich ihrer zu vergewissern. Den Verbündeten umgekehrt ging es vielfach nicht zuletzt darum, sich über den jeweiligen Protektor die Herrschaftsverhältnisse absichern und teilweise auch materielle Vorteile bezahlen zu lassen. Stützpunkte wurden auch dort errichtet, wo nach 1945 keine unmittelbare Gefahr von Seiten des Hauptgegners bestand. Doch im Interesse einer ausreichenden Sicherheitsprophylaxe schätzte die eine wie die andere Seite richtig ein, daß das Terrain vom anderen besetzt würde, täte man es nicht selbst. Der totalen Kriegspolitik 1939 -1945 folgte kurze Zeit später die totale Sicherheitspolitik. Diese übersteigerte Einflußzonenstrategie wurde nach dem Kalten Krieg schon insofern hinfällig, als keine systemische Alternative zu Marktwirtschaft und Demokratie mehr ernsthaft existierte. Rußland zog sich von Kuba über Angola bis Mitteleuropa aus seinen Positionen zurück. Das kommunistische Modell hatte den "Wettbewerb der Systeme" verloren. Selbst in Rußland war nach dem Kollaps des kommunistischen Systems für den Großteil der Eliten eine andere Form von Ökonomie als die Marktwirtschaft nicht mehr denkbar. Die ehemaligen europäischen Satelliten Moskaus drängten mit aller Macht in die westlichen ökonomischen Strukturen. Eine Politik expansiver Machtsicherung setzte kurz nach den europäischen Umbrüchen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre dennoch wieder ein, allerdings auf niedrigerem Niveau und einer reduzierten Ausgangsbasis. Das Machtstreben der sowjetischen Führung nach 1945 war unter anderem in der Absicht und in der Möglichkeit begründet gewesen, die territorialen Regelungen

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von 1918 bis 1922 rückgängig zu machen. Der Kriegsverlierer Sowjetunion hatte Teile des bis 1917 bestehenden Russischen Reiches abtreten müssen. Nach 1945, de facto teilweise schon früher, wurden die baltischen Staaten, Ostpolen, Teile Finnlands, Ungarns und Rumäniens wieder eingegliedert, partiell neu erobert. Seit der Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 sind Strömungen sichtbar, die die territorialen Veränderungen der Post-Kalten-Kriegszeit nicht akzeptieren wollen und die Wiederherstellung Rußlands in früheren Grenzen, zumindest aber mit der Ukraine und Weißrußland fordern und betreiben. In abgeschwächter Form manifestiert sich diese Politik ideologisch im Konstrukt eines "nahen Auslands" als "vitale Interessensphäre" Moskaus u.a. in der russischen Militärdoktrin. (Vgl. Grundbestimmungen der Militärdoktrin 1994) Auf westlicher Seite stellt der - 1993 einsetzende - Versuch, die NATO unter (nicht zugegebener, aber faktischer) Ausgrenzung Rußlands auf Teile des ehemaligen Moskauer Einflußgebietes auszudehnen, eine Expansion in eine nicht zuletzt militärisch begriffene Sicherheitszone dar. Diese liefert den westlichen "Beitrag" zu einer sich gegenseitig steigernden Politik territorialer Absicherung und darauf fußender Abgrenzung. Die NATO dehnt sich auf Polen, die Tschechische Republik und Ungarn aus, Moskau versucht, seine "Sicherheitszone" wieder auf die Rußland vorgelagerte Zone auszuweiten. (Vgl. Alexandrova 1995; Weiss 1995) In der Auseinandersetzung um Mitteleuropa ist "der Westen", seit Gorbatschow die "Breschnew-Doktrin" der beschränkten Souveränität kommunistischer Staaten verworfen hat, in einer überlegenen Position; sie zu nutzen, könnte indes dem Gürtel von Estland bis Bulgarien zum Nachteil gereichen. Denn wie bei der Strategie des containment nach dem Zweiten Weltkrieg impliziert die Idee der Osterweiterung der NATO nicht nur ein Einschluß-, sondern auch ein Ausschlußprinzip. Mit der Politik des containment hatten die USA klar gemacht, in welchen Ländern eine Ausdehnung des Moskauer Einflusses keinesfalls geduldet und den casus belli bedeuten würde. Dies hatte gleichzeitig eine ebenso eindeutige Aussage darüber beinhaltet, in welchen Ländern derartige Moskauer Ambitionen nicht in dieser Weise sanktioniert würden. Die Benennung von drei oder vier ostrnitteleuropäischen Ländern als Kandidaten für eine Mitgliedschaft in der westlichen Allianz macht ebenso deutlich, bis zu welcher Linie man eine Moskauer Dominanz akzeptierte. Daß große Teile politischer Führungseliten in dem osteuropäischen Gürtel östlich des Bug skeptisch und ängstlich, teilweise offen ablehnend auf Pläne einer NATO-Osterweiterung nur um die unmittelbaren östlichen Nachbarstaaten von Deutschland und Österreich reagieren, ist daher aus ihrer Perspektive nachvollziehbar.

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D. Macht, Ideologie und Realismus Bis 1992 waren die Intentionen beider Seiten in ganz überwiegendem Maße von einem gesamteuropäisch-integrativen Impetus geprägt. Ab 1993 gab es im Osten wie im Westen zunehmende Anzeichen einer Rückkehr zu machtpolitisch motivierten Elementen in der Außenpolitik bzw. internationalen Politik. Seither kam auch wieder der Mechanismus wechselseitiger Anschuldigungen in Gang, die die eigenen Ambitionen legitimieren sollten. Androhungen Moskaus, im Gefolge der NA TO-Osterweiterungspolitik seinerseits die sicherheitspolitisch-militärischen "Integrationsbemühungen" zu intensivieren, wurden von einigen Sicherheitspolitikern und Militärs im Westen als Beweis für die Richtigkeit der These genommen, man müßte der Moskauer Politik zuvorkommen. Umgekehrt wurde der Versuch, die militärische Verteidigungsorganisation des Westens auf Ostmitteleuropa auszudehnen, als Fortsetzung der seit Jahrhunderten währenden und immer wieder erfolglos in Szene gesetzten Intention gewertet, Rußland einzukreisen und endgültig zu zerschlagen. Der Tschetschenienkrieg war keinesfalls nur, er war aber auch eine Folge des sich wechselseitig verstärkenden traditionellen Sicherheitsdenkens, nämlich des Denkens in territorialen Kategorien. Drei Jahre lang hatte man Tschetschenien und seinen Präsidenten Dudajew gewähren lassen. Der Krieg setzte im Dezember 1994 vor dem Hintergrund des Wettlaufs internationaler Konzerne um das Öl in der Kaukasusregion, der NA TO-Osterweiterungsdebatte des Jahres 1994 und der mit dem Wahlsieg der Republikaner in den USA verbundenen Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik in der Frage der Ausdehnung der Allianz ein. Der Begriff "Sicherheit" wurde im Westen wie auch in Rußland wieder zunehmend territorial-militärisch definiert. (V gl. auch Halbach 1994) Nach 1945 hatte sich dieser Prozeß infolge einer zunehmend brutalen Gleichschaltungspolitik im Ostteil Europas von Seiten Moskaus und einer immer rigoroser werdenden und immer weitere Teile der Welt erfassenden "Eindämmungs"Politik von Seiten Washington innerhalb von nur zwei Jahren wechselseitig hochgeschaukelt, und das Ergebnis war jener Kalte Krieg, der an verschiedenen Ecken der Welt (Beispiel Korea) in heiße militärische Auseinandersetzungen umschlug. Einige Jahre nach der Auflösung des Ostblocks existieren noch erheblich mehr Gemeinsamkeiten zwischen den früheren Freunden aus der Zeit der "Perestrojka", als dies wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei den Verbündeten der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition der Fall gewesen war. Aber Indizien einer neuen politischen und ideologischen Spaltung zwischen West und Ost mit entsprechenden sicherheits politischen Konsequenzen sind seit 1993 offenkundig.

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Zwar besteht nach Einschätzung russischer Politiker und Militärs keine Gefahr, daß der Westen seine Hand auf das Gebiet von Königsberg legte. Doch wurden eine Reihe von Regelungen im Sinne eines autonomeren ökonomischen und administrativen Status der Stadt bzw. des Gebiets im Frühjahr 1995 von Moskau zurückgenommen. "Gefährliche Tendenzen" in der Politik westlicher Staaten und Bündnisse sowie eine mit "Unfreundlichkeiten" gegenüber Moskau gespickte Politik der Warschauer Führung veranlaßten. so ließ man durchsickern, Königsberg als "strategisches" Gebiet in seiner militärischen Funktionsfähigkeit abzusichern. - Zwar droht nach Einschätzung westlicher Militärs und Politiker nicht die geringste Gefahr, daß Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien oder Ungarn einer Bedrohung ihrer Souveränität von Seiten Rußlands ausgesetzt wären. Doch das "Risikopotential" , das im Osten liege, lasse es angeraten erscheinen, so die Argumentation, die westliche Sicherheitszone auszuweiten. Die Globalpolitik der beiden Supermächte hatte sich nach 1945 auch noch aus einer anderen ideologischen Quelle gespeist. Während es auf sowjetischer Seite der Glaube an den schließlich weltweiten Sieg des Kommunismus war, war es auf amerikanischer Seite die Überzeugung von der Erfüllung des "manifest destiny", der Doktrin der weltweiten Expansion des amerikanischen Systems. Immerhin wurden nach dem Niedergang des Kommunismus ähnliche Vorstellungen in Fonn explizit vorgetragener Absichten deutlich, eine "neue Weltordnung" - nach amerikanischem Muster - schaffen zu wollen. Die kommunistische Gegenideologie ist ausgefallen. Was sich als Gegenpol oder als Gegenpole herausbildet, ist noch nicht auszumachen. Als Metapher für sich neu formierende konkurrierende Ideologien mag der von Samuel Huntington prophezeite "Kampf der Kulturen" gelten. Für Europa interessanter ist jedoch die Rekonstruktion eines anderen ideologischen Musters. Während Anfang der neunziger Jahre noch die Gemeinsamkeit europäischer Werte beschworen und die "Rückkehr Rußlands nach Europa" gefeiert worden ist, werden in dem Maße, wie Elemente traditioneller Macht- und Einflußsphärenpolitik und damit die Abgrenzung neben integrativen Bemühungen an Intensität gewinnen, Vorstellungen von der Gegensätzlichkeit "europäischer Werte" und "russischer Kultur" wiederbelebt. Von Kreisen in Moskau wird die "Zerstörung der russischen Seele" durch den Liberalismus und Materialismus des Westens beschworen. Im Westen wird Rußland zunehmend mit "asiatischer Despotie", zaristischer Selbstherrschaft und jahrhundertelanger Expansionspolitik identifiziert. Immer lauter wird die Forderung erhoben, Vorsorge zu treffen, bevor Moskau sich erhole und seine Arme wieder nach Ost- und Mitteleuropa ausstrecke. (V gl. Oschlies 1994a; Oschlies 1994b; Mazonaschwili 1994)

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Prophylaktisch, gegen aktuell nicht vorhandene Gefahren, entwickelt jede Seite eine "Sicherheitspolitik" , die von der anderen als Erhöhung der eigenen Unsicherheit perzipiert wird. In der Folge verstärkt jede Seite ihre "Sicherheitsvorsorge" . Solcherart werden aus antizipierten reale Gefahren. Jede Seite schafft ideologische Konstrukte und politische Fakten, die auf der je anderen Seite vor allem die mißtrauischen "Realisten" in ihrer Ansicht bestätigen, die Gegenseite versuche zu expandieren. Was jedoch ex post als Bestätigung "realistischer Vorstellungen" perzipiert wird, hat in einer Art Wechselmechanismus von selffulfilling-prophecy diese Wirklichkeit erst geschaffen. In das gemeinsame Bemühen der USA und Rußlands, den Konfliktherd auf dem Balkan zu entschärfen, mischen sich seit 1993 zunehmend konfrontative Elemente, resultierend aus unterschiedlichen Wahrnehmungen, Strategien und hierüber auch der Perzeption der anderen Großmacht und ihrer Intentionen. Gleichzeitig findet eine Ideologisierung nach alten Mustern statt, die einerseits als Erklärungsansatz, andererseits der Legitimation des eigenen Vorgehens dienlich sein soll. Verdächtigt in Bezug auf Jugoslawien der Westen das Verhalten Moskaus dort, wo es seinen eigenen Auffassungen widerspricht, als etwas wie eine "slawische Verschwörung", so umgekehrt Moskau das Verhalten des Westens als Neuauflage traditioneller und sich vor allem durch das 20. Jahrhundert ziehender imperialer Machtpolitik auf dem Balkan. Mitteleuropa und Osteuropa sind eine Welt der Mythomanie und der Geschichtshysterie, schrieb am Ende des Zweiten Weltkriegs Istvan Bib6 in seinem Werk über "Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei". (Bibo 1992) Die globale Machtpolitik und die globale Ideologisierung hatten nach 1945 eine Ausdifferenzierung der Gegensätze zwischen den europäischen Staaten und Nationen bis zur militärischen Auseinandersetzung weitgehend verunmöglicht. Die Aufhebung dieser Supermachtsuprematie bedeutet die Wiederherstellung Europas offenkundig auch in seiner negativen Tradition, nämlich der auf diesem Kontinent traditionellen nationalen Gegensätze und Querelen. Andererseits lassen die ersten Jahre nach dem Kalten Krieg gewahr werden, daß sich das Bemühen und der Zwang, der nach dem Zweiten Weltkrieg in West- und Osteuropa unter je anderen Vorzeichen in Richtung Überwindung nationaler Gegensätze und Integration ausgeübt worden war, positiv auf das Europa von heute übertragen zu haben scheinen. Dabei spielt das Bewußtsein über die historische europäische nationale Problematik und ihre möglichen Konsequenzen ebenso eine Rolle wie Befürchtungen, die aus der jugoslawischen Entwicklung erwachsen. Das Agieren jener, die im August 1945 die Erklärung von Potsdam unterzeichneten, basierte auf Erfahrungen, die vor allem vom Ersten Weltkrieg, von der

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internationalen Konfliktentwicklung in der Zwischenkriegszeit sowie den Grauen des Zweiten Weltkriegs geprägt waren. Auch daraus resultierte die Nachkriegsordnung. 50 Jahre später blickt Europa, blicken drei Generationen auf Erfahrungen zurück, die neben Machtpolitik, Blockkonfrontation, Teilung und Unterdrückung auch ganz andere Geschehnisse und Entwicklungen zur Grundlage haben, nämlich in Westeuropa eine jahrzehntelange Periode mit einem relativ hohen Grad an friedlichem Zusammenleben, Aussöhnung, Toleranz, Demokratie, Wohlstand, Integration sowie geregeltem Konfliktaustrag auch im internationalen Bereich, in Osteuropa die Überwindung des Totalitarismus, die Chance zu Autonomie sowie die Vorbildfunktion westeuropäischer Verhältnisse und das Bemühen um Anschluß an diese. Ob und inwiefern die vor unseren Augen ablaufenden Prozesse der Ausdifferenzierung und die damit verbundenen zentrifugalen Tendenzen durch bestehende und zu entwickelnde Integrationsmechanismen kompensiert werden; ob die kooperativ-assoziativen Orientierungen gegenüber nationalistisch und machtpolitisch motivierten, expansiv-ausgrenzenden Dispositionen dominieren werden, ist indes nicht eindeutiger abzusehen, als vor 50 Jahren auf der Potsdamer Konferenz zu erkennen war, was die zweite Hälfte der vierziger und die fünfziger Jahre bringen würden.

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Die Sowjetunion als Schöpfer und Garant der auf der Potsdamer Konferenz festgeschriebenen Jalta-Ordnung Von Valerij Afanasjev Der 50. Jahrestag der Potsdamer Konferenz gibt nicht nur Anlaß, sich mit den dort von den Siegern des Zweiten Weltkrieges getroffenen Vereinbarungen, deren Zustandekommen, Intentionen und Resultaten, zu beschäftigen. Er ist auch eine Gelegenheit oder könnte es doch sein, danach zu fragen, wem die auf der Konferenz sanktionierte, rund 45 Jahre währende Jalta-Ordnung in erster Linie ihre Existenz verdankt, wem sie vor allem gedient hat und warum sie kometenhaft wieder verglüht ist. Es liegt in Kenntnis dessen, daß zwischen der Auflösung der Sowjetunion und ihres Machtbereichs wie dem Ende der Jalta-Ordnung und der momentan stattfindenden Reorganisation Europas ein nicht zu übersehender, unmittelbarer Zusammenhang besteht, nahe, einmal zu untersuchen, inwiefern die 1945 erfolgte Teilung Europas der raison d'etre der Sowjetunion entsprochen und warum die Überwindung der Teilung Europas zugleich ihr Ende besiegelt hat. Diese Fragen sind, denke ich, nur dadurch zu beantworten, daß die Intentionen und Motivationen Stalins analysiert und begriffen werden; denn er ist, mehr als alle anderen, der Schöpfer der Jalta-Ordnung, die seine Nachfolger im Kreml als Erbe übernommen und, solange es ging, auf ihre Weise verwaltet haben. Allein die Frage nach den Motiven Stalins kann und soll hier zu beantworten versucht werden. Die weitere Frage, warum es der Sowjetunion nicht, wie etwa Großbritannien, gelungen ist, wenn schon nicht das eigene Imperium, so doch sich selbst zu retten, so daß nur der russische Staat in seinem frühmittelalterlichen, moskowitischen Kerngebiet nebst Sibirien übriggeblieben ist, kann und soll hier nicht bedacht werden. Das ist, wenn auch mit dem hier zu untersuchenden Thema eng zusammenhängend, ein anderes, ein der Klärung nicht minder bedürftiges Feld. Ich habe bisher keine Möglichkeit gehabt, in russischen Archiven zu arbeiten, um die dort vorhandenen Quellenmaterialien zu sichten. Aber ich denke, daß es auch ohne ihre Kenntnis sinnvoll ist, aufgrund der bekannten Dokumente und der vorhandenen, vor allem westlichen Literatur über Stalins Pläne und Taten seine außenpolitischen Strategien und Ziele nach 1945 zu rekonstruieren. Eben das haben mit großer Akribie und in vorbildlicher Weise, was Hitlers außenpolitische

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Vorstellungen und Visionen betrifft, Manfred Funke, Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber, Wolfgang Michalka und Ernst Nolte unternommen 1• Einen ersten Ansatz zu einem vergleichbaren Vorhaben lege ich hier vor. Er wird im weiteren Fortgang der historischen und ideengeschichtlichen Forschung notwendiger Weise verifiziert und gewiß revidiert werden. Dazu einen Anstoß zu geben und einen Beitrag zu leisten, ist meine Absicht. Historiker mögen mir verzeihen, wenn ich aufgrund meiner Ausbildung und meines Interesses insbesondere nach den ideologischen Komponenten des stalinsehen Weltbildes frage. Sie sind meiner Ansicht nach am ehesten in der Lage, auch die außenpolitischen Aktivitäten Stalins einzuordnen, seine Taktiken und Strategien zu verstehen und ansatzweise sein außenpolitisches Konzept darzustellen. Es sind, wenn ich recht sehe, insbesondere zwei außenpolitische Orientierungen, denen Stalin auf seine unnachahmliche Weise Tribut gezollt hat, die in Rußland selbst wie anderswo ihren Eindruck nicht verfehlt haben und die er, sie instrumentalisierend, für die Machtgewinnung und Machterhaltung des von ihm verkörperten totalitären Systems mit Erfolg genutzt hat: die panslawistische und die sozialistische Idee. Die Kombination beider Ideologien vermag, bilde ich mir ein, mehr als andere Faktoren zu erklären, warum Stalin bei seinen außenpolitischen Schachzügen die widerwillige, in der Regel erzwungene, aber doch auch stille, bisweilen sogar enthusiastische Zustimmung breiter russischer Bevölkerungsschichten und nicht unbeträchtlicher ausländischer Intellektuellenkreise gefunden hat. Ohne ins Kalkül zu ziehen, daß es insbesondere seine außenpolitischen Erfolge und Triumphe gewesen sind, die ihm nach 1945 zugute gehalten und die der Existenz der Sowjetunion zugerechnet worden sind, ist weder die Energie zu verstehen, der die Sowjetunion und der Sowjetblock ihre Macht in der Nachkriegszeit verdankt haben, noch die Nostalgie, die in manchen Kreisen Rußlands und auch des Westens über den Untergang der Sowjetrnacht heute herrscht. Sie haben ihre Ursache, scheint mir, darin, daß sich viele, in der Vergangenheit wie heute, mit Ideen identifiziert haben und noch identifizieren, die Stalin für sie verkörperte. I Anstelle der umfangreichen Literatur zur hier infragestehenden Problematik (vgl. Bemd-lürgen Wendt, Großdeutschland: Außenpolitik und Kriegsvorbereitungen des HitIer-Regimes, München 1987, S. 212 Cf.) seien hier lediglich einige Arbeiten genannt, welche im engeren Sinne die außenpolitischen Konzeptionen Hitlers thematisiert haben: Manfred Funke, Hitler, Deutschland und die Mächte - Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1978; Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1933-1945 - Kalkül oder Dogma? Stuttgart 3. Aufl. 1976; Andreas Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, in: ders., Großmachtpolitik und Militarismus im 20. Jahrhundert - 3 Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Düsseldorf 1974; Wolfgang Michalka (Hrsg.), Nationalsozialistische Außenpolitik, Darmstadt 1978 sowie Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt a.M. 1987, insbesondere S. 305-335 und S. 517-549.

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Diese Ideen, oder doch die beiden erwähnten, sollen hier im Hinblick auf ihre außenpolitischen Konsequenzen, die Stalin nicht gezögert hat, auf seine Weise zu ziehen und zu nutzen, näher betrachtet werden, bevor ich es in einem abschließenden, dritten Kapitel unternehme, diesen Komplex einer ideologiegeladenen Außenpolitik, der die Jalta-Ordnung ihr Entstehen wie ihren Zusammenbruch verdankt, zu entwirren und zu entschlüsseln.

A. Danilewskys außenpolitische Konzeption Im Jahre 1869 hat Nikolai Danilewsky (1822-1885) sein politisches Credo publiziert. Es ist in seinem Buch "Rußland und Europa: Ein Überblick über die politischen Beziehungen der slawischen und der germano-romanischen Welt"2 nachzulesen. Wladimir Solowjew hat nicht gezögert, es als "die Bibel des Slawenturns" zu bezeichnen. Pjitrim Sorokin ist 1953 der Ansicht gewesen, daß die Gedanken von Danilewsky in Rußland "heute lebendiger" als vor achtzig Jahren seien 3• Und die Tatsache, daß sein 1991 in Moskau wiederaufgelegtes Buch in einer für Publikationen dieser Art im heutigen Rußland hohen Auflage von 50.000 Exemplaren erschienen ist, spricht für die These, daß es seine Faszination auch gegenwärtig nicht verloren hat. In seinem Buch versucht Danilewsky, das ist die Grundlage aller seiner Ausführungen, den Nachweis zu führen, daß Europa und Rußland zwei verschiedene Welten sind, die durch Abgrunde voneinander getrennt sind und nie zueinander kommen können. Europa, das ist für ihn keine geographische, sondern eine kulturgeschichtliche Einheit, die "germano-romanische Kultur selbst". (S. 58) Sie ist nicht, wie manche Glauben zu machen getrachtet und wohl auch selbst geglaubt haben, die "menschliche Kultur schlechthin", sondern nur eine von vielen, die sich ebenso wie die griechische und römische oder chinesische als solche verstanden hat. Mit ihr hat die russische Kultur, nach Danilewsky, "keine ihrer Wurzeln gemein". (S. 59) Rußland hat, wie er sagt, nicht zum Römischen Reich Karls des Großen gehört; es besaß nie das übernationale und allgemeineuropäische Feudalsystem; es ist weder vom Katholizismus und Protestantismus noch von der Renaissance und der Aufklärung beeinflußt worden. Es und das ganze Slawenturn sind ihm zufolge immer anders gewesen. Sie sind von Europa nie als gleichwertig anerkannt, sondern immer und von allen europäischen Fraktionen als feindliche Macht betrachtet, "ausgebeutet" und "gehaßt" worden. (S. 99) 2 N.

A. Danilewsky, Rossija i Europa (1869), Moskwa 1991.

, P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie, Stungart 1953, S. 60.

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Der Selbstfindungsprozeß der Russen und des Slawenturns, die eine gemeinsame Sprache und durch die orthodoxe Kirche eine gemeinsame Kultur besitzen, erfolge, das ist Danilewskys zweite These, im Kampf mit und in der Befreiung von der osmanischen, germanischen und madjarischen Herrschaft. Diesen Kampf zu führen, sei die weltgeschichtliche Mission Rußlands, das nach Lage der Dinge dazu allein in der Lage sei. Seine Aufgabe sei es, einen "Slawischen Bund" unabhängiger slawischer Nationen zu gründen, sie zu einigen und gemeinsam die Nachfolge anderer, zugrundegegangener und demnächst zugrundegehender Kulturen anzutreten. Wer gehörte nach Danilewsky zur großen slawischen Kultur, der die Zukunft gehören würde? Er zählte dazu, wie er sich ausdrückte, neben "Weiß-, Klein- und Großrussen" auch "die Polen, Tschechen, Serben und Bulgaren". Aus politischen, ökonomischen und religiösen Gründen, meinte er, würden auch Finnen, Rumänen und Griechen ein fester Bestandteil dieses neuen, im Entstehen begriffenen, eigenständigen Kulturkreises sein. Die kaukasischen und anderen Völker des zaristischen Reiches werden von ihm nur abfaIlig erwähnt. (S. 178) Die Hauptgefahr für die große slawische Kulturgemeinschaft ginge, wie er bereits 1869 schrieb - noch gab es einen geeinten deutschen Staat gar nicht, sondern nur 45 deutsche Teilstaaten - von Deutschland aus. Es war für ihn eine noch relativ junge, dynamische Nation, während er das Osmanische Reich als krank und leicht beerbbar wähnte, England und Frankreich bereits auf dem unaufhaltsamen Abstieg begriffen sah. Analysiert man die Vorstellungen Danilewskys im Hinblick darauf, was er unter einem "Slawischen Bund" verstand, so erweist sich, daß darin die "slawischen Nationen" die zentrale Rolle spielen. Aber es sind nicht Nationen im Sinne von "Nationalstaaten", sondern von "Völkern", die den kommenden "Bund" bilden werden. Die Völker sind für ihn, anders als bei früheren Imperien, die Grundlage des "slawischen Bundes". Deshalb heißt es bei ihm ausdrücklich: "Das Volk ist der wesentliche Grund des Staates, die Ursache seiner Existenz. Sein Hauptziel ist die Erhaltung des Volkes." (S. 222) Sie sind, wie er an anderer Stelle sagt, die "Existenzform der Menschheit". Da es aber zu seiner Zeit mit der Staatlichkeit der meisten slawischen Völker schlecht bestellt war, vindizierte er Rußland die Aufgabe ihrer staatlichen Einigung. Der "einzige Träger der politischen Idee des Slawenturns" sei unter den gegebenen Umständen Rußland. Es sei deshalb dazu berufen, die slawischen Völker zu einigen, ihnen in Gestalt eines "Bundes", also eines "Sojus", eine politische Form zu geben und dem slawischen Kulturkreis seinen ihm zukommenden, weltgeschichtlichen Rang zu verschaffen und zu sichern.

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Es wäre wahrscheinlich aufschlußreich und vermutlich auch lohnend, zu untersuchen, inwieweit die Gedanken Danilewskys in der von Stalin 1913 publizierten, aber vermutlich von Krupskaja entworfenen Schrift "Marxismus und nationale Frage"4 ihren Niederschlag gefunden haben und in der Anfangsphase der Sowjetunion auch zum Programm erhoben worden sind. Das interessiert hier nicht. Auf die Frage dagegen, inwiefern Stalin sich bei der von ihm nach 1945 vorgenommenen Gestaltung der Nachkriegsordnung in Mittel- und Osteuropa von der Konzeption Danilewskys hat leiten lassen und inwiefern er damit den Anschein erweckt hat, in der slawischen Welt latente, tief verwurzelte Hoffnungen zu verwirklichen, wird noch zUTÜckzukortunen sein.

B. Stalins außenpolitische Zielsetzungen Es scheint mir sinnvoll, bevor von der Jalta-Ordnung die Rede sein wird, auf zwei Episoden einzugehen, in denen die außenpolitischen Zielsetzungen Stalins erkennbar sind, noch bevor er die Chance erhielt, sie auf seine Weise 1945 zu realisieren, die aber in der Literatur bisher stiefmütterlich behandelt worden sind. Ich meine Stalins Intervention gegen die von Lenin geplante "Erweiterung" der Sowjetmacht nach Zentraleuropa im Jahre 1920 und Stalins erklärte Absicht über die Ausdehnung des sowjetischen Einflußgebietes, wie sie in Verhandlungen mit Hitler im Sommer 1939 und im Herbst 1940 und mit den Kriegsalliierten im Herbst 1943 und im Winter 1945 ans Licht gekommen sind. Es ist nur wenig bekannt, daß Stalin sich am 12. Juni 1920 mit einer Demarche an Lenin gewandt hat, in der er ansatzweise eine von dessen Vorstellungen abweichende, alternative Lösung für den künftigen Status der zentraleuropäischen Staaten bei der sie, wie im Kreml damals erwartet, überrollenden zweiten Welle der Weltrevolution entwickelt hat. Stalin war damals Politischer Kommissar der Armee Budjennys, die von ihrem Standort in der Ukraine aus die Order hatte, nach Westen vorzustoßen und die Fackel der Weltrevolution bis ins Herz Europas zu tragen.

In seinem Brief empfahl Stalin, die im Zuge des Vormarsches "befreiten" Nationen, darunter wörtlich "ein zukünftiges Sowjet-Deutschland, - Polen, -Ungarn, Finnland" nicht sofort, sondern erst nach einer Quarantänezeit mit Sowjet-Rußland, der RSFSR, zu vereinigen. Während dieses Zeitraumes sollten sie als quasi "unabhängige" Staaten weiterexistieren. Stalin hat dafür in seinem Brief zwei Gründe namhaft gemacht: Erstens, weil diese Nationen eine sofortige Mitglied• J. W. Stalin, Marxismus und nationale Frage, 1913, in: J. W. Stalin, Werke, 2 Bd.; Berlin 1950, S. 266-333.

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schaft in einer "Föderation vom Sowjettypus" als ein "Attentat auf ihre Selbständigkeit" betrachten würden, und zweitens, weil die Bildung einer "Konföderation" mit den bereits existierenden Sowjetrepubliken allen jenen "Nationalitäten, die früher nicht zu Rußland gehörten, die staatliche Annäherung an Sowjetrußland erleichtern" würde. S Das war eine gänzlich andere Vision als diejenige, welche Lenin vorschwebte. Dieser hatte im Juli 1919 verkündet: "Wir erklären ... , daß dieser Juli unser letzter schwieriger Juli ist, daß wir im nächsten Juli die Internationale Räterepublik begrüßen werden und daß dieser Sieg vollständig und irreversibel sein wird"6, und war ein Jahr später des hehren Glaubens, daß sein Wunschtraum, was Zentraleuropa angeht, durch den geplanten Vorstoß der Roten Armee zumindest teilweise in Erfüllung gehen würde. Wie sich das abspielen würde, hatte Steklov bereits zwei Jahre zuvor, 1918, bei den Verfassungsberatungen des 5. Allrussischen Rätekongresses, seinen Zuhörern so ausgemalt: "Früher oder später wird die Russische Räterepublik von Tochterund Schwesterrepubliken umgeben sein, die, sich vereinigend, die Grundlage für einen Bund, zunächst Europas und dann der ganzen Welt, legen werden." Da war Stalin anderer, ganz anderer Auffassung. Was er bestenfalls und wünschenswerter Weise erwartete, war nicht die Bildung eines "Bundes von Tochter- und Schwesterrepubliken", sondern das Entstehen eines engeren Kreises von, auf dem Territorium des früheren zaristischen Rußlands gelegener Sowjetrepubliken und eines weiteren Kreises quasi-unabhängiger, mit der "Sowjetunion", wie Stalin sich bereits 1920 ausdrückte, die gleichen ideologischen Grundlagen teilender, dem sowjetischen Vorbild nacheifernder und sich ihm langsam annähernder kommunistischer N achbarrepubliken. Ist es eine Überinterpretation, in den stalinschen Vorstellungen von 1920 ansatzweise den Status von "Satelliten"-Staaten zu erblicken, den die nach 1945 unter seiner Regie in Zentraleuropa geschaffenen "Volksdemokratien" erhalten haben? Der in der 1930iger Ausgabe der Werke Lenins enthaltene Brief Stalins hat ein merkwürdiges Schicksal gehabt. Er ist darin nicht nur falsch datiert, auf den 20. Januar 1920 rückdatiert, sondern in späteren Ausgaben gar nicht mehr aufgenommen worden. Aber E.R. Goodman, Boris Meissner und Helmut Wagner7 haben ihn 5

Vgl. W. J. Lenin, Werte, 25. Bd.; Berlin 1930, S. 739 f., sowie die Anmerkung 138.

• Zit. nach Elliot R. Goodman, The Soviet Design for a World State, New York 1960, S. 30. 7 Vgl. E. R. Goodman, a.a.O., S. 337-338; Boris Meissner, So~jetische Hegemonie und osteuropäische Föderation, in: G. Ziebura (Hrsg.), Nationale Souveränität oder übernationale Integration? Berlin 1966, S. 64 und 83, sowie Anmerkung 38; und Helmut Wagner, Die Sowjetunion als

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ausfindig gemacht und ihn als frühe Abweichung von leninschen Thesen und als Leitlinie für das spätere, nach 1945 in die Tat umgesetzte stalinsche Verhalten gegenüber den in den sowjetischen Machtbereich gefallenen Staaten Zentraleuropas gewertet. Wagner hat darauf hingewiesen, daß der "Zwei-Kreise-Plan" Stalins sowohl im Gegensatz zu der vom 2. Kominternkongreß ausdrücklich verworfenen Idee einer "Konföderation"! wie zu der von Lenin präferierten "Föderations"-Idee stand, aber für den späteren praktischen Gebrauch erhebliche Vorteile aufwies. Er schreibt: "Erstens sprengte die vorläufige Zurückstellung der Vereinigung aller kommunistischen Staaten nicht den Rahmen der sowjet-marxistischen Ideologie, sondern bereicherte sie (wie die These Stalins vom Aufbau des "Sozialismus in einem Lande", V. Manasjev) durch eine den Umständen Rechnung tragende, neue 'Entwicklungsstufe' auf dem Weg zum Kommunismus, was ihren Gebrauchswert zweifellos erhöhte; zweitens bestärkte sie (nicht-sowjetische) Kommunisten und Sozialisten, aber auch bürgerliche Fellow-Travellers in der süßen Illusion, daß eine mehr oder minder lang dauernde 'volksdemokratische' Regierungsform bzw. ein 'nationaler Kommunismus' auf der Tagesordnung der Geschichte stehen würde, was den gesellschaftlichen Widerstand in den 'Volksdemokratien' schwächte und eine Sowjetisierung nicht unerheblich erleichterte; und drittens erweckte sie nach außen hin den Anschein, als ob es sich bei den sowjetischen Satelliten-Staaten um ganz normale, souveräne Staaten handeln würde, was der Sowjetunion sehr zupaß kam. Insofern, als Täuschungsmanöver wie als Quarantänemaßnahme, war die 'Konföderations'-Idee Stalins nachgerade genial."g Viermal hat Stalin die Gelegenheit gehabt und auch wahrgenommen, mit außenpolitischen Partnern über die von ihm für die Sowjetunion beanspruchten Interessengebiete zu verhandeln, bevor durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges jene Fakten geschaffen worden sind, welche als Jalta-Ordnung in die Geschichte eingegangen sind: Zweimal durch Molotow mit Hitler, im August 1939 in Moskau und im Oktober 1940 in Berlin, und zweimal persönlich mit Roosevelt und ChurchilI, auf den Kriegskonferenzen von Teheran und Jalta. Die Inhalte dieser Gespräche sind in der Lage, Aufschluß über die außenpolitischen Intentionen und Pläne Stalins zu geben, weshalb hier in aller Kürze einige der Themen dieser Verhandlungen auf höchster Ebene, soweit sie uns aus offizielkommunistische Hegemonialmacht, in: H. Horn u.a. (Hrsg.), Der unvollkommene Block - Mitteleuropa zwischen Loyalität und Widerspruch, Frankfurt a.M. 1988, S. 249 f. sowie Anmerkung 13. • Vgl. W. J. Lenin, Werke, 25 Bd., a.a.O., S. 352.

• H. Wagner, a.a.O., S. 249 f.

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len und inoffiziellen, westlichen und sowjetischen Quellen bekannt geworden sind, genannt sein sollen. Die Initiative, sich mit Stalin zu verständigen, ging 1938 von Hitler aus, der sich für seinen im Frühjahr geplanten, im September auszulösenden Angriff auf Polen, wenn nicht die britische Neutralität, so doch die sowjetische Rückendeckung sichern wollte, um nicht in einen von ihm gefürchteten "Zweifrontenkrieg" zu geraten. Unter Zeitdruck hektisch geführte Verhandlungen ermöglichten am 23. August 1939 in Moskau die Unterzeichnung des "Deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages" durch Ribbentrop und Molotow, der zusammen mit dem in der gleichen Nacht unterzeichneten "Geheimen Zusatzabkommen" den Hitler-StalinPakt bildete, in dem die beiderseitigen territorialen Interessensphären abgegrenzt wurden. Hitler zögerte nicht, um zunächst Polen auszuschalten, Stalin Finnland, die baltischen Staaten, einen Teil Polens sowie BessarabienIMoldawien auszuliefern. Für beide, Hitler wie Stalin, erfüllte der Pakt gleich mehrere, wenn auch sehr verschiedene Zwecke. In Hitlers Kalkül war der Pakt mit Stalin geeignet, vier Ziele gleichzeitig zu verwirklichen: 1. die Neutralisierung der Sowjetunion bei der beabsichtigten Ausschaltung Polens; 2. die Mitwirkung der Sowjetunion an der "vierten Teilung" Polens; 3. die von ihm immer noch erhoffte, aber wenig später mißglückte Abwendung einer westlichen Intervention im deutsch-polnischen Konflikt; und 4., im Falle eines bewaffneten Konflikts mit den Westmächten, die Rückendeckung der Sowjetunion im Osten. JO Stalin hatte andere, seine eigenen Gründe, den Pakt mit Hitler zu besiegeln: 1. erbrachte er eine Arrondierung der Sowjetunion durch nahezu alle Territorien, mit Ausnahme Russisch-Polens aber mit Einschluß des östlichen Teils von Österreichisch-Galizien, die bis 1914 zum zaristischen Rußland gehört hatten; 2. beseitigte er eine akute Einkreisungsgefahr für die Sowjetunion, die im Sommer 1939 in der Äußeren Mongolei am Chalchyn-gol in schwere Kämpfe mit der japanischen Mandschuko-Armee verwickelt war und durch einen gleichzeitigen militärischen Konflikt mit Deutschland in einen - von Stalin nicht minder wie von Hitler gefürchteten - Zweifrontenkrieg zu geraten drohte; und 3. war er in der Lage, wie ja dann auch tatsächlich geschehen, einen Krieg der kapitalistischen Westmächte untereinander auszulösen, einen Konflikt, von dem Stalin mehrfach gesagt hatte, daß er kommen und der Sowjetunion eine Ruhepause für weitere, forcierte Rüstungen verschaffen würde. Ein solcher Krieg, das konnte sich Stalin unschwer ausrechnen, würde, so oder so, der Sowjetunion und der Ausbreitung der Weltrevolution unter seiner Führung zum Vorteil und Nutzen gereichen.

'0 Vgl. B. J. Wendt, a.a.O., S. 180.

Die Sowjetunion. laJta und Potsdam

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Die zweite Chance, über die Neuaufteilung der Welt mit ausländischen Mächten zu verhandeln, bot sich Stalin im Herbst 1940. Deutschland hatte in schnellen, sicherlich auch von Stalin nicht erwarteten militärischen Blitzkriegen nicht nur Polen, sondern auch Frankreich besiegt, Norwegen, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Luxemburg besetzt und Großbritannien vom Kontinent vertrieben, aber nicht zum Friedensschluß zwingen können. Um das weitere gemeinsame Vorgehen abzusprechen, traf Molotow am Morgen des 12. November 1940 in Berlin ein. In der Aussprache mit Ribbentrop am Vormittag erklärte der deutsche Außenminister dem sowjetischen unverblümt, daß nach Ansicht Hitlers der Versuch unternommen werden sollte, in "einer ganz großen Konzeption" die künftigen Interessensphären zwischen "Rußland, Deutschland, Italien und Japan" festzulegen. 11 Ribbentrop unternahm es, Molotow für eine "Südexpansion " der Sowjetunion zu erwärmen, um auf diese Weise einen "Ausgang zum freien Meer" zu gewinnen. Molotow replizierte sofort, an welches Meer der deutsche Außenminister denn denke. Ribbentrop erwiderte: In der Vergangenheit hätten beide "Partner des deutsch-russischen Paktes ... gemeinsam gute Geschäfte gemacht", Rußland habe "seine berechtigten Revisionen im Westen durchführen" können. Jetzt könne Rußland aus der bevorstehenden "Neuordnung der Verhältnisse im britischen Weltreich" insofern Nutzen ziehen, als durch eine Ausdehnung in "Richtung auf den Persischen Golf und das Arabische Meer ... der vorteilhafteste Zugang zum Meer für Rußland gefunden ... und verwirklicht werden" könnte. (S. 451 f.) Er stellte Molotow überdies in Aussicht, daß bei einer Neufassung des Montreux-Abkommens auch für den Durchgang durch den Bosporus eine für die Sowjetunion befriedigende Lösung gefunden werden könne. Molotow, der durch Vorverhandlungen, die in Moskau stattgefunden hatten, in großen Zügen über die Absichten der deutschen Reichsregierung im Bilde war und sich dabei namens der Sowjetregierung mit der "Zielsetzung des Dreimächtepakts (zwischen Deutschland, Italien und Japan) solidarisch" erklärt und entschlossen gezeigt hatte, mit den drei Mächten "politisch zusammenzuarbeiten" (S. 428), erwiderte, daß "bei einer auf längere Sicht vorgenommenen Abgrenzung der Interessensphären Präzisierungen notwendig seien" und daß bei einer "Teilnahme der Sowjetunion an den von dem RAM (Reichsaußenminister) in Aussicht genommenen Aktionen diese genau besprochen werden (müßten), und zwar nicht nur in Berlin, sondern auch in Moskau". (S. 454) . Unmittelbar danach, ebenfalls noch am Vormittag des 12. November, kam es zum ersten von zwei Gesprächen zwischen Hitler und Molotow. Wie aus den Protokollnotizen des deutschen Auswärtigen Amtes, auf die ich mich hier stütze, 11 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945. Serie D: 1937-1945. Bd. XI. 1, Bonn 1964. S. 451.

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hervorgeht, leitete Hitler die Unterhaltung mit der Bemerkung ein, daß es sich bei Rußland und Deutschland um zwei große Nationen handele, "die von Natur aus keine Interessengegensätze zu haben brauchten, wenn jede Nation begriffe, daß die andere gewisse Lebensnotwendigkeiten brauche, ohne deren Sicherung ihre Existenz unmöglich sei". Bei ihrer Berücksichtigung "müßte es eigentlich möglich sein, eine Regelung zwischen ihnen zustande zu bringen, die über die Lebensdauer der augenblicklichen (beiden) Führer hinaus eine friedliche Zusammenarbeit zwischen beidenLändern ermögliche". (S. 455) Das fand genauso wie die Bemerkung Hitlers, wenn beide Länder zusammenhalten, gemeinsam vorgehen würden, dies für beide Seiten von Vorteil wäre, würden sie dagegen gegeneinander arbeiten, "so würden ausschließlich dritte Länder die Nutznießer sein" (S. 456), die lebhafte Zustimmung Molotows. Dieser erklärte, daß alles, was er in der Folge mitteilen würde, mit "der Ansicht Stalins" identisch sei. Er stimme den allgemeinen Ausführungen Hitlers zu, aber bitte um die Klärung einiger Detailfragen, die Finnland, Bulgarien, Rumänien und die Türkei sowie die "Abgrenzung des sogenannten großostasiatischen Raumes" (S.40) betreffen würden. Als das Gespräch am folgenden Tage fortgesetzt wurde, zeigte sich, daß Molotow mit den Erläuterungen Hitlers nicht zufrieden war. In Finnland, hatte Hitler erklärt, habe Deutschland lediglich, durch den Krieg bedingt, wirtschaftliche Interessen; es gehöre, wie vereinbart, zur sowjetischen Einflußsphäre. Die Sicherheitsgarantie für Rumänien sei nicht gegen die Sowjetunion gerichtet gewesen, sondern habe den Zweck gehabt, Rumänien für den Verlust Bessarabiens I Moldawiens zu entschädigen und gegen einen Angriff Ungarns auf Siebenbürgen zu sichern. Warum die Sowjetunion mit Bulgarien ein Garantieabkommen abzuschließen wünsche, könne er, Hitler, nicht einsehen, da doch gar kein Angebot aus Sofia dazu vorliegen würde; aber darüber würde man sich, nach Konsultationen mit dem Duce, schon einigen können. Was die Revision der Meerengenverträge von Montreux über die Durchfahrt der sowjetischen Flotte durch die Dardanellen angehe, so kenne die sowjetische Regierung die positive Einstellung Deutschlands, das zugesagt habe, in diesem Sinne auf die türkische Regierung einzuwirken. (S. 462 ff.) Molotow aber insistierte, von Hitlers Ausführungen unbeeindruckt, darauf, daß die von der Sowjetunion gewünschten Klarstellungen angesichts der großen gemeinsamen Pläne doch eigentlich von "verschwindender Bedeutung" (S. 465) seien und bei gutem Willen beider Seiten einvernehmlich zu regeln sein müßten, ohne auch nur mit einem Wort auf die angebotene Südexpansion der Sowjetunion einzugehen. Hitler beendete den Meinungsaustausch mit der Zusage, daß "die weiteren Wünsche Rußlands in bezug auf seine künftige Stellung in der Welt in Betracht gezogen werden müßten". (S. 472)

Die Sowjetunion. Jalta und Potsdarn

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In dem abschließenden Gespräch mit Ribbentrop in der Nacht des 13. Novembers, das wegen eines angekündigten Luftalarms im Luftschutzkeller des Reichsaußenministers stattfand, wurde Molotow über Erwarten deutlich. Der Sowjetunion würden "papierne Abmachungen" nicht genügen, "sie müsse auf tatsächlichen Garantien für ihre Sicherheit bestehen". (S. 476) In diesem Zusammenhang begehrte er, über die mehrfach angesprochenen Fragen hinaus, auch zu wissen, wie Deutschland sich die Zukunft Ungarn, Jugoslawiens und Griechenlands vorstelle und erklärte, daß die Sowjetunion, ähnlich wie bei den gerade stattfindenden Verhandlungen über eine Beteiligung der Sowjetunion an der internationalen Donau-Schiffahrts-Kommission, auch eine Regelung bezüglich der "Durchfahrten aus der Ostsee (Großer Belt, Kleiner Belt, Sund, Kattegatt, Skagerrak)" wünsche. (S. 476) Es war offensichtlich, daß Molotow an der von Ribbentrop wiederholt angesprochenen "Verständigung im großen", neben der alle anderen Fragen "völlig belanglos" (S. 477) seien, desinteressiert war. Darauf sei Molotow, konstatierte der Reichsaußenminister, ihm eine Antwort "schuldig" geblieben. (S. 477) Hitler hatte, von Ribbentrop daran bestärkt, aus seiner Sicht gute Gründe, im Jahre 1940 eine erneute, umfassendere Abgrenzung der Interessensphären vorzunehmen und der Sowjetunion aus der "Erbmasse" des britischen Weltreiches einen "freien Zugang" zum Meer anzubieten. Bei einem Erfolg seiner Bemühungen wäre die Sowjetunion in einen Krieg mit Großbritannien verwickelt worden, was die deutsche Kriegsführung entlastet hätte und England, wie Hitler immer noch hoffte, zu einem Friedensschluß mit Deutschland unter Anerkennung des auf dem Kontinent geschaffenen Status quo bewegen sollte. Aber darauf ließ sich Stalin nicht ein. Er hatte aus seiner Sicht gute Gründe, den Krieg unter den "kapitalistischen Mächten" nicht beenden zu helfen, sondern ihn zu verlängern. Und er stellte aus der Position der Stärke seinerseits Bedingungen. Er dachte gar nicht daran, sich mit der im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten "Teilung der Welt", was die Westgrenze des sowjetischen Einflußgebietes betraf, zufriedenzugeben, ließ sich nicht in neue Abenteuer in die afghanischen Berge und persischen Gewässer locken. Stattdessen zeigte er sich an dem Teil Europa interessiert, den Hitler für sich beanspruchte: am Balkan, einschließlich Ungarns und Jugoslawiens, an den türkischen Meerengen und an den Ostseeausgängen. Das irritierte Hitler derart, daß dieser das Ruder herumwarf und am Tage nach der Abreise Molotows aus Berlin, am 14. November, erste Anweisungen zur Vorbereitung des Rußlandfeldzuges erteilte, um England, wenn nicht gemeinsam mit der Sowjetunion, dann eben durch die Ausschaltung auch von dessen letzten potentiellen Verbündeten auf dem Festland - wie einst Napoleon - zur Anerkennung seiner Herrschaft in Europa zu zwingen. Seine Rechnung war: "Ist aber Rußland zerschlagen, dann ist Englands 16 Timmcrmann

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letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des Balkans ist dann Deutschland." Seine "Zwangsvorstellung" war, wie er im Januar 1945 Martin Borman anvertraute, "daß Stalin mir zuvorkommen könnte.,,12 Wie hartnäckig und unbeirrt Stalin seine Ziele in Europa verfolgt hat, läßt sich an zwei Beispielen nachweisen. Churchill berichtet in seinem Memoiren-Buch "Der Zweite Weltkrieg" von einer Begegnung mit Stalin im Kreml am 9. Oktober 1944. Im kleinen Kreis, anwesend waren außer Churchill und Stalin nur die Außenminister Eden und Molotow sowie zwei Dolmetscher, hielt er den Zeitpunkt für gekommen - die Rote Armee stand bereits in Rumänien und Bulgarien - unter acht Augen offen und unverblümt über die Zukunft Südosteuropas zu sprechen. Zu Stalin gewandt, sagte er: "Lassen Sie uns unsere Angelegenheiten im Balkan regeln"Y Seinen mündlich erläuterten Vorschlag präzisierend, schob er Stalin eine handschriftliche Notiz über den Tisch, auf dem stand: "Rumänien: Rußland

90%

Die anderen

10%

Großbritannien

90%

. Griechenland:

(im Einvernehmen mit den USA) Rußland

10%

Jugoslawien

50-50%

Ungarn

50-50%

Bulgarien: Rußland

75%

Die anderen

25%"

Stalin sagte kein Wort, machte mit seinem Blaustift nur einen großen Haken unter den Zettel, was Churchill als "abgemacht" verstand; offenbar hoch erfreut darüber, daß Stalin sich so großzügig gezeigt hatte. Forderungen, die Hitler noch 12 Zit. nach: Joachim C. Fest, Hitler - Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1973, S. 875 und 877. Daß diese Annahme nicht grundlos war, ist von Viktor Suworow in seinem Buch "Der Eisbrecher - Hitler in Stalins Kalkül", Stuttgart 1989, detailliert, kenntnisreich und, wie mir scheint, überzeugend, wenn auch zugespitzt, nachgewiesen worden. 13

W. S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 6 Bde. Stuttgart 1953, VI. Bd., I. Buch, S. 269.

Die Sowjetunion, lalta und Potsdam

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irritiert und zum unverzüglichen Bruch mit Stalin bewogen hatten, bei Churchill stießen sie, wenn auch nicht auf Gegenliebe - er nennt das von ihm angebotene Geschäft selbst "frivol", "roh und sogar schamlos" (S. 270 und 274) -, so doch auf Verständnis und Zustimmung. Auch mit zwei weiteren Forderungen, mit der Stalin Hitler überrascht hatte, die ihm aber offenbar sehr am Herzen lag, zeigte sich Churchill im Mai 1945 einverstanden. In einem Expose über die europäische Situation, verfaßt am 4. Mai 1945, steht der Satz: ".. .im Rahmen einer Generalbereinigung (könnten wir uns) in bezug auf die Ausgänge aus dem Schwarzen Meer und der Ostsee entgegenkommend zeigen". (VI. Bd., 2. Buch, S. 183). Durch Zugeständnisse suchte Churchill während des Krieges das Wohlwollen Stalins zu gewinnen, einen Bruch zu vermeiden, auch wenn ihm gelegentlich, wie er am 22. Oktober 1944, nach seinem hier erwähnten Besuch in Moskau, an Präsident Roosevelt telegraphierte, schwante, was Stalin beabsichtigte: in Zentraleuropa "mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn einen Gürtel von unabhängigen, antinazistischen, prorussischen Staaten" schaffen zu wollen. (VI. Bd., 1. Buch, S. 285) Was er nicht begriffen hatte, war: die Verhandlungspartner Stalins wechselten, aber seine Ziele in Hinblick auf Zentraleuropa blieben unverändert. Auf der Konferenz von Teheran, die vom 28.11. bis 1.12.1943 in der persischen Hauptstadt stattfand, haben sich Roosevelt, Stalin und Churchill nicht über die zukünftige Ordnung in Europa unterhalten. Sie waren voll damit beschäftigt, bei diesem ersten gemeinsamen Treffen ein persönlich freundschaftliches Verhältnis zueinander herzustellen und die militärischen Operationen gegen Deutschland, insbesondere die Bildung der von Stalin immer wieder geforderten "Zweiten Front", das Invasionsunternehmen "Overlord", am Atlantik und nicht in Italien und auf dem Balkan zu errichten und zu koordinieren. Eine Durchsicht der vorliegenden Protokolle und Beschlüsse der Konferenz, die von der sowjetischen Seite publiziert worden sind l4 , fördert zutage, daß das Thema der zukünftigen Gestaltung Europas, mit zwei Ausnahmen, von Roosevelt und Churchill überhaupt nicht angesprochen worden ist und auch Stalin von sich aus keine Anstalten dazu gemacht hat. In der Abschlußerklärung der "Großen Drei" heißt es: "Wir kamen voller Hoffnung und Entschlossenheit hierher. Wir scheiden von hier als echte Freunde im Geist und Ziel." (S. 90) Das klingt nicht nur heute fatal, das ließ auch damals schon Schlimmes befürchten. ls

1< Vgl. Alexander Fischer (Hrsg.), Teheran, lalta, Potsdam - Die sowjetischen Protokolle um die drei Kriegskonferenzen der "Großen Drei", Köln 1968,3. Aufl. 1985, S. 17-91. 15 Vgl. dazu den Kommentar von George F. Kennan, in: ders., Sowjetische Außenpolitik unter Lenin und Stalin, Stuttgart 1961, S. 482 f.

16·

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Die beiden Punkte, die kurz zur Sprache kamen, waren die Zukunft Deutschlands und Polens. Nach der Darstellung von Churchill, die durch die sowjetischen Protokolle bestätigt wird (S. 84 ff.), war dies das Resümee der Nach-Lunch-Unterhaltung am Nachmittag des 1. Dezember 1943 über Deutschland: "Nunmehr fragte Stalin: 'Ist noch ein Punkt zu besprechen?' - 'Das deutsche Problem', erwiderte der Präsident (Roosevelt). Stalin erklärte, er sähe Deutschland am liebsten aufgeteilt. Der Präsident äußerte sich zustimmend, worauf Stalin meinte,er sei dagegen." Grundsätzlich sei ich nicht dagegen, erwiderte ich". (V. Bd., 2. Buch, S. 95) Gegen die von Roosevelt und Churchill vorgetragenen Pläne für eine Aufteilung des besiegten Deutschlands, die sich nur darin unterschieden, daß Roosevelt fünf Staaten und zwei unter internationaler Kontrolle stehende, Churchill dagegen zwei deutsche Staaten schaffen wollte, hatte Stalin nichts einzuwenden. Er meinte nur, daß er dem Rooseveltschen Vorschlag zuneige, weil er "eine größere Schwächung Deutschlands" verspreche. (Ebda., S. 76) In der Sache selbst wurde in Teheran nichts entschieden. Auf Vorschlag Stalins sollte die auf der Moskauer Außenministerkonferenz vom 19. - 30. Oktober 1943 gebildete Europäische Beratende Kommission (European Advisory Commission) die Aufgabe übernehmen, die Pläne für die Aufteilung zu erörtern und einen gemeinsamen Plan zu erarbeiten. (S. 86) Roosevelt und Churchill stimmten dem zu. Zu einem Einvernehmen über die konkrete Form der Aufteilung Deutschlands in voneinander getrennte Einzelstaaten ist es indes wegen der unüberbrückbaren Gegensätze der Kriegsalliierten untereinander nicht gekommen. Die nach Kriegsende erfolgte Teilung Deutschlands war nicht das Ergebnis ihrer Einmütigkeit, sondern ihrer im "Kalten Krieg" eskalierenden Konfrontation. Mit der sowjetischen Sicht des "polnischen Problems" war von westlicher Seite zum ersten Male der britische Außenminister Anthony Eden bei seinem Besuch am 16. Dezember 1941 in Moskau konfrontiert worden. Stalin bestand darauf, daß der Sowjetunion nach Kriegsende alle jene Gebiete Polens zufallen sollten, die er von Hitler 1939 erhalten hatte. Eden bat um Bedenkzeit, um mit seiner wie mit der amerikanischen Regierung darüber beraten zu können. Er wies die Forderung Stalins aber nicht als Zumutung, als unvereinbar mit der Pqlen 1939 gegebenen britischen Garantie, die einzulösen, Großbritannien am 3. September Deutschland den Krieg erklärt hatte, zurück, was Stalin nur als Zeichen dafür verstehen konnte, daß auch die Westmächte, wie zuvor Hitler, seinen territoralen Ansprüchen gegenüber Polen zu entsprechen gewillt waren. 16

16Vgl. W. S. Churchi/l, a.a.O., 11. Bd., 2. Buch, S. 294, sowie George F. Kennan, a.a.O., S. 476 ff.

Die Sowjetunion, Jalta und Potsdarn

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Auf der Teheraner Konferenz, zwei Jahre später, waren es Roosevelt und ChurchilI, die von sich aus, ohne von Stalin dazu gedrängt worden zu sein, den Vorschlag machten, "Polen einige hundert Meilen westwärts zu verlegen, die russischen Forderungen im Osten auf diese Weise zu befrie~iigen und Deutschland durch die Abtretung größerer Gebietsteile bis zur Oder an Polen die Rechnung zahlen zu lassen, auch wenn die Vertreibung einiger Millionen Deutscher aus diesen Gebieten dabei in Kauf genommen werden müßte" .17 Es war Roosevelt, der das Thema auf der Konferenz zur Sprache brachte; und es war ChurchilI, der das strittige Problem auf seine Weise zu lösen vorschlug. Gemäß den sowjetischen Protokollnotizen sagte er: "Diese drei Streichhölzer (von denen eins Deutschland, das zweite Polen und das dritte die Sowjetunion darstellt) müssen alle nach Westen verschoben werden, um eine der wichtigsten Aufgaben zu lösen, die vor den Alliierten steht, die Sicherung der Westgrenze der Sowjetunion."18 Stalin erwiderte unwidersprochen: " ... zwischen uns und Polen muß die Grenze von 1939 gelten ... Die Sowjetregierung besteht auf dieser Grenze und hält diesen Standpunkt für richtig. Stehen noch andere Fragen zur Diskussion?" (Ebda., S. 83f.) Vermutlich glaubten damals beide, Roosevelt wie ChurchilI, durch ihr Angebot Stalins Appetit befriedigt und auch der Sache der anderen zentraleuropäischen Staaten einen Dienst erwiesen, sie vor dem Zugriff Stalins auf Kosten Deutschlands gerettet zu haben. Aber als ChurchilI wenig später seinen Vorschlag auf die Formel brachte: "Im Prinzip wurde beschlossen, daß die Heimstatt des polnischen Staates und Volkes zwischen der sogenannten Curzon-Linie und der Oder-Linie liegen soll, unter Einbeziehung von Ostpreußen und der Provinz Oppeln im Bestand Polens", intervenierte Stalin sofort. Er erwiderte: "Die Russen haben keine freien Häfen in der Ostsee. Deshalb brauchten die Russen die eisfreien Häfen Königsberg und Memel und einen entsprechenden Teil Ostpreußens. Um so mehr, als das, historisch gesehen, von alters her slawisches Gebiet ist. Wenn die Engländer einverstanden sind, daß wir das genannte Gebiet erhalten, dann werden wir der von Churchill vorgeschlagenen Formel zustimmen" (S. 86f.) Roosevelt erklärte durch Schweigen seine Zustimmung zum neuerlichen "Geschäft", auf das sich damit die Repräsentanten der USA und Großbritannien mit Stalin eingelassen hatten. Churchili kleidete, sein Einverständnis laut dem sowjetischen Protokoll in die Worte: "Das ist ein sehr interessanter Vorschlag, den ich unbedingt prüfen werde". (S. 87) So sind die Nachkriegsgrenzen im Osten Europas von den Westmächten festgelegt worden, als sie noch in der Lage waren, über sie zu verhandeln, bevor Stalin sie vor vollendete Tatsachen stellte, die zu verhindern, sie versäumt hatten.

17

G. F. Kennan, S. 483.

11

A. Fischer, a.a.O., S. 83.

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Auf der Jalta-Konferenz, die zu Beginn des Jahres 1945, vom 4. Februar - 11. Februar, auf der Krim stattfand, haben Roosevelt und Churchill auf ihre Weise die schon geschaffenen und in den letzten Wochen des Krieges in Europa noch zu schaffenden Tatsachen sanktioniert. Sie bewogen Stalin, seine Unterschrift unter ein Schriftstück, genannt "Beschlüsse" der Konferenz von Jalta, zu setzen, in dem es, was Deutschland betraf, hieß: "Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden die oberste Autorität gegenüber Deutschland innehaben. In Ausübung dieser Autorität werden sie solche Schritte einschließlich der völligen Entwaffnung, Entmilitarisierung und Aufgliederung Deutschlands unternehmen, die sie für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit für erforderlich halten." (S. 191) Und was die Staaten Osteuropa betraf, so unterzeichneten alle drei eine Deklaration, genannt "Erklärung über das befreite Europa" , in der ihnen verheißen wurde: "In Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Atlantik-Charta über das Recht aller Völker auf die Wahl der Regierungsform, unter der sie leben möchten, muß die Wiederherstellung der souveränen Rechte und der Selbstregierung für jene Völker gewährleistet werden, die durch die Aggressor-Staaten ihrer gewaltsam beraubt wurden." (Ebda.) Das, was diese Beschlüsse der "Großen Drei" verhießen, mochte für den Hausgebrauch der westlichen Staatsmänner gegenüber ihren Völkern sehr nützlich sein; für Stalin war es völlig unerheblich, er dachte nicht im Traum daran, sich an die verkündeten Prinzipien zu halten, es wäre das Ende seiner Herrschaft und der Sowjetunion gewesen; für die Völker der Sowjetunion und Zentraleuropas aber, die mit diesen schönen Worten der Herrschaft Stalins ausgeliefert wurden, waren sie pure Heuchelei und Hohn. Die Vollendung der von den USA und Großbritannien in Jalta sanktionierten, von Stalin umsichtig und zielstrebig geschaffenen Tatsachen nahm in Europa ihren bekannten Lauf, noch bevor der Krieg in Europa am 8. Mai 1945 mit der "bedingungslosen Kapitulation" Deutschlands beendet war, aber auch danach, in Erfüllung der mit der Sowjetunion zuvor beschlossenen Vereinbarungen. Zur Ehre des von Skrupeln gelegentlich geplagten, ihnen aber durchaus widerstehen könnenden Winston Churchill muß gesagt werden, daß er einer der ersten westlichen Staatsmänner war, der sich nicht scheute, auszusprechen oder doch dem Papier anzuvertrauen, was er und Roosevelt der Welt bei ihrem "Geschäft" mit Stalin eingebrockt hatten. In seinem Telegramm vom 12. Mai 1945, vier Tage nach den Siegesfeiern, berichtete er dem neuen amerikanischen Präsidenten, Harry S. Truman, von seinen ihm den Schlaf raubenden Sorgen. Das Dokument verdiente es, meine ich, weil es

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das Dilemma zeigt, in das sich die Westmächte am Ende des Krieges manövriert hatten, an dieser Stelle ausführlich und im Originaltext zitiert zu werden. Es begann: "/ am profountily concerned ahout the European situation. ... "

Und Churchill fuhr, eine bevorstehende Abwendung der USA aus Europa befürchtend, .fort: "An iron curtain is drawn down upon their front. We do not know what is going on behind. There seems little doubt that the whole of the regions east of the line Lübeck Trieste - Corju will soon be completely in their hantis. To this must be added the forther enormous area conquered by the American armies between Eisenach and the Eibe, which will, I suppose, in afew weeks be occupied, when the Americans retreat, by the Russian power. All kinds of arrangements will have to be made by General Eisenhower to prevenl another immense flight of the German population westward as this enOrmous Muscovite advance into the centre of Europe takes place. Anti then the curtain will descenti again to (J very large extent, if not entirely. Thus a broad band of many huntired miles of Russian-occupied territory will isolate us from Polanti. Meanwhile the attention of our peoples will be occupied in inflicting severities upon Germany, which is ruined anti prostrate, anti it would be open to the Russians in a very sOOrt time to advance ifthey chose to the waters ofthe North Sea anti the Atlantic",19

Es ist eine Fußnote immerhin wert, daß der Begriff des "Eisernen Vorhanges", der aufgrund des oben zitierten Telegramms in der Regel mit dem Namen von Churchill verbunden wird, von ihm nicht erfunden worden ist. Wie sein Biograph schreibt, hatte er ihn ein paar Tage zuvor in "The Times" vom 3. Mai gefunden. Der Außenminister der Regierung Dönitz, Graf Schwerin von Krosigk, hatte ihn in seiner Rundfunkansprache vom 2. Mai an das "Deutsche Volk" verwendet und in Umlauf gesetzt. 20 Mr. Churchill hat immer die Gabe zur Dramatisierung besessen. Aber diesmal hatte er kaum übertrieben. Die Angst und Großbritanniens Ohnmacht angesichts der von Roosevelt und ihm selbst vorgenommenen Auslieferung Halb-Europas an Stalin haben ihm seine Worte eingegeben. In Potsdam, wo sich die nunmehrigen "Großen Drei" - der neue amerikanische Präsident Truman, Generalissimus Stalin und, zunächst noch Churchill, dann der neugewählte britische Premier Clement R. Attlee - vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 aufhielten, um ihr weiteres Vorgehen in Europa und Asien zu beraten, sind, 19

Martin Gilbert. Winston S. Churchill. vol. VIII "Never Despair" 1945-1965. London 1988. S. 7.

10 Vgl. ebda. M. Gilbert hat an gleicher Stelle. Anmerkung 1. darauf hingewiesen. daß dieser Begriff auch zuvor schon Eingang in den Sprachgebrauch gefunden hatte.

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zumindest was Europa betraf, die Würfel für lange Zeit gefallen: von Lübeck bis Triest hatte Stalin das Sagen. Daran etwas zu ändern, war es nun zu spät - oder zu früh. Truman und Attlee suchten, indem sie auf die Einhaltung der zuvor mit Stalin gemachten Vereinbarungen pochten, sich alle Mühe gebend, einen offenen Konflikt mit ihm zu vermeiden, von Westeuropa zu retten und zu sichern, was von ihm noch übriggeblieben war. In Osteuropa aber erhielt Stalin freie Hand, das zu tun, was ihm beliebte und was er zur Sicherung seiner Herrschaft und für die Existenz der Sowjetunion für erforderlich hielt. Es sollte sich bewahrheiten, was nicht wenige für möglich gehalten haben, aber nur wenige 1945 auch auszusprechen wagten, was indes für Stalin die klarste Sache der Welt war. Wir verdanken es Milovan Djilas, daß in glaubwürdiger Weise überliefert ist, was Stalin im Schilde führte, nein, was dieser als seine schicksalshafte Aufgabe angesehen hat, gegen die zu verstoßen, ihm dumm und töricht erschienen wäre. Nach einem Gespräch mit Stalin am 12. April 1945 notierte er dessen, ihm persönlich gegenüber gemachten Worte: "Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein,,:21 So dachte Stalin, seine Ideologie und seine lebenslangen Erfahrungen hatten es ihn gelehrt. 22 Was die Potsdamer Konferenz und ihre Auswirkungen betrifft, so sei hier, am Abschluß dieses Kapitels über einige außenpolitische Aktivitäten Stalins, die dazu dienen sollten, seine Motive und Zielsetzungen zu ergründen, das Resumee von Gustav Stolper erwähnt. Er notierte 1948: "Jalta war das Werk von Dilettanten, die weder von Geschichtskenntnis noch von wirklicher internationaler Erfahrung belastet waren. Potsdam war ein Kunstgriff von Juristen, die glaubten, Weltprobleme könnten durch ein paar spitzfindige Formeln gelöst werden, die dann alle Beteiligten nach ihrem Gutdünken lesen und interpretieren können".23 Weniger harsch klingt aber umso nachdenklicher macht das Urteil, das der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan über die Vereinbarungen der "Großen Drei" auf der Potsdamer Konferenz gefällt hat: "/ cannot recall any political document the reading o/whichfilled me with a greater sense 0/depression than the communique to which President Truman set his name at the conclusion 0/ these con/used and unreal discussions. ,,14

21

M. Djilas, Gespräche mit Stalin, Frankfurt a.M. 1962, S. 146.

22

Vgl. dazu das Kapitel "Stalin als Staatsmann", in: G.F. Kennan, a.a.O., S. 325-351.

21 G. Stolper, German Realities (1948), dtsch.; Die deutsche Wirklichkeit - Ein Beitrag zum künftigen Frieden Europas, Hamburg 1949, S. 160. 24

G. F. Kennan, Memoirs 1925-1950, Boston 1967, S. 258.

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c. Stalins Außenpolitik und sein Werk: Die Jalta-Ordnung Ich neige dazu, die ideologischen Komponenten im Denken Stalins nicht zu unterschätzen. Aber ich bin mir bewußt, daß sein außen- wie innenpolitisches Verhalten auch ohne ihre Berücksichtigung interpretierbar ist. Deshalb möchte ich dem Leser im folgenden beide Versionen der Deutung Stalins in gebotener Kürze vor Augen führen und ihn selbst urteilen lassen, welche ihm plausibler erscheint; wenn nicht gar beide ein Körnchen Wahrheit enthalten und einander ergänzen. Eingangs dieser Abhandlung bin ich auf die panslawistischen Ideen Danilewskys eingegangen, habe sie kurz in Erinnerung gerufen. Ich habe es nicht getan, weil ich der Ansicht bin, daß Stalin sie sich zu eigen gemacht hat und sich bei seinen außenpolitischen Handlungen von ihnen hat leiten lassen. Dazu hatte er keinen Grund. Allein die Tatsache, daß er ein Georgier ist, nicht in einem slawischen Milieu aufgewachsen ist und nirgendwo bekundet hat, sich als Slawe zu fühlen, Russisch nie akzentfrei gesprochen hat, steht dein entgegen. In seinen vorliegenden Schriften habe ich nichts entdecken können, was darauf schließen läßt, daß er irgendeine besondere emotionale Anhänglichkeit für das Russenturn oder das Slawenturn gehabt hätte. Was ich mit dem Hinweis auf die von Danilewsky in Umlauf gesetzen panslawistischen Ideen lediglich zu bedenken geben möchte, ist, ob nicht andere Kräfte, weniger die nicht-russischen slawischen Völker als Teile der russischen Bevölkerung, denen der Sozialismus fremd oder gleichgültig war, trotz allem Abscheu gegenüber der Person Stalins in ihm ein Werkzeug gesehen haben, das zustande bringen würde und zustand gebracht habe, was andere nicht geschafft hatten, und in Stalins Werk trotz aller Entstellungen die Verwirklichung panslawistischer Lieblingsideen. Ich möchte das nicht ausschließen, wie ja doch auch nicht zu übersehen ist, daß der von Danilewsky genährte Fremdenhaß, der in seinem Denken seltsame Blüten getrieben hat und von ihm gerechtfertigt worden ist, von Stalin für seine Zwecke meisterhaft ausgenutzt worden ist. Was mir bei diesen Überlegungen vor Augen steht, ist, daß Hitler, wie wir heute besser wissen können, im tiefsten Herzen einen krudem Rassismus angehangen hat und am Ende seines Lebens vom deutschen Volk nur zu sagen wußte, daß es nicht wert sei, ihn zu überleben, weil es versagt habe, weil es sich in seinen Augen als Mittel zur Verwirklichung seiner rassistischen Ideale unfähig erwiesen habe. Das aber hat, wie wir heute auch wissen, nicht verhindert, daß viele Deutsche in ihm seinerzeit eine Lichtgestalt, den Verwirklicher der großdeutschen Einheit, die andere vor ihm nicht zustande gebracht hatten, erblickt haben und ihm gefolgt sind. Seine zeitweilig große, zu ihm aufblickende, in ihn alle ihre Hoffnungen

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investierende Anhängerschaft in Deutschland hat er nicht dadurch gewonnen, daß er ihnen seine rassistischen Parolen verkündete, sondern an ihre nationalen Gefühle appellierte und sie an seine nationale Mission glauben ließ. Ich könnte mir denken, daß ein ähnlich fatales Mißverständnis auch in Rußland im Hinblick auf Stalin eine Rolle gespielt hat. Bei keinem Staatsmann, auch bei Stalin nicht, ist auszuschließen, daß er, gerade dann, wenn er wie Stalin kein typischer Intellektueller und auch kein realitätsferner Doktrinär ist, sich unreflektiert Vorstellungen zu eigen macht, die ihm im Laufe der Zeit zur zweiten Natur werden; vor allem dann, wenn sie ihm persönlich Nutzen gebracht haben, wenn sie ihn in seinem Selbstverständnis emporgetragen und zum Erfolg verholfen haben. Dann werden auch eingefleischte Realisten zu Gefangenen ihrer selbstgemachten Ideologien, betrachten die Welt durch ihre ideologische Brille und handeln im Einklang mit ihren ideologischen Vorgaben. Mir scheint jedenfalls, die Tatsache, daß Stalin von seinen frühesten bis zu seinen letzten uns bekannten Schriften ideologisch argumentiert und sich gerechtfertigt hat, spricht dafür, daß die kommunistische Ideologie, wie er sie verstanden und interpretiert hat, in der Lage ist, sein Verhalten zu verstehen, das er Zeit seines Lebens in innen- und außenpolitischen Fragen an den Tag gelegt hat: nicht nur im Hinblick auf die Parole von der anstehenden und von der kommunistischen Partei zu organisierende Weltrevolution und nicht nur im Hinblick auf den kommunistischen Menschheitstraum einer befreiten, nicht ausgebeuteten, von allen äußeren und inneren Zwängen befreiten Menschheit, sondern auch im Hinblick auf den von ihm inszenierten "Sozialismus in einem Land" und eben auch - wie könnte es anders sein? - im Hinblick auf die von ihm verfolgte, bei allen Wendungen doch erstaunlich simple Außenpolitik. Welch eine Genugtuung muß es für einen Mann von der Geistesart Stalins gewesen sein, sich bei allem seinem Tun in Einklang mit der Weltgeschichte zu wähnen, als Führer einer Weltbewegung zu fungieren, der Menschheit, auch wenn sie sich noch so stark sträubte, mit den entsprechenden Mitteln, ohne die es nicht zu haben war, zum Glück zu verhelfen und darin durch den Erfolg wider alle Erwartungen und Befürchtungen auch noch bestätigt zu werden! Dafür aber, zur Rechtfertigung und als Leitlinien seines Handeins, bot sich ihm nichts besseres an als die einzige Ideologie, die er kannte und die er auf seine Weise, ohne Skrupel aber auch ohne ihr jemals untreu zu werden, interpretierte: die kommunistische. Seine Außenpolitik folgte, wenn ich recht sehe, einem sehr einfachen, in seiner ideologischen Sicht logischen Schema: Es galt, erstens, die Sowjetunion als den "Hort des Sozialismus" mit allen verfügbaren Mitteln zu erhalten, was er mit einigem Recht nur sich selbst zutraute, niemand anderem. Es galt, zweitens, einen

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"Sperrkreis" von sozialistischen, von der Sowjetunion abhängigen Staaten zu schaffen, sowohl um den Kern zu schützen, wie um die betroffenen Völker langsam für die Vereinigung mit der Sowjetunion "reif' zu machen; und es galt, drittens, die kommunistischen Parteien des dritten, die restliche Welt umspannenden "Sperrkreises" in den Dienst der Sowjetunion zu stellen, sie zur Verteidigung der Sowjetunion wie zur Durchführung der Weltrevolution einzuspannen. Wie kommt ein Mann aus Georgien dazu, so global zu denken? Dazu waren die kaukasischen Mafia-Traditionen, mit denen er aufgewachsen ist, nicht in der Lage; das ging über den Horizont auch des extremsten russischen Nationalismus; das war genauso wenig mit den panslawistischen Ideen Danilewskys zu vereinbaren. Stalin das einzugeben, dazu war allein die universale Ide9logie des Kommunismus, wie ihn Marx verkündet, Lenin in Rußland zur Staatsdoktrin gemacht und Trotzki ihn in einer "permanenten Revolution" weltweit zu verbreiten vorgehabt hatte. Stalin hatte diese Ideologie "gefressen", war aber allzeit Realist genug, sich bei ihrer Verwirklichung nicht zu "übernehmen". Er ging vorsichtig vor, niemand trauend, weder seinen eigenen Genossen und anderen kommunistischen Parteien noch ausländischen Mächten, seien sie kapitalistisch, faschistisch oder auch kommunistisch; er machte einen Schritt nach dem anderen, das Erreichte nicht aufs Spiel setzend; und er war hartnäckig, hat das Endziel nie aus dem Auge verloren. Ist das nicht das Geheimnis einer ganz und gar nicht geheimnisvollen Außenpolitik? Was er in der Sowjetunion veranstaltet hatte, die Gleichschaltung der Gesellschaft und die Nivellierung der Völker, das suchte er analog dazu auch im ersten, die Sowjetunion umgebenden "Sperrkreis" durchzusetzen, sobald und solange er die Macht dazu hatte: die "Volksdemokratien" zu Satelliten-Staaten zu machen und ihre Gesellschaften zu sowjetisieren. Daß das nicht von heute auf morgen zu erreichen war, das war ihm schon 1920 aufgegangen, und er hat sich davon nie abbringen lassen. Die "Pufferzone", die andere Mächte nach 1917 um die Sowjetunion zu errichten getrachtet hatten und die Hitler mutwillig zerstört hatte, gedachte er zu einem eigenen Glacis zu machen, und das hat er ja dann auch getan und fUr seine Zwecke genutzt. Nicht nur wie jene anderen Mächte, um den Status quo zu erhalten, sondern um den status quo post vorzubereiten, wie ihm das seine kommunistische Überzeugung befahl. Was für eine Funktion hatten in seinen Augen die kommunistischen Parteien im dritten "Sperrkreis"? Beileibe nicht, in ihren Staaten die Macht zu ergreifen. Das war außerhalb des sowjetischen, d. h. des von ihm mit ausgefeilten, bürokratischen und brutalen Methoden kontrollierten Machtbereichs gefährlich, der Sache des Sozialismus abträglich; denn wie leicht konnten sie, wie es dann ja auch geschehen ist, wenn sie tatsächlich aus eigenem Vermögen an die Macht gekommen waren, zu Rivalen der Sowjetunion werden, sich ihm nicht unterordnen. Das sah Stalin voraus, seine Nachfolger im Kreml haben es

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nicht getan. Der Ausgang ist bekannt. Nein, die kommunistischen Parteien in ausländischen Staaten hatten nur einen Zweck: die potentiellen Gegner zu schwächen und damit der Sowjetunion zu helfen und dem Sozialismus weltweit zum Siege zu verhelfen. So einfach war die außenpolitische Logik Stalins. Das außenpolitische Handeln Stalins läßt sich auch, wie oft geschehen, ohne Berücksichtigung ihrer ideologischen Komponenten analysieren und darstellen. Insbesondere angelsächsische Autoren neigen aufgrund der politischen Praxis in ihren Ländern dazu, die Rolle der Ideologie, vor allem was die Außenpolitik betrifft, gering zu veranschlagen oder überhaupt nicht ins Kalkül einzubeziehen. Ein Beispiel dafür ist die 1962 erschienene Darstellung von 1. M. Mackintosh mit dem Titel "Strategy and Tactics of Soviet Foreign Policy" .25 Wie er es sieht, hat die Sowjetunion seit ihrer Gründung im Jahre 1917 zwei verschiedene Strategien verfolgt: "The drive for the revolutionary conquest of the world, expressing itself in attempts to break up by violence the nearest ring of non-Communist states bordering on the Soviet Union; and the 'active defence' of the Soviet base, the protection of the heartland of Communism from destruction by war or economic pressure, which expressed itself in the diplomacy of Soviet alignment with different groups of capitalist states, according to the international situation." (S. 1) Beide Richtungen seien seit Stalins Zeiten zum traditionellen Bestand der sowjetischen Außenpolitik geworden. Mit dieser Sonde ausgerüstet, hat Mackintosh sodann das außenpolitische Verhalten der Sowjetunion in der Nachkriegszeit bis 1961 untersucht und die dabei verfolgten Taktiken näher beschrieben. Anders ist George F. Kennan in seiner Darstellung der sowjetischen Außenpolitik vorgegangen. 26 Er hat versucht, die Strategien und Taktiken des außenpolitischen Handeins von Stalin auf dessen persönlichen Charakter, geformt in seinen kaukasischen Jahren, im illegalen Untergrundkampf gegen das zaristische Rußland und im Kampf mit den Rivalen aus der eigenen Partei, zurückzuführen. An erster Stelle, sagt er, stand für Stalin stets die Sicherung seiner eigenen Position: "Hierin ist der Schlüssel (auch) zu seiner Diplomatie zu suchen". (S. 342) Was also war, nach Kennan, die Strategie Stalins? Er antwortet: "Stalin war vor allem darauf bedacht, die anderen schwach zu sehen oder aber wenigstens zu erreichen, daß sie ihre Kräfte gegeneinander und nicht gegen sein Regime einsetzten. Aus diesem Grunde war die von ihm bevorzugte Strategie einfach. Sie ließe sich in dem einen Satz zusammenfassen: 'Teile und herrsche'. Sie bestand im instinktiven Bemühen - demselben, dem er auch im Privatleben so zugeneigt war -, Zwietracht unter seinen Gegnern zu säen und sie zu feindseligen Handlungen 25

J. M. Mackintosh. Strategy and Tactics of Soviet Foreign Policy.. London 1962.

26

G. F. Kennan. Sowjetische Außenpolitik unter Lenin und Stalin. Stuttgart 1961.

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gegeneinander aufzustacheln, um auf diese Weise zu erreichen, daß sie ihre Kräfte verbrauchten, während er sich die seinigen erhielt." (S. 342 f.) Die von Kennan sogenannte Strategie Stalins ist im Grunde nichts anderes als eine zum Prinzip erhobene persönliche Taktik. Stalinsche Konzeptionen hat er nicht zu entdecken vermocht. So lautet denn sein Resümee: "Er (Stalin) vertrat keine doktrinäre ideologische Haltung. Er wußte sehr wohl, daß theoretische Gedankengebäude für andere Leute etwas bedeuteten; es gab sogar niemanden, der mit größerer Sicherheit als er erspürte, was sie eigentlich bedeuteten, der mit größerem Geschick die politisch-emotionalen Antriebe ausnutzte, die auf jene Gedankengebäude zurückgingen. Doch er selbst teilte diese Antriebe nicht. Er verstand sie lediglich. Für ihn hatten Ideen als solche kleinerlei Bedeutung." (S. 343 f.) - Das ist eine Sicht der stalinschen Außenpolitik, die der hier entworfenen diametral entgegensteht. Welche ist geeigneter, Stalins Handlungen zu erfassen: die Akzentuierung von Stalins taktischer, listiger Begabung oder die seiner von ihm internalisierten ideologischen Prämissen? Ich möchte diese Frage hier nicht entscheiden, nur zu bedenken geben, daß selbst der größte Theoretiker einer skrupellosen Machtpolitik, Niccolo Machiavelli, nicht frei von einer tief in seinem Herzen verborgenen Idee war, wie er ganz am Ende seines Buches "11 Principe" bekennt. Wozu diente seine Beschäftigung mit und sein Lob der Taktik? Um Italien von den "Barbaren" zu befreien und zu einigen! In seinem Worten: "Non si debba, adunque, lasciare passare questa occasione, accio che I1talia, dopo tanto tempo, vegga uno suo redentore ... e questa patria ne sia nobilitata".27 Sollte Stalin wirklich keiner Ideologie angehangen haben? Keinerlei Grundsätze, und seien es die krudesten und abwegigsten, gehabt? Sich bei seinen Handlungen, insbesondere seinen die Welt verändernden außenpolitischen Taten und Untaten, nur von seinem Instinkt haben leiten lassen? Mir will das nicht einleuchten. Als ein Beleg dafür, daß der angeblich so prinzipienlose Stalin im gewissen Sinne der Gefangene seiner eigenen Ideologie gewesen ist und sein politisches Handeln danach ausgerichtet wie damit gerechtfertig hat, will ich ein Beispiel nennen, das, auch wenn und gerade weil es nicht seine Außenpolitik betrifft, möglicherweise in der Lage ist, das zu illustrieren, worum es mir geht. Drei Jahre vor seinem Tode, 1950, sah sich Stalin veranlaßt, in einer kleinen Schrift mit dem Titel "Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft"28 zu einem Problem Stellung zu nehmen, das die Genossen verwirrte, mit dem er 27 N. Machiavelli, Il Principe, Torino 1972, Kap. 26, S. 129.; dtsch: "Die Chance gilt es zu nutzen, damit Italien nach so langer Zeit endlich seinen Erretter findet, ... damit das Vaterland ... wieder geadelt werde."

2'

J. W. Stalin, der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaf (1950), Berlin 1952.

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sich aber schon in seiner hier erwähnten Abhandlung aus dem Jahre 1913 über den "Marxismus und die nationale Frage"29 auseinandergesetzt hatte. Es ging darum, ob die nationalen Sprachen, weil nach orthodoxer marxistischer Sicht zum "Überbau" gehörig, mit der Änderung der "Basis", wie in der Sowjetunion erklärtermaßen geschehen, absterben würden. Stalins Antwort ist, wie es seine Art war, kurz und bündig: "Nein, das ist nicht richtig,"(S. 5) Er erklärte dann, daß die Sprache aus einsichtigen Gründen gar nicht zum Überbau gehören könne, da sich doch in der Sowjetunion der Überbau grundlegend geändert habe, aber die Sprachen der einzelnen Sowjetvölker, von denen er eine Reihe, darunter die "ukrainische, ... georgische ... (und) turkmenische" aufzählte (S. 9), die gleichen geblieben seien wie zuvor. Die Sprache, so seine Argumentation, sei nicht, wie der "Überbau", das Produkt einer, sondern "einer ganzen Reihe von Epochen" (S. 10), sie würden sich nur langsam ändern. Das Interessante an dieser Äußerung war nicht, daß er damit die sowjetischen Sprachwissenschaftler auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte und sie ermutigte, ihnen erlaubte, weiterhin ihren Sprachstudien nachzugehen, sondern, daß er das Problem damit nicht bewenden ließ und grundsätzlich wurde. Da er wußte, was Marx nur nahegelegt hatte, er selber aber auf dem XVI. Parteitag der KPdSU, wie er seine Leser erinnerte, erklärt hatte, daß es selbstverständlich zur "Verschmelzung der Sprachen zu einer gemeinsamen Sprache" der Menschheit (S. 64) kommen werde, ergänzte er seine realistische Aussage mit der im Einklang mit seiner Ideologie stehenden Feststellung, daß sich "im Ergebnis einer langen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenarbeit der Nationen" aus "Hunderten von Nationalsprachen ... zunächst die am meisten bereicherten einheitlichen zonalen Sprachen herausheben und dann die zonalen Sprachen zu einer gemeinsamen internationalen Sprache verschmelzen werden, die natürlich weder die deutsche noch die russische, noch die englische, sondern eine neue Sprache sein wird, die die besten Elemente der nationalen und zonalen Sprachen in sich aufgenommen hat." (S. 65) Woher wußte Stalin das, was er da ex cathedra verkündete, wenn nicht aus seiner Ideologie, die ihn offenbar auch im hohen Alter lieb und teuer war, die er ganz und gar nicht ad acta gelegt hatte? Aber Stalin hatte damit nicht nur auf den Boden seiner Ideologie zurückgefunden, den er in seinem Verständnis nie verlassen hatte, und allen nationalen und panslawistischen Ideen eine unmißverständliche Abfuhr erteilt, die den nationalen Sprachen einen Eigenwert beimessen. Er begründete und rechtfertigte damit zugleich auch seine Politik, die innerhalb der Sowjetunion und im gesamten Sowjetblock in den letzten Jahren seiner Herrschaft konsequent und beharrlich darauf hinauslief, Russisch als "zonale Sprache" durchzusetzen. Ist das die Art eines prinzipienlosen Taktikers, den Völkern in seinem Machtbereich zu verhei19

Ygl. Anmerkung 4.

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ßen, sie würden über kurz oder lang alle nur noch russisch sprechen, und den Russen unter ihnen überdies auf den Kopf zuzusagen, auch sie würden eines femen Tages ihre Sprachen auf dem Altar der Menschheit opfern? Nein, Stalin war nicht nur ein außergewöhnlich begabter und verschlagener Taktiker, er war auch einer jener Ideologen, die ihre fixen Ideen ernstgenommen, todernst genommen haben und nicht davor zurückgeschreckt sind, Konsequenzen aus ihnen zu ziehen, was immer es auch koste. Er war ein ideologisch Besessener. Dies auch bei der Darstellung der stalinschen Außenpolitik zu bedenken, mag hilfreich sein, das dahinterstehende Konzept, seine Motivationen und Zielsetzungen, besser verstehen und angemessener würdigen zu können.

V. Potsdam und die Folgen

Aspekte der Potsdamer Konferenz in der öffentlichen Diskussion in Deutschland Von Stuart Parkes "Denn der Schriftsteller ist aufgerufen. die Stimme zu erheben. wenn sich in unserem Land wieder einmal das Unrecht zum Gewohnheitsrecht mausern will! Denn der Ort des Schriftstellers ist inmitten der Gesellschaft und nicht über oder abseits der Gesellschaft." J

Mit diesem im Jahr 1965 abgelegten Bekenntnis drückte Günter Grass das Selbstverständnis vieler deutscher Schriftsteller und Intellektueller in der Nachkriegsära aus. Es herrschte der Wunsch, das in Deutschland traditionell angespannte Verhältnis zwischen 'Geist' und 'Macht' zu überwinden und zur Schaffung einer neuen Art von Politik und politischer Kultur beizutragen. Diese Bemühungen fingen in den zahllosen Zeitungen und Zeitschriften der unmittelbaren Nachkriegszeit an, wurden in den sechziger Jahren fortgesetzt, als Schriftsteller sich aktiv in Bundestagswahlkämpfen engagierten und dauerten bis zu den Auseinandersetzungen um die deutsche Einheit in den Jahren 1989 und 1990. Obwohl es schwer zu behaupten wäre, daß die genauen Bestimmungen des Potsdamer Abkommens eine unmittelbare Auswirkung auf die öffentlichen Diskussionen der Intellektuellen hatten, läßt sich kaum verneinen, daß gewisse Fragen oder Vorstellungen, die den Kern des Abkommens bilden, auch die Auseinandersetzungen der Intellektuellen maßgeblich geprägt haben. Besonders hervorzuheben sind die folgenden Punkte: Deutschland als Einheit, Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung. Die Frage der Ostgrenze Deutschlands war auch von großer Bedeutung für diejenigen Schriftsteller und Intellektuellen, die aus diesen Gebieten stammten. Der gebürtige Danziger Günter Grass hatte schon 1965 die Endgültigkeit der Oder-Neisse-Linie akzeptiert, obwohl die SPD, die Partei, die Grass während des Wahlkampfes des gleichen Jahres aktiv unterstützte, sich von den Äußerungen des damals noch sehr kontroversen Schriftstellers distanzierte. Erinnert sei kurz an den damaligen nicht unbedingt praktischen Vorschlag von Grass, ein Neu-Danzig auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu bauen, wo "mein geliebtes Danziger Platt, grotesk gemischt mit friesischer und

I

17*

Grass, GilnIer, Über das Selbstverständliche, München, 1969,44.

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bayrischer Mundart, eine Renaissance erleben (könnte)." 2 Auch Siegfried Lenz, der 1926 in Lyck (Ostpreußen) geboren wurde, wendet sich in seinem Roman Heimatmuseum aus dem Jahr 1978 gegen die Politik der Vertriebenenverbände. Der Held setzt sein Museum, eine Sammlung von Gegenständen aus seiner alten Heimat, in Brand. Sowohl Grass als auch Lenz sind typische Beispiele für eine Schriftstellergeneration, die sich in das politische Leben der Bundesrepublik einmischte. Wie das Zitat am Anfang dieses Aufsatzes belegt, ging besonders Grass davon aus, daß der Platz des Schriftstellers sich nicht im Elfenbeinturm, sondern mitten im politischen Alltag befinde. Seine Auffassung beruhte auf dem Glauben, der Niedergang der Weimarer Republik sei zum Teil auf die ablehnende Haltung mancher Intellektueller zurückzuführen, ein Fehlverhalten, das sich nicht wiederholen dürfe. Insofern seine Meinung auch von anderen geteilt wurde, war es unvermeidlich, daß die durch das Potsdamer Abkommen aufgeworfenen Fragen eine wichtige Rolle in den öffentlichen Auseinandersetzungen von Intellektuellen spielen würden. Dieser Aufsatz setzt sich das Ziel, die Antworten der Schriftsteller und Intellektuellen auf die Herausforderungen des Potsdamer Abkommens darzustellen.

A. Die Einheit Deutschlands Schon im Oktober 1947 sammelten sich um die Einheit besorgte Schriftsteller aus allen Besatzungszonen in Berlin zum Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß. Unter anderem wurde ein Manifest, das sich zur Einheit Deutschlands bekennt, verabschiedet. Dieses Manifest warnte vor der "Gefahr der Zertrümmerung und Atomisierung". Es hieß weiter: "Wir sehen Kräfte am Werk, die den Begriff Deutschland' aus der Geographie und Geschichte auslöschen wollen, und es wäre leichtsinnig bis zur Vermessenheit, wenn wir diese Gefahr in den Wind schlagen wollten." Dagegen zitierte das Manifest das Wort Heines: "Deutschland hat ewigen Bestand." 3 Obwohl die in Berlin versammelten Schriftsteller sich eher Sorgen um die Folgen einer Teilung Deutschlands für die Kultur machten, befaßten sich andere mit der aktuellen politischen Situation. Konzepte wurden entworfen, welche eine besondere Rolle für Deutschland angesichts der entstehenden Spannungen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion vorsahen. In der kurzlebigen, aber trotzdem immer noch berühmten Nachkriegszeitschrift Der Ruf, aus dem 1

Ibid., 36.

'Vater\anl, MutterspracR:. DeutscR: Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, Berlin, 1979, 74.

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die das literarische Leben zwei Jahrzehnte lang maßgeblich bestimmende Gruppe 47 hervorging, plädierte der Mitherausgeber Hans Werner Richter dafür, daß Deutschland eine Brücke zwischen Ost und West bilden sollte. Er hoffte auf einen Ausgleich zwischen der westlichen Demokratie und dem östlichen Sozialismus, wobei der jüngeren, d.h. seiner eigenen Generation eine besondere Rolle zugewiesen wurde: "sie muß gleichsam den Sozialismus demokratisieren und die Demokratie sozialisieren." 4 Das Bild der Brücke eignet sich für die Beschreibung der Ziele von einigen politischen Gruppierungen, die in der Nachkriegszeit entstanden mit dem Ziel, die deutsche Einheit zu erhalten. Es gab zum Beispiel die 'Heidelberger Aktionsgruppe zur Demokratie und Sozialismus', in der der Soziologe Alfred Weber eine führende Rolle spielte. Andere Gruppierungen befürworteten ein entmilitarisiertes neutrales Deutschland als 'Brandmauer' zwischen den Blökken, zum Beispiel der 'Nauheimer Kreis', der von dem Historiker Ulrich Noack geleitet wurde. Wieder andere, eher rechtslastige Organisationen, z.B. die 'Dritte Front' und der 'Bund für Deutschlands Erneuerung', der eine Zeitlang von Otto Strasser, dem ehemaligen Rivalen Hitlers, beherrscht wurde, wollten ein neutrales, bewaffnetes Deutschland. 5 Obwohl sich viele dieser verschiedenen Gruppierungen in den Jahren 1951/2 in einer Sammelbewegung'Deutscher Kongreß' zusammenfanden, war es freilich schon zu spät, die Teilung Deutschlands zu verhindern. Daß die Einheitsbeteuerungen der Schrifsteller auf dem 1947er Berliner Kongreß ohnehin nicht allzulange gegolten hatten, zeigte sich an den Ereignissen um ein Treffen, das 1950 in West Berlin stattfand, den 'Kongreß für kulturelle Freiheit'. Der Titel des Kongresses weist schon auf die Atmosphäre des kalten Krieges hin; der Veranstalter war die Zeitschrift Der Monat, die, wie sich später herausstellte, von den Amerikanern stark befördert wurde. Der Dichter und DDR-Kulturminister Johannes R. Becher verteidigte seine Nicht-Teilnahme durch extrem unpoetische Hinweise auf "Handlanger der Kriegshetzer ( ... ) eine Bande internationaler Hochstapler ( ... ) literarisch getarnte Gangster." 6. Es ist also kein Wunder, daß sich im Jahr danach der deutsche Ableger des internationalen Schriftstellerverbandes PEN spaltete. Diese Spaltung dauert übrigens bis heute an, hat also ziemlich lange die Teilung des Landes überlebt.

4 Richter, Hans Wemer, 'Deutschland - Brücke zwischen Ost und West' in: Schwab-Felisch, Hans (Hrsg.), Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift, München, 1962,49.

, Einen Überblick Ober diese verschiedenen Bewegungen gibt: Dohse, Rainer, Der dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955, Hamburg, 1974.

• Becher, Johannes R., 'Die Sprache des Friedens', Der Monat, Jg.3, Nr.29 (1950-1), 492.

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Obwohl viele Schriftsteller und Intellektuelle sich immer noch zur deutschen Einheit bekannten, in den frühen 50er Jahren auch DDR-Schriftsteller wie Anna Seghers und Bertolt Brecht 7, die dadurch durchaus im Einklang mit der damaligen Linie der SED waren, warf der kalte Krieg seinen Schatten auf manche politischen Äußerungen. Nach dem Bau der Mauer verglich z.B. Günter Grass in einem offenen Brief an die Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes Anna Seghers die DDR mit einem Konzentrationslager 8; ein Gespräch zwischen Schriftstellern aus Ost und West im gleichen Jahr in Hamburg zeigte, wie aus dem Protokoll klar hervorgeht 9, wenige Annäherungspunkte. Erst viele Jahre danach kam es wieder zu intensiveren Kontakten zwischen Schtiftstellem und Intellektuellen aus den beiden deutschen Staaten. In den 70er Jahren fingen einige West-Berliner Schriftsteller, zum Beispiel Günter Grass und Peter Schneider, an, Kollegen im anderen Teil der Stadt zu besuchen. Die Teilnehmer an solchen Treffen haben aus ihren Werken vorgelesen, wobei das Hauptziel war, Gemeinsamkeiten zwischen den beiden deutschen Staaten auf dem Gebiet der Kultur zu erhalten. Als Teil ihrer Abgrenzungspolitik sprach die DDR-Führung damals von der 'sozialistischen Nationalliteratur der DDR', und auch in der Bundesrepublik sprachen einige Kritiker, wie beispielsweise Fritz 1. Raddatz, der allerdings seine These später zurückzog, von zwei deutschen Literaturen. 10 Dagegen plädierte Grass in seinem 1980er Werk Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus für den Begriff einer deutschen Kulturnation, die trotz politischer Teilung weiterbestehe. In diesem Werk macht er den typisch unpraktischen Vorschlag, Gemeinsamkeiten durch den Bau eines gesamtdeutschen Museums an der Berliner Mauer zu unterstreichen, das von beiden Teilen der Stadt zu besichtigen wäre. 11 Peter Schneider betonte in seiner Erzählung Der Mauerspringer die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache, um das, wie er es nannte, "Kirchenlatein" der Supermächte zu über7 1951 sprach Brecht von der Notwendigkeit, "die Wiedervereinigung auf friedlichem Wege herbeizuführen". Zit. nach Vaterland, Muttersprache, 108.

Im Dezember 1952 sagte Seghers in Wien zum Thema Deutschland: "Die Friedenskräfte der Welt aber sehen in seiner Freiheit und Einheit eine Vorbedingung des Friedens". Zit. nach Vaterland, Muttersprache, 115. 8

Die Reaktionen vieler bundesdeutscher Intellektueller zum Mauerbau fmdet man bei: Richter,

Hans Werner (Hrsg), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek bei Hamburg, 1961.

"Das Protokoll erschien als Taschenbuch: Schriftsteller Ja-Sager oder Nein-Sager. Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West, Hamburg, 1961. 10 Raddatz zog seine 1972 verldlndete These von zwei deutschen Literaturen im Jahre 1979 zurück, vermutlich unter dem Einfluß der Ausbürgerung Wolf Bienna/UIS und der dadurch entstandenen Teilverlagerung der DDR-Literatur in den Westen. 11

Grass, Ganter, Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus, Dannstadt, 4.Aufl., 1983, 120.

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winden. 12 Diese Forderung enthielt eine politische Dimension; angesichts der Gefahr eines Atomkriegs, der das ganze Deutschland ohne Zweifel zerstört hätte, sollten die Deutschen ihre eigene Stimme finden. Versuche in dieser Richtung gab es auch auf halboffizieller Ebene. Es fanden Anfang der 80er Jahre wieder Treffen zwischen ost- und westdeutschen Schriftstellern statt. Das erste wurde in Ost-Berlin veranstaltet, hätte also kaum ohne die Einwilligung der SED stattfinden können. Die Grenzen des offenen Dialogs zeigten sich aber darin, daß die Protokolle in der DDR nicht veröffentlicht wurden. 13 Bei diesen Gesprächen ging es zunächst wie bei Peter Schneider um die Gefahr eines Atomkrieges. Andere Themen kamen aber auch zum Ausdruck, nicht zuletzt die Teilung Deutschlands und Europas, die besonders von den West-Berliner Schrifstellern um Schneider und Hans-Christoph Buch angeprangert wurde. In gewissen Kreisen wurden die westlichen Teilnehmer kritisiert, weil sie angeblich auf die DDR-Propaganda hereingefallen waren, die nur die Pershing-Raketen und Marschflugkörper des Westens betonte und die sowjetische Aufrüstung verschwieg. Da aber einige DDR-Teilnehmer von der offiziellen Linie abwichen, kann man eher von einer Auflockerung der Fronten sprechen. Da die deutsche Einheit zu dieser Zeit für die meisten Politiker kein Thema war, läßt sich behaupten, daß die Bemühungen der Schriftsteller um Gemeinsamkeiten dazu beigetragen haben, trotz aller Kritik wegen mangelnden Realitätsinns den Begriff der Einheit am Leben zu erhalten: 4 Deswegen ist es auf den ersten Blick erstaunlich, daß in den Jahren 1989 und 1990 Schrifstellern und Intellektuellen vorgeworfen wurde, nichts zum Thema Einheit zu sagen. Ulrich Greiner höhnte schon am 10. November 1989: "Und alle Intellektuellen, hüben wie drüben, sehen mit schreckensweit geöffneten Augen: In Deutschland fmdet eine Revolution statt, und sie können sagen, sie sind nicht dabei gewesen." 15 In der Tat kann von Schweigen keine Rede sein. Hervorzuheben ist eher die Ablehnung der tatsächlichen Entwicklung durch viele Schriftsteller in Ost und 12

Schneider, Peter, Der Mauerspringer, Darmstadt, 1984, 109 .

•3 Die zwei Bände, die in der Bundesrepublik erschienen, sind: Berliner Begegnung zur Friedensförderung, Darmstadt, 1982. Zweite Berliner Begegnung. Den Frieden erkHlren, Darmstadt, 1983. 14 Wie die PoIitikwissenschaft auf diese Bemühungen reagierte zeigt sich am Titel eines Aufsatzes von Eckhard Jesse: 'Die Pseudo-Aktualität der deutschen Frage - ein publizistisches, kein politisches Phäoomen' in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.), Die deutsche Frage in der WeItpolitik, Wiesbaden und Stuttgart, 1986,51-68.

"Greiner, Ulrich, 'Keiner weiß mehr', Die Zeit, 46/10. November, 1989, 73.

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West. Martin Walser, der seit Jahren von seiner Nicht-Akzeptanz der Teilung sprach und sich freute, weil deutsche Geschichte ausnahmsweise gut ging, war die große Ausnahme. 16 Viele DDR-Schriftsteller hatten eher auf eine reformierte DDR als auf Vereinigung mit der Bundesrepublik gesetzt. Deswegen unterschrieben z.B. Christoph Hein, Volker Braun und Christa Wolf den Aufruf "Für unser Land" im Herbst 1989 und nahmen an der großen Kundgebung am Alexanderplatz in Ost-Berlin teil. Im Westen machte sich besonders Günter Grass Sorgen wegen der Gefahren, welche von einem wiedervereinigten, erstärkten Deutschland ausgehen könnten. Laut Grass hatte Deutschland das Recht auf Einheit in Auschwitz verspielt. I? Der jüngere Patrick Süskind, der den gleichen Jahrgang wie die Bundesrepublik hatte, trauerte um die alte, bekannte Republik, welche Geborgenheit und ein akzeptables Maß an Freiheit und Demokratie geboten hatte. Er gab auch zu, wenige Gemeinsamkeiten mit den DDR-Bürgern zu verspüren, obwohl er sich über den Fall der Mauer und die Beseitigung des alten Systems freute. 18 Ob solche Haltungen angesichts der Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 ein Versagen darstellen, sei dahingestellt. Das Interesse an der deutschen Einheit bei Schriftstellern und Intellektuellen, auch zu Zeiten, als diese für die meisten Politiker kein Thema war, läßt sich aber kaum leugnen.

B. Entmilitarisierung Die im letzten Abschnitt erwähnten Gespräche zwischen Schriftstellern aus Ost und West Anfang der achtziger Jahre drehten sich, wie oben angedeutet, hauptsächlich um Rüstungsfragen. Sie standen also in einer langen Tradition, welche bis in die Nachkriegszeit zurückreichte, als weniger als ein Jahrzehnt nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wieder die Rede davon war, deutsche Soldaten aufzustellen. Bei den beiden wichtigen politischen Romanen der 50er Jahre, Wolfgang Koeppens Das Treibhaus und Günther Weisenborns Auf

'6 Am 11. November 1989 schrieb Walser: "Zum ersten Mal in diesem Jahrlwndert, daß deutsche Geschichte gut verlAuft. " Walser, Martin, Über Deutschland reden, Frankfurt am Main, 1989. Dieser Band enthl1lt die wichtigsten Äußerungen Walsers zur Deutschen Frage. 17

Grass' Bedenken sind in zwei Bänden gesammelt:

Grass, GiJnler, Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot, Frankfurt am Main,

1990.

Grass, Ganter, Ein Schnäppchen namens 'DDR', Frankfurt am Main, 1990. 11

Süskind, Patrick, 'Deutschland, eine Midlife-Crisis'" Der Spiegel, 38/17. Sept. 1990, 116-125.

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Sand gebaut, die übrigens fast die einzigen Romane geblieben sind, die sich direkt mit dem politischen Leben der Bonner Republik auseinandersetzen, geht es um die Wiederbewaffnung. Im bekannteren Roman von Koeppen begeht der SPD-Abgeordnete Keetenheuve Selbstmord, nachdem es ihm nicht gelungen ist, die Gründung eines neuen Heers zu verhindern. In der Gestalt des Abgeordneten Rauh drückt Weisenborn die Angst um die Folgen der Remilitarisierung aus, nämlich die Gefahr, daß sich das politische Klima verändern wird: "Es werden wieder die Absätze knallen. Das steife Rückgrat, der militärische Haarschnitt, die brutalen Argumente des Nationalismus, die Servilität, die Arroganz, das alles wird Millionen Zivilisten verändern."19 Diese beiden Romane hängen eng mit den Versuchen vieler Intellektueller zusammen, gegen die Pläne der Bundesregierung in der Verteidigungspolitik zu protestieren. Die Herausgeber des Rufwaren selber Soldaten gewesen und sprachen für viele aus der eigenen Generation, als sie alles Militärische ablehnten. Hans Wemer Richter war eine Zeitlang aktives Mitglied im 'Grünwalder Kreis', der sich gegen die Militarisierung wendete. Richter erblickte dieselbe Gefahr wie Weisenborns Romanfigur Rauh: "Es ist die Sorge, daß sich mit der Wiederaufrüstung das gesamte gesellschaftliche Klima in Deutschland voraussichtlich wiederum verändern wird (... ).,,20 Andere Intellektuelle lehnten die Wiederbewaffnung aus religiösen Gründen ab, zum Beispiel Reinhold Schneider, der Mitbegründer einer im Jahre 1951 entstandenen Bewegung 'Notgemeinschaft für einen Frieden Europas' war. Darin wirkte auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann mit, der schon 1950 wegen der Möglichkeit einer Remilitarisierung aus dem ersten Kabinett Adenauers zurückgetreten war und danach die pazifistische Gesamtdeutsche Volkspartei gründete, bevor er zur SPD fand. Eine andere maßgeblich von christlicher Gesinnung beeinflußte Gruppierung, die sich gegen die Entstehung der Bundeswehr richtete, war die Paulskirchenbewegung von 1954/5, deren 'Deutsches Manifest' von unter anderen dem Schriftsteller Albrecht Goes, dessen 1954er Erzählung Das Brandopfer zu den ersten Werken der bundesdeutschen Literatur gehört, die sich mit dem Schicksal der Juden im Dritten Reich auseinandersetzt, dem Theologen Helmut Gollwitzer und dem Mitherausgeber der Frankfurter Hefte Walter Dirks unterschrieben wurde. Mit Eugen Kogon, dem Verfasser des Standardwerkes Der SS-Staat, führte Dirks eine lange Kampagne gegen die Wiederbewaffnung in dieser Zeitschrift. Die ethischen Grundlagen des von Christen betriebenen Widerstands gegen die Wiederaufrüstung lassen sich exemplarisch am Beispiel Reinhold Schneiders 19

Weisenbom, GilnIher, Auf Sand gebaut, Wien, 1956, 184.

20

Vaterland, Muttersprache, 134.

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zeigen. Schon 1946 veröffentlichte er einen Band Gedanken des Friedens, der sich von allem Militärischen distanziert. Die einzige Hoffnung für die Zukunft sieht er im friedfertigen Menschen: "Der sich befriedende, der von Gott befriedete, in seiner Schuld, seiner Würde, in seiner Verfehlung, seiner Verantwortung wieder innegewordene Mensch kann und darf allein Träger künftiger Geschichte sein. ,,21 Bei seinem Kampf gegen den Krieg setzte Schneider auf das Gewissen sowohl des Einzelnen als auch des ganzen Volkes. Durch das kollektive Gewissen des Volkes sei auch die Einheit zu retten: "Ein Volk, das gegenüber der Welt die Einheit des Gewissens darstellt, kann schwerlich geteilt werden oder geteilt bleiben. ,,22 Daß solche Aussagen zum Bereich der praktischen Politik gehören, ist kaum zu behaupten. Andererseits zeugen sie von höchstem moralischem Engagement und von Sorgen um die Zukunft Deutschlands. Der Vorwurf "einer schuldhaften Blindheit"23, der Schneider von dem Petrusblatt, der Postille des Berliner Katholizismus gemacht wurde, zeigt wiederum, wie kontrovers seine Bemühungen um ethische Grundwerte in der politischen Diskussion waren. Andererseits waren die Proteste der Paulskirchenbewegung nicht nur moralischer Art. Die Entstehung eines westdeutschen Heers wurde klar als Hindernis gegen die Wiedervereinigung gesehen. In dem 'Deutschen Manifest' hieß es eindeutig: "Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und der Sowjetzone muß die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen ... "24, wobei zu bemerken ist, daß die Wortwahl, wie der Terminus Sowjetzone zeigt, durchaus der Tonlage des Kalten Kriegs entspricht. Im Grunde genommen war aber der christliche Protest gegen die Bundeswehr vowiegend moralischer Art. Das zeigt ganz deutlich Heinrich Bölls 'Brief an einen jungen Katholiken', der vor der einseitigen Betonung der Sexualmoral durch die katholische Kirche warnt, während die Moral des Kriegführens nicht in Frage gestellt wird. 2s Als Böll diesen Aufsatz 1958 verfaßte, tobte schon der nächste Streit um die Militärpolitik; es ging diesmal um die mögliche Atombewaffnung der Bundeswehr. Diesmal protestieten Schriftsteller und Intellektuelle in solchen Vereinigungen wie 'Kampf dem Atomtod', 'Die Ostennarschbewegung' und dem 'Komitee 21

Schneider, Reinhold, Schwert und Friede, Frankfurt am Main, 1987,247.

22

Schneider, Reinhold, Der Frieden der Welt, Frankfurt am Main, 1983,59.

"Zitiert nachP. von Halten, 'Der Fall Reinhold Schneider', Die Besinnung, Jg. 6 Nr.4/5 (1951), 235. 2.

Vaterland, Muttersprache, 129.

2S BölJ, Heinrich, 'Brief an einen jungen Katholiken' in: Böll, Zur Verteidigung der Waschküchen. Schriften und Reden 1952-1959, München, 1985,257-272.

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gegen Atomrüstung'. Naturwissenschaftler der Universität Göttingen meldeten sich 1957 auch zu Wort; deren Kompetenz wurde aber sofort von Bundeskanzler Adenauer in Zweifel gezogen. Er reagierte sehr schroff auf die ausgedrückten Besorgnisse: "Zur Beurteilung dieser Erklärung muß man Kenntnisse haben, die diese Herren nicht besitzen. Denn sie sind nicht zu mir gekommen. ,,26 Trotz der Kenntnisse des Bundeskanzlers kam es bekanntlich nicht zu Atomwaffen für die Bundeswehr; inwieweit das ein Sieg der Protestbewegungen oder auf die ablehnende Haltung der NATO-Partner zurückzuführen war, ist eine Frage, die allerlei Spekulationen zuläßt. Die Göttinger Naturwissenschaftler der 50er Jahre unterschieden zwischen Atomwaffen und dem friedlichen Einsatz der Kernenergie. Diese Unterscheidung wurde kaum von denjenigen gemacht, die in den späten 70er und frühen 80er Jahren gegen Pershing- und Cruise-Missiles protestierten. Damals ging es sowohl um die Gefahr von Atomwaffen als auch um die ökologische Gefahr der Kernkraft. Diese ökologischen Besorgnisse waren aber nicht neu. Im Jahre 1956 hatte der Schriftsteller Hans Henny Jahnn vor den Folgen eines Krieges für die Tierwelt gewarnt. In seinem wichtigen Aufsatz 'Der Mensch im Atomzeitalter' schreibt er: "Jedenfalls ist mir der Gedanke, daß Hunderttausende von Tierarten verschwinden, nur damit eine einzige die Alleinherrschaft antritt, nicht denkbar. ,,27 Solche Gedanken bewegten bestimmt diejenigen, die an der Massendemonstration im Herbst 1983 in Bonn gegen diese Waffen teilnahmen. Solche Kundgebungen erreichten aber nicht ihr Ziel; die Waffen wurden aufgestellt. Vom heutigen Standpunkt aus, nach dem Zerfall des Kommunismus, sehen die damaligen Proteste für viele ungerechtfertigt aus, da das Endergebnis die Richtigkeit des verteidigungspolitischen Konzepts des Westens zu beweisen scheint. Man muß sich also fragen, ob die ganzen antimilitärischen Kampagnen der Intellektuellen nicht nur im großen und ganzen erfolglos, sondern auch falsch oder irregeleitet waren. Auf den ersten Blick läßt sich diese Meinung bestimmt aufrechterhalten; andererseits ist eine Remilitarisierung der Gesinnung, eine der großen Sorgen der Intellektuellen, in der Bundesrepublik weitgehend verhindert worden. Sehr viele junge Menschen verweigern den Wehrdienst; kaum jemand spricht vom Militär als 'Schule der Nation' oder ähnliches. Dabei hat die ablehnende Haltung vieler Intellektueller bestimmt mitgewirkt.

26

Vaterland, Muttersprache, 140.

27 Jahnn, Hans Henny, 'Der Mensch im Atomzeitalter' in: Schweikert U. (Hrsg.), Das Hans Henny Jahnn Lesebuch, Hamburg, 1984, 8lf.

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c. Entnazifizierung Die offizielle Entnazifizierung, die von den Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchgeführt wurde, wird allgemein als mangelhaft anerkannt. In den westlichen Zonen wurden oft nur die unteren Chargen erfaßt; dann verlor man das Interesse, als die Deutschen, einschließlich ehemalige Nationalsozialisten, als künftige Partner im kalten Krieg umworben wurden. In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR wurde vieles verdrängt, indem die Ursachen des Faschismus ausschließlich im kapitalistischen System gesucht wurden, wobei der Einzelne seine eigene Rolle nicht zu berücksichtigen brauchte und sich als DDRBürger ohne weiteres als Anti-Faschist aufführen durfte. Die Folge war, daß nach der Vereinigung die Schranken gegen neonazistische Ausschreitungen niedriger waren als im Westen. Das bedeutet nicht, daß in der Bundesrepublik, die 'Vergangenheitsbewältigung', wie der Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus halb offiziell hieß, leicht war. Das falsche Vorgehen der Alliierten und das Primat des wirtschaftlichen Wiederaufbaus hatten zur Folge, daß es erst größter Anstrengungen, nicht zuletzt seitens Intellektueller und Schriftsteller, bedurfte, bis viele Bundesbürger bereit waren, sich einigermaßen der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Der Schriftsteller Ralph Giordano spricht von einer zweiten Schuld im Zusammenhang mit dem Umgang mit dem Nationalsozialismus. Diese habe in der "Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945" bestanden. 28 Es läßt sich in der Tat kaum leugnen, daß in den 50er und frühen 60er Jahren es fast allein Schriftsteller und IntellektueHe waren, die sich mit dem Nationalsozialismus und dessen Erbe auseinandersetzten. Durch ihr Engagement in diesem Bereich wurde den kritischen SchriftsteHern die Ehrung "Gewissen der Nation" zugeteilt, obwohl sie selber mit dieser Auszeichnung unzufrieden waren, da sie dadurch von anderen Teilen der Gesellschaft abgetrennt wurden. Insbesondere Heinrich BöH empfand eine solche Bezeichnung als gefährlich, da die Möglichkeit bestand, daß dadurch die übrige Bevölkerung auf eine andere, der Demokratie abträgliche "gewissenlose" Ebene gesteHt wurde. 29 Das bevorzugte Ziel war eher, einen Dialog über die Vergangenheit mit anderen Teilen der GeseHschaft zu eröffnen. Der Wunsch, die Vergangenheit ins Zentrum des öffentlichen Bewußtseins zu rücken, erschöpfte sich nicht nur in literarischen Werken, so wichtig diese auch waren, um zum Beispiel die kleinbürgerlichen Wurzeln des Nationalsozialismus aufzudecken, wie das Günter Grass in seinem großen Roman Die Blechtrommel 28

Giordano, Ralph, Die zweite Schuld, München, 1990, 11.

29

Ball, HeinrichlRiese H.P., 'Schriftsteller in dieser Republik', L76, Nr.6 (1977),7.

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gelingt oder wie bei Böll die Sinnlosigkeit des Kriegs aufzudecken. In den 50er Jahren kämpften viele Intellektuelle öffentlich gegen die anscheinend immer wichtigere Rolle ehemaliger Nationalsozialisten in der Bundesprepublik. Als im Jahre 1952 ein Hamburger Gericht den Regisseur des bekanntesten antisemitischen Films der Nazizeit lud Süß, Veit Harlan, freisprach, fühlte sich Erich Kästner an Weimarer Zustände - die berüchtigte Blindheit der deutschen Justiz am rechten Auge - erinnert. Er sah sich und diejenigen, die gegen die Aufführung von Harlans Filmen protestieten, in die gesellschaftliche Isolation gedrängt: "Also sind die einzigen, die im Unrecht sind, diejenigen, die ihr Gewissen aufruft, im Namen der Menschlichkeit gegen eine derartige Gerechtigkeit und ihre sichtbaren, wie unabsehbaren Folgen zu protestieren. ,,30 Große Sorgen erregte auch die Verbreitung von Kriegsliteratur und anderen neonazistischen Veröffentlichtungen, deren Saat in den Augen vieler Intellektueller im Dezember 1959 aufging, als die Kölner Synagoge mit antisemtischen Parolen beschmiert wurde. Walter Jens sah einen Zusammenhang zwischen diesem Anschlag und der als aggressiv aufgefaßten Atompolitik der Bundesregierung und wies auch auf die führende Rolle ehemaliger Nationalsozialisten in der Politik hin, insbesondere den Bundesminister Theodor Oberländer, der allerdings ein Jahr später wegen seiner Rolle im Dritten Reich zurücktreten mußte. 31 In den siebziger Jahren brachte der Dramatiker Rolf Hochhuth, dessen Stück Der Stellvertreter die Rolle der katholischen Kirche während des Krieges scharf kritisiert hatte, die Tätigkeit des baden-würuembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger als Marinerichter ans Licht. Da Filbinger über diese Äffare stürzte, ist es in diesem Fall möglich, von einem direkten Zusammenhang zwischen intellektuellem Engagement und politischem Geschehen zu sprechen. Sonst könnte man von einer eher defensiven Haltung der Schriftsteller sprechen. Es ging hauptsächlich darum, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten. Laut Günter Grass in seinem 1972er Werk Aus dem Tagebuch einer Schnecke arbeite die Zeit immer für die Täter, da deren Verbrechen leicht ins Vergessen gerieten. In dieser Situation sei der Schrifsteller besonders herausgefordert. In dem Grass'schen Selbstverständnis ist der Schrifsteller "jemand, der gegen die verstreichende Zeit schreibt. ,,32 Es wäre übertrieben zu behaupten, daß es ausschließlich den Bemühungen der Intellektuellen zu verdanken ist, wenn, von einer durchaus nicht zu verharrnlosen30

Vaterland, Muttersprache, 111.

" Ibid., 180. 31

Grass, GilnJer, Aus dem Tagebuch einer Sclmecke, Reinbek bei Hamburg, 1974,98.

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den Minderheit abgesehen, der Nationalsozialismus als politische Ideologie in der Bundesrepublik überwunden ist und viele, wenn nicht die meisten Bundesbürger bereit sind, wie die Debatten um den fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes im Frühjahr 1995 zeigen, sich mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Man könnte auch auf den manchmal positiven Einfluß der Massenmedien hinweisen; die von vielen als trivial verpönte amerikanische Fernsehserie Holocaust, die 1979 ausgestrahlt wurde, übte bestimmt einen größeren gesamtgesellschaftlichen Einfluß aus als die Werke der hohen Literatur. Das gleiche läßt sich wohl auch für den Spielberg-Film Schindlers Liste behaupten. Man darf auch nicht die Rolle gewisser Politiker übersehen. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker vierzig Jahre später den 8. Mai, 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete, brach er ein Tabu und rief ein unvergleichbares Echo hervor, das sich darin zeigte, daß seine Rede eine Auflage von 650 000 erreichte. Es geht aber nicht darum, in dieser Angelegenheit Vergleiche zu ziehen, weil es ohnehin unmöglich ist, die Auswirkungen einer Rede oder eines Aufsatzes, von einem literarischen Text ganz zu schweigen, zu messen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Intentionen der Schriftsteller und Intellektuellen, besonders zu einer Zeit, als wenige bereit waren, sich dem Thema Nationalsozialismus zu stellen.

D. Demokratisierung Für die erfolgreiche Etablierung der Demokratie in der Bundesrepublik lassen sich bestimmt viele Gründe aufführen. Es ist wichtig, auf die wirtschaftliche Entwicklung hinzuweisen, obwohl der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Demokratie eine Zeitlang mit Recht als doppelschneidiges Schwert anerkannt wurde. Helmut Schrnidt sprach noch Ende der 60er Jahre angesichts der Erfolge der NPD während der vorangegangenen wirtschaftlichen Rezession von der Gefahr einer "Schönwetter-Demokratie".33 Ein zweiter Grund wäre die verfassungspolitische Ordnung. Das Grundgesetz war bekanntlich unter anderem der Versuch, die Schwächen der Weimarer Verfassung zu überwinden. Welche Gründe auch immer noch aufgeführt werden, kann man zweifellos davon ausgehen, daß viele Intellektuelle bei der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik mitwirken wollten. In den 50er Jahren war das trotz der oben erwähnten politischen Proteste weniger der Fall, wenn es um die unmittelbare Teilnahme am politischen Alltagsgeschehen geht. Da, wie schon gesehen wurde, viele Intellektuelle dem Gedanken der deutschen Einheit nachhingen, waren sie weniger bereit, sich mit dem Staat 33 Schmidt, Helmut, 'Bisher Illlr eine Schönwetter-Demokratie', Frankfurter Allgemeine Zeitung, 178/5. Aug. 1969.

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Bundesrepublik zu identifizieren, zumal die politische Entwicklung dieses Staates ihren Vorstellungen keineswegs entsprach. Das änderte sich erst in den 60 Jahren, als das parteipolitische Engagement vieler Intellektueller und Schriftsteller zum Merkmal des politischen Lebens, insbesondere zu Wahlkampfzeiten, wurde. 1961 gab Martin Walser einen Band mit dem Titel Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? aus, in dem viele Schriftsteller, zum Beispiel Günter Grass, Peter Rührnkorf und auch Hans Magnus Enzensberger, was angesichts seiner späteren, (pseudo)revolutionären politischen Entwicklung ziemlich erstaunlich ist, ihre Absicht begründeten, SPD zu wählen. 34 Viele Schriftsteller hatten eingesehen, daß durch eine einseitige Protesthaltung wenig zu erreichen war. Die neue Haltung zeigt sich auch im Band Ich lebe in der Bundesrepublik, der auch im Wahljahr 1961 erschien und dessen Titel auf ein Bekenntnis zum westdeutschen Staat hinausläuft. Trotz dieses implizierten Bekenntnisses und der emotionalen Sprache des Herausgebers Wolfgang Weyrauch : "Motiv: ich liebe meine Heimat. Weil ich sie liebe, sorge ich mich um sie. Weil ich mich um sie sorge, haben ich diesen kleinen ( ... ) Band herausgegeben"3s, kann von einer positiven Haltung in den meisten Beiträgen gar nicht die Rede sein. Wolfgang Koeppen sieht die Vergangenheit überall: "Hinter jedem Schalter läßt man die Welt am deutschen Wesen genesen"36, während bei Hans Magnus Enzensberger "das Fürchten vor der Ewigkeit der Hölle" von den Düsseldorfer Kaffeehäusern heraufbeschworen wird. 37 Trotz aller solchen Bedenken wiederholte sich das Engagement von 1961 bei dem 1965er Wahlkampf. Diesmal gab Hans Werner Richter den Band Plädoyer für eine neue Regierung heraus. Der Aufsatz von Rolf Hochhuth provozierte Bundeskanzler Erhard zu dem berüchtigten Wort vom 'Pinscher,.38 Während die Beziehung der Intellektuellen zur CDU gestört war - die Rolle ehemaliger Nationalsozialisten in der Bundesrepublik, der Materialismus der Wohlstandsgesellschaft und der mangelnde Liberalismus der Gesellschaft waren für viele ein Dom "Walser, Martin (Hrsg.) Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?, Reinbek bei

Hamburg, 1961.

"Weyrauch Wollgang, Bemerkungen des Herausgebers' in ders. (Hrsg.) Ich lebe in der Bundesrepublik, München, 0.1. (1961), 7. 36

Koeppen, Wolfgang (Hrsg.), 'Wahn' in: Ibid., 34.

" Enzensberger, Hans Magnus, 'Schimpfend unter Palmen' in: Ibid., 25. " Richter, Hans Wemer, Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative, Reinbek bei

Hamburg, 1965.

Der Aufsatz 'Klassenkampf von Rolf Hochhuth befmdet sich auf den Seiten 65-87.

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im Auge - war die SPD seit dem Godesberger Programm bereit, mit bürgerlichen Intellektuellen ins Gespräch zu kommen. Die SPD besaß auch in Willy Brandt einen Politiker, dessen Vergangenheit durchaus positiv bewertet werden konnte. Andererseits lehnten viele Intellektuelle den angeblichen Rechtsrutsch bei der SPD ab; viele distanzierten sich von der Partei im Laufe der 60er Jahre, nicht zuletzt wegen der Großen Koalition, welche Günter Grass als "miese Ehe" beschrieb. 39 Wohin das führen konnte, zeigt das Beispiel der spätem Terroristin Gudrun Ensslin, die 1965 zu einer Gruppe von jungen Intellektuellen gehört hatte, welche Reden und Losungen für den Wahlkampf der SPD verfaßte. Trotz seiner Bedenken gegenüber der Großen Koalition setzte Grass sein Engagement für die SPD fort. 1969 begründete er mit anderen Gleichgesinnten die Sozialdemokratische Wählerinitiative, welche seine in Aus dem Tagebuch einer Schnecke beschriebene Teilnahme am Wahlkampf des gleichen Jahres plante. Er akzeptierte die Notwendigkeit des Kompromisses in der Politik, wobei er stark zwischen seinen literarischen Werken und seinem politischen Engagement differenzierte40, und setzte auf Toleranz und allmähliche Veränderung. Das Bild der Schnecke verkörperte die Hoffnung auf langsamen Fortschritt. Insoweit der 196gerWahisieg der Sozialdemokraten als Folge eines veränderten gesellschaftlichen Klimas, das sich auch in der Studentenbewegung dieser Jahre ausdrückte, aufgefaßt werden kann, haben Grass und andere Kollegen ohne Zweifel zu diesem Wechsel beigetragen. Nach der Euphorie von 1969 und der Willy-W ah!' 1972 setzte sich eher Ernüchterung ein. Der Pragmatiker Helmut Schmidt war kein Vorbild wie Brandt; seine Politik in den Bereichen Verteidigung und Umwelt stieß auf wenig Verständnis. Statt sich weiter zu engagieren, resignierten viele Intellektuelle oder nahmen wie früher eher an vereinzelten Protestaktionen teil, wie zum Beispiel gegen die Antiterrorismus-Maßnahmen von 1977 oder, wie oben erwähnt, gegen die Rüstungspolitik. Hinzukam das Gefühl bei manchen, daß es nicht mehr nötig war, bei politischen Auseinandersetzungen an vordester Front zu stehen. Es war also nach dieser Auffassung wegen der geglückten demokratischen Entwicklung nicht mehr erforderlich, die Demokratie ständig zu schützen. Das erklärt zum Teil die eher abstinente Haltung der Intellektuellen während der Wahlkämpfe der 90er Jahre. Man sollte aber nicht von politischem Desinteresse sprechen, eher von erfolgreich geleisteter Arbeit. In einem Interview am Anfang des Jahres 1995 verglich der inzwischen eher nachdenkliche Hans Magnus Enzensberger die demokratischen Umgangsformen der Bundesrepublik mit der Situation von früher. 39

Grass, Über das Selbstverständliche, 95.

40

V gl. Ibid., 89: 'das Gedicht kennt keine Kompromisse; wir aber leben von Kompromissen.'

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Seine positiven Erkenntnisse stehen den Befürchtungen Wolfgang Koeppens aus dem Jahr 1961 diametral entgegen: "Sie können doch nicht wegdiskutieren, daß die Menschen in diesem Land heute ein ganz anderes Selbstbewußtsein als damals haben. Ein Lehrer verhält sich zu seinen Schülern vollkommen anders als in den fünfziger Jahren, ein Vorgesetzter zu seinen Untergebenen, ein Arzt zu seinen Patienten ... 41

E. Schluß Ernst Deuerlein spricht von dem Potsdamer Abkommen als Anfang und Ende. 42 Es sollte unter anderem die Rahmenbedingungen für ein neues Deutschland schaffen, das mit seiner Vergangenheit gebrochen hatte. Obwohl die Bestimmungen des Vertrages von den teilnehmenden Ländern unterschiedlich interpretiert wurden, ist es vielleicht immer noch möglich, von einem 'Geist' von Potsdam zu reden. Dieser Aufsatz hat versucht zu zeigen, wie dieser Geist von vielen Intellektuellen, insbesondere Schriftstellern, verinnerlicht wurde. In vielen Einzelpunkten mögen sie geirrt haben; trotzdem läßt sich behaupten, daß sie einen positiven Beitrag zur deutschen Demokratie geleistet haben.

41

Enz.ensberger, Hans Magnus, 'Ich will nicht der Lappen sein, mit dem man die Welt putzt", Die

Zeit, 4/20. lan. 1995, 47. 42

Deuerlein, Ernst, Potsdam 1945. Ende und Anfang, Köln, 1970.

18 Timmermann

Über die Relativität der Bewertungen der Folgen der Potsdamer Konferenz Von Tomasz G. Pszcz61kowski Um es vorwegzunehmen: die Betrachtungsweise der Großen Drei ist eine andere als die der Deutschen, und die Sicht der anderen von der Konferenz betroffenen Länder ist wiederum anders. Die Folgen der Potsdamer Konferenz hängen nämlich aufs engste mit den Perspektiven der jeweils Betroffenen zusammen, denn die in Potsdam getroffenen Entscheidungen hatten in der Folgezeit ihre jeweils unterschiedlichen Auswirkungen. Darauf soll im folgenden etwas ausführlicher eingegangen werden, wobei es weniger um die tatsächlichen Ergebnisse dieser Entscheidungen geht, als vielmehr um deren unterschiedliche Einschätzungen. Ich möchte hier zunächst einige methodologische Probleme der Interpretation von Fakten aufwerfen und anschließend die Relativität der Bewertung der Folgen der Potsdamer Konferenz erörtern und dabei besonders auf die Ursachen dieser Unterschiede zu sprechen kommen.

A. Zur Methodik der Interpretation historischer Tatsachen Bei der Beschäftigung mit historischen Tatsachen, wozu natürlich auch die besagten Folgen gehören, ist zunächst wichtig, festzustellen, daß Tatsachen als solche erst problematisiert werden müssen. Es sind meistens Ereignisse, aber auch länger andauernde Prozesse und Entwicklungen, auch bestimmte Phänomene unterschiedlicher Art, z. B. Werke der bildenden Kunst oder der Literatur usw., die erst als solche publikumswirksam werden wollen, das heißt, zu einem Problem gemacht werden. Im Falle politisch relevanter Tatsachen heißt dies Politisierung. Daß nicht alle Tatsachen zu Problemen werden und nicht alle politischen Tatsachen politisiert oder sogar verpolitisiert werden, ist einleuchtend. Es handelt sich also nur um bewußt oder intentionell geschaffene Tatsachen.'

I Das Wort Faktum heißt eigentlich das Gemachte, und sein deutsches Synonym "Tatsache" drückt den voluntativen, intentionellen Charakter dieses Sachverhalts aus (eine Ableitung von "tun", also getane Sache).

1S'

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Es gehört zum Wesen der Geschichtsschreibung, daß die Fakten für sie das Material bilden, mit dem sie mehr oder weniger redlich umgeht. Diesen Umgang nennen wir Interpretation, und jenes Mehr oder Weniger redliche Interpretieren ist denn auch der springende Punkt, an dem sich die interpretierenden Geister scheiden. Man kann das Feststellen von Tatsachen und deren Interpretationen als zwei verschiedene Erfassurigsweisen der Wirklichkeit betrachten. Ihre Parallelen sind einerseits die Geschichte - im Sinne einer wissenschaftlichen Darstellung historischer Vorgänge oder Entwicklungen und andererseits die Dichtung - im Sinne des Ersinnens von nicht unbedingt historischen, meistens fiktiven Tatsachen. Den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen des menschlichen Schaffens brachte seinerzeit G. Ph. Harsdörffer (1607-1658) lapidar in der Vorrede zu Biondis "Eromena" zum Ausdruck: "Der Dichter ist seines Werks Meister, der Geschichtsschreiber aber der Wahrheit Knecht". Wenn Fakten manipuliert werden, wenn nur die ,.halbe Wahrheit" bekanntgemacht wird, bei aller Ungenauigkeit des Begriffs "Wahrheit" selber, dann ist dies ein Grund für die Relativität der Urteile, und das bedeutet, daß etwas vielleicht entweder nur bedingt oder doch sehr wichtig ist, je nach dem, in wessen Augen. Es gibt aber auch andere Ursachen dieser Relativität, die gleichermaßen wichtig oder sogar wichtiger scheinen. In den hier geäußerten Behauptungen, in der Gegenüberstellung von einerseits wichtigen, weniger wichtigen und sehr wichtigen, andererseits aber auch von völlig unwichtigen Urteilen, haben wir es mit dem eigentlichen Problem zu tun: Es besteht darin, zu entscheiden, wer und was etwas für wertlos oder wertvoll erklärt, und warum etwas als bedeutend oder belanglos erscheint oder genauer: als solches erkannt oder erachtet wird. Im Grunde handelt es sich hier um einen ähnlichen Streitpunkt wie in der alten Frage, was denn eigentlich die (historische) Wahrheit sei, aber auch um die Frage nach den Kriterien der Beurteilung von Tatsachen, auch der Schönheit und Häßlichkeit von Kunstwerken, von Kunst und Kitsch usw. Wir befassen uns hier mit Ereignissen, die in der Historiographie wie auch in der Publizistik und in der praktischen Politik als wichtig erachtet worden sind und deren Bedeutung im nachhinein untersucht werden will. Die Sozialwissenschaften befmden sich in der aus ihrer Sicht günstigen Lage, daß sie sich unterschiedlicher Forschungsverfahren bedienen können: sowohl der induktiven als auch der deduktiven, der phänomenologischen, der hermeneutischen und der historischen Methoden. 2 Diese Methodenvielfalt ist aber auch ein Hindernis auf der Suche nach allgemein verbindlichen sozialwissenschaftlichen und speziell geschichtswissenschaftlichen Theoremen. Die besagte Methodenvielfalt führt allzuleicht zum Relativismus. Dieser erscheint zwar als methodologische Richtschnur bei der 2 Vgl. Artikel "Methode" im Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. hrsg. v. Helmut Seiffert u. Gerard Radnitzky. München 1992. S. 215.

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Analyse divergierender Standpunkte sehr "fortschrittlich" und "demokratisch", um mit modernen Kategorien in bezug auf das in der freiheitlich organisierten Welt vorherrschende Konzept der ,,Freiheit von Forschung und Lehre" zu sprechen. Die Methodenvielfalt und vor allem die Unterschiedlichkeit der mitunter einander ausschließenden Stellungnahmen zu denselben Phänomenen werden aber durch den Relativismus weder erklärt noch aufgehoben. Das wollen wir zunächst als allgemeine Feststellung gelten und dahingestellt sein lassen. Wissenschaftler wie Politiker, aber auch Historiker, die alle, jeder in einer für ihn eigentümlichen Art und Weise, die soziale Wirklichkeit prägen, neigen dazu, Fakten und Prozesse zu ordnen, Sachverhalte oder Personen zu beschreiben und zu klassifizieren. Dabei ist es geradezu menschlich, nur in Aspekten, in Kategorien zu denken, während der gesellschaftliche Sachverhalt einen Komplex, einen Zusammenhang bildet, der als eine Ganzheit begriffen werden will. Einmal aufgestellte Thesen und Deutungsversuche machen es der Wissenschaft mitunter schwer, sich von ihren Klassifizierungen loszusagen. Aus den Untersuchungen über bestimmte Probleme, Ereignisse usw. können nur ausgewählte Dokumente, Ideen bzw. Standpunkte zitiert und kommentiert werden. Dies ist eine subjektive Verfahrensweise, die stets eine Vereinfachung, ja mitunter eine Banalisierung der ursprünglichen Konzepte bedeutet. 3 So können selbst die durchdachtesten Ideen, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden, manipuliert und der eigenen Betrachtungsweise angepaßt werden, was Spekulationen, Simplifizierungen und Verallgemeinerungen Tür und Tor öffnet. Auch die Auswahl der zu analysierenden Fakten oder Konzepte kann meistens nur fragmentarisch, unvollständig sein, so daß die Kritiker dem Forscher vorwerfen können, er habe in seiner Analyse nicht alle Quellen herangezogen. Dieses Problem hat H. H. Schacht angesprochen, indem er auf die selbstverständliche, aber häufig ignorierte Tatsache hinwies, "daß Forschung nicht voraussetzungslos geschieht und wissenschaftliche Ergebnisse stets vorläufig sind und nach vorne offen und durch bessere Argumente veränderbar bleiben.'''' Das gilt auch für die historische Forschung, und wenn sie allzu kategorische Urteile abgibt oder allein auf Grund von Akten oder von Äußerlichkeiten Probleme schafft, die im Grunde nebensächlich sein können, 3 M. Weber sagte einmal, "es gibt keine schlechthin »objektive« wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder (. .. ) der »sozialen Erscheinungen« unabhängig von speziellen und >>einseitigen« Gesichtspunkten, nach denen sie (... ) als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden." Diese Behauptung hat bis heute ihre Aktualität bewahrt. Vgl. M. Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen 1968, S. 170.

• H.H. Schacht, Friedrich Nietzsche - noch immer umstritten, in: ,,Deutsche Studien", Vierteljahreshefte, 13. Jg. H. 49,1975, S. 45.

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dann ist der Wahrheit, was immer darunter zu verstehen ist, wenig gedient. Die Relativierung der wissenschaftlichen Forschung und ihrer Ergebnisse wie überhaupt der Relativismus als methodologische Richtschnur, als Gegensatz etwa zur marxistischen "Parteilichkeit"S und zum Festhalten an "Prinzipien", ferner der vielerorts angefochtene Skeptizismus des Forschers, der keine absoluten Gesetze menschlichen Verhaltens anerkennt, sind eine Triebkraft der Forschung selber, auch der Entwicklung in sämtlichen Lebensbereichen. Die Zufriedenheit mit dem Bestehenden, das Beharren auf Stabilität, der Glaube an ewige Gesetze dagegen führen paradoxerweise zur Stagnation, zur Erstarrung des Lebens. Vielleicht suchen die Gesellschaftswissenschaftler vergebens nach Zusammenhängen, nach "Gesetzmäßigkeiten" in Geschichte, Politik und Gesellschaft, die im Grunde eine Aneinanderreihung von voneinander unabhängigen Fakten bilden. Betrachtet man außerdem die Komplexität des (menschlichen) Lebens, dann sind alle Interpretationen, auch die auf konkrete Fakten bezogenen, um mit H. H. Schacht zu sprechen, für den Wissenschaftler "Versuche und keineswegs endgültige Entscheidungen"6. Die Forschung, auch die Geschichtsschreibung, stellt eine Ansammlung, im heutigen Wissenschaftsbetrieb: ein institutionalisiertes System von Experimenten, Versuchen, Interpretationsansätzen dar, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben können, da sie von der späteren Forschung wiederum in Frage gestellt und somit auch relativiert werden können. Zum anderen versucht wohl jede Forschung immer wieder, ihre Ergebnisse zu systematisieren, d. h. Systeme zu schaffen, wobei unterschiedliche Methoden angewandt und diverse Quellen herangezogen werden, z. B. Archivalien, biographische Darstellungen, Äußerungen der untersuchten Personen und ihrer Zeitgenossen usw. Solche Versuche der Systematisierung gelingen nur in äußerst seltenen Fällen, weil ein ausreichender Bezug etwa auf die persönlichen Lebensumstände eines Menschen, die Berücksichtigung sämtlicher relevanter politischer, gesellschaftlicher u.a. Aspekte eines historischen Fakts nicht möglich ist und stets lückenhaft bleibt. Bei der Untersuchung von kollektiven Erfahrungen in nationalem oder übernationalem Maßstab ist dies um so schwieriger. Dabei bedeutet allein die Entscheidung darüber, was als relevant anzusehen ist, eine Einschränkung der Betrachtungsweise und schließt von vomS Die ,,Parteilichkeit" wird im Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache in zwei Bänden, Berlin (Ost) 1984, S. 855, definiert als "bewußt angewandtes (theoretisch-methodisches) Prinzip, das dem objektiven Zusammenhang von Wahrheit, Wissenschaftlichkeit und Parteinahme für die Interessen der Arbeiterklasse entspricht". Der Verschleierung des totalitären Charakters dieses "Prinzips" dient folgende weiterführende Erläuterung dieses Begriffes: "mehr od. weniger offen zutage tretender Ausdruck des Standpunktes, der Interessen einer Klasse" und vor allem das dazugehörende Anwendungsbeispiel: "die Parteilichkeit der bürgerlichen Ideologie".

• H.H. Schacht, a.a.O., S. 45.

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herein andere Gesichtspunkte aus oder engt sie zumindest wesentlich ein. Dies ist natürlich, denn man kann nicht alle Wege auf einmal gehen, sondern man muß jedesmal andere Entscheidungen treffen. Was letztendlich bleibt, ist der zu interpretierende Fakt. An dieser Stelle möchte ich die Grundvoraussetzungen dieses Theorieansatzes umreißen. Darin wird unter einer sozialen Tatsache ein gesellschaftlich relevanter Fakt verstanden, d. h. ein überindividuell, von mehreren Individuen, einer gesellschaftlichen Gruppe oder einem sozialen Verband als bedeutsam eingestufter Sachverhalt, dessen Existenz in seiner sozialen Wirkung begründet liegt oder von seiner Ausstrahlung nicht zu trennen ist. Der Fakt an sich erlangt erst dadurch seine Bedeutung, daß man ihm Sinn verleiht, und er bleibt, sobald er eingetreten ist, unabänderlich. Über seinen Wert entscheidet die Intention des Betroffenen oder Interpreten. Allem Anschein nach werden die Intentionen der Menschen bei der Einschätzung der Fakten bzw. der sozialen Wirklichkeit nicht gebührend berücksichtigt. 7 Unter einer Intention verstehe ich hier eine Absicht gegenüber dem einzuschätzenden Objekt, die das Verhältnis des Individuums zur Tatsache bestimmt. Eine der wichtigsten Fragen bei der Untersuchung von Einschätzungen der Fakten, aber auch bei der Bewertung von Personen, politischen Anschauungen usw., sollte wie folgt lauten: Warum beurteilen wir sie auf diese oder jene Art und Weise? Die deskriptiven Einschätzungen der Wirklichkeit, bei denen ihr Status quo beschrieben wird, lassen diese Frage unbeantwortet. Eine soziale Tatsache können mithin etwa ein politisches oder sozialökonomisches Ereignis, eine Sozialphilosophie, eine politische Ideologie oder auch ein Kunstwerk oder ein Literaturwerk sein, die für die politische oder gesellschaftliche Entwicklung oder auch für das aktuelle Geschehen als bedeutsam, wichtig, publikumswirksam befunden werden. Während politische und sozialökonomische Ereignisse, Sozialphilosophien, Ideologien per se politisch sind oder jedenfalls vordergründig als solche interpretierbar sind, können die von ihren Urhebern nicht als politisch intendierten Kunst- und Literaturwerke erst im nachhinein politisch gedeutet werden, sozusagen entgegen den ursprünglichen Intentionen ihrer Autoren. Aber auch ein unabhängig von den Intentionen ihres Urhebers und in der Öffentlichkeit als unpolitisch klassifizierbares Kunst- oder Literaturwerk ist eine soziale Tatsache, weil es mit den oben genannten Prädikaten "bedeutsam", "aktuell", "wichtig" etc. versehen wird. Entscheidend dafür, daß etwas als soziale Tatsache angesehen wird, ist allein der Umstand, daß sie dazu gemacht wird, gemäß dem lateinischen Ursprung des Wortes faktum, d. h. das Gemachte. Das 7 Ich sehe hier von der phänomenologischen Betrachtungsweise der Intentionen ab. Es geht nämlich nicht um die Wesensschau, um die Intentionalität des Bewußtseins usw., sondern um die praktische Einschätzung von Sachverhalten und deren Bedeutung im Umgang mit sozialen Tatsachen.

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deutsche Wort "Tatsache" verweist bereits in seinem Stamm auf das Tun und meint wörtlich "eine Sache tun" oder schaffen. So bedeutet auch jegliches Interpretieren "soziale Fakten schaffen", ungeachtet der in dieser Wendung verborgenen Tautologie, die in der Phrase "vollendete Tatsachen" ihre Daseinsberechtigung hat. Ich gehe von einer vielleicht etwas pessimistischen Perspektive der sozialwissenschaftlichen Forschungen aus und wage zu behaupten, die Forscher sind imstande, ein nur annähernd realistisches (d.h. den Realien der zu untersuchenden Person und ihrer Zeit oder den gesellschaftspolitischen Zuständen entsprechendes) Bild zu rekonstruieren, weil sie jeweils nur auf Ausschnitte, sozusagen auf Streiflichter der überlieferten Realität( en) angewiesen sind. Dabei besteht die Überlieferung darin, daß die Betroffenen oder deren Analytiker oftmals bestimmten Äußerlichkeiten Bedeutung beimessen, andere dagegen vernachlässigen. Der Forschungsprozeß besteht immer in der Auswahl der zu untersuchenden Objekte, Themen, Sachverhalte, er beruht auf einem ständigen Klassifizieren, Qualifizieren, Quantifizieren usw. Die ,,Axiologisierung" (nicht Axiomatisierung!) des Forschungsprozesses ist eine Tatsache, die der Werturteilsfreiheit als einem für den Objektivitätsanspruch der Wissenschaft relevanten Merkmal in der Praxis zuwiderläuft. Es ist äußerst schwierig, wenn überhaupt möglich, den Einfluß einer Tatsache (z.B. einer Begegnung mit jemand) auf einen Menschen zu beurteilen. Wir können - bestenfalls, wenn diese Tatsache belegt ist - sie lediglich als real geschehen konstatieren. Im Falle überindividueller Tatsachen (etwa internationaler Abkommen) ist dies um so schwieriger. Folglich muß ein Forscher aus einer Fülle von Material jedesmal eine Auswahl dessen treffen, was er für wichtig hält. Nicht zuletzt sind manche Quellen (z.B. eine unbekannte Anzahl von Aufzeichnungen, auch von Akten etc.) nicht überliefert, so daß ein vollständiges Bild eines Vorgangs, eines Ereignisses, eines Autors und seiner Anschauungen, seiner Denkweise, seiner Argumente etc. sich niemals gänzlich rekonstruieren läßt. Indem wir dies versuchen, nähern wir uns in unserem wissenschaftlichen Ehrgeiz und mit unserer Redlichkeit lediglich einem Ideal, das wir uns gesetzt haben oder das uns aufgrund unseres Umgangs mit Quellen vorschwebt. Die Frage, was nun in den nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmten Aufzeichnungen, Z.B. in Briefen und Tagebüchern, auch in Akten, geheimen Zusatzprotokollen etc. für den Forscher wichtig ist, was also Sinn bekommen und damit zur Forschungstatsache werden soll, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Auf jeden Fall spielt das Interesse des Forschers eine wichtige Rolle, das wiederum von seiner fachlichen Ausbildung und Qualifikation abhängig ist. Ein Politikwissen-

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schaftler wird sich eher politologischen Aspekten, ein Sprachwissenschaftler den sprachlichen, stilistischen o. ä. Gegebenheiten, ein Jurist den rechtlichen Problemen, ein Historiker womöglich den historischen Zusammenhängen zuwenden. Die Spezialisierung darf jedoch das Gesamtbild des einen Ereignisses nicht verzerren: In Abwandlung einer bekannten Redensart gesprochen, soll der Forscher nicht nur die Bäume, sondern auch den Wald sehen. Darin kann eine mögliche Erklärung für die Unterschiedlichkeit der Interpretationen, der Standpunkte usw. liegen, und zwar in der unterschiedlichen Sinngebung. Daß jemand etwas z. B. vom rein philosophischen Standpunkt aus interpretiert, hängt u. U. davon ab, daß er der Philosophie die tragende Bedeutung beimißt. Dies kann in der Ausbildung des Forschers liegen, der der Philosophie mächtig ist und sich nicht berufen fühlt, zu nichtphilosophischen Fragen Stellung zu nehmen. Ein Politologe dagegen wird der Geschichte politische Zusammenhänge abgewinnen wollen, ein Germanist wird literaturgeschichtliche Aspekte in den Mittelpunkt stellen usw. Auf das Verhältnis des Individuums gegenüber einem Faktum üben verschiedene individuell- und sozialpsychologische Faktoren einen Einfluß aus, wobei die ersteren von den letzteren determiniert sein können, namentlich bei der Einschätzung von sozialen und historischen Tatsachen. Ein Beispiel unterschiedlicher Betrachtungsweisen ein und derselben Tatsache, je nach der Position der davon Betroffenen, kann der Ausgang des Zweiten Weltkrieges, die objektive Tatsache der militärischen Niederlage Deutschlands 1945, bilden. Für die Nazis bedeutete sie eine ,,Katastrophe", für die Nazigegner eine "Befreiung", und für die Alliierten einen "Sieg". Der eigentliche Anfang dieses Endergebnisses von 1945 - das können wir erst im nachhinein beurteilen - war der Kriegsausbruch im Jahre 1939. Ein Historiker !Politiker Ijeder, der von einer "Katastrophe" im Jahre 1945 spricht, scheint den Großmachtbestrebungen Nazideutschlands zu huldigen, dem die Eroberung Europas nicht gelungen ist. Bezieht man dagegen den Begriff "Katastrophe" bereits auf das Jahr 1939, so erscheint man als ein distanzierter und zugleich kritischer Betrachter der Entwicklung Deutschlands nach 1933. Somit ist der Begriff "Katastrophe", je nach der Stellungnahme des Betrachters, ein wertender Begriff für denselben objektiven Sachverhalt der militärischen Niederlage Deutschlands im Jahre 1945. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Forschung nicht voraussetzungslos ist, sondern durch die Wahl der Methoden und selbst der Forschungsgegenstände, durch den Hang zur Systematisierung und Verallgemeinerung etc. determiniert ist. Diese Befangenheit des Forschers äußert sich nicht nur in der Methodik, sondern auch im ideologischen Bereich. Diese allgemeinen Betrachtungen über methodologische Probleme der Interpretation sozialer Tatsache und die Relativität ihrer Bewertungen sollen nun anhand der Folgen der Potsdamer Konfe-

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renz exemplifiziert werden. Zunächst sollen diese Folgen als soziale Tatsachen kenntlich gemacht werden, und anschließend soll den möglichen Ursachen unterschiedlicher Bewertungen nachgegangen werden.

B. Unterschiedliche Aspekte der Bewertung der Folgen der Potsdamer Konferenz Darüber, was als Folgen der Potsdamer Konferenz anzusehen ist, gibt es unterschiedliche Auffassungen, und in diesem Sammelband sind diese Unterschiede sichtbar geworden. Zunächst muß als Tatsache festgestellt werden, daß die Folgen unmittelbar aus den Beschlüssen des Potsdamer Abkommens 8 resultieren, aber auch auf die Konferenzen in lalta und San Francisco und auf Sonderkonferenzen der Vereinten Nationen zurückgehen, die in der Geschichtsschreibung einhellig unter folgenden Punkten zusammengefaßt werden: die Absteckung der Grenzen in Europa, die (Besatzung-)Politik der Alliierten gegenüber Deutschland, die Schaffung einer stabilen Friedensordnung. Verallgemeinernd wird als Ziel der Konferenz die Koordinierung der alliierten Nachkriegspolitik zur Schaffung eines »gerechten u. dauerhaften Friedens« bezeichnet. 9 Wenn in den weiteren Ausführungen von den Folgen der Potsdamer Konferenz gesprochen wird, dann sind damit die bleibenden Auswirkungen gemeint, also die territorialen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch die politische Spaltung des Kontinents, der erst nach 1989 wieder zusammenzuwachsen beginnt. Zu den objektiven Folgen der Potsdamer Konferenz gehört auch das heute vereinigte, demokratische, dezentralisierte, in Europa integrierte und die Integration eigentlich stützende Deutschland. Zu den indirekten Folgen der Potsdamer Konferenz gehören außerdem das hohe Niveau der Demokratisierung und der Föderalismus der Bundesrepublik, die Überwindung des obrigkeitsstaatlichen Machtstaates und die Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger. Die objektiven Folgen der Potsdamer Konferenz lassen allerdings eine Reihe von subjektiven oder genauer: relativierenden Einschätzungen zu, die im folgenden umrissen werden sollen.

• Die Bezeichnung -Abkommen- ist im strengen Sinne unzutreffend, da die Regierungschefs der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens eine "Mitteilung über die Drei-Mächte-Konferenz von Berlin" veröffentlichten. Die Mitteilung beinhaltete in ihren 14 Abschnitten einen Kurzbericht über den Konferenzverlauf sowie Beschlüsse, Vereinbarungen und Absichtserklärungen der drei Regierungen zur kUnftigen Politik gegenüber Deutschland und anderen europäischen Staaten. • Bertelsmann Geschichtslexikon, GUtersloh, München 1993.

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Der Relativität der Bewertungen der Folgen der Potsdamer Konferenz können folgende Aspekte zugrunde gelegt werden: 1. Die nationale Sicht der von den Beschlüssen der Konferenz betroffenen Länder und Völker (Deutschland - Verbündete Deutschlands - Polen - Rußland Westeuropa - USA); 2. Wandlungen im Zuge der Veränderungen in der Außenpolitik (Weltmächte Bündnissysteme - nationale Außenpolitik der betroffenen Länder); 3. Ideologiebefangenheit der Interpreten in völkerrechtlichen Fragen, besonders im (ehemaligen) Ostblock und Instrumentalisierung von Argumenten. Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, soll im folgenden die nationale, polnische Sicht des Autors, trotz seines Objektivitätsanspruchs, nicht zu kurz kommen. Dies um so mehr, als die territorialen Veränderungen und neuerdings die Umsiedlungen der Bevölkerung infolge der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz die nationale Sicht der Deutschen und der Polen unmittelbar bestimmten. Zu 1.: Die nationale Sicht der Folgen der Potsdamer Konferenz ist wohl der gravierendste Punkt, in dem sich die Einschätzungen unterscheiden. In der deutschen Geschichtsschreibung und im gesellschaftlichen Bewußtsein der Deutschen stehen der Verlust der ehemaligen Ostgebiete und das Schicksal der dortigen Bevölkerung im Mittelpunkt. Prof. Keiderling lO verweist insbesondere auf das Ausmaß der Gebietsverluste und das der Reparationen bzw. der Wiedergutmachung als die Probleme, die die deutsche Öffentlichkeit am meisten bewegten. Außerdem war die Einstellung gegenüber den Folgen der Potsdamer Konferenz in den Westzonen und in der SBZ unterschiedlich. Andere Folgen der Konferenz, die Entmilitarisierung und Denazifizierung, die Aburteilung der Kriegsverbrecher, die Reparationszahlungen sind heute längst überwunden, wobei die unvollkommene Denazifizierung von der revoltierenden Jugend, den Pazifisten, Anarchisten, Alternativen etc., insbesondere in den späten 60er Jahren bemängelt wurde und für die Revolte mitverantwortlich war. Die Einschätzung der Folgen der Potsdamer Konferenz in Ländern, die im Krieg auf der Seite Deutschlands gestanden hatten, ist unterschiedlich - je nach dem, ob sie in den sowjetischen Einflußbereich gelangten oder in die westlichen Strukturen integriert wurden. Italien und Japan haben daher ein anderes Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegsordnung als die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, deren einstige Position als Verbündete Deutschlands nach der Eingliederung in den sowjetischen Machtbereich einen Anlaß zu ähnlicher Unterdrückung seitens der Sowjetunion bot wie in Deutschland. Die "Mißgeburt Volks10 G. Keiderling, Die Potsdamer Konferenz in der Meinung der Berliner Öffentlichkeit, S. 87 in diesem Band.

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demokratie", von der Prof. Nemeth ll spricht, war eine indirekte Folge der in Potsdam eingeleiteten europäischen Nachkriegsordnung. In der nichtmarxistischen Geschichtsschreibung in Polen 12 wird auf die Bestrebungen sowohl Churchills als auch Roosevelts hingewiesen, den "Weltfrieden" auch auf Kosten der Ansprüche Polens und anderer, kleinerer Länder (vor allem der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland) zu erhalten. Dabei wird in der neuesten Historiographie auf Nützlichkeitserwägungen der beiden Politiker, auf deren instrumentalen Umgang mit dem Problem der europäischen, insbesondere der polnischen Grenzen, hingewiesen: So äußerte auf der Konferenz der Großen Drei in Teheran Roosevelt gegenüber Stalin seine Befürchtung, die Lösung der polnischen Frage werde das Verhalten der polnischen Wähler bei den Präsidentschaftswahlen beeinflussen (Roosevelt wollte zum vierten Mal kandidieren); Churchill dagegen lag es am Vorabend der Aufrichtung einer "zweiten Front" daran, die Tapferkeit der auf fremden Schlachtfeldern kämpfenden polnischen Soldaten zu nutzen und dadurch ,,Mühe und Blut der britischen Armee" zu sparen: "Der [polnische] Soldat sollte also nicht erfahren, daß die Freiheit, um die er kämpfen wollte, von seinen angeblichen Verbündeten an Moskau verkauft wurde, noch bevor er unter dem Monte Cassino, Falaise, Amhem ins Schlachtfeld zog. ,,13 Was die Grenze Polens anbetrifft, so ist diese Frage gleich am ersten Tag der Konferenz in Teheran gestellt worden. Ohne die Forderungen der polnischen Exilregierung zu berücksichtigen, stimmten Roosevelt und Churchill den Vorschlägen Stalins zu, die Grenzen westwärts zu verschieben. Schon am letzten Konferenztag, am 1. Dezember 1943, akzeptierten die westlichen Verbündeten den Vorschlag Stalins, daß Polen mit seinem östlichen Nachbarn "freundschaftliche Beziehungen" unterhalten würde, was "praktisch nur die völlige Abhängigkeit dieses Staates vom Kreml bedeuten konnte". 14 Teheran und nicht erst Potsdam gilt denn auch als der Ort, an dem "zum erstenmal, obgleich noch nicht völlig konkret, das Nachkriegseuropa in Einflußzonen aufgeteilt wurde. Indem Stalin die freie Verfügungsgewalt in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und im Baltikum überlassen worden war, ist das Recht 11

I. Nemeth, Ungarn und die Potsdamer Konferenz, S. 141 in diesem Band.

12 W. Pronobis, Polska i cewiat w XX wieku (dt.: Polen und die Welt im 20. Ih.), Warszawa 1991, S. 325. Die Publikation ist vom polnischen Ministerium für Nationale Edukation als ergänzende Lektüre filr Lehrer und Schüler der Gymnasien offiziell genehmigt worden und ist daher wegen ihrer meinungsbiIdenden Funktion als exemplarisch anzusehen.

13

Ebd., S. 326.

14

Ebd., S. 326 f.

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dieser Staaten auf ihre Souveränität mißachtet worden. [ ... ] Somit ist die erste Etappe des Verkaufs Polens durch seine offiziellen Verbündeten vollzogen worden.'ds Auch auf der Konferenz der Großen Drei in Jalta stand die polnische Frage zur Debatte. Bezüglich des Verlaufs der polnisch-sowjetischen Grenze wurde dort die seinerzeit im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 vereinbarte, nur wenig modifizierte Linie festgelegt. Die Hervorhebung gerade dieser Linie soll an das in der neuesten Geschichtsschreibung stark akzentuierte gute Verhältnis zwischen den totalitären Regimes in Nazideutschland und in der stalinistischen Sowjetunion erinnern. Daß ausgerechnet Molotow l6 sich in der Frage der polnischen Westgrenze als ein Verteidiger der polnischen Ansprüche erwies und daß die Polen die Anerkennung der westlichen Neiße als Grenzlinie der Hartnäckigkeit des von ihnen verhaßten Stalin gegenüber den westlichen Regierungen l7 "verdanken", ist eine Ironie der Geschichte. Fraglich bleibt nur, was den Generalissimus wirklich dazu bewog, die polnischen Gebietsansprüche zu unterstützen. Die polnischen Westgebiete sind jedenfalls als ein "Geschenk" Stalins in der Nachkriegszeit zu einem Zankapfel der Deutschen und Polen geworden. Sie sind aber auch zu einem Objekt der Integration des polnischen Volkes und der unter breiten Bevölkerungskreisen unbeliebten Regierung geworden: in ihrer Ablehnung der "westdeutschen Revisionisten" und vor allem der Führer der Vertriebenenverbände. Die "deutsche Frage", das Spielen mit der "deutschen Karte", erwies sich als das wohl erfolgreichste Instrument, eine zumindest zeitweilige Bindung größerer Teile der polnischen Bevölkerung an das Regime herzustellen. 18 Heute würde kaum ein Pole auf die polnischen West- und Nordgebiete verzichten, er würde sie vielleicht gerne in einem gesamteuropäischen, obwohl nicht gerade von Deutschland organisierten Wirtschaftsraum sehen, sofern er sich von Nützlichkeitserwägungen leiten ließe. Der einstige Verteidiger der polnischen Ansprüche aber, V. Molotow, gilt als ein stalinistischer Verbrecher, dem man nichts schuldet.

IS

Ebd., S. 327.

16 "Im Westen hat Polen wieder in seine alten Gebiete Einzug gehalten, die einst die Wiege des polnischen Staates waren. Sein heutiges Gebiet stimmt mit dem historischen Gebiet Polens der Piastenzeit überein," Zit. n. F. Faust, Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung, 4., neubearb. Aufl., FrankfurtlM. - Berlin 1969, S. 147. 17

Herbert Li/ge, Deutschland 1945-1963, 18. Aufl., Hannover 1978, S. 9.

" Vgl. K. Ziemer, Können Polen und deutsche Freunde sein? Polnische Befürchtungen bei der Vereinigung Deutschlands, in: Die häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, hrsg. v. G. Trautmann, Darrnstadt 1991, S. 89.

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Die historische Begründung des polnischen Anspruchs auf die deutschen Ostgebiete, wie ihn Molotow formulierte, wurde oder wird zum Teil immer noch weitgehend in der polnischen Geschichtsschreibung und in der Öffentlichkeit aufrechterhalten. Dabei handelt es sich um Instrumentalisierung historischer Argumente, von der noch weiter unten die Rede sein wird. Der ökonomische Anspruch der Polen, der damit begründet wird, daß die an die UdSSR verlorenen polnischen Ostgebiete mit deutschen Ostgebieten entschädigt werden mußten, wird dagegen von Deutschen abgelehnt. Die Begründung der deutschen Historiker lautet, "wertmäßig" seien die besetzten deutschen Ostgebiete etwa sechsmal so hoch eingeschätzt worden. 19 Auf den Wert dieser Gebiete verwies auch der britische Premierminister Churchill im britischen Unterhaus zweimal: am 15. Dezember 1944 und am 27. Februar 1945. Daß Churchill später, nachdem er Oppositionsführer geworden war, im August 1945 in der Abtretung deutscher Ostgebiete an Polen "kein gutes Vorzeichen für die künftige Karte Europas" sah20 , kann als ein Beweis dafür gelten, daß die Einstellung des britischen Politikers gegenüber der Grenzfrage konjunkturell bedingt war. Ein Jahr zuvor, im August 1944, versicherte er noch den polnischen General W. Anders: "Sie werden im Westen Gebiete erhalten, die viel besser sind als die Pripjetj-Sümpfe. Die Oder wird ihre Grenze im Westen sein, und was ihren Zugang zur See angeht, so gibt es da andere, weit günstigere Möglichkeiten als den Korridor. ,,21 Die Beweggründe des britischen Premierministers können unterschiedlich interpretiert werden; schließlich teilte er die Karte Europas in einer Region ein, die die britischen Interessen nur indirekt tangierte. Die deutschen Kritiker der territorialen Neuordnung Europas hielten diese Veränderungen aber für ungerecht und unberechtigt. Was den schließlich auf der Potsdamer Konferenz beschlossenen Verlauf der polnischen Grenzen anbetrifft, so wird in der nichtkomrnunistischen Geschichtsschreibung darauf hingewiesen, daß die im Osten Polens verlorenen Gebiete mit den ehemaligen deutschen Ostgebieten kompensiert wurden. Der Umstand, daß diese Entschädigung keineswegs äquivalent war und daß die deutschen Ostgebiete wirtschaftlich viel wertvoller waren, wird zur Zeit der kommunistischen Herrschaft so gut wie nicht beachtet. Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung wurde vor 1989 als "geschichtliche Gerechtigkeit" interpretiert, ohne daß auf die praktische Durchführung und vor allem auf die sozialen und psycholo'9

F. Faust. Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung. a.a.O .• S. 148.

20

Zit. n. F. Faust. a.a.O .• S. 150.

21

Zit. n. F. Faust. S. 149.

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gischen Folgen dieses Beschlusses näher eingegangen wurde. Erst in der jüngsten Geschichtsschreibung gibt es Hinweise auf die Leiden der Millionen Umsiedler, wie die Vertriebenen in Polen bezeichnet werden. In der Frage der Kriegsentschädigungen wird heute vor allem die Härte der diesbezüglichen Maßnahmen der UdSSR betont. Dabei werden unter anderem die hohen sowjetischen Reparationsforderungen damit begründet, daß ein Teil davon angeblich für die Entschädigung Polens für den Krieg und die Nazibesatzung bestimmt gewesen sei. Grundsätzlich wird in der nichtkommunistischen polnischen Geschichtsschreibung die Sowjetunion in dunklem Licht dargestellt. In der Präsentation der Politik "Moskaus" gegenüber Deutschland werden zwei Ziele in den Mittelpunkt gestellt: Einerseits sei es darauf bedacht gewesen, den Deutschen eine von den Sowjets abhängige, kommunistische Diktatur aufzudrängen, andererseits habe es von ihnen möglichst große Entschädigungen als Kompensation für die Kriegszerstörungen herauspressen wollen. Infolgedessen ist die sowjetische Besatzungszone "sämtlicher Ressourcen brutal beraubt worden".22 Die antisowjetische bzw. antirussische und das bedeutet zugleich die antikommunistische Geschichtsschreibung stellt denn auch die Bodenreform, die Aufteilung des Großgrundbesitzes sowie die Enteignung von Industriebetrieben als Aktivitäten im Rahmen der Aufdrängung von kommunistischen Zuständen in der sowjetischen Besatzungszone dar. Dagegen wird die Währungsreform, deren Einschätzung im Zusammenhang mit der Frage nach der Einigung oder Spaltung Deutschlands selbst in der bundesrepublikanischen Historiographie keineswegs eindeutig ist, als ein für alle vier Besatzungszonen geplantes, nur am Widerstand der Sowjets im Osten nicht durchgeführtes Unternehmen präsentiert. Der nationale oder exakter: die nationalen Interessen berührende Gesichtspunkt der USA, wie ihn Prof. Griffith 23 dargelegt hat, entsprach insofern dem der Polen, als die Vereinigten Staaten sich in Potsdam dem Problem der polnischen Grenzen zuwandten und die speziell die Deutschen angehenden Fragen, d. h. die Reparationen und die Umsiedlung der Bevölkerung, nur nebensächlich behandelten. Die Perspektive der Sowjetunion war wiederum von der sowjetischen Deutschlandplanung bestimmt. Prof. Jena24 verwies auf das Problem der Grenzen Polens als eine zentrale Frage Stalins. Doch besteht die notwendige Relativierung dieses Standpunkts der Sowjets darin, daß bei ihnen die sicherheitspolitischen Gesichts22

W. Pronobis, a.a.O., S. 349.

lJ W. Griffith, Die USA und die Potsdamer Konferenz. (Nicht ausformulierter Text im Archiv der Europäischen Akademie Otzenhausen).

24

D. Jena, Stalin und die polnische Frage, S. 125 in diesem Band.

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punkte eine wichtige Rolle spielten: Polen als eine Pufferzone, die die Sowjetunion vor dem Westen schützen sollte. Zu 2.: Die Relativität der Einschätzungen ist auch im Zusammenhang mit den Wandlungen im Zuge der Veränderungen in der Außenpolitik nötig. Die in Potsdam besiegelte europäische Ordnung war auf der Blockebene keineswegs einheitlich und unterlag selber Wandlungen. Die erste Zäsur bildete der Tod Stalins, mit dem sich die Möglichkeit einer breiteren, obgleich weiterhin beschränkten Souveränität der Satellitenstaaten verband. In den Jahren nach 1956 wurde der Spielraum der einzelnen Staaten in Ost- und Mitteleuropa, eine eigenständige Politik zu führen, immer größer, ungeachtet einiger Rückschläge wie etwa 1968 in der Tschechoslowakei. Das Denken in den Kategorien der Bündnissysteme und Blöcke mag die Sicht der in Potsdam und zuvor auf den Konferenzen in Teheran und Jalta geschaffenen Ordnung erleichtern, es übergeht aber die Unterschiede, die von Land zu Land bestanden, etwa die relativ großen politischen Freiheiten seit den 70er Jahren in Polen im Vergleich zu polizeistaatlichen Zuständen in der DDR. Natürlich waren die Grundlinien der Außenpolitik der Ostblockländer im Einvernehmen mit Moskau bestimmt worden, aber es gab hierbei doch bestimmte Freiräume. Die Position der Bundesrepublik als des Staates, dessen Innen- und Außenpolitik ebenfalls von den Alliierten bestimmt werden sollte, ist dank der einsichtigen Politik Adenauers im Grunde zu einer Position nicht des Besiegten, sondern des Siegers geworden. Die Lasten der Potsdamer Konferenz erwiesen sich als eine Strafe für die in der SBZ und der späteren DDR lebenden Deutschen, deren Politiker immer wieder auf eine konsequente Erfüllung der Beschlüsse dieser Konferenz hinweisen konnten. Paradoxerweise trafen diese Beschlüsse diejenigen, die von sich behaupteten, das "gute Deutschland" zu verkörpern und "die guten Deutschen" zu sein. Die Reparationspolitik der Sowjets gegenüber dem neuen deutschen "Arbeiter- und Bauernstaat" war denn auch eine quasi kolonialistische Politik, deren Mittel zu den Lehren des Marxismus-Leninismus und dem auf seinen Grundlagen neu zu etablierenden kommunistischen System im krassen Widerspruch standen und die wahren Absichten der Besatzer nur schwer verschleiern konnten. Zu 3.: Zur Ideologiebefangenheit der Interpreten, vor allem in den Ostblockländern, möchte ich nur anmerken, daß die sog. marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung es als ihre Errungenschaft ansah, daß die Potsdamer Beschlüsse als im Geiste des Abkommens verwirklicht dargestellt wurden. Das gilt insbesondere für die DDR, worauf Prof. Maretzki 25 in seinem Beitrag hingewiesen hat. H H. Maretzki, Korrigierte Sichten eines Ostdeutschen auf die Potsdamer Beschlüsse, S. 403 in diesem Band.

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Bezüglich der Instrumentalisierung diverser Argumente, etwa historischer - zur Begründung von Gebietsansprüchen, auch ökonomischer - zur Infragestellung der Äquivalenz, hatte ich mich bei der Frage der polnischen Grenzen geäußert. Auch Prof. Strobel26 verwies auf dieses Problem, wobei ich die heutige Sicht dieser Angelegenheit dahingehend modifizieren würde, daß in der Zwischenzeit in Polen eine Generation aufgewachsen ist, die im Grunde ein recht positives Verhältnis zu Deutschland hat. Es wäre wünschenswert, wenn die Gesamtheit der Deutschen die Realitäten, darunter die territorialen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, mit ähnlicher Natürlichkeit aufnehmen würde, wie die Mehrheit der Polen sich mit dem Verlust ihrer Ostgebiete abgefunden hat. Für die junge Generation liegt der Zweite Weltkrieg fast ebenso fern wie der Deutsch-Französische Krieg von 1870171.

c. Auf der Suche nach objektiven Interpretationen Ist es überhaupt möglich, eine universalistische, übernationale Einschätzung der Folgen einer Tatsache wie die Potsdamer Konferenz zu geben? Eigentlich ist die in Potsdam begründete Spaltung Europas bereits auf der Konferenz in Jalta beschlossen worden. Man nennt die europäische Nachkriegsordnung in der polnischen Geschichtsschreibung auch "das System von Jalta": In seinem westlichen Teil wurden die Menschen- und Bürgerrechte, die politische Demokratie und die freie wirtschaftliche Betätigung gefördert und sogar gefestigt. Im östlichen Teil wurden Regimes nach sowjetischem Muster eingerichtet. In bei den Teilen des Systems von Jalta wurde seine Notwendigkeit damit begründet, das europäische und das globale Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das System von Jalta schuf tiefgreifende Gegensätze zwischen West- und Osteuropa: im Lebensstandard, in den politischen Formen und Strukturen, in der Kultur. Ob das Gleichgewicht nun der ehrliche Preis war für die 50 Jahre Entbehrungen und Einschränkungen der Osteuropäer, ist eine Frage, die sowohl zu relativierenden als auch zu eindeutigen Schlüssen veranlaßt: die Westeuropäer werden zum relativierenden Standpunkt neigen, die Osteuropäer dagegen eindeutig auf ihre Negativerfahrungen mit dem sog. Gleichgewicht der Kräfte und Blöcke verweisen und auf einen Ausgleich ihrer subjektiv und objektiv ungerechten Belastungen beharren. Die Art und Weise, wie man eine Sache betrachtet, hängt von der Position des Betrachters ab. Die Relativität der Urteile über die Folgen der Potsdamer Konferenz kann an diesem Prinzip exemplarisch nachvollzogen werden.

2. G. W. Strobel. Polnische Vorbereitungen auf die Potsdamer Konferenz. S. 103 in diesem Band. 19 Timmermann

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Die Vielfalt der möglichen Deutungen der als soziale und politische Tatsache begriffenen Potsdamer Konferenz - man denke z. B. an politologische, soziologische, ökonomische, völkerrechtliche Ansätze -, wie auch die unterschiedlichen Interpretationen bestimmter Begriffe, etwa der Denazifizierung, Dekartellisierung usw. bei Stalin und den westlichen Verbündeten, aber auch im Osten und im Westen Deutschlands, schließen eine maßgebliche bzw. für alle verbindliche Bewertung der Folgen der Potsdamer Konferenz von vornherein aus. Viele Deutungsversuche erscheinen zudem trotz ihrer Unterschledlichkeit plausibel. Dabei fehlt ein überzeitlicher, alle wissenschaftlichen Einzeldisziplinen umspannender und überschreitender Begriff, was übrigens in der Wissenschaft (wie auch im Alltag) eine Allgemeinerscheinung ist. Dieser Sachverhalt ist keineswegs beklagenswert, er spiegelt lediglich die objektive Vielfalt und Differenziertheit des Lebens wieder und trotzt allen monistischen Betrachtungsweisen und Versuchen der "Weltdeutung". Wegen dieser pluralistischen Beschaffenheit der Welt liefe beispielsweise auch die Suche nach einer universellen Interpretation der Folgen der Potsdamer Konferenz auf einen monistischen Deutungsansatz hinaus. Die Suche, ja mitunter geradezu die Sehnsucht der Forscher nach objektivierten Begriffen die Universalisierung von Begriffen kommt schließlich der monistischen WeItsicht sehr nahe - widerspiegelt zwar den Hang der Menschen dazu, in wohl geordneten, überschaubaren und kalkulierbaren Verhältnissen zu leben, sie leistet aber einer durchaus menschenfeindlichen Tendenz Vorschub, das Leben mit machtpolitischen Mitteln zu ordnen und es im Grunde reglementieren zu wollen. Das eigentliche Problem der Menschen, die in einem monistischen System lebten, nicht zuletzt im Ergebnis der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, besteht darin, daß sie die Vielfalt des Lebens erst erkennen und den Umgang mit ihr neu lernen müssen. Von daher sind jegliche Versuche, die Welt gleichzumachen, die Begriffswelt nicht ausgenommen, was in den vergangenen Jahrzehnten in einer monistisch strukturierten Gesellschaftsordnung mehr oder weniger erfolgreich praktiziert wurde, zum Scheitern verurteilt. Jedenfalls sollte man bei der Beschäftigung mit den Folgen der Potsdamer Konferenz die Vielfalt ihrer Interpretationen berücksichtigen, die je nach der Position der Betrachter unterschiedlich bedingt sind und sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im historischen Bewußtsein der einzelnen Völker einen unterschiedlichen Stellenwert haben. Die Abneigung gegenüber den politischen Folgen der Konferenzen in Teheran, Jalta und last, but not least Potsdam, d. h. der Spaltung der Welt in zwei entgegengesetzte Blöcke, schließt eine breite Akzeptanz der territorialen Veränderungen - egal, ob aus freien Stücken oder unter dem Druck der Besatzer - nicht aus. Dabei ist unter der Sicht der betroffenen Völker einerseits - der Deutschen und der Polen - und der Sicht der nicht unmittelbar betroffenen Nationen zu unterscheiden. Die zuletzt genannten werden entweder für die Polen oder für die Deutschen Partei ergreifen. Schließlich wurde

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der Status quo in den von der Bundesrepublik abgeschlossenen Verträgen nach der Wiedervereinigung bestätigt Damit hat der 50. Jahrestag der Potsdamer Konferenz wohl letztendlich vor allem historischen Wert: als vorläufiger Endpunkt der Diskussionen über ihren Verlauf, die damaligen Positionen und über die in Potsdam abgesteckte Entwicklung, die mit dem Ende des ,,real existierenden Sozialismus" 1989-1990 eine neue Ära ohne Konfrontation der Blöcke und gesellschaftspolitichen Systeme eingeleitet hat.

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Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens für die Entwicklung des allgemeinen Völkerrechts Von Wilfried Fiedler

A. Die juristische Dimension des Potsdamer Abkommens Der 50. Jahrestag des Abschlusses der Potsdamer Konferenz wirft nicht nur Fragen der historischen und politischen Bedeutung der Ergebnisse der Konferenz auf. Gleichzeitig ist die Frage gestellt, ob dieses inzwischen schon historisch gewordene Datum aus heutiger Sicht in irgendeiner Weise das geltende Völkerrecht beeinflußt hat. Nur dieser Frage gelten die folgenden Aussagen. Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die zutreffende Interpretation des sog. "Potsdamer Abkommens"· standen im Zeichen des Ost-West-Gegensatzes sowie entsprechend gegenläufiger politischer Tendenzen. Ganz konsequent schwankten die Einschätzungen der Potsdamer Konferenz auf beiden Seiten. Während die Beschlüsse von Potsdam im Osten Europas zum zentralen politisch-juristischen Dokument wurden, verloren sie in der westlichen Welt sehr schnell den ursprünglich wohl angenommenen wegweisenden Zukunftsimpuls. Hinzu kam, daß das Potsdamer Abkommen ohnehin weniger als Symbol freiheitlicher Friedensgestaltung in Erinnerung blieb, denn als Mahnmal verheerender Irrtümer und Fehlleistungen vor allem westlicher Politiker, die sich im Banne Stalins dazu herabließen, ihr eigenes traditionelles Freiheitsdenken dem nationalistischen Impuls der Stunde zu opfern. Nur relativ kurze Zeit nach seiner politischen Ablösung sprach Winston Churchill (16. August 1945) im Unterhaus von I Aus der reichhaltigen Literatur vgl. lediglich F. Faust, Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung, 4. Aufl. 1969; J. Hacker, Sowjetunion und DDR zum Potsdamer Abkommen,1968; E. Deuerlein, Deklamation oder Ersatzfrieden?, Die Konferenz von Potsdam 1945, 1970; A. Fischer u.a., Potsdam und die deutsche Frage, 1970; E. Deuerlein, Potsdam 1945. Ende und Anfang, 1970; F. Klein, B. Meissner (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, I. Teil, 1970; B. Meissner, Th. Veiter (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, 11. Teil, 1987; A.M. de Zayas, Nemesis at Potsdam, 2. Aufl., 1979; ausf. weitere Literaturangaben bei O. Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund der Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in Bayern, 1993, S. 31 ff., 235 ff.

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einer "Tragödie ungeheueren Ausmaßes", die sich hinter dem Eisernen Vorhang abspiele. Und wenig später erklärte er zu den Potsdamer Entscheidungen: "Ich würde ihnen nicht zugestimmt haben".2 Trotz dieser wenig positiven Einschätzung sollte das Potsdamer Abkommen viele Jahrzehnte lang eine bedeutsame Rolle spielen, nicht als Dokument kalter Machtpolitik im Zeichen eines blutigen Infernos, sondern als Fundament für eine künftige europäische Friedensordnung. Vor allem im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland bildete das Potsdamer Abkommen noch nach Jahrzehnten "die Grundlage, auch die juristische, der Beziehungen zwischen bei den Staaten". Das sowjetische Memorandum vom 21. Nov. 1967 fügte aber sogleich hinzu, dies gelte auch für die Beziehungen "zwischen der BRD und den drei Westmächten. ,,3 Noch im Völkerrechtslehrbuch der DDR aus dem Jahre 1988 wurde die maßgebliche Rolle des Potsdamer Abkommens auch für die "Entwicklung des Völkerrechts" betont. 4 Die besondere Bedeutung des Potsdamer Abkommens habe darin bestanden, "daß es von der Zusammenarbeit der Alliierten ausging und die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung fixierte".s Demgegenüber war die rechtliche Bedeutung des Potsdamer Abkommens im Westen schon sehr früh als weit geringer eingeschätzt worden. Das galt einerseits für die rechtliche Maßgeblichkeit der einzelnen Aussagen des Potsdamer Abkommens selbst. Sie wurden bald als weitgehend "obsolet", von der politischen Entwicklung überholt, angesehen. Für den Stellenwert aus der Sicht der Bundesrepublik wurde die Antwort der Bundesregierung auf die sowjetischen Memoranden vom 12. Okt. und 21. Nov. 1967 nicht nur politisch, sondern auch rechtlich charakteristisch. Am 9.4.1968 stellte die Bundesregierung gegenüber der Sowjetunion fest: "Was die wiederholt geäußerten Auffassungen der sowjetischen Regierung über die Bedeutung der Potsdamer Abmachungen von 1945 betrifft. ist es nach Ansicht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht ihre Sache. sich über Gültigkeit. Auslegung und Geltungsbereich von Vereinbarungen zu äußern. an denen sie nicht beteiligt ist. •" 2

Zitiert bei W. laksch. Europas Weg nach Potsdam. 2. Auf!. 1967, S. 440.

3 Text bei l. Hacker, Einführung in die Problematik des Potsdamer Abkommens, in: F. Klein, B. Meissner, a.a.O. (Anm. 1), S. 5 ff., 22.

• Völkerrecht, Grundriss, 2. Auf!. 1988, S. 265; kennzeichnend auch das 1986 ebenfalls im Staatsverlag der DDR erschienene "Staatsrecht bürgerlicher Staaten" zur Grundung der Bundesrepublik Deutschland 1949: "Bruch des Potsdamer Abkommens", S. 224. S

Im Original fett gedruckt, ebd., S. 265.

, Text bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 3), S. 13.

Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens

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Diese Stellungnahme führt unmittelbar zu einem der wesentlichen Probleme völkerrechtlicher Art, die auch aus heutiger Sicht den Stellenwert des Potsdamer Abkommens deutlich belasten: Die Geltung von "Verträgen zu Lasten Dritter" ohne Mitwirkung des betroffenen Staates selbst. Bevor dieser Aspekt jedoch weiter behandelt werden kann, stellt sich eine Vorfrage weit grundsätzlicherer Art. Angesichts der konkreten historischen Situation nach dem Ende der Kampfhandlungen könnte es äußerst fragwürdig erscheinen, überhaupt Fragen des geltenden Rechts aufzuwerfen. Die Potsdamer Konferenz hat ohnehin stets mehr Fragen politischer, historischer und militärstrategischer Art aufgeworfen als juristischer oder gar moralischer Art. Der Ost-West-Gegensatz hat gelegentlich das seine getan, das kritische Bewußtsein auf einem niedrigen Stand einzufrieren und weitergehenden Untersuchungen den Boden zu entziehen. 7 Dennoch zwingt allein schon die zeitliche Lokalisierung dazu, die Frage nach den Auswirkungen auf das Völkerrecht zu stellen. Andernfalls würde das Potsdamer Abkommen in einem juristischen Niemandsland angesiedelt und seine Bedeutung auf politisch-historische Bezüge beschränkt. Daß dies unrichtig wäre, belegt die breite juristische Diskussion in den folgenden Jahrzehnten, und es ist kein Zufall, daß das Potsdamer Abkommens selbst noch in den Ost-Verträgen der frühen siebziger Jahre deutliche Spuren hinterlassen hat. 8 Verleiht schon diese Diskussion dem Potsdamer Abkommen eine nicht unerhebliche juristische Dimension, so markiert der Zeitpunkt der Konferenz selbst bereits eine Phase durchaus juristischer Reflexion. Die Beschlüsse selbst thematisieren im VII. Abschnitt die später durchgeführten Nürnberger KriegsverbrecherProzesse und stellen fest, daß es sich um eine Angelegenheit von großer Bedeutung handele, "that the trial of those major criminals should begin at the earliest possible date".9 Diese ausdrückliche Verknüpfung der Potsdamer Konferenz mit den späteren sog. "Nürnberger Prozessen" hebt einen Zusammenhang heraus, der häufig übersehen oder unterbewertet wird. Er macht deutlich, daß das Kriegsende auch die Stunde von Recht und Rechtsprechung war und eine solide historische Beurteilung ohne diesen Aspekt nicht auskommen kann. Das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs geht in seiner Verfahrensordnung und in seiner Unterscheidung zwi7 Vgl. zum Problem der Beurteilung von Massenvertreibungen etwa die Hinweise von O. Kimminich, a.a.O. (Anm. I), S. 248 ff. 8 Zu der Bedeutung im Moskauer und Warschauer Vertrag von 1970 sowie speziell zu Art. 9 des Grundlagenvertrags mit der DDR näher J. Hacker, a.a.O. (Anm. 3), S. 34 ff.

• Text bei I. von Münch (Hrsg.), Dokumente des geteilten Deutschland, 2. Auf). 1976, S. 32 ff., 41.

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schen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchweg von juristischen Kategorien aus. 1O Die Anklagepunkte orientieren sich an dem zur Zeit des Krieges geltenden Völkerrecht und versuchen, Verstöße der Angeklagten hiergegen nachzuweisen. So wird die völkergewohnheitsrechtliche Geltung gerade auch der Haager Landkriegsordnung von 1907 herausgestelle I und nicht etwa, wie von den nationalsozialistischen Angeklagten verlangt, für obsolet gehalten. Auf diese Weise tritt die merkwürdig erscheinende Situation ein, daß die Zeit der Potsdamer Konferenz in einem historischen Zusammenhang erscheint, der in erheblicher Weise von der Beachtung des internationalen Rechtes geprägt wird. Auch dies legitimiert die völkerrechtliche Fragestellung. Nur einige Aspekte der rechtlichen Problematik sollen im folgenden angesprochen werden.

B. Rechtliche Einzelfragen I. Zum Vertragstypus Das Völkervertragsrecht zählt zu den Materien, die mit am stärksten im geltenden Völkerrecht verankert und gewohnheitsrechtlich praktiziert sind, und zu diesem Bereich zählen die hier konkret herauszuhebenden Diskussionspunkte. Das Potsdamer Abkommen ging als solches in die Geschichte des Völkerrechts ein, obwohl es an einem eindeutigen Vertragstext fehlte und eine Fülle von Zweifeln an dem Vertragscharakter besteht. Die Tatsache, daß die Potsdamer Konferenzergebnisse in der Form eines "Reports" des Jahres 1945 und in der Form eines "Protokolls" aus dem Jahre 1947 erschienen und zwischen beiden gewisse inhaltliche Differenzen bestehen l2 , hat die beteiligten Mächte nicht daran gehindert, von Anfang an von dem Bestehen eines völkerrechtlichen Vertrages auszugehen. Letztlich wurde Wert auf die inhaltliche Übereinstimmung und nicht auf die einheitliche äußere Form gelegt. Die vor allem in Deutschland geäußerten Zweifel

10 Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, abgedr. in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 10 ff. Zu einer betont kritischen Sicht der Nürnberger Prozesse und ihrer Präzedenzwirkungen neuerdings eh. af lochnick, R. Normand, The Legitimation of Violence: A Critical History of the Laws of War, Harvard Int. Law. Journal, Vol. 35 (1994), S. 49 ff., 89 ff.

11

A.a.O. (Anm. 10), S. 242, 267 ff.

12 Vgl. J.A. Frowein, Potsdam Agreements on Germany (1945), in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia ofPublic International Law (EPIL), Inst. 4 (1982), S. 141 ff., 142.

Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens

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an der Rechtsnatur als völkerrechtlicher Vertrag l3 sind zwar nicht ausgeräumt worden, doch hat sich das Institut des völkerrechtlichen Vertrages als dehnbar genug erwiesen, auch schwerwiegende Zweifel aufzufangen. 14 Damit bestätigt sich eine großzügige Vertragspraxis, die später auch in der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 einen Niederschlag gefunden hat. ls Einen anderen Aspekt betrifft hingegen die Frage der inhaltlichen Bindung. Schon für die rechtliche Position Frankreichs bestehen gewichtige Besonderheiten, da Frankreich Bedenken gegen manche Teile des Protokolls äußerte und eine offizielle Unterzeichnung verweigert. 16 Hingegen gingen die USA, Großbritannien und die UdSSR von ihrer völkerrechtlichen Vertragsbindung aus, wobei vor allem die UdSSR bis zuletzt auch eine Bindung Deutschlands vertrat. Diese wurde auf deutscher Seite aber lediglich von der DDR akzeptiert, während die Bundesregierung das Potsdamer Abkommen von Anfang an als "res inter alios acta" betrachtete und jede rechtliche Bindung ablehnte. 17 Eine ebenso bündige wie einprägsame Formulierung hat kürzlich O. Kimminich für das Potsdamer Abkommen vorgelegt: "Rechtlich ist es nichts anderes als das Schlußkommunique einer Konferenz von drei Siegermächten am Ende des Zweiten Weltkriegs, das für Deutschland auch nicht dadurch bindend werden konnte, daß die Konferenzmächte zugleich Besatzungsmächte in Deutschland waren".18 Für die Eigenart des Potsdamer Abkommens kennzeichnend ist vor allem seine gestufte Fortentwicklung im Blick auf die geregelten Einzelmaterien. Es ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß von den ursprünglich erfaßten Teilen sehr bald die reinen Übergangsregelungen entfielen, nachdem sie durch Erfüllung oder Zeitablauf erledigt waren. Hingegen wurden die Deutschland betreffenden Bestimmungen etwa über die Form der Besatzung von der UdSSR noch zu einer Zeit für maßgeblich gehalten, als die Westmächte in ihren Zonen bereits eigene Wege gegangen waren und der geplante Rat der Außenminister gescheitert bzw. nicht zustande gekommen war. Das Potsdamer Abkommen wurde sehr bald entsprechend der grundsätzlichen Diskrepanz zwischen West und Ost unterschiedlich interpretiert und verlor dadurch an rechtlicher Durchschlagskraft. Das Festhalten 13

Vgl. z. B. F. Faust, a.a.O. (Anm. 1), S. 55 ff.; J. Hacker, a.a.O. (Anm. 3), S. 9 ff.

14

Vgl. statt anderer J.A. Frowein, a.a.O. (Anm. 12), S. 144.

" V gl. Art. 2 Abs. 1, a), 11 ff. WVK. 16

Näher J.A, Frowein, a.a.O (Anm. 12), S. 143; J. Hacker, a.a.O. (Anm. 3), S. 12 f.

17

Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 3), S. 13 ff.; dems., a.a.O. (Anm. 1), S. 33 ff.

I' A.a.O. (Anm. 1), S. 246.

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an den Besatzungszielen von "Entmilitarisierung, Demokratisierung, Dezentralisierung und Dekartellisierung"19 erwies sich seit Jahrzehnten lediglich noch als Ansammlung von Worthülsen, die den Bezug zur politischen Wirklichkeit längst verloren hatten, was teilweise auch eingeräumt wurde. So wurde das Potsdamer Abkommen im Laufe der Zeit ein auch in seiner inhaltlichen Bindung und Reichweite äußerst heterogenes Dokument, dessen Bedeutung fast nur noch in der von sozialistischer Seite hervorgehobenen Verantwortlichkeit für den Aggressionskrieg lag. In diesem Punkte zeigt sich zugleich die charakteristische Vermischung rechtlicher und politischer Vertragsstrukturen, die nach sozialistischer Vorstellung ohnehin eine politische Dominanz aufwiesen. Auch die stets hervorgehobene politische Allianz der Siegermächte, die eine spezifische Verantwortung für Deutschland aufweisen sollte20, blieb in der politischen Wertung stehen, doch war der politisch-praktisch Kern schon sehr früh entfernt worden. So zeigt sich das Potsdamer Abkommen als frühes Beispiel "gemischter" politisch-rechtlicher Verträge und insofern liegt es nahe, mit J.A. Frowein zwischen politischer und rechtlicher Wirkung deutlich zu unterscheiden. 21

11. Verträge zu Lasten Dritter Betrachtet man das Potsdamer Abkommen aus der Distanz von 50 Jahren, so hat sich die kriegsbedingt naheliegende Konstruktion eines Vertrages zu Lasten Dritter und die Wirksamkeit einer "res inter alios gesta" nicht durchsetzen können. Die Vorstellung von einer rechtlichen Bindung ohne oder gegen die Zustimmung des betreffenden Drittstaates hat sich vom Grundsatz her rechtlich nicht bestätigt22 , obwohl der Gedanke der Hegemonie auch im Verhältnis der Bundesrepublik zu den drei Westmächten Spuren hinterließ. Selbst das in der Charta der Vereinten Nationen lange Zeit praktizierte Sonderregime für Deutschland im Sinne der Feindstaatenklauseln war schon in den siebziger Jahren an ein sichtbares Ende gelangt. So liegt eine besondere dogmatische Fernwirkung des Potsdamer Abkommens in der Gegenläufigkeit des allgemeinen Völkerrechts in bezug auf Verträge zu Lasten Dritter. Hier hat das Potsdamer Abkommen einen politisch lange bekämpften Gegeneffekt erzielt. 19

So das Völkerrechts-Lehrbuch des Staatsverlags der DDR, a.a.O. (Anm. 4), S. 265.

2OEbd.: "Gerade diese Zusammenarbeit, die eine Seite der sich allmählich durchsetzenden friedlichen Koexistenz war, stellte einen Grundpfeiler der europäischen Friedenssicherung dar." 21

A.a.O. (Anm. 12), S. 144.

22

Vgl. auch Art. 34, 35 WVK.

Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens

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ill. Der Territorialstatus und die "Legitimierung"

von Massendeportationen

Bestätigt wurde im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 hingegen der im Potsdamer Abkommen vorgesehene vorläufige Territorialstatus Deutschlands. Jedoch erfolgte diese rechtliche Zementierung nicht aufgrund der getroffenen Entscheidungen im Potsdamer Abkommen 23 , sondern im Blick auf die danach entwickelte Fakten-Lage.24 Es mag dahinstehen, wieweit die im Potsdamer Abkommen getroffenen vorläufigen Änderungen des Territorialstatus nationalstaatlichen Interessen der früheren Siegerstaaten noch im Jahre 1990 entgegenkamen. Im XIII. Abschnitt, der überschrieben ist mit "Orderly Transfer of German Populations" wird der sog. "Transfer" von Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn bekräftigt ("will have to be undertaken"). Die Vertagspartner "agree that any transfers that take place should be effected in orderly und humane manner". Angesichts der tatsächlichen Vorgänge vor und nach dem Kriegsende konnten diese Passagen als purer Zynismus empfunden werden. Die westlichen Teilnehmer der Konferenz verteidigten sich mit dem Argument, man habe sich nur den bereits geschaffenen Tatsachen gebeugt. Die Literatur weist darauf hin, daß die Westmächte, insbesondere W. Churchill durchaus mäßigend gewirkt hätten, was vor allem im Wortlaut des XIII. Abschnitts zum Ausdruck gekommen sei. 2s In der Tat zeigt eine sorgfältige Nachzeichnung der Konferenz-Vorgänge insgesamt "das Bemühen der westlichen Alliierten, den Umfang der Umsiedlungen auf ein Minimum zu beschränken, den gesamten Vorgang hinauszuzögern und über einen möglichst langen Zeitraum zu erstrecken und vor allen Dingen unter internationaler Kontrolle auf der Grundlage internationaler Vereinbarungen in

23 Zur Reichweite der Entscheidungen der Potsdamer Konferenz S. Krü/le, Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-Neiße-Problems, 1970, S. 49 ff.; J. A. Frowein formuliert treffend: "The legal basis for the decisions remains doubtful, especially as far as the provisional territorial arrangements and the agreement on the population transfer ist concemed", a.a.O. (Anm. 12), S. 146. 24 Dem entspricht die Formulierung des Art. lAbs. 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. Sept. 1990: Deutschland und Polen "bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze", womit über die rechtlichen Gründe ausdrücklich nichts gesagt ist.

25 Vgl. insbesondere Abschnitt XIII Abs. 3: "The Czechoslovak Govemment, the Polish Provisional Govemment and the Control Council in Hungary are at the same time being informed of the above, and are being requested meanwhile to suspend further expulsions pending the examination by the Govemments concemed of the report from their representatives on the Control Council."

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geregelter und humaner Weise durchzuführen."26 Ebenso deutlich war, daß die als "Potsdamer Abkommen" bezeichneten Dokumente keine Vertreibungs-Anordnung bedeuteten oder sogar als entsprechender "Befehl" der drei Regierungschefs aufgefaßt werden könnten. 27 Im Blick auf die Einwirkung der Konferenzergebnisse auf die Entwicklung des Völkerrechts läßt sich aber auch ein anderer Gesichtspunkt herausheben. O. Kimminich hat vorsichtig formuliert: "Ein internationale Konferenz, die vor vollendeten Tatsachen kapituliert, ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Diplomatie" .28 Man wird weitergehen können, da die Kapitulation vor vollendeten Tatsachen durchaus weitere rechtliche Ausstrahlungen hatte. Sie liegen in der grundsätzlichen rechtlichen Einstufung des Vorgangs der Vertreibung und Deportation, im erkennbar geringen Stellenwert der humanitären Grundfrage. Daß das Schicksal der betreffenden Bevölkerung während der Konferenz und in den vorbereitenden Konferenzpapieren kaum eine Rolle spielte, ist bezeichnend für den Tiefstand des Rechtsbewußtseins zum damaligen Zeitpunkt. Aber gerade das Schweigen der führenden Staatsmänner zu elementaren Fragen der menschlichen Existenz wirkte trotz aller Sondersituationen am Ende des Krieges im Sinne einer Vorformung späterer rechtlicher Entwicklungen. Dabei mag es zunächst tröstlich sein, daß nach 1945 eine Gegenentwicklung entstand, die das Vertreibungsverbot durchaus stärkte, doch war allein die historische Tatsache des Übergewichts territorialer über personale Fragen von prägender Kraft. Das sollte sich nicht unbedingt schon in den unmittelbar folgenden Jahrzehnten zeigen, sondern kam mit historischer "Verspätung" etwa im JugoslawienKonflikt zur Geltung, der in seiner kaum faßbaren Verachtung von Menschenleben29 eine durchaus historische Antwort auf Vorgänge am Ende des Zweiten Weltkrieges gab. Denn im Hinblick auf die im Zeitpunkt der Potsdamer Konferenz bereits erfolgten "wilden" Vertreibungen stellt der Art. XIII zwar keine Rechtfertigung dar, sondern die rechtliche Hinnahme von Fakten - zum Teil in einern beredten Schweigen. Für die nach der Potsdamer Konferenz erfolgten Massendeportationen lieferte es zwar keine ausdrücklich rechtliche, politisch dafür aber eine um so effektivere Grundlage.

2. o. Kimminich, a.a.O (Anm. 1), S. 165. 27

Ausführlich O. Kimminich, ebd., S. 165 ff.

"Ebd., S. 166. 29 Vgl. etwa T. Zü/ch (lmg.) "Ethnische Säuberung" - Völkermord für "Großserbien ", 1993; G. Aly, Dafür wird die Welt büßen. "Ethnische Säuberungen" - Die Geschichte eines europäischen Irrwegs, FAZ, 27.5.1995, Nr. 122, Beilage.

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Denn die Vorgänge der Vertreibung waren mit einer in dieser Dimension kaum bekannten Massentötung von Menschen verbunden, die keineswegs mit "verständlicher menschlicher Reaktion" der Opfer Hitlers, sondern weit häufiger auch mit politischem Kalkül verbunden war. Nicht selten wurden historische Rechnungen beglichen und politisch schlicht machtorientierte Geländegewinne markiert. Die Zahl allein der deutschen Vertriebenen und Deportierten beläuft sich auf 14 bis 15 Millionen Menschen, oft Frauen, Kinder oder alte Menschen. Fest steht, daß im Rahmen der Vertreibung ca. 2 bis 2,5 Millionen Menschen umkamen. 3o Diese Opfer der Zivilbevölkerung kennzeichneten einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und einen Tiefpunkt der Entwicklung der Staatenpraxis. So hat das Potsdamer Abkommen unbegreiflicherweise dazu beigetragen, Massendeportationen und Massentötungen mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit zu versehen, auch wenn dies einer exakten juristischen Bestandsaufnahme gerade nicht entspricht. Dies hatte Auswirkungen unmittelbar auf die Beurteilung auch der Verantwortlichen. Denn zu diesen zählten führende Politiker, wie der tschechoslowakische Exilpräsident Eduard Benesch, der die frühen "ethnischen Säuberungen" in seiner Londoner Zeit während seines Exils vom Grundsatz her anregte und diplomatisch vorbereitete. 31 Insofern fällt zugleich ein Schatten auch auf diejenigen westlichen Politiker, die schon im Vorfeld des Kriegsendes das Niveau von Diktaturen betraten, statt ihrer eigenen demokratisch-humanitären Tradition zu folgen.

c. Die Fernwirkungen von Potsdam Diese Fragen könnten außer acht bleiben, gingen von dem Konferenzergebnis von Potsdam nicht Fernwirkungen aus, die im Sinne von Präzedenzfallen sogar bis zu den "ethnischen Säuberungen" im früheren Jugoslawien und anderen Weltregionen reichen. Auf diesem Felde hat das Potsdamer Abkommen die Staatenpraxis in eine beklagenswerte Richtung getrieben. Die Annahme bestimmter rechtlicher Fernwirkungen vergleichbarer Art muß notwendig mit äußerster Vorsicht erfolgen. Gefragt werden könnte, ob die Praxis gegenwärtiger bewaffneter Konflikte einschließlich "ethnischer Säuberungen" auf 30 Nicht nur in der juristischen Fachliteratur ist dieser Rahmen unbestritten. Auch A. Grosser, der selbst zu den Verfolgten des Nationalsozialismus zählte, umschreibt die Verueibungsvorgänge vorsichtig, aber treffend: "Aufbruch und Transport geschahen unter solchen Bedingungen, daß ungefiilut 2 Millionen Menschen niemals am Bestimmungsort ankamen" (A. Grosser, Ermordung der Menschheit. Der Genozid im Gedächtnis der Völker, 1988, S. 100).

31

Näher O. Kimminich, a.a.O. (Anm. 1), S. 124 f., 128 ff. m.w.Nw.

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historische Vorläufer angewiesen sei und ob gegenwärtige Exzesse tatsächlich in historischen Ereignissen mitbegründet seien. Eine Antwort läßt sich nur bei einem Blick auf die Eigenart des Völkerrechts finden. Denn dieses ist in hohem Maße auf die Staatenpraxis angewiesen, orientiert sich an ihr und entwickelt nicht selten abstrakte - gewohnheitsrechtliche - Regeln. Aber auch in Fällen, die sich später nicht im Sinne gewohnheitsrechtlicher Regelungen "verdichten", liefern historische Präzedenzfalle Material für künftiges, aktuelles Staatenverhalten. Insofern wächst den Akteuren weltgeschichtlicher Weichenstellungen eine erhöhte Verantwortung zu, und Nachlässigkeiten der geschichtswissenschaftIichen Aufklärung tragen den Keim zu neuem - künftigem - Unheil in sich. Fernwirkungen gingen vom Potsdamer Abkommen aus der Sicht der Gegenwart schon insoweit aus, als der menschliche Faktor nationalstaatlichen Machtinteressen eindeutig untergeordnet wurde, auch wenn sie in abstrakter Weise dem Frieden dienen sollten. Das Völkerrecht hat sich nur mühsam umorientiert, etwa in der Entwicklung und Beachtung der Menschenrechte.ln bezug auf das Staatsterritorium ist es bei seinem nach wie vor dominierenden Gewicht geblieben. Indiz für die retardierende Wirkung des Potsdamer Konferenzergebnisses auf die Entwicklung des Völkerrechts ist die nach wie vor bestehende Schwierigkeit geblieben, die gewaltsame Trennung von Staatsterritorium und Bevölkerung rechtlich angemessen zu umschreiben. Für den Vorgang der Vertreibung fehlt noch immer eine angemessene terminologische Ausdrucksform. Begriffe wie "Umsiedlung" oder "Bevölkerungstransfer" verschleiern eher die inhaltliche Nähe zur Deportation und der ihr eigenen Verbindung zu staatlichem Zwang. Die feinsinnige Unterscheidung zwischen (freiwilliger) Flucht einerseits, zwangsweiser "Vertreibung" oder unmittelbarer technischer Wegführung durch Deportation wurde ausgerechnet von J. Stalin ad absurdum geführt, als er auf der 11. Vollsitzung vom 31. Juli 1945 während der Potsdamer Konferenz gegen einen Beschluß zur Einstellung der "Umsiedlungen" argumentierte: "IchjUrchtejedoch. daß ein solcher Beschluß keine ernsthaften Ergebnisse zeitigt. Es handelt sich nicht darum. daß man die Deutschen einfach nimmt und aus diesen Ländern herausjagt. So einfach ist die Sache nicht. Aber man versetzt sie in eine solche wge. daß esfür sie besser ist. aus diesem Gebietfonzugehen. Formal können die Tschechen und Polen sagen. daß es jUr die Deutschen kein Verbot gibt. dort zu /eben. aber die Deutschen werden in Wirklichkeit in eine solche wge versetzt. daß es für sie unmöglich ist. dort zu leben. Ich jUrchte. wenn wir einen solchen Beschluß annehmen. wird er keinerlei ernsthafte Ergebnisse zeitigen .•032

32 Dokumente zur Deutschlandpolitik. 11. Reihe. Band I, Die Konferenz von Potsdam. Driner Drinelband, 1992, S. 1992 (Protokoll der sowjetischen Delegation über die Elfte Vollsitzung).

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Die vom Potsdamer Abkommen im XIII. Abschnitt dokumentierte Hinnahme der Praxis von Massendeportationen war von verheerender politisch-moralischer Auswirkung und hat es insgesamt entwertet. Besonders schwerwiegend war die Behandlung der damit verbundenen Praxis des Territorialerwerbs. In bezug auf das deutsche Staatsterritorium waren 8 bis 9 Millionen deutsche Staatsbürger betroffen, von denen ca. 7 Mio. vertrieben wurden. Die Idee der Westverschiebung Polens erhielt, verbunden mit der Massendeportation der Menschen, geradezu apokalyptische Züge. Daß die Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 rechtlich nunmehr erledigt wurde, nimmt d.er Art und Weise der Territorialveränderung im Jahre 1945 ff. nichts von ihrer Völkerrechtswidrigkeit. Das gesamte Völkerrecht wurde von der Staatenpraxis der Potsdamer Konferenz in seiner Entwicklung zurückgeworfen auf den Zustand einer machtpolitisch zugelassenen Barbarei. Es ist in höchstem Maße erfreulich, daß nunmehr geregelte Beziehungen zu Polen geschaffen wurden, die nicht mit Territorialforderungen belastet sind. Wie es scheint, konnte der mit dem Potsdamer Abkommen erreichte Tiefpunkt der staatlichen Beziehungen überwunden werden. In bezug auf die Vorgänge im früheren Jugoslawien und in vergleichbaren Fällen der Gegenwart führt die historisch-politisch- rechtliche Spur allerdings zurück zu dem Potsdamer Abkommen des Jahres 1945. Damit ist zugleich eine Beurteilung des gesamten Konferenzergebnisses ausgesprochen. Denn so sehr die Vertragspartner ursprünglich eine Grundlage für eine künftige Friedensordnung beabsichtigt haben mochten, so überaus fragwürdig wurde das Dokument verbunden mit der zwar fehlenden rechtlichen, aber umso wirksameren politisch fortwirkenden Ermöglichung einer überaus verwerflichen Staatenpraxis nach dem Ende der Kampfhandlungen. Insofern ist es zu begrüßen, daß das Potsdamer Abkommen heute im wesentlichen nur noch von historischer, nicht mehr von aktuell juristischer Bedeutung ist.

Folgen der Potsdamer Konferenz: Die "Friedensgrenze" an Oder und Neiße und die ostdeutsch-polnische "Völkerfreundschaft" in den fünfziger Jahren

Von Beate Ihme-Tuchel Die provisorische polnische Regierung, im Januar 1945 umgebildet und unter dem maßgeblichen Einfluß der Kommunisten stehend, wandte sich bereits drei Tage nach dem Beginn der Potsdamer Konferenz an Stalin, Truman und Churchill mit der "Ansicht, daß nur eine Grenze, die im Süden entlang der früheren deutschtschechoslowakischen Grenze entlang der westlichen Neiße und am linken Ufer der Oder, Stettin einbezogen, westlich von Swinemünde verläuft, eine gerechte Grenze sein kann, die dem polnischen Volk die Bedingungen für eine gedeihliche Entwicklung, die Sicherheit in Europa und einen dauerhaften Weltfrieden garantiert." I Es war der britische Premierminister Winston Churchill, der sich dieser polnischen Forderung, die von Stalin unterstützt wurde, vehement widersetzte und auch darauf bestand, diese Grenzziehung nicht bis zum Abschluß eines Friedensvertrags zu vertagen. Am 24. Juli hatte die polnische Regierung Gelegenheit, ihre Vorstellungen vorzutragen. Nach dieser Verhandlung zeichnete sich bereits ein Komprorniß auf eine Linie zwischen westlicher und östlicher Neiße ab. 2 Es ist eine müßige Spekulation, ob der verhandlungsstarke Winston Churchill, der dann vom eher farblosen Clement Attlee abgelöst wurde, diesen Komprorniß sichern hätte können. Es kam hinzu, daß Polen auch nach dieser maximalen Westverschiebung an die Lausitzer Neiße wegen des Verlusts seiner Ostgebiete an die Sowjetunion immer noch ein Fünftel weniger Fläche als in der Zwischenkriegszeit umfassen würde. Tatsächlich aber kam es im weiteren Verlauf der Verhandlungen - offenbar im Gegenzug für eine allerdings nur scheinbare Kompromißbereitschaft der UdSSR in der Reparationsfrage - erneut zur Einigung über eine Grenzziehung I Vgl. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.). Die Potsdamer (Berliner) Konferenz 1945. Berlin(Ost) und Köln 1986. S. 273.

2 Zum Ablauf der Verhandlungen vgl. neben der in Anm. 1. genannten sowjetischen Publikation ausführlich: Foreign Relations of the United States 1945. The Conference of Berlin (Potsdam). Vol. 1. Washington 1960. Eine gute Übersicht bietet jetzt Man/red GÖrtemaker. Zwischen Krieg und Frieden. Die Potsdamer Konferenz 1945. in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 28/95 vom 7.7.1995. S. 13 ff.

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entlang der westlichen Neiße, die lediglich mit dem Vorbehalt des Friedensvertrages versehen wurde: "Die drei Regierungschefs stimmen darüber überein, daß bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die früheren deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Westlichen Neiße und die Westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teils Ostpreußens, der in Übereinstimmung mit dem Beschluß der Berliner Konferenz nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gestellt wurde, und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig unter die Verwaltung [im englischen Original: "administration", d.V.] des Polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands betrachtet werden sollen.,,3 Mit dieser Grenzfestlegung, der allerdings bereits vor und während der Potsdamer Konferenz durch massive Vertreibungen vorgegriffen worden war4 , und die von vielen gewalttätigen Maßnahmen begleitet wurde, war die Westverschiebung Polens im 20. Jahrhundert beendet. Die Grenze zwischen Polen und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands war unter maßgeblicher sowjetischer Beteiligung zustande gekommen. Es stellte sich nun die Frage, wie die von der Sowjetunion zur Herrschaft in ihrer Besatzungszone ausgewählte ParteiS, die KPD (später SED), mit dieser Grenzziehung politisch umgehen würde. Die Haltung der SED zur Oder-Neiße-Grenze und damit zu den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz soll im folgenden für die Zeit bis 1960 analysiert werden. Dabei zeigt sich, daß es in der SED keineswegs von Anfang an die begeisterte Zustimmung zu dieser Grenzfestlegung gegeben hat, wie es etwa der vom "Deutschen Institut für Zeitgeschichte" herausgegebene Propagandaband "Polen, Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze" 1959 suggerieren wollte. 6 3 Vgl. Ministerium rur Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Die Potsdamer (Berliner) Konferenz 1945 (Anm. 1), S. 411.

• Vgl. vor allem zu den "wilden Aussiedlungen" die Darstellung bei Hieronim Szczego/a, Die Aussiedlung der Deutschen aus Polen vor der Potsdamer Konferenz (Juni - Juli 1945), in: Transodra 10/11, 1995, S. 55 ff. S Vgl. "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 rur Nachkriegsdeutschland. Hrsg. von Peter Erler, Horst Laude und Manfred Wilke, Berlin 1994. 6 Polen, Deutschland und die Oder-Neisse-Grenze. Hrsg. vom Deutschen Institut rur Zeitgeschichte in Verbindung mit der Deutsch-Polnischen Historiker-Kommission unter der verantwortlichen Redaktion von Rudi Goguel (= Schriftenreihe des Deutschen Instituts rur Zeitgeschichte, Berlin Dokumentation zur Zeitgeschichte, Band 1), Berlin 1959. Der Band nannte wenigstens seine Ziele deutlich beim Namen. Er sollte, so das Vorwort des Hrsg., "eine nützliche Waffe bei der Bekämpfung der völkervergiftenden Lüge der Kriegshetzer sein".

Folgen der Potsdamer Konferenz

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Es wird vielmehr eine differenzierte Entwicklung in drei Phasen deutlich: In der ersten Phase bis 1949 meldete die SED durchaus noch Zweifel an der Rechtmäßigkeit und am Bestand der Oder-Neiße-Grenze an. In der zweiten Phase ab 1949 war die SED in engem Zusammenhang mit der Staatsgründung der DDR bereit, die Anerkennung dieser Grenze als politischen Preis für die Zusammenarbeit mit Polen zu bezahlen. In diese Phase fiel nicht nur die Unterzeichnung des Görlitzer Abkommens, sondern auch eine intensive Propagierung der neuen "Friedensgrenze". Nach den polnischen Unruhen 1956 kam es zu einer kurzen Phase der Irritation auch in der Grenzfrage zwischen der DDR und Polen. Es wird hier zu fragen sein, welche politische Bedeutung das lange Ausbleiben eines Dementis der DDR über eine mögliche Veränderung der Grenze besaß und ob in der SED tatsächlich ein "Revisionswunsch" vorhanden war. Die vierte und letzte Phase ab 1957 zeigt schließlich die zementierte, von keiner Irritation mehr getrübte Propaganda der "Friedensgrenze" , die auch intern von der SED vollständig akzeptiert wurde. So ergibt sich insgesamt ein durchaus differenziertes Bild vom Umgang der SED mit dem Erbe des Potsdamer Abkommens in den fünfziger Jahren, das deutliche Unterschiede zu undifferenzierten Darstellungen vor allem aus der DDR erkennen läßt.

A. 1946 bis 1949 - Jahre der Unsicherheit Die KPD/SED stellte sich zwar in all ihren politischen Äußerungen hinter das Potsdamer Abkommen, akzeptierte aber in ihrer "nationalen Phase"7 nicht die endgültige Grenzziehung an Oder und Neiße. Wilhelm Pieck etwa schrieb im August 1946: "Sowohl diese Besetzung [Deutschlands durch die Siegermächte, d. V.] als auch die dadurch herbeigeführte Zoneneinteilung und auch die Abtrennung der Ostgebiete bis zur Oder und westlichen Neisse sind ohne unsere Befragung, sondern [sie] als eine Sicherungsmassnahme der Alliierten durchgeführt worden. Wie lange die alliierten Mächte diese Sicherung für notwendig halten und wann sie sie aufheben, kann auch nicht von unserem Volke bestimmt werden. Es hängt viel davon ab, in welchem Tempo unser Volk selbst die entsprechenden Garantien gegen eine Aggression von deutscher Seite schafft. '..

Am 13. September 1946 bekräftigte Pieck diesen Standpunkt mit der Feststellung, daß auch die SED "für eine Revision der Ostgrenzen " eintrete, die Metho7 Franz Sikora, Sozialistische Solidarität und nationale Interessen. Polen Tschechoslowakei DDR, Köln 1977, S. 107.

• Vgl. Brief vom 22.8.1946 an Walter Troppenz, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, Zentrales Parteiarchiv der SED (im folgenden SAPMO BArch, ZPA), NL 36n43, S. 2. 20'

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den von CDU und LDP hier aber ablehne. 9 Falls "die faschistische Reaktion niedergerungen" werde und "sich der Geist des Friedens und der Demokratie in unserem Volke" durchsetze, bestehe Hoffnung, "dass auf der Friedenskonferenz die Frage der Ostgrenzen so entschieden wird, wie das im Lebensinteresse unseres V olkes ist." 10 Als Reaktion auf die berühmte Stuttgarter Rede von Staatssekretär Bymes im September 1946, in der dieser die polnische Westgrenze "nicht endgültig" nannte, bat Polen um eine sowjetische Stellungnahme zur Grenze. Diese erfolgte in Form einer ausführlichen Erklärung von Außenminister Molotow am 18. September 1946, die kommentarlos auf der Titelseite des "Neuen Deutschland" abgedruckt wurde. I I Molotow konzedierte, daß der von Byrnes betonte Friedensvertragsvorbehalt bezüglich der endgültigen Grenzregelung "Zweifel über die Dauerhaftigkeit der jetzigen Ostgrenzen Polens hervorrufen" konnte und daß man daher dazu Stellung nehmen müsse. Die Entscheidung der "Drei" auf der Berliner Konferenz, die deutschen Ostgebiete bis zu einer endgültigen Regelung in einem Friedensvertrag unter polnische Verwaltung zu stellen, gehe aber auf die Beschlüsse der Krimkonferenz vom Februar 1945 zurück, wo Polen bereits eine "wesentliche Gebietsvergrößerung im Norden und Westen" zugesichert worden sei. Daher könne heute niemand behaupten, daß die Berliner Entscheidung zufällig entstanden sei. Außerdem wurde in Berlin auch die "Überführung der deutschen Bevölkerung" aus den deutschen Ostgebieten beschlossen und sogleich durchgeführt. In Erfüllung des am 20. November 1945 durch den Kontrollrat in Deutschland festgelegten Aussiedlungsplans hätten inzwischen zweieinhalb der insgesamt dreieinhalb Millionen Deutschen Polen verlassen. "Formal" aber sei in Berlin tatsächlich die endgültige Grenzziehung bis zur Friedenskonferenz aufgeschoben worden. Molotow spielte diesen "formalen" Vorbehalt gegen eine dauerhafte Grenzziehung aber herunter, weil in den Westgebieten ja längst unumstößliche Tatsachen geschaffen worden seien. Diese "Erklärung" unterstützte zwar weitgehend die polnische Position, ließ aber der SED noch genügend Raum zu Illusionen und Spekulationen über eine mögliche Revision dieser Grenze. Offensichtlich • Die SED zur Ostgrenze, in: SAPMO BArch, ZPA, NL 36n43. Vgl. auch: "Klarheit in der Ostfrage! SED zeigt den Weg der wahren nationalen Lösung", in: Neues Deutschland (im folgenden: ND) vom 14.9.1946, S. 1. 10 Bereits am 22. Februar 1947 tauchte erstmals der Begriff "Friedensgrenze" auf. Dennoch soll Otto Grotewohl noch am 26. August 1948 erklärt haben, die nationalistischen Ansprüche der Polen seien ins Unermeßliche gewachsen. Vgl. Sikora (Anm. 7), S. 107. 11 "Molotow über Polens Westgrenze. Interview des Vertreters der polnischen Presseagentur mit dem Außenminister der UdSSR." Das "Interview", das vom Vertreter der polnischen Presseagentur in Frankreich, Bibrowski, durchgeführt wurde, hatte am Vortag in Paris stattgefunden.

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glaubte die SED-Führung bis etwa 1948, "man könne freundschaftliche Beziehungen zu Polen gestalten, ohne eine feste Haltung in der Grenzfrage ... einzunehmen." 12 Die SED blieb noch längere Zeit der Vorstellung verhaftet, eine Grenzrevision könne als Ergebnis einer umfassenden "Demokratisierung" (im kommunistischen Sinne) Deutschlands eines Tages erzielt werden. Auf jeden Fall wollte sie "erreichen, daß bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen das deutsche Volk einen erträglichen Friedensvertrag erhält" und daß "damit auch in den Fragen der künftigen Grenzen Deutschlands die Stimme des deutschen Volkes auf der Friedenskonferenz Gehör findet."13 Diese Haltung der SED war naiv und völlig illusorisch. Sie ist - so Sikora - "nur zu erklären durch die Unkenntnis der SEDSpitze über das Ausmaß der Entschlossenheit auf polnischer Seite, in dieser Frage nicht nachzugeben."14 Wladyslaw Gomulka antwortete bereits im Oktober 1946 unter seinem Pseudonym "Wieslaw" auf die These vom "Grenzprovisorium". "Offensichtlich" stehe die SED "unter dem sehr starken Druck reaktionärer und chauvinistischer Elemente". Etwas höhnisch fragte Gomulka nach den alliierten Befürwortern einer solchen Grenzrevision und zitierte Molotow, der erst kürzlich die Dauerhaftigkeit der Potsdamer Beschlüsse bekräftigt habe. Und er forderte: "Die erste Bedingung fuer die Feststellung der Tatsache, dass die Deutschen tatsaechlich den Weg des Friedens beschritten haben und ihn verfolgen, ist der Verzicht auf unsere wiedergewonnenen Gebiete.'ols Eine realistischere Sicht der SED auf die Grenze begann sich erst mit der Jahreswende 1948/1949 durchzusetzen. Nach einer längeren Zeit des Schweigens zu diesem Thema machte das "Neuen Deutschland" am 10. Juli 1948 mit der Schlagzeile "Die Friedensgrenze" auf. Um der Bevölkerung den Verlust der Ostgebiete "schmackhafter" zu machen, verband die SED in der Folgezeit ihre Argumentation 12

Sikora (Anm. 7), S. 110.

13 Vgl. Die SED zur Grenzfrage, in: ND vom 21.9.1946, S. I. Darin wurde die am 19.9.1946 getroffene Entschließung des Parteivorstands der SED zur Grenze abgedruckt. "Um den endgültigen Text dieser Entschließung ist gekämpft worden, wobei es einer Mehrheit innerhalb des ZS [Zentralsekretariat, das erst seit Januar 1949 'Politbüro' hieß, d.V.] darauf ankam, ... festzuhalten, daß gemäß den Potsdamer Beschlüssen eine endgültige Grenzregelung erst durch einen Friedensvertrag vorgenommen würde." Vgl. Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, Köln 1990, S. 207.

'< Sikora (Anm. 7) S. 108. IS Polens Grenze an Oder und Neisse ist unantastbar, in: Glos ludu vom 29.10.1946, zit. nach SAPMO BArch, ZPA, NL 361743. Ohne Kompensation für seine an die UdSSR verlorenen Ostgebiete wäre Polen auf den territorialen Status und die politische Bedeutung eines "Herzogtums Warschau" zurückgefallen. Vgl. hier die Ausführungen von Jakub Bennan, in: Teresa Toranska, Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht, Köln 1987, S. 303.

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zur "Friedensgrenze" mit einer dadurch angeblich gesicherten Kohleversorgung aus diesen nunmehr polnischen Gebieten. 16

B. Die Grenzanerkennung Erst Ende der vierziger Jahre setzte sich innerhalb der SED die Überzeugung durch, daß die Ostgebiete endgültig für Deutschland abzuschreiben seien. I? Die neue Linie in der Grenzfrage schlug sich parallel zur Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 in der theoretischen Zeitschrift "Einheit" nieder. Franz Dahlem schrieb: "Hier hat die SED in den vergangenen Monaten auf einem der schwierigsten Gebiete der internationalen Zusammenarbeit bewiesen, daß sie gewillt ist, den Kampf gegen die opportunistische Feigheit, die besonders in dieser Frage in den eigenen Reihen sehr stark war, entschlossen aufzunehmen. Die Partei betrachtet die Oder-NeißeLinie als eine Friedensgrenze . ../.

Zu diesem Zeitpunkt war der SED klar geworden, daß eine Herstellung von Beziehungen zu Polen nach der Gründung des geplanten ostdeutschen Staates nur durch die Anerkennung der Grenze an Oder und Lausitzer Neiße möglich war. 19 Erst nach diesem Schritt würde die "Freundschaft" zwischen beiden Parteien, Völkern und Regierungen umfassend propagiert und teilweise praktisch in die Wege geleitet werden können. Besonders deutlich wurde dies in einem Bericht über die Reaktionen der sozialistischen Nachbarn auf die Gründung der DDR: "Anläßlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen, die einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Beziehungen unserer beiden Völker bildet, nahm ich Gelegenheit, dem Chef der Polnischen Militärmission, General Prawin, zu erklären, daß die Frage der deutsch-polnischen Grenze eindeutig, vorbehaltlos und

'6 "Nach Einstellung der Kohlelieferungen aus dem Ruhrgebiet erhielt ... der Import polnischer Kohle für die Wirtschaft" der SBZ "entscheidende Bedeutung". Vgl. Sikora (Anm. 7), S. 110 mit weiteren Einzelheiten. 17Vgl. SAPMO BArch, ZPA, NL 182/1245. Stellungnahme zugunsten der Grenzanerkennung auf der "Pressekonferenz der Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft am 22.10.1948". " Franz Dahlem, Lebendiger proletarischer Internationalismus, in: Einheit 4 (1949), S. 289 ff, hier S. 295 f. '9 Vgl. hierzu die selbstkritischen Töne bei Felix-Heinrich Gentzen, Eine historische Betrachtung zur Oder-Neiße-Friedensgrenze, in: Einheit 10 (1955), S. 893 ff sowie Ders., "Tatsachen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze", in: Einheit 11 (1956), S. 397 ff.

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unwiderruflich geklän sei und daß es zwischen unseren beiden Staaten keine Probleme mehr gäbe, die sie trennten. '020

Die SED-Führung war sich darüber klar, daß die Akzeptanz der DDR als Partner innerhalb des östlichen Blocks durch Polen nur unter starken Vorbehalten und auch aus der wohlkalkuliertem Einschätzung heraus, daß zwei deutsche Staaten schwächer als ein deutscher Zentralstaat seien, erfolgte. Diese schwache Position im Verhältnis zum "Siegerstaat" Polen führte dazu, daß sich die SED gegenüber dem polnischen Nachbarn bis Mitte der 50er Jahre extrem bescheiden und gelegentlich sogar devot verhielt. 21 Es kamen noch weitere Faktoren hinzu: Lange Jahre schien die staatliche Existenz der DDR wegen der weitverbreiteten Erwartung einer deutschen Wiedervereinigung - in welcher Form auch immer - nicht gesichert,22 die ostdeutsche Wirtschafts lage war in den ersten Nachkriegsjahren weitaus katastrophaler als die polnische, die DDR besaß sowohl innerhalb als auch außerhalb des "sozialistischen Lagers" so gut wie keine Beziehungen. Hinzu kam die kaum verblaßte Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen in Polen23 sowie das ungelöste Problem der deutschen Minderheit, mit dem auch die DDR nolens volens konfrontiert war. Schließlich hatte die DDR als territorialer Bestandteil des geschlagenen Deutschen Reiches per se gegenüber Polen eine 20 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (im folgenden PAAA), Bestand Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (im folgenden MfAA), A 15528. Bericht vom 9.11.1949, der mit größter Wahrscheinlichkeit von Georg Dertinger verfaßt wurde, Dertinger (1902 - 1968) war bis zu seiner VeIhaftung im Januar 1953 Außenminister der DDR. Im Juni 1954 wurde er wegen "Verschwörung" und "Spionage" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis zu seiner Begnadigung im Mai 1964 in Bautzen absaß. Am 23.12.1952 war er vom polnischen Staatsrat mit dem Orden "Polonia Restituta 1944" ausgezeichnet worden, der 1963 (zuvor war die Angelegenheit "versäumt" worden) zurückgegeben werden soUte, weil Dertinger als "für nicht würdig" zum Tragen eines solchen Ordens erachtet wurde. Die DDR war hier sehr auf Diskretion bedacht: "SoUte die Gesetzgebung der VR Polen bei Verleihung und Aberkennung von polnischen Orden an Ausländer eine Veröffentlichung vorsehen, müßte ersucht werden, daß in diesem Fall davon abgesehen wird." Vgl.: "Aktenvermerk über eine Unterredung in der Obersten Staatsanwaltschaft der DDR am 5.3.1963" sowie Vermerk Moldts vom 20.7.1963, in: Ebenda, A 15542. 21 Vgl. Beate lhme-Tuchel, Das 'nördliche Dreieck'. Die Beziehungen zwischen der DDR, der Tschechoslowakei und Polen in den Jahren 1954 bis 1962, Köln 1994, S. 41 ff. 22 "Bis zum August 1961 wurden in der polnischen Partei oft genug Zweifel laut, ob Ulbrichts Regime noch lange existieren werde," Vgl. etwa Wladyslaw Tykocitiski, Oberst Tykocinski: das Zeugnis eines polnischen Patrioten, in: Osteuropäische Rundschau 12 (1966), Nr. 4, S. 3 ff, hier S. 6.

23 Vgl. hierzu PAAA, Bestand MfAA. A 15635. Bericht des ersten DDR-Botschafters in Polen Friedrich Wolf an Staatssekretär Anton Ackermann vom 28.2.1950, S. 2: "Weiter unterhielt ich mich mit Minister Wierblowski [d.i. der stellvertretende polnische Außenminister, d,V.] über die Probleme des kulturellen Austausches. Bei aller grosser Bedeutung dieser Frage kamen wir überein, hier nichts zu übereilen und mit Rücksicht auf die naturgemäss noch bestehende Erinnerung an den von den Polen erduldeten Hitlerterror im wesentlichen die Initiative den polnischen Freunden zu überlassen."

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schwache Position. Der SED gelang es allerdings - von der unumgänglichen Anerkennung der Ostgrenze ausgehend - die DDR aus dieser Isolierung sowie der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterlegenheit gegenüber Polen Schritt für Schritt heraus zu führen. Mit dem Ende der Reparationen 1954, der Beendigung des Kriegszustandes zwischen Polen und Deutschland im Februar 1955, der Aufnahme der DDR in den im Mai 1955 geschlossenen Warschauer Vertrag und mit dem Abschluß zahlreicher bilateraler Verträge der DDR mit den sozialistischen Staaten gewann die DDR auch gegenübt!r Polen an Gewicht. Hinzu kamen eine zwar langsame, dafür aber stetige wirtschaftliche Erholung, die dazu führte, daß der Lebensstandard der DDR seit Mitte der 50er Jahre höher als der polnische war. 24 Bis zum Abschluß des Görlitzer Abkommens am 6. Juli 195025 war die bis dahin offene Grenzfrage zweifellos das größte Hindernis für die Herstellung ostdeutsch polnischer Beziehungen. Umso mehr wurde das Abkommen gefeiert: "Ein neuer Schlag gegen die Kriegstreiber. Ministerpräsident Grotewohl und Ministerpräsident Cyrankiewicz unterzeichneten das Abkommen über die deutsch-polnische Staatsgrenze" lautete etwa die Schlagzeile des "Neuen Deutschland" am 7. Juli 1950. 26

24 Die DDR-Führung betrachtete diese Entwicklung wegen der damit verbundenen Zunahme der Aussiedlungswünsche unter der deutschen Minderheit in Polen mit gemischten Gefühlen; selbst die geplante Erhöhung des Lebensstandards um 30 Prozent gemäß dem polnischen Fünfjahresplan würde keine Annäherung an den Lebensstandard der DDR bringen. Vgl. PAAA, Bestand MfAA, A 1812. "Deutsche in Polen", S. 2. 2S Ort und Termin dieses "feierlich" zu begehenden Tages waren von der polnischen Seite vorgeschlagen worden. Vgl. SAPMO BArch, ZPA, NL 36n43. "Aktenvermerk" Anton Ackermanns vom 30.6.1950. 26 Vgl. den Text des Görlitzer Abkommens sowie den damit verbundenen Briefwechsel in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. I, S. 342 f. Siehe hierzu auch SAPMO BAreh, ZPA, IV 2/2/108. "Richtlinien für die Vertreter der Deutschen Demokratischen Republik in der gemischten deutsch-polnischen Kommission zur Markierung der Staatsgrenze zwischen Deutschland und der Republik Polen", Anlage 7 zum Protokoll Nr. 8 vom 12. September 1950, S. I ff. "Die Verhandlungen sind in dem Geiste zu führen, dass die festgelegte, bestehende Grenze die unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze ist, die beide Völker nicht trennt, sondern verbindet. Einig durch den beiderseitigen Willen, eine unerschütterliche Grundlage für ein friedliches, gut nachbarliches Zusammenleben beider Völker zu schaffen, die gegenseitigen Beziehungen zu stabilisieren und zu vertiefen, muss eine Grenzmarkierung erstrebt werden, die ein dauerndes friedliches und normales Zusammenleben unserer Völker beiderseits der Grenze garantiert." 2. Die Grenze sollte gemäß der auf der Potsdamer Konferenz und gemäß der im Abkommen zwischen der DDR und Polen vom 6. Juli 1950 festgelegten Linie festgelegt werden. 3. Die DDRRegierung betrachtete "folgende Linie als die zu markierende" Staatsgrenze: "Von der Ostsee, westlich der Städte Swinoujscie, Szczecin, Widuchowa, die Mitte der Fahrtrinne in die Oder, die Mitte der Fahrtrinne der Lausitzer Neisse bis Guben, die Mitte der Lausitzer Neisse bis zur tschecho-

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Daß der DDR-Führung die Anerkennung der Grenze nicht leicht gefallen war, wurde indirekt sogar in der Festrede Otto Grotewohls vom 6. Juli 1950 deutlich: "Wenn die antifaschistisch-demokratischen Kräfte der Deutschen Demokratischen Republik ... im Geiste des Friedens an die Demarkation der Oder-Neiße-Grenze herangingen, so erfüllten sie damit nur das Gesetz internationaler Vertragstreue, ohne die, wie die Vergangenheit uns lehrte, die menschliche Gesellschaft nicht leben kann . ... Ein Volk, das zuließ, wie seine Machthaber zweimal in zwanzig Jahren die Gesetze menschlichen Zusammenlebens mit Füßen traten, hat endlich gelernt, daß es nur durch restlose und ehrliche Anerkennung der internationalen Vertragswerke in die Familie der Völker zurückkehren kann. Diese internationalen Vertragswerke sind die Abkommen von Jalta und Potsdam, in denen auch die Grenl/rage zwischen Deutschland und Polen geregelt ist. Das deutsche Volk muß aus seiner Schuld heraus verstehen lernen, wenn Polen nach Sicherungen schaut, um nicht ein drittes Mal aus dem Raume Ostpreußen-Schlesien angegriffen und zerstört zu werden. Wer gegen diese Abkommen hetzt, hetzt zum Kriege. Wer für die Erfüllung dieser Abkommen wirkt, wirktfür den Frieden und für die Freundschaft der Völker. Das Abkommen ... ist darum ein schwerer Schlag gegen alle Kriegsbrandstifter, weil diese Grenze die Friedensgrenze ist. '027

Anton Ackermann, damals Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR, unterstrich stark die Verantwortung aller Siegermächte des Zweiten Weltkrieges für diese Grenzziehung: "Das Abkommen beinhaltet die Markierung der im Potsdamer Abkommen von allen drei alliierten Großmächten festgelegten und seit fünf Jahren bestehenden Grenze. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik bekundete mit dem Abschluß dieses Abkommens erneut ihren Willen, die von den Großmächten bezüglich Deutsch/ands gemeinsam getroffenen Abmachungen anzuerkennen und einzuhalten. Folglich ist damit das Potsdamer Abkommen gefestigt. '02