Politisches Theater in Brasilien: Aufführungsanalysen aus Salvador da Bahia 9783839434567

Theatrical negotiations of issues from city sanitations to illegal migration: this study makes the theatre of the former

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Politisches Theater in Brasilien: Aufführungsanalysen aus Salvador da Bahia
 9783839434567

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte
2.1 Der Begriff des politischen Theaters
2.1.1 Politikwissenschaftliche Grundlagen
2.1.2 Dramatische Konzepte des politischen Theaters
2.1.3 Postdramatische Konzepte des politischen Theaters
2.1.4 Politisches Theater im postkolonialen Kontext
2.2 Praktische Ausprägungen des politischen Theaters
2.2.1 Internationale Ausprägungen des politischen Theaters
2.2.1.1 Theater als politisches Instrument: vom Agitproptheater der Russischen Revolution zum sozialistischen Realismus
2.2.1.2 Theater als politische Kunst: Erwin Piscator und Bertolt Brecht
2.2.1.3 Theater als politisches Ereignis: das Happening von The Living Theatre und seine Grundlagen
2.2.2 Nationale Vorläufer des zeitgenössischen politischen Theaters in Salvador da Bahia: vom Klassenkampf zum Protesttheater
2.2.2.1 Centro Popular de Cultura
2.2.2.2 Teatro de Arena
2.2.2.3 Teatro Oficina
3. Forschungskontext, Korpus und Methodik
3.1 Forschungskontext: Salvador da Bahia
3.1.1 Gesellschaftspolitischer Kontext
3.1.2 Entwicklung und aktuelle Situation des Theaters in Salvador da Bahia
3.2 Festlegung des Korpus
3.2.1 Das Teatro Vila Velha
3.2.2 Das Theatro XVIII
3.2.3 Kriterien für die Auswahl der Aufführungen
3.3 Methodik
3.3.1 Theatersemiotik
3.3.2 Performativität
4. Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia
4.1 Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia
4.1.1 Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia mit einer Bedeutungsebene
4.1.1.1 BAI BAI PELÔ – die Marginalisierten Salvadors auf der Bühne
4.1.1.2 O MILAGRE NA BAÍA – der Einsatz von phantastischen Elementen zur politischen Aktivierung
4.1.1.3 A ÓPERA DOS TRÊS REAIS – Brecht im gegenwärtigen Brasilien
4.1.1.4 Sonderfall: CABARÉ DA RRRRRAÇA – eine gesellschaftliche Debatte an der Schwelle zum postdramatischen Theater
4.1.2 Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia mit zwei Bedeutungsebenen
4.1.2.1 Metatheatrale Reflexion im dramatischen politischen Theater
– UM TAL DE DOM QUIXOTE – der Triumph des dramatischen politischen Theaters
– ESSE GLAUBER – das Ende des dramatischen politischen Theaters
4.1.2.2 Entwicklung alternativer Historiografien im postkolonialen Kontext
– ZUMBI – die favela als modernes quilombo
– TRÊS MULHERES E APARECIDA – eine alternative Geschichte der brasilianischen Frau
4.1.3 Merkmale und Funktionen des dramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia
4.2 Postdramatisches politisches Theaterin Salvador da Bahia
4.2.1 O CONTÊINER – die Präsenz eines fernen Problems
4.2.2 PRIMEIRO DE ABRIL – postdramatische Vermittlung einer alternativen Historiografie
4.2.3 LATIN IN BOX – Alles ist konstruiert, Alles ist veränderbar
4.2.4 Merkmale und Funktionen des postdramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia
5. Schlussbetrachtungen
6. Bibliografie
7. Abbildungsverzeichnis

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Stella Voutta Politisches Theater in Brasilien

Theater | Band 84

Gewidmet Lothar und Hannelore Lothholz

Stella Voutta (Dr. phil.), geb. 1984, hat an der Universität Passau im Fach Romanische Philologie/Romanische Kulturwissenschaft promoviert und an verschiedenen Theatern in Deutschland und Brasilien gearbeitet. Sie ist für die Robert Bosch Stiftung im Bereich »Völkerverständigung« tätig.

Stella Voutta

Politisches Theater in Brasilien Aufführungsanalysen aus Salvador da Bahia

Das vorliegende Werk wurde als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Joa˜o Milet Meirelles. »O Contêiner«, A Outra Companhia de Teatro, 2006. Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3456-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3456-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 9 1. Einleitung  | 11 2. Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte  | 27 2.1

Der Begriff des politischen Theaters  | 27

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Politikwissenschaftliche Grundlagen | 28 Dramatische Konzepte des politischen Theaters | 33 Postdramatische Konzepte des politischen Theaters | 39 Politisches Theater im postkolonialen Kontext | 44

2.2

Praktische Ausprägungen des politischen Theaters  | 54 Internationale Ausprägungen des politischen Theaters | 54 Theater als politisches Instrument: vom Agitproptheater der Russischen Revolution zum sozialistischen Realismus | 55 Theater als politische Kunst: Erwin Piscator und Bertolt Brecht | 60 Theater als politisches Ereignis: das Happening von The Living Theatre und seine Grundlagen | 68 Nationale Vorläufer des zeitgenössischen politischen Theaters in Salvador da Bahia: vom Klassenkampf zum Protesttheater | 74 Centro Popular de Cultura | 76 Teatro de Arena | 82 Teatro Oficina | 88

2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3

3. Forschungskontext, Korpus und Methodik  | 97 3.1

Forschungskontext: Salvador da Bahia  | 97

3.1.1 3.1.2

Gesellschaftspolitischer Kontext  | 98 Entwicklung und aktuelle Situation des Theaters in Salvador da Bahia | 105

3.2

Festlegung des Korpus  | 112 Das Teatro Vila Velha | 113 Das Theatro XVIII | 118 Kriterien für die Auswahl der Aufführungen | 120

3.2.1 3.2.2 3.2.3

3.3 3.3.1 3.3.2

Methodik  | 122 Theatersemiotik | 123 Performativität | 128

4. Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia  | 135 4.1

Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia  | 137

4.1.1

Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia mit einer Bedeutungsebene  | 137 BAI BAI PELÔ – die Marginalisierten Salvadors auf der Bühne | 139 O MILAGRE NA BAÍA – der Einsatz von phantastischen Elementen zur politischen Aktivierung | 152 A ÓPERA DOS TRÊS REAIS – Brecht im gegenwärtigen Brasilien | 165 Sonderfall: CABARÉ DA RRRRRAÇA – eine gesellschaftliche Debatte an der Schwelle zum postdramatischen Theater | 177 Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia mit zwei Bedeutungsebenen | 188 Metatheatrale Reflexion im dramatischen politischen Theater | 189 – UM TAL DE DOM QUIXOTE – der Triumph des dramatischen politischen Theaters | 190 – ESSE GLAUBER – das Ende des dramatischen politischen Theaters | 202 Entwicklung alternativer Historiografien im postkolonialen Kontext | 215 – ZUMBI – die favela als modernes quilombo | 217

4.1.1.1 4.1.1.2 4.1.1.3 4.1.1.4 4.1.2 4.1.2.1

4.1.2.2

4.1.3

– TRÊS MULHERES E APARECIDA – eine alternative Geschichte der brasilianischen Frau  | 229 Merkmale und Funktionen des dramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia | 239

4.2

Postdramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia  | 248

4.2.1 4.2.2

O CONTÊINER – die Präsenz eines fernen Problems | 249 PRIMEIRO DE ABRIL – postdramatische Vermittlung einer alternativen Historiografie | 262 LATIN IN BOX – Alles ist konstruiert, Alles ist veränderbar | 276 Merkmale und Funktionen des postdramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia | 291

4.2.3 4.2.4

5. Schlussbetrachtungen  | 299 6. Bibliografie  | 313 7. Abbildungsverzeichnis  | 341

Vorwort

Brasilianisches Theater ist, abgesehen vom teatro do oprimido von Augusto Boal, im deutschen Kontext bisher kaum behandelt worden. Dies ist schwer nachzuvollziehen, verfügt das Land doch als Mitglied der BRICS-Staaten, aufgrund seiner Größe und seiner regionalen Vormachtsstellung über große Bedeutung – und eine überaus lebendige Theaterszene, die sich nicht nur mit ästhetischen, sondern auch gesellschaftlichen Fragestellungen kreativ auseinandersetzt. Letzteres, ein Theater, das sich engagiert mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzt und sich selbst als Teil des politischen Diskurses begreift, hat mich seit jeher besonders fasziniert, insbesondere in einem Land, das wie Brasilien nicht nur vor den großen sozialen und politischen Herausforderungen eines Schwellenlandes steht, sondern in dem sich auch Machtstrukturen der kolonialen Vergangenheit bis heute erhalten haben. Besonders deutlich werden diese allerdings nicht in Rio de Janeiro oder São Paulo, sondern in der drittgrößten Stadt des Landes, der ehemaligen Hauptstadt Salvador da Bahia, deren politisches Theater ich aus diesem Grund in der vorliegenden Studie in den Blick nehme. Die Grundlagen für meine Forschung wurden an einem Morgen im August 2006 gelegt, als ich das Teatro Vila Velha in Salvador da Bahia zum ersten Mal betrat. Auch wenn alle Beteiligten bei unserer ersten Begegnung überfordert waren – ich, da mich der baianische Dialekt vor Herausforderungen stellte, das Theater, da man nicht so recht wusste, wohin mit der Praktikantin, die weder Schauspielern, noch Regisseurin, noch Bühnenbildnerin war – sollte es der Beginn einer zehn Jahre andauernden, zunächst praktischen, anschließenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden. Das finale Produkt, meine Dissertationsschrift, die ich im März 2015 im Fach Romanische Philologie an der Universität Passau eingereicht und im November 2015 verteidigt habe, wird hier in leicht überarbeiteter Fassung veröffentlicht. Die Fertigstellung dieser Arbeit wäre ohne die Begleitung, Unterstützung und Ermutigung zahlreicher Menschen nicht möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte.

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Politisches Theater in Brasilien

Zunächst gilt mein Dank den „homens e mulheres do teatro soteropolitano“, für die Inspiration und Unterstützung während meiner Zeit vor Ort in den Jahren 2006 und 2007, aber auch für die Hilfsbereitschaft bei meinen anschließenden Recherchen. Besonders hervorheben möchte ich Vinício de Oliveira Oliveira, João Milet Meirelles, Isabela Silveira, Luiz Antônio Júnior, Camilo Fróes, Eddy Veríssimo, Luiz Buranga und alle anderen Mitglieder von A Outra Compania de Teatro in den Jahren 2006 und 2007 sowie des Teatro Vila Velha – von der künstlerischen bis zur technischen Leitung – die mich durch Gespräche und die Bereitstellung von Videoaufzeichnungen, Programmheften und vielem mehr unterstützt haben. Ebenfalls danke ich Aninha Franco für die Unterstützung bei meinen Recherchen zum Theatro XVIII sowie Nehle Franke für den Anstoß, mich nach meinem Praktikum im Goethe-Institut mit soteropolitanischem Theater auseinanderzusetzen. In Deutschland gilt mein besonderer Dank meiner Doktormutter, Prof. Dr. Susanne Hartwig, von der Universität Passau, die mein Projekt über die vielen Jahre geduldig begleitet und stets gleichzeitig kritische wie ermutigende Anstöße zur weiteren Entwicklung der Arbeit gegeben hat. Ebenfalls danken möchte ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Dr. Michael Rössner von der LMU München, der ebenfalls entscheidende Impulse für meine Arbeit geliefert hat. Ich danke auch meinen „Mitdoktorandinnen“ Dr. Birgit Aka und Dr. Virginia Sambaquy-Wallner für den offenen Austausch, die geteilte Freude und das geteilte Leid – wir haben es geschafft! Ich habe diese Forschungsarbeit neben meiner Tätigkeit in der Robert Bosch Stiftung verfasst. Ohne die beständige Unterstützung meiner aktuellen und ehemaligen Vorgesetzten – insbesondere Christian Hänel und Dr. Peter Theiner, die mein „Parallelprojekt“ nicht nur toleriert, sondern mich stets ermutigt und aktiv unterstützt haben – und meiner Kolleginnen und Kollegen wäre dies nicht möglich gewesen. Auch möchte ich meiner Familie – insbesondere meinen Eltern, Carlo, Jill und Luke – für die Unterstützung danken, ebenso wie Familie Schammann. Auch danke ich meinen Großeltern, Lothar und Hannelore Lothholz – ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Mein größter Dank gebührt letztlich meinem Mann, Hannes Schammann, für die großartige Unterstützung auf allen Ebenen.

Stuttgart im März 2016 Stella Voutta

1. Einleitung

„E teatro, teatro, lugar, onde se pode ver a si mesmo? Que teatro nós baianos podemos fazer que tenha algum poder?“ (EG 58:35-58:50)1 Im Jahr 2004 richtet die Inszenierung ESSE GLAUBER die Frage, welche Art von Theater in der brasilianischen Metropole Salvador da Bahia gesellschaftliche Wirkung erreichen kann, an das Publikum. ESSE GLAUBER erzählt die Geschichte2 der beiden aus armen Verhältnissen stammenden baianos3 TodoMundo und QualquerUm. In der Hoffnung, ein wenig Geld zu verdienen, führen die beiden Protagonisten während des Karnevals in Salvador da Bahia körperlich stark belastende Arbeiten durch, ertragen Hunger, Hitze und Kälte ebenso wie fortdauernde Erniedrigungen durch den Arbeitgeber – nur, um letztendlich um ihren Lohn geprellt zu werden. Die Inszenierung bildet ein zeitgenössisches Salvador da Bahia ab, das von ökonomischer und sozialer Ungleichheit geprägt ist: Menschen- und Bürgerrechte, so ESSE GLAUBER, gelten für die armen Stadtbewohner nicht. Zudem formuliert die Aufführung einen klaren Appell, die Situation zu verändern. Wie muss ein Theater also beschaffen sein, welcher Mittel muss es sich bedienen, um eine derart von Ungleichheit geprägte Gesellschaft umwandeln zu können?

1 | Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen Aufführungsanalysen, die anhand von Videomitschnitten durchgeführt wurden. Wenn vorhanden, wird bei direkten Zitaten sowohl die Stelle im Schrifttext (Seitenangabe) als auch in der Videoaufführung (Minutenangabe) als Quelle angegeben. In diesem Fall ist der Satz nur im Bühnentext, nicht im Schrifttext (Franco, 2004) enthalten. 2 | In der Unterscheidung von „Geschichte“ und „Fabel“ bzw. „Plot“ folgt die Arbeit Pfister: „Beinhaltet die Geschichte das rein chronologische Nacheinander der Ereignisse und Vorgänge, so birgt die Fabel wesentliche Aufbaumomente in sich.“ (1997: 266) „Handlung“ bedeutet mit Pfister eine „intentionale Situationsveränderung“ (ebd.: 270). 3 | Baiano ist der Ausdruck für einen Bewohner des brasilianischen Bundesstaates Bahia. Die Bewohner seiner Hauptstadt, Salvador da Bahia, werden als soteropolitanos bezeichnet.

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Politisches Theater in Brasilien

Mit ihrem Anspruch, auf gesellschaftspolitische Entwicklungen einzuwirken, ist ESSE GLAUBER im soteropolitanischen Gegenwartstheater kein Einzelfall: Bereits in den in Tageszeitungen oder im Internet veröffentlichten Spielplänen weisen Titel wie CABARÉ DA RRRRRAÇA oder BAI BAI PELÔ4 auf Inszenierungen hin, die sich in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten positionieren. Auch die letzten Nominierungs- und Preisträgerlisten des Prêmio Braskem de Teatro5, des wichtigsten gegenwärtigen baianischen Theaterpreises (vgl. Araújo, 2011: 165), verraten, dass ein in solcher Form engagiertes Theater weit verbreitet ist: Nachdem ESSE GLAUBER bereits 2004 den Preis für den besten Text erhielt, wurden zuletzt gleich drei Aufführungen nominiert, die sich als Beitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten verstehen.6 Ein Blick in die soteropolitanische Theatergeschichte zeigt, dass bereits mit der Gründung der ersten professionellen Theatergruppe Salvador da Bahias in den 1960er-Jahren ein engagiertes Theater einsetzt (vgl. Leão, 2009: 205). Dass sich das soteropolitanische Theater in besonderem Maße in gesellschaftspolitischen Debatten positioniert, ist angesichts der zahlreichen virulenten sozialen und politischen Herausforderungen, denen sich die Bürger Salvador da Bahias gegenübersehen, nicht verwunderlich. Denn hier, in der heute circa 2,9 Millionen Einwohner zählenden Stadt im Nordosten des Landes, zeigen sich die sozialen und politischen Probleme der „peripheren Moderne Brasiliens“ (Souza, 2006: 21)7 in besonderem Maße: In der drittgrößten Stadt des Landes konzentriert sich das ökonomische Kapital stark in den Händen einer 4 | „Pelô“ ist die Abkürzung für „Pelourinho“, die historische Altstadt Salvador da Bahias, die in den 1990er-Jahren Ziel einer umfassenden Restaurierung war (siehe Kapitel 4.1.1.1). Im lokalen Kontext wird der Titel als Anspielung auf die politische Debatte um im Zuge der Restaurierung vorgenommene Umsiedlungen verstanden. 5 | Mit dem von dem brasilianischen Chemieunternehmen Braskem gestifteten Prêmio Braskem de Teatro zeichnet eine Jury jährlich in acht Kategorien „as melhores produções teatrais do estado“ (BRASKEM, 2014) aus. Der Preis wird seit 1999 vergeben (vgl. Araújo, 2011: 165). 6 | Die Inszenierung C ASULO, 2013 Sieger der Kategorie „Texto“, thematisiert die Stigmatisierung von Homosexuellen in der baianischen Gesellschaft (vgl. Uzêda, 2013a). A C ONFERÊNCIA , nominiert für die beste Regie, diskutiert Migration, Stadtentwicklung und Politik im zeitgenössischen Brasilien und der Welt (vgl. Oco de Teatro, 2014). J O ELMA , nominiert für den besten Schauspieler, erzählt die Geschichte der ersten Transsexuellen in Bahia und kritisiert anhand ihrer Geschichte die andauernde Diskriminierung (vgl. Bahia Notícias, 2014). 7 | Das ausschlaggebende Charakteristikum der „peripheren Moderne“ ist, dass im gesellschaftlichen Habitus eine Komponente fehlt, „die in den fortgeschrittenen Gesellschaften verantwortlich ist für die effektive Universalisierung der Kategorie des produktiv Tätigen und Staatsbürgers“ (Souza, 2006: 39, siehe Kapitel 3.1.1).

Einleitung

kleinen Elite; gleichzeitig lebt eine große Zahl der Einwohner unterhalb der Armutsgrenze in einer der mehreren hundert städtischen favelas8 (vgl. IBGE, 2010a). Von den brasilianischen Metropolen weist Salvador aktuell zudem die höchste Arbeitslosenquote (vgl. IBGE, 2014: 16) und Analphabetenrate (vgl. IBGE, 2010c) auf. Als ehemalige Hauptstadt des kolonialen Brasiliens und Zentrum des brasilianischen Sklavenhandels verfügt Salvador da Bahia über einen im nationalen Vergleich überdurchschnittlich hohen Anteil an negro9- und vor allem pardo-Bevölkerung, während die branco-Einwohner deutlich in der Minderheit sind (vgl. IBGE, 2010a). Entsprechend kommt in Salvador da Bahia Debatten um Rassismus und um Diskriminierung der brasilianischen negros besondere Bedeutung zu. In diesem spezifischen gesellschaftlichen Kontext setzt sich die vorliegende Arbeit zum Ziel, Antworten auf die in ESSE GLAUBER aufgeworfene Frage zu finden: Welcher Strategien bedienen sich Theateraufführungen in Salvador da Bahia, um auf gesellschaftspolitische Diskussionen einzuwirken? Ausgehend von dieser Fragestellung nach den Vermittlungsstrategien untersucht die vorliegende Arbeit, welche Merkmale und Funktionen das engagierte Theater in Salvador da Bahia aufweist: Wie lässt es sich in aktuelle theaterwissenschaftliche Debatten um die Wirksamkeit eines gesellschaftspolitisch engagierten Theaters einordnen? Dabei erweist sich Salvador da Bahia nicht nur aufgrund seiner oben beschriebenen Eigenschaft als Brennglas der sozialen und politischen Probleme Brasiliens als kulturwissenschaftlich besonders interessanter Untersuchungskontext: Durch den Niedergang der Baumwoll- und Zuckerindustrie und der Verlagerung des wirtschaftlichen Aufschwungs in die südlichen Bundesstaaten im 18. Jahrhundert blieben in der Kolonialzeit geschaffene, asymmetrische Machtverteilungen in der Stadt in besonderem Maße erhalten (vgl. Guimarães, 1992: 37). Im angelsächsischen Kontext werden solche Auswirkungen der Kolonisation auf gegenwärtige Gesellschaften – und dabei insbesondere auf deren 8 | Im Gebrauch des Begriffs favela folgt die Arbeit Rothfuß (2012). Seine Anwendung führe zwar „unzweifelhaft zu einer Reproduktion des mit ihm konnotierten Stigma des Unortes“ (ebd.: 135), dennoch sei der Begriff anderen Ausdrücken wie bairro popular oder bairro humilde vorzuziehen, „um das urban Ungleiche nicht mit beschönigenden und neutralisierenden Termini […] zu verstecken“ (ebd.: 136). Für die Bezeichnung der favela-Bewohner wird im Folgenden entsprechend der Begriff favelados verwendet. 9 | Die Arbeit orientiert sich zur Beschreibung der unterschiedlichen ethnischen Gruppen an den Kategorien des brasilianischen Zensus, in denen die Zuordnung durch die Befragten selbst vorgenommen wird (vgl. IBGE 2010a). Diese bleiben unübersetzt, um die unvermeidlichen Konnotationen einer deutschen Übersetzung, insbesondere bezüglich des mit Hautfarbe einhergehenden Rassebegriffs, zu vermeiden. Zum Rasse- und Ethnizitätsbegriff in Salvador da Bahia vgl. Sansone (2003: 38f.).

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Politisches Theater in Brasilien

Literatur und Theater – von den postcolonial studies untersucht (vgl. Ashcroft/ Griffiths/Tiffin, 1989: 11; 2007: 2). Die Übertragung der Konzepte der postcolonial studies auf die ehemaligen spanischen und portugiesischen Kolonien in Lateinamerika ist aufgrund des großen Unterschieds zur angelsächsischen Kolonisierung allerdings stark umstritten (vgl. Klor de Alva, 1992: 4). Diese Arbeit wendet daher mit Coronil (2004: 240) einen tactical postcolonialism an, der es erlaubt, Debatten, die erst vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit Brasiliens als politisch zu werten sind, sichtbar zu machen – gleichzeitig aber eine Einengung der Perspektive auf binäre Machtverhältnisse vermeidet. Vor diesem Hintergrund versprechen die in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen Untersuchungen wichtige Erkenntnisse zu der Frage, auf welche Weise politische Kunst im gegenwärtigen Brasilien postkoloniale Fragestellungen verhandelt. Damit leistet die Studie einen Beitrag zur Diskussion um die Möglichkeiten einer Einordnung lateinamerikanischer Kunstformen in die postcolonial studies. Allerdings sei angemerkt, dass die Studie aufgrund ihres Fokus auf politisches Theater postkoloniale Elemente ausschließlich mit Blick auf ihren Beitrag zur politischen Wirkungsabsicht der Theateraufführungen untersucht – und nicht etwa in ihrer poststrukturalistischen Dimension betrachtet und in die Methodik dieser Arbeit einfließen lässt.10 Indem die Arbeit sowohl das Theater als auch seinen gesellschaftlichen Kontext in den Blick nimmt, verortet sie sich an der Schnittstelle zwischen Theaterwissenschaft und romanischer Kulturwissenschaft.11

10 | Zu einer poststrukturalistischen Analyse des soteropolitanischen Theaters siehe Voutta (2008). Auch sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Verfasserin in der vorliegenden Studie mit Blick auf den theaterhistorischen Kontext sowie auf die theoretischen und methodischen Konzepte bewusst eine deutsche Perspektive einnimmt. Dies ist dem Wunsch geschuldet, den Forschungsgegenstand, der in der vorliegenden Studie erstmals wissenschaftlich für den deutschsprachigen Raum erschlossen wird, zunächst für die hiesige theaterwissenschaftliche Debatte anschlussfähig zu machen. 11 | Als eigenständige Disziplin ist die Theaterwissenschaft erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts u.a. von Max Hermann begründet worden, zuvor wurde das Sprechtheater der Literaturwissenschaft zugeordnet (vgl. Fischer-Lichte, 2010: 13). Ihre Einführung ging mit einer Aufwertung der Aufführung gegenüber dem Schrifttext einher: Da sich die Aufführung, indem sie „aus der Interaktion zwischen Schauspieler und Zuschauer hervorgeht“ (ebd.: 17), fundamental von literarischen Texten unterscheidet, wurde die Theaterwissenschaft als „Wissenschaft von Aufführungen“ (ebd.: 20) eingeführt. Da auch die vorliegende Arbeit nicht etwa Dramen oder Schrifttexte untersucht, sondern sich ebenfalls auf Aufführungen konzentriert, ist sie der Theaterwissenschaft und nicht der Literaturwissenschaft zuzuordnen. Zum Verhältnis von Literatur- und

Einleitung

Gegenstandsbereich Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind Aufführungen soteropolitanischer Theatergruppen, die um die Jahrtausendwende in Salvador da Bahia gezeigt wurden. Aus forschungspraktischen Gründen werden dabei insbesondere Produktionen von zwei privaten Theatern, des Theatro XVIII und des Teatro Vila Velha, in den Blick genommen. Beide gelten aufgrund der Beständigkeit und Qualität ihrer Produktionen als zentrale Akteure der soteropolitanischen Theaterszene (vgl. Nussbaumer, 2006: 11). Die Aufführungen, die im Zentrum der vorliegenden Studie stehen, widmen sich einer großen Bandbreite aktueller gesellschaftlicher Konflikte und Fragestellungen – vom lokalen Stadtsanierungsprojekt über die Diskriminierung der armen und negro-Bevölkerung bis hin zur globalen Problematik der illegalen Migration – und unterscheiden sich auch in der Art der Vermittlung deutlich. Gemein haben sie den Anspruch, auf gesellschaftspolitische Debatten einzuwirken. Um ein in dieser Form gesellschaftlich engagiertes Theater zu beschreiben, hat sich in der Theaterwissenschaft der Begriff des politischen Theaters durchgesetzt (vgl. Fischer-Lichte, 2005c: 242). Die vorliegende Studie wird darstellen, dass der Begriff, wie er im Metzler Lexikon Theatertheorie von Erika Fischer-Lichte definiert wird, zunächst einiger Präzisierungen bedarf, bevor er zur Beschreibung eines abgrenzbaren Korpus verwendet werden kann. In der vorliegenden Arbeit wird politisches Theater verstanden als Theater, in dem sich eine auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens bezogene, d.h. politische Wirkungsabsicht nachweisen lässt. Der Begriff „Wirkungsabsicht“ weist dabei keineswegs auf eine Intentionalität des Produzentenkollektivs hin, sondern bezieht sich allein auf die vom Bühnentext erzeugten Bedeutungen. Die Studie folgt Fischer-Lichte weiterhin, indem sie zwei12 Formen des politischen Theaters unterscheidet: Einerseits das politische Theater, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland beispielsweise von Erwin Piscator oder Bertolt Brecht umgesetzt wurde, das sich durch eine Thematisierung politischer Konflikte auf der Bühne auszeichnet (vgl. ebd.: 242f.). Andererseits fasst sie unter dem Begriff auch ein Theater, das verstärkt in den 1960er-Jahren aufkommt und das nicht die Abbildung politischer Konflikte auf der Bühne, sondern das Erleben und Erfahren des Zuschauers in den Mittelpunkt stellt (vgl. ebd.: 243). Auf Grundlage dieser Unterscheidung entwickelt die vorliegenKulturwissenschaft vgl. Hartwig (2010: 359). Mit dieser Einordnung folgt die vorliegende Studie auch Aka (2014: 26). 12 | Tatsächlich unterscheidet Fischer-Lichte vier Formen, allerdings beziehen sich zwei davon auf allgemeine Eigenschaften des Theaters (vgl. Fischer-Lichte, 2005c: 242). Daher sind sie für die Beschreibung eines abgrenzbaren Korpus, wie es in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird, nicht relevant (siehe Kapitel 2.1.2).

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Politisches Theater in Brasilien

de Arbeit die beiden Typen des dramatischen und postdramatischen politischen Theaters. Zur Beschreibung des Typus des dramatischen politischen Theaters wird mit Rückgriff auf Poschmann (1997: 23) Repräsentation, die Abbildung von Wirklichkeit durch die „Strukturelemente“ Dialog, Figuren und Handlung, als leitendes Prinzip zur Vermittlung der Wirkungsabsicht festgelegt. Im postdramatischen politischen Theater wird, ausgehend von Lehmann (2011: 146), vorrangig die Präsenz der Theateraufführung betont und damit das Erleben des Zuschauers in den Mittelpunkt gestellt. Mit dieser Unterscheidung zwischen Repräsentation und Präsenz knüpft die Arbeit an eine der zentralen Fragen der gegenwärtigen Theaterwissenschaft an: Welche Auswirkungen haben die seit der von Szondi diagnostizierten „Krise des Dramas“ (Szondi, 1981: 74) vermehrt aufkommenden, „nicht mehr dramatischen“ (Poschmann, 1997) oder „postdramatischen“ (Lehmann, 2011 [1999])13 Theaterformen auf das Gegenwartstheater? Kann weiterhin eine „Krise der Repräsentation“ (Poschmann, 1997: 23) konstatiert werden oder lässt sich eine Rückkehr zur dramatischen Form verzeichnen? Dabei wird diese Debatte, zumindest im deutschsprachigen Raum, nicht nur allgemein, sondern auch dezidiert in Bezug auf politisches Theater mit großem Eifer geführt: Während einige Autoren davon ausgehen, dass in den gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften das dramatische Theater jegliche politische Wirkungskraft verloren habe,14 sprechen andere postdramatischen Vermittlungsstrategien jegliche Wirksamkeit ab (vgl. u.a. Haas, 2007: 40f.; Laudahn, 2012: 43f.).15 Dabei betont Lehmann allerdings, dass sich die Debatte bisher nur auf die mitteleuropäischen Länder beziehe, „wie in ganz anderen Kontexten […] viele lateinamerikanische, afrikanische oder asiatische Theater politisch funktionieren, kann man von hier aus kaum beurteilen“ (Lehmann, 2011: 452). Dem Desiderat, die Debatte auf andere geografische Kontexte auszuweiten, kommt die vorliegende Arbeit nach und nimmt mit dem Theater Salvador da Bahias einen im deutschsprachigen Raum theaterwissenschaftlich bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbehandelten Forschungsgegenstand in den Blick. Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass eine dogmatische Festlegung auf entweder dramatisches oder postdramatisches politisches Theater, das allein politische Wirkung beanspruchen kann, verfehlt ist: Tatsächlich bedient sich 13 | Der Begriff des postdramatischen Theaters wurde zunächst von Andrzej Wirth (1987) eingeführt, in den 1990er-Jahren dann von Hans-Thies Lehmann in seinem Standardwerk Postdramatisches Theater (2011 [1999]) ausgearbeitet. 14 | Vgl. u.a. Deck, 2011: 11; Lehmann, 2002a, 2002b und 2011; Hockenbrink, 2008; Primavesi, 2011: 41. 15 | Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist das Kapitel „Postdramatik als apolitisches Theater“ in Haas Plädoyer für ein dramatisches Drama (2007: 38-42).

Einleitung

das politische Gegenwartstheater in Salvador da Bahia sowohl dramatischer als auch postdramatischer Vermittlungsstrategien – häufig auch innerhalb einer Aufführung. Dabei geht die Studie mit Poschmann (1997: 83) für das Gegenwartstheater davon aus, dass die Entscheidung für oder gegen die eine oder andere Form durchaus bewusst getroffen werden kann: Durch die freie Verfügbarkeit verschiedener historischer Dramentypen und die Möglichkeit der Mischung einzelner Elemente [wird; Anm. SV] eine bewußte Vorentscheidung der AutorInnen für die eine oder andere Variante des Dramas möglich und – wo Form und Inhalt einander ergänzen oder miteinander kontrastieren – auch bedeutsam. (Ebd.)

Übertragen auf den Untersuchungsgegenstand bedeutet dies, dass im soteropolitanischen Gegenwartstheater grundsätzlich sowohl dramatische als auch postdramatische Vermittlungsstrategien möglich sind – und daher unterstellt werden kann, dass die Entscheidung des Autors16 für die eine oder andere Form mit Blick auf die Maximierung der politischen Wirksamkeit getroffen wird. Die Arbeit wird untersuchen, mit welchem Effekt die dramatischen und postdramatischen Elemente jeweils funktionalisiert werden und darlegen, warum im soteropolitanischen Kontext beide Formen sinnvoll zum Einsatz kommen können. Schließlich werden zusammenfassend die allgemeinen Merkmale und Funktionen des politischen Theaters in Salvador da Bahia abgeleitet.

Forschungsstand Aufgrund ihrer besonderen Rolle in der brasilianischen Geschichte und Gegenwart ist Salvador da Bahia geografisches Zentrum zahlreicher internationaler sozialwissenschaftlicher (z.B. Kühn, 2006; Agier, 1992), anthropogeografischer (z.B. Rothfuß, 2007 und 2012; Craanen, 1998) und kulturwissenschaftlicher Studien – hier insbesondere von Arbeiten, die sich mit der Situation und Kultur der afro-brasilianischen Bevölkerung auseinandersetzen.17 Dieser großen Anzahl an Arbeiten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen steht in der deutsch- und englischsprachigen18 Theaterwissenschaft eine Forschungslücke 16 | „Autor“ bezieht sich nach dem theatralen Kommunikationsmodell von Pfister nicht auf ein Individuum, sondern auf das „Schaffenskollektiv“ (Pfister, 1997: 29) der Theateraufführung. Die „Kollektivität von Produktion und Rezeption“ ist ein „Spezifikum dramatischer Texte“ (ebd.). 17 | Allein um die Jahrtausendwende z.B. Kraay (Hg.), 1998; Pinho, 2010; Romo, 2010; Schaeber, 2003 und 2006; Matory, 2005. 18 | Mit Gnutzmann (1992) geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass sich in den Geisteswissenschaften „bei der Versprachlichung wissenschaftlicher Sachverhalte

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gegenüber: Zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit ist der Verfasserin weder im deutschen noch im englischen Sprachraum eine wissenschaftliche Monografie zum Theater in Salvador da Bahia bekannt.19 Entsprechend liegen auch keine Studien zum soteropolitanischen politischen Theater vor. Die Forschungslücke, die sich im deutschsprachigen Raum in Bezug auf das Theater Salvador da Bahias ergibt, lässt sich für die brasilianische Theaterwissenschaft nicht im selben Maße konstatieren. An der Universidade Federal da kulturspezifische Diskursmuster“ (ebd.: 268) herausbilden. Da sich, wie Schweiger (2008) exemplarisch nachweist, auch die deutsche und die brasilianische Wissenschaftssprache deutlich unterscheiden, wird in der vorliegenden Arbeit zwischen deutschem und englischem sowie brasilianischem Sprachraum als Ausdruck verschiedener Wissenschaftskulturen differenziert. 19 | Zwar widmet sich Schaeber in ihrer Dissertation zur Karnevalsgruppe Olodum in einem Kapitel der soteropolitanischen Theatergruppe Bando de Teatro Olodum (vgl. Schaeber, 2003: 272-280), die auch in der vorliegenden Arbeit behandelt wird. Allerdings beschränkt sich Schaeber auf die Zusammenstellung von Informationen, eine theaterwissenschaftliche Analyse wird nicht durchgeführt (vgl. ebd.). In der Zeitschrift Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance ist im September 2014 zudem ein Aufsatz mit dem Titel ‚On my mind’s world map, I see an Africa‘: Bando de Teatro Olodum’s re-routing of Afro-Brazilian identity (NicholsonSanz, 2014) erschienen, der sich mit der Konstruktion einer afrikanischen Identität durch Bando de Teatro Olodum, auseinandersetzt. An der Grenze zur wissenschaftlichen Publikation steht der Aufsatz Alles nur Theater! Zum zeitgenössischen bahianischen Theater von Aninha Franco von Tanja Bollow (2004), der einen Besuch der in dieser Arbeit analysierten Aufführung TRÊS M ULHERES E A PARECIDA beschreibt. Der Aufsatz Staging Capoeira, Samba, Maculelê, and Candomblê, der sich als einziger in dem 2015 erschienenen Sammelband Performing Brazil: Essays on Culture, Identity and the Performing Arts (Albuquerque/Bishop-Sanchez) Bahia widmet, behandelt kein Theater, sondern fokussiert Musik- und Tanzgruppen (vgl. Höfling, 2015: 98-125). Der ebenfalls 2015 erschienene Sammelband Brazilian Theatre, 1970-2010: Essays on history, politics and artistic experimentation (Bueno/Camargo) verzichtet – abgesehen von einem Essay zu Straßentheater, in dem Salvador da Bahia zumindest erwähnt wird (vgl. Turle/Trindade, 2015: 115f.) – vollständig auf eine Untersuchung des soterpolitanischen Theaters. Wenn sie sich auch nicht dem soteropolitanischen Theater im engeren Sinne widmet, sondern sich aus einer anthropologischen Perspektive der „React or Die!“-Kampagne sowie den Performances der Straßentheatergruppe „Grupo Teatral de Choque Cultural“ gegen „anti-black violence“ annähert, stellt die 2016 erschienene Monografie Afro-Paradiese: Blackness, Violence and Performance in Brazil von Smith eine erste Untersuchung alternativer politischer Performances in Salvador da Bahia dar.

Einleitung

Bahia (UFBA), ihrer Faculdade de Comunicação und ihrer Escola de Teatro sind zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten erschienen, die sich mit verschiedensten Aspekten des soteropolitanischen Gegenwartstheaters auseinandersetzen – bisher allerdings nicht unter dem Aspekt des politischen Theaters.20 Wenn auch die lokale theaterwissenschaftliche Forschung hinsichtlich des konkreten Untersuchungsgegenstandes damit eine Lücke aufweist, bieten die vorhandenen Studien mit ihren Untersuchungen von Produktions- und Rezeptionsbedingungen im soteropolitanischen Theater zahlreiche Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit. In besonderem Maße greift die vorliegende Arbeit auf die Dissertation Transas na Cena em Transe – Teatro e Contracultura na Bahia (UFBA) von Raimundo Matos de Leão (2009) zurück. Diese beschreibt Akteure, Produktionsbedingungen und Theateraufführungen in Salvador da Bahia zwischen 1967 und 1974 und widmet sich dabei insbesondere Ausprägungen des Theaters, die gesellschaftliche Kritik übten – und damit, zumindest teilweise, als Grundlage für das gegenwärtige politische Theater gelten können, das die vorliegende Studie behandelt. Zur Erläuterung der Produktionsbedingungen um die Jahrtausendwende selbst nimmt die vorliegende Arbeit insbesondere auf die Dissertation Produção Cultural no Contexto das Políticas Públicas (UFBA) von Sérgio Sobreira Araújo (2011) Bezug, in der die Auswirkungen der staatlichen Kulturpolitik zwischen 1988 und 2010 auf die Theater Salvador da Bahias untersucht werden. Zudem nutzt die vorliegende Arbeit für die Darstellung von Entwicklungen soteropolitanischer Theatergruppen aufgrund ihrer Detailtiefe zwei Publikationen, die sich nicht als wissenschaftliche Arbeiten einordnen lassen: Die von Theaterkritiker Marcos Uzel anhand von Interviews und Rezensionen rekonstruierte Geschichte der Theatergruppe Bando de Teatro Olodum in O Teatro do Bando – Negro, Baiano e Popular (2003) und das zum Zeitpunkt der Vollendung dieser Arbeit noch unveröffentlichte Manuskript A Criação na Cidade da Bahia (2010)21, in dem die Dramatikerin Aninha Franco anhand von Zeitungskriti20 | Beispielsweise untersucht die Magisterarbeit Públicos do Teatro Vila Velha (2007) von Plínio César dos Santo Rattos die Publikumsstruktur des Theaters Teatro Vila Velha. Im Jahr 2005 wurde unter der Leitung von Gisele Nussbaumer zudem ein Projekt der Universidade Federal da Bahia begonnen, das ein detailliertes „Mapping“ der soteropolitanischen Landschaft vorsah (vgl. Nussbaumer, 2006). In seinem Rahmen wurden u.a. Publikumsbefragungen durchgeführt. Aber auch andere Universitäten widmen sich der Thematik: Ana Paula Dantas beschreibt in ihrer an der Universidade Católica do Salvador entstandenen Bachelorarbeit O Teatro Baiano: 1990-2000. Sie konzentriert sich dabei auf baianische Produktionen, die zu Gastspielen in Rio de Janeiro und São Paulo eingeladen wurden. 21 | Das Jahr entspricht der Version des Manuskripts, aus dem in der vorliegenden Arbeit zitiert wird.

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ken und Interviews, aber auch ihrer eigenen Erinnerungen, die Theaterszene in Salvador von 1990 bis 2000 beschreibt und so die Beobachtungen von Araújo ergänzt. Auch zu politischem Theater in Brasilien allgemein gibt es in der deutschen Theaterwissenschaft nur wenige Forschungsarbeiten. Für diese lassen sich eine geografische Konzentration auf die kulturellen Zentren Rio de Janeiro und São Paulo und ein zeitlicher Fokus auf die 1960er- und 1970er-Jahre feststellen: Die letzte Veröffentlichung, die im Jahr 2012 publizierte Diplomarbeit Zeitgenössisches politisches Theater in Brasilien: Formen und Funktion von Kritik (Universität Wien) von Katharina Schuller, setzt sich beispielsweise mit ausgewählten Theatertexten22 von Augusto Boal, Plínio Marcos und Dias Gomes der 1960er- und 1970er-Jahre auseinander. Diese werden mit der Rezeptionsästhetik von Robert Jauß (1975) untersucht, „um so die gesellschaftliche Funktion der Stücke und damit ihre inhärente Kritik herausarbeiten zu können“ (Schuller, 2012: 9). Abgesehen davon, dass die Monografie als studentische Forschungsarbeit eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des politischen Theaters versäumt, wird Theater hier allein als literarischer Text in den Blick genommen. Formen und Funktionen der Kritik, die sich erst aus dem Bühnentext erschließen lassen, bleiben unbeachtet. Im englischsprachigen Wissenschaftsraum befasst sich zudem George (1992) in The Modern Brazilian Stage mit engagiertem brasilianischem Theater der 1960er-Jahre.23 Vorherige Forschungsarbeiten wie die 1982 erschienene Monografie Politisches Theater in Lateinamerika von Heidrun Adler, Die Entwicklung des Theaters der Unterdrückten seit Beginn der achtziger Jahre von Helmut Wiegand (1999) und Von der Politisierung des Theaters zur Theatralisierung der Politik von Till Baumann (2006) konzentrieren sich allein auf Augusto Boal und sein teatro do oprimido.24 Dieser geografische und zeitliche Fokus lässt sich auch für die brasilianische theaterwissenschaftliche Forschung zu politischem Theater konstatieren. 22 | Wie in Kapitel 2.1.2 ausführlich beschrieben, folgt diese Arbeit terminologisch Poschmann, die anstelle des Begriffs des Dramas für „Theatertext“ (Poschmann, 1997: 40) plädiert. 23 | Von George stammt zudem eine der wenigen englischsprachigen Monografien, die sich mit brasilianischem Theater um die Jahrtausendwende befassen: In Flash and Crash Days: Brazilian Theatre in the Post-Dictatorship Period (2000) untersucht er das Werk von Regisseur und Dramatiker Gerald Thomas sowie der Autorinnen Maria Adelaide Amaral und Edla van Steen. 24 | Im Ibidem Verlag ist sogar eine eigene Reihe, „Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten“, erschienen. Auch in The Routledge Reader in Politics and Performance (2000: 32-36) ist Augusto Boal als einziger lateinamerikanischer Theaterpraktiker vertreten. Dieser Fokus auf Boal ist vor dem Hintergrund der großen Verbreitung, die seine Theaterpraxis bis heute in Europa gefunden hat, wenig überraschend.

Einleitung

Ebenso wie der Großteil der deutschen, konzentrieren sich auch die in Brasilien außerhalb Salvador da Bahias entstandenen Arbeiten auf Theatergruppen in Rio de Janeiro und São Paulo in den 1960er- und 1970er-Jahren (vgl. z.B. Costa, 1996 und 2001; Mostaço, 198225; Garcia, 1990; J. Boal, 2000; Gullar, 1980; G. Santos, 2008; Peixoto, 1982; Magaldi, 1997; Michalski, 1985; Reis, 2006). Auf diese Werke, die allerdings mit wenigen Ausnahmen26 keine systematischen Aufführungsanalysen aufweisen, sondern auf Zeitungskritiken, Interviews und Theatertexten basieren, greift die vorliegende Arbeit zur Schilderung der nationalen historischen Anknüpfungspunkte des gegenwärtigen politischen Theaters in Salvador zurück. Über diese sich dezidiert dem politischen Theater widmenden Arbeiten hinaus lässt sich seit der Jahrtausendwende zudem eine geringe Anzahl an Studien verzeichnen, die das brasilianische Theater aus Sicht der postcolonial studies in den Blick nehmen. In dem von 1998 von Heidrun Adler und Kati Röttger herausgegebenen Sammelband Geschlechter. Performance, Pathos, Politik. Das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Autorinnen gibt María Kühner einen Überblick über brasilianische Dramatikerinnen und versucht, allgemeine Aussagen zum „weiblichen Gesicht“ (Kühner, 1998: 164) brasilianischer Theatertexte abzuleiten. Die 2005 erschienene Dissertation Szenisches Verhandeln von Uta Atzpodien analysiert postkoloniale Aushandlungsprozesse in Aufführungen der Theatergruppen Companhia de Latão (São Paulo), Teatro da Vertigem (Rio de Janeiro) und der Künstlerin Denise Stoklos (São Paulo).27 Wenn auch die Studie von Atzpodien deutlich umfangreicher und detaillierter ausgearbeitet ist als der kurze Aufsatz von Kühner, verzichten beide Arbeiten auf eine aus Sicht der Verfasserin der vorliegenden Studie unbedingt notwendige kritische Dis-

25 | Teatro, Oficina e Opinião ist bereits 1982 erschienen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Restriktionen der Militärdiktatur im Vergleich zu den 1970er-Jahren zwar bereits deutlich gelockert, dennoch sind die Aussagen von Mostaço weiterhin unter dem Einfluss der Militärdiktatur zu interpretieren, gleiches gilt für Peixoto (1982) und Gullar (1980). 26 | Eine Ausnahme ist beispielsweise Julian Boal, der in As imagens de um teatro popular (2000) detailliert die Figurenkonstellationen in den Aufführungen des Centro Popular de Cultura nachweist (vgl. J. Boal, 2000: 85-120; siehe Kapitel 2.2.2.1). 27 | Erst zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Atzpodien ist 2015 mit Rito, participação e movimento no Teatro contra a Barbárie. Processos de ritualização no Teatro Alternativo em São Paulo na primeira década do século XXI von Sambaquy-Wallner die nächste im engeren Sinne wissenschaftliche Monografie erschienen, die sich dezidiert dem brasilianischen Theater widmet.

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kussion der Anwendbarkeit der postkolonialen Theorie auf den brasilianischen Kontext.28 Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass die vorliegende Arbeit mit ihrem Forschungsgegenstand an einer für die internationale Theaterwissenschaft zu konstatierenden Forschungslücke ansetzt. Während sie zur Beschreibung des lokalen Forschungskontextes an zahlreiche brasilianische Studien anknüpfen kann, muss sie für theoretische Konzepte des politischen Theaters auf Arbeiten zurückgreifen, die in der deutschen Theaterwissenschaft zunächst mit Blick auf den europäischen Raum entwickelt wurden. Von besonderer Bedeutung ist hier Erika Fischer-Lichte, die in ihrem Beitrag zu politischem Theater für das Metzler Theaterlexikon (2005) die zahlreichen in der wissenschaftlichen Literatur vorliegenden Definition des politischen Theaters zu vier Begriffen zusammenfasst, von denen zwei die Grundlage für die Typologie der vorliegenden Arbeit bilden.29 Für die Bestimmung der beiden Typen geht die vorliegende Arbeit mit Poschmann und Lehmann auf die beiden Theaterwissenschaftler zurück, deren Werke Der nicht mehr dramatische Theatertext (Poschmann, 1997) und Postdramatisches Theater (Lehmann, 2011 [1999]) – im Fall von Lehmann auch international30 – als maßgebliche Studien für die Unterscheidung zwischen dramatischen und postdramatischen Theaterformen 28 | Anstatt die kulturwissenschaftliche Diskussion um die Unterschiede in der angelsächsischen und französischen Kolonisation gegenüber dem iberischen System aufzunehmen und zu diskutieren (siehe Kapitel 2.1.4), schließt Atzpodien von dem Vorhandensein von ihr als postkolonial beschriebener „Phänomene“ (Atzpodien, 2005: 53) in Brasilien auf eine insgesamt „(post-)koloniale Prägung der brasilianischen Gesellschaft“ (ebd.). 29 | Insgesamt ist die Forschung zum politischen Theater im deutsch- und englischsprachigen Raum sowohl zu einzelnen Theatermachern wie Erwin Piscator (z.B. Brauneck, 2003: 407-425; Wannemacher, 2004) und Bertolt Brecht (z.B. Hecht/ Knopf/Mittenzwei/Müller, 1991-1994) als auch zum übergreifenden Begriff des politischen Theaters überaus umfangreich (vgl. u.a. Castri, 1973; Melchinger, 1974a und 1974b; Arntzen, 2000; Barnett, 2005; Brauneck, 2003: 462-500; Doll, 2000; Gilcher-Holtey, 2006; Haas, 2005a, 2005b und 2007; Hockenbrink, 2008; Kraus, 2007; Patterson, 2003; Lehmann, 2002b, Deck/Sieburg, 2011). 30 | Auch in Brasilien wird das Werk von Lehmann umfangreich rezipiert. O Teatro Pós-Dramático ist im Jahr 2007 erstmals auf Portugiesisch erschienen und wurde 2011 in zweiter Auflage veröffentlicht. Die Veröffentlichungen seines Artikel Teatro pós-dramático – doze anos depois in der Revista Brasileira de Estudos da Presença im Dezember 2013 und das Interview in der Revista Sala Preta der Universidade de São Paulo zum Thema Teatro pós-dramático e processos de criação e aprendizagem da cena, ebenfalls im Jahr 2013, zeigen, dass das Konzept des postdramatischen Theaters weiterhin Relevanz besitzt.

Einleitung

gelten. Methodisch greift die Arbeit wiederum auf Fischer-Lichte zurück, die mit Semiotik des Theaters (1983a, 1983b, 1983c) sowie Ästhetik des Performativen (2004) und Performativität (2012) für beide anzuwendenden methodischen Instrumente ebenfalls Standardwerke verfasst hat.

Aufbau und Vorgehensweise Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile: die Bestimmung der theoretischen Grundlagen und Begriffe, die kontextspezifische Einbettung sowie Festlegung der methodischen Instrumente und die Analyse und Interpretation von Aufführungen des politischen Gegenwartstheaters in Salvador da Bahia. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und eingeordnet. Um beschreiben zu können, welcher Strategien sich das Theater in Salvador da Bahia bedient, um auf gesellschaftspolitische Diskussionen einwirken zu können, werden im ersten Teil der Arbeit zunächst die wissenschaftlichen Begriffe definiert, mit denen sich das zu untersuchende Theater und seine verschiedenen Ausprägungen beschreiben lassen. In Kapitel 2 wird daher zunächst eine theoretische Bestimmung des Begriffs des politischen Theaters vorgenommen. Da sich die Studie an der Schnittstelle zwischen Theater- und Kulturwissenschaft verortet, greift sie dafür sowohl auf theaterwissenschaftliche Konzepte des dramatischen und postdramatischen Theaters als auch auf Begriffe der postcolonial studies und der Politikwissenschaft zurück, die sich zusammenfassend der Kulturwissenschaft zuordnen lassen. Kapitel 2.1 erarbeitet einen Begriff des politischen Theaters, der zwei unterschiedliche Typen umfasst, das dramatische und das postdramatische politische Theater. Dazu stellt es dar, dass sich der von Fischer-Lichte etablierte Begriff des politischen Theaters grundsätzlich zur Beschreibung beider Typen und eines abgrenzbaren Korpus eignet. Allerdings werden einige Präzisierungen vorgenommen, bevor er auf das politische Theater in Salvador da Bahia angewandt werden kann. Um den gewählten Begriff zu illustrieren und Anschlussmöglichkeiten für eine abschließende kontextübergreifende Einordnung der in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden Aufführungen zu schaffen, stellt Kapitel 2.2 internationale und nationale Vorläufer und Einflüsse des politischen Theaters in Salvador da Bahia vor. Dabei werden die vorgestellten Strömungen, Theatergruppen und Autoren jeweils dem dramatischen oder postdramatischen politischen Theater zugeordnet. Kapitel 3 widmet sich der Operationalisierung und Zuspitzung der in Kapitel 2 beschrieben theoretischen Grundlagen für den spezifischen Forschungsgegenstand. Dafür werden in Kapitel 3.1 zunächst der gesellschaftspolitische Kontext und die Situation von Theater in Salvador da Bahia beschrieben. Auch wenn beide auf jegliche Form von Theater entscheidenden Einfluss nehmen, ist die Darstellung der außertheatralen gesellschaftlichen Situation für das Verständnis eines Theaters, das gezielt auf gesellschaftspolitische Debatten ein-

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wirken möchte, von besonderer Relevanz. Kapitel 3.2 stellt anschließend die Kriterien für die Auswahl des Aufführungskorpus der vorliegenden Studie vor. Neben der Prüfung der Gültigkeit des in dieser Arbeit angewandten Begriffs des politischen Theaters sind dafür insbesondere forschungspraktische Überlegungen relevant, die für eine Konzentration auf Aufführungen des Teatro Vila Velha und des Theatro XVIII ausschlaggebend sind. Nach Anwendung aller Kriterien verbleiben elf Aufführungen für das Korpus. Bevor diese im dritten Teil der Arbeit untersucht werden, werden in Kapitel 3.3 die theaterwissenschaftlichen Analyseinstrumente vorgestellt. Der Abschnitt erläutert, dass eine Kombination der Instrumente der Theatersemiotik und der Performativität von FischerLichte benötigt wird, um sowohl dramatische als auch postdramatische Vermittlungsstrategien in den Aufführungen sichtbar zu machen. In Kapitel 4 werden die methodischen Werkzeuge auf die elf Theateraufführungen angewandt. Dabei werden die Aufführungen auf die dominante Vermittlungsstrategie untersucht und den in Kapitel 2 erarbeiteten Typen des dramatischen oder des postdramatischen politischen Theaters zugeordnet. Das Kapitel ist so aufgebaut, dass die erste und die letzte analysierte Aufführung, BAI BAI PELÔ und LATIN IN BOX, den jeweiligen Idealtypen des dramatischen bzw. des postdramatischen politischen Theaters am ehesten entsprechen. Die weiteren Aufführungen lassen sich zwar ebenfalls einem der beiden Typen zuordnen, weisen aber – in unterschiedlicher Intensität – auch Elemente des jeweils anderen Typus auf. Entsprechend werden sie im Aufbau des Kapitels relational zu den „Idealtypen“ verortet. In Kapitel 4.1 werden zunächst die Aufführungen analysiert, die sich dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen, da sie zur Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht vornehmlich Repräsentation nutzen. Die Analysen zeigen die Bandbreite der Themen und Formen, die im dramatischen politischen Theater Salvador da Bahias verhandelt werden. Dabei wird die Studie zeigen, dass innerhalb des Typus des dramatischen politischen Theaters eine weitere Unterscheidung anhand der Anzahl der in der Aufführung vorhandenen Bedeutungsebenen möglich wird: Aufführungen, die über eine zusätzliche, das politische Theater betreffende metatheatrale Ebene verfügen oder eine alternative Historiografie etablieren, werden in einem gesonderten Abschnitt behandelt. Kapitel 4.2 stellt anschließend die Aufführungen vor, in denen Präsenz zur Vermittlung der Wirkungsabsicht dominant ist und die sich entsprechend dem postdramatischen politischen Theater zuordnen lassen. Am Ende von Kapitel 4.1 und 4.2 werden jeweils die übergreifenden Merkmale und Funktionen des jeweiligen Typus zusammenfassend festgehalten und mit Blick auf die Theatergeschichte und den gesellschaftlichen Kontext eingeordnet. Der letzte Teil der Arbeit, Kapitel 5, leitet aus den Aufführungsanalysen typusübergreifende Merkmale und Funktionen des politischen Theaters in Salvador da Bahia um die Jahrtausendwende ab und ordnet sie in die internationale Diskussion um die Anwendung und Wirksamkeit dramatischen und postdra-

Einleitung

matischen Theaters in der Gegenwart ein. Es zeigt sich, dass kategorische Aussagen hinsichtlich der einen oder anderen Form für das politische Theater in Salvador da Bahia keine Gültigkeit besitzen. Stattdessen entspricht der Einsatz der beiden Vermittlungsstrategien den verschiedenen gesellschaftspolitischen Herausforderungen in Salvador da Bahia als Teil des Schwellenlandes Brasilien. Zudem werden im letzten Teil der Arbeit Anschlussperspektiven für weitere Forschungsarbeiten aufgezeigt. Ein Ausblick stellt Überlegungen zur weiteren Entwicklung des politischen Theaters in Salvador da Bahia an.

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2. Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Diese Arbeit widmet sich einer Ausprägung des Gegenwartstheaters in Salvador da Bahia, die als politisches Theater verstanden wird. Die Darstellung der Entwicklung verschiedener Formen politischen Theaters ist Voraussetzung dafür, dass der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit nicht nur unmittelbar kontextbezogen, sondern auch mit dem Blick auf nationale und internationale Entwicklungen eingeordnet werden kann. Der Begriff des politischen Theaters ist in der Theaterwissenschaft allerdings nicht einheitlich definiert. Daher wird er in den folgenden Abschnitten zunächst unter Einbezug politikwissenschaftlicher sowie dramatischer, postdramatischer und postkolonialer Konzepte theoretisch fundiert (Kapitel 2.1) und theaterhistorisch nachvollzogen (Kapitel 2.2). Dabei werden die maßgeblichen internationalen sowie die bedeutendsten brasilianischen Formen des dramatischen und postdramatischen politischen Theaters erläutert und die jeweilige Entwicklung beschrieben.

2.1 D ER B EGRIFF DES POLITISCHEN THE ATERS Die Auseinandersetzung mit so genanntem politischem Theater ist in der deutschsprachigen und internationalen wissenschaftlichen Literatur weit verbreitet. Einerseits gibt es zahlreiche Arbeiten, die ihren Fokus auf die „strukturelle Politizität“ (Fischer-Lichte, 2005c: 243f.), die Eigenschaft des Theaters als soziales, öffentliches Ereignis oder auf seine „anthropologische[n] Wirkungsansprüche“ (ebd.: 244), sein Einwirken auf die Zuschauer als Mitglieder der Gesellschaft legen. Der Begriff des politischen Theaters ist hier so breit angesetzt, dass jegliches Theater als „politisch“ beschrieben werden kann (vgl. u.a. Fischer-Lichte, 2005c: 242; Pavis, 1998: 277). Dieses Begriffsverständnis eignet sich zwar als Grundlage für Untersuchungen, welche die Frage nach politischen Eigenschaften des Theaters allgemein stellen, als Instrument zur Bestimmung eines Korpus ist es allerdings wenig hilfreich. Immer wenn, wie in dieser Arbeit,

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Politisches Theater in Brasilien

eine bestimmte Ausprägung von Theater in einem klar umrissenen örtlichen und zeitlichen Kontext im Zentrum stehen soll, bedarf es eines anderen Begriffsverständnisses, das politisches Theater als einen durch bestimmte Merkmale zu charakterisierenden Theatertypus versteht.1 Allerdings liegt – trotz oder gerade wegen der großen Anzahl an Studien – hinsichtlich der Merkmale, die den Typus des politischen Theaters ausmachen, kein einheitliches Verständnis vor. So wird politisches Theater, je nach Studie, definiert als sozialkritisch, engagiert, aktuell, didaktisch, appellativ, operativ, öffentlich, parteilich, eine Tendenz enthaltend und bezogen auf die Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens, auf Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse, ihre Legitimität und ihre Veränderung (Langemeyer, 1996: 102).

Nicht nur aufgrund dieser Bandbreite ist vor der Verwendung des Begriffs des politischen Theaters eine präzise und trennscharfe Begriffsbestimmung notwendig. Diese ist auch allgemein Voraussetzung dafür, dass eine aussagekräftige Typologisierung erstellt werden kann.

2.1.1

Politikwissenschaftliche Grundlagen

Fischer-Lichte weist darauf hin, dass „die Bestimmung des Begriffs [des politischen Theaters; Anm. SV] […] wesentlich davon ab[hängt], welcher Begriff des Politischen zugrunde gelegt wird“ (Fischer-Lichte, 2005c: 242). Zur Präzisierung des Politikbegriffs bietet sich eingangs eine etymologische Betrachtung an. „Politik“ geht laut Wörterbuch zur Politik zurück auf die griechischen Begriffe „polites“, mit dem Bürger des altgriechischen Stadt- und Gemeindestaats und deren Gemeinschaft beschrieben wurden, „ta politika“ als „das Öffentliche, Gemeinschaftliche, alle Bürger Betreffende und Verpflichtende“ (Schmidt, 2010: 604) und „politike techne“ als „Kunst der Führung und Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten“ (ebd.). Die ursprüngliche Definition von Politik ergibt sich daraus abgeleitet als Bezeichnung für das öffentliche Leben der stimmberechtigten Bürger eines Gemeinwesens, […] für die auf Ordnung und Führung dieses Gemeinwesens […] gerichteten Be-

1 | Beispiele für ein solches Verständnis finden sich in zahlreichen Studien, u.a. bei Arntzen (2000); Barnett (2005); Baumann (2006); Bradley (2006); Brauneck (2003: 392-407); Doll (2000); Gilcher-Holtey (2006); Haas (2005a, 2005b und 2007); Hokkenbrink (2008); Kraus (2007); Patterson (2003); Lehmann (2002a, 2002b), Deck (2011), Costa (1996, 2001); G. Santos (2008); Reis (2006).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

strebungen und die Institutionen der Willensbildung und Entscheidungsfindung über öffentliche Angelegenheiten (ebd.: 604f.).

Dieses Verständnis von Politik wird von Schmidt als „wertrational“ (ebd.: 606) bezeichnet, da es durch „Handlungsanweisungen für Regierende und Regierte“ (ebd.) in erster Linie der Wahrung des Gemeinwohls dienen soll. In diesem Sinne wurde es beispielsweise von Erwin Piscator, der von Fischer-Lichte als einer der Väter des politischen Theaters angeführt wird (vgl. Fischer-Lichte, 2005c: 242), seinem Werk Politisches Theater zu Grunde gelegt: [Der Mensch ist; Anm. SV] [E]in Lebewesen, das gemeinschaftsfähig, gemeinschaftsbedürftig und gemeinschaftsbildend ist und in der ‚Polis‘ lebt, das heißt: in einem Raum, in welchem die gemeinschaftlichen Funktionen und Interessen auf gemeinschaftlicher Grundlage geordnet sind. (Piscator, 1986: 350)

Die sich ausgehend von diesem ursprünglichen Verständnis entwickelnden, zahlreichen weiteren Politikbegriffe werden von Schmidt in drei weitere Strömungen eingeteilt.2 Das „neuzeitliche“ (Schmidt, 2010: 606), auf Niccoló Machiavelli zurückgehende Politikverständnis, das Machterwerb und Machterhalt und die Ausübung von Herrschaft in den Mittelpunkt stellt, wird von einem „prozessualen Politikverständnis“ (ebd.) abgegrenzt, wie es vor allem von Max Weber vertreten wird. Dieser versteht Politik als „Streben nach Machtanteilen oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“. (Weber, 1992 [1919]: 4) Das prozessuale Politikverständnis, d.h. die Bezugnahme auf Machtbeziehungen innerhalb von Dramen oder Theateraufführungen, ist in der theaterwissenschaftlichen Literatur zu politischem Theater besonders weit verbreitet. Unter anderem wird sie von Lehmann (2011) in seiner Beschreibung des postdramatischen Theaters angewandt. Vom prozessualen Politikverständnis grenzt Schmidt schließlich ein neueres, „problemorientiertes“ (Schmidt, 2010: 606) Politikverständnis ab, 2 | Auch die Politikwissenschaftler Regina Kreide und Andreas Niederberger, die Politik im von Gerhard Göhler, Matthias Iser und Ina Kerner herausgegebenen Sammelband Politische Theorie als einen von „25 umkämpften Begriffen“ (Kreide/Niederberger, 2010: 290) beschreiben, legen sich nicht auf eine einzige Definition fest, sondern beschreiben verschiedene Politikbegriffe entlang der Kontroversen „Politik als Handeln vs. Politik als institutionelle Ordnung“ (ebd.) und „Dissens oder Übereinkunft“ (ebd.: 296). Da in der Literatur zu politischem Theater allerdings weniger auf die in diesem Band genannten Konfliktlinien als auf die von Schmidt genannten Theorieschulen zurückgegriffen wird, werden die Erstgenannten in dieser Arbeit nicht weiter erläutert.

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Politisches Theater in Brasilien

das auf die Bewältigung fundamentaler Ordnungs- und Koordinationsprobleme in und zwischen komplexen Gesellschaftssystemen bei nicht vorauszusetzendem Konsens gerichtet ist […], bei Konflikten zwischen einer Vielzahl von Interessen so insb. die Theorie des Pluralismus, bei Spaltung der Gesellschaft in antagonistische soziale Klassen, so insb. die marxistische Analyse des Kapitalismus oder bei Vorhandensein der ‚Freund-Feind-Unterscheidung‘. (Ebd.)

Die „Freund-Feind-Unterscheidung“ bezieht sich auf das Politikverständnis von Carl Schmitt, der sie in seinem Werk Der Begriff des Politischen als „spezifisch politische Unterscheidung“ (Schmitt, 1996 [1932]: 26) einführte. Während das Freund-Feind-Schema in Arbeiten zum politischen Theater nur vereinzelt zu Grunde gelegt wird (vgl. z.B. Langemeyer, 1996: 111), kann ein marxistisches Politikverständnis3 wohl als die am weitesten verbreitete Grundlage von politischem Theater im 20. Jahrhundert gelten: Das russische Agitproptheater, das politische Theater von Piscator, das epische Theater von Bertolt Brecht, Teatro de Arena und das Centro Popular de Cultura setzen für ihre Arbeit ein marxistisches Geschichtsverständnis und eine Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen voraus (siehe Kapitel 2.2).4 In den 1970er-Jahren war das marxistische Politikverständnis unter den Akteuren des politischen Theaters in Europa so weit verbreitet, dass es als konstituierendes Merkmal für politisches Theater betrachtet wurde, „ponendosi astrattamente ‚a disposizione‘ dell’attività politica di sinistra“ (Castri, 1973: 10). Diesem Kriterium folgt diese Arbeit nicht: Auch wenn der marxistische Politikbegriff der Analyse der oben genannten Theaterformen zu Grunde gelegt werden muss, verspricht eine pauschale Anwendung im „nachideologischen Zeitalter“ (Topitsch, 1961: 15),5 am „end of history“ (Fukuyama, 1992) oder am „fin des grands récits“ (Lyotard, 1979: 7) keine gewinnbringenden Erkenntnisse mehr. Stattdessen wird für politische Systeme der Gegenwart ein neuer Politikbegriff gefordert (vgl. u.a. Meyer, 2003: 67f.; Patzelt, 2013: 21). Patzelt schlägt dafür eine breite Definition von Politik vor, die möglichst alle traditionellen Politikbegriffe umfassen, dabei aber „klar“ (vgl. Patzelt, 2013: 21) und „einfach“ (ebd.) bleiben soll:

3 | Ausführlich zum Marxismus vgl. beispielsweise Fetscher (1989). 4 | Castri zeigt zudem, dass eine marxistische Lesart auch für das théâtre de la cruauté von Antonin Artaud durchaus erkenntnisreich sein kann (vgl. Castri, 1973: 199-264). 5 | Zu Ideologie und Ideologien im nachideologischen Zeitalter vgl. Herkommer (1999).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Politik ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen (d.h. von ‚allgemeiner Verbindlichkeit‘) in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt. (Ebd.: 22)

In diesem Sinne wird der Begriff „politisch“ in dieser Arbeit verwendet und nicht etwa im Sinne von Aristoteles oder Hannah Arendt, die eine begriffliche Trennung von Politik im oben erläuterten Sinne und „dem Politischen“ als einer demokratischen „Verständigung der Vielen, über das, was ihnen gemeinsam ist“ (Meyer, 2003: 70) forderten. Dieses „qualifizierte“ (ebd.) Verständnis des Politischen wird von Meyer kritisiert, da es autoritäre bzw. nichtdemokratische Systeme als „unpolitische Politik“ (ebd.) bezeichnen würde. Der Begriff „Politik“ lässt sich damit deutlich von dem Begriff der „Gesellschaft“ abgrenzen. Diese wird verstanden als: Bezeichnung für ein soziales System, insbes. für Formen, Institutionen, Abläufe und Ergebnisse des dauerhaften, mehr oder minder geregelten Miteinanderlebens und -kommunizierens einer großen Anzahl von Menschen. (Schmidt, 2010: 300) 6

Während „Gesellschaft“ also alle Interaktionen innerhalb eines Menschenkollektivs umfasst, bezieht sich „Politik“ auf die Regelung dieser Interaktionen. Als „politisch“ sollen in dieser Arbeit somit all jene Handlungen7 gelten, die sich auf allgemein verbindliche Regelungen zwischen Gruppen von Menschen beziehen. Der Begriff „allgemeine Verbindlichkeit“ – nicht zu verwechseln mit konsensuell – trägt dabei der Rolle des Bürgers in modernen Demokratien Rechnung. Um das politische Handeln der Bürger zu bezeichnen, wird politikwissenschaftlich von „politischer Beteiligung“ beziehungsweise „political participation“ gesprochen als

6 | Wie auch beim Begriff der „Politik“ gibt es, je nach Theorieschule, von strukturfunktionalistischen über interaktionistische bis hin zu systemtheoretischen Ansätzen unterschiedliche Auffassungen des Gesellschaftsbegriffs (vgl. Schmidt, 2010: 300302). Da der Gesellschaftsbegriff nur zur Schärfung des Politikbegriffs verwendet werden soll, ist ein allgemeines Verständnis ausreichend. 7 | Handlung ist hier mit Weber zu verstehen als „ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) […], wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“. (Weber, 1980 [1921/22]: §1)

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Politisches Theater in Brasilien

all voluntary activities by individual citizens intended to influence either directly or indirectly political choices at various levels of the political system (Barnes/Kaase, 1979: 42). 8

Dieser Beteiligung kommt, insbesondere in demokratischen Systemen, große Bedeutung zu: as a societal value, participation is linked in so many ways to democratic government – rationality, control, responsiveness, flexibility, legitimacy, conflict resolution, to name only a few – that it can justifiably be regarded as one of the central pillars of such government (Barnes/Kaase, 1979: 30).

Dabei wird zwischen konventioneller, d.h. „legale[n], verfasste[n] oder nicht verfasste[n] Handlungen mit hohem Legitimitätsstatus, z.B. die Beteiligung an Parlamentswahlen“ (Schmidt, 2010: 614), und unkonventioneller politischer Beteiligung, d.h. „unverfasste[n] Beteiligungsformen unabhängig von ihrem Legalitäts- und Legitimitätsstatus, z.B. die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative, aber auch Formen des zivilen Ungehorsams wie Beteiligung an unangemeldeten Demonstrationen“ (ebd.), unterschieden. Barnes und Kaase führen als weitere Formen der „conventional political participation“ (Barnes/Kaase, 1979: 84) zudem politische Zeitungslektüre, politische Diskussionen, Mitarbeit in örtlichen Projekten oder Bürgerinitiativen, Mitgliedschaft in Parteien, Kontakte mit Politikern, Teilnahme an politischen Veranstaltungen und an Volksbegehren und Volksentscheiden an. Als „protest“ (ebd.: 80) zählen sie weiterhin Petitionen, Demonstrationen, Boykott, Besetzungen, Steuerstreiks, inoffizielle Streiks und Blockaden auf. In Brasilien gewannen sowohl konventionelle als auch unkonventionelle Formen der politischen Beteiligung in der Zeit des Übergangs von Militärdiktatur zur Demokratie in den 1980er-Jahren an Bedeutung: Nachdem große Teile der Bevölkerung in Massenprotesten ein Ende der Diktatur gefordert hatten und damit erstmals auch „die Rhetorik der Volksbeteiligung auf die Tagesordnung setzte[n]“ (Azevedo, 2006: 174f.), wurde in der Verfassung von 1988 konventionelle Partizipation als Bürgerrecht definiert (vgl. Constituição da República 8 | Political Action: Mass Participation in Five Western Democracies von Barnes/ Kaase, aus dem hier zitiert wird, ist zwar bereits 1979 erschienen, gilt aber weiterhin als Standardwerk zu Formen der politischen Partizipation (vgl. Geißel/Penrose, 2003: 3). Mit Blick auf den zeitgenössischen Untersuchungskontext dieser Arbeit ist zu beachten, dass sich auch neue Formen der Partizipation, z.B. über das Internet, entwickelt haben. Zudem wurde die Auflistung von Barnes/Kaase anhand westlicher Demokratien getroffen, es ist also denkbar, dass in Brasilien auch andere – konventionelle wie unkonventionelle – Formen der politischen Partizipation möglich sind.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Federativa do Brasil de 1988, Art. 1, § 1). Insbesondere auf kommunaler Ebene wurden zudem zahlreiche partizipative Programme eingerichtet (vgl. Azevedo, 2006: 175).9 Diese große Bedeutung von Bürgerbeteiligung hat sich allerdings nicht erhalten: Nach der Jahrtausendwende galt politische Partizipation – abgesehen von der rechtlich verpflichtenden Teilnahme an Wahlen – auf „äußerst schmale Sektoren der Bevölkerung beschränkt“ (ebd.: 167), insbesondere wenn die Partizipation über die Sphäre lokaler Projekte hinausgeht.10 Nachdem der Politikbegriff auf diese Weise zunächst politikwissenschaftlich als Handlung bestimmt wurde, welche sich auf allgemein verbindliche Regelungen zwischen Gruppen von Menschen bezieht, muss er, um für eine Typologisierung von Theateraufführungen nutzbar zu sein, auf die Theaterwissenschaften übertragen werden. Im Folgenden wird daher das hier entwickelte Verständnis von Politik auf das politische Theater übertragen. Dabei werden entsprechend der historischen Entwicklung zunächst Konzepte vorgestellt, welche sich dem dramatischen Theater zuordnen lassen. Schließlich werden postdramatische und abschließend postkoloniale Konzepte des politischen Theaters diskutiert.

2.1.2

Dramatische Konzepte des politischen Theaters

Während sich die späteren Analysen in dieser Arbeit allein auf Aufführungen konzentrieren (siehe Kapitel 4), schließt Kapitel 2, um einen umfassenden Überblick über die Entwicklung politischen Theaters geben zu können, auch Dramen ein. Die Arbeit folgt terminologisch Poschmann, die anstelle des Begriffs des Dramas für „Theatertext“ (Poschmann, 1997: 40) plädiert, um eher 9 | Ein Beispiel für ein derartiges Programm ist die Bürgerbeteiligung bei der Umsetzung des Stadtentwicklungskonzepts von Porto Alegre in den 1990er-Jahren. Zu einer ausführlichen und kritischen Analyse vgl. Mororó (2012). 10 | Azevedo unterscheidet zwischen „eingeschränkter oder instrumenteller Partizipation“ (Azevedo, 2006: 75) als Beteiligung der direkt Betroffenen an einem lokalen Projekt bzw. der Zuweisung lokaler Ressourcen und „erweiterte und neo-korporative Partizipation“ (ebd.) als Möglichkeit der Interessengruppen, direkt in die Konzeption von Programmen oder Politik einzugreifen. Die Form der Partizipation in Brasilien wird, insbesondere während der Redemokratisierung, der „eingeschränkten oder instrumentellen Partizipation“ (ebd.). zugeordnet. Die zweite, „erweiterte“ (ebd.: 185) Form der Partizipation, die „klassischen sozialen Bewegungen“ (ebd.) ist nach Azevedo in Brasilien nur gering ausgeprägt und kann außerhalb Mittel- und Oberklasse, kein Mobilisierungspotenzial entfalten. Es bleibt abzuwarten, wie sich die zunehmenden Proteste gegen die Regierung von Dilma Rousseff ab 2013 auf die politikwissenschaftliche Bewertung der brasilianischen Partizipation auswirken.

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Politisches Theater in Brasilien

unpräzise Ausdrücke wie „dramatisches Drama“ und „postdramatisches Drama“ zu vermeiden. Gleichzeitig umfasst der Begriff den „‚Doppelcharakter‘ […], welcher der Dramatik als Bestandteil der Inszenierung im Theater einerseits und als literarische Gattung im Textstatus andererseits eigen ist“ (ebd.: 41). Die Unterscheidung zwischen „dramatischen“ und „postdramatischen“ Konzepten orientiert sich ebenfalls zunächst an der von Poschmann vorgenommenen Unterscheidung zwischen „dramatischen“ und „nicht mehr dramatischen“ Theatertexten (vgl. Poschmann, 1997), die später von Lehmann (2011 [1999]) erweitert wird. Poschmann weist darauf hin, dass sich dramatische und postdramatische Theatertypen nicht ausschließen müssen: so kann es durchaus auch Aufführungen geben, in denen beide Formen miteinander kombiniert werden (vgl. Poschmann, 1997: 99, 255; vgl. auch Lehmann, 2011: 26).11 Welchem Typus Aufführungen, die über beide Strategien verfügen, zugeordnet werden, muss anhand der jeweiligen „Konstellation der Elemente“ (Lehmann, 2011: 26) entschieden werden. Als ausschlaggebende „Strukturelemente des Dramas“ (Poschmann, 1997: 23) definiert Poschmann „Dialog, Figuren und Handlung“ (ebd.). Das Drama wird von ihr als „repräsentational“ (ebd.), d.h. „die semantische Funktion des Zeichensystems nutzend“ (ebd.: 24), beschrieben. Im dramatischen Theater kommt dem Text bei der „Repräsentation von Welt“ (ebd.: 96)12 stets eine zentrale Rolle zu: Zur Erzielung der angestrebten Wirkung – ob Furcht oder Mitleid, politische Aktivierung, Empörung oder Versöhnung der Affekte – ist im dramatischen, also figurativnarrativen Theater das vornehmste Mittel die Fabel, deren Botschaft durch die Form maximal unterstützt oder akzentuiert werden kann. (Poschmann, 1997: 129f.)

11 | In diesen Fällen unterscheidet Poschmann anhand der „Funktionalisierung der strukturellen Merkmale“ (Poschmann, 1997: 99) den Typus der „kritischen Nutzung der dramatischen Form“ (ebd.) und gleichwertige „Mischformen“ (ebd.: 255). Auch Fischer-Lichte weist darauf hin, dass sich Repräsentation und Präsenz keineswegs ausschließen bzw. als gegensätzliche Begriffe verstanden werden sollen (vgl. FischerLichte, 2004: 255). Das Phänomen des Wechsels zwischen der Wahrnehmungsordnung von Repräsentation zu Präsenz und zurück in einer Aufführung bezeichnet Fischer-Lichte als „perzeptive Multistabilität“ (ebd.: 257). 12 | Poschmann folgt Rolf Schäfer (1988), der Repräsentation versteht als „das Prinzip einer Ästhetik einer imitativen Kunst, die […] Wirklichkeit (durchaus auch interpretierend) darstellt […]“ und von dem allgemeineren Begriff der „Mimesis“ abgrenzt (vgl. Poschmann, 1997: 26). Die vorliegende Arbeit zieht entsprechend ebenfalls den Begriff der „Repräsentation“ der „Mimesis“ vor.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Dabei weist Poschmann deutlich darauf hin, dass auch die mit der „Absolutheit des Dramas“ (ebd.: 68) brechenden Techniken des epischen Theaters der dramatischen Form zuzuordnen sind, da sie nicht das Prinzip der Repräsentation der dramatischen Form bzw. die „Geschlossenheit der dargestellten fiktionalen Welt“ (ebd.) infrage stellen. Theatertexte und Aufführungen, welche die strukturellen Merkmale des Dramas nutzen und so dem dramatischen Theater zuzuordnen sind, machen noch Ende der 1990er Jahre die Mehrheit aus (vgl. ebd.: 65). Das nach Fischer-Lichte in der Literatur dominierende Verständnis von dramatischem politischem Theater definiert dies anhand seiner gesellschaftspolitischen Themenstellung: Als politisch gilt ein Theater, das allgemeine gesellschaftliche Phänomene (z.B. Gemeinschaftsbildung, Krieg, Globalisierung), historische Ereignisse (wie die Oktoberrevolution) oder jeweils aktuelle politische Konflikte (z.B. Kampf um die Abschaffung des §218, Diskussion um Einwanderungspolitik) zum Gegenstand hat. (Fischer-Lichte, 2005c: 242)

Als besonders einflussreiche Beispiele dieser dramatischen „thematischen Politizität“ (ebd.: 244), bei der die genannten Themen auf der Bühne innerhalb der Fabel repräsentiert werden, können die Theaterformen von Erwin Piscator und Bertolt Brecht gelten (siehe Kapitel 2.2.1.2). Aber auch wenn die thematische Politizität als Unterscheidungsmerkmal für politisches Theater innerhalb des dramatischen Theaters weit verbreitet ist, greift es dennoch für Analysen zeitgenössischen Theaters gleich in zweierlei Hinsicht zu kurz: Die erste Unschärfe ergibt sich aus dem Verzicht, die Begriffe „gesellschaftliche Phänomene“, „historische Ereignisse“ und „politische Konflikte“ (s.o.) voneinander abzugrenzen. Das zweite Defizit des Kriteriums der thematischen Politizität folgt aus der mangelnden Bestimmung, in welcher Form eine Theateraufführung politische Themen „zum Gegenstand“ (s.o.) haben kann. Der in Kapitel 2.1.1 entwickelte Politikbegriff kann im Folgenden für die Präzisierung der ersten Unschärfe eingesetzt werden: Politik wurde in Abgrenzung von Gesellschaft als Handeln definiert, welches auf die allgemein verbindliche Regelung von menschlichen Interaktionen zielt. Wendet man den Begriff auf das Theater an, kann dramatisches politisches Theater somit erstens anhand des Kriteriums beschrieben werden, dass kollektive Herausforderungen anstelle von individuellen Schicksalen auf der Bühne abgebildet werden. Zweitens muss die Schilderung der kollektiven Herausforderung in Zusammenhang mit der Vorgabe oder Forderung von für die gesamte Gesellschaft geltenden Regelungen stehen. Nach diesem Kriterium kann beispielsweise das Thema der DREIGROSCHENOPER Brechts als politisch gelten, da die Fabel um MacHeath und

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Politisches Theater in Brasilien

Peachum nicht die individuellen Schicksale der Protagonisten, sondern den aktuellen Grundkonsens des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens kritisch hinterfragt (siehe Kapitel 4.1.1.3). Im Gegensatz dazu lässt sich beispielsweise die Fabel in Samuel Becketts EN ATTENDANT GODOT keineswegs eindeutig auf Regelungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens beziehen.13 Weiterer Präzisierungsbedarf ergibt sich, wie oben beschrieben, aus der Definition Fischer-Lichtes, dass politisches Theater politische Themen „zum Gegenstand“ hat – lässt sich dies doch als Reduzierung des politischen Elements auf eine reine inhaltliche Abbildung innerhalb der Theateraufführung verstehen. Gegen diese Beschränkungen ist einzuwenden: Der Stoff, das Thema allein macht kein Kunstwerk zu einem politischen; die Behauptung politischer Inhalte in einem Theaterstück oder in einer Inszenierung ist ästhetisch gesehen […] für ein Theater, das auf Politisches zielt, schlicht belanglos. Andernfalls wäre tatsächlich alles […] politisch, was auf politische Inhalte referiert. (Pilz, 2007: 50)

Auch wenn man das Urteil von Pilz der schlichten Belanglosigkeit (vgl. ebd.) der Inhalte für politisches Theater nicht teilen mag, ist seiner Kritik doch insofern zu folgen, als die Thematisierung politischer Inhalte als alleiniges Kriterium nicht ausreichen kann: Andernfalls müsste beispielsweise auch das naturalistische Theater als politisches Theater gewertet werden, beschreiben Stücke wie Hauptmanns DIE WEBER doch die schlechte Arbeitssituation einer gesamten Bevölkerungsgruppe und ihre Ausbeutung durch das Großbürgertum. Neben der Thematisierung kollektiver Konflikte im Hinblick auf allgemein verbindliche Regelungen soll in dieser Arbeit mit Pavis (1998: 277f.) daher die Vermittlung einer politischen Wirkungsabsicht als zweites aussagekräftiges Kriterium zur Beschreibung von dramatischem politischem Theater gelten.14 „Wirkung“ wird dabei mit Pavis verstanden als die „Einflüsse, die das Theater auf die Gesellschaft, auf ein konkretes Publikum oder auf einen einzelnen Zu-

13 | Auch Melchinger (1974b) führt in seiner Geschichte des politischen Theaters an, dass sich Beckett nicht mit politischen Themen befasse, schließt ihn in seine Untersuchung, die auch allgemein dem Verhältnis von Politik und Theater gilt, als „apolitischen“ (ebd.: 213) oder „antipolitischen Vorstoß“ (ebd.) jedoch ein. Damit zeigt sich, dass andere Begriffsverständnisse durchaus eine schlüssige politische Interpretation von E N AT TENDANT G ODOT zulassen können. 14 | Etwas später definiert auch Goodman (2000: 5) in The Routledge Reader in Politics and Performance politisches Theater als „theatre and performance work which attempts to reach out to inspire ideas as well as feelings, and which affects its audience in some way and urges social change“.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

schauer ausübt“ (Pavis, 2005: 393).15 Die in Theatertext und Aufführung formulierte Wirkungsabsicht lässt sich in dramatischen Theatertexten nach Pfister beispielsweise aus Figurenrede (vgl. Pfister, 1997: 94), der Hierarchisierung von Isotopien der Aufführung (vgl. ebd.: 98) oder durch die Gestaltung des Dramenendes16 erschließen (vgl. ebd.: 139).17 Als dezidiert politische Wirkungsabsicht muss diese nach der oben angeführten Politikdefinition ebenfalls auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens bezogen sein. Eine politische Wirkungsabsicht kann im Theater also beispielsweise durch die – direkte oder indirekte – Aufforderung zu politischer Partizipation formuliert werden. Dabei kann im Hinblick auf das dramatische politische Theater konstatiert werden, dass die Übermittlung der Wirkungsabsicht häufig mit einer Parteinahme verbunden ist: Ein Drama bezieht seine Wirkung und Bedeutung […] aus der Gestaltung des Kampfes von Ideenträgern, dessen Ausgang die Tendenz des Dramas bildet. (Piscator, 1928: 201)

15 | Diese Wirkungsabsicht, die auf die Veränderung konkreter politischer Gegebenheiten abzielt, ist nicht zu verwechseln mit der von Fischer-Lichte als „anthropologische Wirkungsansprüche von Theater“ (Fischer-Lichte, 2005c: 244) bezeichneten, allgemeinen Wirkung aller Theateraufführung auf den Zuschauer als Mitglied der Gesellschaft (siehe Kapitel 2.1). 16 | Pfister unterscheidet zwischen einem offenen und einem geschlossenen Dramenende: Während bei einem offenen Dramenende auf die Auflösung von Konflikten oder offene Fragen verzichtet wird (vgl. ebd.: 140), gilt für ein geschlossenes Dramenende: „Mit der Auflösung und Aufhebung aller faktischen Informationsdefizite und Diskrepanzen der Informiertheit korrespondiert auf der thematischen Ebene die Klärung oder Entscheidung aller Wertambivalenzen und -konflikte und damit die endgültige Fixierung der intendierten Rezeptionsgeschichte.“ (Ebd.: 138f.) Zum offenen und geschlossenen Drama vgl. Klotz (1999). 17 | Pavis grenzt den Begriff der Wirkung als „Effekte einer Aufführung“ (Pavis, 2005: 394) deutlich ab vom Begriff der „Rezeption“, der „Aneignung eines dramatischen Textes durch die Gesellschaft, das Publikum oder den Zuschauer“ (ebd.: 393f.). Pfister (1997) verwendet anstelle von Wirkungsabsicht dennoch den Begriff der „intendierten Rezeptionsperspektive“ (ebd.: 91). Dabei ist zu beachten, dass sich die intendierte Rezeptionsperspektive nach Pfister allein aus dem Dramentext ergibt – und damit weder zu verwechseln ist, mit der von Pavis angesprochenen Aneignung, noch mit der von Autor oder Regisseur angestrebten Wirkung seines Textes (vgl. ebd.). Der Nachweis einer solchen Intentionalität erscheint nicht zuletzt, da sich das Theater durch die „Kollektivität der Produktion“ (ebd.: 29) auszeichnet, grundsätzlich problematisch. Zur Vermeidung von Unklarheiten folgt diese Arbeit der Abgrenzung von Pavis.

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Dabei kann die Parteinahme sowohl affirmativ für das bestehende politische System als auch kritisch oder oppositionell sein (siehe Kapitel 2.1.1 und 2.2.1).18 Allerdings ist zu beachten, dass das politische Theater, auch wenn es sich nicht gegen die bestehende Regierung richtet oder systemüberwindend, also revolutionär ist, dennoch zumindest nominell eine Veränderung verfolgt. Die aus der Kombination der Kriterien „Thematisierung politischer Inhalte“ und „Nachweis politischer Wirkungsabsicht“ entstehende Trennschärfe des Begriffs des politischen Theaters zeigt sich, wenn erneut beispielhaft DIE WEBER herangezogen werden: Ließ sich das Drama hinsichtlich des Inhalts noch als politisches Theater beschreiben, lässt sich in ihm, über die Darstellung der Verhältnisse hinaus, nach den üblichen Lesarten keine transformatorische Wirkungsabsicht nachweisen (vgl. Simhandl, 2007: 190).19 Auch das Volkstheater, welches mit dem Theater von Erwin Piscator und dem Agitprop die Zielgruppe des Proletariats gemein hat (siehe Kapitel 2.2.1.1. und 2.2.1.2) und teilweise ebenfalls politische Themen diskutiert, verfügt über keine politische Wirkungsabsicht, obwohl es als wichtige Grundlage für verschiedene Ausprägungen politischen Theaters gilt (vgl. Garcia, 1990: 2f.): Quant aux intentions morales qu’on veut y joindre, aux leçons de bonté, de solidarité sociale, qu’on ne s’en embarasse point. Le seul fait d’un théâtre permanent, de hautes emotions communes et répétées, crée – pour un temps – un lien fraternal entre les spectateurs. (Rolland, 2003 [1902]: 98)

Einige Konzepte des politischen Theaters gingen in ihrer Definition über den Nachweis einer politischen Wirkungsabsicht sogar hinaus: So forderte beispielsweise Piscator zunächst, dass politisches Theater stets auch konkrete Reaktionen in der außertheatralen Wirklichkeit hervorrufen muss (vgl. Piscator, 1986: 350). Später erklärte er allerdings selbst, dass die Messbarkeit der Effekte aus der Sicht des Textproduzenten bzw. Regisseurs nicht erreichbar war: Das politische Theater scheint mir ein geeignetes Instrument zu sein, die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit zu untersuchen. [...] Auf Grund eines

18 | Asmuth (1990) bezeichnet politisches Theater aus diesem Grund insgesamt als „Tendenztheater“ (ebd.: 178), welches „das [sic!] Publikum nicht nur zur Erkenntnis verhelfen, sondern es zum Handeln bringen will“ (ebd.), und grenzt es vom „Ideentheater“ (ebd.) ab, das dazu dient, eine Philosophie zu realisieren. 19 | So ging es den Theatermachern im Naturalismus insbesondere darum, die Wirklichkeit möglichst genau abzubilden und den Zuschauern anhand der objektiven Schilderung der Zusammenhänge ein eigenes Urteil zu ermöglichen (vgl. Simhandl, 2007: 190).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Befundes soll die Gegenwart verändert werden. Ob dies gelingt – das liegt nicht mehr in den Möglichkeiten des Theaters. (Piscator, 1986: 361)

Pavis bestätigt die Schwierigkeit, Wirkungen einer Aufführung auf die Zuschauer zu messen, da diese sich nur „mehr oder minder direkt und unmittelbar manifestieren, […] aber großenteils auch unsichtbar und aufgeschoben [sind; Anm. SV]. […] Wirkungen von Theater sind streng genommen weder zählbar noch vorhersehbar“ (Pavis, 2005: 396). Entsprechend folgt diese Arbeit der Forderung, „den Schwerpunkt auf die Prognose, auf welchen Ebenen zentrale Wirkungen angesiedelt werden“ (ebd.), zu legen. Die Messung tatsächlicher Wirkungen bleibt mit Pavis sozialwissenschaftlichen Methoden vorbehalten.20

2.1.3

Postdramatische Konzepte des politischen Theaters

Wenngleich die dramatische Form auch im Gegenwartstheater zweifellos weiterhin Anwendung findet, lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend eine Hinwendung zu neuen Theaterformen beobachten, die nicht mehr über dominante „Prinzipien von Narration und Figuration“ (Poschmann, 1997: 177) verfügen. Zur Beschreibung derartiger Theaterformen hat sich der von Lehmann (2011 [1999]) geprägte Begriff „postdramatisches Theater“ durchgesetzt. Im folgenden Kapitel soll untersucht werden, wie der oben zunächst mit Blick auf dramatische Theatertexte entwickelte Begriff des politischen Theaters erweitert werden muss, um auch für postdramatische Theatertexte angewandt werden zu können. Während das dramatische Theater dem Prinzip der Repräsentation folgt (siehe Kapitel 2.1.2), zeichnen sich postdramatische Theaterformen durch eine Dominanz des Prinzips der Präsenz aus (vgl. Lehmann, 2011: 146). Präsenz, nach Kolesch die „Reflexion der besonderen Zeitlichkeit und Räumlichkeit ästhetischer Erfahrung“ (Kolesch, 2005: 251) sowie die Bezeichnung der „gemeinsamen Anwesenheit von Schauspielern und Publikum im Hier und Jetzt“ (ebd.), bedeutet im Zusammenhang mit einer Aufführung, dass Zeichen nicht 20 | Dennoch lässt sich auch bei der Anwendung eines soziologischen Instrumentariums nur begrenzte Aussagekraft hinsichtlich tatsächlicher politischer Wirkung von Theater vermuten: Eine Publikumsbefragung, die beispielsweise vor und nach der Aufführung die tatsächlichen Auswirkungen von Theateraufführungen auf politische Partizipation untersuchen wollte, bliebe doch auf den unmittelbaren Eindruck und bestenfalls den aktuell feststellbaren Willen zur Partizipation beschränkt. Dem könnte zwar prinzipiell mit einer Befragung des Publikums einige Wochen nach der Aufführung begegnet werden, dabei müsste jedoch der Einfluss des Faktors „Theater“ auf politisches Handeln isoliert werden. Dies wiederum dürfte methodisch kaum machbar sein.

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als Verweis auf eine Wirklichkeit verwendet, sondern als „performative Akte von Akteuren wie Zuschauern erfahren werden“ (ebd.).21 Die Sprache wird im postdramatischen Theater vom „Mittel dramatischer Repräsentation zum Objekt der Selbstreflexion“ (Poschmann, 1997: 99). Die nicht sprachlichen Zeichen werden dagegen aufgewertet: Rhythmen, Stimmungen und Bilder kommt im Vergleich zum dramatischen Theater größere Bedeutung zu (vgl. Lehmann, 2011: 262). Dem Zuschauer wird eine „verstehende Rezeption“ (Poschmann, 1997: 129) des Theatertextes verweigert: Anstelle einer eindeutigen Botschaft zeichnet sich postdramatisches Theater durch die „Mehrdeutigkeit von Figuren und Handlung“ (ebd.) aus, der Zuschauer muss sich die Bedeutung selbst erschließen. Nicht nur durch den Zwang, Handlung und Bedeutung der Aufführung selbstständig zusammenzusetzen (vgl. Lehmann, 2011: 150f.),22 sondern auch, indem postdramatisches Theater „nicht mehr einfach spektatorisch ist“ (ebd.: 182), konstatiert Lehmann allgemein eine Aufwertung und Aktivierung23 des Zuschauers: „Theater wird eine ‚soziale Situation‘, in der der Zuschauer erfährt, wie sehr es nicht nur von ihm selbst, sondern auch von den anderen abhängt, was er erlebt.“ (Ebd.: 183) Wegen des Verzichts auf unmissverständliche Botschaften wird das postdramatische Theater von einigen Autoren als unpolitisch im Sinne einer fehlenden Wirkungsabsicht beschrieben (vgl. u.a. Haas, 2007: 40f.; Laudahn, 2012: 43f.; zur Debatte vgl. auch Pilz, 2007: 50-57). Dem widersprechen in den letzten Jahren zahlreiche Autoren, die postdramatische Theaterformen nicht nur als eine, sondern, vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen sogar als einzige Möglichkeit aufzeigen, in der Gegenwart Theater mit politischer Wirkungsabsicht zu machen (vgl. u.a. Deck, 2011: 14; Lehmann, 2002a, 2002b und 2011; Hockenbrink, 2008; Primavesi, 2011: 41). Diese gesellschaftlichen Veränderungen umfassen zum einen den Aufstieg der Massenmedien, welche auf jegliches politische Ereignis in Echtzeit reagieren können und so dem dramatischen, auf politischen Inhalten basierenden Theater Informations- oder 21 | Zum Begriff der „Performativität“ siehe Kapitel 3.3.2. 22 | Poschmann (1997: 161) spricht in diesem Zusammenhang von der „Freiheit des Theaters“. 23 | Der Begriff der „Aktivierung“ wird in der vorliegenden Arbeit genutzt, um jene Elemente der politischen Wirkungsabsicht zu beschreiben, die darauf abzielen, den Zuschauer zu einer politischen Handlung in der Realität zu motivieren. Damit schließt die Arbeit beispielsweise an Brecht an, der für sein „epische Theater“ festhielt, dass es die Aktivität des Zuschauers wecken soll (siehe Kapitel 2.2.1.2). Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass sich eine Aktivierung des Zuschauers auch in anderen Formen des dramatischen und postdramatischen politischen Theaters nachweisen lässt, indem beispielsweise der Zuschauer verunsichert oder zu Entscheidungen gezwungen wird (siehe Kapitel 4.2.3).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Aufklärungsanspruch nehmen (vgl. Lehmann, 2002b: 31). Auch die politischen Prozesse selbst haben sich, im Vergleich zur Zeit des dramatischen politischen Theaters von Piscator oder Brecht, verändert. An die Stelle von Politik als „Ort von Utopie“ (Deck, 2011: 13) sind „Verhandlungen von Verwaltungsakten“ (ebd.: 12) getreten: Zum einen behaupten Regierungen die Erosion ihrer Gestaltungsmacht aufgrund globaler Sachzwänge. Zum anderen werden durch die Privatisierung öffentlicher Güter und Zuständigkeiten die Räume von Öffentlichkeit und politischer Auseinandersetzung immer kleiner. (Ebd.: 13)

Weitere Strukturmerkmale des zeitgenössischen Theaters, die laut Deck gegen die Umsetzung eines klassischen politischen Theaters sprechen, sind die veränderte „Funktion des Künstlers“ (ebd.) und seine eigene Einordnung in das gesellschaftliche System: Eine Systemkritik des bürgerlichen Künstlers würde in der bürgerlichen Gesellschaft stets eine Selbstkritik bedeuten (vgl. ebd.: 13). Ebenso gelte dies für das Publikum, aus Sicht von Deck in Deutschland mehrheitlich das „liberal eingestellte Bürgertum“ (ebd.), welches kein Interesse an einer direkten gesellschaftlichen Veränderung habe.24 Daher unterscheidet Deck zwischen „Politik“ und dem „Politischen“. Ersteres meint „konkrete Praktiken der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen sowie ihre diskursive Thematisierung […], Denken in Regierungslogiken und Problemlösungsstrategien, aber auch die Praxis der Kritik an staatlichen Maßnahmen“ (Deck, 2011: 25). Zweiteres umfasst „alle[s] Widerständige, das von der Politik nicht als relevant anerkannt wird“ (ebd.: 26). Grundsätzlich laufe ein Theater, das politische Konflikte aus der Realität thematisiere, Gefahr, das Publikum in seinen vorgefassten Meinungen nur zu bestätigen, statt Wahrnehmungsgewohnheiten zu brechen und Politik insgesamt zu hinterfragen (vgl. ebd.: 12f.). Nicht in der Politik, sondern im Politischen liege daher das Potenzial für ein Theater, das eine tatsächliche Veränderung der allgemein verbindlichen Regelungen des Zusammenlebens anstrebe, indem es Diskursgrenzen überschreite:

24 | Auch wenn die letzten beiden Argumente, welche die fehlende kritische Distanz des Künstlers und des Publikums zu ihrer eigenen gesellschaftlichen Klasse anführen, grundsätzlich plausibel erscheinen mögen, lassen sie sich doch, mit Blick auf die Geschichte, auch kritisch hinterfragen: So war beispielsweise Karl Marx zweifellos Mitglied des Bürgertums, das er bekämpfen wollte (zum Leben von Marx vgl. Fetscher (1999)). Daher wird in dieser Arbeit von der Stellung des Künstlers und des Publikums nicht a priori auf bestimmte Wirkungsansprüche des Theaters geschlossen.

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Politisch Theater machen heißt also nicht, dass man keine politische Haltung einnehmen will, sondern sich dieser moralischen Positionierung bewusst zu verweigern, um die Funktionsweisen von Politik zu thematisieren. (Ebd.: 28) 25

Dieses veränderte Verständnis von Politik und der Funktion von politischem Theater führt zu „neuen Politiken des Ästhetischen“ (Fischer-Lichte, 2005c: 245), einer Abwertung des Dargestellten gegenüber der Darstellungsweise: Dass politisch Unterdrückte auf der Bühne gezeigt werden, macht Theater nicht politisch. […] Politisch wird Theater kaum mehr durch die direkte Thematisierung des Politischen, sondern durch den impliziten Gehalt seiner Darstellungsweise. (Lehmann, 2011: 456f.; Herv.i.O.) 26

Die textbasierte inhaltliche Reflexion über politische Fragestellungen wird ersetzt durch die Unterbrechung und Aussetzung von diskursiven ästhetischen Regeln, die auf diese Weise hinterfragt werden (vgl. Lehmann, 2005: 471; vgl. auch Fischer-Lichte, 2005c: 245). Durch den Einsatz von Vermittlungsstrategien des postdramatischen Theaters, z.B. durch die Präsentation neuer ästhetischer Formen, soll der Zuschauer emotional „einen Schrecken, eine Verletzung von Gefühlen, eine Desorientierung“ (Lehmann, 2005: 473) erleben und auf diese Weise „auf seine eigene Anwesenheit“ (ebd.) aufmerksam gemacht werden.27 Allerdings ist zu beachten, dass nicht jegliche neue ästhetische Erfahrung – und damit jegliches postdramatische Theater – politisch verstanden werden kann:

25 | Auch Lehmann (2002a: 35; Herv.i.O.) argumentiert ähnlich: „Das Politische des Theaters [muss] gerade nicht als Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken sein.“ 26 | Deck hält fest: „Dennoch gibt es keinen Grund dafür, zeitgenössischen Arbeitsweisen vorzuwerfen, sie seien unpolitisch. Ihre Strategien und Taktiken, das Politische in den Blick zu nehmen, sind vielmehr weniger offensichtlich und funktionieren weniger auf der inhaltlich-textlichen Ebene. Damit ist nicht gesagt, dass sie sich nicht mehr mit politischen Thematiken beschäftigen. Trotzdem liegt der Fokus verstärkt auf der Art der Kunstproduktion selbst.“ (Deck, 2011: 13f.) 27 | Als Beispiel für ein solches Theater führt Lehmann B LASTED von Sarah Kane (UA 1995) an: „Gerade nicht in dieser öffentlichen Entrüstung über das Gezeigte und Gesagte oder, nachträglich betrachtet, in der öffentlichen Selbstentlarvung der Kritik, sondern im Wie der Darstellung des Stücks [ist; Anm. SV] das Politische, die politische Wirkung, die politische Substanz zu suchen. […] Die Unterbrechung des politischen Kalkulier- und Darstellbaren offenbart den Abgrund der politischen Rationalität und Diskursivität. Der Krieg – das ist nicht Bosnien im Fernsehen –, der Krieg ist hier. Hier, wo zugesehen, gesehen und gehört wird.“ (Lehmann, 2002a: 40)

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Solche Ansätze sind nicht per se politisch, aber sie bieten die Chance, das Politische im Theater dort aufzuspüren, wo die Leerstelle politischen Theaters ist: In der Situation des Theatermachens selbst, in seiner Produktion, Inszenierung und Rezeption. (Deck, 2011: 14)

Daher ist von Gewicht, dass der Bezug zum „vorgefundenen gesellschaftlichen Diskurs“ (ebd.: 28) bestehen bleibt. Dennoch zeigt sich das Politische erst „in der künstlerischen Haltung zum eigenen Material. Also in eine [sic!] klaren Positionierung, warum man in einer bestimmten Situation zu einen [sic!] bestimmten Thema ein bestimmtes Material auf eine bestimmte Weise generiert hat“ (ebd.). Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, wird der Zuschauer im postdramatischen Theater aufgewertet und aktiviert. Diese besondere Rolle des Zuschauers überträgt sich auf politisches Theater, das sich postdramatischer Strategien der Abwertung von Text, Repräsentation und Figuration bedient: Ein Theater, das den Zuschauer als Zeuge, Voyeur, Mitspieler ‚das Gewicht der Dinge‘ und seine Präsenz auf eine grundlegende ethische Weise‘ fühlen lässt, das ihm zeigt, dass er eine Haltung beziehen muss – und ihm diese Möglichkeit im selben Augenblick verweigert. Durch Verunsicherung, Irritation, Unterbrechung schafft er einen Möglichkeitsraum und erzeugt so einen ‚Haltungsdruck‘. (Malzacher, 2008: 51)

Weil sich das postdramatische politische Theater wie das postdramatische Theater insgesamt weigert, klare Botschaften vorzuformulieren, wird es für den Zuschauer möglich – und auch notwendig –, eine eigene Haltung zu entwickeln. Einige Aufführungen des postdramatischen politischen Theaters lassen darüber hinaus den Zuschauer durch besondere Bühnenräume und Interaktionen auch physisch Situationen erleben, welche die Haltung infrage stellen oder zum Ausdruck bringen (vgl. Deck, 2011: 15f.).28 Damit sich der in Kapitel 2.1.2 anhand dramatischer Theaterformen entwickelte Begriff des politischen Theaters auch auf postdramatisches Theater anwenden lässt, bedarf er vor dem Hintergrund dieser Überlegungen einer Ausweitung: Das Vorhandensein einer politischen Wirkungsabsicht kann zwar in beiden Fällen über die Zuordnung zum Typus „politisches Theater“ ent28 | Als Beispiel für eine derartige Zuschauerpartizipation nennt Deck (2011: 15f.) R UANDA R EVISITED von Hans-Werner Kroesinger, das den Genozid in den 1990er-Jahren in Ruanda thematisiert. Der Theatertext kombiniert wissenschaftliche Texte und historische Dokumente, zudem kann sich der Zuschauer eine Ausstellung von Bildern des Krieges ansehen, während er mit Essen und Trinken versorgt wird. Die Ausstellungssituation lässt den Zuschauer vollkommen selbst entscheiden, welche Bilder er betrachten möchte (vgl. ebd.).

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scheiden. Während für die Vermittlung im dramatischen politischen Theater allerdings dem Dargestellten besondere Bedeutung zukommt, tritt dieses im postdramatischen politischen Theater gegenüber der Darstellungsweise29 zurück. Die für dramatische Formen des politischen Theaters notwendige Repräsentation politischer Konflikte auf der Bühne ist für postdramatische Theateraufführung nicht ausschlaggebend, stattdessen steht das Erleben und Erfahren des Zuschauers im Vordergrund. Die in Kapitel 3.3 zu entwickelnden, methodischen Instrumente zum Nachweis der Wirkungsabsicht müssen sich daher grundsätzlich dazu eignen, sowohl im Dargestellten als auch in der Darstellungsweise die politische Wirkungsabsicht nachzuweisen. Je nachdem, welche Form der Vermittlung überwiegt, lassen sich die Aufführungen anschließend in eine der zwei Kategorien, „dramatisches“ oder „postdramatisches“ politisches Theater, einordnen.

2.1.4

Politisches Theater im postkolonialen Kontext

Während die Differenzierung zwischen dramatischen und postdramatischen politischen Theaterformen stark durch europäische Konzepte geprägt ist, macht der spezifische Kontext in Salvador da Bahia die Betrachtung einer zusätzlichen Facette politischen Theaters notwendig. In diesem Kapitel soll daher postkoloniales Theater als Sonderform des politischen Theaters untersucht werden. Dabei steht nicht die Zuordnung zu dramatischen oder postdramatischen Theaterformen im Vordergrund – postkoloniales Theater weist, wie das folgende Kapitel zeigen wird, Merkmale beider Formen auf –, sondern es soll mit Blick auf den späteren Untersuchungsgegenstand diskutiert werden, in welcher Weise sich der spezifische geografische und zeitliche Kontext auf politisches Theater auswirken kann. Im Vergleich zu den in Kapitel 2.1.2 und 2.1.3 bereits angeführten Beispielen des dramatischen und postdramatischen politischen Theaters in Europa weist der gesellschaftliche Kontext in Brasilien einen bedeutenden Unterschied auf: In der Kolonialzeit entstandene Machtstrukturen, die das Verhältnis der unterschiedlichen Ethnien ordneten, wirken in der Gesellschaft bis heute fort (siehe Kapitel 3.1.1).

29 | An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass eine strikte Unterscheidung zwischen „Dargestelltem“ und „Darstellungsweise“ nicht möglich ist, und sowohl im dramatischen als auch im postdramatischen politischen Theater „Inhalt“ und „Form“ stets gleichzeitig wirken und aufeinander Einfluss nehmen. Im Kontext der Nutzung von Repräsentation und Präsenz für die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht lässt sich allerdings, wie in Kapitel 2.1.2 und 2.1.3 beschrieben, eine unterschiedliche Akzentuierung beider Ebenen ausmachen.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Um Machtstrukturen in ehemals kolonisierten Gesellschaften und ihre Auswirkungen auf die Literatur zu beschreiben, haben sich im Kontext der angelsächsischen Kolonialgeschichte die postcolonial studies30 bzw. postcolonial literary theory etabliert: The idea of ‚post-colonial literary theory‘ emerges from the inability of European theory to deal adequately with the complexities and varied cultural provenance of postcolonial writing. […] Theories of style and genre, assumptions about the universal features of language, epistemologies and value systems are all radically questioned by the practices of post-colonial writing. (Ashcroft/Griffiths/Tiffin, 1989: 11)

Nach Lazarus (2004) lässt sich in wissenschaftlichen Arbeiten zum Postkolonialismus ein grundlegender Unterschied zwischen Arbeiten ausmachen, die den Begriff postkolonial als „periodizing term, a historical and not an ideological project“ (ebd.: 2) verstehen und Studien, die demgegenüber den Begriff als „fighting term, a theoretical weapon“ (ebd.: 4) verwenden. Auch wenn der erstere, temporale Ansatz sehr verbreitet ist (vgl. Ganguly, 2004: 162-178) und eine Behandlung Lateinamerikas als „modernity’s first born“ (Ashcroft, 1999) problemlos ermöglicht, ist es das politische „activist writing“ (Young, 2000: 241), das im Sinne von Homi Bhaba (2012 [1994]) und Gayatri Chakravorty Spivak (1999 [1988]) besondere Verbreitung gefunden hat: They [postcolonial critics; Anm. SV] formulate their critical revision around issues of cultural difference, social authority and political discrimination in order to reveal the antagonistic and ambivalent moments within the ‚rationalizations‘ of modernity. […] As a mode of analysis, it [the postcolonial perspective; Anm. SV] attempts to revise those nationalist or ‚nativist‘ pedagogies that set up the relation of Third World and First world in a binary structure of opposition. (Bhabha, 2012: 246; 248)

Auch in der Theaterwissenschaft findet sich die Unterscheidung zwischen postkolonialem Theater, das vorrangig anhand seiner zeitlichen Einordnung definiert wird (vgl. u.a. Balme, 2005: 248f. und 1995: 1), und Theater, das durch seinen Einsatz als „anti-imperial tool“ (Gilbert/Tompkins, 2002 [1996]: 1) als postkolonial eingeordnet wird, so z.B. als: Acts that respond to the experience of imperialism, whether directly or indirectly; acts performed for the continuation and/or regeneration of the colonized (and sometimes pre-contact) communities; acts performed with the awareness of, and sometimes the 30 | In der wissenschaftlichen Literatur werden sowohl die Schreibweisen „postcolonial“ bzw. „post-kolonial“ als auch „postcolonial“ bzw. „postkolonial“ verwendet, die Arbeit folgt hier u.a. Robert Young (2001), der auf den Bindestrich verzichtet.

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incorporation of, post-contact forms; and acts that interrogate the hegemony that underlies imperial representation. (Ebd.: 11)

Für eine Untersuchung politischer Inhalte und Wirkungsansprüche ist insbesondere dieses zweite Verständnis von postkolonialem Theater relevant.31 Nachdem in den ersten Werken zur postkolonialen Theorie auf eine Behandlung lateinamerikanischer Autoren bzw. des lateinamerikanischen Kontextes noch vollständig verzichtet wurde (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin, 1989; Williams/Chrisman, 1994), findet der Begriff in seiner politischen Form in jüngeren Arbeiten zur postkolonialen Theorie in Lateinamerika mittlerweile durchaus Anwendung, z.B. als collective expression of political rebellion against external aggressions, discrimination, marginality, and social inequality, as well as the search for social transformation and cultural integration. […] Economic inequality, political repression, and social injustice continue as functions of the surviving apparatus of neocolonial domination. (Moraña/Dussel/Jáuregi, 2008: 10f.)

Auch in Standardwerken wie Robert Youngs Postcolonialism: An historical introduction (2001) werden zahlreiche lateinamerikanische Gesellschaftskonzepte, darunter brasilianische Ansätze wie Oswald de Andrades „antropofagia“ (1928)32 und Roberto Schwarzs „misplaced ideas“ (1980 [1973])33 als Bestandteil 31 | In An Introduction to Post-Colonial Theatre (1996) wählen Crow und Banfield einen Mittelweg, indem sie einen, wenn auch nicht politischen, aber immerhin gesellschaftlichen Wirkungsanspruch postkolonialen Theaters formulieren: „;4=ODEkNEANDAFkRMTHEIR people’s cultural ‚personality‘ […], by recovering the past, freed from the biases of metropolitan or mainstream history, […] to expose the forces that still obstruct liberation […] whether these be the oppressions of dominant white society or the mendacity of ruling indigenous elites or attitudes and behavior ingrained within the oppressed themselves […], questioning the nature, status and effect of art and the artist in their societies […], and intimated where might be found the sources of cultural renewal.“ #ROW"ANkELD  32 | Zur antropofagia siehe Kapitel 2.2.2.3. 33 | Das Konzept der „misplaced ideas“ oder „idéias fora de lugar“ geht von einer Diskrepanz zwischen in und nach der Kolonialzeit von Europa importierten Wertvorstellungen und Ideologien („ideas“) und den Realitäten in Brasilien aus (vgl. Schwarz, 1980: 34). Dies wirkt sich auch auf die Kunst aus: „In the process of reproducing its social order, Brazil unceasingly affirms and reaffirms European ideas, always improperly. In their quality of being improper, they will be material and a problem for literature. The writer may well not know this, nor does he need to, in order to use them. But he will be off-key unless he feels, notes, and develops – or wholly avoids – this aspect.“ (Ebd.: 47)

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

postkolonialer Theorie ausgewiesen (vgl. Young, 2001: 201-203.). Auch Homi Bhabha weist darauf hin: „the postcolonial perspective […] departs from the traditions of the sociology of underdevelopment of the ‚dependency theory‘“. (Bhabha, 2012 [1994]: 248)34 Dennoch bewerten viele Theoretiker die Angemessenheit der Übertragung des ursprünglich auf den angelsächsischen Kontext bezogenen Begriffs des Postkolonialismus auf Lateinamerika kritisch.35 Sie betonen insbesondere die großen Unterschiede in der iberischen und angelsächsischen Kolonisationsgeschichte: They occurred at different historical moments; the colonizers belonged to different nations and to different classes within those nations, and the nations in turn occupied different international positions. Moreover, the ,distant territories‘ [the Iberian colonies; Anm. SV] were geographically distinct, the ,implantations‘ [the British colonies; Anm. SV] were accomplished through different financial and technological means, and the inhabitants had developed distinct social and cultural habits. Thus Latin American decolonization assumes an individual character, and generalizations about decolonization may not be relevant to Latin America. (Cólas, 1995: 383) 36

Auch die Rolle der Kreolen im iberischen Kolonisationssystem halten zahlreiche Autoren für ausschlaggebend für eine notwendige Differenzierung zwischen iberischer und angelsächsischer Kolonisation. Deren Teilhabe begünstigte in 34 | Zur Dependenztheorie vgl. z.B. Bernecker/Fischer (1995). Die Zusammenhänge zwischen Dependenztheorie und Postkolonialismus untersucht u.a. Brennan (2004). 35 | U.a. Klor de Alva, 1992: 4; Ashcroft, 1999: 7; Said, 1988: 243; Cólas, 1995: 383; Coronil, 2004: 221; Rössner, 2008: 43-58. Ebenso wird debattiert, ob Kanada, Neuseeland, Australien etc. als „white settler colonies“ (Lazarus, 2004: xivf.) als postkoloniale Gesellschaften bezeichnet werden können. Während Lazarus (2004) diese in seine Analysen nicht aufnimmt, sind sie beispielsweise in der Anthologie Postcolonial plays von Gilbert (2001) enthalten und werden auch von Banfield/Crow (1996) besprochen. 36 | Moraña, Dussel und Jáugeri (2008: 6) unterscheiden die Kolonialsysteme zudem hinsichtlich des Stellenwerts der Wirtschaft, des Absolutismus und der Religion: „To begin with, it should be taken into consideration that Latin American coloniality originates in the transoceanic adventures from which European modernity itself was born […] The conquest of overseas territories by peninsular powers […] is not the expression of the logistics of an imperialist search for transnational markets implemented from the centers of advanced capitalism – as it would be in the case with English and French territorial appropriations during the nineteenth and twentieth centuries – but, instead an unforeseeable outcome of adventurous commercial explorations, as well as function of political absolutism and religious expansionism.“

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Politisches Theater in Brasilien

den einschlägigen Gesellschaften einen besonderen Typus gesellschaftlicher Differenzierungen (vgl. Moraña/Dussel/Jáuregi, 2008: 7). Gleichzeitig war sie die Ursache für die Fortdauer sozialer und politischer Strukturen nach Erringung der Unabhängigkeit. Daher ist es schwierig: „to apply the terms colonial and independence to the new world without a careful consideration of the power structure and social organization of the colonies“ (ebd.; Herv.i.O.). Jorge Klor de Alva (1992), der sich als schärfster Kritiker des Kolonialismus und Postkolonialismus als „Latin American mirage“ (ebd.: 4) profiliert hat, kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss: Where there was no colonization there could be no postcolonialism, and where in a post-independence society no postcolonialism can be found, the presence of a preexisting colonialism should be put in question. (Ebd.)

Für den brasilianischen Fall kommt der Befund hinzu, dass es dort im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern keine umfangreichen Unabhängigkeitskriege gab.37 Bereits die Flucht des Hofes 1808 von Portugal nach Brasilien bewirkte, dass Brasilien von einer peripheren Kolonie zur „official site of its correspondent metropolitan monarchy“ (Moraña/Dussel/Jáuregi, 2008: 8) wurde, eine Entwicklung, die sowohl in Lateinamerika als auch in der angelsächsischen Kolonisationsgeschichte einzigartig ist. Indem es Kaiser Dom Pedro I. selbst war, der 1822 die Unabhängigkeit des Landes ausrief und die Herrschaft über Brasilien antrat, garantierte er, dass die Macht der adeligen Elite Portugals auch im Dekolonisationsprozess erhalten blieb (vgl. Bernecker, 2000: 136). Als weiteres bedeutendes brasilianisches Spezifikum von Kolonisationsund Dekolonisationsprozess kann schließlich die Multiplizierung der „Kolo37 | Dies bedeutet allerdings nicht, dass es in Brasilien keinerlei separatistische, gegen die portugiesische Herrschaft gerichtete Bewegungen gab. Als ein Beispiel gilt die Conjuração Mineira, die 1789 von der portugiesischen Krone niedergeschlagen wurde (vgl. Pietschmann, 2000: 122). Allerdings lässt sich die „Verschwörung“ kaum als von der breiten Bevölkerung getragene Widerstandsbewegung, sondern eher als Bewegung der Eliten und Mittelschicht klassifizieren – auch wenn der Verschwörer Tiradentes mittlerweile als Nationalheld verehrt wird. In Bahia ist, im Jahr 1798, die Conspiração dos Alfaiates, eine Verschwörung zur Abschaffung der Sklavenhaltung, Einrichtung einer Republik und Reduzierung der Steuern, zu nennen (Tavares, 2008: 179). Im Gegensatz zur Inconfidência Mineira zeichnete sie sich allerdings u.a. durch eine größere Heterogenität der Beteiligten aus (vgl. ebd.: 178). Auch nach der Unabhängigkeit gab es weitere, nun gegen den Süden des Landes gerichtete, separatistische Bewegungen: Von besonderer Bedeutung war hier die Sabinada (1837/1838), benannt nach dem Anführer Sabino, der eine República Baiana proklamierte (vgl. ebd.: 264-266).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

nialmächte“ in den iberischen Kolonien Lateinamerikas gelten. So hatte die Kolonialmacht Portugal im Vergleich zu England, Frankreich oder Spanien in Europa stets eine periphere Stellung und wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich immer stärker von Großbritannien abhängig. Auch in Brasilien wurde ab dem 19. Jahrhundert die portugiesische Dominanz von der wirtschaftlichen Macht Großbritanniens und den kulturellen Einflüssen Frankreichs abgelöst (vgl. Moraña/Dussel/Jáuregi, 2008: 9).38 Ab 1898 wurden diese wirtschaftlichen und kulturellen Hegemonialmächte wiederum durch die USA verdrängt (vgl. ebd.). Die Diagnose Rössners, der für Lateinamerika allgemein von zwei und für die Region Mexiko und Mittelamerika sogar von bis zu drei „heimlichen“ (Rössner, 2008: 44) Kolonialmächten spricht, kann somit durchaus auch für den brasilianischen Kontext Geltung beanspruchen. Auch Gilbert/ Tompkins konstatieren: In some cases, colonial relations between Europe and its periphery are now less central than those between relatively ‚new‘ world powers (such as the United States) and other (particularly third world) nations. […] Internal manipulations of socio-economic power by different cultural groups within a nation can add to these more recent instances of colonisation. As a result, the center-margin model for understanding imperialism can be problematic and, at times, inadequate, once many current forms of cultural domination intersect and interact. (Gilbert/Tompkins, 2002: 256)

Um Machtstrukturen im lateinamerikanischen Kontext präzise zu beschreiben, ist daher mindestens eine Reflexion und Modifikation der Konzepte der postcolonial studies notwendig. Anstelle binärer Machtbeziehungen zwischen Kolonisator und Kolonisiertem sind „complex hierarchies of power“ (ebd.) zu untersuchen. Als potenzielle Machtzentren sind nicht nur Portugal und Spanien, sondern auch andere Länder – und in diesen selbst wiederum einzelne Regionen – zu betrachten (vgl. ebd.: 260). Auch gilt es, den der postkolonialen Theorie häufig vorgehaltenen Irrtum zu vermeiden, sich allein auf Konzepte, die von einer englischsprachigen Elite in den Wissenszentren abseits der Peri-

38 | Zur Unterscheidung von „colonialism“, den er zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert verortet, und dem anschließenden „imperialism“ schreibt Brennan (2004: 136): „Although widespread and even concerted, it [colonialism; Anm. SV] tended to be pragmatic, occasional, unsystematic. […] Under imperialism, the cultural institutions in a foreign country that serve the imperial center are no longer run by the imperial center itself (at least directly). A whole sector of ‚native‘ intellectuals and élites inherited from the colonial era, identify with the imperial center, and carry out its wishes either out of conviction or through pay-offs, bribery, personal networks or affiliation, and so on.“

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pherien entwickelt wurden, zu stützen (vgl. Appiah, 1991: 348).39 Autoren wie Coronil (2004: 228f.) empfehlen aus diesen Gründen, die angelsächsischen Theorien des Postkolonialismus auf lateinamerikanische Länder zwar anzuwenden, darüber hinaus fordert er, die spezifischen lateinamerikanischen Konzepte, wie „culturas híbridas“ von Canclini (2001 [1989]), „transculturación“ von Fernando Ortiz (2002 [1940]), „coloniality of power“ von Anibal Quijano (1992) oder „posoccidentalismo“ von Walter Mignolo (2002a) nicht zu ignorieren.40 Die genaue Zusammenstellung der theoretischen Werkzeuge ist stets dem spezifischen Kontext anzupassen (vgl. ebd.: 229).41

39 | Appiah (1991: 348) spricht in diesem Zusammenhang von einer „comprador intelligentsia“. Dirlik (1994) geht sogar so weit, Postkolonialismus als „the condition of the intelligentsia of global capitalism“ (ebd.: 356) zu bezeichnen. Lazarus (2004: 5f.) entgegnet dieser Kritik allerdings überzeugend, dass sie die soziale Verortung der postkolonialen Wissenschaftler ungerechtfertigt mit deren „political and philosophical position“ (ebd.: 6) verwechselt. 40 | Mit der Beschreibung lateinamerikanischer Länder als „culturas híbridas“ versucht Canclini, eine Methode für eine „kritische Beschreibung von hybriden Kulturen jenseits vereinfachender Dichotomien wie der von modern und traditionell oder urban und ländlich“ (Hepp, 2009: 169) zu finden. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist insbesondere der Begriff der „poderes oblicuos“ (Canclini, 2001: 314-318) relevant: „Es geht ihm [Canclini; Anm. SV] also um eine Blickverschiebung weg von einer vertikalen (Zentrum vs. Peripherie) hin zu einer bipolaren Konzeption von Macht (Machtnetzwerke), die von dezentrierten als auch mehrfachdeterminierten Machtverhältnissen ausgeht.“ (Hepp, 2009: 169) Zu den weiteren Unterschieden der Hybriditätskonzepte von Bhabha und Canclini vgl. ebd.: 170. Im Zentrum der „coloniality of power“ steht die Wahrnehmung von Kolonisierung als Unterdrückung der Wissens- und Vorstellungswelt der Kolonisierten: „[C]onsiste, in primer término, en una colonización del imaginario de los dominados.“ (Quijano, 1992: 438). Quijano fordert entsprechend eine „descolonización epistemológica para dar paso a una nueva comunicación intercultural, a un intercambio de experiencias y de significaciones, como la base de otra racionalidad que pueda pretender, con legitimidad, alguna universalidad“ (ebd.: 447). Der Begriff „posoccidentalismo“ wird von Mignolo, ausgehend von Retamar, alternativ zu „poscolonialismo“ verwendet (vgl. Mignolo, 2002a: 848), als „respuesta crítica, desde los legados coloniales en América Latina, al proyecto de la modernidad en la distribución de la labor intelectual y científica en la última etapa de occidentalización“ (ebd.: 854). Das Konzept der „transculturación“ bezieht sich auf den karibischen Kontext (vgl. Ortiz, 2002 [1940]) und soll daher nicht näher erläutert werden. 41 | Für den deutschen Kontext sei in diesem Zusammenhang noch Alfonso de Toro genannt, der Lateinamerika als „periphere postkoloniale Postmoderne“ (de Toro, 1999: 51) bezeichnet und für ein „rhizomatisches Denken“ (ebd.) plädiert, mit dem

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Wichtig für diese Arbeit ist diese Debatte insoweit, als dass sie Rückschlüsse auf die gesellschaftliche und politische Einbettung des politischen Theaters und auf diesem Wege auch auf die politischen Inhalte und die politische Wirkungsabsicht erlaubt. Diese Arbeit ist daher mit Coronil einem „tactical postcolonialism“ (ebd.: 240) verpflichtet, der die Unterordnung von und Selektion lateinamerikanischer Phänomene anhand der postkolonialen Theorie vermeidet: Tactical postcolonialism serves to open up established academic knowledge to-wards open-ended liberatory possibilities. It conceives ‚postcolonialism‘ not as a fenced territory but as an expanding field for struggles against colonial and other forms of subjection. (Ebd.) 42

Für diese Arbeit bedeutet die Verwendung des tactical postcolonialism, dass Theateraufführungen auch auf Themen und Wirkungsansprüche untersucht werden, die sich erst durch eine postkoloniale Lesart als politisch entpuppen. Diese lassen sich auf allen Zeichenebenen finden: Balme zählt beispielsweise die „Auseinandersetzung mit dem europäischen Theaterkanon im Sinne einer Relektüre“ (Balme, 2005: 250), die Einbindung „indigene[r] Rituale, Zeremonien oder Feste“ (ebd.), die „Intensivierung non-verbaler Ausdrucksmittel“ (ebd.), „Raumexperimente“ (ebd.) zur Etablierung „indigener raum-semantischer Vorstellungen“ (ebd.) und die Entwicklung „alternativer Historiographien“ (ebd.) als Elemente postkolonialen Theaters auf.43 Um als postkolonial im politischen Sinne zu gelten, muss beispielsweise die Relektüre, auch als „re-citing the classics“ (Gilbert/Tompkins, 2002: 15) oder „rewriting“(ebd.: 16)44 bezeichnet, über einen politischen Wirkungsanspruch verfügen: „die Bipolarität von Zentrum/Peripherie und Hegemonie/Dependenz“ (ebd.) überwunden werden kann. 42 | Ähnlich argumentiert auch Rössner (2008: 44): „Hier soll uns aber nicht die Frage beschäftigen, ob man die lateinamerikanischen Länder als post-koloniale Gesellschaften in vollkommener Analogie zu Zimbabwe oder Pakistan ansprechen darf, sondern vielmehr die der Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung bestimmter von den ‚Post-colonial‘-Theoretikern entwickelter Denkmodelle und Betrachtungsweisen auf die kulturelle Situation in Lateinamerika.“ 43 | Wie oben beschrieben, verwendet Balme hier wie auch in seinem Werk Theater im postkolonialen Zeitalter (1995) allerdings eine Definition von Postkolonialismus, die diesen weniger als politisches Projekt, denn temporal versteht: Postkolonial sind für ihn „von einheimischen Künstlern geschaffene Theaterformen, die aus der Interaktion zwischen der ‚westlichen‘ – d.h. überwiegend europäischen – Theatertradition und indigenen Darstellungsformen resultieren“ (Balme, 1995: 1). 44 | „Rewriting“ umfasst nach den Autoren die Bearbeitung von Klassikern der hegemonialen Kultur auf eine Weise, dass diese stärker auf den lokalen Kontext bezogen

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Politisches Theater in Brasilien

Not all texts that refer to canonical models are counter-discursive. Intertextuality – where one text makes explicit or implicit references to other texts or textual systems – does not necessarily entail a rewriting project. While all counter-discourse is intertextual, not all intertextuality is counter-discursive. By definition, counter-discourse actively works to destabilise the power structures of the originary text rather than simply to acknowledge its influence. (Ebd.; Herv.i.O.)

So kann die Zitation oder Adaptation europäischer, aber auch afrikanischer oder US-amerikanischer Dramen, Figuren und Bühnenkonventionen im Theater von Salvador da Bahia Ausdruck eines politischen Wirkungsanspruches sein – muss es allerdings nicht. Ob beispielsweise die Adaptation der DREIGROSCHENOPER (siehe Kapitel 4.1.1.3) einen postkolonialen „counter-discourse“ (ebd.) bildet, ergibt sich erst aus der Gesamtschau der Elemente der Aufführung. Dies gilt auch für die Präsentation von Ritualen oder Festen wie Karneval auf der Bühne: Nicht die alleinige Präsentation oder Einbindung traditioneller Elemente wird als politisch verstanden, sondern erst die besondere Art des Einsatzes, etwa als „symbols of liberty“ (ebd.: 76). Auch dem Akt der Erinnerung und der Erzählung auf der Bühne bzw. die „Entwicklung alternativer Historiographien“ (Balme, 2005: 250) können besondere Bedeutung zukommen, weshalb sie bei einer Analyse des politischen Theaters in Brasilien besondere Aufmerksamkeit verdienen. Bei einer Analyse politischen Theaters im postkolonialen Kontext kommt zudem dem Begriff der „Rasse“ als „basic principle for classifying and ranking people all over the planet“ (Mignolo, 2002b: 83) besondere Bedeutung zu: Colonialism and imperialism, unlike other forms of subjugation, are not based on rank and privilege alone […] One can feel that one belongs to the dominant group simply by virtue of one’s race (the racial identity that is preponderant in the home territory), one’s nationality (whether one is a citizen of the conquering country), or one’s cultural identity. (Brennan, 2008: 134)

und ihre allgemein gültige Autorität infrage gestellt wird, indem beispielsweise eine Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt wird (vgl. Gilbert/Tompkins, 2002: 16). Marx (2004) unterscheidet in diesem Zusammenhang von postkolonialer Literatur und westlichem Kanon die Strategien „repudiation“ (ebd.: 85) und „appropriation“ bzw. „revision“ (ebd.: 83). Als anschauliches Beispiel für die Zurückweisung des europäischen Kanons nennt sie die im Jahr 1968 in Kenia vom Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o erhobene Forderung, das English Department an der Universität Nairobi abzuschaffen und sich stattdessen regionalen Literaturen zu widmen (vgl. ebd.: 85).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Damit unterscheidet sich das postkoloniale politische Theater vom europäischen politischen Theater, in dem Rassen- bzw. ethnische Zugehörigkeit, wenn überhaupt, nachrangig gegenüber der Klassenzugehörigkeit behandelt wurde (siehe Kapitel 2.2.1). Auf der Bühne kann sich eine besondere Bedeutung von „Rasse“ beispielsweise in einer hervorgehobenen Stellung des Körpers manifestieren: In general, the post-colonial body disrupts the constrained space and signification left to it by the colonisers and becomes a site for resistant inscription. […] The colonial subject’s body contests its stereotyping and representation by others to insist on self-representation by its physical presence on stage. (Gilbert/ Tompkins, 2002: 204)

So kann dem Tanz im postkolonialen Kontext besondere Bedeutung zukommen, indem durch ihn der „rassisch“ kategorisierte Körper in den Mittelpunkt gestellt wird (ebd.: 239). Gilbert/Tompkins unterscheiden zwei unterschiedliche, im postkolonialen Kontext häufig zu beobachtende Strategien: zum einen die Betonung von „racial difference […] designed to recuperate marginalized subjects“ (ebd.: 206), zum anderen die Dekonstruktion45 von Rassenzugehörigkeit (vgl. ebd.: 208). Allein die Darstellung des gesellschaftlichen Anderen auf der Bühne kann im postkolonialen Kontext als politischer Akt gewertet werden, wenn dieses einer Tradition des Ausschlusses widerspricht (vgl. ebd.: 207).46 45 | Die „Praxis der Dekonstruktion“ (Moebius 2009: 427) geht auf Jacques Derrida (1998 [1967]) zurück und bezeichnet allgemein „[d]ie Aufdeckung und das Sichtbarmachen des Ausgeschlossenen und das Aufspüren des konstitutiven Außen.“ (Ebd.) Im theaterwissenschaftlichen Zusammenhang wird sie von Primavesi verstanden als „Abbau vermeintlicher Gewissheiten, ausgehend v.a. von der Unabschließbarkeit der Bedeutungskonstitution der Textlektüre. Darüber hinaus meint Dekonstruktion oft auch allgemein das Spiel mit dem Entzug der Identität von Inhalt bzw. ‚Aussage‘, Form, Stil, Gattung, Funktion, Autorschaft, Geschlecht etc. […].“ (2005: 63) Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass dieses Verständnis sehr breit und damit für eine tragfähige Analyse kaum operationalisierbar ist. 46 | Ein weiteres Beispiel für die Aufladung des Körpers mit politischer Bedeutung im postkolonialen Kontext sind die „metamorphic bodies“ (Gilbert/Tompkins, 2002: 237), die Aufteilung von Rollen und Körpern auf mehrere Schauspieler bzw. die Verkörperung mehrerer Rollen durch einen einzigen Schauspieler: „[A metamorphic body, Anm. SV] reminds viewers that stereotypic portrayals of the static, uni-dimensional colonial subject are limiting“ (ebd.: 232). Die wechselnden Figuren stellen zudem die Wahrnehmungsmodi der Zuschauer infrage (ebd.). Mit dieser Infragestellung von Wahrnehmungsgewohnheiten können sie als Beispiel für postdramatische Elemente im postkolonialen Theater dienen.

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Politisches Theater in Brasilien

Die genannten Elemente postkolonialen Theaters machen deutlich, dass eine Untersuchung des politischen Theaters in Brasilien den spezifischen, von den europäischen Formen des politischen Theaters abweichenden Kontext berücksichtigen muss. Dennoch machen Verweise auf die koloniale Vergangenheit oder die Beziehungen zwischen Brasilien und den USA die Aufführung noch nicht zu politischem Theater. Erst wenn diese Verweise einen politischen Wirkungsanspruch begründen oder verstärken, sind sie für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von Gewicht.

2.2 P R AK TISCHE A USPR ÄGUNGEN DES POLITISCHEN THE ATERS Auf Grundlage der in Kapitel 2.1 erfolgten Begriffsbestimmung werden im Folgenden praktische Ausprägungen des politischen Theaters im 20. Jahrhundert – sowohl international als auch in Brasilien – beschrieben. Dies dient einerseits der Veranschaulichung des bisher Erörterten. Andererseits finden sich in der dargestellten Praxis auch wichtige Anknüpfungspunkte für die Beschreibung zeitgenössischen politischen Theaters in Salvador da Bahia.

2.2.1

Internationale Ausprägungen des politischen Theaters

Die Geschichte politischen Theaters, wie es in dieser Arbeit verstanden wird, reicht bis zu den Anfängen der europäischen Theatertradition zurück: Im antiken Griechenland war es das Ziel des Dramas, Probleme der Polis öffentlich zu verhandeln und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren (vgl. Simhandl, 2007: 17). Auch in späteren Theaterformen wie dem höfischen Theater wurde die Frage nach guter Herrschaft und dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat immer wieder verhandelt (vgl. ebd.: 92). Im heutigen politischen Theater Brasiliens werden allerdings insbesondere die ab Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Formen des internationalen politischen Theaters rezipiert (siehe Kapitel 2.2.2).47 Entsprechend nimmt auch die vorliegende Arbeit im folgenden Kapitel ihre Schwerpunktsetzung vor. Dabei werden, je nach Bedeutung für 47 | Es mag überraschen, dass in dieser Arbeit auf die Darstellung politischen Theaters aus Portugal verzichtet wird. Trotz der gesellschaftlich und sprachlich engen Verbindung von Brasilien und Portugal kann dem portugiesischen Theater allerdings kein größerer Einfluss auf die Entwicklung des politischen Theaters beigemessen werden (siehe Kapitel 2.2.2). Insgesamt kam es in Portugal im Hinblick auf die Avantgardebewegungen und auf das politische Theater „zu einer sehr verspäteten Rezeption“ (Brauneck, 2003: 213). Die Gründe dafür werden in der finanziellen und – durch die Zensur – kreativen Schwächung des portugiesischen Theaters während Estado Novo

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

das brasilianische politische Theater, individuelle Personen, Theatergruppen und Strömungen des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen: Das Agitproptheater der Russischen Revolution und das Theater des sozialistischen Realismus werden ebenso vorgestellt wie das Theater von Erwin Piscator und Bertolt Brecht und das politische Happening, wie es in den 1960er-Jahren zunächst in den USA entsteht. Während sich Brecht und Piscator eher dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen, gilt das auf Antonin Artaud zurückgehende Happening als Ausgangspunkt eines stärker ereignishaften postdramatischen politischen Theaters. Das Theater der Russischen Revolution, mit dem die Entwicklung des politischen Theaters im 20. Jahrhundert beginnt und welches sich dem dramatischen politischen Theater zuordnen lässt, soll die Reihe der Beispiele eröffnen.48

2.2.1.1 Theater als politisches Instrument: vom Agitproptheater der Russischen Revolution zum sozialistischen Realismus Das politische Theater der Russischen Revolution gilt als wichtigster Ausgangspunkt der Entwicklung des politischen Theaters im 20. Jahrhundert: Während in einigen Avantgardebewegungen um die Jahrhundertwende noch über die Notwendigkeit einer Trennung zwischen Theater und Politik diskutiert wurde (siehe Kapitel 2.2.1.3), setzte sich mit der Beteiligung vieler russischer Künstler an der Revolution 1917 das Verständnis durch, das Theater als Forum der politischen Auseinandersetzung sein Ansehen als künstlerische Institution durchaus bewahrte, ja damit gar seine einstige aufklärerische Bedeutung wiedergewann (Brauneck, 2003: 393).

Das politische Theater in Russland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich dabei in zwei Phasen gliedern: das Agitproptheater der Russischen Revolution mit seinen Ausläufern und der von der Partei verordnete sozialistische Realismus. Der Begriff „Agitprop“ bezeichnete ursprünglich als Kurzform die „Abteilung für Agitation und Propaganda“ des von der Kommunistischen und Militärdiktatur sowie in einer selbstgewählten Abschottung gegenüber Einflüssen anderer europäischer Länder gesehen (vgl. ebd.). 48 | Ziel dieser Abschnitte ist es, historische Formen des politischen Theaters als Anknüpfungspunkte für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit zu präsentieren. Dabei konzentrieren sich die Ausführungen auf die Aspekte, die im Zusammenhang mit dem politischen Theater besonders relevant erscheinen, einige Verallgemeinerungen und Verkürzungen, insbesondere mit Blick auf die in Kapitel 2.2.1.1 vorgestellten, mehrere Jahrzehnte umfassende Theaterströmungen sind daher unvermeidlich.

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Partei gesteuerten Volkskommissariats für Bildungswesen, das zunächst zur Zeit des russischen Bürgerkrieges (1917/1918-1922) für die künstlerische Vermittlung der politischen Agenda und die Mobilisierung des Volkes zuständig war (vgl. Fähnders, 1997: 26). Hinsichtlich des sozialistischen Realismus, ein Begriff, der auf dem ersten Schriftstellerkongress der Sowjetunion 1934 geprägt wurde, ist zu beachten, dass er als geltende Staatsdoktrin der Sowjetunion bis zu ihrem Zusammenbruch im Jahr 1991 verschiedene Phasen durchlaufen hat (vgl. Brauneck, 2003: 793-798). Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf den sozialistischen Realismus der 1930er-Jahre. Hinsichtlich des Ziels politischen Theaters grenzen sich Agitprop und sozialistischer Realismus deutlich voneinander ab: Während in der Zeit der Russischen Revolution die Agitation, d.h. die Mobilisierung der Bevölkerung durch „Aufklärung“ über die bestehenden politischen Verhältnisse im Vordergrund stand und das Theater auf diese Weise transformatorisch wirken sollte, stand mit dem Sieg der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg und der Gründung der Sowjetunion ab 1922 zunehmend die Propaganda und damit die Legitimation des bestehenden Regimes im Vordergrund (vgl. Garcia, 1990: 12). Das Theater des sozialistischen Realismus kann damit als Beispiel für ein politisches Theater gelten, das, wie in Kapitel 2.1.2 dargestellt, nicht in Opposition zur Regierung steht: Die gewünschte gesellschaftliche und politische Transformation soll mit der bestehenden Regierung erreicht werden. Im Gegensatz zu späteren Formen des politischen Theaters wurden in beiden Phasen die Themen und Darstellungsformen von politischen Akteuren vorgegeben und als Instrument zur Verbreitung ihrer Ideologie und zur Legitimation ihrer Herrschaft eingesetzt. So zeichnete sich das Theater in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine dort vorher unbekannte Durchdringung von Gesellschaft und Politik aus: Staatliche Institutionen wie das Volkskommissariat für Bildungswesen und die 1917 zunächst als lose Vereinigung von Arbeiterclubs, Bildungsinstitutionen und Fabrikarbeitern gegründete Proletkult-Organisation organisierten und prägten die Theaterarbeit (vgl. Mally, 1990: xviii). Zu den Zielen des Proletkults gehörte der Aufbau lokaler, kollektiv geführter künstlerischer Institutionen mit Lernzentren, in denen neben Theater auch Soziologie oder Kunstgeschichte unterrichtet werden sollte. Diese Verknüpfungen zeigen, wie sehr das Theater als ein wesentlicher Akteur der Gesamtentwicklung des Individuums und der Gesellschaft gesehen wurde. An Inszenierungen, die auch in alternativen Spielstätten wie Fabrikhallen stattfanden, sollte auch die lokale Bevölkerung – und aus dieser vor allem die Arbeiterschaft – teilnehmen (vgl. Garcia, 1990: 6). Auch die administrative Unterordnung der Theaterabteilung unter das Volkskommissariat für Bildungswesen (vgl. Brauneck, 2009: 235) zeigt, dass das Theater als didaktisches Mittel einen Beitrag zur Bildung bzw. Erziehung des Volkes im Hinblick auf die herrschende kommunistische Ideologie leisten sollte.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Ideologisch war das Theater der Russischen Revolution und des sozialistischen Realismus vom Marxismus geprägt. Entsprechend der marxistischen Ideologie, welche das Volk als Träger der Revolution ausgab, setzte auch das politische Theater in Russland beim Proletariat an49: Die zahlreichen ab 1930 aufkommenden außerinstitutionellen Schauspielerkollektive und proletarischen Laientruppen zeigen, dass es gelang, das Proletariat nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Akteur anzusprechen (vgl. Simhandl, 2007: 386f.).50 Allerdings ist festzuhalten, dass mit dem Proletariat zwar einem Bestandteil des Volkes die Rolle der treibenden Kraft bei gesellschaftlichen Veränderungen zugewiesen wurde, dass aber die Partei die Richtung der Entwicklung bestimmte (vgl. ebd.: 387). Mit Blick auf die Vermittlung der Wirkungsabsicht kann das politische Theater in Russland allgemein dem dramatischen politischen Theater zugeordnet werden: So war das Prinzip der Repräsentation sowohl für den russischen Agitprop als auch für den sozialistischen Realismus zentral. Während des Agitprop wurden die aktuellen revolutionären Ereignisse unter dem Stichwort der „Gegenwärtigkeit“ direkt auf der Bühne abgebildet (vgl. Dietrich, 1974: 429). Kollektiven Schreibprozessen und Improvisationen kam daher große Bedeutung zu (vgl. Garcia, 1990: 27f.). Das Theater des Agitprop zeichnete sich in seiner Ästhetik zudem durch eine große Bandbreite aus, da es, um seine proletarisch und ländlich geprägte Zielgruppe anzusprechen, neben avantgardistischen auch volkstümliche Theaterformen wie Zirkus und Kabarett sowie regionale Ausprägungen des Theaters einbezog (vgl. ebd.: 29f.). Im Verlauf des Bürgerkriegs reduzierten sich die von der Partei gewünschten Ästhetiken allerdings immer weiter, bis schließlich jegliche avantgardistische Kunstform abwertend als „formalistisch“ (vgl. Brauneck, 2003: 792) bezeichnet wurde. In der Zeit des sozialistischen Realismus lag der Schwerpunkt auf der Repräsentation „einer nicht gelebten, aber politisch gewünschten Wirklichkeit“ (Christ, 1999: 29). Aber der sozialistische Realismus ging mit seinen Prinzi-

49 | Zum historischen Materialismus vgl. Marx’ Zur Kritik der politischen Ökonomie (1903 [1859]). 50 | Auch der Einbezug des Proletariats als Akteur war bereits im Volkstheater gefordert worden (vgl. Garcia, 1990: 2f.). Neu war in Russland allerdings, dass auf diese Weise politische Wirkung erzielt werden sollte (vgl. ebd.: 7). Diese Entwicklung wirkte sich auch auf andere europäische Länder aus, indem dort Arbeitertheater gegründet wurde, die in Verbindung mit der kommunistischen bzw. sozialistischen Partei standen, für eine Übersicht vgl. Bradby/James/Sharratt (1980: 167-270). In den USA sind z.B. die von deutschen Einwanderern 1928 gegründete, stark von Piscator beeinflusste „Prolet-Bühne“ und das „Workers’ Laboratory Theatre“ (1930) zu nennen (vgl. Cosgrove, 1980: 201-205).

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Politisches Theater in Brasilien

pien über die Forderung einer Repräsentation der angestrebten Realität noch weit hinaus: Die maßgeblichen Schriftstellerkongresse verlangten deshalb die Lesbarkeit des politischen Bewusstseins des Künstlers. Dieses Bewusstsein manifestierte sich nun insbesondere in der Volksverständlichkeit, ‚narodnost‘, der dargestellten Ideen und Gefühle, aber auch in der Erkennbarkeit der ethnischen Vielfalt des Sowjetreichs, im Klassenbewusstsein, ‚klassowost‘, welches in der positiven, anfangs noch heroisierenden Darstellung der werktätigen Bevölkerung sichtbar wird, in der Parteilichkeit, ‚partiinost‘, welche die führende Rolle der Partei augenfällig zum Ausdruck bringt, und schließlich in der narrativen Ideenhaftigkeit, ‚iedinost‘, welche die neue Lebenshaltung und propagierte Denkweise zum wesentlichen Bildinhalt macht. (Ebd.: 29)

Die Vorgaben waren unbedingt einzuhalten – Abweichungen galten als nicht systemkonform und konnten, wie bei Meyerhold51, der als Leiter der Theaterabteilung im Volkskommissariat für Bildungswesen zunächst „der einflussreichste Theaterfunktionär im neuen Sowjetstaat“ (Brauneck, 2009: 231) war, im Zuge der stalinistischer Säuberungen zu Verbot, zu Inhaftierung und Ermordung der verantwortlichen Künstler führen (vgl. Brauneck, 2003: 792). In beiden Phasen zeichnete sich das Theater in der Formulierung der politischen Wirkungsabsicht zudem durch starke Explizität aus: Insbesondere im sozialistischen Realismus wurden die politischen Ereignisse in einem linearen Handlungsverlauf dargestellt, sodass am Ende der Aufführung stets der Triumph der Revolution präsentiert wurde (vgl. Garcia, 1990: 77f.). Die typische Figurenkonstellation im Theater der Russischen Revolution präsentierte Arbeiter, Soldaten und Kleinbauern, d.h. Vertreter der proletarischen Klasse, als Protagonisten im Konflikt mit Großgrundbesitzern, Repräsentanten der Kirche und mit Kapitalisten aus dem Ausland (vgl. ebd.: 39). Dem Zuschauer wurden Verhaltensweisen der proletarischen Protagonisten als vorbildliche Handlungsmodelle gezeigt. Das von Majakovski geschriebene und von Meyerhold inszenierte MYSTERIUM BUFFO (UA 1918) folgte dieser Vorgabe beispielsweise, indem es eine vollständige Geschichte der Revolution nach dem Schema des historischen Materialismus nachstellte (vgl. Brauneck, 2003: 868f.). Die von Visnevskij verfasste OPTIMISTISCHE TRAGÖDIE (UA 1921) widmet sich der Bestrafung und Eingliederung anarchistischer Matrosen in die Rote Flotte während des Bürgerkrieges (vgl. ebd.: 876). Hinsichtlich des Illusionscharakters des Theaters plädierten Regisseure wie Meyerhold allerdings für realistisch und sparsam eingesetzte Requisiten (vgl. ebd.: 848).

51 | Hier und im Folgenden orientiert sich die Schreibweise der Namen der russischen Künstler am Metzler Lexikon Theatertheorie (2005).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Dramatisches politisches Theater schließt auch epische Elemente nicht aus (siehe Kapitel 2.1.2, 2.1.3 und 2.2.1.2). Solche kamen auch in Russland, insbesondere im Theater des Agitprop, zur Anwendung: So wurden Szenen mit dramatischer Handlung mit Chören und Tänzen kombiniert und Spruchbänder, Projektionen, Karten und Montagen52 eingesetzt. Die Illusion wurde auf diese Weise beständig durchbrochen (vgl. Garcia, 1990: 40). Sowohl einzelne Schauspieler als auch der Chor adressierten das Publikum teilweise direkt (vgl. Brauneck, 2003: 879). Die epischen Elemente dienten allerdings, ganz im Gegensatz zum epischen Theater von Brecht, hier nicht zur kritischen Distanzierung von den Vorgängen auf der Bühne. Stattdessen sollte der Zuschauer durch sie noch nachdrücklicher vom Dargestellten überzeugt werden. Einige Aufführungen gingen sogar über das Prinzip der Repräsentation hinaus, indem den Zuschauern direkte Partizipation in der Aufführung ermöglicht wurde: Indem sie an Massenszenen teilnahmen oder gemeinsam Lieder gesungen wurden (vgl. Garcia, 1990: 22), sollte auch durch die Erfahrung am eigenen Leib Wirkung vermittelt werden.53 Im Gegensatz zum späteren dramatischen und insbesondere postdramatischen politischen Theater ist jedoch offenkundig, dass der Zuschauer zwar Vorgänge selbst erleben konnte, dass dabei jedoch von den politischen Instanzen keinerlei Ambiguität der theatralen Botschaft zugelassen wurde. Die Grundlage für den freien, selbst denkenden und entscheidenden Zuschauer im politischen Theater wurde erst mit dem epischen Theater von Bertolt Brecht gelegt, in der demokratisch verfassten Weimarer Republik, in 52 | Die später auch häufig von Piscator genutzte Montage wurde von Sergej Eisenstein in Verbindung mit seinem Konzept der „Attraktion“ (Brauneck, 2003: 786) in das Theater eingeführt: „Die Bühne sollte sich in ein ‚Laboratorium des neuen gesellschaftlichen Lebens‘ verwandeln, das ‚Vorbilder der Lebensweise‘ und ‚Modelle von Menschen‘ bereitstellt“ (Simhandl, 2001: 381). Eisenstein selbst ging davon aus, dass man den Zuschauer emotional erschüttern muss, damit dieser die politische Botschaft aufnehmen kann: „Eine Attraktion […] ist jedes aggressive Moment des Theaters, […] das den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die […] berechnet ist auf bestimmte emotionale Erschütterung des Aufnehmenden. Diese stellen in ihrer Gesamtheit […] die Bedingung dafür dar, daß die ideelle Seite des Gezeigten, die eigentliche ideologische Schlußfolgerung aufgenommen wird“ (Eisenstein, 1974: 217f.). Hier lässt sich eine deutliche Verbindung zu Artauds théâtre de la cruauté, das ebenfalls auf dem Prinzip der emotionalen Erschütterung beruht, ziehen (siehe Kapitel 2.2.1.3). 53 | In den Massentheateraufführungen zwischen 1918 und 1923 wurden zu Festund Jahrestagen mehrere tausend Zuschauer gleichzeitig in die komplette Darstellung revolutionäre Ereignisse auf der Bühne eingebunden (vgl. Brauneck, 2003: 814). Als Beispiel kann die von Meyerhold inszenierte E RSTÜRMUNG DES WINTERPALAIS (UA 1920) dienen.

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Politisches Theater in Brasilien

der Kunst und politisches Herrschaftssystem nicht wie in Russland nach der Oktoberrevolution nahezu verschmolzen waren, sondern in kritischer Distanz zueinander standen.

2.2.1.2 Theater als politische Kunst: Er win Piscator und Bertolt Brecht Der Regisseur Erwin Piscator, der mit der „Theaterkampfschrift“ (Völker, 2009: 49) Das politische Theater den Begriff des „politischen Theaters“ einführte, und der Dramatiker, Regisseur und Lyriker Bertolt Brecht haben das sich inhaltlich mit politischen Fragestellungen auseinandersetzende Theater in besonderem Maße geprägt (vgl. Fischer-Lichte, 2005c: 242f.).54 Von Fischer-Lichte der thematischen Politizität von Theater und in dieser Arbeit entsprechend dem dramatischen politischen Theater zugeordnet (siehe Kapitel 2.1.2), weisen beide einen deutlichen politischen Wirkungsanspruch auf. So definierte Piscator politisches Theater als eine Theaterkunst, die das Gemeinschaftliche oder – mit einem moderneren Wort, das Gesellschaftliche zum Gegenstand wählt, gesellschaftliches Verhalten verlangt und gesellschaftliche Reaktionen hervorruft (Piscator, 1986: 350).

Auch für Brecht55 sollte sein „episches“ (Brecht, 2005a: 197) oder „nichtaristotelisches“ (ebd.) Theater in Abgrenzung zum „bürgerlichen Theater“ (ebd.: 138) zu einer gesellschaftlichen Veränderung beitragen: 54 | Zu Piscator vgl. u.a. Langemeyer (1996): 105-111; McCullough (1993); Doll (2000); Simhandl (2007: 328-245); Wannemacher, (2004); zu Brecht vgl. u.a. Olsson (2000); Kruger (2004); Kuhla/Mühl-Benninghaus (2005); Bradley (2006); Raddatz (2007); Müller (2009). Neben Piscator und Brecht wird der Regisseur Leopold Jeßner als dritter Begründer des politischen Theaters in Deutschland genannt (vgl. Brauneck, 2003: 393). Da Piscator und Brecht für das politische Theater in Brasilien von weitaus größerer Bedeutung sind, soll auf eine Analyse des politischen Theaters von Jeßner in dieser Arbeit verzichtet werden. Zum Theater von Jeßner vgl. Heilmann (2005). 55 | Wie in der Einleitung von Kapitel 2.2.1 erwähnt, wurden auch mit Blick auf Brecht und Piscator im Sinne einer straffen Argumentation einige Zuspitzungen vorgenommen. Das Schaffen von Brecht kann mit Zinn/Knopf (2009) in drei Phasen unterteilt werden: Die erste Phase der Gesellschaftskritik (1918-1933), die Stücke wie TROM MELN IN DER N ACHT (1919), D IE M UT TER (1932) und die D REIGROSCHENOPER (1928) umfasst, die zweite Phase (1933-1937), die vom Kampf gegen den Faschismus geprägt ist (D ER A UFSTIEG DES A RTURO U I [1941], M UT TER C OURAGE UND IHRE K INDER [1939]) und eine dritte Phase (1947-1956) der „Wiederherstellung des Theaterstandards“ (ebd.: 95)

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Es gab da zweifellos einige schmerzliche Unstimmigkeiten in unserer Umwelt, schwer ertragbare Zustände, die nicht nur aus moralischen Bedenken heraus schwer zu ertragen waren. Hunger, Kälte und Bedrückung erträgt man nicht nur aus moralischen Bedenken heraus schwer. […] Zweck unserer Untersuchungen war es, die Mittel ausfindig zu machen, welche die betreffenden schwer ertragbaren Zustände beseitigen konnten. (Brecht, 2005a: 197f.)

Mit Blick auf das in Kapitel 2.2.1.1 vorgestellte politische Theater in Russland lassen sich zunächst zahlreiche Gemeinsamkeiten feststellen: So teilten Piscator und Brecht das Gesellschaftsverständnis von Agitproptheater und dem Theater des sozialistischen Realismus – auch sie wollten mit ihrem Theater einen Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft erreichen (vgl. Piscator, 1986: 125; Brecht, 2005a: 124; 135).56 Daher ist es naheliegend, dass sie ebenfalls das Proletariat als entscheidenden gesellschaftlichen Akteur und Zielgruppe ihres Theaters betrachteten (vgl. Piscator, 1986: 33; Brecht, 2005a: 47f.). Ebenso wie das Agitproptheater betrachtete Piscator das Proletariat allerdings nicht nur als wichtige Zielgruppe, sondern setzte es auch aktiv ein: An seinem 1919 in Berlin gegründeten Proletarischen Theater arbeitete er unter anderem mit Amateurschauspielern aus der Arbeiterschaft zusammen (vgl. Garcia, 1990: 56). Ebenso wie dem politischen Theater in Russland kam dem Theater von Piscator durch die Aufklärung des Publikums über gesellschaftliche Zusammenhänge allgemein eine „belehrende“ (Piscator, 1986: 256) Funktion zu. Auch Brecht grenzte sein „Lehrtheater“ (Brecht, 2005a: 189-194) explizit vom „Vergnügungstheater“ (ebd.) ab.57 nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu den einzelnen Werken und zum Schaffen von Brecht vgl. neben Zinn/Knopf auch ausführlich Hecht (1997). Hinsichtlich Piscator werden in dieser Arbeit zwei Ausprägungen seines Theaters untersucht: Das frühe politische Theater sowie das Dokumentartheater, das er insbesondere nach Rückkehr aus dem amerikanischen Exil zur Aufarbeitung des Holocaust einsetzte. Stationen von Piscator umfassen u.a. das Central-Theater und die Volksbühne, bevor 1928 am Theater am Nollendorfplatz die erste „Piscator-Bühne“ eingerichtet wurde (vgl. Arnold, 2006: 49). 56 | Allerdings ist umstritten, inwieweit Brecht tatsächlich als „Marxist“ zu bezeichnen ist und inwieweit er sich nur oberflächlich am marxistischen Gesellschaftsverständnis orientierte. Zur ausführlichen Einordnung von Brecht in die marxistische bzw. materialistische Theaterpraxis vgl. Althusser (1965: 129-152) und Müller (2009). Eine Abweichung vom marxistischen Verständnis zeigt sich, wie im Folgenden beschrieben werden wird, beispielsweise in seiner Repräsentation des Proletariats und darin, dass er sich auch an ein bürgerliches Publikum wandte. 57 | Nicht zu verwechseln ist der Begriff des „Lehrtheaters“ mit dem von Brecht konzipierten Typus des Lehrstücks. Die Lehrstücke sind einzelne, von Brecht verfasste Stücke, die Laiendarsteller als „Lernende“ (Brauneck, 2003: 497) unterstützen

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Des Weiteren zeichnete sich das Theater von Piscator dadurch aus, dass akute, reale gesellschaftliche Konflikte auf der Bühne dargestellt werden sollten (vgl. Brauneck, 2003: 407). Diese Aktualität und Wirklichkeitsnähe seines politischen Theaters drückte er beispielsweise in dem Begriff „Zeittheater“ (Piscator, 1986: 83) aus, den er alternativ zu „politischem Theater“ verwendete. Auch für Brecht war der Ausgangspunkt seines Theaterschaffens zunächst das Desiderat, „die großen Stoffe der Zeit auf die Bühne zu bringen: der Aufbau einer Mammutindustrie, die Kämpfe der Klassen, der Krieg, der Welthandel, die Bekämpfung der Krankheiten usw.“ (Brecht, 2005a: 225). In beiden Fällen wurde das Kollektiv gegenüber dem Individuum betont: Figuren wurden, ebenso wie im russischen politischen Theater, nicht als Individuen, sondern als typische Klassenvertreter gezeichnet (Brauneck, 2003: 413). Allerdings verzichteten weder Piscator noch Brecht auf die Inszenierung klassischer Werke – entscheidend war nicht das Datum der Erstellung des Theatertextes, sondern, dass auf der Bühne Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen Situation deutlich herausgearbeitet werden konnten: So führte Piscator beispielsweise 1926 DIE RÄUBER von Friedrich Schiller auf (vgl. ebd.: 421), Bertolt Brecht inszenierte nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil nach Ende des Zweiten Weltkrieges fast ausschließlich klassische Stückbearbeitungen (vgl. Schommers/Knopf, 2006: 96).58 Auch arbeitete Brecht in Stücken wie DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI oder MUTTER COURAGE bewusst mit dem Element der Historisierung, indem er aktuelle Themen in eine vergangene Zeit verlagerte: [W]enn wir Stücke aus unserer eigenen Zeit als historische Stücke spielen, mögen ihm die Umstände, unter denen er [der Zuschauer; Anm. SV] handelt, ebenfalls besonders vorkommen, und dies ist der Beginn der Kritik. (Brecht, 2005a: 534) sollten, politisches Verhalten einzuüben und zu erproben. Die Lehrstücke können dabei als besondere Form des politischen Theaters gelten: So verfolgen sie zwar im Sinne dieser Arbeit eine politische Wirkungsabsicht, allerdings verlagern sie diese nicht auf das Publikum, sondern vollständig auf die Schauspieler: „Diese Bezeichnung [des Lehrstücks; Anm. SV] gilt nur für Stücke, die für die Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen also kein Publikum.“ (Brecht, 1993: 418; Herv.i.O.) Lehmann, der wie Poschmann Brecht grundsätzlich dem dramatischen Theater zuordnet (siehe Kapitel 2.1.2), sieht im Lehrstück eine Überschreitung der Grenzen des epischen Theaters (vgl. Lehmann, 1995: 382-388). Tatsächlich steht weniger die Repräsentation als das Erleben im Vordergrund, so dass eine Verlagerung vom dramatischen zum postdramatischen politischem Theater vermutet werden kann. Da in dieser Arbeit allerdings ein politisches Theater im Vordergrund stehen soll, das die Wirkungsabsicht beim Zuschauer entfaltet, soll auf das Lehrstück im Weiteren nicht eingegangen werden. 58 | Zu den Gründen der Inszenierung der „Klassiker“ vgl. auch Melchinger (1974b: 194-197).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Darüber hinaus unterscheidet sich das Theater von Piscator und Brecht von den in Kapitel 2.2.1.1 präsentierten Theaterformen bei genauerer Analyse in weiteren, teilweise entscheidenden Merkmalen. Zunächst ist für Piscator und Brecht eine andere gesellschaftliche Verortung festzustellen: Sowohl während der Weimarer Republik als auch während des Dritten Reiches standen Brecht und Piscator in Opposition zur herrschenden Politik und zum vorhandenen Gesellschaftssystem (vgl. Brauneck, 2003: 393). Noch bedeutender ist der Unterschied hinsichtlich des Verhältnisses von Theater und Politik: Zwar beziehen Brecht und Piscator in ihren Theaterarbeiten deutlich Position – Fischer-Lichte (2005c: 244) sieht sie sogar als Beispiel eines Theaters „im Dienst bestimmter politischer Ideologien“. Im Gegensatz zu dem von Politik durchdrungenen Theater in Russland werden sie aber nicht von politischen Akteuren gesteuert. Erst jetzt kann damit von einer eigenständigen politischen Kunst gesprochen werden: [T]odas as influências se somam para a construção de um produto novo que é essencialmente teatro. Este se institui como político enquanto forma, em contraposição ao teatro enquanto mediação de uma vontade política. (Ebd.: 85; Herv.i.O.)

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Theater von Brecht und Piscator auch in der Umsetzung von den Vorgaben des russischen Theaters abwich – wenn auch unterschiedlich stark. Bei Erwin Piscator finden sich Abweichungen weniger mit Blick auf Funktion und Verständnis des Theaters: Ebenso wie im russischen politischen Theater zielte Piscator mit seinen Inszenierungen auf die Vermittlung einer klaren politischen Botschaft ab (vgl. Brauneck, 2003: 410f.). Die Zuschauer sollten sich keine eigene Meinung bilden, sondern ein dargestelltes Verhalten nachvollziehen (vgl. ebd.). Die Besonderheiten des politischen Theaters von Piscator beziehen sich auf die Umsetzung: Im Mittelpunkt stand die Umgestaltung der Bühne des bürgerlichen Theaters (vgl. Piscator, 1986: 127). Entsprechend der von ihm angestrebten, klassenlosen sozialistischen Gesellschaft sollten die Grenzen zwischen Zuschauer- und Bühnenraum durch den Einsatz variabler Bühnenelemente aufgelöst werden (vgl. ebd.). In den von Walter Gropius im Auftrag von Piscator erstellten Entwürfen für das Totaltheater59 sollte der Zuschauer die Möglichkeit haben, physisch ins Zent59 | Melchinger sieht im Totaltheater mit beweglichem Zuschauerraum, veränderbarer Szenenplattform und dem Einsatz der technischen Instrumente die „futuristische Gleichsetzung von Masse und Maschine als politisches Programm der Zukunft“ (Melchinger, 1974b: 192). Tatsächlich knüpft Piscator wie auch Brecht in verschiedener Hinsicht, u.a. mit der Annahme, dass eine Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft nur durch eine Veränderung der bürgerlichen Ästhetik erreicht werden kann, an die Avantgardebewegungen der Jahrhundertwende an (Avantgarde: siehe Kapitel 2.2.1.3).

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rum der Aufführung zu rücken, indem Rampen ein kreisförmiges Umspielen der Zuschauer ermöglichen sollten (vgl. Melchinger, 1974b: 192). Zentral war für Inszenierungen von Piscator zudem der Einsatz von Projektionswänden, auf denen Filme, Zwischentexte und Fotos gezeigt werden konnten (Piscator, 1986: 127). Im Totaltheater sollten diese das Publikum ebenfalls vollständig umschließen (vgl. ebd.: 120). Zudem setzte Piscator erstmals „laufende Bänder“ (Brauneck, 2003: 420) ein. Doch nicht nur bei der Gestaltung von Bühnen- und Zuschauerraum, auch mit Blick auf die Handlung brach Piscator mit den in Deutschland vorherrschenden Konventionen des bürgerlichen Theaters: Aufbauend auf der Montagetechnik von Sergej Eisenstein zerlegte Piscator die Handlung in dramatische Einzelszenen, die er mit Akrobatik, Filmen und Liedern kombinierte (vgl. ebd.: 57).60 Auf die Spitze getrieben wurde dieses Prinzip mit Inszenierungen wie Revue Roter Rummel (UA 1924), die insgesamt in Revueform gehalten waren: Die Revue kennt keine Einheitlichkeit der Handlung, holt ihre Wirkung aus allen Gebieten […], ist entfesselt in ihrer Struktur und besitzt zugleich etwas ungeheuer Naives in der Direktheit ihrer Darbietung. […] Die Revue gab die Möglichkeit zu einer ‚direkten Aktion‘ im Theater. (Ebd.)

In seinen Produktionen verwendete Piscator, wie es auch bei Vertretern des russischen Agitproptheaters üblich war, bereits in den 1920er-Jahren reale Filmausschnitte und Dokumente (vgl. Piscator, 1986: 64). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitete Piscator den Einsatz von Dokumenten als einer der Begründer des Dokumentarischen Theaters weiter aus (vgl. Barton, 1987: 46). Letzteres gilt als Theater, welches sich „jeder Erfindung [enthält], authentisches Material [übernimmt] und dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder [gibt]“ (Weiss, 1971: 91f.).61 Das Dokumentartheater 60 | Allerdings behauptete Piscator selbst, sich nicht am russischen Theater orientiert zu haben: „In Wirklichkeit waren mir damals die Verhältnisse des sowjetrussischen Theaters fast unbekannt – die Nachrichten drangen nur sehr spärlich zu uns. Mir ist aber auch nachträglich nicht bekannt geworden, dass die Russen jemals den Film funktionell so verwendet hätten wie ich.“ (Piscator, 1986: 62) 61 | Barton (1987) unterscheidet mehrere Phasen des dokumentarischen Theaters: Die erste Phase wird in den 1920er-Jahren verortet, in denen Erwin Piscator und Vertreter des russischen Agitproptheaters reale Dokumente in ihren Aufführungen einsetzen (vgl. ebd.: 13). Das „reine“ (ebd.) Dokumentartheater bildete sich allerdings erst in den 1960er-Jahren mit den Aufführungen von D IE E RMIT TLUNG (UA 1965) von Peter Weiss, D ER S TELLVERTRETER (UA 1963) von Ralf Hochhuth und I N DER S ACHE J. ROBERT O PPENHEIMER (UA 1964) von Heinar Kipphardt – die beiden Letztgenannten unter der Regie von Erwin Piscator – aus.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

verfolgte das Ziel, die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine als negativ bewertete gesellschaftliche und politische Entwicklung zu lenken und diese zu verändern (vgl. Barton, 1987: 2). Nach dieser Definition lässt sich das Dokumentartheater auch als dramatisches politisches Theater verstehen. An den „Piscatorsche[n] Versuch“ (Brecht, 2005a: 53) knüpfte Brecht bei seiner Entwicklung des epischen Theaters, ein Begriff, den später auch Piscator für sich reklamieren sollte (vgl. Piscator, 1983: 54), explizit an.62 Der Begriff „episch“ meint dabei nicht etwa den Inhalt der Szenen, sondern gibt mit seinem „referierenden, beschreibenden Charakters“ (Brecht, 2005a: 300) und „kommentierenden“ (ebd.) Elementen Auskunft über die Darstellungsweise des abgebildeten Konflikts. Allerdings ging Brecht Piscators Theater hinsichtlich der Veränderung der etablierten Form des Theaters nicht weit genug (vgl. ebd.: 76).63 Tatsächlich unterscheidet sich das epische Theater von Brecht deutlich sowohl von Piscator als auch dem russischen politischen Theater. Entscheidend ist dabei insbesondere die divergierende Rolle des Zuschauers. Während Piscator und das russische politische Theater eben keinen selbstständig denkenden Zuschauer vorsahen, war für Brecht eine gesellschaftliche Veränderung ohne die intellektuelle Aktivierung des Zuschauers nicht denkbar. Im Gegensatz zum dramatischen Theater war es Kernelement des epischen Theaters, dass dieser zu selbstständigem Denken und eigenständigem Handeln angeregt werden sollte (vgl. ebd.: 191).64 Die epische Form des Theaters „macht ihn [den 62 | Brauneck weist darauf hin, dass epische Merkmale des Dramas bereits von den Naturalisten um 1890 gefordert worden waren, allerdings im Kontext eines „strikt auf illusionistische Vergegenwärtigung angelegten Theaters“ (Brauneck, 2003: 483). „Episch“ in Bezug auf das Verhältnis von Autor und Stoff wird erstmals von Brecht verwendet (vgl. ebd.). 63 | Walter Benjamin (1966: 8) beschreibt den Unterschied zwischen Piscator und Brecht folgendermaßen: „Wie immer aber dies politische Theater funktionierte, gesellschaftlich beförderte es nur das Einrücken der proletarischen Massen in eben die Positionen, die der Theaterapparat für die bürgerlichen geschaffen hatte. Der Funktionszusammenhang zwischen Bühne und Publikum, Text und Aufführung, Regisseur und Schauspieler blieb fast unverändert. Von dem Versuch, sie grundlegend abzuändern, nimmt das epische Theater den Ausgang.“ 64 | Das epische Theater von Brecht mit seinen Publikumsansprachen und Kommentaren wird von Pfister als Einführung eines vermittelnden Kommunikationssystems beschrieben (vgl. Pfister, 1997: 105f.). In der normalen dramatischen Kommunikation unterscheidet Pfister das „dialogisch miteinander kommunizierende Figuren“ (vgl. ebd.: 21) umfassende innere Kommunikationssystem und das aus empirischem Autor als Werkproduzent, idealem Autor als „Subjekt des Werkganzen“ (ebd.) sowie idealem bzw. intendiertem Zuschauer und tatsächlichem Rezipienten bestehende äußere Kommunikationssystem (vgl. ebd.). Neben Pfister haben sich auch Pavis und Ubersfeld mit

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Zuschauer; Anm. SV] zum Betrachter, aber weckt seine Aktivität, erzwingt von ihm Entscheidungen“ (ebd.): Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. […] Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. (Ebd.: 192)

Um diese Haltung bei dem Zuschauer zu erreichen, sollte dieser keine emotionale Katharsis erleben, sondern eine beurteilende Haltung einnehmen (vgl. ebd.: 191).65 Von besonderer Bedeutung dafür war der Verfremdungs- oder V-Effekt. Dabei handelt es sich: um eine Technik, mit der darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen, nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann (ebd. 307).

Der V-Effekt findet sich zum einen in der von Brecht vorgesehenen Schauspieltechnik, insbesondere in der von ihm geforderten „Haltung“ (ebd.: 538) oder im „Gestus des Zeigens“ (ebd.: 549) des Schauspielers, d.h. der deutlichen Distanzierung von Schauspieler und Figur auf der Bühne.66 Auch technische Mittel wie Filmeinspielungen oder Projektionen und das Bühnenbild, das keine Illusion erzeugen sollte, wurden von Brecht zu diesem Zweck eingesetzt (vgl. ebd.: 190f.). Besondere Bedeutung kommt zudem dem Einsatz von Musik zu: Sofern sie durch Licht- und Stellungswechsel der Schauspieler, die Ankündigung oder Projektion der Liedtitel oder die Sichtbarkeit der Musikquelle auf der Bühne den „kommunikativen Funktionen des Theaters“ (vgl. Nöth, 2000: 465; Herv.i.O.) auseinandergesetzt. Mahsberg kritisiert an Pfister, dass sein Modell zur „Beschreibung der komplexen Vorgänge im Theater zu einfach ist. Es zeigt lediglich einen linearen Übertragungsprozess, bei dem keine Reziprozität gegeben ist“ (Mahsberg, 1990: 23). Für die in dieser Arbeit angestrebten Zwecke ist das Modell allerdings ausreichend. 65 | Brecht prägte dazu das Bild des rauchenden Zuschauers: „Durch eine solche Haltung [des rauchend Beobachtens; Anm. SV] erzwingt er ohne weiteres ein besseres und anständigeres Spiel, denn es ist aussichtlos, einen rauchenden Mann, der also hinlänglich mit sich selbst beschäftigt ist, ‚in den Bann ziehen‘ zu wollen. Sehr rasch hätte man so ein Theater voll von Fachleuten.“ (Brecht, 1991: 59) 66 | „Gestus“ beschreibt Brecht mit „Gesamthaltungen. Gestisch ist eine Sprache, wenn sie auf dem Gestus beruht, bestimmte Haltungen des Sprechenden anzeigt, die dieser anderen Menschen gegenüber einnimmt“ (Brecht, 2005a: 278). Die „Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge“ bezeichnete Brecht als „Fabel“ (ebd.: 546). Zur Erläuterung des Gestus vgl. auch die Straßenszene von Brecht (vgl. ebd.: 300-311).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

deutlich markiert wird, kann sie ebenfalls verfremdend eingesetzt werden (vgl. ebd.: 216-224; 549). Als weitere typische Elemente, die einen V-Effekt bewirken, gelten die Unterbrechung der Theatertexte durch kommentierende Lieder und Ansprachen an das Publikum, die Präsentation von Plakaten mit dem Titel zu Beginn jeder Szene, das fehlende Bühnenbild und die Offenlegung technischer Hilfsmittel wie Scheinwerfer (vgl. Garcia, 1990: 85). Der V-Effekt sollte auch eine Einheit der Zuschauer herstellen: Der „Zuschauer als Masse“ (Brecht, 2005a: 136, Herv. i. O.) wurde nicht von einer großen Zahl an Anwesenden, sondern durch die aktive, bewusste Wahrnehmung des Bühnengeschehens bestimmt (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu Piscator und zum russischen politischen Theater, welche sich vornehmlich an das Proletariat richteten, sprach Brecht allerdings auch das Bürgertum an. Die „Spaltung des Publikums in feindliche soziale Gruppen“ (ebd.: 411) verstand Brecht als „politisches Faktum“ (ebd.) von Aufführungen des epischen Theaters. Die Tatsache, dass Brecht das Publikum zu eigenständigem Denken anregen wollte, findet sich nicht nur in der Schauspieltechnik und Form der Darstellung, sondern auch in den Inhalten wieder: Im Gegensatz zu Piscator und dem sozialistischen Realismus verweigerte sich Brecht beispielsweise einem positiven Helden, sondern zielte darauf ab, „Charaktere mit echten Widersprüchen darzustellen“ (ebd.: 639).67 Entsprechend stellte er auch das Proletariat im Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht mehr zwangsläufig positiv dar. Ebenso nutzte Brecht beispielsweise in Der Gute Mensch von Sezuan (UA 1943) ein offenes Dramenende. Dabei wird der offene Ausgang durch die abschließende Publikumsansprache noch unterstrichen: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […] Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: Sie selbst dächten auf der Stelle nach / Auf welche Weis dem guten Menschen man / Zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! (Brecht, 2005b: 294f.)

Entscheidend ist, dass dem Publikum das „richtige“ Verhalten nicht mehr auf der Bühne vorgelebt wurde, stattdessen musste dies selbst erschlossen werden.

67 | Dies gilt z.B. besonders für M UT TER C OURAGE , die mit D ER G UTE M ENSCH VON S EZUAN „mustergültig“ (Ziegler/Knopf, 2009: 106) für die Umsetzung epischen Theaters ist. Althusser (1965:148) schreibt zu der Abwesenheit des Helden bei Brecht: „Je dirais, non pas que les héros ont disparu parce que Brecht les a bannis de ces pièces, mais que tout héros qu’ils soient, et dans la pièce même, la pièce les rend impossibles, elles les anéantit, eux et leur conscience, et la fausse dialectique de leur conscience. […] elle s’effectue au niveau plus profond de la dynamique strucutrale de la pièce.“

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich beide Theaterformen, so deutlich sie sich auch untereinander und vom russischen politischen Theater unterscheiden, dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen (siehe Kapitel 2.1.2). Handlung, Fabel und Figur, wenn vielleicht auch durch Lieder oder rasche Szenenwechsel gebrochen, bilden weiterhin das Grundprinzip des politischen Theaters von Piscator und Brecht – auch wenn sich Letztgenannter explizit gegen die dramatische Form des bürgerlichen Theaters wandte (vgl. Lehmann, 2011: 47f.).68

2.2.1.3 Theater als politisches Ereignis: das Happening von The Living Theatre und seine Grundlagen Ein Theater, das Präsenz systematisch für die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht einsetzte, kam mit dem Happening der 1960er-Jahre auf. Das „Arsenal der Ausdrucksgebärden“ (Lehmann, 2011: 23) des postdramatischen politischen Theaters wurde allerdings bereits von den Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt: „Die Zerschlagung von Zusammenhang“ (ebd.: 100) und die „Aktion im Hier und Heute“ (ebd.) des Dadaismus, das Verständnis der Futuristen von Theater als „Ereignis, das das Publikum in Aktionen hineinzog“ (ebd.) oder die Aufgabe des „narrativen Kausalnexus zugunsten von anderen Darstellungsrhythmen“ (ebd.) im Surrealismus bildeten die Basis, an die die Akteure des politischen Happening anknüpfen sollten.69 Umstritten ist, inwieweit die Avantgardebewegungen selbst als politisches Theater bezeichnet werden können. Brauneck unterscheidet dabei zwischen Bewegungen unterschiedlicher Länder und grenzt das Avantgardetheater in Frankreich, Italien und der Sowjetunion, dem es „um die Zerschlagung der traditionellen Kunst und ihrer Institutionen schlechthin ging, letztlich um die Herstellung einer Einheit von Kunst und Leben“ (Brauneck, 2003: 235), deutlich von der Avantgarde in Deutschland ab. Letzterer ginge es stattdessen um 68 | Lehmann (2011: 48) bezeichnet postdramatisches daher auch als „post-brechtsches“ Theater. 69 | Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Avantgardebewegungen auch großen Einfluss auf die in Kapitel 2.2.1.1 und 2.2.1.2 vorgestellten Formen des politischen Theaters ausübten. So konnten zahlreiche Vertreter des politischen Theaters in Russland – Majakovski oder Meyerhold – zu Beginn ihres Schaffens der Avantgarde zugeordnet werden. Die von Piscator verwendete Mechanik und große Bühnenaufbauten knüpfen, ebenso wie das Totaltheater, an den Futurismus an (Piscator, 1986: 126). Auch Brecht schloss mit seiner Forderung nach einem Umsturz des bürgerlichen Theaters an die Avantgardebewegungen an und wird von einigen Theaterwissenschaftlern sogar selbst als Vertreter der Avantgarde gewertet (vgl. z.B. Fischer-Lichte, 1992: 128).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

„direkte Agitation und Parteinahme, um den Einsatz der ‚Kunst als Waffe‘ im Klassenkampf, schließlich um konstruktive Mitarbeiter an der Neugestaltung der Gesellschaft“ (ebd.). Auch wenn das Verständnis von politischem Theater, das in der vorliegenden Arbeit zu Grunde gelegt wird, jenem von Brauneck ähnlich ist, wird die pauschale Abgrenzung der französischen, italienischen und russischen Avantgardebewegungen nicht nachvollzogen: So mag zwar im Dadaismus als „Negation jeglicher Kunst“ (Döhl/Möbus, 2007: 138) ein allgemein gesellschaftskritischer Impuls gegenüber dem politischen Wirkungsanspruch überwiegen. Diese Trennung wird aber bereits mit Blick auf den französischen Surrealismus unscharf, da beispielsweise in dessen Leitwerk, Second manifest du surréalisme von André Breton, Surrealismus und Marxismus explizit verglichen werden (vgl. Breton, 1988: 782-808). Eindeutig über einen politischen Wirkungsanspruch verfügten schließlich die italienischen Futuristen um Filippo Tomaso Marinetti. In dessen Manifesto del futurismo wird klar das Selbstverständnis als eine ästhetisch-politische Bewegung formuliert: 9. Noi vogliamo glorificare la guerra — sola igiene del mondo — il militarismo, il patriottismo, il gesto distruttore dei libertarî, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna. (Marinetti, 2009 [1909])70

Auf die Avantgardebewegungen baut Antonin Artaud sein théâtre de la cruauté auf, das die „Verlagerung vom Werk zum Ereignis“ (Lehmann, 2011: 100; Herv.i.O.) begründete und so die Basis des politischen Happenings der 1960er Jahre bildete.71 Indem das Theater „Mythes de l’homme et de la vie moderne“ (Artaud, 1964: 147) erschuf, erhielt es eine Funktion „magique“ (ebd.: 149). Obwohl es auf das politische Happening der 1960er-Jahre entscheidenden Einfluss hatte, wird das théâtre de la cruauté selbst nicht dem politischen Theater im Sinne dieser Arbeit zugeordnet, da es über keine politische Wirkungsabsicht verfügte: [N]ous voulons un théâtre qui agisse, mais sur un plan justement à définir. Nous avons besoin d’action vraie, mais sans conséquence pratique. Ce n’est pas sur le plan social que l’action du théâtre s’étend. Encore moins sur le plan moral et psychologique. (Ebd.: 138)72 70 | Ausführlich zum Futurismus vgl. u.a. Schmidt-Bergmann (1993). 71 | Bis 1926 war Artaud Mitglied der Surrealisten, bis es aufgrund der zunehmenden politischen und „dogmatischen“ (Primavesi, 2009: 187), d.h. an der kommunistischen Partei angelehnten Ausrichtung unter Breton zum Ausschluss Artauds aus der Bewegung kam (vgl. Brauneck, 2009: 475). 72 | Dass das théâtre de la cruauté als Theaterkonzept nicht als politisches Theater im Sinne dieser Arbeit eingeordnet wird, bedeutet nicht, dass einzelne Aufführungen

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Stattdessen sollte das Theater auf die Gesellschaft als „peste“ (ebd.: 37), als „un formidable appel de forces qui ramènent l’esprit par l’exemple à la source de ses conflits […], une crise, qui se dénoue par la mort ou la guérison“ (Artaud, 1964: 37f.) wirken. Die Menschen sollten dazu gebracht werden, „à se voir tels qu’ils sont“ (ebd.: 39) und dazu eingeladen werden, „à prendre en face du destin une attidue héro – que et supérieure qu’elles n’auraient jamais eue sans cela“. (Ebd.) Der Einfluss des théâtre de la cruauté auf das politische Happening ergibt sich demnach nicht aus neuen politischen Inhalten oder veränderter Wirkungsabsicht, sondern aus der Grundannahme von Artaud, dass eine Veränderung der Gesellschaft zunächst eine Veränderung im Menschen voraussetzt. Eine solche „existenzielle Erschütterung“ (Brauneck, 2003: 92) kann durch eine besonders intensive Darstellungsweise und extreme Identifikation des Zuschauers mit dem Geschehen auf der Bühne hervorgerufen werden.73 Die vollständige Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum, die Abwertung von Repräsentation und sprachlichen Zeichen gegenüber der Verwendung von Rhythmen und Geräuschen sowie improvisierten, spontanen und zufälligen Aktionen sollte ein „ébranlement physique“ (Artaud, 1964: 56) des Zuschauers bewirken. Als weitere konkrete Inszenierungsmittel forderte Artaud: Cris, plaintes, apparitions, surprises, coups de théâtre de toutes sortes, beauté magique des costumes pris à certains modèles rituels, couleurs des objets, rythme physique des mouvements dont le crescendo et le decrescendo épousera la pulsation de mouvements familiers à tous, apparitions concrètes d’objets neufs et surprenants,

nicht durchaus als politisches Theater gelten könnten. L A C ONQUÊTE DU M EXIQUE sollte beispielsweise fraglos der Diskussion aktueller politischer – und in diesem Fall sogar postkolonialer – Fragestellungen dienen und politische Gegebenheiten infrage stellen: „En posant la question terriblement actuelle de la colonisation et du droit qu’un continent croit avoir d’en asservir un autre, elle pose la question de la supériorité, réelle, celle-là, de certaines races sur d’autres et montre la filiation interne qui relie la génie d’une race à des formes précises de civilisation. Elle oppose la tyrannique anarchie des colonisateurs à la profonde harmonie morales des futurs colonisés.“ (Artaud, 1964: 152) 73 | An diesem Punkt setzen Autoren an, die das Theater von Artaud durchaus als politisches Theater einordnen. Castri geht beispielsweise davon aus, dass diese individuelle Erfahrung politischer Veränderung dienen kann, indem sie z.B. der Entfremdung der Menschen entgegenwirkt und so den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft bereitet (vgl. Castri, 1973: 201). Vor dem Hintergrund der oben angeführten Zitate aus Le Théâtre et son Double scheint es allerdings fragwürdig, dass dies tatsächlich die Intention von Artaud war. Zu einer politischen Lesart von Artaud vgl. auch Reis (2006).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

masques, mannequins de plusieurs mètres, changements brusques de la lumière, action physique de la lumière qui éveille le chaud et le froid, etc. (Ebd.: 111)

Auf diesen Elementen des théâtre de la cruauté bauen in den 1960er-Jahren USamerikanische Theatergruppen wie The Living Theatre, San Francisco Mime Troupe, Bread & Puppet Theatre oder Teatro Campensino ihre politischen Happenings auf (Bell, 2007: 1085f.).74 Obwohl allgemein Happenings, zunächst als „Unterbrechung des als Routine empfundenen Alltags“ (Lehmann, 2011: 180) konzipiert waren, wurden zahlreiche Aufführungen auch als Akte des politischen Protests verstanden (vgl. ebd.; vgl. auch Brauneck, 2009: 490). Indem „Präsenz und Kommunikationschancen den Vorrang hatten vor dargestellten Abläufen“ (Lehmann, 2011: 180), lassen sie sich im Sinne dieser Arbeit dem postdramatischen politischen Theater zuordnen. Aufgrund seiner besonderen Relevanz für das brasilianische politische Theater konzentriert sich die Arbeit im Folgenden auf The Living Theatre. Im Zentrum der Aktivitäten von The Living Theatre stand die Erzielung politischer und gesellschaftlicher Wirkung außerhalb des Theaters: One thing that we have learned: that we cannot solve one particular problem, say, the artistic problem, outside the general context of the revolution. And it is clear by now that a revolution that starts in a theatre must go out of the theatre and involve the whole economic structure – or else it will remain a sterile experiment in the realm of aesthetics. Therefore, yes, it’s no longer a matter of being an artist, it’s a matter of infiltrating into being, into the world, into the people. (Malina/Beck, zitiert nach Mantegna/Aldo, 1970: 20)

Gegründet von Judith Malina und Julian Beck strebte The Living Theatre eine pazifistische, anarchistische und anti-kapitalistische Gesellschaft an (vgl. Martin, 2004: 49-61). Zu Beginn ihrer Aktivitäten orientierten sie sich dabei zunächst an Piscator, den sie im Exil in New York kennen gelernt hatten (vgl. ebd.: 63), und Brecht, dessen MANN IST MANN sie als episches Theater inszenierten (vgl. Tytell, 1995: 176f.). Mit der Inszenierung von THE BRIG (UA 1963) wandte sich The Living Theatre dem théâtre de la cruauté von Antonin Artaud zu (vgl. Martin, 2004: 61f.). 74 | Neben den oben genannten Theatergruppen sei als ein weiterer wichtiger Akteur des politischen Happenings Peter Brook genannt. Mit seinem „group-happening-collaborative spectacle“ (Brook, 1996: 23) US (UA 1966) kritisierte er das Engagement der Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg. Die Inszenierung arbeitete sowohl mit Überzeichnungen, z.B. einer Soldatenpuppe aus Pappmaschee, als auch mit Dokumenten, Masken und lyrischem Vortrag (vgl. Simhandl, 2001: 440). Zudem wurden auf der Bühne – zumindest vermeintlich – Schmetterlinge angezündet (vgl. ebd.).

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Zurückgehend auf Artaud wurde angenommen, dass die Revolution zunächst im Bewusstsein der Akteure erfolgen musste (vgl. ebd.: 70). Im Gegensatz zu den vorhergehenden politischen Theaterformen sollte die gesellschaftliche Veränderung nicht mehr durch einen Umsturz und die folgende Diktatur des Proletariats erreicht werden, sondern durch die Vereinigung aller „positiven“ (vgl. George, 1992: 66) gesellschaftlichen Kräfte, die zu einer gewaltfreien Revolution führen sollte. Entsprechend wandte sich The Living Theatre nicht in erster Linie an das Proletariat, sondern an ein studentisches und intellektuelles Publikum (vgl. Tytell, 1995: 241; 245; 248). Anders als im dramatischen Theater war für The Living Theatre nicht die Repräsentation der Konflikte auf der Bühne, sondern das Erleben des Ereignisses durch den Zuschauer (vgl. George, 1992: 66; Martin, 2004: 62) entscheidend. Dies sollte erreicht werden, indem sie, wie von Artaud vorgeschlagen, in ihren Aufführungen eine „Verbindung von höchster Emotionalität und strenger Ritualisierung“ (Simhandl, 2001: 423) vornahmen. Die Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum und die Hierarchie zwischen Darstellern und Zuschauern sollte vollständig aufgehoben und eine Einheit zwischen Publikum und Darstellern hergestellt werden, indem beispielsweise Schauspieler in MYSTERIES AND SMALLER PIECES (UA 1964) Zuschauer berührten (vgl. Tytell, 1995: 205). Zudem bediente sich The Living Theatre weiterer Elemente des théâtre de la cruauté: So gehörte „der Schrei, auf den Artaud so großen Wert gelegt hatte, […] beim Living Theatre zum festen Ausdrucksrepertoire. Die typischen Gesten waren die der Ekstase: emporgeworfene Arme, verschlungene Gliedmaßen, gegenseitige Umarmungen. Den Kontrast dazu bildeten Gesten der Meditation.“ (Simhandl, 2001: 425) Im Gegensatz zur Brecht’schen Distanzierung sollte das politische Happening eine möglichst weitgehende Einfühlung der Zuschauer in den Schauspieler ermöglichen (vgl. Martin, 2004: 62). Dies setzte entgegen dem von Brecht geforderten zeigenden Gestus eine möglichst authentische Spielweise voraus. Bei The Living Theatre sollte nun auch nicht mehr die Abbildung einer Figur, sondern die Persönlichkeit des Schauspielers im Mittelpunkt stehen (vgl. Simhandl, 2001: 424). Dessen Präsenz sollte auch durch einen sehr spezifischen, auf Meditation und gruppenpsychologischen Übungen basierenden Probenprozess gestützt werden (vgl. ebd.). Ein wichtiger Einfluss, nicht nur für The Living Theater, war dabei Jerzy Grotowski (vgl. Brauneck, 2007: 751). Dieser stand mit seinem „poor theatre“ (Grotowski, 1986) für ein Theater, das allein auf den Schauspieler und seine Beziehung zum Publikum reduziert wurde (vgl. Brauneck, 2007: 748). Ein weiteres zentrales Element war die Zuschauerpartizipation: Während bei Brecht der Zuschauer noch auf seinem Platz aktiviert werden sollte, wurde er mit dem politischen Happening selbst zum Handelnden bzw. Erfahrenden auf der Bühne (vgl. Martin, 2004: 70). Die Aufführung von PARADISE NOW! (UA

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

1968), welche die oben zitierte gewaltfreie Revolution zunächst auf der Bühne nachvollzog, endete beispielsweise damit, dass Zuschauer und Darsteller das Theater für eine gemeinsame Demonstration verlassen sollten: „The theatre is in the street. The street belongs to the people. Free the theatre. Free the street. Begin.“ (vgl. Malina/Beck, zitiert nach Martin, 2004: 49). Mit dieser Form der Zuschauerteilnahme wurde die Grenze zwischen Theateraufführung und tatsächlicher politischer Partizipation überschritten.75 Auf diese Weise wurde Theater zum politischen Ereignis.76 Der Einfluss von The Living Theatre auf das politische Theater in Brasilien, insbesondere auf das Teatro Oficina (siehe Kapitel 2.2.2.3), mit dem The Living Theatre zusammenarbeitete, ist auch in einem längeren Aufenthalt der Theatergruppe vor Ort begründet. Während ihrer Zeit in Brasilien wurde THE LEGACY OF CAIN (UA 1970) konzipiert und uraufgeführt (vgl. Martin, 2004: 78). Auch THE LEGACY OF CAIN arbeitete mit Elementen der Zuschauerpartizipation: So wurden die Schauspieler auf der Bühne gefesselt und konnten nur durch das Publikum wieder befreit werden (vgl. Tytell, 1995: 287). Auch sollte ein Teil der Performance in einer favela stattfinden und Interviews mit favelados einbeziehen (vgl. ebd.: 291). Die Militärregierung reagierte auf die Aufführung, indem mehrere Mitglieder von The Living Theatre festgenommen und über drei Monate im Gefängnis festgehalten wurden (vgl. ebd.: 303f.). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das auf die Avantgardebewegungen und Antonin Artaud aufbauende politische Happening die Grundlage für postdramatisches politisches Theater legte: Anstelle von Handlung und Figur wurde zur Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht die Erfahrung des Zuschauers in den Mittelpunkt gestellt und so die Repräsentation des dramatischen Theaters durch das im postdramatischen Theater zentrale Prinzip der Präsenz abgelöst.

75 | Ein weiteres anschauliches Beispiel für Zuschauerpartizipation im politischen Happening ist die Aufführung von C OMMUNE (UA 1970) von Richard Schechner: Während der Aufführung wählten Schauspieler Zuschauer aus, die auf der Bühne Bewohner eines Dorfes, das während des Vietnamkriegs Schauplatz eines Massakers der USArmee wurde, darstellen sollten. Weigerte sich ein Zuschauer, auf die Bühne zu gehen, wurde die Aufführung so lange unterbrochen, bis er einen Ersatz gefunden oder den Saal verlassen hatte (vgl. Fischer-Lichte, 2004: 65). Damit wurde den Zuschauern die vollständige Verantwortung für den weiteren Verlauf der Aufführung übertragen. Zum Theater von Richard Schechner vgl. Schechner (1974; 1990). 76 | Ein weiteres Beispiel für Zuschauerpartizipation findet sich in P ROMETHEUS AT THE W INTER PALACE (UA 1978), bei dem die Aufführung erst begann, nachdem die Zuschauer die an ihre Sitze gefesselten Akteure befreit hatten (vgl. Tytell, 1995: 328)

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2.2.2

Nationale Vorläufer des zeitgenössischen politischen Theaters in Salvador da Bahia: vom Klassenkampf zum Protesttheater

Ebenso wie das europäische politische Theater bis in die Antike zurückgeht, stehen auch in Brasilien Theater und Politik spätestens seit der Kolonialisierung77 in enger Verbindung: So wurde das Theater als zentrales Element bei der Christianisierung der indigenen Einwohner eingesetzt (vgl. Cafezeiro/Gadelha, 1996: 11; Cacciaglia, 1986: 5). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte es, beispielsweise mit den Komödien von Luis Carlos Martins Pena, zudem bereits Versuche gegeben, soziale Probleme auf der Bühne zu diskutieren, allerdings ohne eine dezidierte politische Wirkungsabsicht zu formulieren (vgl.: Wild, 2007a: 193).78 Das teatro social libertário, ein von italienischen und spanischen Einwanderern nach Brasilien importiertes Arbeitertheater, propagierte zum Beginn des 20. Jahrhunderts sogar ein anarchistisches Gesellschaftsverständnis, blieb allerdings auf einen sehr kleinen Rezipientenkreis aus dem Arbeitermilieu beschränkt (vgl. Garcia, 1990: 90-99). Erst in den 1950er-Jahren kam in Brasilien zur Zeit der Segunda República ein politisches Theater auf, das breit rezipiert wurde und nachhaltigen Einfluss auf die heutige politische Theaterarbeit ausübte (vgl. G. Santos, 2008: 2).79 Seine Entstehung wurde maßgeblich von zwei gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst: Zunächst hatten die rasante ökonomische Entwicklung und zunehmende Industrialisierung des Landes in den 1940er-Jahren zur Ausbildung einer bürgerlichen Mittelklasse sowie organisierter Studenten-, Arbeiter- und Bauernbewegungen geführt, die mehr Beteiligung und eine gerechtere Gesell-

77 | Auch wenn es aufgrund der schlechten Quellenlage nur wenige Informationen dazu gibt, sei darauf hingewiesen, dass das brasilianische Theater selbstverständlich nicht erst mit der „Entdeckung“ beginnt, sondern die indigenen Einwohner bereits vorher theatrale Formen genutzt haben. Zu indigenen theatralen Ausdrucksformen in Brasilien zu Beginn der Kolonialzeit vgl. Cafezeiro/Gadelha (1996: 25-32). Zur Geschichte des brasilianischen Theaters vgl. auch Cacciaglia (1980), Magaldi (1997), Prado (2003). 78 | Zu Martins Pena vgl. auch Magaldi (1997: 62). Zu den Dramatikern, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts soziale Themen diskutieren, gehört beispielsweise Plínio Marcos. Dieser widmete sich in seinen Stücken allerdings nicht dezidiert politischen Themen (vgl. Nitschack, 2007: 487). Zu weiteren brasilianischen Dramatikern, die vor den 1950er-Jahren soziale Themenstellungen ansprechen, vgl. George (1992). 79 | Ebenso argumentieren auch Thorau (1982:12f.); Mostaço (1982: 15); Garcia (1990: 99).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

schaft forderten (vgl. ebd.: 2; Nitschack, 2007: 482f.).80 Zudem hatte das Ende des Estado Novo und der autoritären Herrschaft von Getúlio Vargas nach mehr als fünfzehn Jahren die brasilianische Gesellschaft allgemein mobilisiert und politisiert (vgl. Aggio/Barbosa/Coelho, 2002: 60f.; Garcia, 1990: 99f.). Insbesondere während der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek (19561961) zeichnete sich die Gesellschaft zudem durch einen zunehmenden, vor allem gegen US-amerikanische Investoren und Unternehmen gerichteten Nationalismus aus (vgl. Burns, 1980: 435). Neben der Staatsdoktrin des desenvolvimentismo, die u.a. öffentliche Ressourcen der Regierungskontrolle unterstellte und ausländische Investitionen beschränkte (vgl. Aggio/Barbosa/Coelho, 2002: 62), wurde auf gesellschaftlich-kultureller Ebene das von Getúlio Vargas eingeführte Konzept der brasilidade, einer eigenständigen brasilianischen Identität und Kultur, gefördert (vgl. Bishop-Sanchez, 2015: 26-30). Ihren Höhepunkt fand die Mobilisierung der brasilianischen Gesellschaft während der Präsidentschaft von João Goulart (1961-1964), die, geprägt von der Ankündigung zahlreicher umstrittener Reformen, zu einer zunehmenden Polarisierung führte und schließlich durch den Militärputsch 1964 beendet wurde (vgl. Aggio/Barbosa/ Coelho, 2002: 67-69). War das Theater während der 1950er-Jahre noch ein Ort gewesen, an dem die drängenden gesellschaftlichen Fragen – zumindest weitgehend – unabhängig verhandelt werden konnten, erschwerten nun immer schärfere Zensurreglungen die Produktion (vgl. Nitschack, 2007: 485).81 Nach Erlass des Ato Institucional 582 wurden zwischen 1968 und 1978 mehr als 400 Aufführungen verboten oder zensiert (vgl. ebd.). Eine abstraktere Darstellungsweise half den Theatermachern unter diesen spezifischen Voraussetzungen bei der Umgehung der Zensur, allerdings drückte sich in den neuen, stärker an Antonin Artaud und The Living Theatre angelehnten Theaterformen, auch eine international spürbare, grundlegende Ablehnung der etablierten Theatermittel der vergangenen Generation aus (vgl. Michalski, 1985: 24f.). Die zunehmende Popularität des Happenings und die Kritik am Bürgertum, Imperialismus und 80 | Zu einer ausführlichen Beschreibung der Entwicklung der brasilianischen Zivilgesellschaft ab 1930 vgl. Aggio/Barbosa/Coelho (2002: 131-146). 81 | Allerdings sei darauf hingewiesen, dass sich auch das politische Theater der 1950er- und 1960er-Jahre bereits mit Zensur auseinandersetzen musste, so z.B. die Aufführung A E NGRENAGEMvon Teatro Oficina (siehe Kapitel 2.2.2.3). Allerdings wurde die Zensur nicht so umfassend und systematisch betrieben wie während der Militärdiktatur (vgl. Peixoto, 1982: 22). 82 | Die insgesamt siebzehn Dekrete Atos Institucionais waren das Instrument der Militärs, „ihre Herrschaft und deren Instrumentarium in die bestehende Verfassungsordnung“ (Zoller, 2000: 271) einzupassen und auf diese Weise zu legitimieren.

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Krieg, spiegelt auch eine Entwicklung der 1960er-Jahre als „Jahrzehnt der Protestbewegungen“ (Brauneck, 2007: 243) zahlreicher Industrienationen wider. Als besonders einflussreich, sowohl für die Entwicklung des politischen Theaters in den 1950er-Jahren als auch für den künstlerischen Widerstand zu Beginn der Militärdiktatur, gelten die in Rio de Janeiro und São Paulo angesiedelten Theatergruppen Centro Popular de Cultura, Teatro de Arena und Teatro Oficina.83 Durch die Einführung neuer Themen, Bühnenformen und Schauspieltechniken zielten die Gruppen darauf ab, die etablierten Konventionen des bürgerlichen Theaters in Brasilien zu durchbrechen. Dabei lassen sich die Theatergruppen ebenso wie die internationalen Ausprägungen des politischen Theaters entlang der Unterscheidung dramatischer und postdramatischer Formen des politischen Theaters beschreiben. Auch knüpfen sie an die in Kapitel 2.2.1 beschriebenen internationalen Ausprägungen des politischen Theaters an: Während sich beim Centro Popular de Cultura Einflüsse des russischen Agitprop nachweisen lassen, kombinierte Teatro de Arena das epische Theater von Brecht mit der Schauspieltechnik Stanislavskijs. Teatro Oficina hingegen arbeitete mit Elementen des politischen Happenings und setzte sich intensiv mit dem théâtre de la cruauté auseinander. Auf dieser Basis bildeten die Theatergruppen jeweils eigenständige brasilianische Formen des politischen Theaters aus.

2.2.2.1 Centro Popular de Cultura Trotz seiner kurzen Bestehenszeit von nur drei Jahren hat das Centro Popular de Cultura (CPC) des Studentenverbandes União Nacional dos Estudantes (UNE) das politische Theater in Brasilien maßgeblich geprägt (vgl. J. Boal, 2000: 13). Es wurde 1961 unter der Leitung von Carlos Estevam Martins sowie Oduvaldo Vianna Filho, zuvor Mitglied von Teatro de Arena, und dem Filmregisseur Leon Hirszman in Rio de Janeiro gegründet (vgl. Mostaço, 1982: 57f.). Organisiert in Arbeitsgruppen und Arbeitskollektiven, weiteten sich seine Aktivitäten bald darauf auch auf zahlreiche andere brasilianische Städte aus (vgl. J. Boal, 2000: 22; 29).84 Wie bereits am Namen Centro Popular de Cultura abzulesen, war das Konzept der Volkskultur, der cultura popular, Ausgangspunkt für das Schaffen des CPC. Der Begriff der cultura popular wurde in den 1960er-Jahren nicht nur 83 | Auch für die folgenden Kapitel gilt, dass sich diese Arbeit bei den drei Theatergruppen auf eine grobe Übersicht der für das politische Theater in Salvador da Bahia bedeutendsten Einflüsse (siehe Kapitel 3.1.2) beschränkt. Einige Zusammenhänge sind daher sehr allgemein dargestellt. 84 | Allein São Paulo blieb trotz seiner Größe aufgrund des Teatro de Arena, zu dem das CPC nicht in Konkurrenz treten wollte, von der Ausbreitung der CPC ausgenommen (vgl. Mostaço, 1982: 61).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

vom CPC, sondern auch von zahlreichen anderen brasilianischen Künstlern, darunter Teatro de Arena, zur Beschreibung ihrer Kunst eingesetzt (siehe Kapitel 2.2.2.2). Das CPC zeichnete sich allerdings durch eine besonders systematische Anwendung und Erweiterung des Konzepts aus. Im Gegensatz zu dem im Verständnis der vorliegenden Arbeit unpolitischen europäischen Volkstheater (siehe Kapitel 2.1.2 und 2.2.1.1) verfügte die cultura popular im Sinne des CPC über einen dezidierten politischen Wirkungsanspruch: [E]m nosso país, e em nossa época, fora da arte política não há arte popular. (Martins, zitiert nach Garcia, 1990: 108)

Das CPC bezog sich dabei auf die Pädagogik Paulo Freires85 und des 1960 in Recife gegründeten Movimento de Cultura Popular (vgl. Dunn, 2011: 40). Unter dem Stichwort conscientização war es erklärtes Ziel des Movimento de Cultura Popular, das von seinen Bedürfnissen entfremdete Volk aufzuklären (vgl. Roett, 1999: 68). Auch das CPC, dessen Mitglieder mehrheitlich der Partido Comunista Brasileiro86 (PCB) angehörten (vgl. J. Boal, 2000: 37), strebte mit seinem Theater politische Wirkung an: O CPC surge daí, decorrente da idéia de que era necessário aumentar as fileiras, politizando as pessoas a toque de caixa, para engrossar e enraizar o movimento pela transformação estrutural da sociedade brasileira. (Martins, zitiert nach Mostaço, 1982: 60)

Entsprechend dem Vorbild des Movimento de Cultura Popular, das alle Kunstformen umfasste (vgl. Roett, 1999: 68), wurden die vom Theater ausgehenden Aktivitäten des CPC ab 1962 zunehmend auch auf andere Sparten wie Mu85 | Paulo Freire kreierte in den 1960er-Jahren seine pedagogia do oprimido, die den brasilianischen Schulunterricht im Sinne eines Dialogs reformieren sollte (vgl. Freire, 1973: 71). Bereits zuvor hatte er ein umfangreiches Alphabetisierungsprogramm entworfen, das u.a. von CPC eingesetzt wurde (vgl. Zumhof, 2012: 16; J. Boal, 2000: 77). 86 | Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass einer der Leiter, Carlos Estevam Martins, zuvor als Volkswirtschaftler am Instituto Superior de Estudos Brasileiros (ISEB) tätig war (vgl. Mostaço, 1982: 57). Das ISEB galt als wichtiges Organ der politischen Meinungsbildung: „Organizado como uma ‚universidade‘, através de aulas, conferências e seminários, influiu decisivamente a formação da intelectualidade jovem dos últimos anos 50 e primeiros da década 60. Sem ser um o portador de um pensamento único, frise-se, pelo contrário, comportando desde neo-positivistas até marxista.“ (Ebd.: 45) Gemeinsam war ISEB und PCB insbesondere ihre anti-imperialistische Haltung (vgl. ebd.: 46f.).

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sik, Kino und bildende Kunst ausgeweitet (vgl. Garcia, 1990: 102). Um die gewünschte Zielgruppe anzusprechen, kam dabei, wie beim Theater des Agitprop, der Einbindung volkstümlicher Kunstformen – Tänzen wie der im Nordosten sehr verbreitete Volkstanz bumba-meu-boi oder das Marionettenspiel mamulengo sowie der Präsentation von literatura de cordel87 als auch Zirkuselementen – besondere Bedeutung zu (vgl. ebd.: 103). Charakteristisch für das CPC war dabei, dass es für seine Aufführungen keine Theatergebäude nutzte, sondern diese direkt auf der Straße, auf Studenten- oder Gewerkschaftsversammlungen stattfinden ließ, um so besseren Zugang zur intendierten Zuschauerschaft zu erhalten (vgl. J. Boal, 2000: 14). Neben diesen künstlerischen Mitteln sollte zudem außertheatrales Engagement wie Unterrichtseinheiten zur Alphabetisierung der Landbevölkerung auf den politischen Prozess einwirken, indem es diesen die Möglichkeit verschaffte, an Wahlen teilzunehmen (vgl. ebd.: 77).88 War die Zielgruppe entsprechend der Nähe zur PCB eindeutig „o povo“ (Mostaço, 1982: 60) als Träger des politischen und gesellschaftlichen Wandels, unterscheidet Martins hinsichtlich der Verortung der Theaterproduzenten unterschiedliche Typen der cultura popular: „arte do povo“ (ebd.: 59), „arte popular“ (ebd.) und „arte popular revolucionária“ (ebd.). Während es bei arte do povo keinen Klassenunterschied zwischen Kunstproduzenten und -konsumenten gibt, d.h. beide dem Proletariat entstammen, zeichnet sich arte popular durch Künstler aus dem Bürgertum aus, die sich nicht notwendigerweise mit den politischen Zielen des Proletariats identifizieren (vgl. ebd.: 59f.). Bei der von CPC umgesetzten arte popular revolucionária stellen sich dagegen die ebenfalls dem Bürgertum entstammenden Künstler im Klassenkampf explizit auf die Seite der Arbeiterschaft (vgl. ebd.: 60). Wenn diese Argumentation auch das offensichtliche Gefälle zwischen Akteuren des CPC aus dem intellektuellen, studentischen und künstlerischen Milieu (vgl. J. Boal, 2000: 13) und ihren intendierten Zuschauern zu rechtfertigen suchte, muss festgehalten werden, dass eben dieses in der Realität zu Schwierigkeiten führte: Während die Mitglieder des CPC sich nicht in ihr intendiertes Publikum einfühlen konnten (vgl. Mostaço, 1982: 61), erschwerten aufseiten des Proletariats weitere Faktoren die Kommunikation: „[A] falta de hábito cultural, a falta de hábito das pessoas irem ao teatro, a falta de informações que complementassem seu entendimento“ (Gullar, zitiert nach ebd.: 62). Tatsäch87 | literatura de cordel existiert in Brasilien seit dem 16. Jahrhundert und ist „uma literatura híbrida de formas populares e folclóricas. Por um lado está escrita com a autoria indicada, impressa em folhetos de papel frágil e barato e vendidas nas praças, feiras e esquinas da rua […]. Muitos dos seus temas, suas formas métricas e sua apresentação na feira vêm da tradição do Nordeste do Brasil.“ (Curran, 1991: 570) 88 | Erst in den 1980er-Jahren wurde in Brasilien das aktive Wahlrecht für Analphabeten eingeführt (vgl. Stauffer, 2008: 179).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

lich erreichte auch das CPC insbesondere ein studentisches Publikum (Garcia, 1990: 107) – dabei war eben diese Diskrepanz einer der Kritikpunkt an Teatro de Arena gewesen (Mostaço, 1982: 58).89 Um Aufklärung und Mobilisierung des Proletariats zu erreichen, war für das CPC, ebenso wie für Teatro de Arena, die Abbildung der brasilianischen Realität auf der Bühne unverzichtbar (vgl. Garcia, 1990: 103). Indem es in seinen Aufführungen Repräsentation als Grundprinzip verwendete, lässt sich das CPC dem dramatischen politischen Theater zuordnen. Dabei setzten sich die Aufführungen stets mit konkreten und aktuellen Problemen der intendierten Zuschauer und gegenwärtigen Ereignissen auf nationaler oder lokaler Ebene auseinander (vgl. ebd.). Damit rasch auf aktuelle Ereignisse reagiert werden konnte, wurden die Theatertexte zum Großteil von einem Autorenkollektiv geschrieben und kurz vor der Aufführung der konkreten Zielgruppe und Situation vor Ort angepasst (vgl. Mostaço, 1982: 61). Entsprechend der Ausrichtung der PCB und des ISEB verfügte auch das Theater des CPC über einen starken nationalistischen – oder, aus einer anderen Perspektive: postkolonialen90 – Charakter: Da die Ursachen der sozialen Probleme und der Widerstand gegen eine gesellschaftliche Veränderung auch ausländischen Einflüssen zugerechnet wurden, richtet sich die vom CPC propagierte cultura popular dezidiert auch gegen die „dominação imperialista“ (vgl. Gullar, 1980: 85) Europas und der USA. Dabei wurde davon ausgegangen, dass sich die verschiedenen Klassen Brasiliens zunächst zu einer „frente nacionalista“ (Mostaço, 1982: 62) zusammenschließen mussten, um sich von imperialistischen Einflüssen der USA zu befreien und damit die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft zu legen (ebd.: 46f.). Konkret bedeutete dies für das Theater des CPC, dass ausländische Texte, Schauspiel- und Regietechniken auf die ihnen zu Grunde liegenden Werte und Perspektiven hinterfragt und auf ihre Anwendbarkeit im brasilianischen Kontext überprüft wurden. So lehnte Martins eine Anwendung der Mittel des epischen Theaters von Brecht explizit ab: O Chico de Assis queria aplicar técnicas de Brecht e eu disse: ‚Nada de Brecht por aqui.‘ Quer dizer, nós tínhamos tanta auto-confiança que vinha alguém falar em 89 | Entsprechend bemisst sich die Bedeutung des CPC heute eher anhand seiner Wirkung auf die intellektuelle Mittelschicht denn auf das städtische und ländliche Proletariat (vgl. Mostaço, 1982: 58). 90 | Wie in Kapitel 2.1.4 beschrieben, versteht diese Arbeit Akte, die sich gegen Kolonialismus, Imperialismus und ihre Auswirkungen richten, als „postkolonial“. Daher kann der gegen europäische Dominanz und amerikanischen Imperialismus gerichtete Nationalismus von CPC hier auch als Postkolonialismus bezeichnet werden. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass Nationalismus und Postkolonialismus immer gleichzusetzen sind.

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Brecht, no caso um teatrólogo, e nós dizíamos que Brecht não entendia nada daquilo que estávamos fazendo, que não queríamos efeitos de distanciamento, mas o máximo de aproximação possível. (Martins, zitiert nach ebd.: 60f.) 91

Gleichzeitig wurde die Kritik am Imperialismus in den Texten explizit formuliert: In BRASIL, VERSÃO BRASILEIRA (UA 1962) wird nationale Einheit für den Schutz der Petrobrás92 und der brasilianischen Industrie vor US-amerikanischen Einflüssen propagiert, welche die soziale Ungleichheit in Brasilien befördern würden (vgl. Costa, 1996: 90f.). Die soziale und nationalistische Komponente des Theaters des CPC spiegelt sich in der Figurenkonstellation des Theaterkollektivs wider: Entsprechend dem Gesellschaftsverständnis des CPC wurden in den Aufführungen die „exploradores“ (J. Boal, 2000: 105), d.h. „os latifundários e os burgueses“ (ebd.), „o governo e os políticos“ (ebd.: 112), „a universidade e a igreja“ (ebd.: 114), „as forças da ordem“ und „o imperialismo“ (ebd.: 118), den „explorados“ (ebd.: 85), d.h. „operários e camponeses“ (ebd.) mit ihren „aliados“ (ebd.: 98), d.h. „intelectuais“, (ebd.), „estudantes“ (ebd.: 99) sowie „nacionalistas e o socialismo“ (ebd.: 102), gegenübergestellt. Helden der Aufführungen des CPC waren gemäß dieser Konstellation zumeist Figuren, die nationalistische Positionen vertraten (vgl. ebd.). Den Zuschauern sollten, ebenso wie im russischen Theater zu Beginn des 20. Jahrhunderts, durch aktuelle, sie betreffende Themen und die Abbildung des richtigen Verhaltens im Sinne eines „ensaio da revolução“ (ebd.: 76f.) konkrete Verhaltensmöglichkeiten präsentiert und nahegebracht werden. Die arte popular revoulcionária des CPC spiegelte sich auch in der Form des Theaters wider (vgl. ebd.: 23). Aufführungen wie AUTO DOS 99% (UA 1962), die unter anderem das elitäre brasilianische Universitätssystem angeprangerte, fügten kurze dramatische Szenen, Rezitationen und Lieder aneinander (vgl. Garcia, 1990: 111). Äußerungen der Zuschauer wurden von den Schauspielern 91 | Allerdings muss festgehalten werden, dass andere Mitglieder des CPC, beispielsweise Oduvaldo Vianna Filho, deutlich von Brecht beeinflusst waren: „Brecht pra mim é artista antes de ser homem. É consciente de suas responsabilidades. Brecht faz um teatro ético. Exclusivamente ético. A arte para ele é o que trata da ética instintiva do homem que ele apanha empiricamente da realidade e que só a arte pode organizar e dirigir conscientemente.“ (Vianna Filho, 1983: 60) Daher ist davon auszugehen, dass trotz der Ablehnung von Martins das Theater von Brecht auf das CPC Einfluss genommen hat. 92 | Das Mineralölunternehmen Petrobrás wurde 1953 als halbstaatliches Unternehmen von Getúlio Vargas gegründet, auch, um amerikanische Einflüsse zu reduzieren. Der Schutz der eigenen Mineralölvorkommen vor ausländischen Investitionen war bereits seit den 1940er-Jahren von Vargas in seiner Campanha do Petróleo gefordert worden. Zur Geschichte und Rolle der Petrobrás vgl. Penna/Sena Filho/Souza (2004).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

aufgegriffen und in die Aufführungen einbezogen (vgl. J. Boal: 77f.).93 Allerdings ist festzuhalten, dass aufgrund der Vorgabe, mit den Aufführungen so schnell und präzise wie möglich auf jeweils aktuelle Ereignisse zu reagieren, die ästhetische Präsentation auf der Bühne eher nachrangig behandelt wurde (vgl. Garcia, 1990: 109f.). Aufgrund seines politischen Wirkungsanspruchs und der Nähe zur PCB wurde das CPC unmittelbar nach dem Militärputsch im Jahr 1964 verboten, nachdem zunächst der Hauptsitz in Rio de Janeiro angezündet worden war (vgl. Michalski, 1985: 16). Gemeinsam mit Mitgliedern anderer Theatergruppen wie Augusto Boal gründeten Vertreter des CPC im Anschluss die Gruppe Teatro Opinião. Sich selbst als „esquerda festiva“ (Mostaço, 1982: 81) bezeichnend, trat an die Stelle der direkten Repräsentation politischer Konflikte auf der Bühne das „Protestmusical“, das in Inszenierungen wie SHOW OPINIÃO (UA 1964) und LIBERDADE, LIBERDADE (UA 1965) Musik, Dokumente und literarische Texte zu Collagen zusammenfügte (vgl. ebd.: 76; 80). Neben den professionellen Schauspielern von Teatro de Arena und des CPC waren es nun insbesondere Bossa Nova-Sänger wie Nara Leão, die das Protestmusical prägten (vgl. Mostaço, 1982: 77). Die soziale und nationalistische Komponente des politischen Theaters der 1950er- und frühen 1960er-Jahre blieb zunächst erhalten: The protest-musical genre was characterized by direct and open criticism of social problems, such as poverty in the rural Northeast and the urban South, and by what some might have called ‚ingenuous‘ nationalism. (George, 1992: 105)

Mit steigender Härte der Militärdiktatur wurden die politischen Inhalte des Protestmusicals allerdings zunehmend verschlüsselt vermittelt: Em uma alusão à esperança e à resistência, o musical marcou o início de uma tendência – ou melhor, necessidade – de se passar a mensagem política através de parábolas, driblando a censura. (Carvalho, 2009: 50)

Die Aufklärung des proletarischen Publikums, die für das CPC im Vordergrund stand, wurde von dem Ziel abgelöst, durch das gemeinsame Erlebnis eine gegen das Militärregime gerichtete „aliança simbólica“ (ebd.) zwischen Publikum und

93 | Diese Reaktion der Schauspieler wurde von CPC selbst als „metateatro“ (J. Boal, 2000: 77f.) bezeichnet und weicht damit von dem Verständnis politischen Metatheaters, das in den Analysen in Kapitel 4.1.2.1 zu Grunde gelegt wird, deutlich ab: „[O] metateatro não é uma mise-en-abîme […]; o metateatro, ao contrário, representa o englobamento do público no interior da própria peça.“ (Ebd.: 78; Herv.i.O.)

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Akteuren herzustellen.94 Das Beispiel von CPC und Teatro Opinião zeigt: An die Stelle der dramatischen Repräsentation und der deutlich formulierten politischen Kritik trat aufgrund der zunehmenden Zensur in den 1960er-Jahren zunehmend die Präsenz als bestimmendes Prinzip politischer Theateraufführungen.

2.2.2.2 Teatro de Arena Die Theatergruppe Teatro de Arena wurde von dem Regisseur José Renato 1953 in São Paulo gegründet. Zunächst verfolgte die Gruppe keine politischen Ziele, sondern richtete sich allgemein gegen die starke europäische Ausrichtung des brasilianischen Theaters, insbesondere des Teatro Brasileiro da Comédia (vgl. Mostaço, 1982: 30f.), einer der ersten nichtstaatlichen, professionellen Theatergruppe Brasiliens. 1948 vom italienischen Industriellen Franco Zampari in São Paulo gegründet und mit italienischem Ensemble und an der Academia de Arte Dramatica in Rom ausgebildeten Regisseuren ausgestattet, wandte sich diese mit der Aufführung von Theaterstücken der europäischen Avantgarde insbesondere an das brasilianische Bürgertum (vgl. ebd.: 18-21). Dem Anspruch, über das Theater auch politische Wirkung zu entfalten, wurde bei Teatro de Arena durch eine Fusion mit dem Teatro Paulista de Estudantes und der Aufnahme politisch engagierter Mitglieder wie Gianfrancisco Guarnieri, Oduvaldo Vianna Filho und Augusto Boal entsprochen (vgl. G. Santos, 2008: 3). So forderte Guarineri für das Theater [u]ma tomada de posição é indispensável, pois de nada valem subterfúgios mascerados de ,objetivismo‘, ,visão apolítica dos fenômenos‘, ,exigências psicológicas das personagens‘, para ocultar atitudes reacionárias e contrárias aos mais altos interesses da nossa gente (Guarnieri, zitiert nach G. Santos, 2008: 5).

Ebenso wie die in Kapitel 2.2.1.1 und 2.2.1.2 vorgestellten Theaterformen legte das Teatro de Arena seinem Schaffen ein marxistisches Weltbild zu Grunde, in diesem Fall das Weltbild, das in Brasilien von der PCB propagiert wurde: Es wurde davon ausgegangen, dass die Welt grundsätzlich durch den Menschen veränderbar und die proletarische Revolution der einzige Weg zur gesellschaftlichen Entwicklung war (vgl. Mostaço, 1982: 46f.). Die Annahme von Teatro de Arena, dass Theater und Politik dabei keine getrennten Sphären waren, 94 | Allerdings weist Roberto Schwarz auf einen „certo mal-estar estético e político diante do total acordo que se produzia entre palco e platéia“ (Schwarz, 1978: 80) hin. Anstelle einer kritischen Analyse sei die populistische Ansprache an das Volk getreten, die ebenfalls autoritäre Züge getragen habe (vgl. ebd.).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

sondern durchaus aufeinander einwirken konnten, gilt als der Ursprung eines funktionalen Theaterverständnisses in Brasilien (vgl. ebd.: 47). Ebenso wie in den anderen Formen des politischen Theaters rückte mit der politischen Wirkungsabsicht auch das Publikum, bei dem die Wirkung erzielt werden sollte, ins Zentrum der Theaterarbeit. Für sein Theater verwendete Boal, der Teatro de Arena ab 1956 leitete, auch den Begriff des teatro popular: Popular não é sinônimo de casa lotada. Significa que, prosseguindo o seu desenvolvimento dialético, o teatro brasileiro incorporará, pela primeira vez, uma platéia operária. […] A nova classe transformada em platéia, trará uma riqueza maior de idéias, impossíveis de serem solicitadas pela platéia burguesa. (Boal, zitiert nach ebd.: 45) 95

Tatsächlich bildeten allerdings Vertreter des Bürgertums die Mehrheit des Publikums von Teatro de Arena, sodass trotz seiner Intentionen nicht von einem proletarischen Publikum gesprochen werden kann (vgl. ebd.: 126). Dies führte schließlich zum Austritt von Oduvaldo Vianna Filho und bildete einen der Ansatzpunkte für die Arbeit des Centro Popular de Cultura (siehe Kapitel 2.2.2.1). Boal ging davon aus, dass die Repräsentation der Realität auf der Bühne die größtmögliche Identifikation bewirken und damit die stärkste Wirkung erzielen würde: A trilogia Black-Tie, Gimba e A Semente constitui-se num ciclo denso de preocupações com a realidade imediata, no sentido de retratá-la, comprêende-la e, também, modifica-lá. (Ebd: 37; Herv.i.O.)

Boal zielte auf eine Darstellung der Realität der Arbeiter ab: Themen aus dem Arbeitermilieu, die bisher kaum auf der Bühne dargestellt wurden, wurden nun vom teatro popular abgebildet (vgl. ebd.: 35). Zudem wurde das stilisierte Portugiesisch, das auf dem Theater genutzt wurde, im Sinne einer möglichst realistischen Darstellung durch brasilianische Alltagssprache ersetzt (vgl. ebd.: 30f.). Damit lässt sich Teatro de Arena als Vertreter des dramatischen politischen Theaters verorten.96 Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Umsetzung dieser Ziele auf der Bühne findet sich in der Aufführung des ersten Textes von Gianfrancesco Guarnieri, ELES NÃO USAM BLACK-TIE (UA 1958) unter der Regie von José Renato. Mit dem Handlungsort favela, seinen proletarischen Protagonisten und den 95 | Das teatro popular, wie es von Boal propagiert wird, ist damit nicht zu verwechseln mit dem europäischen Volkstheater, das, wie in Kapitel 2.1.2 und 2.2.1.1 beschrieben, zwar ebenfalls auf das Proletariat abzielte, allerdings keine politische Wirkung beabsichtigte. 96 | Vgl. dazu auch Boal (1991: 192).

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Themen Armut und Sozialismus, die auf der Bühne im Rahmen eines betrieblichen Streiks abgebildet und verhandelt wurden, gilt es als erstes brasilianisches Theaterstück, das auf der Bühne die Realität der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung abbildete: [E LES NÃO USAM BLACK-TIE ; Anm. SV] era a estréia do proletariado brasileiro como protagonista de uma peça teatral, a surgir não como original, folclórico, NAF, ou outras adjetivações que costumavam diluir a característica de classe em meio a várias apreensões que confinaçam o operário ao malandro [...]; ao bom trabalhador do Estado Novo. (Ebd.: 35; Herv.i.O.) 97

Während der 1950er-Jahre strebte Teatro de Arena als weiteres politisches Ziel die „libertação nacional“ (Boal, zitiert in ebd.: 32) an, die Befreiung der brasilianischen Gesellschaft von der – in den Augen von Teatro de Arena weiterhin andauernden – europäischen Kolonisation und vom amerikanischen Imperialismus.98 Diese Zielsetzung wurde auf zwei Ebenen verfolgt: Einerseits, indem der nationalistische Befreiungskampf – wie in der Aufführung Juno e o Pavão (UA 1957) – auf der Bühne thematisiert wurde (vgl. ebd.: 31f.), andererseits, indem Teatro de Arena auch in Inhalt und Form ein eigenständiges brasilianisches Theater entwickelte. Um die nationale Dramatik und Identität zu stärken, verfolgte Teatro de Arena zwei unterschiedliche Strategien: In der „fase nacionalista“ (J. Boal, 2000: 17) von 1958 bis 1963 konzentrierte es sich auf die Inszenierung von Werken nationaler Dramatiker (Boal, 1991: 191): As peças tratavam do que fosse brasileiro: suborno no fútbol interiorano, greve contra os capitalistas, adultério em Bagé, vida subumana dos empregados em ferrovias, cangaço no Nordeste e a consequente aparição de Virgens e Diabos etc. (ebd.).

97 | Ein zweites Beispiel ist A S EMENTE (UA 1961), ebenfalls geschrieben von Guarnieri. Die Aufführung bildete einen marxistischen, im Klassenkampf engagierten Arbeiterführer als Protagonisten ab und widmet sich thematisch „o interior do Partido Comunista, seu funcionamento interno e a preparação e posterior repressão de uma greve operária“ (Mostaço, 1982: 37). 98 | In diesem Zusammenhang sei auch auf die Amateurgruppe Os Comediantes aus Rio de Janeiro hingewiesen, die 1943 VESTIDO DE N OIVA von Nelson Rodrigues uraufführte. Auch wenn weder das Proletariat im Zentrum stand noch eine politische Wirkung intendiert wurde, bildete sie den Auftakt für eine nationale Dramatik, die sich mit den realen Verhältnissen Brasiliens auseinandersetzte. V ESTIDO DE N OIVA wird daher von vielen Autoren als Basis für das moderne brasilianische Theater gesehen (vgl. u.a. Mostaço, 1982: 18; J. Boal, 2000: 16).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Anschließend, von 1962 bis 1964, stand die „nacionalização dos clássicos“ (Boal, 1991: 192), die Übertragung europäischer Klassiker auf den brasilianischen Kontext im Vordergrund.99 Durch Änderungen im Text oder durch die Inszenierung wurde stets ein Bezug zu politischen Fragen der brasilianischen Gegenwart hergestellt (vgl. ebd.: 193). In der Terminologie der postcolonial studies kann durch die bewusste Aneignung und Auseinandersetzung mit den europäischen Texten als politischem Projekt von einem postkolonialen re-writing (siehe Kapitel 2.1.4) ausgegangen werden.100 Im Zentrum der Inszenierungen von Teatro de Arena steht bis heute die vom russischen Revolutionstheater inspirierte und von den Amerikanern Margo Jones und Gilmore Brown für die Nutzung kleiner Theaterräume entwickelte Arenaform (vgl. Mostaço, 1982: 23).101 Diese Bühnenform erwies sich für den brasilianischen Theaterkontext besonders geeignet, da sie einerseits nur geringe Kosten verursachte, andererseits dem Publikum eine neue Ästhetik bieten konnte (vgl. ebd.: 24). Die Arenaform bot sich für die von Teatro de Arena angestrebte Identifikation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen zudem besonders an, da sie eine große Nähe zwischen Zuschauern und Akteuren ermöglichte (vgl. ebd.: 25). Der Verzicht auf ein Bühnenbild und Requisiten führte dazu, dass der Schauspieler im Mittelpunkt der Aufführung stand (vgl. ebd.). Weiterhin sollten die Schauspieler, ebenfalls im Sinne der größtmöglichen Identifikation, möglichst authentisch agieren. Aufgrund der geringen Distanz 99 | Basis für beide Phasen war das bereits 1958 von Teatro de Arena durchgeführte Seminário de Dramaturgia Nacional (vgl. Costa, 1996: 40). Dieses Seminar gilt heute als einer der ersten Versuche, die nationale brasilianische Dramatik in Brasilien zu stärken (vgl. George, 1992: 46). Neben nationaler Dramatik behandelte das Seminar aber auch die Frage, wie die Techniken von Meyerhold, Piscator und insbesondere Brecht in den brasilianischen Kontext überführt werden könnten (vgl. Mostaço, 1982: 44). 100 | Anhand des Teatro de Arena lässt sich illustrieren, inwieweit ein rein postkolonialer Ansatz für die Beschreibung des politischen Theaters in Brasilien zu kurz greifen würde: Teatro de Arena richtete sich nicht in erster Linie gegen den ehemaligen Kolonialherren Portugal, sondern, auf Ebene des Theaters, insbesondere gegen französische und italienische Dramen und Schauspielkonventionen, die das brasilianische Theater dominierten (vgl. Mostaço, 1982: 30f.). Auch die antiimperialistischen Tendenzen von Teatro de Arena – ebenfalls wie bei CPC und Teatro Oficina –, die in erster Linie gegen die USA gerichtet sind, ließen sich bei einer engen Auslegung nicht als politisches Theater analysieren. 101 | Die Arenaform wurde in Brasilien zunächst von José Renato in den Theaterräumen des Teatro Brasileiro de Comédia ausprobiert (vgl. Mostaço, 1982: 24). Aufbauend auf diesen Erfahrungen gründete Renato anschließend die Companhia de Teatro de Arena de São Paulo (vgl. ebd.).

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erforderte dies eine für das brasilianische Theater zu diesem Zeitpunkt neue Sprechweise, Atmung, Mimik und Art der Bewegung, wie sie beispielsweise von Stanislavskij gelehrt wurde (vgl. ebd.: 26). Gleichzeitig setzte Teatro de Arena auch epische Elemente, insbesondere den Brecht’schen V-Effekt, durch Sichtbarkeit der Bühnenmittel, ein (vgl. ebd.: 31). Der Zuschauer wurde auf diese Weise gleichsam zur größtmöglichen Identifikation mit den Protagonisten angehalten und auf die Fiktionalität des Geschehens im theatralen Kontext hingewiesen. Auf diese Weise grenzte sich Teatro de Arena vom Illusionscharakter des Teatro Brasileiro de Comédia ab (vgl. ebd.: 30f.). Nach dem Militärputsch 1964 veränderte sich die Zielgruppe von Teatro de Arena. Nun waren es bewusst Studenten, die als Träger eines gesellschaftlichen Umbruches adressiert wurden: Fracassada em suas pretensões revolucionárias e impedidas de chegar às classes populares, a produção cultural engajada passa a realizar-se num circuito nitidamente integrado ao sistema – teatro, cinema, disco – e a ser consumida por um público já ‚convertido‘ de intelectuais e estudantes da classe media. (Hollanda, zitiert nach Carvalho, 2009: 46)

Auch wandelte sich die Zielsetzung des Theaters von der Aufklärung des Publikums zur Bestätigung bereits vorgefasster Meinungen, da spätestens ab 1968 aufgrund der Zensur kein offensichtlicher Protest mehr möglich war (vgl. ebd.). Während der Militärdiktatur waren im Rückblick die ARENA CONTA …-Aufführungen besonders einflussreich. So gilt ARENA CONTA ZUMBI (UA 1965) heute als eine der wichtigsten künstlerischen Verurteilungen des Militärputsches (Costa, 1996: 101). Die Aufführung stellt eine Analogie zwischen dem Widerstandskampf der entflohenen Sklaven des quilombo Palmares (siehe Kapitel 4.1.2.2), deren friedliches Zusammenleben von den portugiesischen Kolonisatoren gestört wird, und dem Kampf gegen die Militärdiktatur her (vgl. Mostaço, 1982: 82). Entgegen der zuvor von Teatro de Arena angestrebten Identifikation zwischen Schauspieler und Rolle sollten nun die Schauspieler als solche zu erkennen bleiben (vgl. ebd.). Dies wurde erreicht, indem ein Großteil der Szenen narrativ, mithilfe von Fotografien und Karten, wiedergegeben wurde und die Schauspieler ihre Rolle beständig wechselten – nach dem so genannten coringaSystem (vgl. ebd.).102 Die dramatische Abbildung der Realität wurde auf diese Weise durch epische und narrative Elemente gebrochen – wenn auch nicht infrage gestellt. An die Stelle der Identifikation mit dem Geschehen auf der Bühne trat die Reflexion des Zuschauers (vgl. Boal, 1991: 196). Das coringa-System wurde auch in ARENA CONTA TIRADENTES (UA 1967) eingesetzt. Die zeitliche Analogie wurde hier zwischen Militärdiktatur und der 102 | Ausführlich zum coringa-System vgl. Boal (1991: 198-220).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Conjuração Mineira des 18. Jahrhunderts (siehe Kapitel 2.1.4) hergestellt. Im Gegensatz zu der alle Figuren umfassenden Rotation in ARENA CONTA ZUMBI wurde Tiradentes nur von einem einzigen Schauspieler verkörpert – was die Einfühlung in diese spezifische Figur erhöhte (vgl. George, 1992: 51f.). Aufgrund dieser hervorgehobenen Stellung und indem sie Tiradentes als positiven Helden darstellte, wurde die Aufführung auch als Aufforderung zum bewaffneten Widerstandskampf gelesen (vgl. Mostaço, 1982: 94). Im Jahr 1971 musste Teatro de Arena seine Aktivitäten bis zum Ende der Militärdiktatur einstellen, nachdem Augusto Boal nach Verhaftung und Folter durch das Militärregime ins Exil gegangen war (vgl. Michalski, 1985: 47). Auch wenn Teatro de Arena nach 1971 nicht mehr aktiv war, entwickelte Augusto Boal im Exil eine weitere Form des Widerstandstheaters, das teatro do oprimido (Boal, 1991 [1975]). Im Gegensatz zu den vorherigen Formen des politischen Theaters von Teatro de Arena, die den Zuschauer zwar aktivieren wollten, ihn aber nicht partizipieren ließen, soll das teatro do oprimido den Zuschauer verwandeln, „em sujeito, em ator, em transformador da ação dramática“ (ebd.: 138): Aristóteles propõe uma Poética em que as espectadores delegam poderes ao personagem para que este atue e pense em seu lugar; Brecht propõe uma Poética em que o espectador delega poderes ao personagem para que este atue em seu lugar, mas se reserva o direito de pensar por si mesmo; muitas vezes em oposição ao personagem. […] O que a Poética do Oprimido propõe é a própria ação! O espectador não delega poderes ao personagem para que atue nem para que pense em seu lugar: ao contrário, ele mesmo assume um papel protagônico, transforma a ação dramática inicialmente proposta, ensaia soluções possíveis, debate projetos modificadores: em resumo, o espectador ensaia, preparando-se para a ação real. Por isso, eu creio que o teatro não é revolucionário em si mesmo, mas certamente pode ser um excelente ‚ensaio‘ da revolução. (Ebd.: 138f.)

Das teatro do oprimido umfasste zahlreiche verschiedene Theaterformen: Im teatro-debate sollten die Schauspieler beispielsweise von den Zuschauern ersetzt werden, die so verschiedene Verhaltensformen erproben konnten (ebd.:161164).103 Zentral war dabei, dass auf der Bühne stets ein Konflikt aus der Realität abgebildet wurde (vgl. ebd.: 155; 161). Das teatro invisível sollte im öffentlichen Raum stattfinden und die Zuschauer ohne ihr Wissen in inszenierte Diskussio103 | Das teatro-debate baut auf dem teatro-imagem, in dem der Zuschauer seine Meinung zu einem politischen Problem durch menschliche „estátuas“ (Boal, 1991: 155) ausdrücken soll, und der „dramaturgia simultânea“ (ebd.: 152) auf, bei der Schauspieler die Lösungsvorschläge aus dem Zuschauerraum für die abgebildeten Konflikte darstellten.

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nen und Vorfälle einbeziehen (vgl. ebd.: 167-171).104 Im teatro-jornal, das stärker an den russischen Agitprop und das Dokumentartheater erinnert, sollten reale Dokumente gelesen, kommentiert und ergänzt werden (vgl. ebd.: 165f.). Entscheidend ist bei allen Theaterformen, dass Boal die Verantwortung für die Lösung vollständig auf den Zuschauer überträgt. Entgegen den vorher beschriebenen Formen des politischen Theaters werden von Boal kein Handlungsmodell zur gesellschaftlichen Transformation und keine Vision vorgegeben, sondern von Akteuren und Zuschauern gemeinsam eine Lösung erarbeitet. Damit lässt sich das teatro do oprimido als eine Sonderform des politischen Theaters beschreiben, die sich nicht in die Kategorien „dramatisch“ oder „postdramatisch“ einordnen lässt.105 Dennoch gibt sie Aufschluss über eine weitere Form der Zuschauerpartizipation im politischen Theater Brasiliens.

2.2.2.3 Teatro Oficina Mit Teatro Oficina soll abschließend eine Theatergruppe vorgestellt werden, die bereits vor der Militärdiktatur verstärkt die Präsenz der Theateraufführung zur Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht einsetzte. Teatro Oficina wurde 1958 u.a. von José Celso Martinez Corrêa und Renato Borghi in São Paulo 104 | Während beim teatro-debate noch Zuschauer und Akteure vorgesehen sind, lässt sich hier wie auch im Lehrstück die Frage stellen, ob es sich überhaupt um Theater handelt, dessen „minimale Voraussetzungen“ (Fischer-Lichte, 1983a: 16) darin bestehen, dass es „einer Person A [bedarf], welche X verkörpert, während S zuschaut“ (ebd.). Selbiges gilt in noch ausgeprägterem Maße für das teatro legislativo, das von Boal nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Brasilien umgesetzt wurde und das endgültig die Grenze zwischen Theater und Politik auflöst (vgl. Boal, 1998). 105 | Indem einerseits die Abbildung einer realen Situation auf der Bühne im Vordergrund stand, andererseits der Zuschauer diese aber selbst erleben soll, kann beim teatro do oprimido von einer Kombination aus Repräsentation und Präsenz und einem Bruch mit der dramatischen Form gesprochen werden. Dieses Beispiel zeigt, dass ein Bruch mit der dramatischen Form nicht unbedingt eine Kategorisierung als „postdramatisch“ mit sich bringen muss, fehlen dem teatro do oprimido doch weitere wichtige Merkmale des postdramatischen Theaters wie Mehrdeutigkeit, Abwertung der sprachlichen Zeichen etc. (siehe Kapitel 2.1.3). Hier ließe sich für einen eigenen Typus politischen Theaters plädieren, der seine Wirkung nicht beim Zuschauer, sondern beim Zuschauer-Akteur verortet und als Sonderform von Theater zwischen dramatischen und postdramatischen Theaterformen verortet wird. Da allerdings im Korpus dieser Arbeit keine Theateraufführung enthalten ist, die eine derartige Form der Zuschauerpartizipation einsetzt, müssen derartige Überlegungen an dieser Stelle theoretisch bleiben.

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

gegründet (vgl. Peixoto, 1982: 13). Es zeigte sich in seinen Theaterstücken zunächst vom französischen Existenzialismus (vgl. Mostaço, 1982: 50f.), später insbesondere von Antonin Artaud und Jerzey Grotowski beeinflusst (vgl. Peixoto, 1982: 10). Ebenso wie Teatro de Arena wurde Teatro Oficina zunächst nicht als politisches Theater gegründet, stattdessen konzentrierte es sich in seinen Inszenierungen auf Theatertexte, die individuelle Konflikte und Konflikte in der bürgerlichen Familie thematisierten (vgl. Peixoto, 1982: 18).106 Erst ab dem Jahr 1960, mit der Übertragung von Sartres L’Engrenage in den brasilianischen Kontext, begann die Gruppe, eine „tomada de posição, uma declaração de princípios“ (ebd.: 21) vorzunehmen und sich an den „lutas reais de nosso tempo“ (Celso, zitiert nach Mostaço, 1982: 53) zu beteiligen. Die Bedeutung des Teatro Oficina für das politische Theater in Brasilien wird heute insbesondere in dem Bruch der Theaterästhetik der 1950er-Jahre gesehen: [I]t raised Brazilian stagecraft to the level of a high art form, while fusing the demands of aesthetic principles and social consciousness. (George, 1992: 73)

Hinsichtlich der in dieser Arbeit vorgenommen Typologisierung politischen Theaters lassen sich die Aktivitäten von Teatro Oficina in unterschiedliche Phasen einteilen. In der ersten Phase zeigte sich das politische Theater von Teatro Oficina noch deutlich von dramatischen und europäischen Elementen geprägt: Ebenso wie Teatro de Arena kombinierte Teatro Oficina in den frühen Inszenierungen wie JOSÉ, DO PARTO A SEPULTURA (UA 1961) oder OS INIMIGOS (UA 1966) zunächst episches Theater von Brecht107 mit dem psychologischen Realismus Stanislavskijs, „because it would lead the audience to the reason, and not merely to the emotion, of a text“. (George, 1992: 63) Zudem konzentrierte sich Teatro Oficina wie Teatro de Arena während der Phase der „nacionalização dos clássicos“ (siehe Kapitel 2.2.2.2) ebenfalls zunächst auf die Inszenierung ausländischer Theatertexte, die allerdings im Sinne eines postkolonialen rewriting (siehe Kapitel 2.1.4) in den brasilianischen Kontext übertragen werden sollten. Als Beispiel für eine solche Übertragung kann die Inszenierung PEQUENOS BURGUESES (1963) gelten: 106 | Insgesamt orientierte sich Teatro Oficina zu Beginn der 1960er-Jahre stark am Teatro de Arena. Neben den im Folgenden erwähnten Merkmalen sei auch erwähnt, dass es bis zum Erwerb des ersten eigenen Theatergebäudes in den Räumlichkeiten von Teatro de Arena untergebracht war. Auch inszenierte Augusto Boal mit OficinaSchauspielern F OGO F RIO (UA 1960) von Bendito Ruy Bardosa (vgl. George, 1992: 59). 107 | Der große Einfluss von Brecht auf die frühen Aktivitäten von Teatro Oficina ergibt sich auch aus einem Arbeitsaufenthalt von Celso am Berliner Ensemble, aus dem nach seiner Rückkehr die Inszenierung O S I NIMIGOS (UA 1966) resultierte (vgl. George, 1992: 62f.).

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[N]o Brasil de 63 a questão política estava dentro dos lares e a peça de Górki, como foi encenada por José Celso, parecia um texto nacional. […] O espetáculo retoma a temática base do Oficina. A decadência e o esfacelamento da classe média russa, cujos valores não mais encontram ressonância e sentido, resultam num tédio constante, que tem efeito corrosivo no cotidiano, que destrói as personagens a cada instante. (Peixoto, 1982: 41)

Das re-writing blieb nicht auf den europäischen Kontext begrenzt: Die Inszenierungen A VIDA IMPRESSA EM DÓLARES (1961), UM BONDE CHAMADO DESEJO (1962) und TODO ANJO É TERRÍVEL (1962) nahmen eine Übertragung nordamerikanischer Theatertexte auf die brasilianische Realität vor (vgl. ebd.: 26-34). Nach dem Militärputsch bot sich die Übertragung europäischer Theatertexte auch zur Umgehung der zunehmenden Zensur an. So gelang es Teatro Oficina, durch den Einsatz visueller und epischer Effekte den Schrifttext von Frischs ANDORRA in seiner Inszenierung 1964 auf die in Brasilien nach dem Militärputsch einsetzende Jagd auf politische Gegner zu übertragen: [A]li estava a solução, a mais providencial resposta ao momento histórico nacional – Andorra. […] Uma alegoria realista com endereço certo: defesa de valores democráticos, apelo aos direitos humanos, condenação do fascismo e seus mecanismos. (Ebd.: 46)

Im Gegensatz zu Teatro de Arena und CPC, die Wirkung insbesondere durch die Abbildung politischer Konflikte auf der Bühne erreichen wollten, ging José Celso zunehmend davon aus, dass nur eine Revolutionierung der ästhetischen Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauer zu einer Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft beitragen konnte (vgl. Mostaço, 1982: 101). Auch richtete sich Teatro Oficina im Gegensatz zu Teatro de Arena und CPC nicht in erster Linie an ein proletarisches Publikum, das aufgeklärt und aufgerüttelt werden sollte, sondern zielte auf das Bürgertum selbst ab, dessen Wahrnehmungsgewohnheiten hinterfragt werden sollten (vgl. Peixoto, 1982: 14). Zudem wurden insbesondere die politische Linke und ihre Konventionen kritisiert (vgl. Mostaço, 1982: 104). Diese weitere Phase im Schaffen von Teatro Oficina wird durch die Uraufführung von Oswald de Andrades O REI DA VELA 1967 markiert.108 Aufgrund 108 | Oswald de Andrade gilt als einer der Begründer des brasilianischen literarischen modernismo (vgl. Mostaço, 1982: 102f.). Im Manifesto do Antropófago (1928) forderte er eine gegen Kolonialismus und Imperialismus gerichtete literarische Revolution. Diese sollte erreicht werden, indem sich die brasilianische Gesellschaft importierte Wertvorstellungen, Konventionen und Normen einverleibte, vermischte und so eine authentische brasilianische Kultur hervorbringen würde. Das Manifest gilt als erster

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

ihrer Bedeutung für das politische Theater in Brasilien sowie für das postdramatische politische Theater von Teatro Oficina soll die Inszenierung im Folgenden detaillierter erläutert werden. Nachdem der Theatertext lange als nicht inszenierbar gegolten hatte, markierte die Uraufführung durch Teatro Oficina knapp vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung die Einführung des brasilianischen literarischen modernismo auf dem brasilianischen Theater. Zudem gilt die Inszenierung als theatrale Umsetzung des, ebenfalls auf den modernismo zurückgehenden, tropicalismo bzw. tropicália (vgl. Michalski, 1985: 30). Diese in den 1960er-Jahren insbesondere in der brasilianischen Populärmusik aufkommende Bewegung verband eine Kritik an Politik und Gesellschaft während der Militärdiktatur mit der Forderung nach neuen ästhetischen Formen (vgl. Carvalho, 2009: 66).109 Ausgehend vom modernismo war ein bedeutendes Element des tropicalismo die Forderung, ausländische Einflüsse an den lokalen Kontext anzupassen, mit brasilianischen Elementen zu mischen und auf diese Weise eine neue, dezidiert brasilianische Identität zu konstruieren (ebd.).110 Die Inszenierung von O REI DA VELA von Teatro Oficina bildete anhand der Fabel um einen versuchten sozialen Aufstieg während der Ära von Getúlio Vargas die kulturelle und wirtschaftliche Abhängigkeit Brasiliens von den USA und Europa ab (vgl. George, 1992: 103). Durch den Zeitpunkt der Uraufführung Versuch der brasilianischen Literatur, aktuelle gesellschaftliche Probleme im kolonialen Kontext zu verorten und anzuprangern (vgl. George, 1992: 103). Nach der Definition dieser Arbeit, die postkoloniale Literatur als gegen Kolonialismus, Imperialismus und seine Folgeerscheinungen gewandte Texte versteht (siehe Kapitel 2.1.4), lässt sich das Manifesto do Antropófago damit durchaus als postkolonial bezeichnen. Mit O R EI DA V ELA , 1929 geschrieben, aber erst 1937 veröffentlicht, verfasste de Andrade einen den Prinzipien des modernismo folgenden Theatertext (vgl. Mostaço, 1982: 98101). Die von ihm selbst geforderte „antropofagia“ setzte er hier um, indem er sich durch K ÖNIG U BU von Alfred Jarry inspirieren ließ, den Theatertext aber für den brasilianischen Kontext vollständig umarbeitete (vgl. George, 1992: 82). Der modernismo wird von Rössner (2007a: 228) beschrieben als „eine auf der avantgardistischen Figur des ‚Bruchs‘ – in diesem Fall nicht nur mit der Vergangenheit, sondern vor allem auch mit Europa – aufbauende Bewegung des Neuanfangs, eben der Modernität“. 109 | Zur Wirkungsabsicht der tropicália hält Carvalho (2009: 68) fest: „Para estes artistas, a resistência política passava também pelo plano da forma, e não simplesmente do conteúdo, e através da transgressão, da ousadia e, principalmente, da experimentação, buscavam transformar, para além da mensagem política direta, a relação com a arte em si.“ 110 | Allerdings ist festzuhalten, dass José Celso es mit der Begründung, nicht Bestandteil einer organisierten Bewegung sein zu wollen, dezidiert ablehnte, Teatro Oficina oder die Inszenierung von O R EI DA V ELA der tropicália zuzurechnen (vgl. Carvalho, 2009: 86).

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während der Militärdiktatur erhielt die Inszenierung neben dieser postkolonialen noch eine weitere politische Dimension: Indem eine Parallele zwischen der in der Inszenierung dargestellten Zeit der Vargas-Diktatur und der Militärdiktatur hergestellt wurde, übertrug Teatro Oficina die von Oswald de Andrade formulierte Kritik an den herrschenden politischen Eliten, der nicht aufbegehrenden Mittelklasse sowie dem amerikanischen Imperialismus auf die aktuelle Situation: „When it [O REI DA VELA; Anm. SV] was finally staged in 1967, it served as a viable protest against the military dictatorship“ (ebd: 80). Auch hinsichtlich der ästhetischen Umsetzung markierte O REI DA VELA einen Meilenstein in der Entwicklung von Teatro Oficina (vgl. Michalski, 1985: 28). Anstelle eines linearen Handlungsaufbaus kombinierte Teatro Oficina verschiedene Szenen zu einer Mischung aus Farce, Oper, Revue und Zirkus (vgl. ebd.: 30). Bei Bühnenbild und Kostümen nutzte Teatro Oficina sowohl europäische Elemente als auch brasilianischen „Kitsch“, „typisch“ brasilianische Elemente wie tropische Pflanzen und Vögel sowie eine Abbildung des Corcovado (vgl. George, 1992: 95). Die bedeutendste Veränderung betraf allerdings das Verhältnis zwischen den Zuschauern und Akteuren: É uma relação de luta, uma luta entre os atores e o público. [...] A peça o agride intelectualmente, formalmente, sexualmente, politicamente. [...] O teatro tem necessidade hoje de desmistificar, decolocar este público em seu estado original [...]. A eficácia política que se pode esperar no teatro no que diz respeito a este setor (pequena burguesia) só pode estar na capacidade de ajudar as pessoas a compreender a necessidade de iniciativa individual que levará cada qual a jogar sua própria pedra contra o absurdo brasileiro. (Celso, zitiert nach Schwarz, 1978: 85)

Das Publikum wurde von den Schauspielern beleidigt, es kam zu Wortwechseln und auch die explizite Darstellung sexueller Akte auf der Bühne wurde als Aggression gegen das Publikum verstanden (vgl. ebd.). Indem er O REI DA VELA auch als „teatro de crueldade brasileira“ (Celso, zitiert nach Prado, 1988: 116) bezeichnete, knüpft José Celso explizit an Artaud (siehe Kapitel 2.2.1.3) an. Neben O REI DA VELA gilt auch die Inszenierung von RODA VIVA (UA 1968), geschrieben von Chico Buarque de Holanda, als zweites Beispiel der „estética da porrada“ (Celso, zitiert nach Mostaço, 1982: 128), das den Konformismus der brasilianischen Mittelklasse – in der außertheatralen Wirklichkeit wie auch als Zuschauer im Theater – kritisierte: Tendo o corpo como principal instrumento para esta tomada de atitude, problematizava-se a passividade do espectador, e conseqüentemente, sua passividade enquanto cidadão no mundo. Este espetáculo – assim como toda a obra de Zé Celso – aderia a uma estética da agressão, característica das tendências de vanguarda. (Carvalho, 2009: 86)

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

Auch hier wurden die Zuschauer mit Beschimpfungen, Nacktheit der Darsteller, andauernden Aktionen im Zuschauerraum sowie mit Pausen konfrontiert, in denen sie von den Schauspielern beobachtet wurden (vgl. Mostaço: 112f.). Zudem wurden die Zuschauer mit Flugblättern beworfen, auf denen zur Revolution auf dem Theater aufgerufen wurde: Todos ao palco!!! Abaixo o conformismo e a burrice, pequenos burgueses! Retire a bunda da cadeira e faça uma guerrilha teatral, já que você não tem peito de fazer uma real, PÔRRA!!! (Celso, zitiert nach Leão, 2009: 47)

Diese „violência revolucionária“ (Celso, zitiert nach Carvalho, 2009: 86), die Konfrontation der Zuschauer auf dem Theater, wurde als Gegenmaßnahme zur „violência do dia-a-dia“ (ebd.) gerechtfertigt. Mit Blick auf REI DA VELA und RODA VIVA kann festgehalten werden: Um die Mittelklasse aus ihrer Lethargie zu lösen, setzte José Celso eben nicht auf die intellektuelle Aufklärung und das „Verstehen“ von abgebildeten Zusammenhängen, sondern auf die persönliche Erschütterung des Zuschauers.111 Damit lässt sich Teatro Oficina als postdramatisches politisches Theater einordnen. Insbesondere auf RODA VIVA reagierte die Militärdiktatur mit Härte: Nachdem eine Aufführung von der paramilitärischen Organisation Comando de Caça aos Comunistas gestürmt und die Schauspieler misshandelt worden waren, wurde die Aufführung verboten (vgl. Michalski, 1985: 34). Mit der zunehmenden Zensur lassen sich die Inszenierungen von Teatro Oficina ab den 1970er-Jahren einer weiteren Phase zuordnen. Diese – begonnen hatte sie mit einer Zusammenarbeit von Teatro Oficina und The Living Theatre in São Paulo in den Jahren 1970/1971112 – zeichnete sich durch eine noch stärkere Abkehr 111 | Während O R EI DA VELA und RODA VIVA zweifellos als die bekanntesten Inszenierungen von Teatro Oficina gelten können, wurden Elemente des postdramatischen politischen Theaters auch in anderen Inszenierungen angewandt. In den Brecht-Adaptationen G ALILEU G ALILEI (UA 1968) und N A S ELVA DAS C IDADES (UA 1969) mischte Teatro Oficina Elemente der Zuschauerpartizipation, Improvisationen und der bis zur körperlichen Erschöpfung der Schauspieler voranschreitenden Zerstörung des Bühnenbilds, mit Elementen des epischen Theaters (Michalski, 1985: 39f.). Auch die Inszenierung G RACIAS S ENHOR (UA 1971) wies als „[c]onfrontação, onde os atores renunciavam à careta, rasgando suas carteiras de identidade; […] Te-ato, onde o bastão, entregue ao público, era um convite ao excercício de desalienação do objeto“ (Mostaço, 1982: 133) starke Elemente des Happening auf. 112 | Eine gemeinsame Inszenierung von The Living Theater und Teatro Oficina scheiterte allerdings aufgrund sehr unterschiedlicher Arbeitsweisen beider Gruppen und einer Haltung der Leitung von The Living Theatre, die von den Mitgliedern des Teatro Oficina als kolonialistisch empfunden wurde (vgl. George, 1992: 67f.).

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von den Konventionen des bürgerlichen Theaters und eine neue Terminologie aus: Ab den 1970er- Jahren verwendete Teatro Oficina die Bezeichnung „te-ato“ anstatt „teatro“ für sein Theater, zur Beschreibung des Wirkungsanspruchs wurde fortan zudem der Begriff der „re-volição“ gebraucht (vgl. ebd.: 54). Mit den Aufführungen sollten die Zuschauer, anstatt offensiv einen Umsturz anzustreben, in einen „Zustand des Wollens“, des „voltar a querer“ versetzt werden (ebd.). Dazu wurden weiterhin Elemente des Happenings eingesetzt. Die Grenzen zwischen Schauspielern, nunmehr als „atuadores“ (ebd.) bezeichnet, und Zuschauern wurden durch die Aufhebung der Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum sowie partizipative Elemente verwischt. Auf diese Weise sollte eine „relação efeitiva de colaboração ou conflito, determinação de normas de comportamento e assimilação ou contestação dessas normas“ (ebd.) hergestellt werden. 1972 trat Teatro Oficina eine als „viagem para utropia – utopia dos trópicos“ (Peixoto, 1982; 93f.) bezeichnete Reise durch das brasilianische Binnenland an. Ziel der Aufführungen und Diskussionen an öffentlichen Plätzen war es, in direkten Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung zu kommen: [I]t is clear the company members attempted something rare for engagé theatres in Brazil: they explored firsthand one of the poorer regions of their country and sought involvement with its diverse inhabitants. (George, 1992: 71)

Nach der Rückkehr setzte Teatro Oficina mit der Inszenierung von UM GRITO PARADO NO AR (UA 1973) und PONTO DE PARTIDA (UA 1976) die versteckte Kritik an der Militärdiktatur fort: Die erste Inszenierung präsentierte eine Theatergruppe, die trotz widriger Bedingungen unbedingt einen Theatertext zur Aufführung bringen möchte und erlaubte so Rückschlüsse auf die Zensur der Militärdiktatur (vgl. Michalski, 1985: 58). PONTO DE PARTIDA stellte den Tod eines Schriftstellers und Humanisten in einem mittelalterlichen Dorf nach und erinnerte an den Tod des Journalisten Vladimir Herzog (vgl. ebd.: 68).113 Bedingt durch die Zensur wurde die Kritik nun allerdings nicht mehr explizit formuliert, sondern musste durch die Spielweise der Schauspieler und ihren Interaktionen – untereinander und mit den Zuschauern – erschlossen werden (vgl. Mostaço, 1982: 156f.). Nachdem José Celso bereits 1974 zunächst verhaftet wurde und anschließend ins Exil ging (vgl. Peixoto, 1982: 108), nahm die Produktivität von Teatro Oficina ab Mitte der 1970er-Jahre deutlich ab (vgl. ebd.: 109-124). Trotz dieser schließlich bis in die 1990er-Jahre andauernden Pause ist Teatro Oficina 113 | Der Journalist Vladimir Herzog wurde 1975 in der Zentrale der DOI-CODI (Destacamento de Operações de Informações – Centro de Operações de Defesa Interna) in São Paulo tot aufgefunden, angeblich hatte er sich selbst erhängt (vgl. Zoller, 2000: 286). Tatsächlich stellte sich heraus, dass er gefoltert und ermordet worden war. An der Trauerfeier nahmen 8.000 Menschen teil (vgl. ebd.).

Theoretischer Kontext und theaterhistorische Anknüpfungspunkte

bis heute das bekannteste Beispiel eines brasilianischen postdramatischen politischen Theaters und wichtiger Anknüpfungspunkt für das politische Theater in Salvador da Bahia (siehe Kapitel 3.1.2).

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3. Forschungskontext, Korpus und Methodik

Um eine möglichst fundierte Grundlage für die in Kapitel 4 vorzunehmenden Analysen des politischen Theaters in Salvador da Bahia zu schaffen, wurden in Kapitel 2 internationale und brasilianische Theatertexte, Aufführungen und auch das zu Grunde liegende Gesellschaftsverständnis der Autoren berücksichtigt. Zur Operationalisierung des Begriffs nimmt das folgende Kapitel eine Verengung dieser breiten Ausgangsbasis vor: Zunächst wird der geografische Kontext der Arbeit auf Salvador da Bahia zugespitzt. Anschließend wird innerhalb des geografischen Raumes das Korpus der Arbeit festgelegt. Schließlich wird das methodische Instrumentarium beschrieben, mit dem dramatische und postdramatische Vermittlungsstrategien des politischen Theaters sichtbar gemacht werden können.

3.1 F ORSCHUNGSKONTE X T : S ALVADOR DA B AHIA Keine Theateraufführung entsteht losgelöst vom gesellschaftspolitischen Kontext: Die Bedeutung eines Bühnentextes wird im Rezeptionsprozess stets auch im Zusammenhang mit dem außertheatralen gesellschaftlichen Kontext erzeugt (vgl. Fischer-Lichte, 2005a: 30-33). Für das politische Theater ist der gesellschaftliche Kontext gleichwohl besonders bedeutend: Grundlage für die politische Wirkungsabsicht im dramatischen politischen Theater ist die Repräsentation gesellschaftspolitischer Konflikte (siehe Kapitel 2.1.2). Und auch wenn sich das postdramatische politische Theater einer genauen Abbildung verweigern mag, ist, wie in Kapitel 2.1.3 dargestellt, für die politische Wirkungsabsicht notwendig, dass Bezug zum vorgefundenen gesellschaftlichen Diskurs hergestellt wird. Daher soll im Folgenden der gesellschaftliche Referenzrahmen des politischen Theaters in Salvador da Bahia beschrieben werden. Da sich die Arbeit auf jene Aspekte der soteropolitanischen Gesellschaft konzentriert, die besondere Signifikanz für politisches Theater versprechen, werden neben der Entwicklung und aktuellen Situation des Theaters (Kapitel 3.1.2) bei der Beschreibung der ge-

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Politisches Theater in Brasilien

sellschaftspolitischen Situation (Kapitel 3.1.1) naturgemäß virulente soziale und politische Probleme in den Vordergrund gestellt.

3.1.1

Gesellschaftspolitischer Kontext

São Salvador da Bahia de Todos os Santos, kurz Salvador da Bahia, die circa 2,9 Millionen umfassende, drittgrößte Metropole Brasiliens und Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Bahia, ist mit ihrem Gründungsdatum 1549 die älteste Stadt Brasiliens (vgl. Tavares, 2008: 120).1 Von ihrer Gründung bis zum Jahr 1763 war sie brasilianische Hauptstadt und ökonomisches und kulturelles Zentrum der damaligen portugiesischen Kolonie (vgl. Cunha/Bacelar/Alves, 2008: 17f.). Salvador da Bahia gilt in Brasilien heute gleichzeitig als „cradle for Brazilian national identity and as embarrassing symbol of Brazil’s backwardness“ (vgl. Romo, 2010: 1). Konstruiert wurde das Bild von Salvador als Hort einer ursprünglichen brasilianischen Kultur und Tradition insbesondere im Zusammenhang der brasilidade (vgl. ebd.: 5; zur brasilidade siehe auch Kapitel 2.2.2). Zur Beschreibung der vermeintlichen wirtschaftlichen Rückständigkeit – der Bundesstaat Bahia trägt, weit abgeschlagen vom Süden des Landes, nur 3,9% zum Bruttoinlandsprodukt Brasiliens bei (vgl. IBGE, 2011)2 – und gesellschaftlichen Rückwärtsgewandtheit Salvadors sowie der besonderen ethnischen Heterogenität setzte sich im Süden des Landes die Bezeichnung „a mulata velha“ (vgl. Romo, 2010: 5) durch. Parallel zu diesen Fremdzuschreibungen bildete sich in Salvador in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der baianidade zudem eine regionale kollektive Identität aus: Uma particularmente específica musicalidade – e a sensorialidade/prazer sensório mental […]; um primado imaginário e cultural barroco, que representa o paraíso na terra, de modo sensual e estético […]; uma função comercial de cidade, baseade na mercancia de todo tipo de produto […]; um amoralismo ético, centrado: na autorreferência; em uma humildade frequentemente verdadeira […]; em uma presumível, evidente e visível tolerância […]; em uma convivência constante com formas de violência banal e fundadora. (Bião, 2006: 232-234) 3 1 | Selbstverständlich beginnt die Geschichte Salvadors nicht mit der „Entdekkung“ durch die portugiesischen Seefahrer: Bereits circa 200 Jahre vor der Landung des Pedro Alvares Cabral hatten sich in der Region indígenas des Stammes Tupi angesiedelt (vgl. Tavares, 2008: 16-28). 2 | Zum Vergleich: São Paulo machte im selben Zeitraum 32,6% des brasilianischen Bruttoinlandsproduktes aus, Rio de Janeiro 11,2%. (vgl. IBGE, 2011). 3 | Kollektive Identität wird hier verstanden als „Wir-Identität, gefühlsgeladenes Empfinden oder Bewußtsein von Individuen, gemeinsam einer bestimmten kollektiven

Forschungskontext, Korpus und Methodik

Da in ihr sowohl die Vergangenheit Brasiliens als auch gegenwärtige Herausforderungen in besonderem Maße sichtbar werden, bietet sich Salvador da Bahia als besonders erkenntnisversprechender Forschungskontext für brasilianisches politisches Theater an: Die ‚Stadtbiographie‘ von Salvador […] vergegenwärtigt eindrücklich das Werden, die Brüche und die Komplexität der brasilianischen Gesellschaft. Als soziales und strukturelles Produkt seiner kolonialen Vergangenheit weist Salvador ausgeprägte ökonomische und soziale Ungleichheiten auf, die sich in hohem Maße über die Hautfarbe exprimieren. Die Stadt spiegelt die innergesellschaftliche Desintegration des Schwellenlandes Brasilien wider (Rothfuß, 2012: 15).

Die von Rothfuß erwähnten ökonomischen und sozialen Ungleichheiten äußern sich unter anderem in der unter brasilianischen Metropolen höchsten Arbeitslosenquote (vgl. IBGE, 2014: 16)4 und der höchsten Analphabetenzahl (vgl. IBGE, 2010c: 53)5. Im Vergleich zu Rio de Janeiro und São Paulo ist der Anteil an Personen, die in extremer Armut, d.h. von bis zu R$ 70,00 im Monat leben, deutlich höher, mehr als jeder Zehnte verdient weniger als den Mindestlohn (vgl. ebd.: 72). Die in Salvador da Bahia vorliegende zweigeteilte Bürgerschaft beschreibt Souza (2006: 40) als ein Charakteristikum der „peripheren Moderne Brasiliens“: Lediglich dieser Typ eines gleichsam körperlich verinnerlichten, präreflexiven und naturalisierten Konsenses, kann jenseits des juristischen Wirkens eine Art implizite Übereinkunft ermöglichen, die die Ansicht erzeugt, wie z.B. im Fall des Überfahrens einer Person in Brasilien, dass einige Menschen und Klassen über dem Gesetz stehen und einige darunter. Es existiert etwas wie ein unsichtbares Netz, das vom Polizisten […] bis zum Richter […] reicht […], die durch eine implizite und niemals verbalisierte Übereinkunft den Unfallverursacher schließlich freisprechen. […] Eine solche ‚NaturaEinheit oder soz. Lebensgemeinschaft (soz. Gebilde, Kategorien u. Bezugssysteme unterschiedl. Art und Größe) anzugehören, die in unverwechselbarer Weise durch bestimmte Merkmale (spezif. Kultur, Sprache, Geschichte, ggf. auch Religion u. Rasse) gekennzeichnet und sich dadurch von anderen Kollektiven unterscheidet“ (Hillmann, 1994: 422). 4 | 2014 betrug die Arbeitslosenquote in Salvador da Bahia: 8,1%, Recife: 5,5%, Belo Horizonte: 2,9%, Rio de Janeiro: 3,5%, São Paulo: 4,4%, Porto Alegre: 3,6% (vgl. IBGE, 2014: 16). 5 | Im Jahr 2010 konnten in Salvador da Bahia 15,4% der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Damit hat sich die Quote seit 1991 von 35,23% um mehr als die Hälfte reduziert. Nationaler Durchschnitt heute sind 9,02%, 1991 waren es national noch 18,72% (vgl. IBGE, 2010b).

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Politisches Theater in Brasilien

lisierung‘ der Ungleichheit ist nur möglich, wenn unter allen eine – wenngleich niemals ausdrückliche – Übereinkunft hinsichtlich der effektiven sozialen Nichtanerkennung der Unterklasse besteht. (Souza, 2006: 40f.) 6

Allerdings lässt sich sowohl in Salvador als auch in Brasilien insgesamt bei den sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten seit der Jahrtausendwende eine langsame Verbesserung beobachten, die insbesondere den zunehmenden Hilfsleistungen wie Bolsa Família zugeschrieben wird (vgl. IPEA, 2012: 8): 2011 erreichte Brasilien das geringste Niveau der Einkommensungleichheit seit Beginn der nationalen Messungen 1960 (vgl. ebd.).7 Die Gründe für die – wenn sich auch langsam verringernde – bis heute andauernde ökonomische und soziale Ungleichheit und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Probleme Salvador da Bahias liegen in der Vergangenheit: Der Verfall der Zuckerpreise im 18. Jahrhundert löste den wirtschaftlichen Niedergang Salvador da Bahias aus, der 1763 auch die Verlegung des politischen Machtzentrums in das aufstrebende Rio de Janeiro mit sich brachte: „By the late nineteenth century the former capital had become a backwater.“ (Romo, 2010: 4) Die ausbleibende wirtschaftliche Modernisierung hatte zur Folge, dass sich auch die kolonialen Machtverhältnisse erst spät und nur teilweise veränderten: So begann sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Bau des Petrochemiekomplexes in Camaçari und des Centro Industrial de Aratú eine industrielle Klassengesellschaft herauszubilden (Guimarães, 1992: 37).8 Bis heute arbeiten weniger als 10% der Bevölkerung in Salvador in der Industrie, der Großteil der Bevölkerung ist im Handel- und Dienstleistungssektor tätig (vgl. Rothfuß, 2012: 146). Dem Tourismus kommt als Wirtschaftszweig ebenfalls besondere Bedeutung zu: 2011 kamen mehr als 11 Millionen Touristen nach Bahia (vgl. FIPE, 2011: 8). Im 16. und 17. Jahrhundert galt Salvador da Bahia als größter Umschlagplatz für afrikanische Sklaven in Brasilien: Insgesamt wurden bis zu fünf Milli-

6 | Souza (2006: 40) weist allerdings darauf hin, dass bei der Nichtanerkennung keinesfalls Intentionalität vorliegt: „Kein europäisierter mittelständischer Brasilianer bei gesundem Verstand würde bekennen, dass er seine Mitbürger aus niedrigeren nicht-europäisierten Klassen als ‚sub-human‘ ansieht. […] Die hier betrachtete Dimension ist objektiv, unterschwellig und intransparent.“ 7 | Allerdings gilt weiterhin: „[A] desigualdade no Brasil permanece entre as 15 maiores do mundo, e levaria pelo menos 20 anos no atual ritmo de crescimento para atingir níveis dos Estados Unidos, que não são uma sociedade igualitária.“ (IPEA, 2012: 8) 8 | Camaçari liegt etwa 40 km entfernt von Salvador, das Centro Industrial de Aratú liegt etwa 20 km vom Stadtzentrum Salvadors entfernt.

Forschungskontext, Korpus und Methodik

onen9 Afrikaner10 nach Bahia verschifft (Delacampagne, 2004: 319). Eine große Anzahl wurde nicht in andere Regionen verkauft, sondern verblieb in Salvador, wo sie als Arbeitskräfte in der Zuckerindustrie eingesetzt wurden. In der Konsequenz verfügt Salvador da Bahia mit circa drei Vierteln der Bevölkerung noch heute über den landesweit höchsten Anteil an negros und pardos (vgl. IBGE, 2010a). Brancos sind mit circa 19% deutlich in der Minderheit (vgl. IBGE, 2010a).11 Aufgrund dieser Bevölkerungszusammensetzung und der Präsenz afro-brasilianischer Kultur wird Salvador auch als „Rome des Noirs“ (Cendrars, 1987: 90) bezeichnet: In fact, Bahia has been historically central not only to intellectual discourses, but also to popular constructions of Africa and Africanism in Brazil. […] Bahia is by all means a major area of production of black culture in the new world. (Sansone, 2003: 61).

Neben dem baianischen Ableger des Movimento Negro Unificado (siehe Kapitel 4.1.1.4), den terreiros des candomblé12, den capoeira-Schulen und afro-brasilianischen Tanz und Theatergruppen kommt in Salvador im Zusammenhang mit der Verbreitung afro-brasilianischer Kultur und der Konstruktion von negro9 | Die absoluten Zahlen weichen deutlich voneinander ab, Romo spricht beispielsweise nur von 4 Millionen Sklaven in Bahia (vgl. Romo, 2010: 3). Zu den unterschiedlichen Zahlen vgl. auch Sansone (2003: 60). 10 | Die afrikanischen Sklaven stammten aus unterschiedlichen Herkunftsländern: „Para a Bahia vieram africanos que pertenciam às mais diferentes nações (povos). Por causa dos seus falares, os Iorubá, Ewe, Jeje, Fula, Tapa, Aussá Arda e Calabare são os mais conhecidos.“ (Tavares, 2008: 57) Luís Viana Filho unterscheidet in O negro na Bahia hinsichtlich der Herkunftsländer drei Importzyklen: Guiné-Zyklus (16. Jahrhundert), Angola-Zyklus (17. Jahrhundert), Costa da Mina-Zyklus (18. Jahrhundert) sowie, nach Erlass des Lei antitráfico 1831, die Phase der Illegalität (vgl. Viana Filho, 1976: 8). Zum Sklavenhandel in Bahia vgl. auch Verger (1964). Die letzte Anlandung eines Sklavenschiffes in Bahia ist für das Jahr 1852 dokumentiert (vgl. Tavares, 2008: 59). 11 | Zum Vergleich: Im nationalen Durchschnitt ist das Verhältnis von branco (49,8%) zu negro und pardo (zusammen 48,8%) ungefähr ausgeglichen (vgl. IBGE 2010a). 12 | Salvador verfügt insgesamt über 1.400 terreiros (vgl. J. Santos, 2008: 5), Stätten der Glaubensausübung des candomblé. Candomblé ist eine Religion, die ihre Wurzeln in der Sklavenzeit hat (vgl. Cunha/Bacelar/Alves, 2008: 46) und noch heute insbesondere von negros und pardos ausgeübt wird. Im Zentrum des candomblé steht die Verehrung von als orixás bezeichneten Göttern (vgl. Agier, 1992: 10). Aufgrund der Identifikation der orixás mit katholischen Heiligen wird candomblé häufig als synkretistische Religion bezeichnet (vgl. Matory, 2005: 23). Von Beginn des 20. Jahrhunderts an bis 1976 war der candomblé verboten (vgl. Cunha/Bacelar/Alves, 2008: 45-47).

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Identitäten auch den afro-brasilianischen Karnevalsvereinen, den blocos afro, große Bedeutung zu (vgl. ebd.: 53).13 Trotz der Bedeutung afro-brasilianischer Kultur ist, wie Rothfuß (2012: 15) festhält, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in Salvador eng mit der Hautfarbe verbunden: Negros und pardos konzentrieren sich in den unteren Einkommensschichten, während brancos im Allgemeinen höhere Einkommen erzielen.14 Die Diskriminierung der negros und pardos ist allerdings nicht auf den Arbeitsmarkt beschränkt. Mit Blick auf den hohen Anteil an negro- und pardoOpfern von Polizeigewalt und andere Tötungsdelikte konstatiert Rothfuß, dass die differentielle Wertigkeit menschlichen Lebens aufgrund der Hautfarbe ein in der Peripheren Moderne Brasilien konstitutives gesellschaftliches Merkmal darstellt (Rothfuß, 2012: 171).

Ein weiteres markantes Merkmal Salvador da Bahias ist die allgegenwärtige Präsenz von Religion: Auch wenn Salvador nicht, wie beispielsweise von Cendrars (1987: 90) kolportiert, über eine Kirche für jeden Tag im Jahr verfügt, sind es doch mehr als 150 Kirchen, die das Stadtbild prägen (vgl. Agier, 1992: 9). In Salvador da Bahia lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Zunahme neupfingstlich-protestantischer Kirchen verzeichnen: Zwar ist die große Mehrheit der soteropolitanischen Bevölkerung katholisch15, allerdings erklärten 13 | Der erste bloco afro, Ilê Aiyê wurde 1974 gegründet und zum Karneval zugelassen (Pinho, 2010: 2). Dieser nimmt bis heute nur Mitglieder auf, die nicht branco sind und wendet sich in seiner Musik explizit gegen die Diskriminierung von negros, „reinventing the meanings of Africa and Africanness as a basis for constructing new cultural and aesthetic symbols“ (Pinho, 2010: 2). Wurde Ilê Aiyê bei seinem ersten Auftritt in der baianischen Presse aufgrund der Beschränkung auf negros noch als rassistisch bezeichnet und kritisiert (ebd.: 82), werden die blocos afro heute von der brasilianischen Tourismusindustrie als Teil der baianischen Identität vermarktet (vgl. ebd.: 83). 14 | In Salvador verdienten brancos 2010 im Durchschnitt das 3,2-Fache von negros (vgl. IBGE, 2010a: 51). Dabei hat sich die Situation seit den 1990er-Jahren schon deutlich verbessert (vgl. ebd.). Damals konstatierte Guimarães: „Les Noirs occupe les postes les moins valorisés socialement, aux rémunérations les plus basses et caracterisés par une plus grande instabilité. [… ] Et les femmes noirs occupent des emplois domestiques ou subalternes dans les etablissements privés ou publiques. Le fait d’être noire demeure la plus important forme d’identification sociale.“ (Guimarães, 1992: 49) Zur Situation – und den Herausforderungen – der negro-Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt in den 1990er-Jahren in Salvador vgl. auch Agier (1992). 15 | Brasilien ist, gemessen in absoluten Bevölkerungszahlen, weiterhin das katholischste Land der Welt, der „Katholizismus, wenngleich nicht mehr in hegemonialer

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sich im Jahr 2010 auch mehr als eine halbe Million Personen der evangelikalen Religion16 zugehörig (vgl. IBGE, 2010b). Etwa 25.000 Personen praktizieren zudem candomblé (vgl. ebd.), circa 472.000 Personen haben keine Religion – in dieser Gruppe wird ebenfalls brasilienweit ein deutlicher Zuwachs verzeichnet (vgl. ebd.). Die Politik in Salvador da Bahia wird seit der Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich von dem Familienclan um Antônio Carlos Magalhães, genannt ACM, bestimmt: Vierzig Jahre hat er die Stadt in unterschiedlichen Regierungsämtern geprägt (vgl. hier und im Folgenden Rubim, 2001: 107-126).17 Seine Partei, die Partido da Frente Liberal (PFL), später Demócratas (DEM), stellte ab den 1990er- Jahren ununterbrochen den Gouverneur des Bundesstaates Bahia.18 Auch das Bürgermeisteramt von Salvador war seit Mitte der 1990er-Jahre entweder direkt in der Hand der Partei von ACM oder zumindest stark von seiner Unterstützung abhängig. Der Familie gehören zahlreiche Medienunternehmen in Salvador, darunter die Zeitung Correio da Bahia und der Fernsehsender TV Bahia. Von einem Großteil der baianischen Bevölkerung wird ACM auch nach seinem Tod im Jahr 2007 für die von ihm vorangetriebene Modernisierung der Stellung, verfügt doch noch über ein enormes symbolisches Prestige und Einflussvermögen im Bereich der brasilianischen Öffentlichkeit“ (Tavares, 2006: 230). 16 | Der Anteil von Evangelikalen ist in Brasilien von 1980 bis 2010 von 6,6% auf 22,2% der Bevölkerung gestiegen (vgl. IBGE, 2010a). Unter den evangelikalen Religionen sind in Salvador da Bahia wie in Brasilien insgesamt insbesondere die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Missionaren gegründete Assembléia de Deus (circa 85.000 Mitglieder, vgl. IBGE 2010b), welche als Vertreter des klassischen Pentekostalismus eher Askese und Abkehr von der Welt in den Vordergrund stellen (vgl. Arenari/Torres Júnior, 2006: 261), und die Igreja Universal do Reino de Deus (circa 55.000 Mitglieder, vgl. IBGE 2010b) verbreitet. Letztere wird aufgrund der von ihr propagierten Prosperitätstheologie und der Errettung des Menschen im Diesseits dem Neopentekostalismus zugeordnet (vgl. Arenari/Torres Júnior, 2006: 262f.). Sie verfolgt explizit auch ökonomische Zwecke (vgl. ebd.: 263) und prägt mit ihrem Monumentalbau gegenüber dem Shoppingcenter in Iguatemi das Stadtbild Salvadors in besonderem Maße. Ihr wird nachgesagt, durch die Durchdringung von großen Mediennetzwerken, Unternehmen und Politik gezielt zu versuchen, gesellschaftlichen und politischen Einfluss auszuüben (vgl. ebd.). 17 | Antônio Carlos Magalhães war unter anderem Bürgermeister von Salvador, Gouverneur von Bahia, Minister für Kommunikation und Präsident des brasilianischen Senats (vgl. Rubim, 2001: 108). 18 | Erst im Jahr 2006, mit der Wahl von Jacques Wagner der Partido dos Trabalhadores (PT), erlitt ACM eine politische Niederlage. Seit 2013 ist sein Enkel, Antônio Carlos Peixoto de Magalhães Neto, Bürgermeister von Salvador (vgl. Prefeitura de Salvador, 2013).

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städtischen Infrastruktur, die Ansiedelung der Industrie in Aratú und Camaçari sowie die erfolgreiche Etablierung von Salvador als eines der Hauptziele des innerbrasilianischen und internationalen Tourismus verehrt (vgl. Ames, 2001: 131). Allerdings wird ACM nicht nur positiv bewertet: Die von ihm betriebene Durchdringung von Exekutive, Judikative und Legislative sowie der Medien, die von Brinks (2008: 223-241) detailliert nachgezeichnet wird, nutzte ACM beispielsweise aus, um die Telefone politischer Gegner durch die Polizei abhören zu lassen. Auch wurden von den familieneigenen Medien umstrittene Maßnahmen ACMs, wie exzessive Polizeigewalt gegenüber favelados, stets gerechtfertigt (vgl. ebd.: 231). Trotz zahlreicher Skandale wurde ACM nur einmal von einem Gericht verurteilt, nachdem ihm eine Verletzung des Wahlgeheimnisses bei einer Senatsabstimmung nachgewiesen wurde (vgl. Ames, 2001: 135). Vor dem Hintergrund der zahlreichen, sich seit den 1990er-Jahren durch alle Parteien auf kommunaler wie nationaler Ebene ziehenden Korruptionsskandale (vgl. Zoller, 2000: 310f.) überrascht es nicht, dass Politiker einen schlechten Ruf in der soteropolitanischen Bevölkerung haben: In seiner Studie aus dem Jahr 2006 weist Kühn nach, dass Politiker in der Bevölkerung Salvadors als „korrupt, verlogen und selbstsüchtig“ (Kühn, 2006: 136) gelten. Politik gilt als „Feld der Reproduktion sozialer Ungleichheit“ (vgl. ebd.: 137) und nicht ausgerichtet auf „das Gemeinschaftswohl“, sondern auf das „Wohl der Politiker“ (vgl. ebd.: 136). Den Politikern wird der Wille abgesprochen, an der sozialen Ungleichheit etwas zu verändern (vgl. ebd.). Politische Partizipation ist in Salvador da Bahia, wie in Brasilien allgemein (siehe Kapitel 2.1.1), abgesehen von der gesetzlich verpflichtenden Teilnahme an Wahlen, kaum verbreitet: Politik [wird; Anm. SV] als ferne Welt und Territorium betrachtet, das außerhalb eigener biografischer Optionen liegt. Die Teilhabe an öffentlichen Diskussionen über die Zukunft des eigenen Stadtteils, der eigenen Region oder des eigenen Landes hat somit im Alltag der Befragten keinerlei Bedeutung und wird nicht ernsthaft erwogen. (Ebd.)

Die Analysen in Kapitel 4 werden zeigen, ob sich dieses Politikverständnis auf das Theater überträgt. Auch wird dargestellt werden, inwiefern der skizzierte gesellschaftliche und politische Kontext im politischen Theater von Salvador da Bahia aufscheint.

Forschungskontext, Korpus und Methodik

3.1.2

Entwicklung und aktuelle Situation des Theaters in Salvador da Bahia

Die Bedeutungsgenese im Rezeptionsprozess wird stets auch von dem Zuschauer bekannten Theaterformen der Vergangenheit beeinflusst (Poschmann, 1997: 83). Ebenso sind die Produktionsbedingungen für das Verständnis des politischen Theaters in Salvador da Bahia von großer Relevanz. In diesem Kapitel soll daher als weitere Grundlage für die in Kapitel 4 zu analysierenden Aufführungen ein Überblick über die Situation von Theater in Salvador da Bahia gegeben werden. Entsprechend dem Forschungsinteresse dieser Arbeit wird der Schwerpunkt dabei auf Ausprägungen des politischen Theaters gelegt. Daneben werden zudem auch jene Theaterformen vorgestellt, die das Theater in Salvador da Bahia besonders geprägt haben. Ebenso wie politisches und wirtschaftliches Zentrum war Salvador da Bahia während der Kolonialzeit auch der kulturelle Mittelpunkt Brasiliens (vgl. Cacciaglia, 1980: 19). Im Jahr 1812 wurde hier das erste Theatergebäude des Landes, das Teatro São João, mit Plätzen für 2.000 Personen eröffnet (vgl. Cunha/Bacelar/Alves, 2008: 29). Noch im 20. Jahrhundert nahmen einige der wichtigsten brasilianischen Kunstströmungen wie der (musikalische) tropicalismo19, das cinema novo20 und die literatura regionalista21 von Bahia ihren Ausgang (vgl. Risério, 1995: 13-17). Bis heute machen sie die Stadt neben der afro-brasilianischen Kultur (siehe Kapitel 3.1.1) zu einem wichtigen kulturellen Referenzpunkt. Das soteropolitanische Theater hingegen verlor im 20. Jahrhundert deutlich an Bedeutung (vgl. ebd.): Nachdem das Teatro São João nach einem Brand 1926 geschlossen wurde, verfügte Salvador bis zur Gründung der Escola de Teatro da Universidade Federal da Bahia im Jahr 1956 weder über ein größeres Theatergebäude noch über professionelle Theatergruppen (vgl. Araújo, 2011: 115). Drei Jahre später, 1959, gründete sich unter der Leitung des Regisseurs João Augusto mit Teatro dos Novos die erste professionell ausgebildete Theatergruppe Salvadors (vgl. ebd.: 118). 19 | Gilberto Gil und Caetano Veloso, welche die Bewegung geprägt haben, stammen beide aus Bahia (vgl. Leão, 2009: 136). Zur tropicália bzw. tropicalismo siehe Kapitel 2.2.2.3, seine Ausprägungen in Bahia werden ausführlich von Leão (2009) beschrieben. 20 | Ausführlich zum cinema novo siehe Kapitel 4.1.2.1. Glauber Rocha und Walter da Silveira stammten aus Bahia und veröffentlichten gemeinsam Filmkritiken in der soteropolitanischen Zeitung „Diário de Notícias“ (vgl. Aggio, 2005: 27). 21 | Jorge Amado ist mit seinem Bahia-Zyklus einer der bekanntesten Vertreter der in den 1920er Jahren entstandenen brasilianischen literatura regionalista, der „Rückbesinnung auf die regionalen Traditionen und Kulturwerte des Nordostens“ (Wild, 2007b: 374), und der bis heute beliebteste brasilianische Autor (vgl. ebd: 381).

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In den 1960er-Jahren bildete sich in Salvador da Bahia, ebenso wie in Rio de Janeiro und São Paulo (siehe Kapitel 2.2.2), ein Theater mit einer dezidiert politischen Wirkungsabsicht aus. Einerseits wurden lokale Ableger des CPC (1962) und des Teatro de Arena (1966) gegründet, die ihre Arbeitsweise an den Vorbildern in Rio de Janeiro und São Paulo ausrichteten (vgl. ebd.: 121). Andererseits verbanden auch soteropolitanische Theatergruppen ihre Theaterarbeit zunehmend mit einem politischen Wirkungsanspruch (vgl. ebd.). Dabei lassen sich sowohl Theatergruppen identifizieren, die sich nach dem Vorbild von Teatro de Arena dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen, als auch Gruppen, die mit Teatro Oficina eher dem postdramatischen politischen Theater zuzurechnen sind. Teatro dos Novos, João Augusto und das 1968 gegründete Teatro Livre Bahia lassen sich in der Typologie dieser Arbeit zumindest am Beginn ihres Schaffens dem dramatischen politischen Theater zuordnen, indem sie davon ausgingen, die größte Wirkung durch eine Abbildung der Revolution auf der Bühne zu erreichen (vgl. Leão, 2009: 206). Auch teilte Teatro dos Novos mit Teatro de Arena und CPC die Ablehnung europäischer Theatertexte: Teatro dos Novos grenzte sich ausdrücklich von Martim Gonçalves, dem Leiter der Escola de Teatro, und seinem Fokus auf europäische Stücke ab (vgl. Araújo, 2011: 117). Allerdings muss festgehalten werden, dass trotz dieser Bestrebungen im Salvador der 1960er- und 1970er-Jahre hauptsächlich Theatertexte internationaler Autoren und von Autoren aus Rio de Janeiro und São Paulo inszeniert wurden (vgl. Leão, 2009: 318). Ein Beispiel für originär baianisches, dramatisches politisches Theater ist das teatro de cordel von João Augusto. In drei Inszenierungen, CORDEL I (UA 1966), CORDEL II (UA 1971) und CORDEL III (UA 1973) setzte er Geschichten der literatura de cordel auf der Bühne um (vgl. ebd.: 234). Mit den Aufführungen strebte João Augusto an, auch „o homem comum“ (ebd.) für das Theater zu begeistern. Ebenso wie das politische Theater in Rio de Janeiro und São Paulo verband João Augusto sein „teatro pelo povo, em nome do popular“ (João Augusto, zitiert nach Leão, 2009: 304) mit einem politischen Projekt: [Teatro popular; Anm. SV] É a realização que veicula uma dramaturgia comprometida com doutrinas sociais e que tratem dos problemas do homem comum. (Ebd.: 233f.)

Bei den zahlreichen illusionsbrechenden Effekten der Inszenierungen orientierte er sich unter anderem an Brecht und Piscator (vgl. Leão, 2009: 236). Ebenso wie das CPC und Teatro de Arena forderte er auch, mit Straßentheater das Volk direkt anzusprechen: „Povo não frequenta teatro.“ (João Augusto, zitiert nach

Forschungskontext, Korpus und Methodik

Leão, 2009: 304)22 An Teatro Oficina orientierte Aufführungen, die das Prinzip der Präsenz nutzten, bezeichnete er hingegen als „lixo cultural“ (ebd.: 241) oder „alienação cultural“ (ebd.) – im brasilianischen Nordosten gebe es bereits genug Mystizismus, sodass es eines rituellen Theaters nicht bedürfe (vgl. ebd.). Mit STOPEM, STOPEM! (UA 1968) kreierten João Augusto und Teatro dos Novos allerdings selbst eine Inszenierung, die dem Prinzip der Präsenz folgte, den Zuschauer bewusst verwirrte und die, wie RODA VIVA von Teatro Oficina (siehe Kapitel 2.2.2.3), Elemente der tropicália aufwies (vgl. Leão, 2009: 92). Auch DUM, DUM, DUM, OPUS UM (UA 1969) lässt sich dem postdramatischen politischen Theater zuordnen: Esse show, que se inspira ‚na realidade crua e cruel‘, […] toma o iê-iê-iê e o carnaval carioca como referências, justapondo-os à colagem de textos de Shakespeare, Sartre, Miguel Astúrias, Ingmar Bergman e Graciliano Ramos, para falar sobre o Esquadrão da Morte, a Bomba H, os transplantes e a situação em Biafra. […] Não estão mais em cena o homem do sertão e o da favela, nem o pescador e o operário. […] Cantam-se os problemas da classe média. (Leão, 2009: 142f.)

Auch andere Regisseure wie Álvaro Guimarães, Luciano Diniz und Deolindo Checucci und Gruppen wie das Teatro Grupo Experimental folgten in den 1960er-Jahren dem Vorbild des am postdramatischen Theater orientierten Teatro Oficina, indem sie voraussetzten, dass eine Revolution in der Realität erst durch eine Revolution im Erleben der Zuschauer erzielt werden konnte (vgl. ebd.: 307).23 Ebenso wie im restlichen Land wurde die Phase des offen einen politischen Wirkungsanspruch formulierenden Theaters auch in Salvador da Bahia in den 1970er-Jahren mit zunehmenden Repressionen der Militärdiktatur beendet: Inszenierungen wurden verboten, Künstler und Zuschauer drangsaliert und Theater geschlossen (vgl. Araújo, 2011: 122). Einer der wenigen Orte, die während der Militärdiktatur Künstlern und Intellektuellen einen geschützten Raum zum Austausch bieten konnten, war das 1961 gegründete Goethe-Institut/Instituto 22 | Allerdings hatten die eigenen Versuche, das Volk zu erreichen, ebenso wie die der restlichen Theatergruppen bis zum Ende der 1970er-Jahre keinen Erfolg gezeigt, sodass er noch einmal fordert: „O teatro na Bahia necessita sair de suas montagens raquíticas, de sua atonia e de sua total impopulari dade. O fato de o homem comum poder freqüentar nossas salas de espetáculos (combinando seu poder aquisitivo ao preço baixo dos ingressos) não significa nada: o teatro continua centrado, fechado, discriminado dentro de sua sala.“ (João Augusto, zitiert nach Leão, 2009: 233) 23 | In dieser Aufzählung wird nur eine kleine Auswahl an Regisseuren und Theatergruppen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren das politische Theater in Bahia prägten, benannt. Einen detaillierten Überblick gibt Leão (2009).

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Cultural Brasileiro Alemão (ICBA) mit dem zugehörigen Cine-Teatro ICBA (vgl. Nussbaumer, 2006: 8).24 Nach dem Ende der Militärdiktatur kam es in Salvador in den 1980er-Jahren zunächst zu einem starken Anstieg neuer Inszenierungen (vgl. Araújo, 2011: 101). Allerdings war diese Phase nur von kurzer Dauer, schon bald wurde im brasilianischen Theater eine Krise konstatiert. Die ganz Brasilien betreffende Inflation und zunehmende wirtschaftliche Probleme wirkten sich auch auf das Theater aus: „A tarefa de conseguir dinheiro para colocar os espetáculos em cartaz tornou-se quase impraticável.“ (Ebd.: 127) Allerdings entstanden in den 1980er-Jahren zwei Inszenierungen, welche das zeitgenössische soteropolitanische Theater bis heute prägen: A BOFETADA (UA 1988) von Fernando Guerreiro und LOS CATEDRÁSTICOS (UA 1988) von Paulo Dourado (vgl. Franco, 2010: 16f.). Beide Inszenierungen lassen sich der in Salvador bis heute sehr beliebten Gattung des besteirol25 zuordnen, einer Collage von Sketchen mit zahlreichen popund alltagskulturellen Referenzen (vgl. Marinho, 2004: 11f.). Insbesondere A BOFETADA, die bis heute inszeniert wird, gilt als „marco na história do teatro baiano“ (Nussbaumer, 2006: 5). Mit zahlreichen partizipativen Elementen und ausgeprägter Komik sprach es insbesondere ein Publikum aus der Mittelklasse an, das von „klassischen“ Inszenierungen nicht erreicht worden war: Até então, o público de teatro tinha um perfil bem delineado, composto por universitários, intelectuais e a própria classe. Depois de ,A Bofetada‘ as classes médias de Salvador, que até então só assistiam espetáculos de fora no Teatro Castro Alves, se interessaram por assistir o teatro local. (Araújo, 2011: 164)

Der landesweite Erfolg von A BOFETADA und LOS CATEDRÁSTICOS führte in den 1990er-Jahren zu einem regelrechten „boom cultural“ (ebd.: 153). Unterstützt wurde der „boom“ von der von ACM zu Beginn der 1990er-Jahre gegründeten Secretaria de Cultura und Turismo, die die Renovierung zahlreicher Theater24 | Ein Versuch, sich gegen die Krise der Kreativität während der Militärdiktatur zu Wehr zu setzen, war die von Carlos Petrovich, João Augusto und Jesus Chediak gegründete Classe Teatral Organizada (CLATOR) (vgl. Araújo, 2011: 123). Unter das Dach von CLATOR sollten sich alle Theatergruppen stellen und als Kollektiv für alle Theaterproduktionen in Bahia verantwortlich zeichnen: Allerdings scheiterte das Unterfangen an der mangelnden Kooperation der unterschiedlichen Theatergruppen (vgl. ebd.: 124). 25 | Marinho (2004: 11f.) definiert besteirol als „um espetáculo de esquetes defendido por uma dupla de atores (ou atrizes) que vive muito de referências e citações de filmes, peças, programas de TV e da observação do comportamento humano da zona sul carioca. Seu humor é inteligente, exige da plateia uma certa dose de informação para ser melhor usufruído e vive muito da paródia.“

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bauten und zahlreiche neue Inszenierungen unterstützte (vgl. ebd.: 153f.). Eine weitere bedeutende Entwicklung des soteropolitanischen Theaters der 1990erJahre resultierte aus der Gründung von Bando de Teatro Olodum (siehe Kapitel 3.2.1), zu diesem Zeitpunkt brasilienweit die einzige professionelle negro-Theatergruppe (vgl. Franco, 2010: 51).26 Abschließend sei noch eine letzte, noch heute sehr beliebte Form des baianischen Theaters erwähnt, welche die baianidade (siehe Kapitel 3.1.1) thematisiert. Sie hat ihre Ursprünge ebenfalls in den 1990er-Jahren: Die erste dieser Inszenierungen, DENDÊ E DENGO (UA 1990) von Aninha Franco, war nicht nur in Salvador selbst ein großer Erfolg, sondern wurde u.a. auch nach Zürich eingeladen (vgl. Franco, 2010: 70). Der Erfolg der baianischen Aufführungen setzte sich mit der Komödie VIXE MARIA – DEUS E O DIABO NA BAHIA (UA 2004) von Fernando Guerreiro fort, die in drei Jahren von 125.000 Zuschauern gesehen wurde (Borges, 2008: 36). Auch nach der Jahrtausendwende zeichnet sich Salvador da Bahia, wenn es auch zweifellos nicht über Umfang und Strahlkraft des Kulturangebotes der Metropolen im Süden des Landes verfügt, weiterhin durch eine lebhafte Theaterszene aus: Die Stadt besitzt über 32 Theater (vgl. Araújo, 2011: 157)27, davon circa ein Drittel in staatlicher Hand, zwei Drittel privat geführt (vgl. Nussbaumer, 2006: 7), an denen in den 1990er- und 2000er-Jahren jährlich zwischen 30 und 50 Premieren stattfanden (vgl. Araújo, 2011: 166). Die Mehrheit der Theatergebäude in Salvador da Bahia fasst bis zu 300 Zuschauer, wobei einige Theatergebäude auch Platz für bis zu 1.500 Zuschauer bieten (vgl. ebd.: 10). Nachdem, wie anhand der Beispiele von Fernando Guerreiro, Aninha Franco und Paulo Dourado erläutert, innerhalb der 1980er- und 1990er-Jahre die soteropolitanische Dramatik besondere Popularität entwickelte, kommt Claudio Simões 2009 auf Basis einer kurzfristigen Spielplananalyse zu dem Fazit:

26 | 2001 wurde in Rio de Janeiro die Companhia dos Comuns gegründet. Gemeinsam haben Bando de Teatro Olodum und Companhia dos Comuns bereits dreimal das „Forum Nacional de Performance Negra“ durchgeführt (vgl. Ramos, 2009). 27 | Café-teatro Zélia Gattai, Cine-teatro do ICBA, Cine-teatro do ICEIA, Cine-teatro Solar Boa Vista, Espaço Xisto Bahia, Sala Principal do Teatro Castro Alves/TCA, Sala do Coro do TCA, Teatro ACBEU, Teatro Anchieta, Teatro Caballeros de Santiago, Teatro da Barra, Teatro Dias Gomes, Teatro Diplomata, Teatro do IRDEB, Teatro do ISBA, Teatro do Movimento, Teatro Gamboa, Teatro Gil Santana, Teatro Gregório de Mattos, Teatro Hora da Criança, Teatro Jorge Amado, Teatro Miguel Santana, Teatro Módulo, Teatro Moliére, Teatro Salesiano, Teatro Sartre, Teatro Sesc-Senac Pelourinho, Teatro SESI, Rio Vermelho, Teatro Vila Velha und Theatro XVIII.

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„Chega a ser comum, ultimamente, que o número de peças baianas em cartaz seja maior do que o número de peças não-baianas.“ (Simões, 2009: 7)28 Erste Erhebungen der Publikumsstruktur in Salvador da Bahia weisen darauf hin, dass die Mehrheit der Theaterbesucher weiblich, zwischen 18 und 35 Jahren alt ist sowie über einen mittleren bis höheren Bildungsabschluss verfügt (vgl. Rattes, 2007: 57-59).29 Auch wenn es keine mehrere Theater umfassenden Erhebungen über das Einkommensniveau gibt, ist anzunehmen, dass das Theater in Bahia „uma forma de arte accesível a poucas pessoas“ (Araújo, 2011: 157) ist. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Lage der Theater erschließen: Die Theater in Salvador konzentrieren sich bis auf wenige Ausnahmen auf die Mittelklasseviertel im Zentrum der Stadt, sodass der Zugang für Bewohner peripherer Stadtviertel erschwert wird (vgl. ebd.). Zudem gestatten die Eintrittspreise einen Rückschluss auf die ökonomische Situation der Zuschauer: Bei einzelnen Theatern müssen für Aufführungen R$ 50 bis R$ 60 für eine Person gezahlt werden (z.B. Teatro SESC, Teatro Jorge Amado), während Institutionen wie das Theatro XVIII sich auf Einheitspreise zwischen R$ 2 bis R$ 5 beschränken (vgl. Nussbaumer, 2006: 12).30 Zentrales Element der Produktionsbedingungen von Theater sind staatliche Unterstützungsmechanismen. In Salvador wurde erstmals 1975 mit Gründung der FUNARTE, der Fundação Nacional de Arte, ein „aparato institucional govern28 | Detailliert bedeutet dies: „[D]os 22 espetáculos adultos em cartaz em Salvador, metade tinha textos originais assinados por autores contemporâneos residentes na cidade, 3 eram adaptações assinadas por residentes em Salvador, 2 eram colagens, 1 era de autor baiano já falecido e apenas 5 eram de autores não baianos não residentes em Salvador. Além disto, todos os 13 espetáculos infantis em cartaz no mesmo fim de semana eram assinados por autores baianos, sendo 8 textos originais e 5 adaptações.“ (Simões, 2009: 7) An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich unter den in Salvador erfolgreich tätigen Regisseuren gleich zwei Deutsche befinden: Nehle Franke, der 1997 mit DIVINAS PALAVRAS nicht nur ein lokaler, sondern auch nationaler Theatererfolg gelang, und Ewald Hackler (vgl. Franco, 2010: 25, 167). 29 | Eine systematische, wissenschaftliche Erhebung wurde bislang nur am Teatro Vila Velha durchgeführt (vgl. Rattes, 2007; siehe Kapitel 3.2.1), entsprechend kann an dieser Stelle nur eine Vermutung hinsichtlich des tatsächlichen Publikums angestellt werden. 30 | Aufgrund der hohen Preise ist die Option der meia-entrada in Brasilien besonders relevant: Bereits seit den 1990er-Jahren gibt es in Brasilien den für Studenten (seit 2001 generell für Personen in der Ausbildung), Personen unter 18 und über 60 Jahren einen gesetzlich verankerten Anspruch, nur die Hälfte des Eintrittspreises für kulturelle Ereignisse zu zahlen (vgl. Lei Estadual nº 5.894, de 27 de julho de 1990). In Salvador da Bahia garantieren 66% der Theater, darunter das Teatro Castro Alves und das Teatro Vila Velha, diese meia-entrada (vgl. Nussbaumer, 2006: 11).

Forschungskontext, Korpus und Methodik

mental para a Cultura“ (Araújo, 2011: 125) zur systematischen Unterstützung der Kultur eingeführt.31 1996 wurde zudem das bis 2008 laufende Programa Estadual de Incentivo à Cultura (FAZCULTURA) etabliert. Dieses bot Unternehmen steuerliche Anreize für die Unterstützung von Kultur und hat, trotz einiger Kritik an den Verteilungsmodalitäten, bis zu seiner Abschaffung insgesamt R$ 150 Millionen Projektmittel, davon circa 24% für darstellende Künste, vergeben (vgl. ebd.: 160). Die in den 1990er-Jahren von Magalhães in der Stadtverwaltung zusammengeführten Ressorts Kultur und Tourismus wurden 2007 vom neu gewählten Gouverneur Jaques Wagner der Partido dos Trabalhadores wieder getrennt. Die neu gegründete Secretaria de Cultura wurde vom Regisseur und damaligen Leiter des Teatro Vila Velha, Márcio Meirelles, übernommen. Die Politik von Meirelles, die eine Reform bzw. Abschaffung etablierter Kulturförderungsinstrumente wie FAZCULTURA und eine Ausweitung der editais32 vorsah, wurde von einer großen Anzahl soteropolitanischer Künstler stark kritisiert: Meirelles wurde vorgeworfen, eine „crise de teatro“ (vgl. ebd.: 180) herbeigeführt zu haben, indem er Kreativität durch lange Prozesse, intransparente Auswahlkriterien und zu geringe Fördermittel ersticke.33 So umstritten die Politik von Meirelles für soteropolitanische Künstler selbst war, wurde der nationale und internationale Austausch während seiner Zeit als Secretário de Cultura mit der Unterstützung des regionalen Festival de Teatro da Bahia (ab 2007), dem Festival Internacional de Teatro Latinoamericano (ab 2008) und dem Festival Internacional das Artes Cênicas (ab 2008) eindeutig gestärkt. Von 2011 bis 2014 war der Wissenschaftler Antônio Albino Canelas Rubim Secretário de Cultura, und auch während seiner Amtszeit verstummte die Debatte um die crise de teatro nicht (vgl. Tavares, 2013). 2015 wurde der Posten von Jorge Portugal übernommen. Noch liegen keine Studien zur Entwicklung der Anzahl von Inszenierun31 | Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Einrichtung während der Militärdiktatur erfolgte, ist diese nicht nur positiv zu bewerten, denn sie bedeutete auch zunehmende Abhängigkeit der Kulturinstitutionen vom Staat (vgl. Araújo, 2011: 125). 32 | Die Praxis der editais, der Ausschreibung von Fördermitteln, auf die sich Theatergruppen mit Projektvorschlägen bewerben können, ist in Brasilien bereits seit 1979 üblich. Hauptkritikpunkt an dem Instrument ist, dass es „conhecimento técnico específico e habilidade textual de ordem expositiva e argumentativa, que não são de amplo domínio“ (Araújo, 2011: 181) voraussetzt. 33 | Die Proteste gipfelten im Jahr 2009 in der Veröffentlichung eines von 87 Künstlern unterzeichneten „Manifests“ gegen die Kulturpolitik von Meirelles (vgl. Araújo, 2011: 182). Die Regierung reagierte auf die Proteste zunächst mit dem Vorwurf, dass sich die Künstler aus Gewohnheit an die Politik von ACM klammern würden und verweigerte sich einem Gespräch (vgl. ebd.). Erst nachdem sich die Proteste nicht beruhigen wollten, kam es zu einem direkten Austausch zwischen Meirelles und seinen Kritikern.

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gen ab 2010 vor – es bleibt daher abzuwarten, wie sich die Kulturpolitik von Meirelles, Rubim und Portugal tatsächlich auf die Produktivität des soteropolitantischen Theaters auswirkt.

3.2 F ESTLEGUNG DES K ORPUS Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Vermittlungsstrategien des politischen Theaters in Salvador da Bahia um die Jahrtausendwende zu untersuchen. Um eine möglichst fundierte Übersicht über die Grundlagen des politischen Theaters zu geben, wurden bei der Beschreibung von praktischen Ausprägungen auch Faktoren wie die Intention der Autoren, von ihnen verfasste Theatertexte oder ihrer Arbeit zu Grund liegende theatertheoretische Konzepte berücksichtigt (siehe Kapitel 2.2 und 3.1.2). Dagegen wird sich die Arbeit im Folgenden auf Theateraufführungen konzentrieren. Eine Konzentration auf Aufführungen bietet sich an, da sich mit den entsprechenden Werkzeugen (siehe Kapitel 3.3) hier sowohl dramatische als auch postdramatische Vermittlungsstrategien, d.h. Repräsentation und Präsenz, nachweisen lassen. Im reinen Schrifttext könnte Präsenz hingegen nichtmals vermutet werden – eine Unterscheidung zwischen dramatischen und postdramatischen politischen Theaterformen wäre damit nicht möglich. Das Korpus dieser Arbeit wird aus Theateraufführungen konstituiert, die sich dem politischen Theater zuordnen lassen. Dies wurde in Kapitel 2.1 für die vorliegende Arbeit definiert als Theater, in dem sich eine dramatisch oder postdramatisch vermittelte politische Wirkungsabsicht nachweisen lässt. Für das Korpus dieser Arbeit würden entsprechend alle Bühnentexte infrage kommen, die über eine politische Wirkungsabsicht verfügen. Wie in Kapitel 3.1.2 beschrieben, verfügt Salvador da Bahia allerdings über 32 Theater, an denen in den 1990er- und 2000er-Jahren jährlich zwischen 30 und 50 Premieren stattfanden. Aus forschungspraktischen Gründen34 wurde das Korpus daher auf die Bühnentexte von zwei Theatern reduziert: Teatro Vila Velha und Theatro XVIII. Beide heben sich aufgrund der Qualität ihrer Theaterarbeit von den restlichen Theatern Salvador da Bahias ab:

34 | Ein Grund lag in der schieren Masse an Aufführungen, die eine transparente Vorauswahl notwendig machte. Zudem bestand die Notwendigkeit, dass die zu analysierenden Aufführungen auf Video vorliegen mussten (siehe Kapitel 3.2.3). Dies erwies sich, wie im Folgenden beschrieben wird, bereits beim Teatro Vila Velha und Theatro XVIII als Herausforderung, bei Theatern, die finanziell und personell schlechter ausgestattet sind, war eine Dokumentation und Archivierung der Aufführungen häufig gar nicht gegeben.

Forschungskontext, Korpus und Methodik

É preciso registrar, no entanto, que esses dois espaços se destacam entre os teatros da cidade por sua intensa atividade, qualidade da programação, políticas de preços adotada e ainda pelas formas alternativas de gestão e conquista de públicos fiéis. (Nussbaumer, 2006: 11)

3.2.1

Das Teatro Vila Velha

Das Teatro Vila Velha wurde 1964 von der Sociedade Teatro dos Novos35 als das erste private, unabhängige Theater in Salvador da Bahia gegründet (vgl. Rattes, 2007: 23f.). Mit dem Bau des Theatergebäudes auf dem von der Regierung zur Verfügung gestellten Gelände am zentral gelegenen Passeio Público war nach mehreren Fundraisingkampagnen bereits 1961 begonnen worden (vgl. ebd.). Die Bedeutung des zu Beginn von João Augusto geleiteten Teatro Vila Velhas für die lokale Kunst- und Kulturszene wurde bereits mit der Eröffnungsshow NÓS, POR EXEMPLO (1964) etabliert, an der unter anderem Caetano Veloso, Gilberto Gil, Maria Bethânia, Gal Costa und Tom Zé teilnahmen (vgl. ebd.: 24). Die erste Inszenierung, umgesetzt von Teatro dos Novos unter der Regie von João Augusto, ELES NÃO USAM BLACK-TIE (1964; siehe Kapitel 2.2.2.2), verdeutlicht, dass sich das Teatro Vila Velha von Beginn an als Hort des politischen Theaters verstand (vgl. ebd.). So bot es sich 1967 auch als Spielstätte für die Inszenierung von Teatro de Arena da Bahia von QUANDO AS MÁQUINAS PARAM an (vgl. Leão, 2009: 60). 1973 wurde mit OS SETE PECADOS CAPITAIS dort erstmals eine Inszenierung gezeigt, die auf einem Theatertext von Bertolt Brecht – in einer an den brasilianischen Kontext angepassten Version – basierte (vgl. ebd.: 302f.). Diese Ausrichtung setzte sich, ebenso wie der Anspruch, arte popular zu machen, mit den Aufführungen von CORDEL, CORDEL II UND CORDEL III (siehe Kapitel 3.2.2) von Teatro dos Novos und Teatro Livre da Bahia über die 1960er- und 1970er-Jahre bis zum Tod João Augustos 1979 fort. Während dieser Zeit galt das Teatro Vila Velha als „mais produtiva casa de espetáculos da Baía“ (Franco, 2010: 20) – trotz der in Kapitel 3.1.2 beschriebenen zunehmenden Einschränkungen durch die Militärdiktatur und der Baufälligkeit des Gebäudes. Nach dem Tod von João Augusto übernahm Carlos Petrovich die Leitung des Teatro Vila Velha. Aufgrund weiterhin ausstehender, aber dringend benötigter Renovierungsarbeiten, des daraus folgenden Ausbleibens von Publikum und der wiederum folgenden Abnahme neuer Produktionen verfiel das Teatro Vila bis in die 1990er-Jahre immer stärker (vgl. Rattes, 2007: 24). Erst 1994 begann

35 | Damals bestand die Sociedade Teatro dos Novos aus Carlos Petrovich, Teresa Sá, Sônia Robatto, Carmem Bittencourt, Othon Bastos und Ecchio Reis (vgl. Rattes, 2007: 23).

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der langsame Wiederaufbau des Teatro Vila Velhas, dessen Renovierungen 1998 schließlich abgeschlossen waren (vgl. Rattes, 2007: 24). Heute besitzt das Teatro Vila Velha zwei Aufführungsräume, den großen Saal (350 Plätze), der von zwei Galerien umrahmt wird und verschiedenen Bühnenformen Platz bietet, und das kleinere Cabaré dos Novos (90 Plätze) (vgl. ebd.). Geleitet wird das Teatro Vila Velha seit 1994 von der Nichtregierungsorganisation Sol Movimento de Cena (vgl. ebd.: 25). Intern ist das Theater in Arbeitsgruppen strukturiert, die jeweils einen Vertreter in einen Ausschuss entsenden, in dem gemeinsam über administrative und künstlerische Fragen entschieden wird (vgl. ebd.). Im Zeitraum, der in dieser Arbeit behandelt wird, war das Teatro Vila Velha permanenter Sitz von sechs Theatergruppen, so genannten grupos residentes: Bando de Teatro Olodum (seit 1994), Teatro dos Novos (seit 1994), die Kindertheatergruppe Companhia Novos Novos (seit 2001), die Tanzgruppe Companhia Viladança (seit 1998), A Outra Companhia de Teatro (2004-2013) und Vilavox (2001-2011).36 Die grupos residentes bleiben finanziell und künstlerisch autonom, dürfen gegen ein geringes Entgelt37 aber die Infrastruktur des Theaters nutzen (Rattes, 2007: 26). Um die Produktionsbedingungen der in Kapitel 4 analysierten Aufführungen näher zu erläutern, sollen die grupos residentes, deren Aufführungen in das Korpus aufgenommen wurden, im Folgenden vorgestellt werden. Wie in Kapitel 3.1.2 beschrieben, galt Bando de Teatro Olodum von 1994 bis 2001 als einzige professionelle, nur aus negro-Schauspielern bestehende Theatergruppe Brasiliens. Die Gruppe wurde 1990 vom soteropolitanischen Regisseur Márcio Meirelles und João Jorge, Leiter der Karnevalsgruppe Olodum38, mit 36 | Seit 2014, vier Jahre nach Ende des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Studie, agiert das Teatro Vila Velha über die drei verbliebenen grupos residentes Bando de Teatro Olodum, Companhia Viladança und Companhia Teatro dos Novos hinaus selbst als „produtor“ (Teatro Vila Velha, 2016). Seitdem wurden u.a. P OR QUE H ÉCUBA (2014), F RANKENSTEIN (2014), JANGO: U MA TRAGEDYA (2014) und B ONDE DOS R ATINHOS (2014) inszeniert. 37 | Für Aufführungen und Probenräume muss jeweils ein fester Mietsatz gezahlt werden, zudem zahlen die Gruppen 10% aller eingeworbenen Fördermittel als Verwaltungskosten an das Theater. Auch verpflichten sich die Gruppen, nicht an anderen Theatern in Salvador zu inszenieren (vgl. Rattes, 2007: 26). 38 | Olodum war 1979 im Pelourinho zunächst als bloco de carnaval gegründet worden, führt seit den 1980er-Jahren allerdings das ganze Jahr kulturelle Veranstaltungen zur Unterstützung der afro-brasilianischen Kultur und zum Protest gegen Rassismus durch (vgl. ebd.: 322). Olodum ist musikalisch insbesondere für den in Brasilien sehr populären Samba-Reggae, eine Form der perkussiven Musik, bekannt (vgl. Schaeber, 2003: 188). Das „komplexe schwarze Kultur-Unternehmen“ (Schaeber, 2006: 322) Olodum umfasste Ende der 1990er-Jahre ein bloco de carnaval, eine Musikgruppe,

Forschungskontext, Korpus und Methodik

dem Ziel gegründet, die Aktivitäten von Olodum auf das Theater auszuweiten (vgl. Schaeber, 2003: 191; 272). Bando de Teatro Olodum sollte jene Themen, die den soteropolitanischen Alltag prägten, auf der Bühne thematisieren: O carnaval, o candomblé, a marginalidade, o racismo, o conflito social, enfim, uma tentative de transformar em teatro o que havia de rico nos gestos, na sono ridade, ritmia e significados de baianidade, sem esvaziar o conteúdo. (Uzel, 2003: 38)

Von ihrer Gründung bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Arbeit hat Bando de Teatro Olodum neben Auftritten von Ensemblemitgliedern in Kinofilmen und Fernsehserien 25 Theater- und Tanzstücke inszeniert (vgl. hier und im Folgenden: Teatro Vila Velha, 2014).39 Seit 1994 wird die Gruppe neben Márcio Meirelles von Chica Carelli geleitet. Die beiden sind gleichzeitig die einzigen branco-Mitglieder der circa 25-köpfigen Gruppe.40 Die Inszenierungen, „tendo o negro e sua tradição sociocultural como matéria-prima de seus espetáculos“ (vgl. Bando de Teatro Olodum, 2014), beruhen sowohl auf klassischen Theatertexten von William Shakespeare, Bertolt Brecht, Heiner Müller und Georg Büchner als auch auf Improvisationen der Gruppe und realen Dokumenten (vgl. Teatro Vila Velha, 2014). Wie in Kapitel 3.1.2 beschrieben, wurde die Theatergruppe Teatro dos Novos bereits 1959 mit dem Ziel gegründet, „de pensar o teatro numa perspectiva ampla, explorando novas linguagens, colocando-se na vanguarda das artes cênicas na Bahia“ (vgl. hier und im Folgenden ebd.). Mit ihren Inszenierungen hat sie das kulturelle Leben in Salvador der 1960er- und 1970er-Jahre maßgeblich geeine Kindergruppe, eine Kunstschule, eine Bekleidungsproduktion, eine Theatergruppe, eine Tanzgruppe und einen Verlag (vgl. ebd.: 331). International bekannt wurde die Musikgruppe 1996 durch die Zusammenarbeit mit Michael Jackson, der mit ihr den Videoclip zu seinem Song „They don’t care about us“ drehte (vgl. ebd.: 331f.). 39 | E SSA É N OSSA P RAIA (1991), O N OVO M UNDO (1991), A VOLTA P OR C IMA (1992), Ó PAÍ Ó (1992), WOYZÉCK (1993), M EDEAMATERIAL (1993), B AI B AI P ELÔ (1994), Z UMBI (1995), Z UMBI E STÁ V IVO E C ONTINUA L UTANDO (1995), E RÊ PRA TODA V IDA * X IRÊ (1996), Ó PERA DE TRÊS M IRRÉIS (1996), C ABARÉ DA R RRRAÇA (1997), U M TAL DE D OM Q UIXOTE (1998), Ó PERA DE TRÊS R EAIS (1998), S ONHO DE U MA N OITE DE V ERÃO (1999), J Á F UI! (1999), M ATERIAL FATZER (1999), R ELATO DE UMA G UERRA QUE (NÃO) A CABOU (2000), O XENTE , C ORDEL DE N OVO? (2003), O M URO (2004), A UTO -R ETRATO AOS 40 (2004), S ONHO DE UMA NOITE DE VERÃO (2006), Á FRI CAS (2007), B ENÇA (2010), DÔ (2012). 40 | Die Tatsache, dass zwei brancos Bando de Teatro Olodum leiten, wurde seit Gründung der Gruppe diskutiert (vgl. Uzel, 2003: 40f.). Meirelles argumentiert: „Tentei mostrar que não apenas árvores podem lutar pela preservação das árvores. Há possibilidades de as diferenças conviverem harmoniosamente e lutarem por um objetivo em comum.“ (Meirelles, zitiert nach Uzel, 2003: 41)

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prägt (siehe Kapitel 3.1.2). Heute besteht Teatro dos Novos aus circa fünfzehn Mitgliedern. Seit der Wiedereröffnung des Teatro Vila Velha 1994 hat Teatro dos Novos 22 Inszenierungen zur Aufführung gebracht.41 Teatro dos Novos inszeniert sowohl europäische Theatertexte (Frank Wedekind, Heiner Müller, Copi) als auch Texte, die von Gruppenmitgliedern verfasst wurden – diese sind allerdings in der deutlichen Minderheit. Relativ hoch – auch im Vergleich zu Bando de Teatro Olodum – ist die Anzahl an Inszenierungen von Theatertexten lateinamerikanischer Autoren. Die circa fünfzehn Mitglieder der jüngsten der vier in der vorliegenden Arbeit behandelten Theatergruppen, A Outra Companhia de Teatro, wurde während ihrer Zeit als grupo residente im Teatro Vila Velha hauptsächlich von Vinicio de Oliveira Oliveira geleitet (vgl. hier und im Folgenden A Outra, 2014). Das Repertoire von A Outra umfasst zehn Inszenierungen, darunter drei Inszenierungen für Kinder.42 Im Vergleich mit den anderen Theatergruppen fällt auf, dass A Outra, abgesehen von der ersten Inszenierung, die einen Theatertext von Carlo Goldoni umsetzte, auf europäische Klassiker verzichtete – stattdessen basieren die Aufführungen auf Improvisationen oder Theatertexten von brasilianischen oder afrikanischen Autoren. Dies entspricht dem Selbstverständnis als Theatergruppe: „[A Outra Companhia de Teatro; Anm. SV] valoriza suas referências culturais em seus trabalhos artísticos, afirmando discursos que refletem o interior e a capital, o centro e a periferia, a Bahia e o Nordeste, sem estereótipos folclóricos.“ (Ebd.) Die Theatergruppe Vilavox war zwischen 2001 und 2010 als grupo residente am Teatro Vila Velha ansässig (vgl. hier und im Folgenden Vilavox, 2014). In diesem Zeitraum war sie an insgesamt sieben Inszenierungen beteiligt.43 Geleitet wurde sie von Gordo Neto, Márcia Lima und Claudio Machado. Sich selbst 41 | B ARBA A ZUL (1997), U M TAL DE D OM Q UIXOTE (1998), S ONHO DE UMA N OITE DE V ERÃO (1999), S UPERNOVA (2000), P É - DE - GUERRA (2000), M ATERIAL FATZER (2001), O XENTE , C ORDEL DE N OVO? (2003), A UTO -R ETRATO AOS 40 (2004), P RIMEIRO DE A BRIL (2004), C ARTAS A BERTAS (2005), L ATIN IN B OX (2005), D IATRIBE DE A MOR C ONTRA U M H OMEM S ENTADO (2005), O D E SPERTAR DA P RIMAVERA (2005), L IGA P RA M IM , N ÃO TE A RREPENDERÁS (2005), C ÃO! (2005), U M M OMENTO A RGENTINO (2005), D IVORCIADAS , EVANGÉLICAS E V EGETARIANAS (2005), O S D OIS L AD RÕES (2005), R EREMBELDE (2005), A G ELADEIRA (2007), O O LHAR I NVENTA O M UNDO (2008), O O LHO DE D EUS – O AVESSO DOS R ETALHOS (2013). 42 | A RLEQUIM S ERVIDOR D E D OIS PATRÕES (2004), D EBAIXO D’ÁGUA E M C IMA D’AREIA (2005), O C ONTÊINER (2006), A S ACANAGEM DA O UTRA (2007), O P IQUE D OS Í NDIOS O U A E SPINGARDA D E C ARAMURU (2008), TRÊS H ISTÓRIAS PARA L EMBRAR (2008), M ORINGA (2009), M AR ME Q UER (2010), R EMENDÔ, R EMENDÔ (2011), C OLCHA DE R ETALHOS (2011). 43 | M ATERIAL FATZER (2001, mit Bando de Teatro Olodum), TRILHAS DO V ILA (2001), A LMANAQUE DA L UA (2003), A UTO -R ETRATO AOS 40 (2004, mit Bando de Teatro Olodum und Companhia Teatro dos Novos), P RIMEIRO DE A BRIL (2004), C ANTEIROS DE ROSA (2006),

Forschungskontext, Korpus und Methodik

ordnet Vilavox nicht als politisches Theater ein: „Embora não se defina como um grupo de teatro político, o Vilavox sempre se aproximou da reflexão seja sobre a história, seja sobre a mitologia, seja sobre o demasiado humano.“ (Ebd.)44 Frequentiert wird das Teatro Vila Velha insbesondere von einem jungen Publikum: 40% der Zuschauer stammen aus der Altersgruppe zwischen 19 und 25 Jahren, weitere 42% sind zwischen 26 und 49 Jahre alt (vgl. Rattes, 2007: 57). Unter den Zuschauern sind etwas mehr Frauen (57%) als Männer (43%) (vgl. ebd.). Mehr als zwei Drittel der Zuschauer erklären sich als negro oder pardo, ein Drittel als branco (vgl. ebd.: 58). Allerdings sind diesbezüglich zwischen den einzelnen Gruppen Abweichungen festzustellen: Während die Zuschauerschaft von Teatro dos Novos sich zu 58% als pardo oder negro bezeichnet (vgl. ebd.: 41), sind bei den Aufführungen von Bando de Teatro Olodum 73% negros und pardos – ebenso bei A Outra Companhia de Teatro (vgl. ebd.: 43). Hinsichtlich des Einkommens der Zuschauer zeigt sich auf den ersten Blick eine deutliche Diskrepanz: Die größte Gruppe der Besucher, 24%, weist gar kein Einkommen auf, während die zweitgrößte Gruppe, 21%, zwei bis vier Mindestlöhne verdient (vgl. ebd.: 58). Mit Blick auf die junge Altersgruppe lässt sich die hohe Anzahl an Menschen ohne Einkommen allerdings durch den Studentenstatus der Besucher erklären: 74% der Zuschauer haben eine universitäre Ausbildung bzw. befinden sich gerade im Studium (vgl. ebd.: 59). 2% der Zuschauer gaben an, nur über ein „ensino fundamental“ (ebd.) zu verfügen. Auffällig ist zudem, dass circa ein Drittel der befragten Zuschauer das erste Mal eine Theateraufführung besuchte (vgl. ebd.: 41). Dazu gesellt sich circa ein Drittel, das sich dezidiert als Stammpublikum bezeichnet (vgl. ebd.). Damit lässt sich festhalten: Das Publikum des Teatro Vila Velha ist durchschnittlich jung, negro oder pardo und verfügt über einen höheren Bildungsabschluss bzw. strebt einen solchen an. L ABIRINTOS (2008); nach ihrem Austritt aus dem Teatro Vila Velha wurde noch O S EGREDO DA A RCA DE TRANCOSO (2012) inszeniert. 44 | Neben den Aktivitäten der grupos residentes zeichnet sich das Teatro Vila Velha durch weitere Programme und Projekte zur Förderung des soteropolitanischen Theaters aus: Das 2000 eingeführte Projekt „O que cabe neste palco“ stellt pro Jahr neun lokalen Theater- und Tanzgruppen, die in Salvador noch nicht über einen Aufführungsort verfügen, für einige Wochen den kleinen Saal des Vila Velha zur Verfügung (vgl. Rattes, 2007: 30). „TOMALADACÁ“ bietet Künstlern aus der soteropolitanischen Peripherie an, eigene künstlerische Arbeiten gegen Eintrittskarten zu tauschen (vgl. ebd.: 31). Zudem werden die Werke der Künstler ausgestellt und Workshops durchgeführt (vgl. ebd.). Neben diesen Projekten, die dem künstlerischen Austausch dienen, gibt es auch Initiativen, die theaterpädagogisch ausgerichtet sind: Das Projekt „Vilerê“ findet jährlich im Oktober statt und richtet sich mit Spielen und Workshops an Kinder und Jugendliche (vgl. ebd.).

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3.2.2

Das Theatro X VIII

Das Theatro XVIII wurde 1997 im Pelourinho, im historischen Zentrum von Salvador da Bahia, eröffnet (vgl. Theatro XVIII, 2007: 4).45 Eigentümer des XVIII ist die Nichtregierungsorganisation Res Inexplicável Volans (vgl. ebd.: 24).46 Die Geschäftsführung hatten von 1997 bis 2013 Aninha Franco und Rita Assemany inne. Im Januar 2014, nach Ende des Untersuchungszeitraums, wurde sie von Regisseur Paulo Dourado übernommen (vgl. Uzêda, 2013b).47 Das Theatro XVIII besteht aus einem Theaterraum mit 150 Plätzen sowie der Galeria Moacir Moreno im Foyer des Theaters, in dem bildende Künstler ihre Werke ausstellen können (vgl. Nussbaumer/Rattes, 2005: 8). Neben eigenen Produktionen – insgesamt 2248 – stellt das Theater seine Räumlichkeiten auch externen Gruppen zur Verfügung (vgl. ebd.). Das Theatro XVIII lädt für Produktionen, wenn sie nicht von den Mitgliedern der NGO selbst durchgeführt werden, externe Künstler ein (vgl. ebd.). Wenn es auch über keine professionellen grupos residentes verfügt, bietet das Theatro XVIII doch zwei Amateurtheatergruppen ein Dach: Seit dem Jahr 2002 arbeitet das XVIII mit dem Centro Projeto Axé de Defesa e Proteção à Criança e ao Adolescente zusammen und bietet mit der Companhia Axé do XVIII Straßenkindern und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen Schauspielunterricht sowie musikalische und bühnenbildnerische Workshops

45 | Im Vergleich zum Teatro Vila Velha, zu dem zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten vorliegen, wurde das Theatro XVIII bisher nicht wissenschaftlich untersucht. 46 | Res Inexpilcável Volans besteht aus Aninha Franco, Rita Assemany, Mabel Velloso, Hamilton Alves, Marcos Dias, Diogo Lopes Filho, João Sanches, Anaíçara Góes, Fernando Guerreiro, Nadja Turenko und Maria Marighella (vgl. ebd.: 24). 47 | Ebenfalls 2014 wurde das Theater in „Teatro XVIII“ umbenannt. Die vorliegende Studie folgt der Schreibweise „Theatro XVIII“, die im Untersuchungszeitraum gültig war. 48 | Die Auflistung der Theaterstücke ist der mittlerweile gelöschten Internetseite von Theatro XVIII (www.theatroxviii.com.br) entnommen: S UBURRA (1997), A S C OISAS B OAS DA V IDA (1998), TRÊS M ULHERES E A PARECIDA (2000), TODAS A S H ORAS D O F IM (2000), Q UEM I NVENTOU O A MOR F OI O R OBERTO C ARLOS (2000), B OLACHAS M ORTAS (2000), C LIPS (2000), C OMO R AUL JÁ D IZIA (2001), V IAGEM P ELA N OITE (2001), B RASIS – O M AIOR TERREMOTO DA TERRA (2002), O A MOR C OMEU (2002), O S M ISERÁVEIS (2002), A C ASA DA M INHA A LMA (2003), A S L ÁGRIMAS A MARGAS DA P ETRA VON K ANT (2003), E MA TOMA B LUES (2003), I OROCO (2004), E SSE G LAUBER (2004), M INHA A MIGA M ENTE PARA M IM (2005), PAGUE P RA V ER (2006), A C OMIDA DE N ZINGA (2006), O S F ILHOS DA F ILHA DA C HIQUITA B ACANA (2006), O M ILAGRE NA B AÍA (2008). In der Publikation anlässlich des 10-jährigen Jubiläums von Theatro XVIII wird angegeben, dass bis 2007 „mais de trinta espetáculos“ (Theatro XVIII, 2007: 11) inszeniert worden wären.

Forschungskontext, Korpus und Methodik

an (vgl. Theatro XVIII, 2007: 21).49 Die zweite Amateurgruppe, Miúdos de Ladeira, wurde 2006 gegründet (vgl. ebd.: 22). Sie richtet sich an Kinder, die unter prekären Umständen in der Nachbarschaft des Theatro XVIII leben (vgl. ebd.). Diesen Kindern werden im Theatro XVIII Räumlichkeiten zum Spielen sowie Theaterkurse und Musikunterricht angeboten (vgl. ebd.). Neben Theateraufführungen finden im Theatro XVIII „Saraus Literários e Musicais“, in denen dramatische Texte gelesen oder Musikstücke gespielt werden, Open Stage Events sowie Podiumsdiskussionen statt (vgl. Nussbaumer/ Rattes, 2005: 8). Die Teilnahme an allen Formaten ist kostenlos, Gruppen müssen für Gastspiele keine Miete bezahlen. Auch im Hinblick auf seine Aufführungen ist das XVIII in Salvador da Bahia für besonders niedrige Eintrittspreise bekannt: Seit dem Jahr 2000, als das Projekt „teatro para todos“ eingeführt wurde (vgl. Theatro XVIII, 2007: 8), liegen die Eintrittspreise konstant zwischen R$ 2 und R$ 5 (vgl. Nussbaumer, 2006: 12). Formuliert wird das Selbstbild des XVIII in einem Statement, das zu Beginn jeder Aufführung gesprochen oder eingespielt wird: Eu conheço um lugar, onde pretos es brancos, ricos e pobres, comunistas e capitalistas, eruditos e populares dividem o mesmo espaço. Todos porque podem. Todos porque desejam. (Theatro XVIII, 2007: 47)

Auch wenn bisher keine wissenschaftlichen Erhebungen zur Publikumsstruktur erfolgt sind, geht das Theatro XVIII davon aus, dass es durch die niedrigen Eintrittspreise tatsächlich gelingt, auch neue Schichten für das Theater zu begeistern (vgl. ebd.: 5; 8). Einem intendierten Publikum aus den unteren sozialen Schichten passte sich auch die Inszenierungsauswahl an: A partir dessa conquista, seus artistas priorizaram uma programação nitidamente brasileira, voltada para os novos espectadores, de conscientização e discussão da memória do País, ou de questões locais como a desigualdade e a ignorância; suas origens geográficas e históricas. (ebd.: 8)

Aufgrund dieser Politik wurde das Theatro XVIII 2004 von der Zeitschrift Carta Capital als einer von fünf Orten ausgezeichnet, die in Brasilien zu einer Demokratisierung der Kultur beitragen (vgl. ebd.: 4). Im Jahr 2007 wurde das Theatro XVIII für einige Monate geschlossen, nachdem sich Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung staatlicher Mittel erge49 | Das Centro Projeto Axé de Defesa e Proteção à Criança e ao Adolescente wurde 1990 vom Italiener Cesare di Fiorio La Rocca im Pelourinho gegründet und widmet sich, u.a. unter Einbezug der Konzepte von Paulo Freire (siehe Kapitel 2.2.2.1), der Arbeit mit Straßenkindern (vgl. Almeida/Moreira, 1995: 79).

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Politisches Theater in Brasilien

ben hatten, die nun von der Secretaria de Cultura zurückgefordert wurden (vgl. Uzêda, 2007a). Obwohl das Theater im November 2007 nach einer Rückzahlung der Verbindlichkeiten zunächst wiedereröffnet wurde (vgl. Uzêda, 2007b), konnte aufgrund von Umbauarbeiten und weiteren finanziellen Schwierigkeiten bis zum Jahr 2013 kein regelmäßiger Spielbetrieb aufgenommen werden (vgl. Uzêda, 2013b). Auch zum Zeitpunkt der Niederschrift der vorliegenden Arbeit bleibt abzuwarten, ob es dem Theatro XVIII gelingt, sich unter der Leitung von Paulo Dourado wieder als einer der wichtigsten Referenzpunkte soteropolitanischer Kultur zu etablieren. Zwar werden die Räumlichkeiten wieder an lokale, nationale und internationale Theatergruppen vermietet (vgl. iBahia, 2015), eine eigene Inszenierung ließ allerdings auch zu Beginn des Jahres 2016 noch auf sich warten.

3.2.3

Kriterien für die Auswahl der Aufführungen

Da diese Studie politisches Theater in Salvador da Bahia um die Jahrtausendwende in den Blick nehmen möchte, bietet sich als Anfangsdatum der Untersuchung die Wiedereröffnung des Teatro Vila Velha (1994) einerseits und die Gründung des Theatro XVIII (1997) andererseits an. Weil im Theatro XVIII im Jahr 2007 die bislang letzte Inszenierung Premiere hatte, wurde für das Teatro Vila Velha ebenfalls das Jahr 2007 als Enddatum definiert. Innerhalb dieses Zeitraums wurden in beiden Theatern insgesamt 68 Inszenierungen aufgeführt (siehe Kapitel 3.2.1 und 3.2.2), die anhand ihrer Kurzbeschreibungen, Rezensionen, Texte und gegebenenfalls durch Gespräche mit Beteiligten als politisches Theater im Sinne der vorliegenden Arbeit (siehe Kapitel 2.1) eingeordnet und in das Grundkorpus aufgenommen oder verworfen wurden. Weiter reduziert wurde das Korpus durch die Notwendigkeit, dass die als politisches Theater eingeordneten Aufführungen für eine Analyse auf Video dokumentiert sein mussten. Denn auch wenn Teatro Vila Velha und Theatro XVIII grundsätzlich anstreben, alle Premieren aufzuzeichnen, stellte sich bei der Vor-Ort-Recherche heraus, dass zahlreiche Aufnahmen verschwunden, unvollständig oder beschädigt waren. Von den als politisches Theater eingeordneten Aufführungen des Teatro XVIII konnten aus diesen Gründen OS MISERÁVEIS (2002), MINHA AMIGA MENTE PRA MIM (2006) und A COMIDA DA NZINGA (2006) nicht in das Korpus der Arbeit übernommen werden.50 Aus dem Teatro Vila 50 | O S M ISERÁVEIS (Regie: Nadja Turenko) überträgt den Roman von Victor Hugo in das zeitgenössische Salvador da Bahia: „No enredo de Os Miseráveis, a história de um homem que fica preso durante vinte anos por roubar um pão. Ambientada na Salvador dos dias atuais, a encenação mescla drama e humor, com música tocada ao vivo, canto e dança.“ (Balaio Cult, 2002) Der Schrifttext von M INHA A MIGA M ENTE P RA M IM

Forschungskontext, Korpus und Methodik

Velha konnten ZUMBI ESTÁ VIVO E CONTINUA LUTANDO (1995), ÓPERA DE TRÊS MIRRÉIS (1996), MATERIAL FATZER (2001), RELATO DE UMA GUERRA QUE (NÃO) ACABOU (2002) und O MURO (2004) aus denselben Gründen nicht analysiert werden.51 Letztlich verbleiben für das Korpus der vorliegenden Arbeit elf Aufführungen, die innerhalb des definierten Zeitraums gezeigt wurden, sich als politisches Theater im Sinne dieser Arbeit einordnen lassen und auf Video dokumentiert sind. Davon sind drei dem Theatro XVIII und acht dem Teatro Vila Velha zuzuordnen. Innerhalb der grupos residentes (siehe Kapitel 3.2.1) des Teatro Vila Velha verteilen sich die Bühnentexte des Korpus auf eine Aufführung von A Outra Companhia da Teatro, zwei von Companhia Teatro dos Novos, davon eine gemeinsam mit Vilavox, und sechs von Bando de Teatro Olodum, darunter eine mit Companhia Teatro dos Novos. Der verhältnismäßig große Anteil der Aufführungen von Bando de Teatro Olodum ist mit Blick auf die lange Tradition und die Produktivität der Gruppe sowie ihren Anspruch, sich auf dem Theater mit gesellschaftlichen Konfliktthemen auseinanderzusetzen (siehe Kapitel 3.2.1), nicht überraschend. Zudem sei erwähnt, dass zwei Persönlichkeiten mehrere Aufführungen des Korpus als Textproduzenten bzw. Regisseure besonders geprägt haben: Márcio Meirelles, Leiter von Bando de Teatro Olodum und Mitglied von Teatro dos Novos, ist an sechs, Aninha Franco als Leiterin des Theatro XVIII an vier der im folgenden Kapitel zu analysierenden Bühnentexte beteiligt. Nur drei der Aufführungen sind ohne ihre Mitwirkung entstanden. Da die Aufführungen dennoch eindeutig Produkte kollektiver Zusammenarbeit sind, so sind z.B. die enthält eine Kritik an der Entfremdung des Menschen durch Massenmedien und an der Konsumkultur (vgl. Franco/Dias/Dourado, 2006). A C OMIDA DA N ZINGA präsentiert die Geschichte der historischen afrikanischen Königin Nzinga (vgl. Franco/Dias, 2006). 51 | Z UMBI ESTÁ V IVO E C ONTINUA L UTANDO (1995) war eine „especie de ópera popular“ (Uzel, 2003: 136), die mit mehr als 120 negro-Schauspielern und -Tänzern zur Feier des 300. Todestages von Zumbi dessen Geschichte (siehe Kapitel 4.1.2.2) präsentierte (vgl. Uzel, 2003: 136). Ó PERA D E TRÊS M IRRÉIS (1996) war die erste Adaptation der D REIGROSCHENOPER von Brecht von Bando de Teatro Olodum (vgl. ebd.: 158). M ATERIAL FATZER (2001) behandelte auf Grundlage des Theatertextes von Brecht und Müller „a violência dos dias atuais e que, na essência, discutia a guerra e a quem ela pudesse interessar“ (ebd.: 244). R ELATO D E U MA G UERRA Q UE (N ÃO) A CABOU (2002) basiert auf Improvisationen und thematisiert den realen Polizeistreik in Salvador im Jahr 2001, Gewalt und Kriminalität im soteropolitanischen Alltag sowie deren Auswirkungen auf die Bewohner einer favela (vgl. ebd.). O M URO (2004) erzählt die Geschichte von Armut an einer öffentlichen Schule: „Numa escola pública, vizinha a um lixão da cidade, os alunos costumavam passar merenda escolar, por cima do muro, para os familiares. A solução encontrada pela diretoria foi aumentar o muro. Em função de irregularidades nessa obra, o muro acabou por desabar.“ (Teatro Vila Velha, 2014)

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Politisches Theater in Brasilien

Mitglieder von Bando de Teatro Olo-dum stets an der Texterstellung beteiligt, während Aninha Franco jeweils mit unterschiedlichen Regisseuren zusammenarbeitet, werden sie im Folgenden nicht den Einzelpersonen, sondern den Theatergruppen zugeordnet.52

3.3 M E THODIK Wie in Kapitel 2.1.2 und 2.1.3 beschrieben, wird in der vorliegenden Arbeit zwischen dramatischen und postdramatischen Formen des politischen Theaters unterschieden – je nachdem, welcher Strategien sich der Theatertext oder die Aufführung bedient, um eine politische Wirkungsabsicht, d.h. das Ziel, auf allgemein verbindliche Regelungen der Gesellschaft einzuwirken, zu formulieren. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie setzt damit voraus, dass sowohl dramatische als auch postdramatische Theateraufführungen eine bestimmte – in diesem Fall: politische – Bedeutung hervorbringen und dass diese durch methodische Instrumente sichtbar gemacht werden kann. Mit Hartwig (2005) liegt dieser Arbeit erkenntnistheoretisch ein konstruktivistisches Verständnis von Bedeutung zu Grunde: Bedeutungskonstruktion und Verstehen wird jeweils als aktiver, zielgerichteter Prozess angesehen, dessen Grundoperationen Differenz- und Invariantenbildung anhand von Wahrnehmungsdaten sind (und nicht etwa als Entschlüsselungen von bereits im Text vorhandenen Bedeutungen). […] Texte haben demnach keine Bedeutung, sondern regen potentielle Bedeutung an, unter der Prämisse, einen möglichen konsensuellen Bereich zu konstruieren. (Ebd.: 52-54; Herv.i.O.)

Bedeutung wird durch den Zuschauer auf Basis seiner, durch individuelle Erfahrungen und Kenntnisse sowie durch den kulturellen Kontext geprägten, Erwartungen konstruiert (vgl. ebd.: 53-54). Nach Fischer-Lichte ist für die Erzeugung von Bedeutung nur relevant, „was in der Aufführung tatsächlich erscheint, 52 | Zur Kollektivität im Produktionsprozess als Charakteristikum von Theateraufführungen siehe Kapitel 1.1. Diese Kollektivität wird durch die Beteiligung der Schauspieler an der Textgenese weiter betont. Zur Rolle des Regisseurs hält Fischer-Lichte fest: „Über die Aufführung selbst hat er jedoch keine Kontrolle. Während jeder Schauspieler, Techniker, Bühnenarbeiter ständig in die Autopoiesis der Aufführung eingreift – und dies auch auf vorher nicht abgesprochene, geplante Weise tun kann –, ist der Regisseur, der an der Aufführung weder als Akteur noch als Zuschauer teilnimmt, von ihr ausgeschlossen. Das heißt, das Ereignis der Aufführung zu beeinflussen, während es stattfindet, ist er in diesem Fall ganz außerstande.“ (Fischer-Lichte, 2004: 286) Zur Autopoiesis siehe Kapitel 3.3.2.

Forschungskontext, Korpus und Methodik

unabhängig davon, was diskutiert, festgelegt und geplant war“ (Fischer-Lichte, 2004: 286). Die im Folgenden beschriebenen Analyseinstrumente dienen entsprechend dazu, aus den Bühnentexten begründete Vermutungen über den „Konsens“ (Hartwig, 2005: 53) der von ihnen angeregten, potenziellen Bedeutungen, in diesem Fall einer politischen Wirkungsabsicht, abzuleiten.53 Um die Aufführungen des Korpus einem der beiden Typen des politischen Theaters zuordnen zu können, müssen die in den Aufführungsanalysen anzuwendenden methodischen Instrumente geeignet sein, im Bühnentext sowohl eine dramatisch als auch postdramatisch vermittelte politische Wirkungsabsicht sichtbar zu machen. Um diese in der Repräsentation wie auch in der Präsenz einer Theateraufführung untersuchen zu können und so Erkenntnisse sowohl zu dramatischen als auch postdramatischen Formen des politischen Theaters zu gewinnen, greift die Arbeit auf zwei Analyseansätze zurück: Theatersemiotik und Performativität. Dabei ist wichtig, dass diese in den folgenden Analysen nicht etwa alternierend, sondern jeweils gleichzeitig angewandt werden, da jede Theateraufführung gleichzeitig semiotische und performative Elemente aufweist: In Aufführungen sind immer das Performative und das Semiotische gleichzeitig am Werk; allerdings können sie sich im Hinblick auf den Grad ihrer Performativität und Semiotizität erheblich unterscheiden. (Fischer-Lichte, 2005b: 239) 54

Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, eigenen sich die Werkzeuge nicht nur dazu, die politische Wirkungsabsicht der in Kapitel 4 zu analysierenden Aufführungen nachzuweisen, sondern auch dafür, diese je nach „Modi der Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung“ (Fischer-Lichte, 2005a: 32) dem dramatischen, repräsentationalen oder postdramatischen, performativen politischen Theater zuzuordnen.

3.3.1

Theatersemiotik

Zurückgehend auf die im 20. Jahrhundert von Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce entwickelte moderne Zeichentheorie wurde in den 1970er-Jahren u.a. von Patrice Pavis, Anne Ubersfeld, Manfred Pfister und Eri53 | Im weiteren Verlauf der Arbeit, insbesondere bei den Analysen, ist dieses Verständnis von Bedeutungserzeugung stets mitzudenken. 54 | Dies wirkt sich auch auf die Wahrnehmung des Zuschauers aus: „Aufführungen provozieren häufig entweder die Dominanz einer bestimmten Ebene von Wahrnehmung oder aber die Notwendigkeit, zwischen beiden Ebenen der Wahrnehmung ständig hinund herzuwechseln.“ (Fischer-Lichte, 2001: 236)

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Politisches Theater in Brasilien

ka Fischer-Lichte die Theatersemiotik zur systematischen Analyse von Theateraufführungen entwickelt (vgl. Nöth, 2000: 462).55 Diese legt offen, „auf welche Weise Sinn erzeugt wird, welche Verfahren der Sinnerzeugung sich aufdecken lassen und welcher mögliche Sinn endlich von der Aufführung erzeugt wird“ (Fischer-Lichte, 1983c: 11). In Theateraufführungen untersucht Semiotik damit das „System der Produktion von Bedeutung“ (Fischer-Lichte, 2005d: 299). Im deutschsprachigen Raum hat sich insbesondere die Theatersemiotik von Erika Fischer-Lichte (1983a, 1983b, 1983c) durchgesetzt (vgl. Schößler, 2012: 193). Diese wird auch in der vorliegenden Arbeit angewandt. Zentral für die Theatersemiotik, die „Lehre von den theatralen Zeichen“ (Fischer-Lichte, 2005d: 298), ist der zu Grunde liegende Zeichenbegriff.56 FischerLichte folgt dabei Peirce: Peirce definiert das Zeichen explizit als eine triadische Relation: ein Zeichenträger (S) wird von einem Zeichenbenutzer (I) auf einen Gegenstand (O) bezogen. (FischerLichte, 2005d: 299)

Eine Theateraufführung ist nach Fischer-Lichte „ein strukturierter Zusammenhang von Zeichen und dementsprechend ein Text i.S.d. allgemeinsten Definition des Textbegriffs“ (Fischer-Lichte, 1983c: 10). Damit kann eine Aufführungsanalyse als Textanalyse, als Analyse von Zeichen, begriffen werden. Theatrale Zeichen unterscheiden sich von Zeichen im außertheatralen Kontext dadurch, dass sie „Zeichen von Zeichen“ (Fischer-Lichte, 2005d: 300) sind und besondere „Mobilität“ (ebd.) besitzen: Sie können einerseits genau das bedeuten, was sie abbilden, „insofern z.B. ein gesprochenes Wort ein Wort, eine Geste eine Geste, ein Kostüm eine Kleidung, ein Sofa ein Sofa usf. bedeuten kann“ (ebd.). Allerdings können sie stets auch auf andere als die abgebildete Bedeutung verweisen: 55 | Erste Arbeiten zur Theatersemiotik publizierten bereits in den 1930er-Jahren Theoretiker der Prager Schule (vgl. Nöth, 2000: 463). Diese sahen das Theater als „Ort der semiotischen Transformation“ (ebd.; Herv.i.O.), da die praktische Alltagsfunktion von Gegenständen um eine ästhetische Funktion ergänzt wird. Allerdings ist zu beachten, dass diese ersten Ansätze auf einer klassischen Dramentheorie beruhten und daher die vollkommene Identifikation von Schauspieler und Rolle sowie die Kongruenz von Schrifttext und Bühnentext voraussetzten (ebd.). Zudem wurden von ihnen der Schauspieler und die von ihm geäußerten sprachlichen Zeichen als wichtigste Zeichenträger erachtet (vgl. ebd.). Wie in Kapitel 2.2.1.2 beschrieben, weicht bereits das epische Theater von Bertolt Brecht stark von diesen Prinzipien ab. Eine systematische Theatersemiotik entstand allerdings erst in den 1970er-Jahren. 56 | Abschnitte dieses Kapitels greifen auf die Darstellungen zur Theatersemiotik in Voutta (2008) zurück.

Forschungskontext, Korpus und Methodik

[I]nsofern das Zeichen eines Zeichensystems – z.B. eine Geste –, das Zeichen eines beliebigen anderen – z.B. ein Wort, einen Gegenstand, einen Laut u.a. – zu bedeuten vermag […]. Damit ist zugleich eine prinzipielle Polyfunktionalität dieser theatralen Zeichen angesprochen. Jedes theatrale Zeichen vermag unterschiedliche Funktionen zu erfüllen und entsprechend die unterschiedlichsten Bedeutungen hervorzubringen. (Ebd.; Herv.i.O.)

Die Erzeugung von Bedeutung im dramatischen Theater fußt auf dieser Wahrnehmung des Zeichens: Alles, was wahrgenommen wird, wird in erster Linie als Zeichen für die Geschichte, für die fiktive Welt oder die Figuren wahrgenommen. Indem dem Wahrgenommenem Bedeutungen beigelegt werden, nimmt die Geschichte einen bestimmten Verlauf, gewinnt die fiktive Welt Kontur, entstehen die Figuren als spezifische Charaktere. (Ebd.)

Damit eignet sich die Theatersemiotik insbesondere für die Analyse dramatisch-politischer Theateraufführungen, die auf dem Prinzip der Repräsentation beruhen: Semiotisch bezeichnet Repräsentation den „stellvertretende[n] Verweis“ bzw. „Akt der Stellvertretung“ (Horn, 2005: 268). Die in einer Theateraufführung verwendeten Zeichen werden von FischerLichte in theatrale Codes, d.h. bedeutungserzeugende Zeichensysteme, eingeteilt (vgl. Fischer-Lichte, 1983a: 21).57 Die Codes werden durch die „Gesamtheit von Zeichenrepertoire sowie von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regelungen definiert“. (Fischer-Lichte, 2005d: 300) Sie sind für die 57 | Das System der sprachlichen Zeichen umfasst linguistische und paralinguistische Codes (vgl. Fischer-Lichte, 1983a: 31). Das System der kinesischen Zeichen beinhaltet alle in einer Aufführung theoretisch möglichen mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen (vgl. ebd.: 47). Daneben kann in einer Aufführung der Code der Erscheinung des Schauspielers – also die Zeichen der Maske, der Frisur und des Kostüms – Bedeutung erzeugen (vgl. ebd.: 94). Außerdem können Zeichen des Raumes realisiert werden, indem eine bestimmte Raumkonzeption oder ein bestimmter Bühnenraum verwendet wird (vgl. ebd.: 132). Auch die Dekoration, Requisiten und das Licht gelten in diesem Zusammenhang als Zeichen (vgl. ebd.: 133). Ein weiteres Zeichensystem, das in einer Aufführung verwendet werden kann, sind nonverbale akustische Zeichen der Geräusche und der Musik (vgl. ebd. 161). Die Schreibweise „Code“ orientiert sich an der 1983 ursprünglich von Fischer-Lichte verwendeten, alternativ zum 2005 gebrauchten „Kode“. Anzahl und Bezeichnung der Codes ist eines der Elemente, anhand derer sich die verschiedenen theatersemiotischen Ansätze unterscheiden. Fischer-Lichte (ebd.: 203) geht von Tadeusz Kowzan aus, der im Sinne eines pluralistischen Modells theatraler Codes dreizehn verschiedene Codes festgelegt hat. Allerdings nimmt Fischer-Lichte zusätzlich die Raumkonzeption auf (vgl. ebd.).

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Politisches Theater in Brasilien

Erzeugung von Bedeutung zentral, da diese nur entstehen kann, wenn sich Sender und Empfänger auf denselben Code beziehen (vgl. ebd.). Nach FischerLichte weist jeder theatralische Text drei Merkmale auf: Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit (vgl. Fischer-Lichte, 1983c: 11-13).58 Zur Offenlegung der „Bedeutung“ (Fischer-Lichte, 2005d: 299) einer Aufführung schlägt FischerLichte auf dieser Basis folgende Vorgehensweise vor: Zunächst soll geklärt werden, welche Zeichensysteme an der Aufführung beteiligt sind und wie sich die konkreten realisierten Zeichen gestalten (vgl. Fischer-Lichte, 1983c: 13f.). Falls einzelne Zeichensysteme nicht beteiligt sind, muss die Wirkung dieser Abwesenheit untersucht werden (vgl. ebd.: 12). Anschließend ist wichtig, wie die verschiedenen Zeichen miteinander kombiniert werden bzw. in welcher „Interrelation“ (Pfister, 1997: 39) sie stehen, d.h., ob sie zueinander in Äquivalenz oder Opposition stehen, ob sie gleichzeitig oder nacheinander auftreten und ob sich eine hierarchische Beziehung zwischen ihnen ausmachen lässt, also ein Zeichen beziehungsweise Zeichensystem die anderen dominiert (vgl. FischerLichte, 1983c: 13f.). Bedeutung in einer Aufführung wird zudem auf unterschiedlichen Ebenen semantischer Kohärenz erzeugt (vgl. ebd.: 74).59 Dabei soll von einer untersten Ebene ausgegangen werden, auf der nur die Bedeutung der einzelnen Zeichen isoliert betrachtet wird (vgl. ebd.: 78).60 Auf der zweiten Ebene, der „Klasseme“, 58 | Ein theatralischer Text ist explizit in Hinblick auf die ihn ihm tatsächlich verwendeten Zeichen. Daneben ist jede Aufführung begrenzt und schließt daher stets einige der möglichen Zeichen aus. Die Struktur eines theatralischen Textes ergibt sich aus der Verknüpfung der Zeichen (vgl. Fischer-Lichte, 1983c: 11-13). 59 | Fischer-Lichte bezieht sich hier explizit auf die strukturale Semantik von Greimas (vgl. Fischer-Lichte, 1983c: 78). In der strukturalen Semantik von Greimas ist die Semiotik allerdings insgesamt eine „théorie de la signification“ (Greimas/Courtés, 1979: 345), d.h. eine Theorie der Bedeutung, nicht der Zeichen. Mit „signification“ bezieht sich Greimas dabei auf „production de sens“ (ebd.: 352) oder „sens produit“ (ebd.), während „sens“ bzw. Sinn zu verstehen ist, „soit comme ce qui permet les opérations de paraphrase ou de transcodage, soit comme ce qui fonde l’activité humaine en tant qu’intentionnalité. Antérieurement à sa manifestation sous forme de signification articulée, rien ne saurait être dit du sens, à moins de faire intervenir des présupposés métaphysiques lourds de conséquence.“ (Ebd.: 348) Fischer-Lichte versteht unter Bedeutung „ganz allgemein Vorstellungen des Bewusstseins“ (Fischer-Lichte, 2005a: 30). 60 | Allerdings ist mit Hartwig darauf hinzuweisen, dass eine Zerlegung des Bühnentextes in einzelne Zeichen durch den Zuschauer nicht vorgenommen und Bedeutung erst durch den Kontext erzeugt wird: „Der Zuschauer sieht die über unterschiedliche Wahrnehmungskanäle eingehende Daten nicht als einzelne, sondern erhält einen komplexen Gesamteindruck. […] [V]erbale und nonverbale Elemente werden in der Auffüh-

Forschungskontext, Korpus und Methodik

soll untersucht werden, welche Bedeutung sich aus der Kombination mehrerer Zeichen, auch verschiedener Zeichensysteme, ergibt (vgl. ebd.: 79).61 Auf der dritten Ebene stehen die „Isotopien“, wiederkehrende Klasseme, im Mittelpunkt der Analyse (vgl. ebd.: 80).62 Die Isotopien lassen sich entweder in der gesamten Aufführung oder auch nur in einzelnen Situationen, Szenen oder Akten oder anhand bestimmter Figuren nachweisen (vgl. ebd.: 80-84). Aus den verschiedenen Isotopien und ihrem Verhältnis zueinander ergeben sich Hinweise auf die „Totalität des Sinnes der Aufführung“ (vgl. ebd.: 84). Daneben wird Bedeutung durch externe und interne Umkodierung hervorgerufen (vgl. ebd.: 96). Externe Umkodierung erzeugt Bedeutung, indem Zeichen der Aufführung auf den außertheatralen Kontext bezogen werden (Fischer-Lichte, 2005d: 301). Interne Umkodierung findet statt, wenn einem Zeichen innerhalb der Aufführung eine andere Bedeutung als kulturell erwartet zugeschrieben wird, indem „auf den unterschiedlichen Ebenen semantischer Kohärenz Relationen zwischen den Elementen der Aufführung“ (ebd.) hergestellt werden. Für politisches Theater ist, wie in Kapitel 2.1 beschrieben, das Vorhandensein einer auf die Veränderung oder den Erhalt allgemein verbindliche Regelungen zielende Wirkungsabsicht zentral. Indem die „Bezeichnungsfunktion“ des Signifikanten (Poschmann, 1997: 295) für die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht im auf Repräsentation beruhenden, dramatischen politischen Theater dominant ist, lässt sie sich durch semiotische Analyse auf allen Kohärenzebenen nachweisen: Auf Ebene der sprachlichen Zeichen kann beispielsweise der von The Living Theatre in PARADISE NOW an die Zuschauer gerichteten Appell – „The theatre is in the street. The street belongs to the people. rung nicht bloß addiert oder ‚gemittelt‘; vielmehr gehen sie eine neuartige Verbindung miteinander ein, sodass Bühnensituationen ganzheitlich analysiert werden müssen.“ (Hartwig, 2005: 60) Daraus schließt sie: „Jedes Element des Textes ist für die anderen Elemente der Kontext, in dem sie interpretiert werden.“ (Ebd.: 67) 61 | Auch hier ergeben sich Abweichungen zur Semantik von Greimas. Greimas bezeichnet die kleinste bedeutungstragende Einheit als Sem (vgl. Greimas/Courtés, 1979: 332). Klasseme sind für ihn „kontextuelle Seme“ (Nöth, 2000: 116; Herv.i.O.), also „Bedeutungselemente, die ein Semem mit anderen Sememen gemein hat, mit denen es in kontextueller (syntagmatischer) Beziehung steht.“ 62 | Isotopie bezeichnet nach der strukturalen Semantik von Greimas/Courtés (1979: 197f.) „la récurrence de catégories sémiques que celles-ci soient thématiques (ou abstraites) ou figuratives“. Nöth (2000: 118) hebt insbesondere die Unterscheidung von Greimas hinsichtlich „einfacher Isotopien“, bei Texten, bei denen nur eine Interpretation möglich ist, „Bi-Isotopien“, die Ambiguitäten zulassen, und „Pluri-“ oder „Poly-Isotopien“, bei denen sich mehrere Isotopie-Ebenen überlagern, hervor. Letztere Unterscheidung ist insbesondere für postdramatische Theatertexte, die sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnen, relevant.

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Politisches Theater in Brasilien

Free the theatre. Free the street. Begin.“ – einen Hinweis auf eine politische Wirkungsabsicht geben (siehe Kapitel 2.2.1.3). Das Theater von Bertolt Brecht zeichnet sich beispielsweise durch eine Aktivierung der Zuschauer durch Opposition auf Ebene der Klasseme – so durch die Kombination von zeigendem Gestus und emotionalem Text – aus (siehe Kapitel 2.2.1.2). Ein Beispiel für eine politische Isotopie ist der positive Held der Aufführungen des russischen Sozialismus, der den Zuschauern das korrekte politische Verhalten auf der Bühne zeigte (siehe Kapitel 2.2.1.1).

3.3.2

Performativität

Der Begriff des Performativen wurde ursprünglich von John Langshaw Austin im Rahmen seiner Sprechakttheorie zur Beschreibung von Sätzen entwickelt, die sich als „illocutionary acts“ durch die „performance of an act in saying something“ (Austin, 1962: 99; Herv.i.O.) auszeichnen.63 Von Judith Butler wurde das Konzept in den 1990er-Jahren erweitert und auf gesellschaftstheoretische Zusammenhänge übertragen (vgl. Butler, 1990). Dabei verlagert Butler den Schwerpunkt ihres Konzepts der „gender performatives“ (Butler, 1990: 134) von Austins Sprechakten auf die Verkörperung bzw. Erzeugung von Identität (vgl. ebd.: 134-141). Nachdem Austin performative Äußerungen auf dem Theater für „hollow or void, […] parasitic upon its normal use“ (Austin, 1962: 22; Herv.i.O.) bezeichnet hatte, berücksichtigt Butler in der Erläuterung ihres Konzepts auch die „performance of drag plays“ (vgl. Butler, 1990: 137) und stellt so eine Beziehung zwischen Theater und Performativität her.64 In die Theaterwissenschaft wurde das Konzept von illokutionären Akten und ihrer Verkörperung in den 2000er-Jahren von Erika Fischer-Lichte übertragen: Der Begriff [des Performativen; Anm. SV] bezeichnet bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken. (Fischer-Lichte, 2012: 44; Herv.i.O.)

63 | Das Gegenstück sind „perlocutionary acts“ (Austin, 1962: 99), d.h. die „performance of an act of saying something“ (ebd.; Herv.i.O.). 64 | Der von Austin proklamierten „etiolation“ (Austin, 1962: 22), d.h. der Auszehrung und damit parasitären Eigenschaft von performativen Akten, werden sie als Zitate verwendet, hatte vor Butler bereits Jacques Derrida widersprochen (Derrida, 1982 [1972]: 321-330).

Forschungskontext, Korpus und Methodik

Das Konzept, mit dem das Performative auf dem Theater untersucht wird, bezeichnet Fischer-Lichte als „Performativität“ (vgl. Fischer-Lichte, 2005b: 234). Anlass für die Übertragung des Konzepts der Performativität auf das Theater war das Aufkommen postdramatischer Theaterformen, die sich, wie in Kapitel 2.1.3 beschrieben, durch das Prinzip der Präsenz, d.h. der Erfahrung von Zeichen durch Zuschauer und Schauspieler, auszeichnen. Im Gegensatz zum dramatischen Theater, in dem das Zeichen für den Wahrnehmenden stets etwas anderes bedeutet als das, was „im Akt seiner Wahrnehmung in Erscheinung tritt“ (Fischer-Lichte, 2005a: 30), ist es im postdramatischen Theater performativ: [D]ie Aufmerksamkeit [richtet sich; Anm. SV] auf die je spezifische Phänomenalität des wahrgenommenen Elements. Es bedeutet für den Wahrnehmenden das, als was es im Akt der Wahrnehmung in Erscheinung tritt (Autoreferentialität). (Ebd.; Herv. SV)

Zudem werden neben den Zeichen, die „ein identifizierbares Signifikat denotieren oder unverkennbar konnotieren“ (Lehmann, 2011: 139), in postdramatischen Theateraufführungen auch Zeichen verwendet, welche ohne zu ‚bedeuten‘, mit einem gewissen Nachdruck präsent(iert) sind, als ‚Zeichen‘ im Sinne einer offensichtlich Aufmerksamkeit fordernden Manifestation oder Gestikulation aufgenommen, die durch den steigernden Rahmen der Aufführung ‚Sinn macht‘, ohne begrifflich fixiert werden zu können (ebd.; Herv.i.O.).

Damit ist die Theatersemiotik mit ihrem Ziel, „den Kern des Bedeutens der Zeichen“ (Lehmann, 2011: 140) herauszuarbeiten, für das postdramatische Theater ein nicht mehr ausreichendes Analyseinstrument.65 Das Konzept der Performativität erlaubt es zu beschreiben, „was, grob geredet, an den Signifikanten NichtSinn bleibt“. (Ebd.)66 Dazu lenkt die Performativität die „Aufmerksamkeit des 65 | Dabei ist allerdings wichtig zu betonen, dass einige performative Elemente durchaus auch in der semiotischen Analyse sichtbar werden: „Insofern Theatersemiotik nach den Bedingungen fragt, unter denen in der Aufführung Bedeutung erzeugt wird, berücksichtigt sie auch das Performative – allerdings nur soweit, als es einen Faktor im Prozess der Bedeutungsgenerierung darstellt.“ (Fischer-Lichte, 2005b: 240) 66 | Mit Hartwig (2005) ist allerdings darauf hinzuweisen, dass auch der „NichtSinn“ (Lehmann, 2011: 140) stets Bedeutung generiert: „Elemente, die über sich aussagen, sie seien bloß ‚Elemente in der Welt‘ ohne Verweisfunktion, werden durch ihre Präsentation auf der Bühne doch wieder semiotisiert: Sie bedeuten dann, dass sie ‚nicht bedeuten‘ und sind damit ein Verweis auf die Abwesenheit eines Verweises. Die Darstellung von Präsenz ist ein Widerspruch in sich.“ (Hartwig, 2005: 82) Auch Fischer-Lichte (2001: 235) weist in Bezug auf die Wahrnehmung der „sinnlichen Qua-

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Politisches Theater in Brasilien

Wahrnehmenden nicht auf die Zeichenhaftigkeit der auftretenden Person und auftauchende Objekte, sondern auf ihre spezifische Phänomenalität“ (FischerLichte, 2005b: 240): Das gleißende Licht, das wahrgenommen wird, tritt im Akt der Wahrnehmung als gleißendes Licht in Erscheinung. Die in hohem Ton kreischende Stimme wird als ein ganz spezifisches Kreischen wahrgenommen. (Ebd.: 31)

Das Konzept der Performativität erlaubt es, diese Wahrnehmung „von etwas als etwas“ (vgl. ebd.: 32) zu untersuchen, indem es bereits hinsichtlich des Begriffs der Theateraufführung eine veränderte Schwerpunktsetzung gegenüber der Theatersemiotik vornimmt: Aufführungen werden gegenüber dem textbasierten theatersemiotischen Ansatz postdramatisch als „soziale Prozesse“ (FischerLichte, 2012: 57) verstanden, in denen „Gruppen ihre Beziehungen aushandeln und regeln“ (ebd.). Jegliche Theateraufführung ist damit ein performativer Akt (vgl. ebd.: 53). Entsprechend kommt dem Verhältnis zwischen Zuschauern und Akteuren, der Wirkung ihrer „leiblichen Ko-Präsenz“ (Fischer-Lichte, 2012: 54)67, auch in Aufführungen, die nicht gezielt mit Zuschauerpartizipation arbeiten, besondere Bedeutung zu: Die Wahrnehmung der Schauspieler provoziert eine – nicht steuer- oder planbare – Reaktion des Zuschauers, die wiederum von den Schauspielern wahrgenommen wird und bei diesen erneut eine Reaktion, insgesamt also eine „autopoietische Feedbackschleife“ (ebd.: 55), hervorruft.68 Der auf dielitäten des Objektes“ darauf hin: „Das heißt allerdings nicht, daß es nicht möglich wäre, dem so wahrgenommenen Element eine Bedeutung beizulegen: Der Prozeß einer Bedeutungskonstitution wird hier allerdings anders ablaufen, weil er nicht von den Konzepten seinen Ausgang nimmt, sondern von dem spezifischen So-Sein der Objekte und performativen Prozesse.“ (Ebd.) 67 | Die leibliche Ko-Präsenz wird von Fischer-Lichte auch als „liveness“ der Theatersituation bezeichnet (vgl. Fischer-Lichte, 2004: 114). Lehmann (2011: 12f.) weist ebenfalls auf das Theater als „Ort der realen Versammlung“ hin: „Theater heißt: eine von Akteuren und Zuschauern gemeinsam verbrachte und gemeinsam verbrauchte Lebenszeit in der gemeinsam geatmete Luft jenes Raums, in dem das Theaterspielen und das Zuschauen vor sich gehen. […] Die Theateraufführung läßt aus dem Verhalten auf der Bühne und im Zuschauerraum einen gemeinsamen Text entstehen, selbst wenn gesprochene Rede gar nicht vorkommt.“ (Ebd.) 68 | Unter „Autopoiesis“ bzw. „autopoietische feedback-Schleife“ (2004: 63; Herv. i.O.) versteht Fischer-Lichte die „Wechselwirkungen von Handlungen und Verhalten der Akteure und Zuschauer“ (ebd.). Auch Pfister weist auf einen in allen Aufführungen vorhandenen feedback-Effekt bzw. „Rückkopplungskreis“ zwischen den Reaktionen des Publikums und der Handlung der Schauspieler hin. Im Gegensatz zu Fischer-Lichte

Forschungskontext, Korpus und Methodik

se Weise stets an der Aufführung beteiligte Zuschauer erhält – ebenso wie die Schauspieler – die Gelegenheit, sich selbst „als Subjekt zu erfahren, das die Handlungen von anderen mitbestimmt und von ihnen bestimmt wird“ (ebd.: 56). Der Erfahrung kommt besondere Bedeutung zu. Im Gegensatz zum Aufbau ihrer Theatersemiotik (siehe Kapitel 3.3.1) gibt Fischer-Lichte keine systematischen Kriterien für eine performative Analyse von Theateraufführungen vor. Allerdings listet sie verschiedene Aspekte einer Aufführung auf, welche die Performativität besonders beeinflussen und auf die daher besondere Aufmerksamkeit gelegt werden soll: [A]uf die besondere Gestalt eines Körpers und seiner Ausstrahlung; auf die Art und Weise, in der eine Bewegung ausgeführt wird sowie auf die Energie, mit der sie vollzogen wird, auf das Timbre und Volumen einer Stimme, auf den Rhythmus von Lauten oder auch Bewegungen, auf Farbe und Intensität des Lichts, auf die Eigenart des Raumes und seiner Atmosphäre, auf den spezifischen Modus, in dem Zeit erfahren wird. (Fischer-Lichte, 2005b: 240)

Die genannten Elemente fasst Fischer-Lichte unter dem Begriff der Materialität, d.h. der Räumlichkeit, Körperlichkeit und Lautlichkeit, einer Aufführung zusammen (vgl. Fischer-Lichte, 2012: 58). Die Räumlichkeit einer Theateraufführung bezeichnet dabei nicht den Theaterraum, sondern entsteht durch die jeweils genutzten Möglichkeiten, die Beteiligten zueinander in ein Verhältnis zu setzen, ihre Bewegungen durch den Raum/im Raum und ihre Wahrnehmung zu organisieren und zu strukturieren (ebd.).

Zudem kommt der Atmosphäre des Raumes, dem „immersiven Raum“ (ebd.: 59), besondere Bedeutung zu: „Körperlichkeit“ beschreibt die Spannung, die zwischen dem „phänomenalen Leib“ (ebd.: 61)69, dessen Ausstrahlung die Präsenz des Schauspielers auf der Bühne ausmacht, und dem „semiotischen Körper“ (ebd.) entsteht. Durch Lautlichkeit wird der „Hörraum“ (ebd.: 63) einer Aufführung erzeugt, der sowohl Geräusche der Aufführung als auch zufällige Geräusche von außen umfasst. Ein weiteres Element, das in performativen Aufbetont er allerdings, dass die Reaktionen der Zuschauer nicht gleichwertig mit denen der Schauspieler sind (vgl. Pfister, 1994: 65). 69 | Hartwig beschreibt das Konzept der Körperlichkeit und seine Wirkung treffend mit: „Der menschliche Körper ist, was er ist, und stellt zugleich dar, was er nicht ist; er wird damit zur trennenden und verbindenden Grenze zwischen Individualität und Rolle, Persönlichkeit und Sozialwesen, Theatralität und Authentizität, und wiederholt damit die Grenze zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum, Aufführung und Leben.“ (2005: 83)

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führungsanalysen Berücksichtigung finden muss, ist der Rhythmus der Aufführung als das Ordnungsprinzip zur „Organisation und Strukturierung von Zeit“ (ebd.: 64), das Räumlichkeit, Körperlichkeit und Lautlichkeit zueinander in Beziehung setzt. Der Rhythmus wird dabei sowohl von den Akteuren als auch von den Zuschauern beeinflusst (vgl. ebd.: 65). Der besondere Fokus der Performativität liegt somit darauf, „auf welche Weise und als was“ (ebd.; Herv.i.O.) etwas wahrgenommen wird und „welche Wirkung diese Art der Wahrnehmung auf den Wahrnehmenden selbst auszuüben vermag“ (ebd.). Die Wirkung umfasst körperliche Reaktionen von Schauspielern und Zuschauern auf das Wahrgenommene, beispielsweise: physiologische Veränderungen wie erhöhten Pulsschlag, erweiterte Atmung, Hitzewellen, Schweißausbrüche, Herzklopfen, Pulsrasen, Schwindelgefühle ebenso wie explizit erotische, sexualisierte und andere körperliche Reaktionen oder auch Gefühle und Haltungen, wie z.B. Begehren, Begierde, Ekel, Trauer, Melancholie oder im Gegenteil Heiterkeit, Freude, Glück (Fischer-Lichte, 2005b: 240).

An der Stelle von Imagination oder Reflexion steht die Lenkung von Aufmerksamkeit durch die Theateraufführung (vgl. Fischer-Lichte, 2012: 105). Entscheidend ist, dass bei Analysen performativer Prozesse auch Publikumsreaktionen einbezogen werden (vgl. Fischer-Lichte, 2001: 234). Indem sich das Konzept der Performativität auf die Wirkung von Präsenz konzentriert, eignet es sich besonders für die Untersuchung der politischen Wirkungsabsicht des postdramatischen politischen Theaters, die insbesondere über das Erleben der Zuschauer vermittelt wird (siehe Kapitel 2.1.3). Ein Beispiel für eine politische Wirkungsabsicht, die performativ vermittelt wird, geben die Elemente des Happenings von The Living Theatre oder Teatro Oficina, wie die Beschimpfungen des Publikums in RODA VIVA (siehe Kapitel 2.2.1.3 und 2.2.2.3). Ihre Wirkung entfalten diese nicht, indem sie „Zeichen für eine Beschimpfung“ sind, sondern indem sie als solche die Zuschauer erschüttern. Im Gegenzug wurden die Forderungen von Teatro Oficina nach einer „re-volição“ mit der Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls durch körperliche Annäherungen der Schauspieler und Zuschauer hergestellt. Allerdings weist Fischer-Lichte selbst darauf hin, dass die „phänomenologische Analyse“ (Fischer-Lichte, 2001: 264) mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist: Hier [bei der sprachlichen Beschreibung performativer Elemente in Theateraufführungen; Anm. SV] stößt die phänomenologische Analyse unübersehbar an ihre Grenzen. Denn um dies leisten zu können, fehlen ihr bereits die grundlegenden Begriffe. […] Hier wird noch viel Neuland bearbeitet werden müssen, ehe die phänomenologische

Forschungskontext, Korpus und Methodik

Analyse die methodischen Standards der semiotischen Analyse erreicht haben wird. (Fischer-Lichte, 2001: 264)

Daher wird die phänomenologische bzw. performative Analyse im Folgenden stets ergänzend zu einer semiotischen Analyse durchgeführt.70

70 | Auch fordert Fischer-Lichte, dass „[z]ur Bearbeitung all jener Problemstellungen […], bei denen es auf die spezifische Beziehung zwischen Affiziertsein und Bedeutungsproduktion ankommt“ (Fischer-Lichte, 2001: 265), stets beide Formen der Analyse anzuwenden sind.

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4. Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Im Folgenden werden die mit den in Kapitel 3.3 beschriebenen Instrumenten der Theatersemiotik und Performativität durchgeführten Analysen der elf Aufführungen des zeitgenössischen politischen Theaters Salvador da Bahias vorgestellt.1 Dazu werden die Aufführungen den in Kapitel 2.1 unterschiedenen Typen des politischen Theaters zugeordnet: Wird die politische Wirkungsabsicht durch Repräsentation vermittelt, lassen sich die Aufführungen als dramatisches politisches Theater einordnen. Dominiert dagegen das Prinzip der Präsenz für die Vermittlung der Wirkungsabsicht, werden die Aufführungen dem postdramatischen politischen Theater zugeordnet. Über die Illustration der Wirkungen und Funktionen der verschiedenen Typen hinaus sollen die Einzelanalysen auch ein detailliertes Bild von Inhalt und Form des dramatischen und postdramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia vermitteln. Grundlage der Analysen ist jeweils eine Videoaufnahme der Theateraufführung, die von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit zunächst transkribiert wurde. Mit Pavis lässt sich das Vorgehen als „analyse-reconstitution“ (Pavis, 1996: 12) beschreiben.2 Die Zeichen wurden in ihrer in Kapitel 3.3.1 und 3.3.2 1 | Fischer-Lichte hält als „Probleme der Aufführungsanalyse“ (2001: 233) fest: „Da die Wahrnehmung des Analytikers […] den Ausgangspunkt und Basis für die Aufführungsanalyse darstellt, kommt man nicht umhin, gebührend in Rechnung zu stellen, daß bereits die Basis der Analyse zutiefst subjektiv ist.“ (Ebd.: 238) Dieser Subjektivität ist sich die Verfasserin der vorliegenden Arbeit bewusst. Videoaufzeichnungen, sofern nicht auf YouTube verfügbar, können beim Archiv des Teatro Vila Velha und Theatro XVIII angefordert werden. 2 | Der Verfasserin der vorliegenden Arbeit ist bewusst, dass die Videoanalyse Erkenntnisse zu Aufführungen, insbesondere in Bezug auf ihre Präsenz, deutlich einschränkt: „Videos ermöglichen zu sehen, wie etwas gemacht wurde – unmittelbare emotionale, assoziative und körperliche Reaktionen sind dagegen in den Aufführungen selbst besser festzustellen.“ (Regus, 2009: 111, vgl. dazu auch Fischer-Lichte,

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Politisches Theater in Brasilien

beschriebenen Polyfunktionalität zunächst semiotisch und ergänzend performativ auf eine politische Bedeutung untersucht. Anhand ihrer Funktionalisierung wurden die Zeichen anschließend dem Prinzip der Repräsentation oder der Präsenz zugeordnet und eine für die Aufführung dominante Vermittlungsstrategie ermittelt, die über die Zuordnung zum dramatischen oder postdramatischen politischen Theater entschied. Die Analysen folgen weitestgehend3 einem einheitlichen Aufbau: Nach einer kurzen Einführung zur jeweiligen Aufführung wird zunächst der politische Konflikt vorgestellt, mit dem sich die Aufführung auseinandersetzt, damit wird die thematische Politizität (siehe Kapitel 2.1.2) beschrieben. Anschließend wird dargestellt, auf welche Weise – dramatisch oder postdramatisch – die politische Wirkungsabsicht vermittelt wird und welche Funktionen die Vermittlungsweise für die Aufführung einnimmt. Nachdem die einzelnen Aufführungen eines Typus zunächst einzeln vorgestellt wurden, fasst ein abschließendes Kapitel die aus der Gesamtschau der Analysen abzuleitenden Merkmale und Funktionen des jeweiligen Typus zusammen. Um die Leitfrage der vorliegenden Arbeit, auf welche Weise in Salvador da Bahia Theater eine politische Wirkungsabsicht entfalten kann, zu beantworten, werden in Kapitel 5 aus den Zusammenfassungen der Merkmale und Funktionen des dramatischen (Kapitel 4.1.3) und postdramatischen politischen Theaters (Kapitel 4.2.4) allgemeine Aussagen für das politische Theater in Salvador da Bahia abgeleitet.

2001: 234-243) Daher wurden ergänzend zu den Videoaufnahmen auch Zeitungskritiken und andere Quellen berücksichtigt. Die Aufführungen E SSE G LAUBER, C ABARÉ DA R RR RAÇA und O C ONTÊINER wurden von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit persönlich besucht. Wenn nicht anders vermerkt, ist im Folgenden das Datum der Videoaufnahme das Datum der Uraufführung. 3 | Ausnahmen sind A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS , in der zunächst das Originalwerk von Brecht vorgestellt wird, sowie L ATIN IN B OX , bei dem als Annäherung an den ‚Idealtypen‘ des postdramatischen politischen Theaters der politische Konflikt fast vollständig hinter der Vermittlungsweise zurücktritt.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

4.1 D R AMATISCHES POLITISCHES THE ATER IN S ALVADOR DA B AHIA Die im Folgenden präsentierten Aufführungen des Typus des dramatischen politischen Theaters zeichnen sich dadurch aus, dass sie die politische Wirkungsabsicht durch Repräsentation vermitteln. Wie in Kapitel 2.1.2 dargestellt, können sich Aufführungen des dramatischen politischen Theaters auch epischer Elemente bedienen, wenn sie die Figuration und Narration nicht insgesamt infrage stellen, sondern unterstützen. Entsprechend werden im Folgenden auch solche Aufführungen dem Typus des dramatischen politischen Theaters zugeordnet, bei denen die epischen Elemente durch die Erzeugung von Bedeutung die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht verstärken. Die Aufführungen des ersten Typus zeigen, wie die dramatische Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht im zeitgenössischen politischen Theater in Salvador da Bahia umgesetzt wird und welche Effekte sich aus der dramatischen Vermittlung ergeben. Auch zeigen die Analysen, an welchen Stellen die Grenzen des dramatischen politischen Theaters aufscheinen. Mit Hilfe der Analysen kann festgestellt werden, dass innerhalb des Typus des dramatischen politischen Theaters zur präzisen Beschreibung der Ausprägungen eine weitere Unterscheidung notwendig ist: Während einige Aufführungen nur eine Bedeutungsebene bedienen, das heißt, sich hinsichtlich der politischen Wirkungsabsicht auf den abgebildeten politischen Konflikt konzentrieren, lässt sich in anderen Aufführungen auch eine weitere Bedeutungsebene nachweisen. Die Analysen werden darstellen, welche Funktionen die unterschiedlichen Bedeutungsebenen für das dramatische politische Theater einnehmen.

4.1.1

Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia mit einer Bedeutungsebene

In den Aufführungen des ersten Typus werden politische Konflikte auf der Bühne abgebildet, die politische Wirkungsabsicht wird durch Repräsentation auf einer Bedeutungsebene vermittelt. Dieser Typus entspricht weitestgehend den in Kapitel 2.2.1.1 und 2.2.1.2 vorgestellten ursprünglichen Formen des politischen Theaters im 20. Jahrhundert und kann daher auch als „klassisches politisches Theater“ beschrieben werden. Die größte Anzahl an Aufführungen des Korpus lässt sich diesem Typus zuordnen: BAI BAI PELÔ, MILAGRE NA BAÍA, A ÓPERA DOS TRÊS REAIS und CABARÉ DA RRRRAÇA – wenn auch das Letztgenannte als Kabarett eine Sonderform einnimmt. Alle Aufführungen zeigen, wie im dramatischen politischen Theater aus dem Wechselspiel von Illusion und epischer Brechung Einfühlung und Reflexion ermöglicht und wie diese für die politische Wirkung genutzt werden.

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Abbildung 1: Dramatische Gesprächssituation

BBP 30:06: Einzelne Szenen werden in Bai Bai Pelô markiert, indem Figuren an den Bühnenrand treten und einen Dialog beginnen. Die restlichen Figuren sind die gesamte Zeit auf der Bühne präsent. Die Abbildung zeigt auch das nur aus Hockern bestehende, reduzierte Bühnenbild.

Abbildung 2: Figuration: Negócio Torto

BBP 12:16: Der obdachlose, verkrüppelte Negócio Torto spricht nicht selbst, seine Gesten werden von anderen Bewohnern „übersetzt“. Seine Marginalisierung wird hier auch ausgedrückt, indem ihm die anderen Bewohner den Rücken zuwenden. Die Kostüme sind der Alltagskleidung angepasst.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

4.1.1.1 B AI BAI P ELÔ – die Marginalisierten Salvadors auf der Bühne Tudo agora é um negócio de um movimento que vai lutar contra o sistema, contra a opressão social. (Dona Edna, B AI B AI P ELÔ)

Der von Mitgliedern von Bando de Teatro Olodum geschriebene und von Márcio Meirelles und Chica Carelli inszenierte Theatertext BAI BAI PELÔ wurde am 23.10.1994 im großen Saal des Teatro Vila Velha uraufgeführt (vgl. Uzel, 2003: 282). Die hier analysierte Aufführung fand am 30.10.1994 statt.4 Gemeinsam mit den ebenfalls von Bando de Teatro Olodum erstellten Theatertexten ESSA É NOSSA PRAIA (UA 1991)5 und Ó PAÍ Ó (UA 1992)6 bildet BAI BAI PELÔ die so genannte TRILOGIA DO PELÔ. Der Bühnentext ist ein Beispiel für dramatisches 4 | Text: Bando de Teatro Olodum; Regie: Marcio Meirelles und Chica Carelli; Musikalische Leitung: Chica Carelli; Bühnenbild: Marcio Meirelles; Perkussion: Neguinho do Samba; Ensemble: Arlete Dias, Nildes Vieira, Rony Cácio, Anativo Oliveira, Edvana Carvalho, Jorge Washington, Ednaldo Muniz, Tânia Tokko, Lázaro Machado, Luciana Souza, Rivaldo Rio, Lázaro Ramos, Rejane Maya, Valdinéia Soriano, Cássia Vale, Auristela Sá, Nauro Neves, Merry Batista, Sergio Amorim, Suzana Mattes, Gerimias Mendes, Cristovão da Silva, Virginia Rodrigues. 5 | ESSA É NOSSA PRAIA basiert auf den Improvisationen eines von Marcio Meirelles geleiteten Schauspielworkshops, der als Ursprung von Bando de Teatro Olodum gilt (vgl. Uzel, 2003: 42; zur Geschichte von Bando de Teatro Olodum siehe Kapitel 3.2.2). Die Uraufführung fand am 25.01.1991 in der alten Escola de Medicina da Universidade Federal da Bahia im Pelourinho statt (vgl. ebd.: 276). Die Inszenierung wurde nicht in das Repertoire von Bando de Teatro Olodum aufgenommen, allerdings in einer gekürzten Version unter dem Titel A VOLTA POR CIMA (UA 1992) 1992-1993 an verschiedenen Spielorten aufgeführt (vgl. ebd.: 279). Wieder unter dem Titel ESSA É NOSSA PRAIA wurde der Theatertext 1994 zur Wiedereröffnung des renovierten Teatro Vila Velha noch einmal inszeniert (vgl. ebd.: 277). 6 | Die Uraufführung von Ó PAÍ Ó fand am 05.02.1992 im Theater des Goethe-Instituts Salvador da Bahia statt (vgl. Uzel, 2003: 280). Im Gegensatz zu ESSA É NOSSA PRAIA wurde Ó PAÍ Ó in das regelmäßige Repertoire von Bando de Teatro Olodum aufgenommen und wiederholt neu inszeniert. Im Jahr 2007 entstanden auf Basis des Theatertextes unter der Regie von Monique Gardenberg ein gleichnamiger Film und eine von Rede Globo 2008-2009 ausgeSTRAHLTEZEHNTEILIGE&ERNSEHSERIE"EREITSBEIEINEMOBERlÄCHLICHEN6ERGLEICHVON!UFF¿HRUNG und Film fällt auf, dass der in der Aufführung deutlich formulierte Protest gegen die Reform des Pelourinhos in der Filmversion nicht sichtbar ist (vgl. Gardenberg, 2007). Eine Erklärung lässt sich in der Zielgruppe des Filmes vermuten: Im Gegensatz zu den auf den lokalen Kontext beschränkten Theateraufführungen richtet sich der Film an ein nationales Publikum, das sich nur wenig für ein lokales Sanierungsprojekt interessieren dürfte.

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politisches Theater, das zur Vermittlung seiner Wirkungsabsicht eine realistische Abbildung der soteropolitanischen Realität anstrebt. Alle drei Inszenierungen der TRILOGIA DO PELÔ setzen sich thematisch mit der Sanierung des Pelôs – kurz für Pelourinho, der historischen Altstadt von Salvador da Bahia – und ihren Auswirkungen auf den Alltag der Bewohner auseinander. Als ehemaliges Stadtzentrum des kolonialen Salvadors – der Name „Pelourinho“ weist auf den dort positionierten Pranger zur Bestrafung von Sklaven hin – ist das 1985 von der UNESCO als größtes zusammenhängendes Barockviertel Lateinamerikas zum Weltkulturerbe erklärte Pelourinho seit den 1960er-Jahren ein politisch umkämpfter Raum (vgl. Rothfuß, 2007: 240-251)7: Nachdem das Stadtviertel in der Kolonialzeit zunächst von der Oberschicht bewohnt worden war, setzte ab Mitte des 19. Jahrhunderts „ein sozialer, struktureller und ökonomischer Degradierungsprozess ein, der den ehemals vornehmsten Stadtteil in nur wenigen Jahrzehnten zu einem marginalisierten innerstädtischen Elendsviertel machte“ (ebd.: 238). Um – auch mit Blick auf das touristische Potenzial des historischen Stadtkerns – diesen Degradierungsprozess aufzuhalten, wurde von der Stadtverwaltung zum Ende der 1960er-Jahre beschlossen, die aus den unteren sozialen Schichten stammenden Bewohner um- und im Gegenzug Geschäfte und Büros im Pelourinho anzusiedeln (ebd.: 240). Die Umsiedlungen wurden von der soteropolitanischen Polizei teilweise mit äußerster Brutalität durchgesetzt (vgl. Barth, 1991: 104; vgl. auch Rothfuß, 2007: 242). Dennoch scheiterte diese Politik zunächst, da die Betroffenen aufgrund mangelnder beruflicher Perspektiven und sozialer Einbindung an ihren neuen Wohnorten nach der Umsiedlung in das Pelourinho zurückkehrten (vgl. Fernandes/Aurélio, 1993: 100). Der Zeitraum von 1992, in dem die erste Inszenierung der TRILOGIA DO PELÔ entsteht, bis 1994, in dem mit BAI BAI PELÔ der letzte der drei Theatertexte uraufgeführt wird, zeichnet sich durch eine Verstärkung der Umsiedlungs- und Restaurierungsbemühungen von staatlicher Seite aus: Indem ein Großteil der Gebäude von der Regierung gekauft, renoviert und anschließend zu 60% in Geschäfte und zu 40% in Wohnraum umgewandelt wurde, sollte das Pelourinho endgültig in ein kulturelles und touristisches Zentrum transformiert werden (vgl. Fernandes/Aurélio, 1993: 103). Diesmal wurden die bisherigen Bewohner vor die Wahl gestellt, gegen eine monetäre Entschädigung das Stadtviertel zu verlassen oder in eine der renovierten Wohnungen umzuziehen (vgl. ebd.: 104). Flankiert wurde diese Politik von einer medialen Berichterstattung – insbesondere, aber nicht nur, in Zeitungen der Familie Magalhães –, die ein konsequen7 | An dieser Stelle kann über die wissenschaftlich ausführlich untersuchte Altstadtsanierung Salvador da Bahias nur ein grober Überblick gegeben werden. Zu einer ausführlichen Analyse vgl. neben Rothfuß (2007) und Fernandes/Aurelio (1993) auch Craanen (1998).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

tes Vorgehen der Behörden gegenüber den als kriminell stigmatisierten Bewohnern rechtfertigte (vgl. Rothfuß, 2007: 245f.). Die sozialen Implikationen der Umsiedlung wurden in der Öffentlichkeit kaum thematisiert (vgl. ebd.). Dabei bedeutete die von Politik und Medien zum Ende der 1990er-Jahre als Erfolg gewertete „Rückeroberung der Altstadt“ (ebd.: 246) für die ehemaligen Bewohner eine deutliche Verschlechterung ihrer oftmals ohnehin schon prekären Situation: Über die Hälfte der Verdrängten landete in den innerstädtischen favelas und am Stadtrand, ohne Aussicht und Hoffnung jemals wieder in ihr Stadtviertel, in welchem sie zumeist ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatten, zurückkehren zu können. (Ebd.: 245; Herv.i.O.) 8

Der politische Konflikt um das historische Stadtzentrum ist die Grundlage für die TRILOGIA DO PELÔ. Dessen Theatertexte wurden auf Basis von Interviews mit Bewohnern, Experten und zivilgesellschaftlichen Akteuren des Pelourinhos sowie von Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Texten aus Improvisationen der Schauspieler generiert.9 Da alle drei Inszenierungen denselben Umsetzungsprinzipien folgen, konzentriert sich die vorliegende Arbeit mit BAI BAI PELÔ auf den einzigen Text, der im Teatro Vila Velha uraufgeführt wurde und in dem die politische Wirkungsabsicht am deutlichsten formuliert wird. Gegliedert in drei Akte10 sowie einen Prolog treten in BAI BAI PELÔ in 47 kurzen Szenen 23 Figuren auf, die als Bewohner und Besucher des Pelourinhos konstituiert werden (vgl. hier und im Folgenden: BBP und Meirelles, 1995: 8 | Auch Fernandes/Aurélio (1993: 108) ziehen mit Blick auf die ehemaligen Bewohner ein negatives Fazit der Altstadtsanierung. Dabei weisen sie darauf hin, dass die Lokalpolitik nicht demokratisch und partizipativ agierte, sondern autoritäres Verhalten zeigte: „A guerra à degradação que foi declarada não poupou nada nem niguém que se interpusesse no caminho traçado. O processo fica então garantido, por um lado, pela ação rápida e eficaz do Estado e, de outro, pelo autoritarismo estatal, onde a possibilidade de negociação democrática com o conjunto dos agentes envolvidos é considerada mera veleidade, incapaz de reunir condições que possibilitem o sucesso efetivo da operação.“ 9 | Diese Art der Textgenese durch von realen Dokumenten inspirierte Improvisationen erinnert an das russische Agitprop-Theater (siehe Kapitel 2.2.1.1) sowie, auch durch den konkreten lokalen Bezug, an das Theater des CPC (siehe Kapitel 2.2.2.1). Da die „Dokumente“ zwar Ausgangslage der Improvisationen bilden, selbst aber nicht in der Aufführung präsentiert werden, lässt sich die Aufführung allerdings dem dokumentarischen Theater (siehe Kapitel 2.2.1.2) nicht zuordnen. 10 | Die Akte werden im Theatertext in einer Anspielung an die Ursprünge Olodums als Karnevalsgruppe als „blocos“ (Meirelles, 1991: 155-216) bezeichnet.

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155-216). Diese tauschen sich auf der Bühne zu ihrem Alltag aus, der auf verschiedene Weise von der Altstadtsanierung geprägt wird, und bilden so den politischen Konflikt um das historische Stadtzentrum auf der Bühne ab. Nachdem bereits der Schrifttext auf Basis realer Dokumente erstellt wurde, strebt auch der Bühnentext eine möglichst realistische Abbildung der soteropolitanischen Lebenswirklichkeit an. Die Anbindung der fiktiven Welt der Aufführung an die außertheatrale Realität erfolgt in den sprachlichen Zeichen durch die wiederholte, explizite Verortung des Schauplatzes der Aufführung im Pelourinho (z.B.: 01:45, 156). Daneben verweisen die sprachlichen Zeichen auch auf zahlreiche weitere reale Orte in Salvador da Bahia und Umgebung (u.a. Canabrava [09:36; 164]), Barra [04:09, 158]). Auch die Kostüme bilden die typische Alltags- und Arbeitskleidung des Pelourinhos ab: Die acarajé-Verkäuferin trägt die typische weiße Tracht ihrer Zunft, die Vertreterin der Behörde Instituto do Patrimônio Artístico e Cultural da Bahia (IPAC)11 ein Business-Kostüm, das Mitglied von Olodum (siehe Kapitel 3.2.1) ein T-Shirt mit dem Emblem der Band etc. Die von baianischem Dialekt und umgangssprachlichen Ausdrücken geprägte Sprache („grana“ anstelle „dinheiro“ [04:27, 158], „pró“ anstelle „professora“ [08:42, 16]), „oxente“12 [06:32, 160], „porra“ [02:15, 156]) orientiert sich ebenfalls an der Alltagssprache im Pelourinho. Die Spielweise der Schauspieler, d.h. Sprechweise und auf der Bühne vollzogene Bewegungen, trägt – abgesehen von den epischen Brüchen im Prolog und während der Lieder (siehe unten) – ebenfalls zum Realismus der Darstellung bei. Auch die von den Figuren in den Dialogen präsentierten Geschichten und die auf der Bühne dargestellte Handlung bilden Situationen der Lebensrealität im außertheatralen Pelourinho ab: Die schwangere Maria stellt fest, dass sie ihre Entschädigung, die sie für ihren Wegzug aus dem Pelourinho erhalten sollte, trotz angeblicher Zustellung durch das IPAC nicht erhalten hat. Die Verkäuferin Lúcia ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zum Olodum-Musiker Brigadeiro, der die Reform ablehnt, und ihrem Wunsch, mithilfe der neuen Kundschaft im Pelourinho gesellschaftlich aufzusteigen. Der Eigentümer des Ladens, in dem Lúcia arbeitet, Seu Gereba, scheitert bei seinem Versuch, von IPAC einen günstig gelegenen neuen Standort für sein Geschäft zu erhalten. Die Barbesitzerin Neuzão hat dagegen einen sehr gewinnversprechenden Standort zugewiesen bekommen. In ihrem neuen Ladenlokal bereitet sie eine 11 | Das IPAC wurde 1967 als für die Sanierung zuständige Behörde von Antônio Carlos Magalhães gegründet. Die Gründung bildet den Auftakt „des interventionistischen, aber mitnichten partizipativen Handelns“ (Rothfuß, 2007: 240) der Lokalbehörden im Umgang mit den Bewohnern des Pelourinhos. 12 | Das Dicionário Informal beschreibt „oxente“ als „[t]ermo usado, principalmente na região nordeste do Brasil, para expressar surpresa, exclamação“ (Assis, 2009).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Einweihungsfeier vor, die gleichzeitig eine Verabschiedung von ihren ehemaligen Kunden ist: Sie sollen, um die Touristen nicht abzuschrecken, ihre Bar künftig nicht mehr betreten. Insgesamt treten also sowohl Gegner als auch Befürworter der Reform auf. Die vermeintliche Authentizität verleiht den Figuren – und auch der politischen Wirkungsabsicht der Aufführung – Glaubwürdigkeit. Die ausführliche Charakterisierung durch die Schilderung der persönlichen Geschichten ermöglicht zudem eine starke Einfühlung des Zuschauers. Durch den starken Realitätsbezug wird dieser von der intellektuellen Transferaufgabe entlastet und kann sich ganz auf die Einfühlung in die dargestellten Geschichten konzentrieren. Sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern wird die Verantwortung für die Reform explizit Gouverneur Magalhães zugeordnet (z.B. 06:23, 160; 06:49, 161). Damit wird der Konflikt auf der Bühne als politischer, durch Stadtplanungspolitik herbeigeführter Konflikt beschrieben. Die Bedeutung der sprachlichen Zeichen ergibt sich unter anderem daraus, dass die szenische Handlung erst nach der jeweiligen Entscheidung der Bewohner für oder gegen eine Umsiedlung einsetzt, die Aufführung also über einen späten „point of attack“ (Pfister, 1997: 137) verfügt. Entsprechend werden in den Dialogen viele Ereignisse aus der Vergangenheit berichtet.13 Der späte point-ofattack bewirkt, dass die Figuren ihre Haltungen zu der Reform, die sie auf der Bühne präsentieren, aus den Erfahrungen der Vergangenheit ableiten. Das politische Problem der Wohnraumpolitik wird damit auf persönliche Schicksale heruntergebrochen. Da die Haltungen aus persönlichen Erfahrungen resultieren, sind sie für den Zuschauer emotional wie intellektuell leicht nachvollziehbar. Eine zentrale Isotopie der politischen Wirkungsabsicht ergibt sich aus der Darstellung der Figuren. Diese impliziert eine Positionierung aufseiten der Gegner der Reform, da die Figurengruppe der Befürworter insgesamt negativer charakterisiert wird.14 Daraus lässt sich ableiten, dass auch die auktorial intendierte Rezeptionsperspektive der Perspektive der Reformgegner entspricht. Allerdings ist auffällig, dass trotz dieser Gewichtung die Aufführung die gleiche Anzahl an Befürwortern und Gegnern der Reform präsentiert und auch hinsichtlich der Charakterisierungen der Gegner und Befürworter durchaus Schattierungen aufweist. So werden nicht alle Sanierungsgegner positiv dargestellt: Marcelo, ein Vertreter des Movimento Negro, entpuppt sich beispielsweise als wenig sen-

13 | Mit Pfister (1997: 369f.) können diese Rückverweise auf eine Zeit vor dem Einsatz der szenischen Handlung als Hinweise auf die „tertiäre gespielte Zeit“ beschrieben werden. 14 | Zur Darstellung der staatlichen Vertreterin Dona Edna und Soldado Leão siehe unten. Auch die Befürworter Augusto und Pezinho werden in ihrem Umgang mit Negócio Torto als sadistisch dargestellt (11:30-12:00, 165; 16:35-16:50, 169).

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sibel für die Bedürfnisse der armen Bewohner (z.B. 40:30-42:15, 187f.).15 Auch erweisen sich alle Figuren als unfähig, Negócio Torto zu helfen (siehe unten). Dafür zeigen einige der Reformbefürworter auch positive Eigenschaften: So lädt Neuzão Negócio Torto zu ihrer Eröffnungsfeier ein (58:50-59:43, 200). Damit zeigt sich, dass die Aufführung grundsätzliches Interesse an den Schicksalen aller Bewohner des Pelourinhos weckt und auch Einfühlung in die Befürworter der Reform ermöglichen möchte. Allerdings beruht die Aufführung nicht allein auf den Prinzipien von Illusion und Einfühlung in die Bewohner. Tatsächlich wird die Handlung auf der Bühne zu Beginn und Ende der Aufführung sowie zwischen den einzelnen Akten durch epische Elemente ergänzt, die eine Distanzierung und Reflexion ermöglichen. Indem sie sich auf den dargestellten Konflikt beziehen und die dramatische Präsentation nicht hinterfragen, lassen sie sich im Sinne Poschmanns (1997: 68) als fiktionsstützend einordnen. Ein Beispiel für ein episches Element ist das Bühnenbild. Dieses weicht vom Prinzip der realistischen Darstellung ab, ist stark reduziert, betont die Theatersituation und fordert so die Imagination des Zuschauer heraus: Die Bühne besteht aus einem großen, nackten Podest. Das Podest stellt in den drei Akten jeweils eine Straße im Pelourinho, das Restaurant der Baiana und die Bar von Neuzão dar. Markiert werden die unterschiedlichen Orte von zu Beginn der Aufführung im hinteren Bühnenteil gestapelten und für die einzelnen Akte jeweils umgruppierten Stühlen. Der auf der Bühne erfolgende Umbau bricht die Illusion der Realität (z.B. 58:13-58:28). 15 | Wenn auch in dieser Aufführung nicht so präsent wie beispielweise in Z UMBI (siehe Kapitel 4.1.2.2), E SSE G LAUBER (siehe Kapitel 4.1.2.1) oder C ABARÉ DA R RRRAÇA (siehe Kapitel 4.1.1.4) und dem allgemeinen Konflikt um das Pelourinho deutlich untergeordnet, soll auf das Vorhandensein eines Rassismusdiskurses in B AI B AI P ELÔ dennoch hingewiesen werden. So weist Marcelo auch auf eine rassistische Komponente des Konfliktes hin: „Você sabe que somos negros, somos marginalizados, discriminados, mas temos que ter consciência que somos negros e livres e que temos direito de sermos felizes. […] E sem necessidade de fazermos concessões a este sistema.“ (41:4542:06, 187) Seine Aussagen werden allerdings von den anderen Figuren belächelt. So antwortet die Baiana: „Marcelo, eu sou o sistema? Então, vá pra falar com ele.“ (42:06-42:10, 187) Auch wenden sich die Figuren körperlich von ihm ab. Im Verlauf der Aufführung vereinnahmt Marcelo die Bewohner des Pelourinho zunehmend durch pathetische Aussagen wie: „[p]orque todo mundo aqui dentro do Pelourinho sabe que a única manifestação que existe aqui dentro é minha. Eu, Marcelo, e o povo“ (41:2741:40, 187). Das Schweigen der anderen Figuren in der Situation weist allerdings darauf hin, dass sie dieser Selbstbeschreibung nicht zustimmen. Diese Diskrepanz zwischen dem postulierten und dem gelebten Verhalten kann als allgemeine Kritik am Movimento Negro gelesen werden. In dieser Hinsicht weist Marcelo deutliche Parallelen zur Figur Wensley de Jesus in C ABARÉ DA R RRRAÇA auf (siehe Kapitel 4.1.1.4).

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Der im Bühnenbild angelegte Illusionsbruch wird auch in der Figurencharakterisierung umgesetzt. Bevor die Figuren in der Aufführung in den Dialogen dramatisch interagieren, stellen sie sich im Prolog zunächst dem Zuschauer vor und präsentieren vorab ihre Haltung zur Altstadtsanierung. Die Ansprache an die Zuschauer wird rhythmisch gesprochen und auf diese Weise weiter verfremdet: Chandinha: Vendi meu quartinho / pensando que ia mudar de vida. Oxente, o dinheiro não deu / foi pra nada. (06:25-06:38, 160)

Diese epische Exposition nimmt somit das spätere Geschehen vorweg und unterstützt die Distanzierung des Zuschauers von der Handlung auf der Bühne. Die im Prolog verfremdet vorgetragene Haltung der Figuren wird in den folgenden Szenen dramatisch illustriert. So beklagt Chandinha im Gespräch mit ihrer ehemaligen Nachbarin Maria den Umstand, dass sie für den im Prolog angesprochenen Verkauf ihres Zimmers zu wenig Geld erhalten habe, auf deutlich emotionalere Art und Weise: Chandinha: Menina, é uma agonia, um desespero, quando aquele povo começa a catar aquele lixo, aquelas crianças, minha filha, a brigar por um pedaço de carne pôdre, olha. [...] É tanta perturbação, menina, se você não tiver fé em Deus, você sai doidaça. (09:45-10:06, 164).

Auf diese Weise entsteht in der Aufführung ein Kontrast zwischen den realistischen, emotionalen Darstellungen in den dramatischen Szenen und den verfremdeten, distanzierten Haltungen des Prologs. Die emotionale Einfühlung als Grundprinzip der Aufführung wird an diesen Stellen gebrochen. Der Zuschauer wird angehalten, sich vom Geschehen zu distanzieren und das Vorgehen auf der Bühne zu reflektieren. Dieses Beispiel zeigt, wie das dramatische politische Theater in BAI BAI PELÔ für seine Wirkung, die sich aus der Darstellung der Bewohner des Pelourinhos und ihrer persönlichen Schicksale ergibt, Einfühlung und Reflexion kombiniert. Mit wenigen Ausnahmen erhält jede der 23 Figuren die Gelegenheit, episch und dramatisch ihre persönlichen Erfahrungen mit der Reform auf der Bühne zu präsentieren. Diese große Anzahl an Figuren verdeutlicht dabei, wie umfassend die Auswirkungen der Stadtviertelsanierung sind. Daneben – und für die Wirkungsabsicht besonders bedeutend – bietet die Aufführung auf diese Weise vielen individuellen Schicksalen, die im medialen Diskurs üblicherweise nicht berücksichtigt werden einen Raum. So halten sich beispielsweise alle Schauspieler während der gesamten Spielzeit auf der Bühne auf und sind so beständig sichtbar: Markiert werden die unterschiedlichen Szenen nicht durch Aufund Abgänge, sondern dergestalt, dass die jeweiligen Protagonisten gemeinsam

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an den mit einem Spot ausgeleuchteten Bühnenrand treten bzw. zu der gerade agierenden Gruppe hinzukommen oder diese verlassen. Zudem unterstützen die gerade nicht aktiven Schauspieler den Realismus der Aufführung, indem sie im Bühnenhintergrund in ihren Rollen interagieren. Neben Spielfluss und daraus resultierender Illusion, die so trotz der zahlreichen Szenenwechsel ermöglicht werden, wird auf diese Weise die prinzipielle Gleichwertigkeit der Figuren und Schicksale betont. Auch wenn Dominanzrelationen in der Aufführung kaum vorhanden sind – der marginalisierte, subalterne16 Bewohner des realen Pelourinho wird auf der Bühne besonders deutlich von der Figur von Negócio Torto verkörpert. Dieser fungiert gleichzeitig als typischer Vertreter des realen Pelourinhos und als Personifikation des Stadtviertels und ist für die politische Wirkungsabsicht der Aufführung von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu den anderen Figuren, für deren Charakterisierung die explizite Selbstdarstellung in den Dialogen mit anderen Bewohnern von besonderer Relevanz ist, erhält Negócio Torto seine Bedeutung weder durch die von ihm geäußerten sprachlichen Zeichen noch durch sonstige eigene Aktionen auf der Bühne. Stattdessen zeichnet er sich durch Passivität aus: Er handelt nicht, sondern die Handlung geschieht ihm. Denn Negócio Torto ist stumm17 und infolge eines Autounfalls sowie von Misshandlungen durch die Polizei körperlich schwer beeinträchtigt.18 Auf der 16 | Der Begriff „subaltern“ ist einer der Schlüsselbegriffe der postcolonial studies (siehe Kapitel 2.1.4). Er wurde ursprünglich von Antonio Gramsci (1971) geprägt für „any ‚low rank‘ person or group of people in a particular society suffering under hegemonic domination of a ruling elite class that denies them the basic rights of participation in the making of local history and culture as active individuals of the same nation“ (Luai, 2011: 5). Anschließend wurde er von indischen Historikern auf „Indian peasants“ (ebd.: 6) und von Spivak (1999 [1988]) auf „gender and particularly Indian Women during colonial times“ (Luai, 2011: 7) übertragen und so für die postcolonial studies nutzbar gemacht. Die Arbeit verwendet den Begriff hier und im Folgenden im Sinne von Spivak. 17 | Das Motiv des Schweigens gehört nach Gilbert/Tompkins (2002: 190) zu den typischen Motiven des postkolonialen Theaters: „There are at least three silences that are expressively deployed on the post-colonial stage: inaudibility, mutedness, and refusal to speak.“ Dabei kann die Repräsentation von Stummheit als Unvermögen oder Widerwille, sich im dominanten Diskurs zu äußern, auch als „language of resistance“ (ebd.) genutzt werden: Indem marginalisierte Gruppen stumm auf der Bühne repräsentiert werden, wird darauf hingewiesen, dass ihre Stimmen normalerweise in der Gesellschaft auch nicht gehört werden (vgl. ebd.: 191). 18 | Auch der verstümmelte Körper wird von Gilbert/Tompkins (2002: 221) als Element des postkolonialen Theaters bestimmt: „The body which has been violated, degraded, maimed, imprisoned, viewed with disgust, or otherwise compromised has

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Bühne drückt er sich einzig durch Geräusche, Bewegungen und Gesten aus, die von den anderen Figuren in sprachliche Zeichen übersetzt werden. Als einzige Figur neben der Hilfsköchin der Baiana folgt er nicht dem Prinzip der dramatischen Repräsentation und epischen Brechung, sondern ist vollständig ins innere Kommunikationssystem der Aufführung integriert. Während sich die anderen Figuren im Prolog präsentieren, steht er außerhalb des Fokus der Aufmerksamkeit auf der Bühne (01:35-07:00, 156-161). Indem ihm die Erläuterung seiner Handlungsmotivation verweigert wird, wird er entsprechend seiner gesellschaftlichen Stellung als Subalterner von den Zuschauern distanziert. Ins Zentrum der Aufführung wird er allerdings bereits in der ersten Szene gerückt, in der die Lehrerin Dona Edna von der Rückkehr eines schwer verletzten, längere Zeit verschwundenen jungen Mannes auf den zentralen Platz Largo do Pelourinho berichtet und um Obdach für ihn bittet (08:48-09:01, 163). Von den anderen Bewohnern wird Negócio Torto als großzügiger und hilfsbereiter Mensch beschrieben (hier und im Folgenden: 11:30-28:58, 165-178). Nun, schwer verletzt und fast bewegungsunfähig, entzündet sich eine Diskussion um seinen Verbleib. Für die Befürworter der Reform ist Negócio Torto entsprechend seines Namens ein „falsches“ oder „kaputtes“ Ding, eine Störung, ein Schmutzfleck im neuen, sanierten Pelourinho. Demgemäß reagieren sie mit Beschimpfungen und weiteren körperlichen Misshandlungen, Seu Gereba und Soldado Leão planen sogar seine Ermordung. Aufseiten der Gegner der Reform finden sich indessen Figuren wie Berna Rosa oder Chandinha, welche die Negócio Torto bemitleiden und versuchen, die Misshandlungen zu verhindern. Allerdings bieten auch sie ihm kein Obdach an: Aufgrund der Reform sind ihre Wohnverhältnisse so prekär oder abgelegen, dass keiner Negócio Torto aufnehmen kann und will. Auch Brigadeiro, der Negócio Torto schließlich vor den Misshandlungen von Soldado Leão rettet, ihm sein Zimmer anbietet und ihm für die Eröffnungsfeier von Neuzãos Bar sein T-Shirt überlässt, scheitert unter den unmenschlichen Umständen im neuen Pelourinho: Bei einem Streit mit Soldado Leão um die Verkäuferin Lúcia am Ende der Aufführung ist er es, der den ihm zu Hilfe geeilten Negócio Torto versehentlich ersticht (01:23:0001:23:50, 213).19 Die anderen Gäste verlassen die Bar schnell, positionieren sich particular relevance to post-colonial literatures and invariably functions within some kind of allegorical framework. Most often, the personal site of the body becomes a sign of the political fortunes of the collective culture, a sign which must be actively reassigned to a more productive representation through embodiments on the postcolonial stage.“ 19 | Auch diese Handlung weist Bezüge zur Realität auf. In der für diese Arbeit analysierten Aufführung hält Regisseurs Márcio Meirelles nach deren Ende noch eine kurze Ansprache (01:29:30 – 01:31:30). In der Rede weist er auf ein Mitglied von Olodum hin, das, nach einer ähnlichen Situation wie zwischen Soldado Leão und Brigadeiro,

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zuvor allerdings noch zum Tod von Negócio Torto (01:23:50-01:25:05, 214f.). Die Reaktionen entsprechen dabei den vorherigen Figurencharakterisierungen.20 Allerdings werden sie nicht emotional, sondern distanziert-nüchtern präsentiert, anschließend wenden ihm alle Figuren, außer Neuzão und die Küchenhilfe der Baiana, den Rücken zu. Als Neuzão, die bei dem Vorfall nicht anwesend war, schließlich den Leichnam entdeckt, rollt sie ihn aus Angst, ihre Schanklizenz zu verlieren, wie einen Müllsack auf die Straße (01:25:33-01:26:50, 215f.). Dem Wunsch, den mühsam errungenen gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern, wird die Menschenwürde Negócio Tortos geopfert. Beklagt wird Negócio Torto von der einzig weiteren bis zu diesem Zeitpunkt stummen Figur: der Küchenhilfe der Baiana. Diese, im Verlauf der Aufführung zwar ständig auf der Bühne präsente, aufgrund ihres Schweigens aber ebenfalls kaum sichtbare Figur, beschließt die Aufführung, indem sie neben Negócio Torto kniet und mit heller, klarer Stimme mit dem Totengesang „Senhor Morto“ aus der Osterprozession an das Sterben Christi erinnert: Oh! Vos omnis qui transits per via atendite, atendite, et videte teum si est dolor sicut dolor meo. (01:26:55-01:28:00, 216)

Im Kontrast zur vorherigen distanzierten Reaktion der anderen Bewohner schafft diese Szene emotionale Nähe: Als performatives Element weckt der Totengesang Gefühle, Assoziationen und Emotionen. Externe Umkodierung stellt eine Verbindung von Jesus Christus zu Negócio Torto her: Der Tod von Negócio Torto wird zu einem Opfer für die restliche Menschheit deklariert. Durch das Wissen der Zuschauer um die Auferstehung Christi wird gleichzeitig Hoffnung auf eine Veränderung vermittelt. Indem parallel zum Gesang der Schriftzug „Bai Bai Pelô“ angestrahlt wird (ebd.), wird die Verabschiedung von Negócio Torto auch zu einer Verabschiedung des alten, verfallenen, schmutzigen und armen, dabei aber menschlichen Pelourinhos. An seine Stelle tritt ein neues, im Pelourinho verhaftet wurde und kurz danach verschwand. Die Aufführung widmet er dem Verschwundenen. 20 | Damit lässt sich festhalten, dass die Figuren alle statisch konzipiert sind: Weder die Befürworter noch die Gegner der Reform verändern während der Aufführung ihre Meinung. Nur mit Blick auf die gesamte TRILOGIA DO P ELÔ lassen sich in einigen Figuren Entwicklungen konstatieren. Darunter ist die Entwicklung von Brigadeiro besonders interessant: Während dieser in E SSA É NOSSA P RAIA noch als „malandro e traficante“ (vgl. Meirelles, 1995: 57) charakterisiert wird, der Kinder als Straßenräuber einsetzt, hat er sich durch seine Mitgliedschaft bei Olodum in B AI B AI P ELÔ so weit entwickelt, dass er als einziger Negócio Torto vor den Angriffen von Soldado Leão beschützt. Neuzão, in Ó PAÍ Ó noch klar auf Seiten der Bewohner verortet (vgl. ebd.: 104f.), wird in B AI B AI P ELÔ hingegen zum Ausdruck des neuen, kapitalistischen Geistes des Pelourinhos.

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im Titel bereits phonetisch die Touristen adressierendes, rein profitorientiertes Stadtviertel. Die Aufführung zeigt, dass barmherziges Verhalten hier – wie der Tod von Negócio Torto und das vorherige Verhalten der Bewohner belegen – unmöglich geworden ist. Aus dieser Darstellung ergibt sich für die politische Wirkungsabsicht der Aufführung das Fazit: Der Umgang mit den Bewohnern und die Reform müssen verändert werden, um das Menschliche im Pelourinho zu erhalten. Allerdings belässt es die Aufführung nicht dabei, dem stummen Negócio Torto und anderen Bewohnern des Pelourinho eine Stimme zu geben und mit seinem Tod die Stadtreform zu verurteilen, sondern sie stellt den stummen, machtlosen Betroffenen der Reform einen Antagonisten gegenüber: Dona Edna, Vertreterin des Staates, die das Machtzentrum verkörpert.21 Die Gegenüberstellung wird vom Bühnenbild abgebildet, indem das Büro von Dona Edna gegenüber dem Zimmer von Brigadeiro/Negócio Torto verortet wird. Ihre hervorgehobene Stellung in der gesellschaftlichen Debatte zeigt sich, indem sie die Aufführung im Prolog mit einem Monolog eröffnet. Der Inhalt ihres Monologs, der durch Länge und nicht-rhythmisierte Sprechweise von den Vorstellungen der anderen Figuren abweicht, wie auch ihre harsche Stimme und ihre hektischen Gesten charakterisieren sie von Beginn an als empathielose, kalte Bürokratievertreterin, die jegliche eigene Verantwortung für ihr Handeln ablehnt: Dona Edna: Vejam vocês, meu Deus do céu, entram nas casas dos outros ficam um ano, dois, três... Mas vai sair! Nem que seja embaixo de porrada! As cartas [Benachrichtungen, zu welchem Zeitpunkt die Bewohner ihr Haus verlassen müssen; Anm. 21 | Auch der zweite auf der Bühne dargestellte Vertreter des Staates, der Militärpolizist Soldado Leão wird negativ charakterisiert. Die Polizei ist in Brasilien föderal organisiert und unter anderem in polícia militar und polícia civil unterteilt. Die Militärpolizei untersteht dem Gouverneur des Bundesstaates und ist dafür zuständig, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten (vgl. Polícia Militar da Bahia, 2014). Unter den verschiedenen Polizeieinheiten gilt die Militärpolizei als besonders gewalttätig (vgl. Pinheiro, 1997: 45). Seine Einstellung zu Gewalt präsentiert Soldado Leão sowohl in seinen sprachlichen Zeichen explizit-auktorial (43:00-44:50, 188f.) als auch, indem er Negócio Torto mit Stößen und Tritten attackieren will (24:30-25:30, 126). Untergeordnet unter den politischen Konflikt um das Pelourinho prangert B AI B AI P ELÔ mit dieser Darstellung auch die in Salvador vorherrschende Polizeigewalt an. Diese Kritik wird in der Gesamtschau der TRILOGIA DO P ELÔ noch verstärkt: Bereits in E SSA É NOSSA P RAIA und Ó PAÍ Ó wird Soldado Leão als Figur dargestellt, die im (vermeintlichen) Kampf gegen das Verbrechen rücksichtslos von Gewalt Gebrauch macht (vgl. Meirelles, 1995: 57-217). Dies gipfelt in Ó PAÍ Ó in der Ermordung der Kinder von Dona Joana (ebd.). Das Wiederauftauchen von Soldado Leão ohne sichtbare Veränderung im Verhalten weist darauf hin, dass er für den Mord nicht belangt wurde.

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SV] estão todas aqui. Eu não sou carteiro, não, mas o Governador mandou entregar. (01:00-01:35, 155)

Auch zeigt sie sich als Gegnerin von aktiver politischer Partizipation und offenbart so ein autoritäres Politikverständnis.22 In dieser Rede zeigt sich die Dominanz der sprachlichen Zeichen: Dass Dona Edna ein undemokratisches Politikverständnis besitzt, muss vom Zuschauer nicht etwa anhand ihres Verhaltens auf der Bühne erschlossen werden, sondern wird explizit thematisiert. Nach dem Prinzip der Aufführung wird diese im Prolog vorgestellte explizitfigurale Charakterisierung23 von Dona Edna im weiteren Verlauf von BAI BAI PELÔ ausgeführt. Maria, die sich auf der Suche nach ihrer Entschädigung an sie wendet, wird von ihr mitleidslos abgewimmelt (19:46-20:45, 171f.), ebenso wie Negócio Torto auf der Suche nach einem Wohnraum (08:42-09:30, 163). Marcelo, der versucht, die anderen Bewohner zu mehr Engagement zu ermutigen, wird von ihr lächerlich gemacht – indem sie ihn, als Vertreterin der Regierung, ausgerechnet als Politiker beschimpft (20:45-21:48, 172f.).24 Nur Neuzão, die ihr persönlich sympathisch ist und die aus ihrer Sicht über die richtige politische Einstellung verfügt, wird von ihr im Verlauf der Aufführung unterstützt. Wenn also aufgrund der Umstände auch kein positiver Held im Pelourinho möglich ist, wird durch Dona Edna auf der Bühne das falsche Verhalten abgebildet und der Zuschauer dagegen aufgebracht. Erfolgt diese negative Charakterisierung zunächst figural-dramatisch, adressiert die Zuschauer also emotional, wird sie durch epische Elemente auch auf einer distanzierenden Ebene unterstützt. Denn indem die Schauspielerin von Dona Edna auch die die Handlung unterbrechenden, die Reform kritisch bewertenden Lieder25 singt, widerspricht sie den Aussagen auf Figurenebene 22 | Ihr undemokratisches Politikverständnis offenbart Dona Edna auch, indem sie den aufgrund von Korruptionsvorwürfen seines Amtes enthobenen ehemaligen brasilianischen Präsidenten Fernando Collor de Mello verteidigt (01:30, 155). Dieser Verweis weitet die an ihr als lokaler Behördenvertreterin geübte Kritik der Aufführung vom konkreten Fall in Salvador da Bahia auf die brasilianische Politik insgesamt aus, die als korrupt und undemokratisch dargestellt wird. 23 | Die Unterscheidung implizit-figuraler, implizit-auktorialer, explizit-figuraler und explizit-auktorialer Charakterisierungstechniken folgt ebenfalls Pfister (1997: 251). 24 | Hier wird das negative Politiker-Bild der baianischen Bevölkerung aufgenommen. So tröstet die Lehrerin Marcelo: „Não ligue não Marcelo, que é sempre assim – quando uma pessoa se dispõe à ajudar dizem logo que quer se candidatar.“ (22:05, 173) 25 | Die Trommeln sind in den Farben von Olodum (Rot, Grün und Gelb) bemalt und verweisen damit auf das außertheatrale Pelourinho. Zudem können sie durch externe Umkodierung als Zeichen gegen Rassismus und Diskriminierung gelesen werden – als solche werden sie von Olodum eingesetzt (vgl. Schaeber, 2003: 198).

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und kreiert einen besonderen Kontrast zwischen Figurenperspektive und übergeordnetem Kommentar: É um povo que parte e outro que invade: O novo Pelô regressou. Livre, sem censura, pois a raça pura até pode o centro visitar. Mas continua à margem, vive da vontade, aquele que sempre escorou o velho centro histórico, e por isso eu choro, por muito o Olodum fico. Bai Bai Pelô. E é lindo ver a exposição e o progresso [...] e quem não teve opção? [...] Só ficou saudade pra quem lá já habitou. (07:00-08:36, 161f.)

Die Lieder fügen der Aufführung auf diese Weise eine weitere – und, indem sie auf vermittelnder Ebene angesiedelt ist, für die Totalität des Sinnes der Aufführung besonders gewichtige – reformkritische Isotopie hinzu und werten dabei die Haltung von Dona Edna weiter ab. So lässt sich auch in der Darstellung der Figur der Dona Edna und damit in einem weiteren Element des dramatischen politischen Theaters die politische Wirkungsabsicht – gegen eine weitere Sanierung, für eine Veränderung der Politik von Magalhães – semiotisch nachweisen. Die Verleihung einer Stimme an die Bewohner und die Abwertung der staatlichen Vertreter werden vor dem Hintergrund des aus dem Bühnentext erschließbaren intendierten Publikums bedeutsam. Indem Dona Edna die Aufführung aus dem Zuschauerraum beginnt und in ihrem Eingangsmonolog die Zuschauer als „minha gente“ adressiert, werden diese auf ihrer Seite verortet (01:00-01:35, 155). Anspielungen auf u.a. Antônio Carlos Magalhães und Fernando Collor de Mello setzen zudem eine gewisse politische Vorbildung und Informiertheit der Zuschauer voraus. Damit lässt sich schlussfolgern, dass die Aufführung als intendiertes Publikum die baianische Mittelschicht vorsieht, eben jene Schicht, die nicht selbst von dem Konflikt um das Pelourinho betroffen ist und von ihm nur durch die Medien erfährt. Wie oben beschrieben rechtfertigten die Medien die Politik von Magalhães, indem sie einen „Risikodiskurs“ (Rothfuß, 2007: 234) etablierten, die Bewohner des Pelourinhos stigmatisierten und die sozialen Folgen der Reform ausblendeten. Mit ihrer dramatischen Abbildung von Handlungsmotivationen und persönlichen Hintergründen setzt die Aufführung diesem Diskurs die Schilderung individueller Schicksale entgegen. Indem die Aufführung durch dramatische Elemente den marginalisierten Bewohnern eine Stimme verleiht, klärt sie die Mittelklasse über die sozialen Implikationen der Umsiedelungen auf. Die Analyse zeigt, auf welche Weise durch Elemente des dramatischen Theaters – in diesem Fall: Figurencharakterisierung, Handlung und sprachliche Zeichen – eine politische Wirkungsabsicht formuliert werden kann. Die Aufführung positioniert sich gegen die Stadtsanierungspolitik von Antônio Carlos Magalhães und das Vorgehen seiner Behörden. Sie zeigt, dass eine realistische Abbildung die Übertragung der fiktiven dargestellten Welt auf den außertheatralen Kontext erleichtert, sodass sich der Zuschauer vollständig auf seine Em-

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pathie gegenüber den dargestellten Figuren konzentrieren kann. Die Kombination mit epischen Elementen bewirkt, dass der Zuschauer aus der Mittelschicht zudem auch intellektuell aktiviert wird. All diese Elemente werden eingesetzt, um den Subalternen der peripheren Moderne Brasiliens auf dem Theater als Teil der öffentlichen Debatte eine Stimme zu verleihen.

4.1.1.2 O M IL AGRE N A B AÍ A – der Einsatz von phantastischen Elementen zur politischen Aktivierung Estão pensando o que? Cidadania é isso. (Seu Meme, O M ILAGRE N A B AÍA)

Der von der baianischen Dramatikern Aninha Franco geschriebene Theatertext O MILAGRE NA BAÍA wurde am 02.10.2008 unter der Regie von Rita Assemany im Theatro XVIII uraufgeführt. Das Ensemble der Aufführung umfasst neben professionellen Schauspielern auch die Amateurtheatergruppen Axé do XVIII und Miúdos de Ladeira (siehe ebd.) sowie Kinder aus der Nachbarschaft des XVIII.26 Die Fabel von O MILAGRE NA BAÍA basiert auf der 1943 erschienenen italienischen Novelle Totò il buono von Cesare Zavattini, die 1951 von Vittorio di Sica unter dem Titel Miracolo a Milano verfilmt wurde.27 Die Aufführung zeigt in

26 | Text: Aninha Franco (Cesara Zavattini); Regie: Rita Assemany; Musikalische Leitung: Jarbas Bittencourt; Ensemble: Evelin Buchegger, Widotto Áquila, Felipe Benevides; Ângelo Rosas; Alexandro de Oliveira, Projeto Miúdos da Ladeira: Jefferson da Silva Lima; Luiza Conceição Souza; Milene Santana França; Ivana Dória Nascimento Santos França; Companhia Axé do XVIII: Alexandre Moraes, Ceiça do Amor Divino, Clara Paixão, Débora Barbosa, Diego San Valle, Elias Santana, Jô Fernandes, Liz Cristina, Márcia Bebê, Marcos Xarope, Nil Nascimento, Priscila do Amor Divino. 27 | Zavattini gehört zu den bekanntesten Vertretern des italienischen Neorealismus und arbeitete in verschiedenen Projekten mit di Sica zusammen (vgl. Snyder/Curle, 2000: 50). Das wichtigste Merkmal des Neorealismus sieht Zavattini in der Aufwertung der Realität gegenüber der Geschichte: „It has been perceived that reality is hugely rich, that to be able to look at it directly is enough; and that the artists task is not to make the people moved or indignant at metaphorical situations, but to make them reflect (and if you like, moved and indignant, too) on what they and others are doing, on real things, exactly as they are.“ (Zavattini, 1953: 51) Würden die Kriterien für politisches Theater auf das Genre Film übertragen werden, könnte das Werk von Zavattini vermutlich selbst als politische Kunst eingeordnet werden: „The fundamental emotion of Miracolo a Milano is not one of escape (the flight at the end), but of indig-

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einem Prolog und zehn Szenen die Geschichte des Waisenjungens Totó28 (vgl. hier und im Folgenden MB und Franco, 2008). Dieser wird als Baby an den Strand einer kleinen Insel gespült und von einer dort als Einsiedlerin lebenden Frau aufgezogen. Nach dem Tod seiner „Mutter“ reist Totó, mittlerweile ein junger Mann, nach Salvador da Bahia und wird dort in einer favela aufgenommen. Den favelados, angeführt von Totó, gelingt es, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern und den drohenden Verkauf des Grundstücks durch den vermeintlichen Besitzer abzuwehren.29 Städtische Konflikte um Landeigentum sowie die prekären Lebensbedingungen in favelas sind in ganz Brasilien, insbesondere aber in Metropolen wie Salvador da Bahia, ein drängendes soziales und politisches Problem: Etwa 6% der brasilianischen Bevölkerung lebt in den informellen oder illegalen, häufig über mangelnde Infrastruktur verfügenden Siedlungen (vgl. IBGE, 2010a).30 In Salvador da Bahia ist es sogar fast ein Drittel der Bevölkerung, das vom IBGE als Bewohner einer der 242 favelas der Stadt verortet wird (vgl. ebd.). Als Ursache für die hohe Anzahl an informellen Siedlungen gelten sowohl der generelle Mangel an Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen als auch die Binnenmigration, die jährlich zehntausende Bewohner des Inlandes nach Salvador bringt (vgl. Freire, 2010: 78).31 Die Illegalität vieler Siedlungen führt dazu, dass die Bewohner „zu Bürgern ‚zweiter Klasse‘“ (Rothfuß, 2012: 132) degradiert werden und „reproduziert ihre Stigmatisierung als marginais oder excluídos“ (ebd.; Herv.i.O.). Dies wirkt sich auch auf den Alltag aus:

nation, a desire for solidarity with certain people, a refusal of it with others.“ (Ebd.: 56f.) Zum Neorealismus vgl. Schlumbohm (1968). 28 | Der Name ist ein Beispiel dafür, wie sich interkulturelle Übersetzung auswirken kann: Der aus dem italienischen Original übernommene Name der Hauptfigur bedeutet in Brasilien „Hund“ – und führt so zu Gelächter. 29 | Die Abweichungen, die sich in der Fabel O M ILAGRE NA B AÍA von gegenüber Miracolo a Milano ergeben, dienen zum Großteil der Adaptation in den zeitgenössischen brasilianischen Kontext. Mit Blick auf die politische Wirkung ist insbesondere die Abweichung am Ende relevant: Miracolo a Milano endet damit, dass die Bewohner in den Himmel auffahren – und es eben nicht auf der Erde zu einer Lösung des Konfliktes kommt. Wie sich bei der folgenden Analyse zeigen wird, wählt O M ILAGRE NA B AÍA den entgegengesetzten Weg. 30 | IBGE (2010d) definiert favela als „[c]onjuntos de, no mínimo, 51 residências carentes de serviços públicos essenciais, ocupando terreno de propriedade alheia e estando dispostas de forma desordenada e densa“. 31 | Zwischen 1995 und 2000 wanderten noch über 118.000 Personen aus anderen Kommunen nach Salvador ein (vgl. Golgher, 2006: 11).

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Abbildung 3: Phantastische Elemente

MB 14:50: Blaues Licht, Tücher, Musik und Tänze erzeugen während der ersten zwanzig Minuten, in denen das Leben von Totó mit seiner „Mutter“ (links unten) auf der Insel dargestellt wird, einen phantastischen Eindruck.

Abbildung 4: Ansprache der Zuschauer

MB 01:12:32: Nachdem Totó die favela-Bewohner gerettet hat, verschwindet er. Als „neuer“ Totó werden die Zuschauer von den Figuren angesprochen. Im Hintergrund ist im bunten Gewand der Erzähler zu sehen, der zuvor in einer Metalepse den Figuren den Tipp zur Ansprache der Zuschauer gegeben hat.

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Ökonomisch gesehen können sie [die favelados; Anm. SV] ohne einen legalen Mietvertrag kein offizielles Gewerbe anmelden und damit keinen Finanzierungskredit bei einer Bank beantragen, da sie ohne einen Vertrag juristisch ‚nicht existieren‘. Von Seiten der Polizei und der Gerichte erwartet sie statt Hilfe gegen die Ausbeutung aufgrund des illegalen Status eher zusätzliche Repression. Aus dem gleichen Grund fühlten sich die städtischen Versorgungsunternehmen lange Zeit nicht zuständig, die Infrastruktur und die Grundversorgung mit Strom, Wasser und Abwasser in den Favelas zu sorgen. (Ebd.)

Zugleich werden Stigmatisierungen der und Vorurteile gegenüber den favelados durch den medialen Diskurs, der das Bild der favela als Hort von Kriminalität und Drogenhandel stetig reproduziert, bestätigt und verstärkt (vgl. Freire, 2010: 77).32 Die Abbildung dieses politischen Konflikts um Wohnraum in der Stadt macht die thematische Politizität von O MILAGRE NA BAÍA aus. Als politisches Theater weist die Aufführung darüber hinaus eine politische Wirkungsabsicht auf: O MILAGRE NA BAÍA positioniert sich in der dargestellten Geschichte aufseiten der favelados und fordert den Zuschauer auf, sich politisch zu beteiligen und für eine Verbesserung der Situation in den favelas und der favelados einzusetzen. Indem die Wirkungsabsicht, wie im Folgenden dargestellt wird, durch Repräsentation, d.h. in Handlung, Figuren und Dialog, vermittelt wird, lässt sich die Aufführung dem dramatischen politischen Theater zuordnen. Gleichzeitig ist die Aufführung ein Beispiel dafür, wie im dramatischen politischen Theater nicht nur realistische, sondern phantastische Elemente zur Vermittlung der Wirkungsabsicht funktionalisiert werden können. Die in O MILAGRE NA BAÍA erschaffene Welt präsentiert im Gegensatz zu BAI BAI PELÔ keine realistische Abbildung des Lebens in der favela – oder sogar einer konkreten favela aus dem außertheatralen Kontext: So wird der Schauplatz der Handlung zunächst allgemein als „território“ (29:22, 19) bezeichnet, später mit dem poetischen Namen „território do céu azul“ (48:58, 28) bedacht, anstatt auf eine reale favela zu verweisen.33 Auch Salvador da Bahia wird in der Auffüh32 | In ihrer Arbeit stellt Freire (2010) eine Übersicht soteropolitanischer Zeitungsüberschriften zusammen, in denen die favela beschrieben wird. Die Ergebnisse zeigen deutlich, wie sehr die negative Berichterstattung mit Überschriften wie „Tráfico põe bairros em guerra“ (ebd.: 76) oder „Invasões já são mais de 30% da àrea ocupada de Salvador“ (ebd.) dominiert. 33 | Für den über das Stadtgeschehen oder politisch informierten Zuschauer kann dieser Name zwar als ein Hinweis auf die reale soteropolitanische favela Paraíso Azul verstanden werden, allerdings ist der Bezug nicht explizit sichtbar. Dabei kann die Entwicklung von Paraíso Azul als Modell für „o território sob o céu azul“ gelten. Seit den 1970er-Jahren besteht hier ein Konflikt zwischen Bewohnern der illegal errichte-

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rung nur als „a cidade“ (z.B. 20:45, 14) bezeichnet. Die in O MILAGRE NA BAÍA auftretenden favela-Bewohner sprechen ebenfalls nicht das typische baianês der unteren Schichten des realen Salvadors, sondern ein gehobenes Portugiesisch. Mit den pastellfarbenen Kleidern der Frauen sind auch die Kostüme der favelaBewohner nicht im zeitgenössischen Salvador da Bahia verortet. Anstatt in der durch repräsentationale Elemente konstruierten Welt eine Illusion von Realität zu erschaffen, wird der Zuschauer beständig auf die Fiktionalität der theatralen Handlung aufmerksam gemacht. Eine solche „Potenzierung von Fiktionalität“ (Schultze, 2005: 200) hat mit Poschmann im Theater folgende Wirkung: Wer, anstatt die ‚reale‘ Lebenswelt nur zu repräsentieren, darunter oder daneben andere ‚irreale‘ Welten erfahrbar macht, verweist auf das Heterogene, auf ‚ungedeutete und ungelebte Phantasien‘, auf ‚Gegenentwürfe‘, auf die prinzipielle Möglichkeit des anderen. (Poschmann, 1997: 162)

Wie in Kapitel 2.1 beschrieben, ist es für politisches Theater zentral, dass von einer grundlegenden Veränderlichkeit der Realität und der gegebenen politischen Regelungen des Zusammenlebens ausgegangen und diese an den Zuschauer vermittelt wird. Diese Vermittlung von Veränderlichkeit kann im politischen Theater durch die Potenzierung von Fiktionalität unterstützt werden: Etablierte Wahrnehmungsmodi im politischen Konflikt können so erschüttert und hinterfragt werden.34 ten favela und dem Staat sowie den Bewohnern eines angrenzenden Wohnviertels der oberen Mittelschicht (vgl. Freire, 2010: 99). Nachdem die Häuser der Bewohner mehrfach von der Polizei zerstört wurden, gründeten sie 1997 die Associação de Moradores Santa Rosa de Lima, welcher es durch die Organisation von Demonstrationen sowie durch die geschickte Nutzung von Presse und Fernsehen schließlich gelang, dass die favela in ein staatliches Urbanisierungs- und Legalisierungsprogramm aufgenommen wurde (vgl. ebd.: 101): „Percebe-se assim, pelo histórico da luta, pela resistência e pela efetiva permanência na àrea que esta comunidade tem um processo organizativo construído com a percepção coletiva de que somente juntos e unidos conseguiriam se estabelecer em uma àrea de grande valor imobiliário, na qual seus vizinhos de classe média, historicamente mais poderosos, também se uniriam para tirá-los da àrea.“ (Ebd.: 103) Allerdings kann mit Blick auf die Kritiken und Zuschauerrückmeldungen (vgl. Franco, 2008: 45-51) nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Bezug von einem Großteil der Zuschauer hergestellt wurde. 34 | Poschmann ordnet aufgrund dieser Funktion, Wahrnehmungsmodi zu zerstören, phantastische Elemente in ihrer Typologie als „Grenzfall der dramatischen Form“ (Poschmann, 1997: 99f.) ein. In dieser Arbeit erfolgt die Zuordnung zu den unterschiedlichen Typen allerdings anhand der Vermittlung der Wirkungsabsicht, sodass

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

In O MILAGRE NA BAÍA wird die Fiktionalität des Gezeigten durch verschiedene Elemente betont. So wird die Aufführung im Prolog von zwei namenlosen Erzählern, im Schrifttext als „contadores de história“ bezeichnet, eröffnet (0:22-01:34, 3f.).35 Sie begrüßen die Zuschauer und stellen die Wirkungsabsicht von O MILAGRE NA BAÍA explizit vor, die sich auf diese Weise semiotisch in den sprachlichen Zeichen nachweisen lässt: Contadora de Histórias: Boa noite, bem vindos ao Theatro XVIII. […] Este foi o primeiro sinal de que as coisas não mudaram, mas hão de mudar um dia. Para isso, a Companhia Axé do XVIII, para isso, os Miúdos da Ladeira, para isso o espetáculo Milagre na Baía. (00:22-00:52, 3)

Indem sie nicht nur im Prolog in O MILAGRE NA BAÍA einführen, sondern auch im Verlauf der Aufführung immer wieder auftauchen, die Handlung zusammenfassen und kommentieren sowie auf verschiedene alternative Möglichkeiten des Handlungsverlaufes aufmerksam machen, wird die Fiktionalität der Fabel von Totó hervorgehoben: Contadores de Histórias: Totó saiu da ilha e se transformou em lenda, que é uma história de muitos princípios, meios e fins. Por exemplo, tem gente que viu Totó nadar da ilha até a cidade […] e ainda tem quem jure ter ouvido dizer que apareceu um chumbinho gigante no porto chamado Vongoli-Rei, que levou Totó para passear por três continentes. (20:25-21:18, 14)

Indem die Fabel von Totó auf diese Weise als fiktive Erzählung präsentiert wird, distanziert sie den Zuschauer von der Handlung auf der Bühne. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich jede Handlung auf unterschiedlichste Art und Weise ereignen kann – und damit die für das politische Theater entscheidende Möglichkeit von Veränderung aufzeigt. die Aufführung trotz phantastischer Elemente eindeutig als dramatisches politisches Theater verstanden werden kann. 35 | In der folgenden Analyse wird dargestellt, dass O M ILAGRE N A B AÍA mit zahlreichen metatheatralen Elementen (siehe Kapitel 4.1.2.1) arbeitet. Allerdings lässt sich O M ILAGRE N A B AÍA dem fiktionalen Metadrama und dem epischen Metadrama zuordnen – der in Kapitel 4.1.2.1 vorgestellte Typus bezieht sich dagegen nur auf das thematische Metadrama, d.h. Aufführungen, deren autoreflexive Elemente oder Isotopien sich mit der Politizität von Theater selbst auseinandersetzen. Bei O M ILAGRE N A B AÍA findet eine solche Autoreflexion nicht statt, stattdessen werden die metatheatralen Elemente allein zur Unterstreichung der fikitionsimmanent-formulierten Wirkungsabsicht verwendet. Daher verfügt O M ILAGRE N A B AÍA trotz metatheatraler Elemente nicht über mehrere Bedeutungsebenen.

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Weiter betont wird die Fiktionalität durch eine Metalepse36 am Ende der Geschichte. Grundsätzlich im epischen, vermittelnden Kommunikationssystem der Aufführung verortet, werden die Erzähler am Ende der Aufführung von den Figuren angesprochen, die sie nach dem Verbleib von Totó fragen und ihnen die Verantwortung für die Geschichte zuweisen: Mulher: Os contadores que colocaram a gente dentro dessa história devem saber. Contadores de histórias: Vocês já deviam saber, como vocês não sabem? Quando haverão de saber? (01:11:05-01:12:20, 41)

Auf Ebene der Fabel um Totó, d.h. innerhalb des von den Geschichtenerzählern geschaffenen Rahmens, wird die Fiktionalität ebenfalls unterstrichen, indem die dort dargestellte Welt nicht als Abbild der außertheatralen Wirklichkeit gezeigt wird. Stattdessen wird eine phantastische37 Welt dargestellt. Auch die in O MILAGRE Na BAÍA verwendeten theatralen Zeichen erzeugen die Isotopie einer Wirklichkeit, die der außertheatralen Wirklichkeit und ihren Normen entspricht – allerdings auch Elemente enthält, die in der „Normwirklichkeit“ (Antonsen, 2007: 581) nicht möglich wären. Bereits der Titel der Aufführung O MILAGRE NA BAÍA weist, indem er die Begriffe „Wunder“ (unmöglich) und „Baía“ (Verweis auf Normwirklichkeit) kombiniert, auf diese Phantastik hin. Die Verweise auf die Normwirklichkeit ermöglichen die einfache Übertragung des Gezeigten auf den politischen Konflikt in der außertheatralen Wirklichkeit. Durch die phantastischen Elemente bleibt der Hinweis auf die verschiedenen Möglichkeiten erhalten, Realität wahrzunehmen und zu gestalten. Im ersten Viertel der Aufführung ist zunächst unklar, ob die dargestellte Welt überhaupt auf die außertheatrale Normwirklichkeit rekurriert.38 Schauplatz ist die Insel, auf der die „Mutter“ von Totó lebt (04:00-20:30, 5-14). Die Figur der Mutter wirkt gleichzeitig menschlich und wie ein Märchenwesen: Sie trägt 36 | Der Begriff der „Metalepse“ wurde von Gérard Genette (1972) geprägt und meint „dasjenige Erzählverfahren, mit dem von einer auf eine andere Ebene der Erzählung gewechselt wird“ (Stašková, 2011: 73). 37 | Der Begriff „phantastisch“ wird in der vorliegenden Arbeit nach der Definition in Metzlers Literaturlexikon verwendet und auf das Theater übertragen. Dort wird phantastische Literatur bezeichnet als „ein der Erzählliteratur zugehöriges Genre […], das einerseits hinsichtlich der erzählten Welt auf die Normen der außertextuellen Wirklichkeit rekurriert, welche als Bezugssystem der intertextuell konzipierten Wirklichkeit zu Grunde liegt und durch den Text entsprechend nachgebildet wird, und das andererseits zugleich eine Komponente integriert, die mit den Bedingungen der Normwirklichkeit nicht vereinbar ist“ (Antonsen, 2007: 581). 38 | In diesem Fall würde die in der Aufführung kreierte Wirklichkeit beispielsweise als „Märchen“ oder „Fantasy“ zu bezeichnen sein (vgl. Antonsen, 2007: 581).

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ein blaues Kleid, ein blaues Netz und darüber einen schwarzen Netzüberwurf, weiße Netzärmel und in ihren langen braunen Haaren ein blaues Haarband aus Blüten. An ihrem Gürtel hängt Seetang, sie spricht mit Tieren und Pflanzen. Auch die blauweiße Beleuchtung, das nackte Bühnenbild und die Klaviermusik im Hintergrund geben keinen Hinweis darauf, ob die dargestellte Welt auf die Normwirklichkeit bezogen ist. Die Atmosphäre, die durch die theatralen Codes auf der Insel geschaffen wird, zeichnet eine friedliche, von der Liebe der Mutter zu ihrem Sohn bestimmte harmonische Welt. Indem diese Szenen fast ein Viertel der Aufführung einnehmen, wird zunächst eine große Distanz zur Realität aufgebaut – und damit auch zu den dort vorhandenen politischen Konflikten, die im Folgenden in der Aufführung zum Thema werden. Anstatt direkt mit der thematischen Politizität einzusteigen, wählt O MILAGRE NA BAÍA einen Einstieg, der den Zuschauer zunächst emotional anspricht, positiv stimmt und damit einen Kontrast zu den späteren Szenen kreiert. Nach circa 20 Minuten Spielzeit trifft Totó – die Mutter ist inzwischen verstorben – in der favela ein. Damit wird ein deutlicher Bezug zur realen Normwirklichkeit hergestellt und die thematische Politizität dramatisch etabliert. Die in der Normwirklichkeit „unmöglichen“ Elemente und die daraus resultierende Distanz zum realen politischen Problem bleiben erhalten. So wird das reale Problem der mangelnden Wasserversorgung in den favelas auf der Bühne mit phantastischen Elementen kombiniert: Damit sich die favelados die Zähne putzen und waschen können, führt die Figur des „Índio“ einen Regentanz auf (34:20-38:00, 21-23).39 Der Tanz führt in der phantastischen Welt von O MILAGRE NA BAÍA tatsächlich zum Erfolg: Durch Rauschen, Glitzerpapier und blaues Licht wird ein Regenschauer abgebildet. Hier zeigt sich, dass auch die Requisiten nicht realistisch sind, sondern die Fiktion betonen. Durch die Aussagen des Índio wird gleichzeitig die Verbindung zur Normwirklichkeit – und zur Politik – hergestellt:

39 | Die Darstellung des Índios ist ein Beispiel, wie scheinbar postkoloniale Elemente bei genauer Analyse eben keine politische Bedeutung tragen müssen. Zwar könnte der Umstand, dass ein indigenes Ritual die Bewohner zunächst rettet, auch als Verweis auf den Wert der Traditionen der indigenas gelesen werden – indem das Ritual die Bewohner aber selbst in Gefahr bringt und somit keine Alternative zu guter Stadtentwicklungspolitik ist, lässt sich diese Hypothese kaum aufrechterhalten. Stattdessen lässt sich die Szene eher als allgemeine Aussage lesen, wonach nicht der Glaube, sondern nur konkrete Politik etwas ändern kann. Im Bühnentext lassen sich zudem keine Hinweise finden, dass der Índio über seine Funktion im Konflikt um den Wohnraum hinaus im politischen Sinne postkoloniale Bedeutung trägt. Damit zeigt sich: Nur weil eine indigene Figur auftaucht und ein Ritual durchführt, enthält die Aufführung nicht notwendigerweise eine postkoloniale Kritik.

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Índio: Tô avisando com antecedência para vocês votarem certo, votarem num candidate que bote água nessa zorra. Não é possível que num território como esse não tenha àgua. Não é possível que um território como esse ainda dependa de mim e de Tupa para escovar os dentes. […] Quero àgua para essa gente que não sabe o que é Embasa.40 (35:30-36:21, 21)

Allerdings erweist sich die Magie nicht als zuverlässige Lösung: Der Regen weitet sich zu einem Sturm aus, der die Häuser der Bewohner zerstört – auch dies in brasilianischen favelas ein reales Problem – und kann, phantastisch, durch Kindergesang wieder beruhigt werden (38:00-40:05, 23). Auch aufseiten der Antagonisten der Favela-Bewohner, in der Aufführung repräsentiert durch den vermeintlichen Landbesitzer und einen potenziellen Käufer, findet sich die Kombination aus phantastischen Elementen und Verweisen auf die Normwirklichkeit: Während ihre Kostüme, glitzernden Anzüge, Zylinderhüte und ihre Bewegungen – bei ihrem ersten Auftritt führen sie einen Stepptanz auf (50:27-50:44, 29-31) – eher in einer phantastischen Welt verortet sind, weist der Inhalt ihrer Dialoge auf die realen Konflikte Salvador da Bahias und Brasiliens hin: Proprietário: Suborne o líder, chame a políca. Esse terreno é meu, herança do meu paí que herdou de meu avô, […], que o conquistou matando os índios que moravam nele. (52:12-52:50, 30)

Die phantastischen Kostüme, Sprechweisen und Bewegungen beeinflussen die Argumentation: Der Zuschauer wird darauf aufmerksam gemacht, wie wenig nachvollziehbar es ist, dass Landbesitz sich noch immer an der Vergangenheit und am kolonialen Gesellschaftsmodell orientiert.41 Diese Szenen zeigen, wie phantastische Elemente im dramatischen politischen Theater funktionalisiert werden können: Die phantastische Schilderung führt zu einer „radikale[n] Erschütterung der Auffassung von Wirklichkeit überhaupt“ (Antonsen, 2007: 581). Im Falle des politischen Konflikts, der in der Aufführung thematisiert wird, ermöglicht sie durch eine distanzierte Haltung der Zuschauer eine stärkere Reflexion und ermutigt sie, bestehende Gewissheiten der Realität zu hinterfragen: 40 | Embasa, Abkürzung für „Empresa Baiana de Água e Saneamento S.A.“; die mehrheitlich von der baianischen Regierung geleitete Firma ist für die öffentliche Wasserversorgung in Salvador zuständig (vgl. Embasa, 2015). 41 | Auch bei der Lösung des Konfliktes spielt die Verbindung von phantastischen Elementen und brasilianischer Realität eine entscheidende Rolle. So gibt die verstorbene Mutter, die Totó in seiner Verzweiflung erscheint (phantastisches Element), ihm den entscheidenden Hinweis, die Verfassung von 1988 (Element der Realität) für sich zu nutzen (01:03:50-01:08:00, 37-39).

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Als politisches Theater lässt sich durch die Kombination der phantastischen Darstellung mit der Abbildung des Konflikts um Wohnraum schlussfolgern, dass der diesbezüglich etablierte Diskurs hinterfragt werden soll. Dass es sich bei dem infrage gestellten Diskurs um den oben erwähnten Stigmatisierungsdiskurs handelt, zeigt die Aufführung, indem sie dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild der kriminellen favelados ein positives Bild entgegengesetzt. Der favelado Sol de Maria bietet Totó Obdach in seiner Hütte in der favela an (24:40, 17). Auch wenn die favela von Armut – repräsentiert durch Müllsäcke, in denen die Bewohner schlafen – geprägt ist, lässt sich eine Gemeinschaft ausmachen: So begrüßen sich die Bewohner morgens nach dem Aufwachen (31:30-32:00, 20). Weiterhin gelingt es den favelados mit Unterstützung von Totó, aus eigener Anstrengung und mit dem Rückgriff auf natürliche Ressourcen, Zusammenhalt und Kreativität, Drogensucht und Armut zu bekämpfen (41:00-50:25, 24-29). Dabei ermutigt er die Bewohner nicht nur, ihre Häuser wieder aufzubauen, sondern auch ihre Lebensbedingungen überhaupt zu verbessern. Symbolisch richten die Bewohner eine eigene Apotheke mit pflanzlichen Heilmitteln aus der Umgebung und eine eigene Bibliothek ein. Durch diese Neuerungen kommt es nicht nur zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen und einer neuen Qualität der Gemeinschaft der Bewohner, sondern auch zu weltweiter Anerkennung. Diese Art der Repräsentation der favelados führt auch bei den Zuschauern zu Anerkennung: Die in der Realität oftmals stigmatisierten favelados werden hier als Menschen gezeigt, welche dieselben Bedürfnisse haben wie die Zuschauer. Im Gegensatz zu dieser positiven Beschreibung der Bewohner werden der Eigentümer und der Käufer des Geländes als feige und brutal charakterisiert: So haben sie Angst, sich den favelados zu nähern, berichten aber gleichzeitig, dass sie in ähnlichen Fällen mit Gewalt gegen die Landbesetzer vorgegangen sind (50:25-55:30, 30f.). Ebenso wird ein in einer Szene in Salvador da Bahia auftretende Politiker negativ dargestellt: Político: Se eu ganhar as eleições, eu prometo, cidadãos, transformar-me em verbo dar. […] Dou a casa, a comida, o salário, a bebida, eu lhes dou minha mulher, minha amante, minha fé, meu primeiro namorado, que hoje é um homem bem casado. […] E por fim, cidadão dessa terra toda azul, se você votarem em mim lhes prometo dar o cú. (25:00-25:55, 16)

Die Figurencharakterisierungen tragen damit eine weitere Isotopie zur politischen Wirkungsabsicht der Aufführung bei: Die Sympathien werden klar auf der Seite der Bewohner und gegen das Bürgertum und die Politiker verteilt. Damit zeigt sich, dass auch in dieser Aufführung des dramatischen politischen Theaters die Positionierung innerhalb der Handlung anhand der Figurencharakterisierung vorgenommen wird.

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Die intendierten Zuschauer werden von der Aufführung zwischen den „guten“ favela-Bewohnern und den „schlechten“ Kapitalisten verortet: Die Szenen mit Eigentümer und Kapitalisten finden auf der Oberbühne statt, zu der Zuschauer und favela-Bewohner heraufblicken müssen. Die Szenen der favelaBewohner auf der Unterbühne sind dagegen unterhalb des Zuschauerraums verortet. Das Dazwischen der Zuschauer in der Aufführung lässt für die Realität ebenfalls ein Dazwischen, d.h. eine Verortung des intendierten Zuschauers in der „Mitte“ der Gesellschaft, vermuten. Damit lässt sich festhalten, dass die Schilderung des politischen Konfliktes durch phantastische Elemente und die positive/negative Figurencharakterisierung im Sinne der politischen Wirkungsabsicht zu einer Reflexion des Zuschauers aus der Mittelklasse und einer Positionierung aufseiten der favelados beitragen. Sowohl Figurencharakterisierung als auch Abbildung des Konfliktes sind Mittel der Repräsentation und sind entsprechend dem dramatischen politischen Theater zuzuordnen. Die Wirkungsabsicht wird in einer weiteren Isotopie noch expliziter auf der Bühne formuliert, indem das Verhalten, zu dem die Zuschauer aufgefordert werden, auf der Bühne abgebildet wird. Die Aufführung bildet sowohl ein richtiges als auch ein falsches Verständnis von Bürgerschaft, cidadania, auf der Bühne ab. So setzen die favelados dem vermeintlichen Besitzer und dem möglichen Käufer, die sich, nachdem sich die favela so positiv entwickelt hat, für das Gelände interessieren, zunächst Widerstand entgegen (55:30-56:48, 33-35). Ihr Mut beginnt allerdings zu schwinden, nachdem Seu Memê, ebenfalls ein Bewohner, sie darauf aufmerksam macht, dass sie als Eigentümer des Geländes zahlreiche Lizenzen und Genehmigungen kaufen müssten. Diese tragen, entsprechend der phantastischen Welt, keine realistischen Namen, verweisen aber auf ein Problem in der Realität: Seu Memê: Nada disso vai pagar as dívidas do APERTE, APARTE, APORTE… Eu quero é APITO em cima de vocês. Estão pensando o quê? Cidadania é isso!42 (01:03:2301:03:45, 36)

42 | Seu Memê wird als Figur abgewertet, indem er von den Erzählern – und damit von einer vermeintlich auktorialen Ebene – negativ charakterisiert wird: „Contadora: Ele não quer fazer e não quer que ninguém faça porque quando as pessoas fazem e têm sucesso, ele se rói de inveja.“ (57:28-57:42, 33) Kaum verschlüsselt wird durch die Figur von Seu Memê auch die Politik des damaligen Secretário de Cultura, Márcio Meirelles, kritisiert. Dieser befand sich zum Zeitpunkt der Inszenierung in einer medial ausgetragenen offenen Debatte mit Theatro XVIII (siehe Kapitel 3.1.2 und 3.2.2). Die Figur des Seu Memê, welche die favela-Bewohner durch die Auflistung der Zertifikate und Gebühren fast zur Verzweiflung bringt, trägt die Initialen von Meirelles. Die Kritik der Erzählerin gleicht der Kritik, die Aninha Franco im außertheatralen Kontext gegen

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Anschließend wird seiner Auffassung von cidadania, reduziert auf den Bürger als Steuer- oder Gebührenzahler, das „richtige“ Verständnis von Bürgerschaft gegenübergestellt: Todos: A lei não foi feita para nós infernizar, lei é valia do cidadão regular. E se chegarem para ameaçar isso aí, meta-lhe uma ação popular […] Se o polícia chefar, sem mandato invader, se bater, se cuspir, se mudar isso aí, se o politico vir prometer, não cumprir, se a mentira avançar, se a verdade sumir, se o juíz auditor, […] se o fiscal piriri vier nos castigar, e disser que isso aí vai fechar, vai abrir […] meta-lhe uma ação popular. (01:10:20-01:11:25, 39)

Indem diese Darstellung episch, das heißt in einem Lied, und von allen Figuren gemeinsam erfolgt, wird die Glaubwürdigkeit der Aussage gestärkt. Auch innerhalb der Fiktion wird belegt, dass dies die richtige Auffassung von Bürgerschaft ist: Indem sie die in der brasilianischen Verfassung garantierten Grundrechte der Bevölkerung zitieren und diese mit der Realität abgleichen, stellen die Bewohner fest, dass ihre Vertreibung illegal und mit einer ação popular, einer Popularklage, und damit verfasster politischer Partizipation (siehe Kapitel 2.1.1), zu ahnden wäre.43 Aus Furcht vor der Popularklage verschwinden Besitzer und potenzieller Käufer – die favelados können ihr Zuhause behalten. Damit verfügt O MILAGRE NA BAÍA als einzige Aufführung des Korpus dieser Arbeit über ein geschlossenes, positives Ende, das den Zuschauer mit einem guten Gefühl in die Wirklichkeit entlässt (ebd.). Um trotz dieses positiven Endes auf der Bühne dem Zuschauer einen anhaltenden Handlungsbedarf für die Realität zu vermitteln, wird die durch die betonte Fiktionalisierung der Handlung und die phantastischen Elemente geMeirelles vorbrachte. Damit weist die Aufführung parallel zum Konflikt um Wohnraum noch auf ein weiteres politisches Thema hin: die Kritik an der Kulturpolitik in Salvador. 43 | Die Popularklage ist ein Gesetz aus dem Jahr 1965 (Lei Nº 4.717, de 29 de Junho de 1965), das 1988 in die brasilianische Verfassung aufgenommen wurde: „Qualquer cidadão é parte legítima para propor ação popular que vise anular ato lesivo ao patrimônio público ou de entidade de que o Estado participe, à moralidade administrativa, ao meio ambiente e ao patrimônio histórico e cultural, ficando o autor, salvo comprovada má-fé, isento de custas judiciais e do ônus da sucumbência.“ (Ebd.) Weiterhin ist festgelegt: „É conferido a todos, pessoalmente ou através de associações de defesa dos interesses em causa, o direito de ação popular nos casos e termos previstos na lei, incluindo o direito de requerer para o lesado ou lesados a correspondente indenização, nomeadamente para: a. Promover a prevenção, a cessação ou a perseguição judicial das infracções contra a saúde pública, os direitos dos consumidores, a qualidade de vida e a preservação do ambiente e do património cultural.“ (Ebd.: Art. 52)

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schaffene Distanz zwischen Realität und Fabel am Ende aufgelöst. Dazu bedient sich die Aufführung ebenfalls der Repräsentation: Totó wird in der gesamten Aufführung als positiver, kindlicher Held, d.h. großzügig, barmherzig und empathisch, wenn auch ein wenig naiv, charakterisiert.44 Während des Liedes Metalhe uma ação popular, mit dem die Bewohner die Vertreibung des Besitzers und des Käufers zelebrieren, verschwindet Totó (01:11:30, 41). Die Figuren suchen ihn, sprechen dafür wie oben beschrieben sogar die Erzähler an, bis ein Kind schließlich lächelnd auf die Zuschauer zugeht und eine Zuschauerin anspricht: „Eu já sei! Ali! A senhora que sorria!“ (01:12:30, 41) Die übrigen Figuren sprechen nun ebenfalls verschiedene Zuschauer als Totó an. Die zuvor gezogene klare Abgrenzung zwischen Realität und Fiktion wird durch eine Filmeinspielung gebrochen: Eine Projektion auf den Vorhang im Theaterraum zeigt, wie der gesuchte Totó das reale Theatro XVIII verlässt, die Straße hochspringt, noch einmal zurückwinkt und „O mundo é grande!“ ruft (01:12:30-01:13:10).45 Diese explizite Übertragung am Ende verstärkt den Appell der Aufführung an den Zuschauer: Die zuvor abstrahiert vermittelte politische Botschaft wird durch den Kontrast zu den vorherigen Szenen umso kraftvoller auf die Realität projiziert. Das auf der Bühne abgebildete Verhalten von Totó wird so auf die Zuschauer übertragen. Diese müssen nun die Verantwortung für eine Umsetzung des positiven Endes in der Wirklichkeit übernehmen. Die Zuschauer aus der Mittelklasse werden also als potenzielle Helden in den realen Konflikten adressiert. In der Totalität des Sinnes der Aufführung wird durch sprachliches und nichtsprachliches Handeln eine politische Wirkungsabsicht vermittelt, welche den Einsatz der Mittelklasse für eine Verbesserung der Situation der favelados fordert. Die Aufführung ist ein Beispiel für dramatisches politisches Theater, welches sich phantastischer Elemente bedient. Diese und die Fiktionalisierung ermöglichen, dass das Problem distanziert reflektiert wird, die Realität als veränderbar wahrgenommen und vorgefasste Meinungen hinterfragt werden. Nachdem dies erfolgt ist, unterstützt O MILAGRE NA BAÍA durch die Aufhebung der Grenzen von Fiktion und Realität die Übertragung der durch die Aufführung aktivierten Haltungen der Zuschauer auf den außertheatralen Kontext, die durch die vorherige Distanzierung umso eindrücklicher wirkt.

44 | Im Gegensatz zum Politiker und Seu Memê strebt Totó eben keine Macht oder keinen Besitz an: „Mãe: É so um jogo! E se você jogar com o coração limpo, você ganha, porque você não quer poder, quer apenas puder.“ (01:07:05-01:07:12, 38) 45 | Diese Filmeinspielung ist ein Beispiel dafür, wie epische Elemente die Fiktion auf der Bühne eben nicht infrage stellen, sondern die Wirkungsabsicht unterstützen.

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4.1.1.3 A Ó PER A DOS TRÊ S R E AIS – Brecht im gegenwärtigen Brasilien Ser homem bom! Sim, quem não gostaria? […] Mas as circunstâncias não são assim. (Peachum, A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS)

Die auf der DREIGROSCHENOPER46 von Bertolt Brecht und Kurt Weill basierende Inszenierung47 A ÓPERA DOS TRÊS REAIS wurde am 08.10.1998 von Bando de Teatro Olodum unter der Regie von Márcio Meirelles im großen Saal des Teatro Vila Velha uraufgeführt.48 Die Aufführung A ÓPERA DOS TRÊS REAIS orientiert sich am Theatertext von Bertolt Brecht.49 Ebenso wie die DREIGROSCHENOPER ist 46 | Diese basiert wiederum auf der B EGGAR ’S O PERA von John Gay (UA 1728) (vgl. Brecht, 2005c: 191). 1978 wurde die Geschichte der D REIGROSCHENOPER von Chico Buarque de Holanda unter dem Titel Ó PERA DO M ALANDRO (1978) in den brasilianischen Kontext übertragen. Die Uraufführung wurde von Luiz Antônio Martinez Corrêa von Teatro Oficina inszeniert. Zu den Verbindungen von B EGGAR ’S O PERA , D REIGROSCHENOPER und Ó PERA DO M ALANDRO vgl. Oliveira (2011a). 47 | Die Aufführung war bereits die zweite Adaptation der D REIGROSCHENOPER von Bando de Teatro Olodum. Die erste Inszenierung wurde unter der Regie von Chica Carelli mit dem Titel Ó PERA DOS TRÊS MIRRÉIS am 31.10.1996 uraufgeführt. Die Inszenierung wurde eng an die TRILOGIA DO P ELÔ (siehe Kapitel 4.1.1.1) angeknüpft: „A atriz Luciana Souza, por exemplo, incorporou traços de Dona Joana […], na composição de Sra. Peachum.“ (Uzel, 2003: 168) Zudem wurde „a questão racial“ (ebd.) in die Inszenierung aufgenommen. Im Archiv des Teatro Vila Velha liegt keine Videoaufnahme der Ó PERA DOS TRÊS MIRRÉIS , sodass die vorliegende Arbeit auf eine Analyse der Aufführung verzichten muss. Die Tatsache, dass derselbe Theatertext so kurz hintereinander zweimal inszeniert wurde, lässt aber vermuten, dass ein Großteil des Publikums mit der Geschichte bereits vertraut war. 48 | Text: Bertolt Brecht; Musik: Kurt Weill; Übersetzung: Wolfgang Bader und Marcos Santa Roma; Regie: Marcio Meirelles und Chica Carelli; Musikalische Leitung: Jarbas Bittencourt; Ensemble: Agnaldo Buiú, Arlete Dias, Auristela Sá, Cássia Valle, Chica Carelli, Cristovão da Silva, Ednaldo Muniz; Gerimias Mendes, Jorge Washington; Lázaro Machado, Lázaro Ramos, Leno Sacramento, Luís Fernando Araújo, Merry Batista, Nauro Neves, Nildes Vieira, Rejne Maia, Tânia Toko, Valdinéia Soriano, Rui Manthur. Die einzige im Teatro Vila Velha vorhandene Videoaufzeichnung bricht circa 10 Minuten vor dem Ende ab. Für die Analyse wurde das Ende anhand von Fotos, Schrifttext und Kritiken rekonstruiert. In diesen Fällen wird nur der Schrifttext zitiert. 49 | Indem sich die Aufführung nicht kritisch mit dem Originaltext von Brecht auseinandersetzt, sondern die im Folgenden dargestellten Verweise auf die brasilianische Realität eher ergänzenden Charakter haben, ist sie ein Beispiel dafür, dass die

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die Aufführung als Musiktheater50 angelegt. Von Brecht wurde sie als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft sowie als episches Theater konzipiert: Die ‚Dreigroschenoper‘ befasst sich mit den bürgerlichen Vorstellungen nicht nur als Inhalt, indem sie diese darstellt, sondern auch durch die Art, wie sie sie darstellt. Sie ist eine Art Referat über das, was der Zuschauer im Theater vom Leben zu sehen wünscht. Da er jedoch gleichzeitig auch einiges sieht, was er nicht zu sehen wünscht, da er also seine Wünsche nicht nur ausgeführt, sondern auch kritisiert sieht (er sieht sich nicht als Subjekt, sondern als Objekt), ist er prinzipiell imstande, dem Theater eine neue Funktion zu erteilen. (Brecht, 1991: 57f.)

DREIGROSCHENOPER und ÓPERA DOS TRÊS REAIS schildern in einem Vorspiel, drei Akten und drei Finalszenen die Existenz- und Konkurrenzkämpfe des „Räubers“ (ebd.: 60) Macheath – in der brasilianischen Übersetzung und im Folgenden: Mac Navalha – und des „Geschäftsmannes“ (Brecht, 2005c: 195) Peachum. Mac Navalha wird – wie auch alle anderen Figuren – allein durch das „Geschäftsprinzip“ (Brecht, 1991: 60) der „Rationalisierung“ (ebd.) geleitet. Peachum verdient sein Geld damit, dass er Bettler einsetzt, um das Mitleid des Bürgertums zu erzeugen und dieses zu Almosen zu bewegen (vgl. ebd.: 56). Ausgangspunkt für den auf der Bühne dargestellten Konflikt zwischen Mac Navalha und Peachum ist die Hochzeit von Mac Navalha mit Polly, der Tochter von Peachum (vgl. hier und im Folgenden Brecht, 200451 und OTR1/OTR2). Aus Zorn über den drohenden Verlust seiner Tochter setzt er Polizeichef Brown auf Mac Navalha an. Da dieser mit Mac befreundet ist und von dessen Geschäften profitiert, weigert er sich zunächst, ihn festzunehmen. Mit der Androhung öffentlicher Unruhen setzt Peachum sich schließlich durch. Nachdem Mac wiederholt gefangen genommen wurde, wird er, kurz vor der Vollstreckung des Todesurteils, von einem reitenden Boten der Königin begnadigt und in den Adelsstand erhoben. Die kommentierenden Lieder halten fest, dass es nicht in-

Adaptation eines europäischen Theatertextes nicht notwendigerweise ein politisches Projekt im Sinne eines postkolonialen re-writings (siehe Kapitel 2.1.4) ist. 50 | THE B EGGAR ’S O PERA gilt als Begründung der Ballad Opera, einer neuen Gattung des musikalischen Theaters (vgl. Hauck, 2005: 648). Diese beinhaltet „als wichtigste Neuerung die Aufnahme populärer Gesangsformen wie Ballade, Moritat und Gassenhauer“ (ebd.). 51 | Um die sprachlichen Zeichen des Bühnentextes wiederzugeben, wird im Folgenden nicht aus dem deutschen Originaltext, sondern der portugiesischen Übersetzung zitiert. Die sprachlichen Zeichen der Aufführungen orientieren sich, bis auf die markierten Abweichungen und Kürzungen, an der Übersetzung der D REIGROSCHENOPER von Bader/Santa/Selanski (2004 [1988]).

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dividuelle Fehler sind, die das Verhalten der Figuren prägen, sondern die gesellschaftlichen Umstände eine moralische Haltung unmöglich machen: Peachum: Ser homem bom! Sim, quem não gostaria? […] Mas as circunstâncias não são assim. Polly: O mundo é pobre, o homem, um vilão. (OTR1, 55:50-56:45, 50)

Auch wird das Publikum in den Liedern direkt adressiert und darauf hingewiesen, dass auch bei ihnen „primeiro o pão, mais tarde, a moral“ (OTR2, 04:2604:30, 77) kommen würde: Mac: Como viver sem crime e sem briga, nos dai, senhores, nobre ensinamento; porém, enchei-nos, antes, a barriga, depois falai, é este o seguimento. (OTR2, 04:0404:20, 77)

Im Vergleich mit den anderen Aufführungen des Korpus ist es bemerkenswert, dass in A ÓPERA DOS TRÊS REAIS nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – Subalterne oder Marginalisierte dargestellt werden. Mac, Peachum, seine Familie und Brown lassen sich dem Bürgertum zuordnen.52 Damit schafft die Aufführung keine Diskrepanz zwischen den auf der Bühne dargestellten Figuren und intendierten Zuschauern. Stattdessen wird das Bürgertum im Zuschauerraum direkt kritisiert. Damit diese Kritik angenommen werden kann, wird eine Distanzierung durch Historisierung besonders notwendig. Nicht nur in der präsentierten Fabel, auch in der Umsetzung auf der Bühne orientiert sich A ÓPERA DOS TRÊS REAIS am epischen Theater Bertolt Brechts (siehe Kapitel 2.2.1.2). Neben den bereits erwähnten, jeweils frontal zum Publikum gesungenen Songs wendet die Aufführung weitere „klassische Elemente“53 des epischen Theaters an: Die jeweils folgende Handlung wird zu Beginn jeder Szene von der Erzählerin zusammengefasst, es werden Filmprojektionen eingesetzt, die Musiker sind auf der Bühne deutlich sichtbar platziert, Umbauten 52 | Brecht (1991: 60) weist darauf hin, dass Macheath eindeutig als Vertreter des Bürgertums zu erkennen sein soll: „Macheath ist vom Schauspieler darzustellen als eine bürgerliche Erscheinung. Die Vorliebe des Bürgertums für Räuber erklärt sich aus dem Irrtum: ein Räuber sein kein Bürger. Dieser Irrtum hat als Vater einen anderen Irrtum: Ein Bürger sei kein Räuber.“ Auch Polly ist nicht von romantischen, sondern kapitalistischen Interessen geleitet (vgl. ebd.: 62) 53 | Auch in der Uraufführung der D REIGROSCHENOPER am 31.08.1928 wurden von Regisseur Erich Engels zahlreiche episierende Elemente eingesetzt, von Licht- und Szenenwechsel vor den Liedern über die Sichtbarkeit der Band auf der Bühne und dem Umbau bei halb geöffneten Vorhang bis hin zur Einblendung der Zwischentitel (vgl. Hauck, 2005: 651).

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werden vor den Augen der Zuschauer durchgeführt und auch die Spielweise der Schauspieler bemüht sich um den von Brecht geforderten „zeigenden Gestus“.54 Die Historisierung von Brecht, dessen Kritik sich auf die bürgerliche Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezog, den Schauplatz der Aufführung aber ins viktorianische London verlegte, da es „entfernt genug ist, um es mit Abstand kritisch beurteilen zu können, sodass die Zuschauer leicht heraussuchen können, was sie angeht“ (Brecht, 1988: 424; vgl. auch Hauck, 2005: 650), wird von A ÓPERA DOS TRÊS Reais (zumindest teilweise) nachvollzogen: Im Bühnentext (in der Vorrede des Erzählers, durch die Kostüme – braune Dreiteiler und Hüte bei den männlichen Figuren, Kleider bei den weiblichen Figuren – und Requisiten) wird die Aufführung ebenfalls im Londoner Stadtviertel Soho im viktorianischen Zeitalter verortet. Durch die epische Umsetzung der Fabel wird das Publikum aus dem Bürgertum aktiviert und anstelle einer Einfühlung in die Figuren zur Reflexion des eigenen Verhaltens angehalten. Zudem wird es als Verantwortlicher für eine Veränderung der auf der Bühne dargestellten Umstände angesprochen. So fordert Mac das Publikum als „maior autoridade“ (98) auf, ihn nicht sterben zu lassen. Später begründet Peachum die Rettung von Mac mit der beabsichtigten Wirkung auf das Publikum, das im Gegensatz zum wirklichen Leben nun ein gutes Ende erfahren soll: Peachum: Prezado público, lá vem o fim: O senhor Mac Navalha será enforcado, pois toda a cristandade age assim – cada qual paga seu pecado. [...] Na ópera, a injustiça que nos laça fica vencida, às vezes, pela graça. (105)

Somit lässt sich auch bei A ÓPERA DOS TRÊS REAIS ein deutlicher Hinweis auf die Fiktionalität des Gezeigten feststellen.55 Realität und Fiktion werden hier explizit gegenübergestellt, um den Zuschauer anzuhalten, in der wirklichen Welt zu

54 | So spricht die Schauspielerin von Polly ihre Abschiedsworte an Mac mit spürbarer Distanzierung. Allerdings wurde die Spielweise der Schauspieler – wie im übrigen die gesamte Inszenierung – von der baianischen Theaterkritik negativ bewertet: „A frieza da interpretação dos atores não tem exatamente a ver com o chamado distanciamento ou estranhamento brechtiano.“ (Lôbo, zitiert nach Uzel, 2003: 213f.); „Apesar do trabalho de voz e do esforço de atuação, os atores estão longe da proposta de comentar a ação através da música.“ (Luiz, zitiert nach Uzel, 2003: 217; Herv.i.O.) 55 | Diese Ansprache an das Publikum ist ebenfalls ein metatheatrales Element, dass, ähnlich wie bei O MILAGRE NA BAÍA funktionalisiert wird, indem es die Fiktionalität der Aufführungssituation bewusst macht (siehe Kapitel 4.1.1.2). Auch hier wird allerdings keine zweite Bedeutungsebene im Sinne der vorliegenden Studie kreiert, da politisches Theater selbst nicht thematisiert wird.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

agieren. Im dritten Ende wird diese Opposition von allen noch einmal wiederholt und auf diese Weise verstärkt: Peachum: Por isso, fiquem todos onde estão para cantar o coral dos mais pobres deste mundo, cuja vida dura vocês representaram hoje, pois, na realidade, justamente o fim deles é que é péssimo. [...] Todos: Jamais persigam tanto a iniqüidade, pois ela mesma exaugere seu alento. Pensem na noite fria que invade o nosso vale, cheio de lamento. (107)

In der konsequenten Umsetzung des epischen Theaters von Brecht wird das Publikum nicht zur Aktion, sondern zur Akzeptanz der herrschenden Bedingungen aufgerufen und provoziert so den im epischen Theater vorgesehenen Widerspruch des Zuschauers gegenüber dem Gezeigten (siehe Kapitel 2.2.1.2). Mit dieser klassischen szenischen Umsetzung im Sinne des epischen Theaters folgt A ÓPERA DOS TRÊS REAIS dem Prinzip der Repräsentation und kann in der vorliegenden Arbeit dem dramatischen politischen Theater zugeordnet werden: Sie hinterfragt in der szenisch dargestellten Geschichte die verbindlichen Regelungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben in der bürgerlichen Gesellschaft prägen und widmet sich damit einem politischen Thema. Indem epische Elemente das Publikum zunächst zu einer Reflexion, dann zu einer Aktion in der realen Welt aufrufen, liegt eine dramatisch vermittelte politische Wirkungsabsicht vor. Damit ist ÓPERA DOS TRÊS REAIS ein Beispiel dafür, wie epische Elemente im dramatischen politischen Theater zur Stärkung der Wirkungsabsicht eingesetzt werden können. Allerdings geht der Bühnentext über diese allgemeine politische Kritik deutlich hinaus: A ÓPERA DOS TRÊS REAIS nimmt auf die brasilianischen Präsidentschaftswahlen 1998 Bezug. Damit zeigt die Aufführung gleichzeitig exemplarisch, welche Anpassungen zeitgenössisches, dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia vornimmt, um die politische Wirkung klassischen politischen Theaters zu erhalten. Bei den Präsidentschaftswahlen setzte sich am 04.10.1998 Fernando Henrique Cardoso von der Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) gegen Lula da Silva von der Partido dos Trabalhadores (PT) durch und konnte seine zweite Amtszeit antreten.56 56 | Parallel zur Präsidentschaftswahl trat in Bahia auf Gouverneursebene César Borges der Magalhães-Partei PFL (siehe Kapitel 3.1.1) gegen João Durval Carneiro der Partido Democrático Trabalhista (PDT) und Zezéu Ribeiro der PT an. Nachdem noch im Juni 1998 Borges und Carneiro bei Wahlprognosen mit 35% und 29% relativ nah beieinander gelegen hatten, konnte Borges im Oktober 56% der Stimmen auf sich vereinen, während Carneiro nur 15% der Stimmen erhielt (vgl. Datafolha, 1998). Anders als auf Bundesebene spielte der kaum bekannte Kandidat der PT mit konstant circa 5% der Stimmen keine Rolle (vgl. ebd.).

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Abbildung 5: Peachum als Prediger

OTR1 12:57: Die Figur Peachum erinnert in ihren Gesten stark an einen evangelikalen Prediger und ist damit dem brasilianischen Kontext angepasst. Als einzige der Figuren interagiert er zu Beginn der Vorstellung mit den Zuschauern.

Abbildung 6: Brecht – Moderne – Brasilien

OTR1 14:55: Die drei Plakate oben zeigen das Prinzip der Aufführung als Anpassung Brechts an ein zeitgenössisches Brasilien – repräsentiert von Firmenlogo und Computer. Die unterschiedlichen Schauplätze gehen ineinander über: Rechts der Pferdestall (hier dunkel), links das Büro von Peachum, hinten das Bordell.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Der Wahlkampf war geprägt von der Kritik der PT an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der PSDB: Diese hatte in der ersten Amtszeit von Cardoso unter anderem die als Plano Real bezeichnete Währungsreform durchgeführt sowie die Privatisierung staatlicher Firmen und Reduzierung der Sozialleistungen vorangetrieben, um die hohe Inflation und wirtschaftliche Krise der frühen 1990erJahre zu bekämpfen (vgl. Zoller, 2000: 308-316). Aufgrund der Reduzierung der Sozialleistungen, steigender Arbeitslosenzahlen sowie fehlender Investitionen in das Bildungssystem wurde der PSDB, im Gegensatz zur PT, im Vorfeld der Wahl vorgeworfen, die Gegensätze zwischen Arm und Reich im Land zu verschärfen: Ligado a esse problema, parte do eleitorado passa a identificar FHC [Fernando Henrique Cardoso; Anm. SV] como despreocupado com a ‚questão social’, em contraste com Lula, cuja trajetoria política (e de vida) o credenciava como um candidato mais preocupado com os problemas sociais da população. (Carreirão, 2002: 143)57

Die erste Amtszeit von Cardoso war zudem von zahlreichen Korruptionsskandalen geprägt: Im Zuge der Privatisierung von Staatskonzernen wie der Telebrás sowie durch Währungsaufwertungen und -abwertungen bereicherten sich zahlreiche Mitglieder der PSDB auf illegale Weise (vgl. Zoller, 2000: 310f.). Damit setzte Cardoso die von Korruption geprägte Regierungsweise seiner Vorgänger José Sarney und Fernando Collor de Mello fort (vgl. ebd.).58 Auch ohne weitere Verweise könnte die Kapitalismuskritik der DREIGROSCHENOPER in diesem Kontext durch externe Umkodierung als Kritik an der marktliberalen, korrupten PSDB gelesen werden.59 Allerdings bricht A OPERA DOS TRÊS REAIS die von Brecht vorgesehene Historisierung, indem der Bühnentext durch Bezüge zum zeitgenössischen Brasilien ergänzt wird. Signifikant 57 | Zu einer ausführlichen Analyse der Wahlen von 1998 und der Wahlmotive der Wähler, auch im Vergleich zu 1989 und 1994, vgl. Carreirão (2002). 58 | Der seit 1995 von Transparency International veröffentlichte Corruption Perception Index verortet Brasilien 1998 mit einem Wert von 4.0 (10.0 wäre ein korruptionsfreies Land) auf Platz 46 von 85 (vgl. Transparency International, 1998). 2013 nahm Brasilien mit einem Wert von 42 (100 wäre ein korruptionsfreies Land) Platz 72 von 172 ein (vgl. Transparency International, 2013). Damit hat sich die Korruption in Brasilien seit den 1990er-Jahren leicht verbessert – wenn sie auch weiterhin ein großes Problem darstellt. 59 | Dabei liegt aufgrund des Premierendatums nur wenige Tage nach der Wahl die besondere Situation vor, dass während der Inszenierung nicht vorhergesehen werden konnte, ob die Aufführung im außertheatralen Kontext als Unterstützung einer neuen PT-Regierung oder als Protest gegen die wiedergewählte PSDB-Regierung gelesen werden würde.

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ist dabei besonders, dass diese Verortung nicht in den sprachlichen Zeichen, sondern durch ihre Kombination mit anderen theatralen Codes vorgenommen wird.60 Die Übertragung des Dargestellten auf die Realität wird durch die Aufhebung der historischen Distanzierung für den Zuschauer erleichtert, die Botschaft eindeutiger formuliert. Bereits der Titel weist mit „três Reais“ anstelle der „três vinténs“ der Originalübersetzung auf die von Cardoso durchgeführte Währungsreform hin.61 Zudem stehen einige Kostüme – beispielsweise ein kanariengelbes Business-Kostüm von Polly (01:27:21-01:35:00) – und einige Requisiten – beispielsweise ein Computer, der dem Büro von Peachum zugeordnet wird und der in der ersten Szene zum „Googlen“ von Pollys Verehrer genutzt wird (OTR1, 23:10-24:15) – sowie die Einblendung eines in moderner Schrifttype gehaltenen Firmenlogos „Peachum & Cia – O amigo do mendigo“ (OTR1, 14:44) in Kontrast zum viktorianischen London.62 Neben diesen allgemeinen Verweisen auf die brasilianische Gegenwart stellt die Aufführung auch explizit Bezüge zur Politik her. Von besonderer Bedeutung sind hierfür die Filmeinspielungen, ebenfalls ein typisches Element des epischen Theaters. In diesen Filmen, die während der Lieder eingeblendet werden, werden politische Konflikte und soziale Herausforderungen Brasiliens abgebildet: Protestmärsche des Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra63, die von der Militärpolizei niedergeschlagen werden, der Aufstand im Gefängnis Carandirú sowie favelas und Familien, die in Armut leben (z.B. OTR1, 04:5509:10; 35:03-37:08, 01:08:30-01:10:00; 01:23:05-01:24:00). Gegengeschnitten werden die Bilder mit Porträts der Politiker Fernando Collor de Mello, Antônio 60 | Die Inszenierung A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS ergänzt den Theatertext von Brecht um eine starke sexuelle Komponente: Filch, in der Aufführung eine weibliche Figur, hat gleich zu Beginn der Aufführung Sex mit Peachum (OTR1, 20:50-21:02), auch die Sexszenen von Mac mit den Prostituierten werden auf der Bühne dargestellt (OTR1, 43:00-46:50). Die Sexualisierung wird auch in verschiedenen Kritiken erwähnt (vgl. Uzel, 2003: 213-216). Sie verstärkt die bigotte Charakterisierung der bürgerlichen Figuren und damit auch mittelbar die politische Wirkungsabsicht. 61 | Ebenso wie der Titel von THE B EGGAR ’S O PERA und der D REIGROSCHENOPER spielt auch A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS zudem mit dem Gegensatz von „Oper“ und „drei Reais“ mit einer Anspielung auf Hoch- und Volkskultur. 62 | Die Übertragung auf den brasilianischen Kontext findet ebenfalls in der Musik statt, welche die Originalmusik von Kurt Weill um brasilianische Sambarhythmen ergänzt und „typisch“ brasilianische Instrumente wie Trommeln und das Cavaquinho einsetzt. Dieses „Crossover“ zeigt sich bereits in dem Lied Moritat de Mac Navalha, das die Aufführung eröffnet: Zunächst beginnt es mit Klaviermusik, anschließend setzen Trommeln ein, die auch auf der Bühne präsentiert werden und ein Olodum-Logo aufweisen (04:55-09:10, 13). 63 | Ausführlich zur Landlosenbewegung MST siehe Kapitel 4.1.2.1.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Carlos Magalhães, Rubens Ricúpero und Fernando Henrique Cardoso. Mit Bill Clinton, der 1998 wegen der Lewinsky-Affäre in den Schlagzeilen war, ist auch ein amerikanischer Politiker vertreten.64 Der Film wird hier, ebenso wie von Piscator und Brecht, funktionalisiert, um Bezüge zur außertheatralen Realität herzustellen und so die Wirkungsabsicht zu verstärken. Die Kritik an der christlichen Kirche, die in der DREIGROSCHENOPER nur nebensächliche Bedeutung hat (vgl. Brecht, 1991: 60), wird in A ÓPERA DOS TRÊS REAIS ausgeweitet: So wird in den Filmen auch ein Porträt des Gründers der Igreja Universal do Reino de Deus, Edir Macedo Bezerra, mit Szenen der Armut gegengeschnitten. Zudem orientiert sich Peachum in seinem Eingangsmonolog zwar grundsätzlich am Schrifttext des Originals (15f.), durch Zusätze wie „meus irmãos“, „Amem“ sowie durch den Einsatz typischer Gesten stellt er allerdings auch einen klaren Bezug zu evangelikalen Predigern her (OTR1, 10:25-14:20). Die Figur von Peachum als Profiteur des menschlichen Mitleids wird damit zu einer Kritik an den profitorientierten evangelikalen Kirchen (siehe Kapitel 3.1.1). Indem die Zuschauer von Peachum, der für diese Szene den Zuschauerraum betritt, dazu aufgefordert werden, die einzelnen Sätze seiner Predigt ebenfalls mit „Amen“ zu beschließen und er sich erst zufrieden gibt, wenn dieses in der von ihm gewünschten Lautstärke erfolgt, werden die Zuschauer aktiviert. Durch die Zustimmung zu den Aussagen von Peachum werden sie auf der Seite der kritisierten Kapitalisten verortet. In den Requisiten auf der Bühne wird der Hinweis auf die brasilianische Politik im dritten Akt platziert: Als Peachum Brown unter Druck setzt, Mac erneut zu verhaften, bereiten im Theatertext von Brecht Bettler Plakate mit Aufschriften wie „Mein Auge gab ich dem König“ (Brecht, 2005c: 248) bzw. „Dei meu olho ao Rei“ (Brecht, 2004: 79) vor. In A ÓPERA DOS TRÊS REAIS werden die Protestschilder hingegen mit Parolen beschrieben, die sich auf aktuelle brasilianische politische Konflikte beziehen: „Cadeia no Brasil é para pobre“65, „Você vai pagar a conta do PROER“ und „Bancos dão calote de 10 mil r$“66, „Aliados ‚cob64 | Offene und versteckte Anspielungen auf „die Herrschenden“ (Hauck, 2005: 648) sind bereits in THE B EGGAR ’S O PERA angelegt: „Peachum, der Hehler, Lockit, der Gefängnisdirektor, und Macheath, der Straßenräuber, tragen allesamt einzelne Züge von Premierminister Walpole und weiteren bekannten Vertretern der oberen Schichten.“ (Ebd: 648f.) Von Brecht, der nicht einzelne Personen, sondern die bürgerliche Gesellschaft an sich kritisieren wollte, wurden diese Bezüge bei der Erstellung der Dreigroschenoper entfernt (vgl. ebd.: 650). 65 | Das Schild weist im Zusammenhang mit den sich in der brasilianischen Realität häufenden Korruptionsskandalen auf die mangelnde Bestrafung der mächtigen Eliten hin. 66 | Die Schilder nehmen Bezug auf die von Fernando Henrique Cardoso durchgeführte Bankenreform „Programa de Estímulo à Reestruturação e ao Fortalecimento do

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ram‘ para aprovar a previdência“67, „Juiz manda queimar barracos do MST“68 und „Ninguém foi punido (Carandiru etc.)“69 (OTR2, 06:40). Die Schilder greifen damit zentrale Punkte der von der PT im Wahlkampf geäußerten Kritik an der PSDB auf. Im Kontext der Handlung ist es die Drohung, die Königin mit diesen Protestschildern zu konfrontieren, die Brown zum Einlenken bringt (OTR2, 11:30-14:49, 83f.). Dass die von Brecht für die DREIGROSCHENOPER vorgesehene Historisierung gebrochen wird, lässt vermuten, dass die Aufführung dem Publikum aufgrund des veränderten zeitlichen und geografischen Fokus die eigenständige Übertragung nicht zutraut bzw. einen Verlust in der Vermittlung der Wirkungsabsicht befürchtet. Das Risiko, dass etwas nicht wie intendiert verstanden wird, wird auf diese Weise minimiert – auf Kosten der distanzierten Reflexion. Trotz dieser Abweichung vom klassischen politischen Theater von Brecht lässt sich festhalten, dass A ÓPERA DOS TRÊS REAIS die politische Wirkungsabsicht – Kritik an der PSDB, Unterstützung für die PT und eine Aufforderung an den Zuschauer, die kapitalistischen Regeln des Zusammenlebens infrage zu stellen – grundsätzlich mit den Mitteln des dramatischen Theaters formuliert. Allerdings lässt sich feststellen, dass neben der Repräsentation auch Präsenz für die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht eingesetzt wird und der Bühnentext damit ein Merkmal des postdramatischen politischen Theaters aufweist. Neben dem Einsatz epischer Elemente und dem Bruch der Historisierung durch aktuelle Verweise ist die simultane Abbildung von Handlung ein leitendes Prinzip der Aufführung. Simultanität gehört laut Lehmann (2011: 344) „zu den wesentlichen Merkmalen postdramatischer Zeitgestaltung“. Der Bühnenraum, der sich über die komplette Querseite des großen Saales des Teatro Vila Velhas erstreckt, bildet gleichzeitig vier unterschiedliche Schauplätze ab: Im hinteren Teil weisen Stühle, Tische und eine Chaiselongue auf das BorSistema Financeiro Nacional“ (PROER), im Zuge derer der Bankensektor von staatlichen Mitteln in Höhe von 170 Milliarden Reais gestützt wurde (vgl. Isto É Dinheiro, 2013). Im Gegensatz zur damaligen Kritik an der „Bankenrettung“ wird PROER heute als positive Maßnahme gewertet, welche den brasilianischen Bankensektor auch für spätere Krisen widerstandsfähig gemacht hat (vgl. ebd.). Die Rückzahlung der damals ausgezahlten Mittel läuft weiterhin. 67 | Dieses Schild bezieht sich auf die Sozialversicherungsreform der PSDB, die 1998 verabschiedet wurde und unter anderem das Durchschnittsalter der Begünstigten anhob (vgl. Silva, 2004: 17). 68 | Das Schild bezieht sich auf die sich während der ersten Legislaturperiode Cardosos verschärfenden Konflikte zwischen Landbesitzern, Regierung und Landlosenbewegung. Ausführlich dazu siehe Kapitel 4.1.2.1. 69 | Das Schild mahnt den langsamen Fortschritt der Ermittlungen um das sich 1992 ereignende Massaker im Gefängniskomplex von Carandiru an.

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dell hin, auf der Vorderbühne befindet sich links, durch Schreibtisch, Computer und Bar markiert, das Büro von Peachum, ganz rechts der Pferdestall, in dem die Hochzeit von Mac und Polly stattfindet. Zwischen den beiden Schauplätzen wird mit Bett und Stuhl das Zimmer von Mac abgegrenzt, das im Verlauf der Aufführung zur Gefängniszelle umfunktioniert wird, indem von den Schauspielern eine Gitterwand vor dem Bett positioniert wird.70 Diese Raumanordnung ermöglicht, dass Ereignisse an den verschiedenen Schauplätzen simultan abgebildet werden. Besonders deutlich wird dies während der Lieder: So wird beim von Peachum gesungenen Coral Matinal de Peachum, parallel zu Gesang und begleitender Gestik und Mimik Peachums, ein Film auf der Leinwand über der Bühne eingeblendet, der Straßenkinder sowie Essenssammler auf der Müllkippe Canabrava zeigt, während Filch am Bühnenrand im Auftrag von Peachum ausgeraubt wird (OTR1, 09:37-10:20, 15). Der Zuschauer muss sich entscheiden, auf welche Handlung er seine Aufmerksamkeit richtet. Ein noch größeres Angebot erhält der Zuschauer bei dem von Mac und Brown nach der Hochzeit gesungenen Canção dos Canhões (OTR2, 35:0337:08, 39f.): Mac und Brown singen und tanzen auf der rechten Vorderbühne, hinter ihnen tanzt die Bande von Mac Samba, während die Prostituierten auf der Hinterbühne und der Erzähler auf der ersten Galerie ebenfalls tanzen – jeweils zu unterschiedlichen Choreografien. Begleitet wird die Szene wiederum von einem auf der Leinwand eingespielten Film mit Bildern von Protesten und in die Menge schießenden Polizisten. Indem wie oben beschrieben der Film den Bezug zur Gegenwart herstellt, erhält die Entscheidung des Zuschauers eine zweite Dimension, weil er festlegen muss, ob er seine Aufmerksamkeit der Geschichte oder den gegenwärtigen Ereignissen widmet. Dem Zuschauer bleibt auf diese Weise zumindest während der Lieder die Freiheit erhalten zu entscheiden, wie eng er die Fabel an die Gegenwart anbinden möchte.71 Alle 70 | Diese Aufzählung von Bühnenbild und Requisiten zeigt, dass A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS als eine der wenigen Aufführungen des Korpus über ein opulentes Bühnenbild verfügt. Neben dem Prinzip der Simultanität/Überforderung, das von dieser Art des Bühnenbilds weiter unterstützt wird, kann eine weitere Erklärung auch darin vermutet werden, dass A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS , beispielsweise im Gegensatz zu B AI B AI P ELÔ, über finanzielle Förderung durch die Firma Coelba und Fazcultura sowie des Kulturministeriums und Arbeitsministeriums verfügte (vgl. Uzel, 2003: 286). 71 | Zwar ist die Simultanität während der Lieder besonders ausgeprägt, allerdings werden die Projektionen auch während der dramatischen Szenen eingesetzt: Als Mac nach seiner Hochzeit mit Polly fliehen muss, übergibt er ihr die Leitung seiner kriminellen Geschäfte (OTR1, 58:03:00-01:04:30, 52-58). Während er ihr erklärt, was sie zu tun hat, werden Projektionen auf der Leinwand eingespielt, welche die Erläuterungen Macs ergänzen – so wird eine Liste mit den Namen der Mitglieder von Macs Bande eingespielt –, dennoch aber die Aufmerksamkeit der Zuschauer von der Szene zwischen

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simultanen Abläufe – Zeichen und Codes, die parallel verarbeitet werden müssen – führen performativ zu einer Überreizung und damit zu einer Aktivierung der Zuschauer: „Wenn das Prinzip der einen Handlung fällt, so im Namen des Versuchs, Ereignisse zu schaffen, bei denen dem Zuschauer eine Sphäre der eigenen Wahl und Entscheidung verbleibt, auf welche der gleichzeitig dargebotenen Ereignisse er sich einlassen will, verbunden mit der Frustration, den ausschließenden und begrenzenden Charakter dieser Freiheit wahrzunehmen.“ (Lehmann, 2011: 150f.; Herv. i. O.)

Tatsächlich wird hier der Zuschauer dazu gezwungen, eine Entscheidung zu treffen und Verantwortung für die Bedeutungsgenese zu übernehmen. Die Wirkungsabsicht der Aufführung, den Zuschauer zu einem „Nicht-mehr-hinnehmen-Wollen“ der PSDB-Politik zu bewegen, wird so auch durch das Erleben und Erfahren des Zuschauers unterstützt. Dennoch lässt sich A ÓPERA DOS TRÊS REAIS aufgrund der Tatsache, dass die Vermittlung der Wirkungsabsicht in epischen Elementen und in der auf der Bühne kreierten Welt gegenüber dem Erleben der Zuschauer überwiegt, insgesamt als dramatisches politisches Theater einordnen. Die dramatischen Elemente enthalten eine klare politische Botschaft. Die vermeintliche Freiheit und Verantwortung, die der Zuschauer durch die Simultanität der Handlung erhält, ist sehr eingeschränkt. Insgesamt kann die Aufführung damit als Beispiel für ein politisches Theater verstanden werden, das die Methoden des dramatischen politischen Theaters von Bertolt Brecht für den zeitgenössischen brasilianischen Kontext nutzbar macht, indem es die von Brecht vorgesehene Historisierung durch aktuelle Bezüge bricht und so den Transfer erleichtert. Die stellenweise eingesetzte Simultanität lässt sich in diesem Kontext als Experiment verstehen, wie über Repräsentation hinaus das Publikum aktiviert werden kann.

Polly und Mac ablenken. Dabei sind unterschiedliche Dominanzrelationen zwischen den parallel präsentierten Codes und Klassemen zu konstatieren: Während die Projektionen in erster Linie dem Anschluss an das zeitgenössische Brasilien dienen, stehen die auf der Bühne selbst erfolgenden simultanen Abläufe auch in Opposition zueinander und kommentieren so das Geschehen: Als Polly in Peachums Büro mit einem Lied ihren Eltern erklärt, dass sie nun mit Mac verheiratet ist (OTR1, 43:00-46:50, 43f.), wird auf der Hinterbühne dargestellt, wie er sie mit Prostituierten betrügt. Hier zeigt sich, wie Simultanität funktionalisiert wird, um die Fabel zu unterstützen und nicht postdramatisch eingesetzt wird.

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4.1.1.4 Sonderfall: C ABARÉ DA R RRRR AÇA – eine gesellschaftliche Debatte an der Schwelle zum postdramatischen Theater Boa noite, resistência. Boa noite, brancos. (Wensley de Jesus, C ABARÉ DA R RRRRAÇA)

CABARÉ DA RRRRRAÇA, geschrieben und inszeniert von Márcio Meirelles und den Mitgliedern von Bando de Teatro Olodum, wurde am 08.08.1997 im kleinen Saal des Teatro Vila Velha in Salvador da Bahia uraufgeführt. Die in der vorliegenden Arbeit analysierte Aufführung fand im November 2005 im großen Saal des Teatro Vila Velha statt.72 Er gehört zu einem der am häufigsten inszenierten Theatertexte Salvadors und gilt als erfolgreichste Inszenierung von Bando de Teatro Olodum (vgl. Uzel, 2003: 175). Seit seiner Premiere gelingt es CABARÉ DA RRRRRAÇA konstant, eine Zuschauerschaft mit hohem negro-Anteil anzusprechen (vgl. ebd.: 180).73 Nach Salvador da Bahia wurde die Inszenierung unter anderem auch in Rio de Janeiro und Recife aufgeführt (vgl. ebd.: 285). In seiner ersten Spielzeit in Salvador da Bahia löste die Eintrittspolitik, die vorsah, dass alle Zuschauer, die sich an der Kasse als negro bezeichneten, nur den halben Eintrittspreis zahlen müssten, eine landesweite Debatte aus (vgl. ebd.: 175-178). Kontrovers wurde diskutiert, ob die Maßnahme selbst rassistisch war: Die Mehrheit der baianischen und nationalen Presse sowie die Leitung von Olodum sprachen sich gegen die Eintrittspolitik aus (vgl. ebd.). Nachdem das Ministério Público erklärt hatte, dass die Aktion tatsächlich als Rassismus im Sinne der Verfassung von 1988 gewertet und mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden könnte, nahm Bando de Teatro Olodum von dem Vorhaben Abstand (vgl. ebd.). Damit ist die Inszenierung ein Beispiel dafür, wie Theater selbst zu einem Politikum der außertheatralen Wirklichkeit werden kann. Kernthema von CABARÉ DA RRRRRAÇA ist die Präsentation verschiedener Perspektiven auf die Fragestellung „O que é ser negro?“ (CDR, 01:22; Meirelles, 2005: 1). Wie in Kapitel 3.1.1 beschrieben, bleiben Rassismus und Diskriminierungen der negro-Bevölkerung in Brasilien allgemein, ebenso wie in Salvador da Bahia, auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ein Problem. Dabei dominierte in

72 | Text: Márcio Meirelles und Bando de Teatro Olodum; Regie: Márcio Meirelles; Musikalische Leitung: Jarbas Bittencourt; Ensemble: André Luís, Elane Nascimento, Auristela Sá, Cássia Vale, Clésia Nogueira, Érico Brás, Edgar Sacramento, Gerimias Mendes, Inaiara Ferreira, Jamile Alves, Jorge Washington, Leno Sacramento, S. L. Laurentino, Fábio Santana, Márcio Néri, Merry Batista, Telma Souza, Rejane Maia, Valdinéia Soriano. Das genaue Aufführungsdatum war nicht ermittelbar. 73 | Uzel stützt sich dabei auf eigene Beobachtungen, diese werden von einer Publikumsbefragung von Rattes (2007: 43) bestätigt.

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der Diskussion um Rassismus in Brasilien lange Zeit die Ideologie der miscegenação, der Rassendurchmischung, including the belief that Brazilians have long mixed across racial lines, more so than in any other society, and that nonwhites are included in the Brazilian nation (Telles, 2004: 4).

Erst ab den 1990er-Jahren wurde dieser Sichtweise, die einer Anerkennung von Rassismus als tatsächlichem Problem in der Gesellschaft entgegenstand, eine „counterideology“ (ebd.: 5) der „social exclusion“ (ebd.: 4) entgegengesetzt, „[which] holds that racism is pervasive throughout Brazilian society“ (ebd.: 5). Zudem forderte das Movimento Negro Unificado74 zunehmend eine „Betonung der Schwarzen Identität“ (Silverio, 2004: 38) durch „Affirmation eines Schwarzen Bewusstseins“ (ebd.).75 Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Relevanz von Rassismus in Brasilien und angemessene gesellschaftliche Reaktionen führten ab Mitte der 1990er-Jahre zu einer breiten politischen Debatte: The issue of race in Brazil has moved to the center of the social-policy agenda. […] For the first time in Brazilian history, social policies have begun to expli-citly promote social integration of blacks and mulattos. Such policies do not merely seek to eliminate or alleviate material poverty but also strive to eliminate or reduce class, racial, gender, and other discriminations that bar citizens from access to social justice. (Telles, 2004: 16)76

74 | Pinho (2010: 72-75) unterscheidet mit Maués (1991) insgesamt drei Phasen des „black movement“ in Brasilien: Die Frente Negra Brasileira in den 1930er-Jahren, das Teatro Experimental do Negro in den 1940er- und 1950er-Jahren und die zweite Hälfte der 1970er Jahre, geprägt durch die Gründung des Movimento Negro Unificado contra a Discriminação Racial (MNUDR, später MNU). Pinho fügt diesen Phasen noch eine letzte hinzu, die durch die „discussion and initial implementation of affirmative action policies by both the government and private initiatives“ (ebd.: 74) geprägt ist. 75 | Von Autoren wie Hofbauer wird dem Movimento Negro Unificado daher eine Essentialisierung von negro-Identitäten vorgeworfen (vgl. Hofbauer, 2006: 376-406). Zu einer Interpretation von Hofbauer vgl. Silverio (2004). 76 | Auswirkungen der Debatte auf die Politik zeigten sich beispielsweise, als 1996, ein Jahr vor der Premiere von C ABARÉ DA R RRRRAÇA , von der brasilianischen Regierung die Grupo de Trabalho Interministerial para a Implementação de Políticas de Ações Afirmativas einberufen wurde (vgl. Albuquerque/Filho, 2006: 303). Auf deren Basis wurden 2001 von der Regierung die bis heute diskutierten Quotenregelungen für bestimmte Bildungs- und Arbeitssektoren in Brasilien beschlossen (vgl. ebd.). Zur Rassenideologie in Brasilien vgl. auch Skidmore (2005 [1993]).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Abbildung 7: Gesellschaftliche Debatte

CDR 06:21: Indem alle Figuren die komplette Zeit auf der Bühne sind, präsentiert sich die Aufführung als gesellschaftliche Debatte. Das Bühnenbild erinnert mit den verschiedenen Podesten umringt von Zuschauern an einen „Laufsteg“ der Meinungen

Abbildung 8: Figuration – Wensley de Jesus

CDR 50:53: Die Figuren vertreten die unterschiedlichen Positionen in Debatten um Rassismus und bilden damit das Herz der Aufführung. Wensley de Jesus, Vertreter des Movimento Negro Unificado, kommt besondere Bedeutung zu: Als Gastgeber eröffnet er die Aufführung. Die Schminkmaske unterstreicht die afrikanischen Wurzeln der negro-Schauspieler

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CABARÉ DA RRRRRAÇA bildet diese Debatte um das Vorhandensein von Rassismus in Brasilien ab (vgl. hier und im Folgenden CDR und Meirelles, 2005). Politische Fragen werden dabei in der Aufführung ebenso thematisiert wie Identität, Zugehörigkeit sowie die Rolle der negros in der Musik, als Sexualobjekt und in der Religion. Die zentralen Eigenschaften des Bühnentextes – didaktisch, pamphletarisch, interaktiv – sowie das Ziel der Aufführung, eine Diskussion auf die Bühne zu bringen, werden dem Publikum zu Beginn der Aufführung von der Figur Wensley de Jesus präsentiert: Wensely de Jesus: Boa noite, resistência. Boa noite, brancos. Este é um espetáculo didático, panfletário e interativo. [...] E a questão que se coloca é: Você é negro? Mas, antes disso, o que é ser negro? Pois, isto queremos discutar aqui, no Cabaré da Rrrrraça. (00:35-01:30, 1)

Die von Wensley de Jesus angekündigte gesellschaftliche Diskussion wird in CABARÉ DA RRRRRAÇA gleichzeitig abgebildet und selbst vollzogen, damit ist die Aufführung gleich in zweierlei Hinsicht ein Sonderfall: Einerseits deshalb, da Kabarett als Theaterform besondere Merkmale aufweist und sich damit vom dramatischen politischen Theater unterscheidet, andererseits, weil es sowohl dramatische als auch postdramatische Elemente für die Vermittlung der Wirkungsabsicht verwendet. CABARÉ DA RRRRRAÇA kann damit als ein Beispiel dafür gelten, wie in einer Aufführung Repräsentation und Präsenz eingesetzt werden, insgesamt aber die dramatische Vermittlung nicht infrage gestellt wird.77 Bereits der Titel weist mit „Cabaré“ auf die Sonderform des Theaters hin. Nach dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft besteht Kabarett [...] aus einzelnen gespielten Szenen und Liedern (‚Nummern‘), in denen eine Person (‚Solonummer‘) oder mehrere Personen (oft Autoren und Darsteller gemeinsam) auftreten und die vielfach durch Conférencen zu einem einheitlichen Programmablauf verbunden werden. Das Hauptmerkmal dieser Gattung ist ihre Plurimedialität (gemischt z.B. aus Chansons bzw. Couplets, Gedichten, Prosaszenen, Parodien, Schattenspielen, medialen Einspielungen, Formen der Revue etc.). […] Die halbfiktionale Aufführungssituation stellt die szenische Illusion ständig in Frage und rückt das Kabarett somit in die Nähe des epischen Theaters. (Fleischer, 2007: 209)

Entsprechend besteht auch CABARÉ DA RRRRAÇA aus Einzelszenen und verzichtet auf die Präsentation einer Fabel, wie sie für das dramatische Theater üblich

77 | In Kapitel 4.2 werden mit O C ONTÊINER und P RIMEIRO DE A BRIL zwei Aufführungen analysiert, die ebenfalls über dramatische und postdramatische Elemente verfügen, in denen aber die dramatische Vermittlung hinter der postdramatischen zurücktritt.

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ist (siehe Kapitel 2.1.2).78 Die Halbfiktionalität des Kabaretts ist, wie im Folgenden dargestellt werden wird, auch für die Vermittlung der Wirkungsabsicht in CABARÉ DA RRRRAÇA von besonderer Relevanz: In allen Szenen wird keine Realität abgebildet, sondern direkt auf sie Bezug genommen. Allerdings ist festzuhalten, dass die Plurimedialität, wenn auch gegeben, in CABARÉ DA RRRRAÇA nicht sehr ausgeprägt ist: Die gespielten Szenen wechseln sich nur mit Tanzeinlagen und Liedern ab. Dramatisch werden Diskussion und politische Wirkungsabsicht in der Aufführung durch die Figuren vermittelt. Diese stellen ihre Sicht auf die Situation der negros in Brasilien dar und repräsentieren dabei die gesamte Bandbreite der gesellschaftlichen Debatte, von miscegenação bis exclusão. Durch ihre Äußerungen und Erlebnisse sowie in ihrer Reaktion auf andere Figuren werden die insgesamt 16 auftretenden Figuren ausführlich charakterisiert. Ihre Dialoge und Monologe beziehen sich – abgesehen von den Szenen um Rose Marie (siehe unten) – stets auf die außertheatrale Normwirklichkeit, nach Lehmann (2011) ein typisches Merkmal von Kabarett: Dieses „basiert auf der Möglichkeit von Anspielungen auf eine den Spielern und dem Publikum gemeinsame Lebensrealität“ (Lehmann, 2011: 102). In CABARÉ DA RRRRRAÇA sind es reale Gesetze wie die Einführung von Quoten für Universitäten, Fernsehsendungen und Werbeclips79, Zeitungen und Persönlichkeiten, die präsentiert werden. In CABARÉ DA RRRRRAÇA wird nur eine einzige Situation im engeren Sinne dramatisch auf der Bühne dargestellt. Sie zeigt, wie sehr der Alltag in Brasilien vom Rassismus geprägt wird. Die Figur Rose Marie tritt dafür in insgesamt acht kurzen Szenen, deren Beginn jeweils durch ein stimmlich imitiertes Klingeln an einer Haustür und deren Ende durch das Zuschlagen dieser Tür von ihrem 78 | Die Revue, auf Portugiesisch mit „revista“ übersetzt, war zum Ende des 19. Jahrhunderts in Brasilien ebenfalls sehr beliebt (vgl. Cafezeiro/Gadelha, 1996: 299f.). Kabarett wird von der Revue anhand des „überwiegend nichtsprachlichen Charakters der Nummern“ (vgl. Vogel, 2007: 278), der bei der Revue vorliegt, unterschieden. Die Revueform wurde beispielsweise von Erwin Piscator für sein politisches Theater genutzt (siehe Kapitel 2.2.1.2). 79 | An den unterschiedlichen Versionen des im Laufe der Zeit immer wieder angepassten Theatertextes von CABARÉ DA RRRRRAÇA lassen sich Entwicklungen in einigen politischen Debatten Brasiliens ablesen. So beantwortete Wensley de Jesus in der ersten Version (1997) die Frage „O negro consome?“ noch mit: „Consome, mas está fora da mídia. Onde estão os negros na propaganda? Você já viu? É uma raridade. Ainda bem que agora tem uma lei que obriga a inclusão de uma porcentagem de atores e modelos negros em comerciais.“ In einer späteren Version: „O maior problema não é quantidade e sim qualidade, porque nas novelas os negros sempre fazem empregados, marginais ou escravos. […] E nos livros didáticos onde é que fica a história dos negros? Nos programas infantis?“ (10f.)

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Dialogpartner markiert wird, den anderen Figuren gegenüber (z.B. 13:20-13:30, 5; 21:06-21:20, 9; 28:45-29:12, 13). Rose Marie bestreitet selbst, jemals Opfer von Diskriminierungen gewesen zu sein (11:10-11:30, 4); die Dialoge, die zwischen ihr und den Hausbesitzern entstehen, entlarven allerdings ihren eigenen Rassismus, indem sie die negro-Hausbesitzer per se nicht als solche anerkennt, sondern für die Haushälterinnen oder Portiers hält. Um den Zuschauern zu verdeutlichen, wie sehr die Haltung von Rose Marie von der Realität in Brasilien abweicht, stellt die Aufführung ihr nicht nur die empörten Reaktionen der anderen Figuren gegenüber, sondern bedient sich auch einer Parekbase (11:30-13:10, 4). Lehmann führt das „Prinzip der Parekbase“, also das „Heraustreten des Spielers aus der Rolle und der direkten Wendung an das Publikum“ (2011: 102), als eines der wichtigsten Elemente des Kabaretts an. So verlässt die Schauspielerin Rejane Maja nach der Äußerung von Rose Marie, dass sie in ihrem Leben als gut situierte negra noch keine Diskriminierung erfahren habe, ihre Rolle und widerspricht: Sie, die Schauspielerin, sei täglich Diskriminierungen aufgrund ihrer Hautfarbe ausgesetzt. Neben der Tatsache, dass auf diese Weise die Haltung von Rose Marie entkräftet wird, führt die Parekbase auch zu einem Illusionsbruch. Hier zeigt sich, dass die Aufführung trotz des Anscheins einer realen Debatte über unterschiedliche Fiktionalitätsebenen verfügt, indem die Diskrepanz zwischen Figur und Schauspielerin betont wird. Auch wenn auf die Abbildung einer Geschichte verzichtet wird, lässt sich die politische Wirkungsabsicht wie im klassischen politischen Theater zunächst aus den dramatischen Figurencharakterisierungen und der Gewichtung von Meinungen erschließen. Auf der einen Seite des Meinungsspektrums steht die Figur Wensley de Jesus. Diese vertritt in der Aufführung die Position der radikalen Teile des Movimento Negro Unificado. Diese erkennen den Rassismus in Brasilien als virulentes Problem an und propagieren eine radikale Ablehnung des von brancos geprägten Gesellschaftssystems: Wensley de Jesus: Não concordo com esse sistema estruturado por brancos há séculos para nos colocar em padrões que interessam a eles. Por isto, estou fora! Porque pra mim ser negro é isso, é estar fora, cavando, buscando evoluir. (01:00-01:15, 1)

Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums finden sich die Figuren Flávia Karine und Jacqueline. Beide verneinen das Vorhandensein von Rassismus in Brasilien (z.B. 04:23- 05:50; 07:03-08:24, 2). Zwischen diesen beiden Polen positionieren sich die Figuren Dra. Janaína, Dandara und Taíde. Alle drei erkennen die Existenz von Rassismus in Brasilien an und formulieren dies explizit in sprachlichen Zeichen. So antwortet Dra. Janaína beispielsweise auf die Frage, ob die negros Bestandteil der brasilianischen Gesellschaft seien, wie folgt:

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Dra. Janaína: É difícil. Teoricamente faz, não é? Porque todo cidadão faz parte, tá me entendendo? Agora, negro é cidadão? É cidadão no sentido pleno da palavra? Não! Basta ver a discriminação e a dificuldade de acesso à justiça para os negros. (13:34-13:55, 5)

Als Reaktion setzen sich diese aber, im Gegensatz zu Wensely de Jesus, nicht für radikale Gegenaktionen, sondern für eine Anerkennung der negro-Identität ein. Dandara: Eu, particularmente, não me sinto obrigada a nada por causa de nada. Bastam os 500 anos de escravidão nas minhas costas. […] daí a propagar a nossa fé é uma questão de opção, de identificação. (01:08:15-01:08:37, 25)

Diese Anerkennung der negro-Identität wird auch durch die Schminkmasken gestärkt, welche durch Gesichtsbemalungen die afrikanischen Wurzeln der Schauspieler betonen. Als politisches Theater präsentiert die Aufführung die unterschiedlichen Positionen nicht nur, sondern nimmt durch die Kombination der linguistischen mit paralinguistischen Zeichen eine eindeutige Wertung vor. So kommt Wensley de Jesus und seinen Thesen der exclusão aufgrund seiner häufigen Kommentare, seiner exponierten Stellung bei der Eröffnung der Aufführung (00:35-01:30, 1) und auch seiner Körpergröße von fast zwei Metern zunächst ein großer Stellenwert zu. Allerdings wirken seine ernste Mimik, seine ausladenden Gesten und seine Aussagen im Verlauf der Aufführung zunehmend pathetisch (z.B. „Eu vou mudar o destino da nação negra!“, 09:04-09:10, 4) und für das Publikum lächerlich. Mit seiner Figur wird auch die von ihm vertretene Meinung abgewertet.80 Nur einige seiner Aussagen, welche weniger radikal sind, werden nicht ins Lächerliche gezogen: „Eu quero uma inclusão justa e natural.“ (26:25-26:30, 10) Auch Flávia und Jacqueline werden mit ungewöhnlich hohen Stimmen, sehr ausschweifenden Gesten und häufigem Kichern als naiv dargestellt (04:23- 05:50; 07:03-08:24). Während die beiden Extreme der gesellschaftlichen Debatte dergestalt ihre Verwerfung erfahren, werden die in den sprachlichen Zeichen formulierten Positionen von Dra. Janaína und Dandara nicht durch andere Zeichensysteme verworfen, sondern verleihen den Figuren stärkere Glaubwürdigkeit. So stellt sich Dra. Janaina zum Beispiel durch ihren Doktortitel als besonders vertrauenswürdig dar, auch begegnen ihr die anderen Figuren während der Aufführung mit viel Respekt.

80 | Wie bereits bei B AI B AI P ELÔ (siehe Kapitel 4.1.1.1) findet sich hier eine Kritik am Movimento Negro Unificado: Nach der Darstellung von Wensley de Jesus und Marcelo überschätzen diese ihre eigene Rolle im Kampf gegen den Rassismus und drohen, die Verbindung zu den wahren Nöten der negros zu verlieren.

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Entsprechend der Plurimedialität des Kabaretts kommt Musik und Liedern in CABARÉ DA RRRRRAÇA große Bedeutung zu. Die Lieder werden entweder von einer Sängerin, einzelnen Figuren oder allen gemeinsam gesungen, stets werden sie jedoch von aufwändigen Choreografien aller Schauspieler begleitet. Die Lieder beenden jeweils einzelne Aspekte der Debatte, indem sie eine Synthese aus den verschiedenen Meinungen präsentieren und die Wirkungsabsicht der Aufführung explizit formulieren: Cantor: Cabaré, é, é, da raça / Eu quero ver a raça ser passada em revista / Pousando em posição de sentido obrigatório / Ou então quem sabe seja a raça entrevista / Na contracapa do auditório do / Cabré / da Rrrraça / Desbotar a cor do preconceito / minar a ação da discriminação / Discriminar a ação no / Cabaré / da Rrrraça. (01:3003:55, 1f.)

Als ein Beispiel für das Zusammenwirken der dramatischen und epischen Elemente in Hinblick auf die Vermittlung der Wirkungsabsicht kann die Szene dienen, die sich mit dem 13. Mai auseinandersetzt (01:09:40-01:13:25, 26f.).81 Nachdem verschiedene Meinungen zu den Feierlichkeiten mitgeteilt wurden – Jacqueline feiert den Tag jedes Jahr, Wensley de Jesus ist dagegen, den Tag zu begehen – erläutert Dra. Janaína die Hintergründe der Debatte und des Protests.82 Durch die verschiedenen Meinungen werden die Zuschauer zunächst

81 | In den 1980er-Jahren kritisierte das Movimento Negro Unificado die Feierlichkeiten dafür, dass sie einerseits den Fokus auf Prinzessin Isabela legten und den Kampf der negro-Bevölkerung ignorierten, andererseits auch vernachlässigten, dass der Großteil der negro-Bevölkerung auch nach der Abschaffung weiterhin unter schlechten Lebensbedingungen leben musste (vgl. Albuquerque/Filho, 2006: 295f.). Daher wurden die Feierlichkeiten abgelehnt, „entretanto, a data continuou importante para irmandades religiosas, cultos afro-brasileiros e comunidades quilombolas, dentre outros grupos. A celebração continuava (e continua em muitos lugares) importante, sobretudo para as gerações mais velhas. Para estes o 13 de Maio é o momento de celebrar a efetiva participação dos negros no desmonte da escravidão“. (Ebd.: 296) 1988 wurde schließlich den Forderungen des Movimento Negro Unificado nachgekommen, den 20. November, den Jahrestag der Ermordung von Zumbi (siehe Kapitel 4.1.1.2), als Feiertag der Consciência Negra einzuführen (vgl. Anderson, 1996: 546). 82 | Sie beschreibt differenziert die Gründe, warum sich die Feier aus ihrer Sicht nicht anbietet: „Dra. Janaína: O 13 de maio, enquanto lei, é importante. Oficialmente libertou os escravos. Mas trouxe mais benefícios para os brancos do que para os negros, porque não foi colocado, na Lei, nenhum artigo que tratasse da reparação ou da responsabilidade quanto aos destinos dos libertos. […] Muitos continuaram o serviço como agregados da casa, porque não tinham para onde ir. Aí vieram os

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über die Debatte aufgeklärt. Anschließend wird im Rap do 13 de maio von der Sängerin folgendes Resultat gezogen: Cantora.: O poder tem uma dança interessante, quando resolve te tirar como otário: Dá uma pirueta, inventa datas importantes, alguma coisa que só tem no calendário. […] No dia a dia de coisa nenhuma […] Cadê o país da independência? […] Tudo que eu vejo é um sistema em decadência, há muito tempo reciclando a escravidão. (01:11:15-01:12:10, 27)

Indem alle Figuren zu den Liedern tanzen, werden diese den Einzelmeinungen übergeordnet. Die Figuren interagieren nur eingeschränkt, meist wenden sich an den Zuschauer, dem sie ihre Erfahrungen und Meinungen mitteilen. Realität und Fiktion lassen sich dadurch kaum voneinander unterscheiden, häufig ist unklar, ob die Figuren oder die Schauspieler sprechen, ob tatsächliche oder fiktive Meinungen und Erlebnisse geschildert werden. Nachdem die Figur Taíde etwa zur Hälfte der Aufführung nackt auf die Bühne tritt und sich vor dem Publikum nach vorne bückt, um den Unterschied zwischen dem Mittelklasse-negro und dem mittellosen, vollständig marginalisierten „negro fodido“ (17:58-18:14, 8) zu illustrieren, kommentiert die Schauspielerin Valdinéia Soriano: Valdinéia: Eu estou baqueada. Acho isso um absurdo. Me diga você, tinha necessidade de uma cena dessas? E sabe por que está no espetáculo? Faltei um dia de ensaio e quando cheguei tinham botado. (18:20-18:40, 7)

Sofort im Anschluss wechselt sie allerdings wieder in die von ihr dargestellte Figur Jacqueline. Auf diese Weise werden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität erneut verwischt. Ebenso werden die Grenzen zwischen Zuschauer- und Bühnenraum beständig überschritten und neu definiert: So befindet sich ein Schauspieler im Verlauf der Aufführung im Zuschauerraum. Während er zunächst von seinem Platz aus halblaut das Geschehen auf der Bühne kommentiert (z.B. 05:1005:20), unterbricht er nach etwa zwanzig Minuten und erneut nach circa einer Stunde das Geschehen auf der Bühne, äußert sich zur Rolle der negros als Konsumenten und bittet andere Zuschauer und die Schauspieler um Kommentare zu diesem Thema (23:24-24:05, 9f.; 57:50-59:10, 22). Da bis zum Schlussapplaus, zu dem der Schauspieler die Bühne betritt, offenbleibt, ob er ein besonders engagierter Zuschauer oder doch Bestandteil des Ensembles ist, verwischt er nicht nur die Grenzen zwischen Realität und Bühnengeschehen, sondern imigrantes e tiveram emprego e terra para colonizar. Para os negros, nada. Percebe?“ (01:10:30-01:11:15, 26)

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ermutigt auch andere Zuschauer zur Beteiligung. Durch die Verwischung von Grenzen zwischen Schauspielern, Figuren und Zuschauern wird auch die „fiktive“ Debatte auf der Bühne zumindest teilweise zu einer „echten“ Debatte. Im Vergleich zu den in der vorliegenden Arbeit zuvor beschriebenen Formen des dramatischen politischen Theaters kommt dem Zuschauer bei CABARÉ DA RRRRRAÇA gestiegene Bedeutung zu. Auch die Eröffnung mit der Begrüßung „Boa noite, resistência, boa noite, brancos!“ (00:35-00:40, 1) teilt die Zuschauer anhand ihrer Hautfarbe zwei antagonistischen Gruppen in der gesellschaftlichen Debatte zu und macht sie so zum Teil der Diskussion. Vom passiven Zeugen der dargestellten Ereignisse wird der Zuschauer zum Akteur. Damit weist die Aufführung Happening-Elemente auf, die auf postdramatisches politisches Theater hinweisen, denn im Verlauf der Aufführung muss der Zuschauer auch selbst Stellung beziehen. Er wird dazu aufgefordert, seine eigene Meinung zu von den Figuren gestellten Fragen wie „Quem discrimina mais: O branco o negro, o negro o branco ou o negro o negro?“ (42:45-46:30, 18), „O negro é bom de cama?“ (53:25-53:50, 20), „Quando você passa na rua e alguém te chama de negona, você se sente ofendida?“ (05:26-05:32, 2) oder eigene Diskriminierungserlebnisse mitzuteilen (32:00-35:00, 14). Dabei ist die Partizipation nicht freiwillig: Die Figuren wählen jeweils die Zuschauer aus, denen sie dann im Lichtspot ein Mikrofon reichen und so lange abwarten, bis sie eine Antwort erhalten. Je nach Frage werden negro- oder branco-Zuschauer angesprochen. Dies ist damit die einzige Situation, in der auch die branco-Perspektive in die Aufführung einfließt. Indem die Figuren wiederum die Beiträge der Zuschauer kommentieren, entfaltet sich über die dramatische Abbildung hinaus eine tatsächliche Debatte zwischen Bühne und Zuschauerraum. Während die Reaktionen der Zuschauer durchaus unterschiedlich sind, lässt sich doch festhalten, dass die erzwungene Stellungnahme zahlreichen Zuschauern – insbesondere den brancos – unangenehm ist: Die in der analysierten Aufführung nach der Diskriminierungshierarchie der brasilianischen Gesellschaft befragte branco-Zuschauerin wand sich auf der Suche nach der „richtigen“ Antwort auf ihrem Stuhl (42:45-45:35). Auch die intime Frage „O negro é bom de cama?“ (53:25-53:50) sorgte für sichtbare Irritation bei der befragten Zuschauerin. Dadurch erfahren die Zuschauer – insbesondere die tatsächlich Befragten, aber auch der Rest, der jederzeit eine spontane Befragung fürchten muss – das teilweise auch unangenehme Gefühl, in der Debatte Stellung beziehen zu müssen. Dem Prinzip der Präsenz, der Wirkung auf und dem Erleben des Zuschauers, kommt an dieser Stelle in CABARÉ DA RRRRRAÇA besondere Bedeutung zu. Auch Szenen mit den nackten Schauspielern sind nicht nur Grundlage für das Wechselspiel zwischen Realität und Fiktion, sondern stehen auch beispielhaft für performative Elemente der Aufführung. Während des Liedes O Super Negão, das die Objektivierung der negros als Sexobjekt kritisiert, laufen vier

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männliche Schauspieler nackt auf die Bühne und tanzen mehrere Minuten zu axé-Musik (59:17-01:03:25, 22f.). Dabei posieren sie zum Publikum, sodass jeder Zuschauer unmittelbar mit der Nacktheit konfrontiert wird.83 Die Zuschauer im hell erleuchteten Bühnenraum werden durch die Schauspieler und die anderen Zuschauer „beim Beobachten beobachtet“ (Lehmann, 2011: 381). Die Präsenz der Aufführung wird ihnen bewusst gemacht (vgl. ebd.). Wenn auch das Publikum zum Ende der Szene in der analysierten Aufführung mit Zwischenapplaus reagiert (01:02:40-01:03:25) – auf einer übergeordneten Ebene werden die Zuschauer mit einer unangenehmen Selbstreflexion konfrontiert, indem zuerst die Objektivierung der negros kritisiert wurde, anschließend dem Zuschauer aber mit der Ausstellung der nackten Körper der Schauspieler genau eine solche nahegelegt wird.84 Dass die Aufführung zur Vermittlung ihrer Wirkungsabsicht auch transformatorische Kraft entfaltet, zeigt sich beispielhaft in der letzten Szene der Aufführung, in der die einzelnen Meinungen aufgelöst werden und die Schauspieler als Block dem Publikum gegenübertreten (01:13:25-01:14:40, 27-29). Dabei erzählt jeweils eine Figur einen rassistischen „Witz“, z.B. „Negro só sobe quando o barraco explode“, „Branco correndo é atleta, negro correndo é ladrão“ oder „Brasil só gosta de dois pretos: Pelé e asfalto“.85 Nach jedem „Witz“ sprechen die Figuren im Chor: „É o caralho.“ Durch die frontale Stellung zum Publikum ergibt sich erneut eine Situation, in der die Zuschauer beobachtet werden und ihre Reaktion so ins Zentrum der Aufführung gerückt wird. Während der aus insgesamt fünfzehn „Witzen“ bestehenden Szene wandelt sich die Stimmung im Publikum: Nachdem zunächst noch gelacht wurde, verstummt das Publikum ob der Ernsthaftigkeit der Figuren immer mehr. Es vollzieht sich im Publikum spürbar ein Prozess, in dessen Abfolge die Zuschauer erkennen, dass die „Witze“ genau den Rassismus vollziehen, der zuvor auf der Bühne angeprangert wurde.86 83 | Lehmann hält dies als eine Strategie des postdramatischen Theaters fest: „Oder die Körper stellen sich in auffallend gefallsüchtigen oder provokanten Posituren zur Begutachtung aus. […] Indem ihm [dem Zuschauer] der Akteur als individuelle, verletzbare Person gegenübertritt, wird der Zuschauer sich einer Wirklichkeit bewußt, die im traditionellen Theater überspielt wird.“ (Lehmann, 2011: 379-381; Herv.i.O.) 84 | Bei einem Gastspiel in Angola im Jahr 2006 wurde diese Szene von den Regierungsbehörden zensiert (vgl. Borges, 2006). Damit zeigt sich, wie „politisch“ die Nacktheit der Schauspieler wirken kann. 85 | Der rassistische Vergleich zwischen „asfalto“ und „Pelé“ wurde vom damaligen Verkehrsminister der Regierung Cardoso, Eliseu Padilha, bei einem öffentlichen Auftritt gezogen (vgl. Uzel, 2003: 185). 86 | Diese transformatorische Wirkung ist allerdings nicht in jeder Aufführung gegeben. Während die Reaktion des Publikums in der von der Verfasserin der vorliegenden

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Als Kabarett lässt sich CABARÉ DA RRRRRAÇA damit als Sonderform des dramatischen politischen Theaters an der Schwelle zum postdramatischen politischen Theater einordnen: Zwar bildet das dramatische Element der Figuration die Grundlage der Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht, allerdings wird diese durch performative Elemente deutlich verstärkt. Der Einsatz der postdramatischen Elemente weist, wie auch bei ÓPERA DOS TRÊS REAIS darauf hin, dass, gerade mit Blick auf Adaptationen „klassischer“ Theatertexte des politischen Theaters oder klassischer Formen wie des Kabaretts, die dramatische Vermittlung allein nicht mehr auszureichen scheint. Mit seiner Mischung aus abbildenden und performativen Elementen steht CABARÉ DA RRRRRAÇA in der Struktur der vorliegenden Arbeit am Ende der Beispiele des dramatischen politischen Theaters mit einer Bedeutungsebene.

4.1.2

Dramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia mit zwei Bedeutungsebenen

Wie in Kapitel 4.1 beschrieben, lassen sich die Aufführungen des Korpus, die sich dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen, in zwei verschiedene Typen unterscheiden: Neben den in Kapitel 4.1.1 vorgestellten Aufführungen, in denen die Wirkungsabsicht nur auf einen politischen Konflikt bezogen ist, finden sich im Korpus auch Bühnentexte, die diese eine Bedeutungsebene um weitere Ebenen ergänzen. Dabei lassen sich als erste Unterkategorie Aufführungen identifizieren, in denen sich ergänzend eine oder mehrere autoreflexive Isotopien nachweisen lassen. In anderen Bühnentexten finden sich neben den Charakteristika für dramatisches politisches Theater auch Auseinandersetzungen mit der brasilianischen Vergangenheit, die sich als Entwicklung alternativer Historiografien im postkolonialen Kontext beschreiben lassen. Diese Aufführungen bilden die zweite Unterkategorie. Mit Blick auf die Funktionalisierung der Bedeutungsebenen für das dramatische und postdramatische politische Theater werden die folgenden Analysen zeigen, dass sie, je nach spezifischer Ausgestaltung, sowohl zur Stärkung als auch zur Hinterfragung des dramatischen politischen Theaters eingesetzt werden können.

Arbeit besuchten sowie der auf Video festgehaltenen Aufführung zunächst zwar aus Gelächter, anschließend aber mehr und mehr aus betroffenem Schweigen bestand, scheint sich das Gelächter in anderen Aufführungen fortgesetzt zu haben: „Em cena, os atores flagraram espectadores fazendo coro indignado junto com eles, enquanto outros simplesmente riam. Agüentar as risadas da platéia foi um laboratório árduo para o Bando.“ (Uzel, 2003: 185)

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4.1.2.1 Metatheatrale Reflexion im dramatischen politischen Theater In den im Folgenden beschriebenen Aufführungen lässt sich neben der durch Repräsentation vermittelten politischen Wirkungsabsicht eine Bedeutungsebene nachweisen, in der politische Kunst selbst reflektiert wird. Für diese autoreflexive Ebene bietet sich die Bezeichnung „metatheatral“ an – als „alle Formen und Verfahren dramatischer und theatraler, d.h. den dramatischen Text und die szenische Realisierung betreffende, Selbstbewusstheit, Selbstreflexivität und Selbstreferentialität“ (Schultze, 2005: 199).87 In der theaterwissenschaftlichen Literatur wird zwischen unterschiedlichen Typen des Metatheaters88 unterschieden: Das „thematische Metadrama“ (Vieweg-Marks, 1989: 19) wird als „Drama über das Drama“ (ebd.) vom „fiktionalen Metadrama“ (ebd.: 22) als „Drama im Drama“ (ebd.), vom „episierenden Metadrama“ (ebd.: 25), das über ein vermittelndes Kommunikationssystem verfügt (vgl. ebd.), vom „diskursiven Metadrama“ (ebd.: 64), das „sprachliche Formen der dramatischen Selbstbewusstheit“ (ebd.) beinhaltet, vom „figuralen Metadrama“ (ebd.: 35) als Reflexion der dramatischen Rolle auf Figurenebene (vgl. ebd.: 35) und vom „adaptiven Metadrama“ (ebd.: 39) als „Bezug auf ein oder mehrere, zeitlich frühere Dramen“ (ebd.) unterschieden. Bei der Anwendung des Begriffs orientiert sich diese Arbeit an Poschmann, die sich bei der Beschreibung der „kritischen Nutzung der dramatischen Form“ (Poschmann, 1997: 88) auf das „thematische Metadrama“ (ebd.: 91) bezieht, d.h. auf Theatertexte, die das Drama als literarische Form selbst zum Thema haben und damit nicht die eigentliche Problematik der Aufführungssituation (das Theater) reflektieren, sondern Konstruktions- und Funktionsprinzipien des dramatischen Textes […]. Eben solche Theatertexte, und nur solche, die das Drama insgesamt (und nicht einzelne

87 | Tatsächlich existieren unterschiedliche Begriffsverständnisse von Metatheater. Ursprünglich von Abel anhand der Selbstbewusstheit der Akteure definiert (Abel, 1963: 45f.), wurde der Begriff von Hornby auf „drama about drama“ (Hornby, 1986: 31) erweitert. 88 | So werden die Begriffe „Metadrama“ und „Metatheater“ bei Abel (1963), Hornby (1986) und Vieweg-Marks (1989) noch synonym verwendet. Poschmann (1997: 92) definiert „Metatheater, als Theatertext, der Wahrnehmungsmodi reflektiert“. Hauthal unterscheidet Metatheater als „Metaisierung im Theater bzw. durch textexterne Mittel“ und Metadrama als „Metaisierung im Drama bzw. durch textinterne Mittel“ (vgl. Hauthal, 2009: 39; Herv.i.O.). Da sich diese Arbeit auf Aufführungsanalysen bezieht, wird ebenfalls der Begriff „Metatheater“ und „metatheatral“ gegenüber dem schrifttextbasierten „Metadrama“ vorgezogen (vgl. ausführlicher bei Hauthal, 2009: 36-60).

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Strukturelemente oder die Aufführungssituation) explizit thematisieren, sollen hier als Metadrama bezeichnet werden. (Ebd.)

Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sollen im Folgenden solche Aufführungen untersucht werden, welche die politische Wirkungsabsicht von Theater insgesamt metatheatral thematisieren.89

U M TAL DE D OM Q UI XOTE – der Triumph des dramatischen politischen Theaters Eis o teatro. Mais uma vez ocupamos a nossa trincheira. (Narradora T., U M TAL DE D OM Q UIXOTE)

Der von Cleise Mendes und Márcio Meirelles geschriebene Theatertext UM TAL DE DOM QUIXOTE wurde am 08.04.1998 zur zweiten Wiedereröffnung (siehe Kapitel 3.2.1) des Teatro Vila Velha im großen Saal des Theaters uraufgeführt.90 89 | Die in Kapitel 4.1.1.2 analysierte Aufführung O M ILAGRE NA B AÍA ließe sich beispielsweise dem fiktionalen Metatheater zuordnen. Auch wenn die vorliegende Arbeit aufgrund des Korpus nur die Wirkung metatheatraler Reflexion im dramatischen Theater untersuchen kann, ist davon auszugehen, dass auch postdramatisches politisches Theater metatheatral reflektiert werden kann. Beispiele für postdramatische Theaterformen, welche sich metatheatraler Elemente bedienen, finden sich z.B. bei Hauthal (2009: 247-330). Auf Basis ihrer Analysen hält sie fest: „Im Unterschied zu traditionell metadramatischen Bühnenstücken entkoppeln Metaisierungen in zeitgenössischen Theatertexten binnenfiktionales ‚dramatisches‘ und äußeres ‚theatrales‘ Kommunikationssystem verstärkt voneinander. Die dramentranszendenten metatheatralen Schreibweisen sind dadurch charakterisiert, dass sich die Aufmerksamkeit von Rezipienten auf den Vollzug der Aufführung bzw. den Prozess der Textlektüre auf die performative Dimension von ‚Theater-Texten‘ verschiebt.“ (Hauthal, 2009: 175) Allerdings nimmt Hauthal keine Aufführungsanalysen vor, sondern legt ihren Analysen den Schrifttextbasierten reading drama-Ansatz zu Grunde (vgl. ebd.: 61; zum reading drama vgl. Jahn, 2003). 90 | Text: Cleise Mendes und Marcio Meirelles (Miguel de Cervantes); Regie: Marcio Meirelles; Musikalische Leitung: Jarbas Bittencourt; Ensemble: Bando de Teatro Olodum: Agnaldo Buiú, Auristela Sá, Cristóvão da Silva, Cássia Valle, Ednaldo Muniz, Gerimias Mendes, Jorge Washington, Lázaro Machado, Lázaro Ramos, Leno Sacramento, Luís Fernando Araújo, Merry Batista, Tânia Toko, Valdinéia Soriano; Companhia Teatro dos Novos: Carlos Petrovich, Cristina Castro, Sônia Robatto, Ângela Andrade, Chica Carelli, Débora Landim, Hebe Alves, Marísia Motta, Sandra Colho, Tereza Araújo, Gil Onawale, Kita Veloso, Neyde Moura, Adelmo Pelágio, Agrimar de Oliveira,

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Für die Inszenierung schlossen sich die beiden Gruppen Companhia de Teatro dos Novos und Bando de Teatro Olodum zu einem großen Ensemble zusammen, sodass sich bei einer Aufführungsdauer von circa zwei Stunden insgesamt 52 Schauspieler auf der Bühne versammelten. Ebenso wie die 1998 aufgeführte A ÓPERA DOS TRÊS REAIS steht auch UM TAL DE DOM QUIXOTE im Zeichen des Präsidentschaftswahlkampfs zwischen Fernando Henrique Cardoso und Lula da Silva. Wie in Kapitel 4.1.1.3 beschrieben, argumentierten die Befürworter Cardosos im Wahlkampf insbesondere mit den von ihm in seiner ersten Amtszeit erreichten wirtschaftlichen Erfolgen für seine Wiederwahl, während seine Gegner ihm vorwarfen, diese Erfolge nur auf Kosten der armen Bevölkerung zu erreichen. UM TAL DE DOM QUIXOTE bezieht in diesem Wahlkampf Position gegen die Politik Cardosos, indem die Aufführung soziale Missstände der brasilianischen Gesellschaft aufgreift und anprangert. Während A ÓPERA DOS TRÊS REAIS erst nach der Wahl uraufgeführt wurde, schaltet sich UM TAL DE DOM QUIXOTE mit seinem Uraufführungsdatum Mai 1998 in den laufenden Wahlkampf ein. Allerdings wird die thematische Politizität von UM TAL DE DOM QUIXOTE nicht nur vom Wahlkampf, sondern auch von der ungleichen Landverteilung in Brasilien geprägt. Trotz verschiedener Versuche, eine Landreform durchzuführen, galt Brasilien auch nach der Jahrtausendwende noch als eines der Länder mit der höchsten Landkonzentrationsrate der Welt (vgl. Calcagnotto, 2003: 191).91 Da „das Latifundiensystem und damit gerade die Grundlage eines Teils des überkommenen klientelistischen, politischen Systems Brasiliens, das auf lokaler Ebene anachronistisch immer noch auf Großgrundbesitz beruht“ (ebd.: 192) einer Landreform in Brasilien entgegensteht, gilt die Landkonzentration als Ursprung der „virulentesten sozialen Konflikte“ (ebd.) in Brasilien. Die Landkonzentration wurde auch im Wahlkampf 1998 thematisiert, nachdem für die erste Amtszeit der Regierung Cardoso eine Zunahme der Konzentration verzeichnet worden war (vgl. ebd.). Auch stieg die Zahl gewalttätiger Zusammenstöße im Zusammenhang mit Landkonflikten deutlich an: Im Jahr der Aufführung wurden in ganz Brasilien 751 Konflikte mit 47 Toten sowie 89 Todes- und 46 Morddrohungen gegen Landlose gezählt (vgl. Secretariado Nacional da Comissão Pastoral da Terra, 1998: 17). Als Grund für die zunehmende Antia Bueno, Augusto Juncal, Carlos Costa, Carmem Moreira, Clarissa Gayão Fabiana Coelho, Fernanda Fachinetti, Gordo Neto, Iara Colina, Júlia Cordeiro, Karina de Faria, Lucas Valdares, Olívia Borges, Marinho Gonçalves, Marta Leão, Ricardo Fagundes, Rui Mathur, Sara Victória, Sergio Oliveira, Uirá Iracema, Vivianne Laert, Vianna Neto, Zeca Chaves. 91 | Die Ursprünge der Landkonzentration gehen zurück bis in die Zeit der portugiesischen Kolonisation, in deren Verlauf das neu entdeckte Land administrativ in verschiedene „capitanias heredetárias“ aufgeteilt wurde (vgl. Foweraker, 2001).

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Gewalt wurde auch das Versagen des Rechtsstaates angeführt, der durch kraftlose Strafverfolgungen und ausbleibende Verurteilungen die Verbrechen duldete – insbesondere dann, wenn wie im Fall des Massacre do Eldorado de Carajás92 Vertreter der Polícia Militar selbst in den Konflikt verwickelt waren (vgl. ebd.: 59). Aufseiten der Landlosen setzt sich das 1984 in Cascavel, Paraná gegründete Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) gegen die Landkonzentration sowie den „sozialen Autoritarismus traditioneller Agraroligarchien“ (Calcagnotto, 2003: 191) ein. Vom MST wurde Lula da Silva im Wahlkampf offen unterstützt (vgl. ebd.). UM TAL DE DOM QUIXOTE positioniert sich in diesem Konflikt, indem die Aufführung den von Miguel de Cervantes zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfassten Roman El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, „de[n] bekannteste[n] Text der spanischsprachigen Literatur und eines der wirkungsmächtigsten Werke der Weltliteratur“ (Wild, 2009: 667), auf der Bühne in die brasilianische Gegenwart überträgt und die Geschichte einer „Art von Dom Quixote“ erzählt. Ergänzt wird die im inneren dramatischen Kommunikationssystem abgebildete Fabel von Kommentaren, die das Selbstverständnis des Teatro Vila Velha als politisches Theater thematisieren. In der auf der Bühne präsentierten Fabel bleibt der Kern der Romanhandlung (vgl. Cervantes Saavedra, 1605) erhalten (vgl. hier und im Folgenden: UTQ1/UTQ2/UTQ3 und Mendes/Meirelles, 1998): Der alte Alonso Quijana (hier: Quixana) wird über das Lesen von Ritterromanen verrückt und zieht unter dem Namen Don Quijote (hier: Dom Quixote) aus, um die Rittertugenden zu verteidigen und die Prinzessin Dulcinea (hier: Dulcinéia) für sich einzunehmen. Begleitet wird er von seinem Knappen Sancho Panza (hier: Pança). Nachdem Quijote verschiedenen typischen Bewohnern des Siglo de Oro (hier: der soteropolitanischen Gegenwart) begegnet ist und eine Reihe von Niederlagen erlitten hat, wird er schließlich durch eine List seiner Haushälterinnen sowie der Bewohner seines Dorfes wieder nach Hause geholt, wo er schließlich im Bett verstirbt. Neben der oben beschriebenen thematischen Politizität lässt sich auf der ersten Bedeutungsebene eine durch die Fabel vermittelte politische Wirkungsabsicht nachweisen. Die Episoden folgen dem Prinzip der möglichst genauen Abbildung der baianischen Realität: Die Figuren, denen Dom Quixote begegnet, sind in baianischer Alltagskleidung gekleidet, sprechen baianische Umgangssprache und zeichnen sich durch eine natürliche Spielweise aus. Die po92 | Beim Massacre do Eldorado dos Carajás (1996) wurde ein Protestmarsch des MST von der brasilianischen Polizei angegriffen, 19 Landlose wurden ermordet (vgl. Barreira, 1999: 138). Die Befehlshaber wurden erst 2002 verurteilt und erst 2012, 16 Jahre nach dem Ereignis, wurde das Urteil vollstreckt. Die 155 weiteren beteiligten Polizisten wurden freigesprochen (vgl. Talento, 2012).

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litischen und sozialen Missstände in Brasilien werden auf dieser ersten Ebene abgebildet: Der Bauer, der im Original von Cervantes einen Knecht verprügelt, wird in der Aufführung von einem Polizisten repräsentiert, der einen vermeintlichen Taschendieb traktiert (UTQ2 10:55-13:00, 10f.).93 Kaufleute, die von Don Quijote attackiert werden, entpuppen sich in UM TAL DE DOM QUIXOTE als Vertreter des MST (UTQ2 15:07-16:02, 10f.).94 Im Hintergrund all dieser Konflikte steht das Wahljahr, in dem, wie in den sprachlichen Zeichen formuliert wird, spontane Enteignungen drohen und daher der Landkonflikt besonders spürbar wird (UTQ 25:50-26:00, 27).95 Auf welche Weise die Aufführung in dieser Schilderung Position bezieht, lässt sich anhand einer Episode illustrieren, in der Dom Quixote im Original auf Sträflinge des Königs trifft. Im Bühnentext sind es Vertreter des MST, die von der Polícia Militar zu Unrecht festgehalten werden (UTQ3 11:59-19:30, 22-24). Im Dialog zwischen Dom Quixote und Sancho Pança gibt die Aufführung eine 93 | In der Aufführung treten verschiedene Figuren der TRILOGIA DO P ELÔ auf, hier weisen die Identität des Schauspielers, das Kostüm und der Schrifttext darauf hin, dass es Soldado Leão ist, der erneut einen (vermeintlichen) Kriminellen misshandelt (siehe Kapitel 4.1.1.1). Dies kann als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass sich die Polizeigewalt zwischen 1994 und 1998 nicht verbessert hat und ein virulentes politisches Problem bleibt. 94 | Auch Gewalt gegen Frauen wird in der Aufführung thematisiert. Nachdem sich einer ihrer Freunde umgebracht hat, macht eine Gruppe von Männern seine unerfüllte Liebe zu der Frau Marcela dafür verantwortlich (UTQ2 32:34-39:05, 14-16). Ihre Aussagen zeichnen sich dabei durch besondere Brutalität aus: „Homen 2: Mulher é para ficar trancada em casa e tomar porrada. Você pode não saber porque está batendo, mas ela sabe porque está apanhando. […] Homem 7: A mulher é um ser desprovido de intelecto. Incapaz de se auto-governar. Estão destinadas ao gerenciamento masculino; não passam de uma vagina. Extirpado esse orgão, perdem a funcionalidade. Todos: Por todos os séculos dos séculos, é culpada, culpada, culpada!“ Marcela, deren Darstellung durch mehrere Frauen den Hinweis liefert, dass es sich hier nicht um ein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem handelt, antwortet: „Eu não sou obrigada, eu não me sinto obrigada. Eu nasci livre. […] Só podem me governar: Vida, Amor e Liberdade!“ Als Zeichen der Ablehnung der Unterdrückung legen die Figuren gleichzeitig ihre BHs ab. Hier findet sich ein Beispiel für den im postkolonialen Theater häufig vorkommenden Einsatz des Körpers gegen Unterdrückung (siehe Kapitel 2.1.4). Das Beispiel illustriert allerdings auch, dass dieser Einsatz nicht auf den postkolonialen Kontext beschränkt ist – so wurde das Ablegen bzw. Verbrennen der BHs in den 1970er Jahren auch als Protest gegen männliche Unterdrückung von amerikanischen Frauenbewegungen eingesetzt (vgl. Müller, 2013: 46). 95 | Die im literarischen Original nebensächliche Tatsache, wonach Dom Quixote über Ländereien verfügt, wird in der brasilianischen Gegenwart somit plötzlich signifikant.

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typische Debatte der soteropolitanischen Öffentlichkeit wieder, indem zunächst erörtert wird, ob eine Einmischung überhaupt rechtens ist: Sancho: Ah! É que tão limpando a cidade para as festas da quaresma. Aí a prefeitura manda prender os marginais tudo de vez. É prisão em bando. Dom Quixote: Mas isso é uma violência! Devo cumprir meu ofício: desfazer as injustiças e dar socorro aos miseráveis. Sancho: Não se meta não, Seu Quixote! Violência de policial é coisa certa. Aliás, não é nem violência: é castigo que eles merecem. Na minha terra, é assim. (UTQ3 12:2013:15, 22f.)

Damit präsentiert Sancho eine Argumentation, wie sie sich auch im Diskurs der soteropolitanischen Medien findet (siehe Kapitel 3.1.1 und 4.1.1.1) und welche die arme Bevölkerung als Kriminelle stigmatisiert. Diese Argumentation kontrastiert der Bühnentext mit einer Darstellung der Landlosen als Opfer willkürlicher Verhaftungen: Prisoneiro: Todo mundo aqui é trabalhador. Eu aprendi a ler com 16 anos para discutir em pé da igualdade com esses políticos aí. A terra que escolhemos para fazer nosso assentamento era improdutiva. Meu tio, aposentado pelo INCRA, não tinha mais do que viver e veio se juntar a nós, foi espancado, tá quase morto, e ninguém descobriu o culpado. Mas o policial que mataram querem dizer que fui eu. (UTQ3 15:58-16:32, 23)

Die Aufführung positioniert sich damit aufseiten der Landlosen, da sie als Opfer polizeilicher Willkür und als Menschen mit nachvollziehbaren Motiven dargestellt werden. Damit zeigt sich, dass auch in dieser Aufführung auf der ersten Bedeutungsebene die realistische Abbildung eingesetzt wird, um die Stigmatisierung der Landlosen als Kriminelle aufzuheben und ihnen Raum für ihre Argumente zu bieten. Die Dichotomien gut/böse sowie Täter/Opfer werden dabei im Bühnentext deutlich formuliert – die Landlosen, die Marginalisierten, die Straßenkinder positiv und mit verständlichen Handlungsmotiven präsentiert, die Polizei als brutal und willkürlich. Indem Sancho auf der Bühne widerlegt wird, wird der öffentliche Diskurs ebenfalls als einseitig und falsch präsentiert. Indem der Zuschauer die Möglichkeit erhält, sich in die Landlosen einzufühlen, stellt sich die Aufführung dieser Stigmatisierung entgegen. Die realistische Darstellung und die zahlreichen Verweise erleichtern den direkten Transfer des Gezeigten auf die Realität. Neben dieser Art der Vermittlung der Wirkungsabsicht – Präsentation des offiziellen Diskurses und Widerlegung durch die Handlung auf der Bühne – setzt die Aufführung auch epische Elemente ein. So führen insgesamt sieben Erzählerinnen durch die Aufführung, indem sie das Geschehen auf der Bühne

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kommentieren. Allerdings werden auch ihre Positionen, d.h. Aussagen im vermittelnden Kommunikationssystem, auf die oben beschriebene Weise stellenweise widerlegt. So wendet sich vor der Szene zwischen dem Polizisten und dem Jungen eine Erzählerin ans Publikum: Contadora M.: Como se qualquer pessoa decente não soubesse distinguir o certo do errado! Por exemplo, se um policial vê um menino, porque é pobre… […]. Se um policial vê um menino bandido com a clara intenção de roubar uma bolsa e desce a porrada, não está ele em pleno gozo do seu ofício? É lógico. Mas não… aparece logo um bando de justiceiros de meia tigela e fica essa conversa mole […] Enquanto isso a pivetada faz a festa. (UTQ2 10:10-10:55)

Während zu diesem Zeitpunkt noch ein großer Teil des Publikums geneigt sein mag, der Erzählerin zuzustimmen, widerlegt die dramatische Abbildung die Erzählerin: Anstelle der „clara intenção de roubar“ beobachtet der Junge nur die Handtaschen von Frauen (UTQ2 10:30-11:15, 9f.). Die große körperliche Überlegenheit des Polizisten gegenüber dem kleinen Jungen und die sowohl in den Schlägen als auch in den Beschimpfungen des Polizisten vorhandene Brutalität zeigen im Kontrast zur Wehrlosigkeit des Jungen, dass polizeiliche Gewalt eben nicht gerechtfertigt sein kann. Die Kombination aus epischen und dramatischen Elementen impliziert, dass „distinguir o certo do errado“ eben doch nicht so einfach ist, sondern dass der mediale und politische Diskurs hinterfragt werden muss. Scheinbare Gewissheiten des intendierten Zuschauers werden auf diese Weise dramatisch auf der Bühne entlarvt. Wie schon das literarische Original das „Thema des vollständigen Scheiterns des idealistischen Literaturliebhabers an der Wirklichkeit“ (Wild, 2009: 670) beinhaltet, bildet auch die Aufführung das Scheitern des zeitgenössischen, baianischen Quixotes an der Realität ab. In der oben beschriebenen Szene der MST-Gefangenen und der Polizei kommt Dom Quixote zu dem Schluss, dass die Gefangenen zu Unrecht festgehalten werden. Ihm gelingt es zwar, die Polizisten gemeinsam mit den Gefangenen zu vertreiben, anschließend kommt es aber, nachdem er sie zur Huldigung von Dulcinéia aufgefordert hat, zwischen ihnen zu einem Konflikt (UTQ3, 18:40-19:30, 24): Prisioneiro: A gente aqui não se ajoelha nos pés de ninguém. Essa luta não é individualmente minha, nem sua, nem dele. Essa luta é nossa. Vossa senhoria sabe que nossa luta é igualmente a vossa. (UTQ3, 19:03-19:12, 24) 96 96 | Dieses Scheitern an der Realität findet sich ebenfalls in der Konfrontation mit dem prügelnden Polizisten, der vor Dom Quixote scheinbar ehrenhaft „aufgibt“, nur um dem Zuschauer zu verkünden, dass er anschließend auf der Wache weiterprügeln wird (UTQ2 11:15-13:00, 9f.). In der Szene mit Marcela zeigt sich, dass Quixote den

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Auch Dom Quixote wird an dieser Stelle auf der Bühne widerlegt: Er beschwert sich, dass die Gefangenen mit Undankbarkeit auf ihre Rettung reagiert hätten (UTQ3 19:30-19:55, 24). Während der Zuschauer noch überlegt, ob er Quixote in diesem Fall zustimmen kann oder nicht, hält eine Erzählerin fest: Narradora H.: A cena é comovente, não? Mas não querendo ser desmancha prazer, eu lhe pergunto: Dom Quixote foi mesmo vítima da ingratidão humana? Ou teria escorregado numa velhíssima falha trágica? Ah! Pena que ele não tenho ouvida a advertência de Bertolt Brecht: „Infeliz do país que precisa de heróis.“ Pronto. Pode voltar a se comover. Era só pra lembrar que a vida é uma tragédia, quando a gente apenas sente. Mas bem que pode ser uma comédia quando a gente pensa. (UTQ3 19:55-22:45, 24)

Damit setzt die Aufführung einen Brecht’schen V-Effekt zur Distanzierung der Zuschauer vom Geschehen nicht nur ein, sondern benennt ihn währenddessen auch explizit als solchen. Damit wird seine Wirkung weiter verstärkt. Epische Elemente werden in der Aufführung eingesetzt, um die Einfühlung zu brechen und den Zuschauer zu einer Reflexion des Dargestellten, seiner eigenen Vorurteile und Reaktionen anzuhalten. Auf der ersten Bedeutungsebene werden die realistischen Szenen mit Szenen kombiniert, welche die auch im Roman zentrale Phantasiewelt von Dom Quixote, die sich mehr und mehr zu Wahnsinn entwickelt, abbilden. Diese Phantasiewelt wird durch Licht- und Musikwechsel sowie durch die Schauspieler – die Figuren der Quixot’schen Phantasie werden vornehmlich von den branco-Mitgliedern von Companhia de Teatro dos Novos, jene der Realität von den negro-Mitgliedern von Bando de Teatro Olodum dargestellt – markiert. Während in den Szenen der Realität die sprachlichen Zeichen dominieren, sind es in der Phantasie insbesondere die kinesischen Zeichen – Tanzbewegungen, Choreografien etc. –, die Bedeutung übermitteln. Besonders deutlich wird der Kontrast zwischen binnenfiktionaler „Realität“ und „Phantasie“ in der Windmühlenszene (UTQ2 26:30-28:55, 13): Hier repräsentiert der Chor abwechselnd die „realen“ Windmühlen, indem er bei weißem Licht gleichmäßig Stäbe in der Luft dreht und die von Quixote wahrgenommenen Riesen, die bei blaurotem Licht die Stäbe bedrohlich in die Luft recken und zum Schlag ausholen. Auf dieser Ebene führt die wechselnde, gleichwertige Abbildung „realistischer“ und „imaginärer“ Elemente dazu, dass der Zuschauer seine Wahrnehmung hinterfragt und verunsichert wird: Die Unterscheidung zwischen Realität und Phantasie, zwischen Vernunft und Wahnsinn wird brüchig.

Männern nichts entgegenzusetzen hat und Marcela selbst nachstellen möchte (UTQ2 32:34-39:05, 14-16).

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Abbildung 9: Scheitern an der Realität

UTQ1, 12:29: Die Episoden von Dom Quixote sind der brasilianischen Realität angepasst, anstatt eines Bauern begegnet Dom Quixote einem Polizisten, der einen Jungen verprügelt. Die Szenen werden dramatisch dargestellt, rechts beobachten die Erzählerinnen die Aufführung.

Abbildung 10: Phantasie von Dom Quixote

UTQ2, 27:59: Die Szenen, die sich in der Phantasie von Dom Quixote abspielen, werden durch blaues oder rotes Licht, Musik und choreografierte Bewegungen von den Szenen der Realität abgehoben. Hier wird der Kampf von Quixote gegen Riesen bzw. Windmühlen gezeigt.

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Im Gegensatz zu anderen Aufführungen im Korpus der vorliegenden Arbeit nutzt der Bühnentext von UM TAL DE DOM QUIXOTE das Wissen des intendierten Zuschauers, dass die Aufführung eine Adaptation ist. So kontrastiert die Aufführung in den Kommentaren die „idyllische“ Zeit, in der der Roman verfasst wurde, mit der „brutalen“ Gegenwart, in der die Aufführung stattfindet: Narradora C: Na história original de Cervantes, o padre e o barbeiro são moradores de uma pequena aldeia, que largam simplesmente seus afazeres para trazer de volta o vizinho que enlouqueceu e abraçou a cavalaria. Fazem isso com total desinteresse, por pura amizade! Agora, me diga: você que mora na aldeia total do capital, sob o império do lucro global, embalado pelo blá-blá-blá neo-liberal, e tal... Você acreditaria em personagens assim? Pois é. Por isso é que o padre e o barbeiro, aqui, são mesquinhos representantes, não do grande golpe, da grande trapaça. Mas da pequena e suja ganância de cada dia. (UTQ2 31:34-32:25, 14) 97

Dieser Kontrast verdeutlicht die von der Aufführung vermittelte Brecht’sche Hypothese, dass es die Umstände sind, die dem Menschen keine Wahl lassen, sich moralisch korrekt zu verhalten (siehe Kapitel 2.2.1.2). Der Ausdruck „neoliberal“ verweist auf die Politik von Cardoso, übertragen auf die Realität bedeutet dies: In dem von Cardoso geführten, auf erfolgreiche Wirtschaftspolitik konzentrierten Brasilien ist eine soziale Haltung nicht mehr möglich.98 Gleichzeitig 97 | Auch dies ist selbstverständlich ein metatheatrales Element, allerdings nicht dem ausschlaggebenden thematischen Metadrama, sondern dem episierenden Metadrama (siehe Kapitel 4.1.2.1) zuzuordnen. Dies ist nur ein Beispiel für die Kontrastierung, auch an zahlreichen anderen Stellen finden sich Kommentare, welche die Gegensätze zwischen Roman und Aufführung hervorheben. So kommentiert Dom Quixote: „Miserável tempo este, Sancho, em que um homem tem que roubar para afugentar o fantasma da fome. Ditosa idade e felizes séculos aqueles a que os antigos chamavam de Idade de Ouro. Toda a miséria do mundo começou quando no seio da generosa mãe terra foi fincada a palavra ‚teu‘ e ‚meu‘!“ (UTQ3 17:35-18:12, 24) 98 | Der Verweis auf die Globalisierung findet sich zudem in der Szene der Bücherverbrennungen (UTQ2 19:57-20:57, 12). Diese ist auch im Original von Cervantes enthalten, in der Aufführung wird allerdings eine politische Leseweise für die Gegenwart etabliert und mit einer Kritik an der Passivität verbunden: „Narradora C.: Esta cena parece uma cena antiga. Parece coisa da Idade Média. Caça às idéias! Caça às bruxas! Mas não é. […] Esta cena se repete todo dia, toda hora! Só que agora não se vê. […] Silenciosamente, idéias são queimadas! Informações escaneadas, manipuladas! Arquivos inteiros deletados. Nossa memória é contaminada por um vírus novo a cada dia. A cada dia é reinventada a história por hábeis programadores. Parece que nossa consciência foi incinerada junto com os livros e as idéias, e os ideais e a comoção.“ (UTQ2 20:58-22:05, 12)

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zeigt der Kontrast zwischen Original und Adaptation, dass sich die Gesellschaft über die Jahrhunderte im Hinblick auf die Stellung des branco-Mannes kaum verändert hat. So kommentiert die Erzählerin: Narradora S.: Porque Dom Quixote, como bom macho branco adulto, intelectual para realizar seus altos projetos, precisava de mulheres cuidando da casa. (UTQ2 22:3522:48, 12)

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass hier seit Jahrhunderten kein Fortschritt zu verzeichnen ist, scheint eine gesellschaftliche Veränderung umso dringender. Insgesamt lässt sich auf der ersten Bedeutungsebene damit eine realistische Abbildung der thematischen Politizität und explizite Vermittlung der Wirkungsabsicht feststellen. Durch den Kontrast zwischen Realität und Imagination auf einer Fiktionsebene sowie die Einordnung dramatischer Szenen durch epische Kommentare und umgekehrt werden der öffentliche Diskurs zum Landkonflikt hinterfragt und ein neuer Diskurs etabliert. Die Gegenüberstellung von Original und Adaptation, aber auch das Aufzeigen von Parallelen wird eingesetzt, um die aktuelle Situation noch drastischer zu schildern und so den Appell für eine gesellschaftliche Veränderung zu verstärken. Auf Grundlage dieser ersten Bedeutungsebene thematisiert UM TAL DE DOM QUIXOTE auf einer weiteren Ebene das Selbstverständnis des Teatro Vila Velha als politisches Theater.99 Diese wird insbesondere mit den sprachlichen Zeichen vermittelt und lässt sich damit als Element des dramatischen politischen Theaters einordnen. Bereits bei der Eröffnung der Aufführung durch eine der Erzählerinnen wird eine metatheatrale Reflexionsebene eingezogen, indem die Wiedereröffnung des Teatro Vila Velha thematisiert und das Theater als „trincheira“, als Schützengraben beschrieben wird: Narradora T.: Muito bem, senhores e senhoras, estamos prontos. Eis o teatro. Mais uma vez ocupamos a nossa trincheira. Dentro dela, somos indestrutíveis. […] Para reerguê-lo usamos certa mistura mágica de concreto armado, sangue, suor e teimosia […] Nós o construimos aprendendo a ser arquitetos de nosso próprio destino. (UTQ1 01:48-02:40, 2)

Damit wird das Bild eines Kampfes erzeugt, in dem das Teatro Vila Velha Stellung bezieht – und dargestellt, dass der Bau ein Zeichen dafür war, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Der Bau des Theaters stellt auch auf 99 | Die Aufführung folgt damit dem Roman, der selbst zahlreiche metafiktionale Elemente aufweist (vgl. dazu z.B. Spadaccini, 2005). Von Sprenger (1999: 29) wird Cervantes daher auch als „Pate“ der Metafiktion bezeichnet.

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eine Verbindung zur Ebene der Geschichte und zwischen Dom Quixote und den Theatermachern her: Anstatt einer Ritterrüstung trägt Dom Quixote einen Bauhelm, Stiefel und Werkzeuge. Dass es sich um einen politischen Kampf handelt, wird in einer der folgenden Ansprachen der Erzählerinnen deutlich: Narradora D.: Este teatro foi inaugurado em 1964. Naquela época era fácil saber onde morava o perigo. Ele era cor de chumbo e verde – farda. Hoje, nós e o teatro, estamos mais uma vez à beira de um tempo novo. O inimigo agora tem braços mais longos que o dos moinhos de vento. Está em toda parte, se expõe em vitrines e telas coloridas. Pode assumer mil faces, reais e virtuais, numa bruxaria nunca antes vista. Mesmo nós, que cultivamos a arte das mascaras, temos dificuldade de reconhecer seus disfarces. (UTQ2 25:45-26:27, 13)

Auch nach der Zeit der Militärdiktatur präsentiert sich das Teatro Vila Velha damit in UM TAL DE DOM QUIXOTE als Ort des politischen Widerstandes. Als Antagonisten des politischen Theaters der Gegenwart werden Globalisierung und Neoliberalismus ausgemacht, die zu einer Gesellschaft geführt haben, in der kein Raum mehr für soziales, menschliches Handeln ist. Die Gleichgültigkeit des Bürgertums gegenüber der Welt im Allgemeinen sowie der Situation der ärmeren Bevölkerung im Besonderen wird dabei von der Aufführung als der Grund angeführt, warum das System erhalten bleibt – und damit gleichzeitig als Ansatzpunkt für das politische Theater konstituiert: Narradora C.: É claro que nós sabemos que Dom Quixote era um louco. Mas nós temos juízo. Sabemos que está tudo errado neste mundo. E ficamos parados. Lindos e parados, vendo a miséria ao vivo e cores, pela televisão. Nós temos juízo, e contra o desejo de lutar, inventamos uma arma letal: a indiferença. (UTQ1 06:39-06:58, 3)

Vor dem Hintergrund dieser Diagnose präsentiert das Teatro Vila Velha sein Theater als Gegenmittel gegen die Gleichgültigkeit des baianischen Bürgertums. Dieses wird dabei explizit als dramatisches politisches Theater dargestellt. Die Abbildung von „Aventuras, armaduras / Batalhas, beligerâncias / Castelos, quimeras, cavaleiros / Duelos, disputas, desatinos. / Aventuras, armaduras / Espadas, escara-muças, / Fama, fortuna, façanhas, / Pendências, paixões e perigos“ (UTQ1 01:00-01:48, 2) kann das Publikum bewegen und aufrütteln, der Gleichgültigkeit entgegenwirken und so eine politische Wirkung erzielen. Dies wird mit dem Ende der Aufführung verdeutlicht: Das Scheitern von Quixote auf der Bedeutungsebene des politischen Konflikts wird auf der metatheatralen Ebene als Triumph gewertet. Beide Ansichten werden von den Erzählerinnen präsentiert:

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Narradora H.: O teatro! Mas o céu do teatro também tem anjos e demônios. Daí que, como tudo o mais, o teatro pode ser perigoso. É preciso estar atento e forte: todos nós podemos ser derrotados por um pobre jogo de cena. Narradora T: Ah! Não! Para mim, Dom Quixote é um conhecedor de teatro. É mais que um ator, é um ator consciente, um cidadão, que escolheu sua perso-nagem, escreveu sua própria peça e fez do mundo seu palco. Tudo isso por acre-ditar piamente que a função do teatro é de apresentar um espelho da vida. (UTQ3 31:42-32:15, 28)

Während die eine Erzählerin Dom Quixote also tatsächlich als gescheitert wahrnimmt und ihn auf der ersten Bedeutungsebene als Warnung für den Zuschauer interpretiert, sich nicht von Neoliberalismus und Globalisierung bzw. konkret der Regierung Cardoso täuschen zu lassen, wird von der zweiten Erzählerin das Ende von Dom Quixote als Sieg des politischen Theaters gewertet: Indem es anhand seines Beispiels gelungen ist, dem Zuschauer zu vermitteln, dass er, ebenso wie die Theatermacher, die das Theatergebäude wieder aufgebaut haben, der „arquiteto do seu próprio destino“100 ist, hat er die Funktion des politischen Theaters erfolgreich erfüllt. Die beiden Bedeutungsebenen werden damit gegeneinandergestellt. In der letzten Szene wird die Gegenüberstellung zu Gunsten der zweiten Bedeutungsebene entschieden (UTQ3 48:45-55:40, 32f.): In dieser wechselt Dom Quixote von der Fiktionsebene des inneren dramatischen Kommunikationssystems auf die Ebene der Erzählerinnen. Von diesen wird er überzeugt, nicht in der Geschichte zu verharren, sondern sich im wieder aufgebauten Vila Velha der nächsten Aufgabe des politischen Theaters zuzuwenden. Die Aufführung schließt mit einem Lied aller Figuren, die auf der Bühne die Fahne des Teatro Vila Velha schwenken und es im Liedtext noch einmal als Ort beschreiben, der sich mit dramatischen Mitteln der neoliberalen Politik entgegenstellt (UTQ3 51:00-55:40, 33). Ein Tänzer, der über die Bühne läuft und „Agora eu sou Dom Quixote!“ (UTQ3 42:40-43:00) ruft, belegt, dass sich der „Wahnsinn“ von Dom Quixote durch die Mittel des dramatischen Theaters auch auf andere übertragen kann.

100 | Dass Dom Quixote auch der „Regisseur“ seines Schicksals sein kann, zeigt sich nicht nur in der Handlung, sondern auch in einer „Spiel-im-Spiel“-Szene, in der er eine Schauspielertruppe durch eine klassische Rittergeschichte dirigiert (UTQ3 04:50-11:10, 24f.). Im postkolonialen Kontext kann dieses Element ebenfalls politisch gewertet werden: „A play-within-a-play disperses the centre of visual focus to at least two locations so that the viewer’s gaze is both split and multiplied. The ensuing double vision provides a way of re-visioning the entire spectacle as the audience watches the play and the play-within-a-play at the same time as it watches the actors watching the inner play.“ (Gilbert/Tompkins, 2002: 250; Herv.i.O.)

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Auf der metatheatralen Ebene kommt UM TAL DE DOM QUIXOTE damit zu dem Schluss, dass dramatisches politisches Theater, die Repräsentation von Geschichte auf der Bühne, das wirksamste theatrale Mittel gegen die Politik der PSDB und die soziale Ungleichheit ist, da sie die Zuschauer emotionalisieren und aufrütteln kann. Während der mediale Diskurs und scheinbare Gewissheiten hinterfragt werden, bestätigt die metatheatrale Reflexion das dramatische politische Theater als wirksamste Form des politischen Theaters.

E S SE G L AUBER – das Ende des dramatischen politischen Theaters As palavras, também elas, não significam mais nada. (Rita Assemany, E SSE G LAUBER)

Der Theatertext ESSE GLAUBER, geschrieben von Aninha Franco, wurde am 19.11.2004 unter der Regie von Márcio Meirelles im Theatro XVIII in Salvador da Bahia uraufgeführt.101 Die Aufführung präsentiert in zehn Szenen die Geschichte der beiden Protagonisten TodoMundo und QualquerUm, die kurz nach Ende des Karnevals in Salvador da Bahia auf ihre Bezahlung als cordeiros warten. Cordeiros sind während der sieben Tage der Karnevalsfeier dafür zuständig, die Seile festzuhalten, welche die eintrittspflichtigen blocos carnevalescos von dem Publikum auf der Straße trennen (vgl. Oliveira/Oliveira, 2005: 24). In der Regel befinden sich die cordeiros, bei den großen blocos bis zu 1.000 Personen, in informellen Beschäftigungsverhältnissen (vgl. ebd.). In Rückblenden schildert die Aufführung die Arbeit der cordeiros im Karneval. Im realen Salvador da Bahia nimmt der Karneval eine besondere Stellung ein, einerseits als Fest, das mit jährlich 2 Millionen Besuchern als größtes Straßenfest der Welt angepriesen wird (vgl. Tribuna da Bahia, 2013) und in das die soteropolitanische und brasilianische Regierung jährlich fast R$ 90 Millionen investieren (vgl. Governo do Estado da Bahia, 2015a), andererseits aufgrund seiner politischen Dimension: Zum Ende der 70er-Jahre wurde hier von den blocos afro offen gegen die Diskriminierung der negro-Bevölkerung protestiert (vgl. Schaeber, 2006: 320). Darüber hinaus entsprach der Karneval, zumindest zu seinen Anfängen, dem von Bachtin beschriebenen „Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist“ (Bachtin, 1990: 48):

101 | Text: Aninha Franco; Regie: Marcio Meirelles; Musikalische Leitung: Jarbas Bittencourt; Ensemble: Rita Assemany, Diogo Lopes Filho.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Der Karneval ist die umgestülpte Welt. Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt. Das betrifft vor allem die hierarchische Ordnung. (Ebd.)102

Auch in der postkolonialen Theorie gilt Karneval als „a subversion that undermines virtually all categories of social privilege and thus prevents their unproblematic reassemblage“. (Gilbert/Tompkins, 2002: 84) In der Realität wird – entgegen der offiziellen Darstellung des Karnevals als egalitäres Fest (vgl. Governo do Estado da Bahia, 2015b)103 – seit den 2000er-Jahren allerdings eine zunehmende Kommerzialisierung des Karnevals in Salvador da Bahia konstatiert: As diferenças sociais crescentes que existem na sociedade contemporânea permanecem nítidas e contundentes durante a festa carnavalesca. […] ao invés da participação ampla das várias classes sociais e de sua distribuição em bairros periféricos e populares, a festa foi direcionada para os bairros nobres, em que pontos turísticos se destacam, associando-se a equipamentos particulares voltados para o mercado (hotéis, restaurantes, bares etc.), mantendo a lógica dos interesses turísticos e empresariais. (Oliveira/Oliveira, 2005: 23).

Dabei ist es insbesondere der ab den 2000er-Jahren zunehmende Einsatz der cordas, die das Publikum in zahlende und nicht zahlende Gäste trennen und damit einem „modelo participativo da festa, onde todos tinham lugar“ (Risério, 2004: 568) entgegenstehen. Die Aufführung ESSE GLAUBER zeigt, dass der heutige Karneval dem Bild des egalitären Festes nicht mehr entspricht – sondern ganz im Gegenteil die Ungleichheit der soteropolitanischen Gesellschaft akzentuiert. Die thematische Politizität von Esse GLAUBER ergibt sich aus der Beschreibung der sozialen und ökonomischen Ungleichheit der soteropolitanischen Gesellschaft am Beispiel 102 | Allerdings ist anzumerken, dass der „Karnevalismus“ von Bachtin im Rahmen seiner restlichen Theorie zu lesen ist (vgl. Bachtin, 1990) und daher im Folgenden nicht als literaturwissenschaftliches Konzept angewandt werden soll. Zu einer Übersicht der brasilianischen Rezeption von Bachtin und ihrer Anwendung auf den brasilianischen Karneval vgl. Schaeber (2003: 56-59). 103 | So heißt es auf der Internetseite der baianischen Regierung: „¸Ah! Imagina só, que loucura essa mistura. Alegria, alegria é o estado, que chamamos Bahia. De todos os santos, encantos e axé. Sagrado e profano, o baiano é: carnaval…‘. Hino maior do carnaval da Bahia, a música ‚Chame gente‘, de Morais Moreira, resume com perfeição; não apenas o espírito democrático, as belezas e a alegria incomparável da cidade de Salvador, mas principalmente, o frenesi sentido aqui em todos meses de fevereiro, durante a maior festa popular a céu aberto do planeta.“ (Governo do Estado da Bahia, 2015; Herv. SV)

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der Ausbeutung der cordeiros (vgl. hier und im Folgenden EG und Franco, 2004). Die beiden cordeiros TodoMundo und QualquerUm tauschen sich in ihren Dialogen über ihre schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen aus. Dabei weist die auf der Ebene des inneren Kommunikationssystems um TodoMundo und QualquerUm repräsentierte Welt eine enge Anbindung an die baianische Realität auf: So werden in den Dialogen reale Straßen- und Stadtteilnamen genannt (z.B. „Ondina“ [35:38, 24]), auch sind die Kostüme – im Fall von Todo Mundo eine schwarze Radlerhose, Bauchtasche, rosa Bustier und billiger Schmuck, bei QualquerUm eine blaue Trainingshose, ein offen getragenes, blaues Hemd und eine blaue Kappe, an die reale Kleidung von cordeiros bzw. der unteren Schichten in Salvador da Bahia angelehnt. Zudem sind Sprache und Sprechweise in besonderem Maße der Alltagssprache der baianischen Bevölkerung angepasst, indem die Schauspieler zahlreiche Slangausdrücke (z.B. „pipoca“, [07:40, 9]; „se fudeu“ [07:45, 9]) verwenden und eine von der Hochsprache abweichende Aussprache auf der Bühne wiedergeben. Ebenso werden Gestik und Mimik in den Szenen der beiden cordeiros durchweg realistisch eingesetzt. Die Aufführung verzichtet fast vollständig auf ein Bühnenbild und den Einsatz von Requisiten, sodass die Aufmerksamkeit vollständig auf die beiden Schauspieler gelenkt wird. Die politische Wirkungsabsicht wird insbesondere in den Dialogen und der Figuration von TodoMundo und QualquerUm sowie in der Handlung, d.h. durch repräsentative Elemente, vermittelt. Den sprachlichen Zeichen kommt in der Konstituierung der Isotopie einer ungleichen Gesellschaft besondere Bedeutung zu: Die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit der soteropolitanischen Gesellschaft werden hier explizit adressiert. Nachdem TodoMundo und QualquerUm für einen kleinen Zusatzverdienst die Toiletten in einer camarote geputzt haben (42:36-43:00, 30f.), hält TodoMundo fest: TodoMundo: Qué, euch acho que juntando meus olhos com os dos olhos do povo inteiro do lugar onde eu moro, mais os olhos dos filhos de todo mundo que ainda vai nascer, a gente nunca viu tanto comida na vida inteira da gente. (43:10-43:25, 30)

In einer anderen Szene berichtet TodoMundo QualquerUm, dass ihr Kollege Julião während seiner Arbeit versehentlich einen branco innerhalb der corda umgerempelt hat, daraufhin zusammengeschlagen wurde und im Hospital Geral da Bahia aufgrund mangelnder Versorgung gestorben sei (07:25-09:00, 9). Explizit formuliert TodoMundo ihre Kritik, dass ein solches Schicksal nur der armen, schwarzen Bevölkerung vorbehalten ist: TodoMundo: É, mas morrer de tanta porrada não é o que acontece com qualquer um. Duvido que um barão desses dos bloco morra assim. (09:00-09:06, 9)

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Aus dieser Schilderung zeigt sich, dass die beiden cordeiros die Konfliktlinien in der Gesellschaft anhand sozio-ökonomischer (barão/pobre) und ethnischer Merkmale (branco/negro) verorten. Die Verantwortung für die Ungleichheit wird von TodoMundo dabei in den sprachlichen Zeichen an die Politiker verwiesen: TodoMundo: Se as casas de caridade acabá, Qué, o que vai ser dessa gente? […] Essa nem eu sei. Mas alguém deverá de saber. Os políticos. […] Os que estão no poder, os que estão de olho no poder, está tudo misturado. Que putaria! (43:59-44:20, 31)

Durch die realistische Darstellung der Figuren und die ausführlichen Schilderungen ihrer Handlungsmotive, Bedürfnisse und Lebensumstände nimmt ESSE GLAUBER die soteropolitanischen Marginalisierten in den Blick und erlaubt dem Zuschauer, sich emotional in die Figuren einzufühlen. Innerhalb der geteilten Gesellschaft bezieht die Aufführung damit Position für TodoMundo und QualquerUm. Nachdem zunächst dargestellt wurde, unter welchen widrigen Bedingungen sie ihre Arbeit während des Karnevals geleistet haben (05:00-01:05:20, 8-41), wirkt es empörend, wenn ihnen die Bezahlung am Ende verwehrt bleibt (01:05:20-01:13:46, 42f.). Erneut ist es dabei ein intendiertes Publikum aus der Mittelschicht, dem die Einfühlung in die unteren Schichten Salvadors ermöglicht wird. Dies wird durch die Requisiten verdeutlicht: In der sechsten Szene wird ein Seil über die Bühne gespannt; TodoMundo und QualquerUm können so in der Ausübung ihrer Tätigkeit als cordeiros beobachtet werden (32:18-35:44). Das Seil zerrt die beiden nach vorne und nach hinten, nach rechts und nach links. Während TodoMundo und QualquerUm auf diese Weise als Objekte der restlichen soteropolitanischen Gesellschaft dargestellt werden, wird den Zuschauern auf der anderen Seite des Seils, innerhalb des bloco und damit in der soteropolitanischen Mittelklasse, ein Platz zugewiesen. Während der Großteil der Szenen realistisch wiedergegeben ist, ergeben sich im Verlauf der Aufführung im inneren Kommunikationssystem einige Abweichungen von der realistischen Darstellung, ohne allerdings die Geschlossenheit der fiktiven Welt infrage zu stellen. Die erste findet sich in der Namensgebung der Figuren: Anstelle von realistischen Namen stehen „TodoMundo“ und „QualquerUm“ für den soteropolitanischen jedermann. Damit wird verdeutlicht, dass es sich im dargestellten Konflikt nicht um individuelle Schicksale handelt, sondern die schlechte Situation einer ganzen gesellschaftlichen Schicht im Vordergrund steht. Eine weitere Abweichung ergibt sich, indem anstelle einer Abbildung der brancos/barões eine Leerstelle gelassen wird: So wird in der achten Szene eine Begegnung von TodoMundo und QualquerUm mit der Managerin eines camarote dargestellt (42:36-43:00, 30). Letztere tritt nicht als Figur auf, sondern wird vorgestellt, indem die cordeiros ihre Blicke auf einen Lichtkegel auf den oberen Treppenabsatz der Galerie richten und nach kurzen Pausen mit

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„Sim, senhora!“ die Anweisungen der Managerin bestätigen. Die im Gegensatz zu den vorherigen Dialogen leisen Stimmen der cordeiros, ihre Zustimmung zu allen Anweisungen sowie ihr nach oben, ins Licht gerichteter Blick zeigen nicht nur die Position der cordeiros am unteren Ende der Gesellschaft, sondern auch ihre eigene Unterordnung im Zusammentreffen mit den oberen Schichten. Indem die Managerin körperlos erscheint, verstärkt die Aufführung ihre Positionierung aufseiten der cordeiros, deren Menschlichkeit auf diese Weise noch offensichtlicher wird. Zudem zeigt sie, dass in der soteropolitanischen Gesellschaft zwischen den verschiedenen Schichten keine Begegnung stattfinden kann. Damit lässt sich festhalten, dass sich die durch die Art der Repräsentation ermöglichte Einfühlung auf die unteren Schichten beschränkt. Episch gebrochen wird die Handlung zunächst dergestalt, dass die Szenen zeitlich und handlungslogisch nicht aufeinander aufbauen, sondern immer wieder Sprünge in die Vergangenheit zu verzeichnen sind. Auf diese Weise bleibt der Zuschauer aktiviert, da er die Szenen zeitlich stets neu einordnen und selbst Anschlüsse herstellen muss. Emotionale Einfühlung wird hier durch Reflexion ersetzt. Ebenfalls gebrochen wird die Handlung durch insgesamt neun kommentierende Lieder. Die Musiker sind von Beginn an auf der kleinen Bühne den Blicken der Zuschauer ausgesetzt und tragen so zu einem Brecht’schen V-Effekt bei. Neben Liedern, die wie Quem é esse Glauber (15:15-16:35, 14) oder Canção de Amor de Cordeiro (01:01:40-01:05:15, 40) die abgebildete Handlung auf Ebene der Fabel von TodoMundo und QualquerUm unterstreichen, wird hier auch die politische Wirkungsabsicht ausdrücklich formuliert. So findet sich bereits im Text des ersten Liedes, das die Aufführung eröffnet, eine Aufforderung an den Zuschauer, sich gegen soziale Ungleichheit zu engagieren: Não pode ser assim, sempre assim, eu olho a multidão, vejo a mim. […] Hoje eu quero dizer que já chega de ser só promessa e ilusão. Outros podem deixar de dizer sim, se você e eu dissermos não. (02:56-04:30, 7)

Der die Aufführung schließende Canção do fim zieht zudem das Fazit, dass die Situation nicht verändert werden kann, wenn das ungerechte System weiterhin von cordeiros wie Zuschauern unterstützt wird: Mas agora eu vi que não tem solução. Ninguém semeia só com chuva de verão. Tô dizendo que não aguento mais segurar, vou cortar nos dentes, vou arrebentar. (01:11:30-01:12:33, 45)

Damit kann festgehalten werden, dass sich ESSE GLAUBER auf der ersten Bedeutungsebene sowohl der Figuration als auch der Handlung und der Lieder bedient, um die politische Wirkungsabsicht zu vermitteln, die soziale Ungleichheit in Salvador zu mindern. Damit lässt sich ESSE GLAUBER dem dramatischen

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politischen Theater zuordnen. Zudem ist die Aufführung nach BAI BAI PELÔ und CABARÉ DA RRRRAÇA (siehe Kapitel 4.1.1.1 und 4.1.1.4) ein weiteres Beispiel für dramatisches politisches Theater, das eine stark realitätsbezogene Illusion aufbaut und die Authentizität und Glaubwürdigkeit seiner Figuren verstärkt. Dem intendierten Publikum aus der Mittelschicht wird auf diese Weise der Transfer des Gezeigten und der Botschaft auf den realen politischen Konflikt erleichtert und Einfühlung in die Marginalisierten ermöglicht. Epische Elemente fügen der Einfühlung Reflexionsphasen hinzu. Neben diesen epischen und dramatischen Mitteln wird am Ende der Aufführung für die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht allerdings auch die Präsenz der Theateraufführung genutzt. So werden dem Zuschauer zwei alternative Reaktionen104 auf die Tatsache, dass die cordeiros für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten werden, präsentiert. In der ersten Version, nachdem TodoMundo QualquerUm berichtet, dass der dono do bloco eine Bezahlung verweigert105, entscheidet sich TodoMundo, QualquerUms Beispiel zu folgen, die Situation zu akzeptieren und ihre Frustration mit Alkohol zu betäuben (01:05:20-01:07:49, 42). Es entsteht eine kurze Pause und die beiden Schauspieler bewegen sich auf den Bühnenabgang zu, so dass zunächst der Eindruck entsteht, dass die Aufführung mit der Resignation von TodoMundo enden würde (01:07:49-01:07:55). Stattdessen kehren die beiden Schauspieler um und beginnen die Szene erneut. In dieser Version lässt sich TodoMundo nicht von QualquerUm beruhigen:

104 | Die beiden alternativen Enden entsprechen den unterschiedlichen Charakterisierungen von TodoMundo und QualquerUm. Diese werden während der gesamten Aufführung einander gegenübergestellt: Während TodoMundo noch daran glaubt, dass sich die Gesellschaft verändern kann, hat QualquerUm die Hoffnung auf eine Veränderung aufgegeben. Auch diese Gegenüberstellung erfolgt explizit in den sprachlichen Zeichen der Aufführung: „TodoMundo: Eu sou otimista, eu acho que podia melhorar sim.“ (07:00-07:05, 8) „QualquerUm: Eu sou da turma do não tem jeito, mulher. Quando a gente já sabe o que vai acontecer, quando não está esperando nada, qualquer ganho é felicidade.“ (28:20-28:25. 21) Auch wenn beide Figuren in der Aufführung grundsätzlich als sympathisch, authentisch und glaubwürdig charakterisiert werden, lässt sich eine Hierarchisierung der Positionen ausmachen: TodoMundo wirkt mit ihren kritischen Aussagen deutlich reflektierter als der genussorientierte QualquerUm. Auf diese Weise wird dem Zuschauer verdeutlicht, dass nicht etwa QualquerUm mit seiner Resignation, sondern TodoMundos Kritik und Weigerung, sich länger in ihre Situation zu fügen, die Wirkungsabsicht der Aufführung formuliert. 105 | Das vergebliche Warten von TodoMundo und QualquerUm erinnert an das Warten von Estragon und Wladimir in E N AT TENDANT G ODOT von Samuel Beckett. Ein im ursprünglichen Schrifttext vorhandenes direktes Zitat wurde allerdings in der analysierten Aufführung gestrichen.

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Abbildung 11: TodoMundo und QualquerUm

EG 35:31: TodoMundo und QualquerUm tragen realistische Kleidung und orientieren sich in der Sprechweise an der unteren soteropolitanischen Schicht. Das Seil trennt sie von den Zuschauern, die auf diese Weise im Inneren des Karnevalszuges und in der Mitte der Gesellschaft verortet werden.

Abbildung 12: Epische Brechung durch Lieder

EG 55:18: Die Lieder werden an den Bühnenseiten frontal zum Publikum gesungen. Die Band ist die gesamte Zeit auf der Bühne präsent und stört so ebenfalls die Illusion. Das Podest in der Mitte wird als Requisite genutzt. Die obere Galerie wird nur in der Szene des camarote bespielt.

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TodoMundo: Já tiraram a pele dele [do pobre; Anm. SV] a vida toda. Vão tirando um bocadinho todo dia até a hora da machadinha, e ele calado. Sim senhor, não senhor. […] Eu vou levantar dessa merda e quebrar essa merda toda. Não tem dinheiro, tem pau. Para que é que cordeiro tem braço? Não é só para segurar corda não. […] Eu não sei se vai adiantar, porque nunca fiz. Vou fazer agora. (01:07:55-01:13:46, 43)

Die Aufführung lässt offen, wie die Konfrontation zwischen TodoMundo und dem Arbeitgeber ausgeht. Die alternativen Enden betonen die Fiktionalität der dargestellten Handlung. Während es in der Realität nur ein Ende gibt, können in der Aufführung beide Enden durchgespielt und von den Zuschauern erfahren werden – dies erinnert, zumindest in den Grundzügen, an das teatro do oprimido von Augusto Boal (siehe Kapitel 2.2.2.2). Gleichzeitig aktivieren die unterschiedlichen Enden die Zuschauer und verdeutlichen, dass Alternativen stets möglich sind. Auf diese Weise wird es dem Zuschauer möglich, Emotionen und Gedanken, die die verschiedenen Reaktionen von TodoMundo in ihm auslösen, direkt miteinander zu vergleichen: Während das erste Ende aufgrund der vorherigen Parteinahme der Aufführung für die cordeiros und für TodoMundo vermutlich ein Gefühl der Frustration hinterlässt, könnte das zweite Ende, wenn es auch offener und damit ungewisser gestaltet ist als das erste, deutlich befriedigender wirken. Der Zuschauer erlebt selbst, dass eine weitere Akzeptanz der Situation nicht zufriedenstellend ist, sondern die Ausbeutung und Unterdrückung der unteren Klassen gestoppt werden muss. Damit stellt die Aufführung das Erleben des Zuschauers anstelle der Bedeutungserzeugung auf der Bühne in den Vordergrund – und damit das repräsentationale Prinzip des dramatischen politischen Theaters infrage. Der Zweifel an der Wirksamkeit dramatischen politischen Theaters findet durch weitere epische Brechungen der Handlung Unterstützung. Sie werden umgesetzt, indem die Schauspieler die Handlung um TodoMundo und QualquerUm durch den Vortrag von vier „epístolas para Glauber Rocha“ (16:3619:40, 15; 40:00-41:56, 29; 56:25-58:50, 38; 01:09:37-01:11:22, 44) unterbrechen. Bereits im Titel der Aufführung lässt sich ein Verweis auf den 1938 im Vitoria da Conquista, Bahia geborenen Regisseur, Filmkritiker und Essayisten Glauber Rocha feststellen. Sein 1965 veröffentlichtes Manifest Uma Estética da Fome, in dem er die fortdauernde Kolonisierung Brasiliens durch Europa und Amerika anklagt und eine „estética da fome“ (Rocha, 1965: 1) als Ausdruck einer die brasilianische Realität prägende „cultura da fome“ (ebd.) postuliert, gilt bis heute als beispielhaft für die Forderungen der Filmemacher des cinema novo (vgl. u.a. Schulze, 2005: 26).106 106 | Die in den 1960er-Jahren in Brasilien aufkommende filmische Bewegung des cinema novo baute auf dem in der Literatur bereits seit den 1930er-Jahren vorhandenen modernismo auf. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, den zu dieser Zeit die brasilianischen

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Die Übergänge zwischen Fabel und Kommentaren werden durch Licht-, Musik- und Positionswechsel deutlich markiert. Während die Szenen von TodoMundo und QualquerUm größtenteils auf den Bühnenbereich um das Podest und damit mit einigem Abstand zum Zuschauerraum gespielt werden, werden die Episteln von den Schauspielern in die Mikrofone an der Bühnenrampe gesprochen und mit ihren Ordnungsnummern angesagt. Auf Requisitenebene werden die Episteln durch Zettel markiert, die von den Schauspielern im Verlauf der Szenen in die Höhe gehalten werden und von denen der Text abgelesen wird. Ebenso wie auf der Ebene von TodoMundo und QualquerUm stehen auf der Metaebene die sprachlichen Zeichen für die Vermittlung der Wirkungsabsicht im Mittelpunkt. Die vier „epístolas para Glauber Rocha“ lassen sich gleichzeitig als Fortschreibung von und als Replik auf Rochas Uma Estética da Fome (1965) verstehen. So verfügen sowohl erste als auch zweite Epistel über wörtliche Zitate aus Uma Estética da Fome. Diese, wie beispielweise der Satz „A mais nobre manifestação cultural da fome é a violência“ (17:05-17:08, 15), werden allerdings nicht als Aussagen von Rocha kenntlich gemacht, sondern ohne weitere Erklärung mit der Betonung und Stimmlage einer politischen Rede verlesen. Andere Passagen werden nicht wörtlich übernommen, sondern leicht verändert: Rita Assemany: Eu quero construir escolas, mas não tenho nada a ver com a preparação de professores. Eu quero inaugurar teatros, mas não tô aqui para dar vida mole a artista. Eu construo casa, mas não qualifico ninguém pro trabalho. (17:08-17:28, 15)

Das Original von Rocha lautet in diesem Fall hingegen: Os relatorios oficiais da fome pedem dinheiro aos países colonialistas com o fito de construir escolas sem criar professores, de construir cases sem dar trabalho, de

Kinos beherrschenden Filmen aus amerikanischer Produktion ein originär brasilianisches Kino, in dem die brasilianische Realität in einer eigenen Ästhetik dargestellt wurde, gegenüberzustellen (vgl. Schulze, 2005: 136). Obwohl die Filme in ihrer Ästhetik und Inhalten von großer Heterogenität sind und daher in der filmwissenschaftlichen Literatur immer wieder auf die Problematik hingewiesen wird, den Begriff cinema novo zu definieren (vgl. Aggio, 2005: 115), wird als einheitliches Merkmal neben dem Fokus auf die soziale Realität in Brasilien auch die Absicht, einen Beitrag zur Veränderung der bestehenden sozialen und politischen Zustände zu leisten, definiert (vgl. ebd.). Insbesondere durch die Darstellung der schwierigen Lebensbedingungen der unteren Schichten sollten die Zuschauer den Blick auf die Realität in ihrem Land lenken, sich der Situation bewusst und so zu politischen Aktionen bewegt werden (vgl. ebd.). Zu Glauber Rocha vgl. auch Johnson/Stam (1995), Aggio (2005).

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ensinar o ofício sem ensinar o alfabeto. A diplomacia pede, os economistas pedem, a política pede. (Rocha, 1965: 2)

Die Kritik von Rocha beinhaltet damit auch eine deutliche Anklage der Abhängigkeit Brasiliens von Europa und Amerika. Diese bleibt in der Theateraufführung erhalten, wird allerdings modifiziert: Das Bild des „bittenden“ oder „bettelnden“ Brasiliens wird durch eine moderne Integration Brasiliens in die globale Wirtschaftskette ersetzt: Diogo Lopes Filho: Continuamos copistas dos civilizados. Quando deixam, consumimos o que eles consomem. […] No mais, era assim: vai café, volta nescafé; vai cacau, volta chocolate; vai borracha, volta pneu. Agora, vai mais não. Agora é mais barato usar mão de obra barata daqui mesmo. (18:50-19:40, 14)

Auch tritt die innerbrasilianische kulturelle Dominanz des Südens gegenüber dem Nordwesten in den Vordergrund. Diese wird beispielsweise anhand der umgangssprachlichen Bedeutungen des Begriffs baianada erläutert: Diogo Lopes Filho: E como é difícil ser baiano. Todo e qualquer nordestino que migra para o sul fugindo da seca. Autor da ,baianada‘, ,coisa sem jeito‘ ,não cumprimento de um trato‘, ,falta de lealdade ou de palavra, sujeira e patifaria‘. Resta-nos o carneval, quando a cidade ,da Baía‘, a velha Pindorama, se transforma no balnéario de portas abertas a quem queira folger e desfrutar da nossa incontrolavel alegria. (58:09-58:35, 38)

Nach der Definition dieser Arbeit lässt sich auch diese Kritik als postkolonial definieren – und kann erneut als Beispiel dafür dienen, wie wichtig es ist, auch weitere Machtstrukturen abseits der Dichotomie Kolonisator/Kolonisierte einzubeziehen (siehe Kapitel 2.1.4). Insgesamt trägt die postkoloniale Kritik damit der veränderten Situation in der Gegenwart Rechnung. Die Kritik von TodoMundo und QualquerUm an der ungleichen soteropolitanischen Gesellschaft wird auf diese Weise auf einer übergeordneten Ebene bestätigt. Die in der Fabel von TodoMundo und QualquerUm als Zweiklassengesellschaft etablierte Gesellschaft von Salvador da Bahia wird in den Episteln zudem um eine dritte Schicht, die intellektuelle Mittelklasse, ergänzt (18:2518:52, 15; 57:38-57:53, 38). Diese, blind gegenüber den Aktivitäten von Ober- und Unterschicht, ist nur auf den Erhalt ihres eigenen Lebensstandards bedacht. Das intendierte Publikum, das durch die Fabel der Mittelschicht zugeordnet und in seiner Passivität angeklagt wird, erfährt so in der Epistel erneut direkte Kritik. Episteln und Fabel bauen auf diese Weise aufeinander auf. Auch die Politiker werden in den Episteln negativ dargestellt: „A política é estar no poder. É a sobrevivência no poder.“ (17:40-18:07, 15)

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Durch die Hinzuziehung des Manifests in den Episteln ergibt sich aber auch eine Verschärfung der auf der Ebene der Geschichte formulierten Wirkungsabsicht. So wird, indem sich die Thesen von Rocha – abgesehen von den Modifikationen in Bezug auf die postkoloniale Situation – noch immer auf den aktuellen Kontext anwenden lassen, verdeutlicht, dass sich seit 1965, der Zeit also, in der Rocha Uma Estética da Fome veröffentlichte, an den sozialen Problemen in Brasilien nichts geändert hat. Die Tatsache, dass Rita Assemany bei der letzten Epistel an die Verlesung des Titels „Ultima epístola para Glauber Rocha“ den Ausspruch „por enquanto“ anhängt, verdeutlicht zudem noch einmal explizit, dass der Prozess der gesellschaftlichen Veränderung noch nicht abgeschlossen ist (01:09:50, 44). Über diese direkte Reflexion des Werkes von Glauber Rocha hinaus, lassen sich auch auf Ebene der Fabel Bezüge zu dem baianischen Künstler, Uma Estética da Fome und seinem 1964 erschienenen Film Deus e o Diabo na Terra do Sol107 finden. Der Filmtitel wird als Thema, Rocha als Namenspatron des von TodoMundo und QualquerUm beschriebenen, fiktiven Karnevals eingeführt (14:28, 27). In verschiedenen Szenen werden zudem Thesen aus Uma Estética da Fome in der Fabel umgesetzt. So scheitert in der Mitte der Aufführung eine sexuelle Annäherung von QualquerUm und TodoMundo an seiner mangelnden Erektion (58:50-01:01:20, 39). Die Impotenz von QualquerUm wirkt hier als Darstellung der „impotência“ (Rocha, 1965: 1), die Glauber Rocha der brasilianischen Kunst seiner Zeit diagnostizierte. Die Unfähigkeit von TodoMundo und QualquerUm, zueinander zu finden, zeigt die „impossibilidade de amar com fome“ (Rocha, 1965: 3). Die Bezüge zum Film beschränken sich aber nicht auf die inhaltliche Ebene, ebenso wie in der Aufführung werden im Film zahlreiche Lieder zur Kommentierung der Handlung eingesetzt (vgl. Schulze, 2005: 64). Die laut Amengual (1973: 52) zentrale Botschaft aus Deus e O Diabo na Terra do Sol, wonach der Mensch selbst für sein Schicksal verantwortlich ist und nicht auf Gottes Hilfe warten kann, wird auch in ESSE GLAUBER vertreten. Auf Ebene der Episteln lässt die Verwendung des Begriffs epístola anstelle der geläufigeren carta oder recado christliche Bezüge aufscheinen. Ebenso wie Manuel in Deus e O Diabo na Terra do Sol rechtfertigt QualquerUm seine fehlende Auflehnung gegen die Situation damit, dass diese von Gott gewollt sei: „Se o mundo fosse perfeito, minha nega, deus nem existia!“ (06:30-06:47, 8) Auch erwecken das helle 107 | Deus e o Diabo na Terra do Sol beschreibt die Entwicklung des im brasilianischen sertão lebenden Kuhhirten Manuels und seiner Frau Rosa, die auf der Flucht vor den feudalen Strukturen des coronelismo zunächst über eine religiöse, anschließend über eine anarchische Revolution zur Freiheit in der Selbstbestimmung gelangen (vgl. Schulze, 2005: 68) Die Konzeption von TodoMundo und Qualquer-Um als typische Vertreter unterschiedlicher Einstellungen des brasilianischen Volkes entspricht der Darstellung von Rosa und Manuel (vgl. Amengual, 1973: 52).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Licht und die nach oben gerichteten Blicke in der Szene des camarote (42:3643:00, 30) einen paradiesischen, himmlischen Anschein. Die Wahrnehmung des camarote als überirdischer Ort wird in dem anschließenden Lied Canção da Vida no Camarote bestätigt: „Quando eu morrer / eu não quero ir pro céu / quero ir prum camarote.“ (44:28-46:15, 32f.) Das Lied zeigt die Ungleichheit und Undurchlässigkeit der brasilianischen Gesellschaft: Der Besuch in einem camarote liegt für die unteren Schichten außerhalb des Bereichs des Möglichen: „Vivo eu não entro, eu não tô no poder […] Como é que eu entro? Só se eu morrer.“ Auch die Kritik von Rocha an der Religion wird auf diese Weise für die heutige Situation als nützlich eingeschätzt. Die zweite, metatheatrale Bedeutungsebene wird aus der Kombination der dramatischen Handlung, den Verweisen auf Glauber Rocha sowie der zweiten Epistel, die sich der Wirkung politischer Kunst widmet, konstituiert. Auf dieser Ebene steht die Frage nach der Wirksamkeit politischen Theaters im Mittelpunkt: „E teatro, teatro, lugar, onde se pode ver a si mesmo? Que teatro nós baianos podemos fazer que tenha algum poder?“ (58:35-58:50) Im Zusammenhang mit der Beantwortung dieser Frage stellen die Schauspieler zunächst fest, dass Glauber Rocha mit seiner politischen Kunst keinen Erfolg hatte. So wird in Anlehnung an Uma Estética da Fome der brasilianischen Kunst weiterhin vorgeworfen, keinen Einfluss mehr ausüben zu können: Rita Assemany: Glauber, continuamos raquíticos, filosóficos e impotentes, mas como temos vergonha de mostrar a nossa miséria à civilização […] fingimos que somos ricos, exuberantes e que a nossa sorte pertence ao futuro. (40:13-40:43, 29)

Nicht nur sind also, wie auf der ersten Bedeutungsebene festgestellt, die sozialen Probleme seit den 1970er-Jahren weiterhin ungelöst – der Bühnentext diagnostiziert, dass auch die politische Kunst in alten Mustern verharrt und keine wirksamen Lösungsstrategien entwickeln konnte. Stattdessen verbleibt politische Kunst „nos seus nichos, protegidos por seus pares e ignorados pelo povo“ (41:40-41:55, 29). Diese Diagnose wird auf Ebene der Geschichte illustriert. Im Zusammenhang mit der Unterhaltung von TodoMundo und QualquerUm über das Karnevalsmotto wird deutlich, dass weder sie noch irgendjemand in ihrer Umgebung je von Glauber Rocha gehört hat: QualquerUm: Mas para ser nome de carnaval, tem que ser celebridade. Cadê? Tá na novela? Nas pracas dos viaduto, dos teatro. Não tem nada. Não tem nome nem de escola pública. TodoMundo: Tá assim de lugá nesse mundo que gente que nem nós num entra. (14:45-14:58, 13)

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Politisches Theater in Brasilien

Die Kunst von Glauber Rocha hat damit ihre Wirksamkeit in der breiten Masse verfehlt – und lebt, wie in der Epistel beschrieben, nur in gesellschaftlichen Nischen fort. Am Ende der Aufführung, in der letzten Epistel, zieht ESSE GLAUBER schließlich auch explizit das Fazit, dass die politische Kunst, wie Glauber Rocha sie gefordert und selbst umgesetzt hat, in der Gegenwart keine Wirkung mehr haben kann: Rita Assemany: Glauber, esse seria o momento de dizer tudo, de vomitar as palavras como você vomitava – colonização, exploração, coletivo, povo, negro, fome – na esperança de aproveitar um jorro. Mas as palavras, também elas, não significam mais nada. (01:10:50-01:11:23, 44)

Dieses Fazit, „as palavras não significam mais nada“, lässt sich somit auf beide Bedeutungsebenen der Aufführung anwenden: Auf der ersten Ebene kann es als Aufforderung an den Zuschauer gelesen werden, anstatt zu diskutieren, endlich zu handeln und damit TodoMundo zu folgen. Hinsichtlich der Frage nach der Wirksamkeit des politischen Theaters lässt sich diese Diagnose auf der metatheatralen Bedeutungsebene dagegen als Absage an das dramatische politische Theater lesen: Indem den Worten, einem wesentlichen Strukturelement des dramatischen politischen Theaters, ihre Bedeutung abgesprochen wird, lässt sich annehmen, dass auch Repräsentation insgesamt keine politische Wirkung mehr erreichen kann. Während die Absage an das dramatische politische Theater auf diese Weise deutlich formuliert wird, bleibt die Frage, welches Prinzip an die Stelle der Repräsentation treten kann, in der Aufführung letztlich unbeantwortet. Nur die alternativen Enden der Fabel deuten darauf hin, dass Theater dann weiterhin politische Wirkung erreichen kann, wenn es an die Stelle von Worten das Erleben der Zuschauer setzt. Insgesamt lässt sich ESSE GLAUBER damit als dramatisches politisches Theater verorten, das eine metatheatrale Ebene nutzt, um seine eigene Wirksamkeit kritisch zu hinterfragen. Damit zeigt die Aufführung die Grenzen des dramatischen politischen Theaters auf und weist den Weg zu einem postdramatischen politischen Theater.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

4.1.2.2 Entwicklung alternativer Historiografien im postkolonialen Kontext Die Merkmale des dramatischen politischen Theaters zeichnen auch die im Folgenden vorgestellten Aufführungen aus. Die zweite Bedeutungsebene, die sich in den Bühnentexten nachweisen lässt, entsteht in den Fällen der analysierten Aufführungen durch den postkolonialen Kontext: Der politische Konflikt der Gegenwart wird in den folgenden Aufführungen in Verbindung zur kolonialen brasilianischen Vergangenheit gesetzt.108 Durch die Art und Weise, wie die Vergangenheit präsentiert wird, entwickeln die Bühnentexte alternative Historiografien (siehe Kapitel 2.1.4). Diese stellen sich im postkolonialen Kontext gängigen Diskursen zur brasilianischen Vergangenheit entgegen: By establishing counter-narratives and counter-contextes which refute, or at least decentre, orthodox versions of history, marginalized cultures insist on a more equitable and representative starting point from which to negotiate a post-colonial identity. (Gilbert/Tompkins, 2002: 111)

Im postkolonialen Kontext im Sinne dieser Arbeit erhalten die alternativen Historiographien auch eine politische Dimension: „History is not the past: it is a consciousness of the past used for present purposes.“ (Dening, zitiert nach ebd.: 106) Indem Aufführungen „other(ed) historical perspectives“ (ebd.: 108) abbilden, ist es möglich, auf die Gegenwart einzuwirken – „to disperse the authority inherent in official accounts“ (ebd.). Oder anders ausgedrückt: Eine gemeinsame, gleichberechtigte Festlegung allgemein verbindlicher Regelungen in der Gegenwart wird im postkolonialen Kontext erst dann möglich, wenn auch die Konflikte der Vergangenheit nicht mehr allein von den ehemaligen Kolonisatoren dargestellt werden. Dazu trägt die Entwicklung alternativer Historiografien bei. 108 | Im vorliegenden Korpus nehmen die Aufführungen, die sich dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen und alternative Historiografien aufweisen, tatsächlich dezidiert auf den kolonialen Kontext Bezug. Grundsätzlich sind alternative Historiografien aber auch in anderen Kontexten ohne koloniale Vergangenheit denkbar, solange eine orthodoxe Geschichtsschreibung über andere Formen der Historiografie dominiert. Die Analyse in Kapitel 4.2.2 von P RIMEIRO DE A BRIL wird zeigen, dass alternative Historiografien auch in Brasilien nicht notwendigerweise auf die koloniale Vergangenheit Bezug nehmen müssen. An dieser Stelle sei daher noch einmal darauf hingewiesen, dass der Begriff „postkolonial“ in der vorliegenden Studie, auch wenn er sich an dieser Stelle tatsächlich auf das Verhältnis zur kolonialen Vergangenheit bezieht, grundsätzlich nicht temporal, sondern in seiner politischen Dimension verstanden und verwendet wird (siehe Kapitel 2.1.4).

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Damit unterscheiden sich die im Folgenden zu präsentierenden Aufführungen von historischen Dramen und Historiendramen109 und auch von einer Historisierung im Sinne Bertolt Brechts (siehe Kapitel 2.2.1.2): Erstere sind, im Gegensatz zu den stets über eine postkoloniale (d.h. im Sinne dieser Arbeit politische) Wirkungsabsicht verfügenden Bühnentexten, die alternative Historiografien entwickeln, nicht notwendigerweise mit einer politischen Wirkungsabsicht verbunden (vgl. Müller/Wess, 1999: 109).110 Bei Zweiteren dient die Verortung des Schauplatzes in einer entfernten Vergangenheit der Distanzierung vom aktuellen politischen Konflikt, wird selbst aber nicht mit politischer Bedeutung aufgeladen (siehe Kapitel 4.1.1.3).111 Ebenso wird die Zuordnung zum dramatischen politischen Theater aufgrund der Dominanz der repräsentationalen Vermittlung in den untersuchten Bühnentexten getroffen: Die von der dominierenden Geschichtsschreibung abweichenden Narrative werden in den analysierten Aufführungen auf der Bühne durch Handlung, Figuren und Dialoge abgebildet. Damit nutzen die Aufführungen Strategien des dramatischen politischen Theaters. Ebenso wie die metatheatrale Bedeutungsebene kann auch die alternative Historiografie die Konstruktivität von Realität, in diesem Fall der Geschichtsschreibung, betonen. 109 | Historiendramen meinen: „Dramatische Form[en] der Geschichtsdichtung mit historischen Stoffen in zeitlos gültiger Gestaltung, die entweder tatsachengetreu oder abgeändert auf der Bühne dargestellt werden. […] Im Gegensatz zum historischen Drama ist das Historiendrama gekennzeichnet durch die Gestaltung historischer Stoffe. Die Autoren benutzten den historischen Stoff, um didaktische, religiöse, politische oder kulturelle Tendenzen zum Ausdruck zu bringen.“ (Müller/Wess, 1999:109) 110 | Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch historische Dramen und Historiendramen alternative Historiografien mit politischem Wirkungsanspruch entwickeln können. So hält Floeck für die mexikanischen Conquista Dramen des 20. Jahrhunderts fest: „Es geht in mexikanischen Conquista-Dramen des 20. Jahrhunderts nicht um den Versuch einer archäologischen oder gar objektiven Rekonstruktion des historischen Geschehens, sondern um die Vereinnahmung der Geschichte durch eigene Interessen und um die Bewältigung aktueller nationaler Probleme.“ (Floeck, 2008: 229) 111 | Auch ist denkbar, dass ganz auf einen politischen Konflikt in der Gegenwart verzichtet wird. Die entsprechenden Bühnentexte werden dann allerdings nicht als „Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht auf mehreren Bedeutungsebenen“, sondern als „Vermittlung auf einer Bedeutungsebene“ verortet. C OMIDA DA N ZINGA , uraufgeführt 2006 am Theatro XVIII, ist ein Bühnentext, der sich als eine solche „Entwicklung alternativer Historiografien auf einer Ebene“ hätte erweisen können. Laut Schrifttext, Fotos und Rezensionen verzichtet die Aufführung auf die Abbildung aktueller Bezüge und konzentriert sich auf die Abbildung der Geschichte um Nzinga, der Königin des afrikanischen Ndongo im 17. Jahrhundert. Da keine Videoaufnahme der Aufführung vorlag, wurde sie nicht in das Korpus der Arbeit aufgenommen (siehe Kapitel 3.2.3).

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Sie besitzt damit das Potential, die Zuschauer anzuregen, etablierte Wahrnehmungsmodi – und damit auch die geschlossene Welt und klare Botschaften des dramatischen politischen Theaters – zu hinterfragen.

Z UMBI – die favela als modernes quilombo Não me venha com propostas – eu fiz as perguntas e quero respostas. (Todos, Z UMBI)

ZUMBI, geschrieben von Márcio Meirelles, Aninha Franco und den Mitgliedern von Bando de Teatro Olodum, wurde unter der Regie von Chica Carelli und Márcio Meirelles am 23.04.1995 im Teatro Vila Velha uraufgeführt.112 Kurz nach der Uraufführung in Salvador wurde die Inszenierung unter dem Titel ZUMBI – FLAME OF RESISTANCE gemeinsam mit der Black Theatre Co-Operative in London und weiteren Städten Großbritanniens gezeigt.113 In Brasilien wurde zudem ein Gastspiel in São Paulo durchgeführt (vgl. Uzel, 2003: 283).114 Thema der Aufführung ist, wie bereits in BAI BAI PELÔ und O MILAGRE NA BAÍA, der in Salvador da Bahia besonders virulente, im medialen Diskurs allerdings äußerst einseitig beschriebene, politische Konflikt um städtischen Wohnraum (siehe 112 | Text: Marcio Meirelles, Bando de Teatro Olodum, Aninha Franco; Regie: Marcio Meirelles, Chica Carelli; Musikalische Leitung: Cícero Antônio; Ensemble: Arlete Dias, Auristela Sá, Cristóvão da Silva, Edvana Carvalho, Edinaldo Muniz, Gerimias Mendes, Jorge Washington, Lázaro Machado, Lázaro Ramos, Luciana Souzo, Merry Batista, Nauro Neves, Rejane Maia, Sérgio Amorim, Suzana Matta, Valdinéia Soriano, Virgínia Rodrigues. Die letzten Minuten der Aufführung (01:02:10 bis 01:03:54 und ab 01:07:10), in denen in der Videoaufnahme der Ton fehlt, wurden mithilfe der Textversion und Interviews rekonstruiert. 113 | Die englische Version wurde auch hinsichtlich der Fabel angepasst: Anstelle der Geschichte von Zumbi und der Situation von favelados in Brasilien wurde stärker die Position von negros in Großbritannien thematisiert. Der Bühnentext, der unter anderem ein 7 x 7 m großes Plakat eines Jungen zeigte, der mit einem Maschinengewehr auf das Publikum zielte, wurde von vielen Kritikern in Großbritannien als rassistisch oder gar als „estimuladora da violência de negros contra brancos“ (Uzel, 2003: 131) gewertet. 114 | Es mag überraschen, dass die Aufführungen in São Paulo ein deutlich größeres Publikum ansprach als in Salvador – obwohl Letztgenanntes, wie in Kapitel 3.1.1 beschrieben, über eine deutlich größere negro-Bevölkerung verfügt (vgl. Uzel, 2003: 134). Der Grund dafür wurde von Meirelles in der Baufälligkeit des Teatro Vila Velha zur Zeit der Uraufführung gesehen, welche die Zuschauer abgeschreckt hätte (vgl. ebd.).

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Kapitel 4.1.1.1 und 4.1.1.2). Erneut basiert der Theatertext auf Interviews und Beobachtungen, die von Bando de Teatro Olodum in den realen favelas Salvador da Bahias durchgeführt wurden (vgl. ebd.: 121). Die thematische Politizität wird in der Aufführung zunächst in der Geschichte durch Figuren, Handlung und Dialoge abgebildet, die wiederum insbesondere durch die sprachlichen Zeichen konstituiert werden (vgl. hier und im Folgenden ZU und Franco/Meirelles, 1995). Auf der Bühne wird zu Beginn dargestellt, wie die Bewohner eines besetzten Geländes im Stadtzentrum zu ihrer favela zurückkehren und feststellen müssen, dass ihre Behausungen inzwischen von der Polizei zerstört wurden (07:44-16:30, 1-3). Der Konflikt zwischen Besitzern und Besitzlosen wird in ZUMBI um eine ethnische Komponente ergänzt, indem er in den Dialogen auch zu einem Kampf zwischen negros und brancos erklärt wird: Arafat 115: Branco adora porra e conversa fiada. Faz cada acordo. Promete terra, promete a paz. Não sei de onde ele tira tanta coisa pra dar? (01:00:50-01:00:58, 14)

Die abgebildete Welt der favelados wird eng an die soteropolitanische Realität angebunden: So wird die favela selbst zwar nicht präzise lokalisiert, allerdings wird in den sprachlichen Zeichen als alternativer Wohnort Coutos erwähnt, eine circa 20 km vom Stadtzentrum entfernte soteropolitanische favela (48:13, 10). Auch Sprechweise und Spielweise der Schauspieler erwecken einen realistischen Eindruck. Auf diese Weise wird der politische Konflikt dem Zuschauer unmittelbar und authentisch präsentiert, ohne dass dieser eine Transferleistung vornehmen müsste. Die politische Wirkungsabsicht der Aufführung lässt sich ebenfalls in den dramatischen Strukturelementen nachweisen: Im Gegensatz zum außertheatralen Stigmatisierungsdiskurs wird in den Dialogen und Handlungen der ersten Szenen (07:44-16:30, 1-3) ein Bild der favela entworfen, das einerseits zwar von Armut, Drogensucht und Kriminalität geprägt ist, dennoch aber ein soziales Regelsystem aufweist: So wird ein auf der Bühne dargestellter Überfall auf eine favela-Bewohnerin von anderen favelados bestraft. In den Dialogen formulieren die Bewohner zudem bescheidene und durchaus bürgerliche Ziele und Wünsche für ihre Zukunft: eine Existenz aufbauen, ihre Kinder in die Schule zu schicken und durch rechtschaffene Arbeit Geld zu verdienen. Diese lassen sich, so die Argumentation der Bewohner, allerdings nur bei einem Verbleib vor Ort erreichen. Während die favelados auf diese Weise positiv charakterisiert werden, 115 | Die Wahl des Namens „Arafat“ lässt eine Verbindung zum palästinensischen Friedensnobelpreisträger und ehemaligen Präsidenten der autonomen Palästinensergebiete, Jassir Arafat, vermuten und stellt so eine Verbindung zum Siedlungskonflikt zwischen Israel und Palästina und der Unterdrückung der favelados her.

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werden die Handlungsmotive von Polizei, Baufirma und Gouverneur, die den Bewohnern im auf der Bühne dargestellten Konflikt gegenüberstehen, für den Zuschauer nicht nachvollziehbar präsentiert. Denn die Antagonisten werden in der Aufführung nicht figural dargestellt, sondern nur durch Stimmen und die Bewegungen der favela-Bewohner konstituiert (z.B. 38:10-39:50, 7; 01:05:1501:07:15, 9). Damit verweigert die Aufführung denjenigen, die normalerweise den Diskurs bestimmen, die Gelegenheit, sich für ihre Handlungen, d.h. die Zerstörung der favela, zu rechtfertigen. Hinsichtlich der in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen Unterscheidung zwischen dramatischen und postdramatischen Vermittlungsstrategien zeigt sich, dass sich der Bühnentext über die semiotisch nachweisbaren Isotopien hinaus auch performativer Elemente zur Vermittlung der Wirkungsabsicht bedient. Ein Beispiel dafür ist die Misshandlung des favelados Chico durch die Polizei. Chico befindet sich in dieser Szene alleine auf der Bühne, während aus nicht sichtbaren Lautsprechern eine dunkle Stimme ertönt: Policial: Eu vou gastar uma bala em sua testa, negro escroto, esse e o seu direito. [...] Sua cor preta é uma arma. Todo preto é bandido e por isso não tem direito a ficar em lugar nenhum. (38:10-39:50, 7)

Die körperliche Misshandlung wird durch Trommelschläge markiert, auf die der Schauspieler von Chico reagiert, indem er über die Bühne wankt, von unsichtbaren Schlägen hin und her geschleudert wird, auf den Boden fällt und dort bei jedem Trommelschlag zusammenzuckt. Die kraftvollen, abrupten Bewegungen und das Klatschen, das jedes Mal ertönt wenn Chico mit seinem nackten Oberkörper auf den Boden fällt, machen die Körperlichkeit des Schauspielers bewusst. Indem der Schauspieler auf der Bühne wirklichen Schmerzen ausgesetzt ist, bricht an dieser Stelle die Realität in die Aufführung ein. Diese überträgt sich auf den szenisch inszenierten Konflikt der favelados insgesamt, bindet so die theatrale Abbildung näher an die soteropolitanische Realität und verleiht dem Appell noch größere Intensität. Eine weitere stark performativ geprägte Szene ist das Lied Eu fiz as perguntas (27:20-28:22, 5). Dieses wird von allen Figuren gemeinsam vorgetragen. Performative Wirkung entfaltet die Szene durch die Vortragsweise: Alle Schauspieler drängen sich während des Liedes vorne auf dem Bühnenpodest, sprechen und schreien die Worte ins Publikum, schieben sich aneinander vorbei, unterstreichen ihre Worte mit kraftvollen, abrupten Gesten und verleihen so dem Text starke Emotionalität und Intensität. Durch die Nähe zum Publikum wird der Schweiß auf der Haut ebenso sichtbar wie auch die Gesichtsausdrücke der Schauspieler. Den oben erläuterten Realitätsbezug, der durch performative Elemente bewirkt werden kann, kombiniert diese Szene mit dem epischen Element der Zuschaueransprache:

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Abbildung 13: Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit

ZU 42:41: Zunächst kündigt Mateus an, den Bürgermeister aufzusuchen, tatsächlich ist es aber Ganga-Zumba, welcher den Gouverneur adressiert. Sprachliche Zeichen und Kostüm stehen in Opposition und bewirken, dass sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern. Auch fällt die Abwesenheit des Antagonisten auf: Stattdessen wird das Publikum adressiert.

Abbildung 14: Performative Elemente

ZU 27:30: Im Lied Eu fiz as perguntas klagen die Figuren das Publikum an. Durch den engen Raum und die Bewegungen macht die Szene die Köperlichkeit der Schauspieler bewusst, Realität und Fiktion verschwimmen.

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Todos: Quem disse que eu nasci para obedecer e você para mandar? / Quem deu essas terras ao pai de seu pai / e quem tirou de mim as que não foram minhas? / Não me venha com propostas, / eu fiz as perguntas e quero respostas! / Há dois mil anos / que você não me diz nada, / não tenha a que perder / quando for te enfrentar, / você está brincando com a resposta errada. (27:20-28:22, 5)

Der Zuschauer wird auf diese Weise als Akteur innerhalb des Konflikts adressiert – und zwar auf der Seite der Antagonisten/brancos/Besitzer. Die Intensität der Performance und die aggressive, direkte Ansprache der Zuschauer als Antagonisten bewirken zusammen einen starken Haltungsdruck (siehe Kapitel 2.1.3).116 Durch die Performativität der Szene wird dieser ebenfalls direkt auf die Realität übertragen. Performative Elemente und die Art der Zuschaueransprache steigern so deutlich die Intensität der Aufforderung der Zuschauer zur Aktion. Auf dieser Bedeutungsebene wird die Absicht der Aufführung, den Zuschauer zu politischer Partizipation gegen die aktuelle Wohnraumpolitik zu animieren, weiter verstärkt, indem eine Parallele zwischen der Situation der heutigen favelados und der Bevölkerung des quilombos Palmares gezogen wird. Das quilombo Palmares war eine zu Beginn des 17. Jahrhunderts zwischen Alagoas und Pernambuco gegründete Siedlung geflohener Sklaven (vgl. Anderson, 1996: 551), die zwischenzeitlich bis zu 20.000 Bewohner umfasste (vgl. Burns, 1980: 54). Zumbi, der Titelgeber der Aufführung, war von 1678 bis zu seiner Zerstörung 1694 der Anführer von Palmares und widersetzte sich zahlreichen Eroberungsversuchen der portugiesischen Kolonialmacht (vgl. ebd.). 1695 wurde Zumbi, nachdem er ein Jahr zuvor in einer entscheidenden Schlacht geschlagen worden war, von einem seiner eigenen Gefolgsleute verraten und vom portugiesischen Heer getötet (vgl. ebd.). Die Geschichte des Widerstandes von Zumbi gegen die Kolonialmacht war im brasilianischen politischen Theater bereits in den 1970er-Jahren von Teatro de Arena in ARENA CONTA ZUMBI zur Kritik an der Militärdiktatur genutzt worden (siehe Kapitel 2.2.2.2).117 Auf der ersten 116 | Ein weiteres Beispiel für die Verortung der Zuschauer auf Seiten der Antagonisten findet sich in der letzten Szene der favelados: Hier kündigen Chico und weitere drei favelados an, dass sie den Kampf fortsetzen werden. Dabei wird das Publikum direkt angesprochen: „Dan: Nós estamos no mundo, temos que ficar em algum lugar. Eu sei que por vocês nós estaríamos em nossas casinhas bem pequenininhas, bem longe, felizes, com a nossa farinha e a nossa carne seca.“ (01:03:20-01:05:15, 15) 117 | Die Bühnentexte von Z UMBI und A RENA CONTA Z UMBI unterscheiden sich allerdings deutlich: Zwar werden auch in A RENA C ONTA Z UMBI Bezüge zur Gegenwart hergestellt – so zum Beispiel im einleitenden Song – allerdings sind diese viel indirekter als bei Z UMBI , was sicherlich auch der Zensur während der Militärdiktatur zu schulden ist (vgl. Puga, 2008: 90). Wie in Kapitel 2.2.2.2 beschrieben, führte A RENA CONTA Z UMBI das coringa-

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Bedeutungsebene verstärkt die Parallele zwischen Palmares und dem aktuellen Konflikt die Dringlichkeit des Appells, indem verdeutlicht wird, dass sich seit mehr als 300 Jahren die Situation nicht verändert hat. Diese Funktion wird in der Aufführung von den Figuren verbalisiert: Vardé: Você acha que algo mudou? Você tem que passar um dia na favela, não mudou nada. [...] Na época dos meus bisavos, meus tataravos, matou, despancou, e ninguem podia fazer nada. Só que na época, a gente sabia que éramos escravos. Hoje, na favela, matam, despancam. E a gente continua sem poder fazer nada, a história se repete, cara. (19:55-21:08)

Die Parallelen zu Palmares werden im Verlauf der Aufführung immer deutlicher herausgearbeitet: Zunächst wird die Verbindung durch den Titel ZUMBI sowie durch Tonbandeinspielungen hergestellt, die zu Beginn der Aufführung die Hintergründe des brasilianischen Sklavenhandels erläutern (z.B. 06:55-07:44, 1). Im weiteren Verlauf nehmen dann auch die Figuren in ihren Dialogen Bezug auf das quilombo, wenn sie beispielsweise darüber debattieren, ob sie dem Angebot des Gouverneurs folgen und die favela verlassen oder vor Ort bleiben sollen (40:34-42:10, 10f.). Damit wird die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit auch im inneren Kommunikationssystem vollzogen. In dieser Diskussion spalten sich die favelados in zwei Gruppen: Eine Gruppe um Mateus, der das Angebot der Stadtverwaltung annehmen und an den Stadtrand ziehen möchte, und eine zweite um Chico, die vor Ort bleiben will. Durch die Kommentare der Bewohner sowie eine Tonbandeinspielung wird verdeutlicht, dass eine ähnliche Debatte auch in Palmares zwischen den Anführern Ganga-Zumba und Zumbi geführt wurde (47:59-56:13, 10-12). In dieser Debatte zwischen Mateus/Ganga-Zumba und Chico/Zumbi um die beste Reaktion positioniert sich die Aufführung durch die Figurencharakterisierungen deutlich auf der Seite Chicos/Zumbis: Gil: Ganga-Zumba era ótario. Traiu Palmares, entregou seus segredos aos brancos, desceu a serra da Barriga para reverenciar, comer, beber e fazer acordo com os filhos

System ein, das die szenische Darstellung verfremdete. Dieses wird, mit Ausnahme von einer Anspielung in einer Szene, in der alle Schauspieler im Kreis sitzen (20:1326:20), in Z UMBI nicht verwendet. Zudem wurden die Figuren in A RENA CONTA Z UMBI von branco-Schauspielern verkörpert: „The performance simultaneously pays homage to Zumbi yet robs him of his racial identity as if in order to pose a worthy oponent for the military’s heroes he has to undergo a process of symbolic branqueamento.“ (Puga, 2008: 83) Im Gegensatz zu Z UMBI lässt sich bei A RENA CONTA Z UMBI demnach nur eine Bedeutungsebene konstatieren.

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da puta dos senhores de engenho que queriam mesmo era o negro no batente. Ganga-Zumba era branco. (49:15-49:30, 18)

Die Gleichartigkeit der Behandlung der quilombolas und der favelados wird von der Aufführung auch demonstriert, indem durch die Darstellungsweise und die Handlung die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollständig aufgelöst werden: Nachdem die Figur Mateus zuvor in einer klar der favela zugeordneten Szene angekündigt, mit dem Gouverneur zu sprechen, verorten die sprachlichen Zeichen das „Gespräch“118 plötzlich in die Kolonialzeit. Anstelle von Mateus repräsentiert der Schauspieler nun Ganga-Zumba: Mateus/Ganga-Zumba: Eu quero dar e quero receber. Entrego os negros fugidos e os que foram raptados pelos meus homens, mas quem nasceu em Palmares ninguém toca. [...] tudo que eu quero é paz. [...] Os outros negros também sonh-am, também querem, também desejam, também são felizes. De onde vocês tiram a idéia de que nós somos bichos? (42:10-43:47, 17)

Durch dieses Übereinanderlegen von zwei Figuren119 wird die zuvor in den sprachlichen Zeichen behauptete Ähnlichkeit der Situationen „bewiesen“: Durch die Austauschbarkeit von Mateus/Ganga Zumba und Chico/Zumbi zeigt sich, dass die favelados mit Vertreibungen, Misshandlungen und willkürlichen Festnahmen derselben Unterdrückung ausgesetzt sind wie ihre Vorfahren. Sklaverei und Situation der modernen favelados werden in der Totalität des Sinnes der Aufführung auf diese Weise gleichgesetzt – und die Letztgenannte als ebenso moralisch untragbar bewertet wie die Erstgenannte. Indem die Aufführung hier die Identität der Figuren auflöst, setzt sie ein Element des postdramatischen Theaters ein (siehe Kapitel 2.1.3). Dieses bricht allerdings die dramatische Repräsentation nicht, sondern ermöglicht die Verstärkung der Analogie zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Damit wird das postdramatische Element hier nicht zur Kritik an, sondern Unterstützung der dramatischen Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht eingesetzt. Ebenso wie A ÓPERA DOS TRÊS REAIS und ESSE GLAUBER (siehe Kapitel 4.1.1.3 und 4.1.2.1) verfügt auch ZUMBI über eine deutliche Kritik an der Kirche. So wird zu Beginn der Aufführung in einer Radioeinspielung die Legitimierung der Sklaverei durch die Kirche betont (07:05-07:30, 1). In einem Lied klagen die Figuren im weiteren Verlauf auch direkt an: 118 | Tatsächlich ist dies kein Dialog, sondern ein Monolog, da, wie oben beschrieben, die Antagonisten nicht repräsentiert werden. 119 | Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Schauplätzen/Zeiten wird auch davon unterstützt, dass kein Bühnenbild existiert. Die Aufmerksamkeit wird so ganz auf die Schauspieler gelenkt.

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Deus, por que o céu tem que ser só seu? Deus, quando e que essa surdez tem fim? Deus, o céu é bem menor que eu. Deus deixa que eu faça dele o que eu quero para mim. (34:50-35:18, 6)

Durch die Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart wird diese Kritik auch auf die heutige Situation übertragen: Der Zuschauer kann sich nicht auf die Hilfe Gottes verlassen, sondern muss selbst handeln. Den Ausgang des Konflikts in der Gegenwart lässt die Aufführung offen: Chico und einige andere Bewohner kündigen dem Publikum an, dass sie ihren Widerstand fortsetzen werden (01:03:20-01:05:15, 20f.). Ob sie damit Erfolg haben, bleibt allerdings offen – und damit auch vom Handeln der Zuschauer in der Realität abhängig. Der Aufruf, sich – wie der positive Held Chico im Gegensatz zum resignierenden Mateus – gegen die Umsiedlungspolitik zu engagieren, wird durch diese Offenheit verstärkt. Anstatt den Konflikt in der Gegenwart zu lösen, schließt die Aufführung mit der Präsentation des Endes von Palmares: Der Verrat von Zumbi durch seinen eigenen Gefolgsmann120 und seine Ermordung werden auf der Bühne dargestellt (01:09:18-01:10:40, 21f.). Der Kontrast zwischen dem offenen Ende des Konfliktes um die favela und dem geschlossen Ende von Palmares zeigen: Während die Vergangenheit und das tragische Ende von Palmares nicht mehr verändert werden können, haben die Zuschauer die Möglichkeit, den gegenwärtigen Konflikt noch zu Gunsten der favelados zu beeinflussen. Damit führen auf der ersten Bedeutungsebene auch in ZUMBI die Präsentation der Sichtweise der favelados, die Aufklärung der Zuschauer über die „wirklichen“ Verhältnisse in der favela und eine Destigmatisierung derselben zu einer Positionierung im politischen Konflikt um städtischen Wohnraum. Die dramatischen Strategien zur Vermittlung dieser Wirkungsabsicht werden durch postdramatische, performative Elemente und Zuschaueransprachen unterstützt. Diese werden eingesetzt, um den Realitätsbezug weiter zu stärken

120 | Die Motivation des Verräters lässt sich im Sinne der Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit ebenfalls auf beide Situationen übertragen: „Amaro: Eles não sabem que na vida tudo tem de ser trocado, a vida de Zumbi por terra e pão, prestigio pela minha própria vida, dinheiro pela vida da invasão. Se eu não troco, eu não tenho, não tenho, mas vejo, vejo e quero pra mim, é a lei do meu desejo. Veja e guardo no alho, é o tamanho da dor. Vejo e quero ganhar, e a lei do trocador. Vida par terra, terra par prazer, prazer pôr bem-estar, essa é a regra de viver.“ (01:07:25-01:09:10, 16) Aus dieser Überlagerung kann auch eine Kritik an der gegenwärtigen soteropolitanischen Mittelschicht gelesen werden, die durch ihr Nichteingreifen die faveldos ebenso verrät, wie Zumbi verraten wurde.

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und den Haltungsdruck auf den Zuschauer zu erhöhen.121 Damit ist ZUMBI ein Beispiel, wie postdramatische Elemente für die Unterstützung der dramatisch vermittelten Wirkungsabsicht funktionalisiert werden können. Die Vergangenheit wird auf dieser Ebene eingesetzt, um die Dringlichkeit einer Veränderung zu verdeutlichen. Die zweite Bedeutungsebene der Aufführung ergibt sich aus der alternativen Historiografie, die durch die Schilderung der Ereignisse von Palmares entwickelt wird. Dass Zumbi überhaupt thematisiert wird, entspricht nicht der orthodoxen Geschichtsschreibung, denn im brasilianischen Geschichtsunterricht wurde Zumbi zum Zeitpunkt der Aufführung nicht besprochen (vgl. Uzel, 2003: 125). Die Aufnahme der afro-brasilianischen Geschichte in die Curricula wurde erst 2003 durch ein Gesetz garantiert, das die Aufnahme der afro-brasilianischen Geschichte und Kultur, darunter auch „a luta dos negros no Brasil“ (Lei No 10.639, de 9 de Janeiro de 2003) vorschrieb. Dennoch hält Tavares noch im Jahr 2008 fest, dass der Widerstand der Sklaven in der Geschichtsschreibung selten korrekt dargestellt wird, sondern weiterhin ein Bild der passiven Unterordnung vorherrscht: Conceitos preconceituosos ainda transmitem a noção errada de passividade dos africanos perante a escravidão. [...] Escravo em terras estranhas, o africano praticou todas as formas de resistência à escravidão. Iam do envenenamento dos senhores ou de seus familiares ao quilombo e à mais alta de todas, as revoltas e levantes que chegavam a reunir dezenas de escravos. (Tavares, 2008: 59f.)

Dass die Aufführung neben der Aufforderung, sich für einen menschenwürdigen Umgang mit den favelados einzusetzen, noch über eine weitere politische Bedeutungsebene verfügt, wird in der Figurenrede ausdrücklich formuliert: Nicolau: As histórias que dissem que o negro africano não desistiu a escravidão é uma mentira desgraçada. O negro lutou desde o momento quando saiu da Africa. Quantos negros se jogaram no mar dos navios? Quantos fugiam para os quilombos? (21:20-22:05)

121 | Der in dieser Arbeit analysierten Aufführung geht eine Rede von Márcio Meirelles voraus, in der er die Zuschauer zu einer politischen Aktion in der Realität aufruft: Sie sollen sich am nächsten Tag an der Aktion „Carta da Terra“ (03:15-06:40). Dabei sollten die Bürger Karten mit einem Text, der eine Demokratisierung des Landbesitzes in Brasilien forderte, an ihre Abgeordneten und den brasilianischen Präsidenten zu schicken. Meirelles zieht eine Verbindung zu Z UMBI: „O espetáculo é basicamente sobre isso, sobre as condições de vida, condições de sobrevivência, a moradia, a falta de terra quando tem quanto terra.“

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Politisches Theater in Brasilien

Indem sich die Aufführung Palmares widmet und als eine Geschichte des heldenhaften Widerstandes erzählt, stellt sich ZUMBI der dominanten Geschichtsschreibung entgegen. In diesem Kontext kann die Tatsache, dass Zumbi zu Titelgeber und Hauptfigur eines Dramas wird, als alternative Historiografie gewertet werden. Damit wendet die Aufführung eine typische Strategie des postkolonialen Theaters an: A specific strategy of revisionist histories in both settler and occupation colonies has been the reclamation of subversive figures to make them into heroes. The leader of a rebellion against colonial forces or someone generally historicized as villainous is often reconstructed in post-colonial theatre to play a highly prominent role in the struggle for freedom from imperial rule. (Ebd.: 116)

Zumbi fungiert in der Aufführung nicht nur als Protagonist in dem Sinne, dass er für die Entwicklung der Handlung entscheidend ist, sondern er wird auch sehr ausführlich und sehr positiv beschrieben. Die Tonbandeinspielung zitiert beispielsweise aus einem Originalbrief seines Ziehvaters: „Zumbi tem engenho jamais imaginável na raça negra e que bem poucas vezes encontrei em brancos.“ (40:10-40:20, 17) Zudem wird er von anderen Figuren positiv charakterisiert: Er wird als „exemplo da galera“ (53:50, 12), „grande-chefe“ (53:44, 12), „flagelo e embaraço dos brancos“ (53:46-53:48, 12) bezeichnet. Im Sinne einer Aufwertung der Rolle der negros in der Geschichte wird nicht nur Zumbi als heldenhaft beschrieben, sondern auch die Bedeutung Ganga-Zumbas bei der Abschaffung der Sklaverei betont. Ein Lied kommentiert die Szene, in der er mit dem Gouverneur spricht: „Quem estranha cena é esta / Que parace o princípio do fim da senzala?“ (58:38-59:20, 14) Der negro wird durch die Darstellung von Zumbi und Ganga-Zumba in ZUMBI damit vom Objekt der Sklaverei und ihrer Abschaffung zum handelnden, seine Situation selbst beeinflussenden Subjekt. Auch Palmares insgesamt wird in der Aufführung sehr positiv repräsentiert. In historischen Quellen dargestellte Umstände, so die Vergiftung von GangaZumba durch Unbekannte (vgl. Anderson, 1996: 552) – die Verantwortung für seinen Tod wird in der Aufführung explizit den brancos zugeschrieben – und der Einsatz von Sklaven in Palmares selbst (vgl. Puga, 2008: 85f.) werden in der Aufführung nicht diskutiert. Stattdessen wird in der Figurenrede die Einheit von Palmares betont: Iara: E conseguiram viver livres dentro de uma colônia que tinha escravos. Lá tinha comida pra todo mundo, cara. Também a negrada trabalhava duro e ó: unida. (37:3538:10, 11)

Damit konstituiert die Aufführung durch Mittel des dramatischen Theaters ein im Vergleich zum allgemeinen Diskurs positiveres Bild von Palmares.

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Auf der zweiten Bedeutungsebene erhalten auch die Tonbandeinspielungen, die auf der ersten Bedeutungsebene die Parallele zwischen der Situation der favelados und quilombolas etablieren, eine weitere Funktion. Indem sie ausgewählte Aspekte der Geschichte wiedergeben, klären sie den Zuschauer überhaupt erst über die Existenz von quilombos auf und versorgen ihn mit Informationen, die er ansonsten nicht vermittelt bekommt: Locução de Rádio: Pouquíssimo tempo depois do início do tráfico, há notícias sobre o aparecimento de quilombos que percorrem toda a escravidão brasileira, em quaisquer lugares aonde houvesse negros. Existem referencias a centenas de quilombos construídos e destruídos pelos capitães do mato – caçadores de negros fugidos – entre meados do século XVI e 1888, mas nenhum deles foi maior ou de mais longa duração do que Palmares, situado entre Pernambuco e Alagoas, na inacessível Serra da Barriga. Ao que parece, desde 1602 africanos ocupavam a região. (28:37-29:12, 5)

Damit erhält die Aufführung auf der zweiten Bedeutungsebene eine auf die Vergangenheit bezogene didaktische bzw. aufklärerische Funktion. Indem die Tonbandeinspielungen nicht auf der innerdramatischen Ebene verortet sind, sondern als epische Elemente zwischen Handlung auf der Bühne und Zuschauern angesiedelt sind, kommt ihnen besondere Glaubwürdigkeit zu. Auch weitere epische Elemente nehmen in der Aufführung in diesem Sinne eine didaktische Funktion ein. So widmen sich auch die Lieder verschiedenen Aspekten der Sklaverei: Branco queria negro / Negro queria fumo / Branco tinha fumo que negro queria / Negro tinha negro que branco queria. / Querer e poder são irmãos deles mesmos, / e de mais ninguém. (19:05-19:57, 4)

Die einfache, rhythmische Syntax prägt sich dem Zuschauer ein – es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch einige Zeit nach der Aufführung die einfachen, den Ausgang der Sklaverei und das Machtgefüge in Afrika im 16. Jahrhundert erklärenden Sätze dem Zuschauer noch präsent sind. Allerdings bleibt die Vermittlung der alternativen Historiografie nicht auf epische Elemente beschränkt, sondern wird auch von den Figuren formuliert. Dies bedeutet auch, dass die scheinbare „Neutralität“, welche die Tonbandeinspielungen auszeichnet, gegenüber emotionalen, wertenden Schilderungen aufgegeben wird: So begleitet die Figur Arafat ihre Schilderung des finalen Angriffs von Jorge Domingos Velho auf Palmares mit Seufzern, verzweifelten Schreien und Schimpfworten, die ihre Ablehnung der Angreifer ausdrücken:

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Arafat: Os brancos voltaram, eles sempre voltam, rapaz! […] Todo mundo branco se uniu contra nós. […] Incendiaram Macaco e degolaram todos. Depois cansaram de tanto sangue, e estão caçando negros para vender na Bahia. (01:02:10-01:03:20, 15)

Die dramatische Vermittlung durch eine Figur verstärkt die Emotionalität der Situation und ermöglicht dem Zuschauer Einfühlung. Durch diese Art der Darstellung wird deutlich, dass es sich eben nicht um eine objektive Schilderung handelt, sondern der orthodoxen Geschichtsschreibung ein emotionaler, für die quilombolas Partei ergreifender Diskurs entgegengesetzt wird. Epische und dramatische Elemente werden auf dieser Bedeutungsebene damit auf eine Weise kombiniert, dass einerseits Glaubwürdigkeit und scheinbare Objektivität gewährleistet werden, während andererseits der Zuschauer auch emotional angesprochen wird. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dramatischem und postdramatischem politischen Theater ist auffallend, dass das dramatische politische Theater und seine Wahrnehmungsmodi durch die zusätzliche Bedeutungsebene nicht infrage gestellt werden: Anstatt die Konstruktivität von Geschichte zu betonen und die Regeln ihrer Repräsentation zu hinterfragen, wird eben jene Repräsentation verwendet, um einen abweichenden Diskurs zu etablieren. Beide politischen Bedeutungsebenen, einerseits die Aufforderung zur Aktion im politischen Konflikt um städtischen Wohnraum, andererseits die Forderung einer Neubewertung der Darstellung der negros in der Historiografie, funktionieren damit nach denselben Prinzipien des dramatischen politischen Theaters. Beide Bedeutungsebenen existieren zudem nicht voneinander getrennt, sondern fügen sich in der Totalität des Sinnes der Aufführung zusammen: Indem der gegenwärtige Konflikt der favelados in der Aufführung auch als ethnischer Konflikt zwischen negro und branco beschrieben wird, wird deutlich, dass für eine Verbesserung der Situation der favelados auch eine Veränderung der Stellung der negros in der Gesellschaft notwendig ist (erste Bedeutungsebene). Entscheidend hierfür ist wiederum eine angemessene Darstellung der negros als Subjekte der brasilianischen Geschichte (zweite Bedeutungsebene), wie sie ebenfalls von der Aufführung gefordert und vollzogen wird. Der abgebildete Konflikt der Gegenwart wird als ein Resultat historischer Marginalisierung beschrieben. Erst wenn Letztere sich nicht fortschreibt, kann der aktuelle Konflikt gelöst werden. Auf diesen beiden Ebenen setzt die Aufführung an.

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T RÊ S M ULHERE S E A PARECIDA – eine alternative Geschichte der brasilianischen Frau Quinhentos anos temperando esse caldo e na hora do bem bom é lixo. Quando a gente olha no fundo do caldeirão, a única coisa que dá para ver é outro dia de branco. (Aparecida, TRÊS M ULHERES E A PARECIDA)

Der Theatertext TRÊS MULHERES E APARECIDA, geschrieben von Aninha Franco, wurde unter der Regie von Nadja Turenko am 31.03.2000 im Theatro XVIII uraufgeführt.122 Das circa sechzigminütige Einpersonenstück zeigt in sieben Szenen Ausschnitte aus dem Leben von vier Frauen verschiedener Ethnien und Epochen der brasilianischen Geschichte. Zu Beginn des Jahres 2000 wurde in Brasilien mit zahlreichen Veranstaltungen der 500. Jahrestag der „Entdeckung“ durch Pedro Alvares Cabral begangen. Im Zentrum der offiziellen Zeremonien stand die Anlandung eines dem Original von Cabral nachempfundenen Schiffes am 22.04.2000 in Bahia im Beisein von Vertretern der lokalen und nationalen Politik und geladenen Gästen (vgl. Diniz, 2000: 24). Allerdings wurden die Feierlichkeiten nicht von allen Brasilianern begrüßt: Unter dem Titel „500 Anos de Resistência Indígena, Negra e Popular“, später „Outros 500“, protestierten zivilgesellschaftliche Initiativen wie das Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (siehe Kapitel 4.1.2.1), aber auch indígena- und negro-Bewegungen sowie Gewerkschaften gegen die Feierlichkeiten (vgl. Conselho Indigenísta de Missionário/Conferência Nacional dos Bispos do Brasil/Central de Movimentos Populares/Comissão Pastoral da Terra et al., 2000). Tatsächlich war ein großer Teil der Bevölkerung von den Feierlichkeiten ausgeschlossen: Those who were ‚levantados do chão‘ (‚raised from the ground‘), whether they are rural workers or Indians, blacks or marginalized people in general, watched from afar the confirmation of their exclusion from the real and the imaginary Brazil. (Diniz, 2000: 27; Herv.i.O.)

Neben den genannten, aufgrund wirtschaftlicher oder ethnischer Kriterien von der Feier ausgeschlossenen Gruppen wurde von „Outros 500“ auch kritisiert, 122 | Text: Aninha Franco; Regie: Nadja Turenko; Ensemble: Rita Assemany. Eine Videoaufnahme konnte von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit im Theatro XVIII zwar angeschaut und transkribiert, aber nicht kopiert werden. Daher beziehen sich die Quellenangaben neben den Seiten im Schrifttext auf die Seite der Transkription. Ein Eindruck der Aufführung kann durch eine kurze Zusammenfassung auf Youtube (TMA1) gewonnen werden.

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dass die Feierlichkeiten die Rolle der Frau in der brasilianischen Geschichte nicht ausreichend würdigten (vgl. z.B. Centro de Cultura Proletária, 2005). Diese Marginalisierung der Frau wird auch der brasilianischen Historiografie vorgeworfen: Elas [as mulheres; Anm. SV] são mencionadas em sua maioria como coadjuvante e raramente como protagonista da história. […] [N]ão se valoriza, em algumas situações a capacidade da mulher em desempenhar outras funções fora do tripé: mãe-esposadona de casa. (Silva, 2008: 1-3)

Auf der ersten Bedeutungsebene greift TRÊS MULHERES E APARECIDA im Kontext der Jubiläumsfeierlichkeiten die Diskussion um soziale Ungleichheit in Brasilien auf. Gleichzeitig plädiert die Aufführung auf einer zweiten Bedeutungsebene ebenfalls dramatisch für eine andere, alle ethnischen Gruppen und die Rolle der Frau einbeziehende geschichtliche Darstellung. In dem Monodrama123 berichten vier von der Schauspieler Rita Assemany verkörperte Figuren, die Müllsammlerin Aparecida, die indígena Jacapu Coema, die Portugiesin Maria Pureza und die Afrikanerin Luedji Ungo, aus ihren Leben, die von unterschiedlichen Herausforderungen, stets allerdings von der Unterordnung der Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft, geprägt sind (vgl. hier und im Folgenden TMA und Franco, 2000): Aparecida lebt auf der Straße (3/9f.; 5f./14f.; 9f./21; 12f./28), Jacapu Coema wird Zeugin der Unterwerfung ihres Stammes durch die portugiesischen Eroberer (4/11-13), Maria Pureza wird nach ihrer Ankunft in Brasilien als Prostituierte ins Gefängnis gesperrt (6-9/15-20) und Luedji als Sklavin gehalten (10-12/22-27). Im Zentrum der Aufführung steht Aparecida, welche in die Aufführung einführt, sie beschließt und zwischen den anderen Figuren überleitet. Zusätzlich wird zu Beginn und Ende der Aufführung die katholische Heilige Aparecida auf der Bühne abgebildet (2/9, 13/28). TRÊS MULHERES E APARECIDA weist alle zentralen Elemente des dramatischen Theaters auf: Die unterschiedlichen Figuren werden dargestellt, indem die Schauspielerin ihre Körperhaltung, Sprache und Sprechweise der jeweils verkörperten Person anpasst. Auch das Kostüm wird, indem einige Accessoires hinzugefügt werden, der jeweiligen Zeit und Ethnizität der Figur angeglichen: Die Portugiesin Maria Pureza trägt eine gestreifte Schürze, rote Ärmel und eine rote Blume im Haar, Jacapu Coema, von der die Zuschauer nur den Kopf sehen, Stirnband und Federschmuck, Luedji ein schwarzbraun gemustertes Tuch 123 | Der Begriff „Monodrama“ umfasst laut Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft sowohl „ein Einpersonenstück“ (Vöhler, 2007: 627) als auch „ein Stück mit mehreren Personen, bei dem die Rede einer Person im Vordergrund steht“ (ebd.). Im Fall von TRÊS M ULHERES E A PARECIDA handelt es sich um ein Einpersonenstück.

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sowie einen Turban und Aparecida ein braunes Oberteil, einen weißen Rock und braune Sandalen. Der Übergang zwischen den Figuren wird auch durch die Sprache markiert, die den historischen Gegebenheiten angepasst wird. Das Bühnenbild besteht aus braun, grau und grün angemalten Wänden, einigen schwarz aufgemalten Fenstern und verschiedenen, an der Wand hängenden Küchenutensilien, der Boden ist von Mülltonnen bedeckt. Durch die Beleuchtung wird die Bühne entweder als Müllkippe oder Küche dargestellt und unterstützt so die jeweils in den sprachlichen Zeichen vorgenommene Verortung. Auch wenn Bühnenbild, Kostüm und Requisiten unterstützend wirken, kommt den sprachlichen Zeichen, abgesehen von der Szene der indígena Jacapu Coema, in der Aufführung besondere Bedeutung zu, da der Großteil der Handlung durch sie vermittelt wird. Auf der ersten Bedeutungsebene formuliert die Aufführung Kritik an der Ungleichheit in Salvador da Bahia und ruft zu einer Veränderung der Situation auf. Zur Vermittlung dieser Wirkungsabsicht bedient sich die Aufführung dramatischer Elemente, welche die schlechten Lebensbedingungen der armen brasilianischen Bevölkerung auf der Bühne abbilden: So lebt Aparecida auf der Straße, muss sich von Müll ernähren und kann von einem warmen Mittagessen nur träumen. Durch die Verwendung typisch baianischer Ausdrücke (z.B. „pera aí“ [5/14]) und von Ortsangaben wie „Brotas“ (3/9) und „Graça“ (3/9) wird die Handlung um Aparecida in Salvador da Bahia verortet. Die Sprechweise von Aparecida ordnet sie der baianischen Unterschicht zu124 und erweckt einen authentischen Eindruck. Die Szenen werden auf diese Weise eng an die Realität angebunden. Die realistische dramatische Darstellung einer Figur aus der soteropolitanischen Unterschicht ermöglicht die Einfühlung des Publikums in sonst marginalisierte Bevölkerungsschichten. Die Kritik an der soteropolitanischen Gesellschaft, die der Zuschauer aus der Darstellung der Lebensumstände von Aparecida ableiten kann, wird verstärkt, indem Aparecida auch explizit Kritik an der Situation formuliert: Aparecida: Tomará quem inventou o dinheiro esteja no inferno, num caldeirão enorme, cheiinha de merda. […] [N]ome feio é fome. (3/10)

124 | Zur Sprechweise hält Franco im Theatertext fest: „Os portugueses se horrorizavam com o fato de na língua tupi não existirem R (de rei), L (de lei) e F (de fé). Os baianos de todas as classes atualmente, falam português com sotaque tupi: comê (e não comer), pá (e não para), bebê (e não beber). O L é quase sempre omitido: facudade (e não faculdade)… . Aparecida fala português com sotaque tupi e omite, além do R e do L o D posterior ao N no gerúndio dos verbos: falano (e não falando), fazeno (e não fazendo), veno (e não vendo). Contudo, o povo tem rei, lei e fé.“ (Franco, 2000: 9). An dieser Vorgabe orientiert sich die Sprechweise von Rita Assemany.

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Abbildung 15: Bühnenbild: Küche und Müllkippe

TMA1 0:29: Das Bühnenbild wechselt je nach Beleuchtung zwischen Küche und Müllkippe und stellt so symbolisch die Verortung der Frau in der Gesellschaft dar.

Abbildung 16: Figuration – Aparecida

TMA1 06:27: Indem Identität zwischen der Nationalheiligen und der favela-Bewohnerin Aparecida hergestellt wird, wird die soziale Ungleichheit als grundsätzliches gesellschaftliches Problem Brasiliens beschrieben.

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Die Figur der Aparecida wechselt im Verlauf der Aufführung zwischen Kindlichkeit – die sich beispielsweise darin äußert, dass sie sich vornimmt, weniger zu fluchen und gleich im nächsten Atemzug doch wieder ein Schimpfwort benutzt (3/10) – und einem fundierten Wissen über die brasilianische Geschichte, über das sie als reale favela-Bewohnerin nicht verfügen würde: So kann sie detailliert berichten, welche verschiedenen Gouverneure die Stadt im 16. und 17. Jahrhundert regierten (5/14) und führt mit geschichtlichen Hintergründen in die Szenen der anderen Figuren ein (3/10, 5f./14, 9f./21). Während die Kindlichkeit die Figur von Aparecida sympathisch erscheinen lässt und auf der ersten Bedeutungsebene die Einfühlung des Zuschauers unterstützt, nimmt Aparecida auf der Bedeutungsebene der alternativen Historiografie durch die Vermittlung von Wissen über die Geschichte Salvadors eine didaktische Rolle ein. Auch kommentiert Aparecida die Szenen der anderen Figuren: Der Botschaft eines von Maria da Pureza gesungenen Liedes, Fado Tropical125, das die Hoffnung formuliert, „esta terra ainda vai cumprir seu ideal – vai tornar-se um imenso Portugal“ (8f./20), widerspricht sie: Aparecida: Chico Rei e Maria Pureza que me perdoem, mas não quero não […] Oxalá nos proteja de Portugal. Tá certo que ele criou essa música num momento histórico e ela tá contando a vida dela num outro, mas Oxalá nos proteja de Portugal. Portugal é muito triste. (9/21)

Diese epischen Elemente tragen zu einer Distanzierung des Zuschauers von den Ereignissen auf der Bühne und von den historischen Figuren bei. Aparecida verkörpert durch ihre Doppelfunktion einerseits selbst ein Opfer der soteropolitanischen Ungleichheit und wird andererseits durch dramatische und epische Elemente zum Spielleiter ernannt. Als Symbol für die von Aparecida angeprangerte Durchdringung Brasiliens von sozialer Ungleichheit steht auch ihre Gleichsetzung mit ihrer Namensvetterin, der brasilianischen Schutzpatronin Nossa Senhora Aparecida: Diese geschieht gleich zu Beginn der Aufführung, indem Aparecida, begleitet von der Einspielung des Chorals „Ave Maria“ und halb verdeckt von einem leuchtenden Vorhang, erscheint (2/9). Ihre starre Haltung, ihr aus einem Heiligenschein bestehendes Kostüm und ihr Name weisen darauf hin, dass die Schauspielerin zunächst die Heilige verkörpert. Dann wandelt sich der Choral mehr und mehr zu Samba und Aparecida beginnt, zunächst mit ihrer Mimik, anschließend mit 125 | Das Lied stammt ursprünglich von Chico Buarque de Holanda und Ruy Guerra aus dem während der Militärdiktatur entstandenen Theatertext C ALABAR – O E LÓGIO DA TRAIÇÃO. Dort wird er als ironische Kritik an den brasilianischen Eliten interpretiert, die, anstatt eine eigene, brasilianische Identität zu entwickeln, sich zu sehr an Europa orientieren (vgl. Napolitano, 2003: 123f.).

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dem ganzen Körper, dem Sambarhythmus zu folgen. Auf diese Weise transformiert sich auf der Bühne die Schutzpatronin Brasiliens in eine Obdachlose (2/9). Indem die Aufführung mit der Rückverwandlung schließt (13/28), wird deutlich: Ungleichheit und Marginalisierung sind keine individuellen Schicksale, sondern haben die brasilianische Gesellschaft vollkommen durchdrungen. Diese Durchdringung der brasilianischen Gesellschaft steht auch im Zentrum der Szenen aus der brasilianischen Geschichte: Diese zeigen, dass bereits in der Vergangenheit die unteren Schichten, andere Ethnien und Frauen marginalisiert wurden. Auf der ersten Bedeutungsebene verstärken sie damit die Kritik an der heutigen Gesellschaft: Die Sklavin Luediji berichtet detailliert von den zahlreichen Qualen, die mit ihrem Transport von Afrika nach Brasilien und ihrem Leben als Sklavin verbunden waren (10-12/24-29). Im Gegensatz zu den großteils humorvollen Szenen von Aparecida verfügt die Szene durch die Sprechweise – die Worte werden von Luedji fast ausgespuckt und von langen, tiefen Seufzern unterbrochen – über eine drückende Stimmung.126 Trotz der für sie schier unerträglichen Lage formuliert Luedji die Hoffnung, dass sich die Situation eines Tages verändert: Luedji: E pode pensar que um dia, minha sinhá, e só N’Zambi sabe quando, tudo isso vai ser historia de fazer menino pequeno chorar. (12/28)

Die emotionale Darstellung und die ausführlichen Schilderungen von Luedji lassen eine starke Einfühlung des Zuschauers in das Leid der Sklavin zu. Die von Luedji am Ende formulierte Hoffnung, dass sich die Situation der negros in ihrer Zukunft verbessern würde, wird von Aparecida allerdings zerstört: Aparecida: Senzala acabou? Quem disse? Senzala mudou de nome […]. Sabe um dos nomes de senzala? Cana. [...] Mudar, mudar de verdade, mudou nada. Os quilombos viraram favela, as favelas viraram problema, os capitães de mato viraram polícia. E os navios negreiros viraram pau-de-arara. (9/21)

Auf diese Weise wird die Situation von Luedji explizit auf die Situation der favelados in der Gegenwart übertragen: Neben der Konfliktlinie zwischen Reich und Arm ist die brasilianische Gesellschaft in negro/branco geteilt. Die Kombination aus der Szene von Aparecida und Luedji zeigt das Funktionsprinzip der Auffüh126 | Der Monolog von Luedji ist von zahlreichen Ausdrücken in ioruba durchzogen, z.B. „camungo“ (11/24) oder „marucadilê“ (11/24). Damit nutzt Turenko eine klassische Vermittlungsstrategie des postkolonialen Theaters: „When a language is indigenized, its lexicon changes to accommodate new words and/or new combinations of words which can be staged as part of a culturally inflected dialogue.“ (Gilbert/ Tompkins, 2002: 178)

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rung: Durch die Schilderungen von Luedji wird der Zuschauer zunächst stark für das Schicksal der Sklaven emotionalisiert. Diese Emotion wird durch die anschließende Übertragung für die politische Wirkungsabsicht, die Ungleichheit der soteropolitanischen Gesellschaft zu verändern, funktionalisiert. Die Aufforderung an den Zuschauer, die soziale Ungleichheit in Brasilien zu beenden, wird durch die Rückverwandlung der Obdachlosen in die Heilige vermittelt. So wendet sich Aparecida, nachdem sie das Fazit gezogen hat, dass das aktuelle brasilianische Gesellschaftsmodell aufgrund der Ungleichheit an seinem Ende angekommen sei, zunächst in einem Gebet hilfesuchend an die Heilige und bitte sie, die untragbaren Zustände zu verändern: Aparecida: Quinhentos anos temperando esse caldo e na hora do bem bom é lixo. Quando a gente olha no fundo do caldeirão, a única coisa que dá par a ver é outro dia de branco. […] E para quem a gente apela? Num sabe que barriga vazia dói? Alguém por aí tem que divider essa sopa, porque o negócio aqui em baixo é boca de zero nove, é farinha poça, meu pirão primeiro. (12/28)

Nach einer kurzen Pause, in der sie vergeblich auf Antwort wartet, realisiert Aparecida, dass die Veränderung von den Menschen selbst vorgenommen werden muss: Aparecida: Tá bom, eu já sei a resposta. Daí de cima não vai sair nada. O negócio tem que ser feito é por aqui por baixo mesmo. Quem sabe, amanhã eu começo aviar a minha parte? (13/28)

Damit zeigt sich, dass die Aufführung auf eine solche Schlussfolgerung, dass er selbst tätig werden muss, auch beim Zuschauer abzielt. Ebenso wie die Heilige die Obdachlose in dieser Situation alleine lässt und die Aufgabe, die Gesellschaft zu verändern, an sie überträgt, verlässt auch Aparecida das Publikum (13/28): Erneut werden Sambamusik und Choral eingespielt und der „Heiligenschein“ von der tanzenden Aparecida aufgesetzt. Die Aufführung endet damit, dass Aparecida/Nossa Senhora abrupt hinter den Vorhang springt und auf diese Weise verschwindet. Nachdem er durch die dramatischen Darstellungen zuvor emotional bewegt wurde, bleibt der Zuschauer mit der Aufforderung, sich für eine gerechtere Gesellschaft zu engagieren, auf diese Weise am Ende der Aufführung alleine in der Realität zurück. Auf der zweiten Bedeutungsebene entwickelt TRÊS MULHERES E APARECIDA eine alternative Historiografie, indem die Frau, welche von der brasilianischen Geschichtsschreibung und den offiziellen Feierlichkeiten wie oben beschrieben „vergessen“ scheint, als Subjekt unterschiedlicher geschichtlicher Epochen präsentiert wird. Damit setzt sie eine Forderung des postkolonialen Theaters um:

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Revisioning history also enables the reinstatement of interest groups who have been left out of the official records because they were victims of prejudice or punishment, or because they were denied an opportunity to speak. The recuperation of women’s history is particularly relevant here and has been fundamental task for women all over the world. (Gilbert/Tompkins, 2002: 119)127

Auf dieser Ebene ergibt sich die Bedeutung der Aufführung aus der dramatischen Präsentation der vier Figuren, ihrer Geschichte und ihrer Sicht auf die brasilianische Gesellschaft auf der Bühne. Wie oben beschrieben, kommt der Figur der Aparecida durch ihre historischen Einordnungen auch auf dieser Ebene besondere Bedeutung bei der Aufklärung der Zuschauer über die geschichtlichen Epochen zu. Aber auch die historischen Szenen selbst schildern präzise die jeweiligen historischen Umstände: Von Luedji werden detailliert die Hierarchie der Stammesgesellschaft sowie die religiöse Welt und Bräuche in ihrer afrikanischen Heimat dargestellt (10f./28). Damit lenkt die Aufführung Aufmerksamkeit auf in der orthodoxen Geschichtsschreibung wenig beachtete Aspekte der Sklaverei (siehe dazu auch Kapitel 4.1.2.2). Auch die índios wurden in der brasilianischen Gesellschaft zunächst fast ausgelöscht, bis heute gelten sie als marginalisiert. Dies wird in der Aufführung ebenfalls deutlich angesprochen: Aparecida: Ê, ê, ê, ê, índio qué apito, se não dé pau vai cumê. Come nada! Ficô meia duzia pá semente e o resto foi pô, pô, pô, pô. Tome-lhe apito com pólvora. Pô, pô, pô. E foi tudo parar nas latas de lixo. (3/10)

Die aus der Marginalisierung resultierende kulturelle Alterität128 der índios in der gegenwärtigen brasilianischen Gesellschaft wird in der Aufführung auch dadurch wiedergegeben, dass die Szene von Jacapu Coema vollständig auf die 127 | Die Entwicklung alternativer Historiografien ist dabei nur eine Form, wie die Rolle der Frau im postkolonialen Theater kritisiert und neu konzipiert werden kann: „[B]y critiquing the gender specific constructions endorsed by imperial history; by mapping out the areas of women’s subjugation and invisibility in the colonial situation; by redressing gender related gaps in the official record; by casting historical women as powerful, respected community leaders; by refusing existing gender stereotypes; and, crucially, by staging self-reflexive interventions into theatrical representation itself.“ (Gilbert/Tompkins, 2002: 120) 128 | „Kulturelle Alterität“ wird mit Horatschek (2008: 15; Herv.i.O.) verstanden als „kulturell vorgegebene, tiefenstrukturelle Wahrnehmungs- und Werteparadigmen, welche die Differenzen [von Oberflächenphänomenen wie Ritualen oder Institutionen] motivieren. Auf einen clash of cultures reagiert das kulturelle Bewusstsein mit Entwürfen von Hetero- bzw. Autostereotypen, d.h. Fremd- und Selbstbildern, die sich zu

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portugiesische Sprache verzichtet (4/11-13).129 Einer gemeinsamen Sprache mit dem Publikum beraubt, verlässt sich die Szene auf Musik, Licht, Bewegungen und Geräusche, um die Situation der indígena zu schildern. Diese befindet sich während der Szene in einer in der Bühne versenkten Tonne, sodass nur ihr Kopf und ihre Arme sichtbar sind. Während Licht und Vogelzwitschern zunächst einen hellen Tag im Urwald suggerieren und die Bewegungen Küchenarbeit simulieren, ändert sich die Stimmung plötzlich: Ein von Jacapu Coema in den Händen gehaltenes Holzkreuz und von einem Rosenkranz zusammengebundene Hände weisen auf die Christianisierung hin. Danach wirken die Bewegungen der Figur desorientiert und verzweifelt. Schließlich versinkt die indígena im Bühnenboden. Bis auf wenige Ausnahmen, in deren Ablauf die präsentierten Zeichen semiotisch Bedeutung generieren, erzeugt die Szene ihre Wirkung performativ: Durch Musik, Rhythmen und Licht erlebt der Zuschauer die Stimmungen von Jacapu eher, als dass er sie abgebildet sieht. Indem die Aufführung die Geschichte von Jacapu schildert, stellt sie sich der Marginalisierung der indígenas in der brasilianischen Historiografie entgegen. Dabei bedient sich die Aufführung zur Vermittlung der Alterität der indígenas – und im Umkehrschluss: der Dringlichkeit, diese nicht weiter zu ignorieren – einer Strategie des postdramatischen politischen Theaters. Damit zeigt die Aufführung auf der zweiten Bedeutungsebene an dieser Stelle dem dramatischen politischen Theater seine Grenze auf: Die Alterität von Jacapu Coema ist so ausgeprägt, dass sie sich der Repräsentation und semiotischen Bedeutungserzeugung verweigert. Dramatisches politisches Theater ist nur bis zu einem bestimmten Grad in der Lage, Alterität zu beschreiben. Aber nicht nur negras und indígenas, sondern auch europäische Frauen werden in TRÊS MULHERES E APARECIDA als in der brasilianischen Geschichte marginalisiert dargestellt. Die Geschichte der Portugiesin Maria Pureza, die auf der Fahrt nach Brasilien zur Prostitution gezwungen, anschließend dafür ins Gefängnis gesperrt wurde und nun in Armut lebt, zeigt, dass auch die „Kolonialherrin“, die auf die indígenas herabblickt (8/19f.), an den Rand der brasilianischen kolonialen Gesellschaft gedrängt wurde.130 Trotz dieser Gemeinsamkeit ‚images‘ eines national character verdichten und deren von unbewussten Interessen und Projektionen geleiteter Konstruktcharakter nicht durchschaut wird.“ 129 | In der postkolonialen Theorie wird dieser Verzicht auf eine gemeinsame Sprache mit dem Publikum als politisches Symbol gewertet: „When a playwright chooses an indigenous language over English, s/he refuses to submit to the dominance of the imposed standard language and to subscribe to the ,reality‘ it sustains.“ (Gilbert/ Tompkins, 2002: 169) 130 | Auch die Sklavin Luedji berichtet, dass ihr Besitzer ihre Gesellschaft die seiner branco-Frau vorzieht (12/26f.) – auch die „sinhazina“ (10/22) ist nach ihrer Beobachtung nicht frei und glücklich, sondern muss sich ihrem Mann unterordnen.

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gilt: Auch wenn die europäischen Frauen ebenfalls als marginalisiert dargestellt werden, ist die Situation für Frauen anderer ethnischer Gruppen in TRÊS MULHERES E APARECIDA deutlich schlechter. Insgesamt werden die europäischen Kolonisatoren als Ursache für die heutige Ungerechtigkeit der brasilianischen Gesellschaft dargestellt: Aparecida: Cadê o bocadinho de alma que era de bom tom deixar? É a racista? A que tem muitos amigos pretos de alma branca? É a mesquinha? A que não divide nada: nem terra, nem gente, nem sucesso, nem fracasso? (5f./14f.)

Die Aufführung verfügt damit auch über eine starke postkoloniale Kritik. Indem die Aufführungen in diesem Kontext Frauen verschiedener Ethnien zu Wort kommen lässt, setzt sie die Forderung des postkolonialen Theaters um, unzulässige Homogenisierung über ethnische Grenzen hinweg zu vermeiden.131 Durch die Präsentation von Kolonisatorin, Kolonisierter und negro-Sklavin zeigt TRÊS MULHERES E APARECIDA verschiedene der „multiple locations that the female subject can occupy within the discursive matrix of imperialism“ (ebd.: 124) und zeichnet damit auf beiden Bedeutungsebenen ein detailliertes Bild der vielfältigen Machtbeziehungen der brasilianischen Gesellschaft. Gemeinsam ist allen Frauen zudem, dass ihnen durch das Bühnenbild und durch die gestischen Zeichen in ihren Szenen – Aparecida sammelt Essensabfälle, Jacapu wirft Getreide in die Höhe, Maria kocht Eingeweide und Luedji rupft ein Huhn – ein „klassischer“ weiblicher Ort zugewiesen wird. Sowohl Müllkippe als auch Küche stehen symbolisch für die Situation der Frau: Einerseits als der ihnen von der Gesellschaft zugestandene Wirkungsort, andererseits als der Ort, auf dem sie durch ihre Nichtbeachtung durch die Gesellschaft „entsorgt“ werden. Entsprechend dieses Bildes wird auch Brasilien von Aparecida zum Abschluss als „caldo“ (12/28) bezeichnet, als Eintopf der verschiedenen Ethnien. Dieser findet sich wiederum auf der Bühne versinnbildlicht, indem eine einzige Schauspielerin alle Ethnien verkörpert. Ebenso wie bei ZUMBI lässt sich festhalten, dass auch bei TRÊS MULHERES E APARECIDA die beiden Bedeutungsebenen nicht getrennt voneinander zu betrachten sind, sondern aufeinander einwirken: Die heutige soziale Ungleichheit, die auf der ersten Bedeutungsebene angeprangert wird, steht im Zusammenhang mit der historischen Marginalisierung von Frauen und ethnischen Gemeinschaften. Diese wird von der bis heute männlich und europäisch dominierten Geschichtsschreibung aufrechterhalten. Erst durch eine 131 | So fordern beispielsweise Gilbert/Tompkins: „Hence, gender should be delineated as but one ‚category of difference for designating the relation between colonizer and colonized‘ (Sharpe, 1993: 12), rather than merged with race (and/or class) under the general concept of marginality.“ (2002: 120)

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

„Neuerzählung“ der Geschichte, die den Beitrag von Frauen aller ethnischen Gemeinschaften zur brasilianischen Nation einbezieht, kann auch der heutige politische Konflikt um die Ungleichheit nachhaltig gelöst werden. Hinsichtlich der Funktionalisierung der alternativen Historiografien für das dramatische und postdramatische politische Theater lässt sich mit Blick auf TRÊS MULHERES E APARECIDA festhalten, dass die Aufführung auf der zweiten Bedeutungsebene die Regeln der Repräsentation von Geschichte nicht hinterfragt, sondern sich zur Etablierung der alternativen Historiografie grundsätzlich der Repräsentation bedient. Allerdings scheint in der Szene von Jacapu Coema eine Grenze der Repräsentation deutlich auf. Damit steht TRÊS MULHERES E APARECIDA am Übergang zu einem politischen Theater, das die dramatische Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht hinterfragen und in letzter Konsequenz verwerfen wird.

4.1.3

Merkmale und Funktionen des dramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia

Aus den Ergebnissen der einzelnen Aufführungsanalysen werden im Folgenden die übergreifenden Merkmale und Funktionen des gegenwärtigen dramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia abgeleitet. Um diese einordnen zu können, werden sie anschließend mit den in Kapitel 2.2 beschriebenen internationalen und nationalen Ausprägungen des politischen Theaters verglichen. Dabei zeigt sich, dass im gegenwärtigen, dramatischen politischen Theater zahlreiche Vermittlungsstrategien, die von seinen historischen Vorgängern entwickelt wurden, weiterhin zur Anwendung kommen. Anstatt einer einfachen Fortschreibung werden sie allerdings auf eine an die gegenwärtige Situation in Salvador da Bahia angepasste Art und Weise funktionalisiert. Das soteropolitanische, dramatische politische Theater hat damit eine eigenständige Form des dramatischen politischen Theaters herausgebildet. Die Analysen haben gezeigt, dass das dramatische politische Theater in Salvador da Bahia, um politische Wirkung zu erzielen, eine große Bandbreite an Vermittlungsstrategien nutzt: Wenn auch alle Aufführungen die politische Wirkungsabsicht mithilfe von Repräsentation und damit innerhalb einer geschlossenen, fiktiven Welt vermitteln, lässt sich anhand der Analysen feststellen, dass die Aufführungen die fiktionale Welt des Bühnentextes unterschiedlich stark an die reale Welt anbinden. So streben BAI BAI PELÔ und CABARÉ DA RRRRAÇA zur Vermittlung ihrer Wirkungsabsicht eine möglichst realistische Abbildung – d.h. eine enge Anbindung der fiktionalen Welt an die außertheatrale Wirklichkeit – an (siehe Kapitel 4.1.1.1 und 4.1.1.4). Dagegen stellt MILAGRE NA BAÍA die Fiktionalität des Gezeigten durch die Abbildung einer phantastischen Welt deutlich heraus (siehe Kapitel 4.1.1.2). A ÓPERA DOS TRÊS REAIS bildet eine Welt ab, die

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Politisches Theater in Brasilien

sich deutlich von der Realität unterscheidet – nutzt dafür aber nicht phantastische Elemente, sondern eine Brecht’sche Historisierung (siehe Kapitel 4.1.1.3). UM TAL DE DOM QUIXOTE und ESSE GLAUBER (siehe Kapitel 4.1.2.1) sowie ZUMBI und TRÊS MULHERES E APARECIDA (siehe Kapitel 4.1.2.2) ziehen zudem eine zweite Bedeutungsebene in die Aufführung ein und erzeugen auf diese Weise ein Spannungsfeld zwischen Realität und metatheatralem bzw. historiografischem Diskurs. Trotz dieser unterschiedlichen Umsetzung auf der Bühne lässt sich anhand der Analysen feststellen, dass alle Aufführungen – mit der Ausnahme von A ÓPERA DOS TRÊS REAIS – die durch die dramatische Form ohnehin begünstigte Einfühlung des Zuschauers (vgl. Poschmann, 1997: 71) durch die spezifische Ausgestaltung der dramatischen Strukturelemente weiter verstärken.132 Dies geschieht beispielsweise durch die in jeder Aufführung – wenn auch, wie oben geschildert, in sehr unterschiedlichem Maße – vorhandene Anbindung der Handlung an den soteropolitanischen Kontext. Zunächst gilt dies für den Inhalt der Darstellung, der – auch bei makrogesellschaftlichen Problemen wie den Protesten des Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra in UM TAL DE DOM QUIXOTE, der Situation der Frau in TRÊS MULHERES E APARECIDA oder der negro-Bevölkerung in CABARÉ DA RRRRAÇA – durch sprachliche oder andere Zeichen (z.B. Ortsbezeichnungen, baianischen Dialekt, typische Kostüme) an den lokalen Kontext gekoppelt und auf diese Weise „vor der Haustür“ des Zuschauers verortet wird (siehe Kapitel 4.1.2.1, 4.1.1.2 und 4.1.1.4). Diese Strategie erinnert an das russische Agitproptheater und das CPC: Beide gingen davon aus, dass die Zuschauer nur dann mobilisiert werden können, wenn sie einen direkten Bezug zu den auf der Bühne gezeigten politischen Fragestellungen herstellen können (siehe Kapitel 2.2.1.1 und 2.2.2.1). Neben dieser Bezugnahme auf den soteropolitanischen Kontext orientiert sich auch die Darstellungsweise aller Konflikte – wenn auch, wie oben beschrieben, ebenfalls in unterschiedlichem Maße – an der Realität. Sogar in O MILAGRE NA BAÍA, das sich phantastischer Elemente bedient, sind die dargestellten Konflikte selbst der Realität entnommen (siehe Kapitel 4.1.1.2).133 Einige der Auf132 | Damit bestätigen sie die Beobachtungen von Poschmann für das deutsche Theater, die für die Theatertexte von Klaus Pohl festhält: „Die Nutzung des konventionellen Kommunikationssystems schafft eine große Nähe zum Publikum, und da das Material in beiden Stücken aus der deutschen Gegenwart stammt und genaue Recherchen den Anschein von Authentizität ermöglichen, können die Zuschauer das Dargestellte unmittelbar auf ihre Lebenswelt beziehen.“ (Poschmann, 1997: 71) 133 | Ein Beispiel ist der Regentanz des Índios in O M ILAGRE NA B AÍA , der zum Erfolg führt, aber von der Kritik der Figur begleitet wird, dass eigentlich die staatliche Behörde Embasa für die Versorgung der Bevölkerung zuständig sein sollte (siehe Kapitel 4.1.1.2). In A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS erfolgt die Anbindung an die Realität insbesondere

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

führungen – BAI BAI PELÔ und ZUMBI – gehen sogar auf reale Dokumente und Interviews zurück (siehe Kapitel 4.1.1.1 und 4.1.2.2). Auch hier lehnt sich das gegenwärtige Theater an historische Vorgänger wie das Theater des Agitprop oder das CPC an, welche den Zuschauer durch die direkte Abbildung von der Transferaufgabe entlasten wollten. Auf diese Weise wird das Risiko minimiert, dass die politische Botschaft nicht oder nicht vollständig verstanden wurde. Während sich für das dramatische politische Theater damit einerseits eine Verstärkung der Einfühlung und eine starke emotionale Führung der Zuschauer verzeichnen lässt, zeigen die Analysen andererseits, dass alle Aufführungen auch epische Elemente einsetzen. Unter den zahlreichen epischen Elementen – Filme, Kommentare der Erzähler oder Figuren etc. – werden Lieder, welche die Figurenfiktion durchbrechen und die Wirkungsabsicht zusammenfassend formulieren, im dramatischen politischen Theater von Salvador da Bahia besonders häufig eingesetzt.134 Die epischen Elemente unterbrechen die Illusion und Emotion und fordern den Zuschauer stattdessen zur Reflexion auf. Im Sinne Brechts wird der Zuschauer damit aktiviert und aus seiner Rolle als passiver Konsument befreit (siehe Kapitel 2.2.1.2). Besonders eindrucksvoll werden diese Elemente in UM TAL DE DOM QUIXOTE verwendet, in denen die Erzählerinnen die von den Figuren vermittelten Positionen, beispielsweise die Befürwortung von Polizeigewalt, immer wieder unterbrechen und den Zuschauer – mit explizitem Verweis auf Brecht – auffordern, sie kritisch zu hinterfragen (siehe Kapitel 4.1.2.1). Neben der Einfühlung lässt sich damit die Reflexion als zweite Vermittlungsstrategie des dramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia beschreiben. Damit kann konstatiert werden, dass sich das gegenwärtige dramatische politische Theater in Salvador da Bahia hauptsächlich zweier Vermittlungsstrategien bedient, die im klassischen politischen Theater entwickelt wurden. Auch die Kombination von Einfühlung und Reflexion ist nicht neu: Bereits Teatro de Arena wandte in seinen Aufführungen dezidiert sowohl epische Elemente als auch einfühlungsstützende Strategien an (siehe Kapitel 2.2.2.2). Warum ist das dramatische politische Theater in Salvador da Bahia dann keine reine Fortschreibung einer bestimmten Form des klassischen politischen Theaters in Brasilien?

durch Filme, die Szenen aus dem realen Brasilien einspielen, und Schilder, die sich auf reale Konflikte und politische Skandale beziehen (siehe Kapitel 4.1.1.3). 134 | Ein besonders deutliches Beispiel dafür findet sich in E SSE G LAUBER, in dem bereits im Eröffnungslied an den Zuschauer appelliert wird: „Outros podem deixar de dizer ‚sim‘ se você e eu dissermos ‚não‘“ (siehe Kapitel 4.1.2.1). Aber auch in O M I LAGRE NA B AÍA fasst das Lied Meta-lhe uma ação popular die Wirkungsabsicht auf einer übergreifenden Ebene zusammen (siehe Kapitel 4.1.1.2).

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Politisches Theater in Brasilien

Tatsächlich zeigt sich, dass die angewandten Vermittlungsstrategien dem gegenwärtigen politischen Kontext in Salvador da Bahia angepasst sind. Dies wird deutlich, wenn ein Blick auf die Protagonisten und das intendierte Publikum bzw. auf die Frage, wer sich in was einfühlen soll, geworfen wird. Mit einer einzigen Ausnahme sind es stets die Marginalisierten, die favelados, die Obdachund Landlosen, die auf der Bühne positiv abgebildet werden und auf die sich damit die Einfühlung des Zuschauers bezieht. Die Antagonisten, die sich in den Aufführungen für den jeweiligen Konflikt verantwortlich zeigen und/oder von ihm profitieren, die Landeigentümer, Arbeitgeber, Polizei und Politiker, d.h. allesamt Vertreter der brasilianischen Ober- und Mittelschicht, werden hingegen gar nicht abgebildet oder nur sehr stark überzeichnet präsentiert.135 Ebenso wird die Religion als mögliche Unterstützung des gesellschaftlichen Wandels demontiert.136 Nun ist auch dieser Fokus auf das Proletariat für das brasilianische politische Theater nicht ungewöhnlich – so hatte Teatro de Arena bereits in den 1960er-Jahren das Proletariat als Protagonisten von ELES NÃO USAM BLACK-TIE auf der Bühne eingeführt (siehe Kapitel 2.2.2.2). Allerdings richtete sich Teatro de Arena, ebenso wie das CPC, unter dem Leitgedanken der cultura popular auch an ein Publikum aus dem Proletariat. Gleiches gilt für das politische Theater in Russland und von Erwin Piscator, die entsprechend der marxistischen Ideologie desgleichen das Proletariat als Protagonist und intendierten Zuschauer vorsahen (siehe Kapitel 2.2.1.1 und 2.2.1.2). Das gegenwärtige dramatische politische Theater in Salvador da Bahia weist hingegen ein intendiertes Publikum aus dem Bürgertum bzw. der Mittelschicht auf. Der Widerspruch zwischen tatsächlichem und intendiertem Publikum, der sowohl Teatro de Arena als auch CPC betraf (siehe Kapitel 2.2.2.1 und 2.2.2.2), wird damit im Gegenwartstheater aufgelöst: Das intendierte Publikum entspricht der tatsächlichen Zuschauerschaft, 135 | Einzige Ausnahme ist Dona Edna aus B AI B AI P ELÔ, der in der Aufführung großer Raum gelassen und die auch nicht überzeichnet dargestellt wird. Sie wird, im Gegensatz zu den nachvollziehbaren Reaktionen der Bewohner auf ihre Umsiedlung, allerdings ausschließlich negativ charakterisiert (siehe Kapitel 4.1.1.1). 136 | In keiner der Aufführungen leistet die Religion einen Beitrag zur Lösung des Konflikts, in einigen – E SSE G LAUBER und A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS – wird sie sogar als Teil des Problems präsentiert (siehe Kapitel 4.1.2.1 und 4.1.1.3). Allerdings lässt sich eine Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Religionen ausmachen: Während die evangelikalen Religionen in A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS explizit kritisiert werden, wird der candomblé zwar nicht als Lösung der Probleme, aber als „gute“ Religion präsentiert, welche die Nöte der Marginalisierten auffängt und den Wunsch nach Veränderung unterstützt (siehe Kapitel 4.1.1.4 und 4.1.2.2). Dies ist auch aus postkolonialer Perspektive interessant, da der candomblé bis in die Zeit der Militärdiktatur unterdrückt und verfolgt wurde.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

die ebenfalls aus der Mittelschicht stammt (siehe Kapitel 3.1.2). Damit lässt sich für das dramatische politische Gegenwartstheater eine Abwendung vom Konzept der cultura popular verzeichnen. Gleichzeitig wird deutlich, dass das politische Theater keinen revolutionären Anspruch mehr erhebt: Auch wenn die Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie kritisiert wird, indem Politiker aufseiten der Antagonisten verortet und damit bestehende Ressentiments der Bevölkerung verstärkt werden (siehe Kapitel 3.1.1), fordern die Aufführungen nicht zu einer Abkehr von der Demokratie auf. Im Gegenteil: In ESSE GLAUBER und ZUMBI wird das Bild eines drohenden Aufstands des Proletariats eingesetzt, um den Zuschauer zu einer Reform des jetzigen Systems zu motivieren (siehe Kapitel 4.1.2.1 und 4.1.2.2). Nicht nur in diesen beiden, sondern in allen Aufführungen wird das Bürgertum stets als Akteur adressiert, der die politischen Konflikte durch Partizipation lösen kann. Vor dem Hintergrund des ungeeigneten politischen Personals ist es dabei umso wichtiger, dass das Bürgertum sein Recht auf Partizipation geltend macht. Besonders deutlich zeigt sich die Verantwortung der Mittelschicht in O MILAGRE NA BAÍA, in dem die Popularklage, und damit ein Instrument der konventionellen politischen Partizipation, als Lösung des Konflikts vorgestellt wird (siehe Kapitel 4.1.1.2). In den anderen Aufführungen bleibt die konkrete Form der Partizipation – konventionell oder unkonventionell – hingegen offen.137 Während der Zuschauer in Bezug auf die Einfühlung und den politischen Konflikt sehr eng geführt wird, lässt ihm das Theater an dieser Stelle die Freiheit, sich selbst für eine Form der Partizipation zu entscheiden. Diese Freiheit in der konkreten Ausgestaltung der Partizipation ist für das dramatische politische Theater nicht unüblich – nur im Theater des sozialistischen Realismus wurde das gewünschte Verhalten auf der Bühne abgebildet (siehe Kapitel 2.2.1.1). Dabei lässt sich allerdings festhalten, dass das dem politischen Theater der 1960er-Jahre zu Grunde liegende marxistische Gesellschaftsverständnis durch ein modernes Verständnis ersetzt worden ist: An die Stelle des Proletariats tritt in der gegenwärtigen Demokratie die Mittelschicht als Motor gesellschaftlicher Veränderung. Damit wendet sich das dramatische politische Theater an eine gesellschaftliche Schicht, die um die Jahrtausendwende so stark gewachsen

137 | Entsprechend bleiben auch die Dramenenden offen. Nur in O M ILAGRE NA B AÍA und A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS wird dem Zuschauer am Ende eine Lösung des Konflikts angeboten. (siehe Kapitel 4.1.1.2 und 4.1.1.3). Da der der Handlung zu Grunde liegende Konflikt aufgelöst wird, wird die Notwendigkeit einer Aktion durch den Zuschauer besonders betont, im Fall von O M ILAGRE NA B AÍA durch das Verschwinden und die anschließende Identifizierung der Zuschauer als Totó, im Fall von A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS durch das abschließende Lied, in dem deutlich wird, dass die Rettung von Mac in der Realität eben nicht vorkommen würde.

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ist, dass sie nach Definition der OECD138 mittlerweile die größte Bevölkerungsschicht Brasiliens stellt (vgl. Lay/Schotte, 2013: 4) – und damit in der demokratischen Gesellschaft auch den größten politischen Einfluss ausüben kann. Von dieser soll das System nicht gestürzt, sondern von innen heraus verändert werden – an die Stelle der Revolution des Proletariats tritt im dramatischen politischen Gegenwartstheater in Salvador da Bahia die Reform durch die bürgerliche Mittelschicht. Allerdings bedeutet diese Aufwertung der Mittelschicht im Vergleich mit den historischen Formen des politischen Theaters auch eine Abwertung des Proletariats bzw. der Marginalisierten als politischer Akteur: Letztere werden auf der Bühne zwar präsentiert, ihnen wird allerdings die Fähigkeit abgesprochen, ihre Situation aus eigener Kraft zu verändern.139 Somit werden sie nicht als gesellschaftlich handelndes Subjekt, sondern als passives Objekt konstruiert. Auch wenn das Theater sich auf diese Weise der realen Zuschauerschaft anpasst und so auf eine Wirkungsmaximierung hoffen darf: Durch diese Diskrepanz läuft es zumindest in Gefahr, die bestehende Marginalisierung in der Realität zu reproduzieren. Warum nimmt das dramatische politische Theater dieses Risiko in Kauf? Wie in Kapitel 3.1.1 erläutert, spricht die Mittelschicht den Marginalisierten in Brasilien keine Bürger- und Menschenrechte zu. Bestandteil dieses Grundkonsenses sind auch die Massenmedien, die in politischen Konflikten durch ihre einseitige Berichterstattung den Stigmatisierungsdiskurs weiter verstärken (siehe z.B. Kapitel 4.1.1.1 und 4.1.1.2). Indem es dem Zuschauer aus der Mittelschicht Einfühlung in die unteren Schichten ermöglicht, stellt sich das dramatische politische Theater dem gesellschaftlichen Grundkonsens der peripheren Moderne Brasiliens (siehe Kapitel 3.1.1), in der den Marginalisierten ihre Eigenschaften als Staatsbürger aberkannt werden, entgegen. Es stellt die unteren Schichten als Menschen – mit Hoffnungen, Träumen und Wünschen und einer eigenen Perspektive auf die Konflikte vor – und lenkt die Sympathien des Zuschauers bewusst auf sie. Damit schafft es in der gegenwärtigen soteropolitanischen Gesellschaft einen ansonsten kaum vorhandenen Raum der (künstlerischen) Begegnung von bürgerlicher Mittelschicht und Subalternen.140 138 | Andere Studien sehen den Anteil mit circa 40% etwas geringer (vgl. Lay/ Schotte, 2013: 4). Unabhängig von diesen unterschiedlichen Ergebnissen lässt sich festhalten, dass die Mittelschicht deutlich gewachsen ist und großen politischen Einfluss ausüben kann. 139 | Besonders deutlich wird diese Abwertung in M ILAGRE NA B AÍA abgebildet: Erst durch das Wissen des gebildeten Außenseiters Totó gelingt es, die Verhältnisse in der favela zu verbessern und den Landbesitzer zu vertreiben (siehe Kapitel 4.1.1.2). 140 | Allerdings ist zu beachten, dass die Subalternen auf der Bühne nicht selbst sprechen, sondern stets von Schauspielern repräsentiert werden. Auch der Fakt, dass

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Die Nutzung von Einfühlung und Reflexion als Vermittlungsstrategien erweist sich damit als dem Kontext der peripheren Moderne optimal angepasst.141 Auch hinsichtlich der Themen lässt sich zunächst eine Fortschreibung des klassischen politischen Theaters vermuten. Denn, auch wenn das dramatische politische Gegenwartstheater in Salvador da Bahia eine große Bandbreite an Konflikten verhandelt – vom lokalen Stadtsanierungsprojekt in BAI BAI PELÔ (siehe Kapitel 4.1.1.1) über die Politik der Regierungspartei PSDB in A ÓPERA DOS TRÊS REAIS und UM TAL DE DOM QUIXOTE (siehe Kapitel 4.1.1.3 und 4.1.2.1), den Rassismus im brasilianischen Alltag in CABARÉ DA RRRRAÇA (siehe Kapitel 4.1.1.4) bis hin zu informellen Arbeitsverhältnissen im Karneval in ESSE GLAUBER (siehe Kapitel 4.1.2.1) – und damit zeigt, dass es sowohl auf lokaler als auch auf makrogesellschaftlicher Ebene wirksam werden will, lassen sich diese Konflikte doch stets auf ein Grundproblem zurückführen: die ökonomische und soziale Ungleichheit des eigenen Landes. Damit setzt es – scheinbar – genau an dem Problem an, das bereits von seinen nationalen und internationalen Vorläufern adressiert wurde (siehe Kapitel 2.2.1 und 2.2.2). Allerdings finden sich mit negro/branco und Mann/Frau auch neue, d.h. weder im „klassischen“ politischen Theater in Russland und Deutschland noch im brasilianischen politischen Theater der 1960er- und 1970er-Jahre142 thematisierte, ethnische und geschlechterbasierte Konfliktlinien. Damit ist das dramatische politische Theater der Gegenwart auch thematisch der aktuellen Situation angepasst: Während die Ungleichheit weiterhin ein drängendes Problem bleibt (siehe Kapitel 3.1.1), geben die neuen Konfliktlinien die hybride143 Symbol- und Zeichengebung der diese Gespräche mit realen favelados wiedergeben, ändert nichts daran, dass es sich hier um Repräsentation von favelados durch Künstler handelt. 141 | Unterstützt wird diese Hypothese durch die einzige Aufführung, die nicht das Proletariat, sondern das Bürgertum als Protagonisten hat: A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS . Da hier intendierter Zuschauer und Protagonisten übereinstimmen, wird auf Einfühlung vollständig verzichtet – da sie auch nicht benötigt wird. Stattdessen steht die Reflexion der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen und des eigenen Verhaltens im Vordergrund. 142 | Besonders deutlich wird dies im Vergleich von Z UMBI von Bando de Teatro Olodum mit A RENA CONTA Z UMBI von Teatro de Arena: Dieselbe Geschichte wird in beiden Aufführungen vollkommen unterschiedlich funktionalisiert, einmal als Protest gegen die Militärdiktatur, einmal als Aufforderung, sich im entlang ethnischer Konfliktlinien entfaltenden Kampf um städtischen Wohnraum zu engagieren (siehe Kapitel 2.2.2.2 und 4.1.2.2). 143 | Hybridität wird in diesem konkreten Fall – trotz der allgemeinen Kritik an seinem Konzept von Canclini (siehe Kapitel 2.1.3) – mit Bhabha verstanden als Einschluss von eigener Zeichensetzung und andauernder kultureller Übersetzung von fremder Zeichensetzung im Prozess der kulturellen Symbol- und Zeichengebung: „If […] the act of

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Politisches Theater in Brasilien

soteropolitanischen Gegenwart wieder, die sich längst nicht mehr auf unterschiedliche sozio-ökonomische Klassen beschränkt: Identitäten – und damit auch politische Konflikte – werden im heutigen Salvador nicht mehr nur zwischen „arm“ und „reich“, sondern auch zwischen „negro“ und „branco“ sowie „Mann“ und „Frau“ verhandelt. Indem das politische Theater diese Konfliktlinien aufnimmt, zeigt sich, dass es diese anerkennt – und damit die Grundlage für ihre Lösung schafft. Auch weitere postkoloniale Fragestellungen werden im dramatischen politischen Theater Salvador da Bahias verhandelt. Dies zeigt sich insbesondere an den Aufführungen, die eine alternative Historiografie entwickeln. Beide Aufführungen, ZUMBI und TRÊS MULHERES E APARECIDA, sehen die aktuelle Ungleichheit in der Kolonialzeit begründet – und eine ausgewogenere Geschichtsschreibung als Basis für eine Veränderung der Situation in der Gegenwart (siehe Kapitel 4.1.2.2). Auch ESSE GLAUBER überträgt die in Uma Estética da Fome formulierte postkoloniale Kritik auf die aktuellen Beziehungen zwischen Europa, Lateinamerika und den USA und wandelt sie in eine Kritik an den soteropolitanischen Eliten um (siehe Kapitel 4.1.2.1). Damit positionieren sich die Aufführungen mit mehreren Bedeutungsebenen explizit als postkoloniale Aufführungen.144 Im Gegensatz dazu treten in den Aufführungen, die nur über eine Bedeutungsebene verfügen, postkoloniale Fragestellungen in den Hintergrund: Eine nationalistische – und im Sinne dieser Arbeit: postkoloniale – Wirkungsabsicht, wie sie im politischen Theater in Brasilien in den 1960er-Jahren sehr verbreitet war (siehe Kapitel 2.2.2), lässt sich im gegenwärtigen politischen Theater nicht mehr nachweisen. So findet in den Aufführungen des Korpus, denen europäische Theatertexte und Romane zu Grunde liegen,145 zwar stets eine Übertragung auf Brasilien statt, allerdings keine postkoloniale Auseinandersetzung mit cultural translation […] denies the essentialism of a prior given original or originary culture, then we see that all forms of culture are continually in a process of hybridity.“ (Bhabha, 1990: 210f.) Das Zusammenkommen zweier „Originale“ geschieht im so genannten „third space“ (ebd.: 211). In diesem werden kulturelle Zeichen wie Werte, Gedanken und historische Zusammenhänge neu verortet, d.h. neu ausgehandelt, überdacht, ausgedehnt oder neu formuliert, ohne dass die ursprünglichen „Originale“ in einer hierarchischen Beziehung zueinanderstehen (vgl. ebd.). 144 | Dass alternative Historiografien auch in anderen Kontexten als dem im temporalen Sinne postkolonialen entwickelt werden, zeigt P RIMEIRO DE A BRIL (siehe Kapitel 4.2.2). Im Fall von Z UMBI und TRÊS M ULHERES E A PARECIDA wird allerdings neben dem politischen auch explizit ein temporaler postkolonialer Anspruch verfolgt (siehe Kapitel 4.1.2.2). 145 | A Ó PERA DOS TRÊS R EAIS , O M ILAGRE NA B AÍA und U M TAL DE D OM Q UIXOTE (siehe Kapitel 4.1.1.3, 4.1.1.2 und 4.1.2.1).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

dem europäischen Text (siehe Kapitel 2.1.4). Auch sind Europa und die USA im dramatischen politischen Theater der Gegenwart kaum präsent. Damit lässt sich festhalten, dass die postkoloniale Debatte in Brasilien zwar weiterhin geführt wird, allerdings nicht als Anklage der (ehemaligen) Kolonialmächte oder als nationalistisches Projekt, sondern als Aufforderung, Verantwortung für den Umgang mit dem kolonialen Erbe und den daraus erwachsenden, andauernden politischen Konflikten zu übernehmen. Auch die Tatsache, dass sich in den Aufführungen des dramatischen politischen Theaters ein zweiter Untertypus unterscheiden lässt, spiegelt die Gegenwart des politischen Theaters wider. Neben der Thematisierung eines aktuellen politischen Konfliktes hinterfragen ESSE GLAUBER und UM TAL DE DOM QUIXOTE auch selbstreflexiv die Wirksamkeit politischer Kunst. Die Analysen haben gezeigt, dass die metatheatrale Bedeutungsebene hinsichtlich der dramatischen und postdramatischen Vermittlung unterschiedliche Wirkungen entfalten kann: Einerseits kann, wie in UM TAL DE DOM QUIXOTE, die metatheatrale Reflexion das dramatische politische Theater stärken, indem sie zur Erläuterung der auf der Bühne gezeigten Vorgänge dient, die politische Wirkungsabsicht und ihre dramatische Vermittlung kommentiert und untermauert (siehe Kapitel 4.1.2.1). Andererseits kann Metatheater eingesetzt werden, um Wahrnehmungsmodi und damit auch die dramatische Vermittlung des politischen Theaters selbst kritisch zu hinterfragen.146 ESSE GLAUBER ist ein Beispiel für ein solches Theater, in dem durch die metatheatrale Reflexion die dramatische Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht der Kritik anheimgestellt und verworfen wird (siehe ebd.). Die Grenzen des dramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia scheinen hier besonders deutlich auf: Mit der Aussage „As palavras, também elas, não significam mais nada“ wird ihm seine Wirksamkeit am Ende der Aufführung vollständig abgesprochen. Postdramatisches Theater wird als Gegenentwurf nur angedeutet. Für eine solche metatheatrale Diskussion findet sich in den in dieser Arbeit vorgestellten historischen Formen des dramatischen politischen Theaters kein Beispiel. Sie wird aber auch erst dann möglich und nötig, wenn das bisherige Modell – wie im gegenwärtigen Kontext – an seinen Grenzen angekommen scheint. Auch in anderen Aufführungen werden die Grenzen des dramatischen politischen Theaters aufgezeigt – und zwar immer dann, wenn performative Elemente zum Einsatz kommen: In ZUMBI binden die performativen Elemente die 146 | Diese Wirkung entspricht dem Verständnis Poschmanns von Metatheater als kritische Nutzung der dramatischen Form: „Der Darstellungsästhetik und dem Bild traditioneller, repräsentationaler Theatralität verhaftet, hat sie keine Augen für die in ihrem Resümee eingeforderten Neudefinitionen von Sinn und Subjekt, welche die Theatertexte doch implizit durch nicht-repräsentationale Spielarten von Theatralität liefern.“ (Poschmann, 1997: 95)

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Politisches Theater in Brasilien

Aufführung noch enger an die heutige Realität an und lassen den Zuschauer zu einem Bestandteil des Konflikts werden (siehe Kapitel 4.1.2.2). A ÓPERA DOS TRÊS REAIS aktiviert durch simultane Handlungen den Zuschauer, der sich entscheiden muss, wohin er seine Aufmerksamkeit richtet (siehe Kapitel 4.1.1.3). In CABARÉ DA RRRRAÇA halten sich performative und semiotische Zeichen fast die Waage und die Grenzen zwischen Aufführung und Realität werden beinahe vollständig verwischt (siehe Kapitel 4.1.1.4). In TRÊS MULHERES E APARECIDA drücken sie die absolute Alterität der indígena aus – die so anders ist, dass sich die Bedeutung ihrer Szene nur sehr eingeschränkt semiotisch entschlüsseln lässt (siehe Kapitel 4.1.2.2). Diese Aufführungen fügen der Einfühlung und Reflexion noch eine weitere Ebene hinzu: die des eigenen Erlebens. Zur Vermittlung der Bedeutung längst vergangener Ereignisse für die Lösung aktueller Konflikte, als Gegengewicht zur Historisierung eines Konfliktes und zur Darstellung des absolut Anderen scheint das dramatische politische Theater allein nicht mehr auszureichen. Durch den Einsatz von Präsenz stehen diese Aufführungen bereits an der Schwelle zum postdramatischen politischen Theater.

4.2 P OSTDR AMATISCHES POLITISCHES THE ATER IN S ALVADOR DA B AHIA Wie in Kapitel 2.1.3 beschrieben, zeichnen sich postdramatische Theatertexte durch die „Abwesenheit oder Dekonstruktion der Prinzipien von Narration und Figuration und in konsequenter Delegation der Sinngebung an das Publikum“ (Poschmann, 1996: 97) aus. Im postdramatischen politischen Theater findet sich die politische Wirkungsabsicht demgemäß vorrangig in der Darstellungsweise: Nicht mehr Repräsentation, die Abbildung von Wirklichkeit, sondern Präsenz, das Erleben und Erfahren des Zuschauers, steht für ihre Vermittlung im Vordergrund (siehe Kapitel 2.1.3). Elemente werden weniger in Hinblick auf ihre semiotische denn auf ihre performative Funktion verwendet (siehe Kapitel 3.3). Einige Elemente des postdramatischen politischen Theaters ließen sich bereits in den in Kapitel 4.1 vorgestellten Bühnentexten nachweisen, die dem dramatischen politischen Theater zugeordnet werden. Im Unterschied zu den im Folgenden analysierten Aufführungen dominierte in der „Konstellation dramatischer und postdramatischer Elemente“ (Lehmann, 2011: 26), die, wie in Kapitel 2.1.3 beschrieben, über eine Zuordnung zum Typus des dramatischen oder postdramatischen politischen Theaters entscheidet, bisher die Repräsentation bei der Vermittlung der Wirkungsabsicht. Diese wurde von den vorhandenen postdramatischen Elementen bestätigt oder kritisiert, nicht aber überwunden. In den folgenden Aufführungen sind postdramatische Elemente für die Ver-

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

mittlung der Wirkungsabsicht hingegen zentral: Sie stellen die dramatischen Formen des politischen Theaters nicht nur infrage, sondern präsentieren sich auf der Bühne als Antwort auf die Frage, auf welche Weise politisches Theater Wirkung erzeugen kann – indem der Zuschauer mit seiner Wahrnehmung politischer Konflikte konfrontiert wird und die Wirkungsabsicht durch performative Elemente selbst erlebt.

4.2.1

O C ON TÊINER – die Präsenz eines fernen Problems Me dê apenas o que é meu. Me mostre apenas o que é seu. E não revogue seu amor nunca mais. (Músico, O C ONTÊINER)

Der Theatertext O CONTÊINER wurde unter der Regie von Vinicio de Oliveira Oliveira am 08.09.2006 im großen Saal des Teatro Vila Velha uraufgeführt.147 Es handelt sich um eine Adaptation des Theatertexts O CONTENTOR (1994)148 des Angolaners José Mena Abrantes, der um aus Improvisationen entstandene Szenen erweiterte wurde. Für die Finanzierung der umfangreichen Recherchen zum Thema Migration, die dem Projekt vorausgingen, hatte A Outra Companhia de Teatro vorab den Prêmio FUNARTE de Teatro Myriam Muniz des Ministério de Cultura erhalten (vgl. A Outra, 2014). 2007 wurde die Inszenierung zum Festival de Teatro de Curitiba eingeladen. Neben den Aufführungen im normalen Abendprogramm des Teatro Vila Velha wurden auch gesonderte Schulaufführungen organisiert. O CONTÊINER erzählt in zwölf aufeinander aufbauenden Szenen die Geschichte dreier afrikanischer Flüchtlinge – John, George und Peter –, die sich auf einem Frachter verstecken, um illegal nach Europa zu gelangen. Kurz vor der Ankunft werden sie entdeckt und von der Besatzung in einen Container gesperrt. Das Ende der Aufführung lässt offen, ob die Afrikaner die Reise überlebt haben oder im Container verdurstet sind. Ergänzt wird die Geschichte von zwölf Fragmentszenen, die verschiedene Aspekte legaler und illegaler Migration behandeln. Illegale Migration von Afrika nach Europa gilt seit Jahrzehnten als zentrale Herausforderung gesamteuropäischer Politik: Seit den 2000er-Jahren versu147 | Text: Fábio Espírito Santo, José Mena Abrantes, A Outra Companhia de Teatro; Regie: Vinício de Oliveira Oliveira, Musikalische Leitung: João Milet Meirelles; Ensemble: Camilo Fróes, Eddy Veríssimo, Geruza Doria, Isabela Silveira, Joedson Silva, Luiz Antônio Jr., Luiz Buranga, Paulo Prazeres, Thaís Alves. 148 | O C ONTENTOR ist einer von drei Theatertexten, die von Abrantes 1994 unter dem Titel O Pássaro e A Morte veröffentlicht wurden (vgl. Abrantes, 1999).

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chen jährlich zehntausende Menschen, illegal über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen (vgl. de Haas, 2006: 1).149 Allein im ersten Halbjahr 2006 kamen 34.000 Menschen150 über den Seeweg auf den Kanarischen Inseln und Lampedusa an (vgl. ebd.: 7). Schätzungen zufolge sind im Jahr 2005 mindestens 368 Personen gestorben, „although the actual number might be two or three times higher“ (ebd.: 7).151 Illegale Migration lässt sich dabei als eine Art Ventil einer restriktiven Zuwanderungspolitik begreifen: Illegale Migration durch die Hintertür diente in vielen Fällen als Ersatz für die nicht mehr mögliche legale Zuwanderung in die EU durch die Fronttüre. Je dichter die Fronttüren der legalen Migration geschlossen blieben und bleiben, desto stärker wurde und wird der Druck, durch Seitentüren einzuwandern (humanitäre Gründe wie Asyl, Flüchtlinge, Familienzusammenführung) oder durch die Hintertür illegal ins ‚Haus der Reichen‘ einzusteigen. (Straubhaar, 2007: 10)

Mit Blick auf internationale Migrationsströme zeigt sich Brasilien, das viele Jahrhunderte traditionell als Einwanderungsland152 begriffen wurde, seit den 1980er-Jahren mehr und mehr auch als Entsendeland (vgl. IOM, 2010: 10): 2010 lebten bis zu drei Millionen Brasilianer außerhalb Brasiliens, insbesondere in den USA, Japan, Paraguay, Spanien und Portugal (vgl. ebd.: 40). Wenn diese Anzahl im Vergleich zu der Gesamtzahl der Bevölkerung von fast 200 Millionen auch gering erscheinen mag, hat sie doch beständig zugenommen (vgl. ebd.). Dabei lässt sich insbesondere bei der Migration in die USA ein er149 | Aufgrund der Konzeption und Premiere der Aufführung im Jahr 2006 wird hier und im Folgenden versucht, ein Bild von illegaler Migration um das Jahr 2006 zu zeigen. Mittlerweile sind die Zahlen um ein Vielfaches gestiegen. 150 | Studien weisen darauf hin, dass die circa 34.000 Migranten, die im ersten Halbjahr 2006 per Boot auf den Kanarischen Inseln und Lampedusa ankamen, nur eine Minderheit der insgesamt circa 2,6 Millionen Einwanderer in die EU-15 Staaten ausmachten (vgl. de Haas, 2006: 7). Die große Mehrheit reiste legal ein und überzog ihre Aufenthaltsgenehmigung (vgl. ebd.). 151 | Dies wird ebenfalls von de Haas (2006: 7) betont: „In defiance of popular belief, a recent analysis […] suggested that the actual risk of dying while crossing the sea to Spain has remained constant at around one percent or has even slightly fallen over the past years. Therefore, it seems that increases in the death toll should be mainly attributed to an increase in the number of people trying to cross, rather than an increased border surveillance.“ 152 | Die größte Einwanderergruppe wird, nachdem früher europäische Einwanderer dominierten, seit 1995 von Bewohnern angrenzender Länder, insbesondere Paraguay (25%) gestellt (vgl. IOM, 2010: 19). Danach folgen Europa, Lateinamerika, Japan und USA (vgl. ebd.).

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heblicher Teil der Grenzübertritte als illegal bezeichnen: Im Jahr 2005 wurden vom Department of Homeland Security (DHS) mehr als 31.000 Brasilianer bei dem Versuch gefasst, illegal die Grenze zu überqueren (ebd.: 41).153 Als Aufnahmeland von Flüchtlingen hat Brasilien, ebenso wie Argentinien und Chile, nach der Redemokratisierung an Bedeutung gewonnen (vgl. ebd.: 33). Brasilien war 1960 das erste Land des Cono Sur, das die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ratifizierte und – allerdings erst im Jahr 1997 – ein nationales Flüchtlingsgesetz auf den Weg brachte (vgl. ebd.: 55). 2009 wurden in Brasilien 4.153 Flüchtlinge aus 72 Nationen gezählt. Von diesen kamen 65,3% vom afrikanischen Kontinent, insbesondere aus Angola (vgl. ebd.: 32). Der Umgang mit Migranten ist Bestandteil der nationalen politischen Debatte: Im Jahr 2006 wurde die brasilianische Bevölkerung durch eine „consulta pública“ (ebd.: 12) zur Diskussion eines neuen Migrationsgesetzes aufgerufen. Das Gesetz sollte insbesondere ausgerichtet sein: ;0=ELAGARANTIADOSDIREITOSHUMANOS INTERESSESNACIONAIS S“CIOECON¥MICOSECULturais, preservação das instituições democráticas e fortalecimento das relações internacionais (ebd.).

Nach der öffentlichen Diskussion wurde ein entsprechendes Gesetz 2009 dem brasilianischen Kongress vorgelegt (vgl. ebd.). Diese Debatte um Migration und den Umgang mit illegalen Migranten wird in O CONTÊINER aufgegriffen (vgl. hier und im Folgenden OC und Espírito Santo, 2006). Für die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht bedient sich O CONTÊINER zunächst zahlreicher Elemente des dramatischen politischen Theaters: Die thematische Politizität – illegale Migration – wird zur Eröffnung der Aufführung episch präsentiert und anschließend durch die Darstellung der Reise der Afrikaner John, George und Peter szenisch abgebildet. So werden während des Eintritts der Zuschauer aus dem Off kurze Abschnitte mit Hintergrundinformationen zu Migration verlesen (00:18-10:30, 2-5). Die Abschnitte werden zeitlich und örtlich jeweils präzise verortet und beschreiben auf diese Weise das Thema der Aufführung als aktuelles politisches Problem: Nos dias 2 e 3 de setembro deste ano, um novo recorde foi batido, cerca de 1.200 imigrantes clandestinos chegaram ao arquipélago espanhol das Canárias em embarcações rudimentares procedentes do continente africano. As autoridades locais e a Cruz Vermelha informaram que, com este novo recorde, já ultrapassam 20 mil imigrantes que chegaram clandestinamente as ilhas desde o início do ano. (00:1800:37, 2) 153 | Seit 2005 hat sich die Anzahl laut DHS aufgrund der Reform der Einwanderungspolitik an den Grenzen der USA abrupt reduziert (vgl. IOM, 2010: 41).

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Abbildung 17: Performative Szene – Hochziehen des Containers

Foto, Teatro Vila Velha: Die Anstregung der beiden Schauspieler, die den Container tatsächlich in die Höhe ziehen müssen, betont ihre Körperlichkeit. Die Schauspieler der Afrikaner sind nun wirklich im in der Luft baumelnden Container gefangen – Realität und Fiktion nähern sich in dieser Situation aneinander an.

Abbildung 18: Opposition von Zeichen: Peter

Foto, Teatro Vila Velha: Die männlichen Namen und Adjektive bilden einen Kontrast zu den zwei weiblichen Darstellerinnen der Afrikaner. Die kurzgeschnittenen Haare wirken auch performativ, da sie nicht nur Elemente der Figur, sondern ein (einigermaßen) dauerhaftes Merkmal des Körpers der Schauspielerin sind. Die Kostüme unterstützen die Androgynität der Figuren, sie erschweren semiotische Bedeutungszuweisungen.

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In diesem Statement wird das Phänomen der illegalen Migration sowohl als zeitgemäß („deste ano“) als auch tausende von Menschen betreffend („20 mil imigrantes“) dargestellt. Die Ortsangaben in den Statements beziehen sich meist auf den Flüchtlingsweg von Afrika nach Europa, thematisieren aber auch innerafrikanische und lateinamerikanische Migrationsbewegungen und stellen so illegale Migration als globales Problem dar. Nachdem auf diese Weise der politische Konflikt um illegale Migration zunächst episch vermittelt und auf der Makroebene präsentiert wird, wird er anschließend mit Blick auf individuelle Schicksale inszeniert und emotionalisiert: Indem O CONTÊINER die Reise der drei Flüchtlinge abbildet und in den Dialogen ihre persönlichen Geschichten, Perspektiven und Hoffnungen154 für die Zukunft darstellt, werden ihre Beweggründe nachvollziehbar gemacht. Dazu bedient sich die Aufführung einer ausführlichen und realistischen Charakterisierung der Figuren: Die drei Afrikaner werden während der gesamten Aufführung von denselben drei Schauspielern, einem Mann und zwei Frauen, repräsentiert. Diese stellen die Emotionen der Figuren, unter denen die Angst vor einer Entdeckung bzw. dem Tod auf der See dominiert, in Sprechweise, Mimik und Gestik realistisch dar: So verstecken sich die Flüchtlinge hinter dem als Bühnenbild verwendeten Container vor der Besatzung, halten sich stets in dessen Nähe auf und bewegen sich nur sehr leise, vorsichtig und aufmerksam (12:35-15:26). Auch in ihren den Dialogen zeigt sich Furcht: Peter: Cala essa sua boca! Você quer que descubram a gente? George: Eu... Só queria respirar... Desculpa, eu tava sonhando... Peter: Se descobrem a gente por sua causa, eu te mato! Juro que te mato! (11:00-11:18, 6)

Diese Art der Darstellung ermöglicht, dass sich die Zuschauer in die Rolle der Flüchtlinge emotional hineinversetzen. Ob der letzte Wunsch von John, „Mas mesmo assim eu quero muito viver... Viver muito...“ (01:09:06-01:09:10. 27), erfüllt wird, bleibt in der Aufführung in der Schwebe: Nachdem die Flüchtlinge in der letzten Szene den Container trotz der Aufforderung des Kapitäns nicht verlassen, bricht die Aufführung vor der Ausführung des Schießbefehls des Kapitäns ab (01:10:27, 27). Der Zuschauer muss aufgrund dieses offenen Dramenendes selbst eine Entscheidung über das Ende der Afrikaner treffen – das, indem es auf der Bühne eben nicht aufgelöst wird, umso eindrücklicher wirkt. 154 | Zur menschlichen Darstellung der Afrikaner trägt auch bei, dass diese durchaus realistische Vorstellungen von ihrer Stellung in Europa haben: „George: De qualquer modo os empregos mais pesados e mais sujos vão ser pra gente mesmo, rapaz. É somente por isso que eles fingem aceitar a gente. Eles não vão querer sujar as mãos na própria porcaria que fabricam!“ (27:37-27:50, 14)

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Durch die Gegenüberstellung mit dem Verhalten der Schiffsbesatzung, die die Afrikaner nach ihrer Entdeckung mitleidslos in den Container sperrt, sie dort hungern, dursten und frieren lässt, ergreift die Aufführung für die Flüchtlinge Partei. Dabei formuliert die Besatzung deutlich, dass es die Angst vor einer Bestrafung, d.h. die strikte Einwanderungsgesetzgebung und die sich daraus ergebenden finanziellen Einbußen sind, welche sie dazu zwingt, die Flüchtlinge einzusperren: Capitão: E tem um clandestino doente entre eles? Nós vamos ficar mais 40 dias sem poder atracar, por causa desse clandestino doente e com uma carga de 6000 mil contêineres. Vocês fazem idéia de quanto dinheiro isso significa, hein? E a minha reputação? E a reputação de vocês? (31:43-32:02, 15f.)

Damit ist es also nicht etwa eine individuelle Fehlentscheidung der Mannschaft, welche den Konflikt herbeiführt, sondern es sind, wie in der an Brecht angelehnten Inszenierung von A ÓPERA DOS TRÊS REAIS (siehe Kapitel 4.1.1.3), die Umstände, die ein menschliches, empathisches Handeln verhindern. Die Qualen, denen die Flüchtlinge im Container durch starke Temperaturschwankungen und den Mangel an Nahrung und Wasser ausgesetzt sind, ebenso wie die Möglichkeit, dass keiner der Flüchtlinge die Reise überlebt – weder die im Container verbleibenden George und John noch der im Verlauf der Aufführung freigelassene Peter – kritisieren somit nicht nur den unmenschlichen Umgang der Besatzung mit den Flüchtlingen, sondern auch das gesamte Einwanderungssystem.155 Die Einfühlung, welche durch den Illusionscharakter der Szenen der Afrikaner ermöglicht wird, wird durch die Fragmentszenen durchbrochen. Sie ergänzen die Fabel um die Afrikaner und stellen eine Verbindung zu Brasilien her. Auch einige von ihnen nutzen durchaus Repräsentation. So bildet eine Fragmentszene das „Casting“ eines Menschenschleppers ab (20:38-26:34, 9-13): Seine „Kunden“ werden von ihm auf ihre körperliche Verwertbarkeit – als Tänzer, Prostituierte oder Stuntmen – geprüft. Die Szenen arbeiten dabei einerseits mit einer Kontrastierung des zynischen Menschenhändlers und der naiven Kandi-

155 | Peter wird von der Besatzung befreit, nachdem er sich im Gegensatz zu den beiden Wirtschaftsflüchtlingen George und John als „refugiado político“ (56:07-56:45, 24) bezeichnet hat. Dabei lässt die Aufführung offen, ob er tatsächlich ein politischer Flüchtling ist oder sich den Status nur ausgedacht hat, allerdings weist sein letzter Kommentar vor seiner Befreiung („Eu não disse que essa merda pegava?“) auf Letzteres hin. Dass er dennoch in der Freiheit verstirbt (59:00-59:58, 25), deutet an, dass der Flüchtling auch im ungewissen Fall einer Ankunft bei den bestehenden Verhältnissen letztlich kaum eine Chance auf ein Überleben hat.

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daten, was durchaus komische Effekte156, aber auch deutlich kritische Symbolik beinhaltet: So untersucht der Menschenschlepper die Gebisse der Kandidaten und stellt damit eine Analogie zu den Sklavenmärkten des kolonialen Brasiliens her (25:25-25:35). Insgesamt zeigen sprachliche und proxemische Zeichen, dass die „Kunden“ des Menschenschleppers nicht als Menschen, sondern als Dinge oder, wie in der Szene formuliert, als „mercadoria“ (23:13, 11)157 begriffen werden: Indem alle „Kandidaten“ intime Fragen nach Geschlechts- oder sonstigen Krankheiten beantworten müssen (z.B. 22:45-22:55, 10), wird auf der Bühne ein Eingriff in ihre Menschenwürde dargestellt. Durch dramatische Repräsentation wird auch in diesen Szenen Einfühlung des Zuschauers in die Situation der Migranten möglich. Die Fragmentszenen verfügen daneben auch über epische Elemente. So feilscht der Menschenhändler mit den Zuschauern um den Preis für verschiedene Reiserouten: Atravessador: Vamos embora minha gente, 20 dólares para Líbia, vamos sair do deserto. 250 dólares é o expresso para Tunísia, vai? Não? […] Você aí, com cara de alternativo, vai para a África do sul. (15:27-15:43, 7)

Die Zuschauer werden auf diese Weise in die Aufführung eingebunden – wenn auch die Aufforderung zur Partizipation hier nur eine scheinbare ist, da die Figur nicht auf Reaktionen aus dem Publikum wartet oder eingeht. Zudem wird die Illusion an zwei Stellen durch Lieder und Tänze durchbrochen (17:35-18:55, 8; 57:45-58:57, 24). In beiden Fällen stehen die Lieder mit ihren drastischen Texten in Opposition zu den fröhlichen Melodien. So wechselt der Menschenhändler während des Gesprächs mit einer Kundin plötzlich zum Gesang: Traficante: A senhora acha que está indo para onde? Acha que vai ser como quando você chegar? Hein? Os alemães vão lhe mijar / Os suíços vão lhe cuspir / Os franceses não vão nem querer saber! (17:35-18:55, 8)

156 | So lacht das Publikum über die naive Freude des Mädchens, das sich auf ihre Arbeit in Texas freut und trotz offensichtlicher Hinweise nicht versteht, dass es dort als Tänzerin oder Prostituierte arbeiten soll (24:13-24:18, 12). 157 | Das Bild der „Entmenschlichung“ der Flüchtlinge und ihre Behandlung als Ware findet sich an zahlreichen Stellen der Aufführung: So beschweren sich die Afrikaner, dass sie „que nem bicho“ (36:44, 18) in den Container eingesperrt werden, in einer Fragmentszene gelingt drei Flüchtlingen, verkleidet als Hamburger, die Einreise nach Frankreich (56:48-57:42, 24).

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Die Band ist für das Publikum während der gesamten Aufführung sichtbar auf der zweiten Galerie untergebracht – im Sinne Brechts ist die Musikquelle damit auf der Bühne präsent, was einen distanzierenden Effekt hat (siehe Kapitel 2.2.1.2). Der Gesang verfremdet die Szene und bewirkt ebenfalls eine Distanzierung des Zuschauers. „Afrika“ wird sowohl in den Szenen der Afrikaner als auch in den Fragmentszenen als machtlos/Opfer, „Europa“ als Machtzentrum/Täter verortet. Dieses Verhältnis zwischen Afrika und Europa wird besonders deutlich in einer Szene, in der ein Vertreter der Europäischen Union und eine Vertreterin Afrikas auftreten (46:28-50:58, 21f.). Während der Vertreter der Europäischen Union, Isaak Kronolovski, vom Moderator und Dolmetscher hofiert wird, wird die afrikanische Repräsentantin, Abdalla Abdalulu, zunächst ignoriert (49:52-50:10, 22).158 Isaak Kronolovski entpuppt sich in der Szene als zynischer Politiker, der dem Leid der Afrikaner empathielos gegenübersteht. Die Aufführung weist mit ihrer Kritik an der europäischen Migrationspolitik auch eine postkoloniale Kritik auf. Allerdings bezieht sie sich nicht auf noch vorhandene, aus der Kolonialzeit resultierende Machtstrukturen in Brasilien selbst, sondern auf globale, von Europa dominierte Machtbeziehungen. „Brasilien“ befindet sich hingegen zwischen den beiden Polen: Einerseits berichten in den Fragmentszenen zwei Figuren von den rassistischen Praktiken der USA bei der Rekrutierung brasilianischer Ferienarbeiter (Brasilien = machtlos/Opfer), andererseits wird im Anfangsmonolog die Ermordung acht illegaler afrikanischer Jugendlicher vor Recife thematisiert (Brasilien = Machtzentrum/ Täter). Ob Entsender oder Empfänger, ob Opfer oder Täter, in den Fragmentszenen stellt die Aufführung dar, dass das Thema in Brasilien ignoriert wird: So wird der Streit eines brasilianischen Ehepaars über die Herkunft eines Containers abgebildet, der plötzlich in ihrer Wohnung aufgetaucht ist (35:20-36:28, 16f.). Beide weisen dem anderen die Verantwortung für den Container zu, keiner will ihn behalten, schließlich verlassen beide aufgeregt die Bühne. Auch wird eine Bar in Salvador da Bahia dargestellt, in welcher der Besitzer plötzlich einen Container vorfindet (38:10-42:55, 18-20): Jeremias: Foi o pessoal do governo que veio e botou esse negócio aí. Sirene: Olhe, eu vi na televisão que cada cidadão agora vai receber um contêiner. Pois é. O contêiner vai ser a representação da responsibilidade que cada um de nós tem perante a sociedade.

158 | In diesem Kontext ist auch zu erwähnen, dass die drei Afrikaner, John, George und Peter, mit europäisch-christlichen Namen ausgestattet sind. Dies kann ebenfalls als Zeichen der kulturellen Hegemonie Europas in Afrika gewertet werden.

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Sowohl der Barbesitzer als auch seine Frau sind trotz ihrer „responsabilidade perante a sociedade“ nicht geneigt, den Container aufzunehmen. Erst als ihnen der Gedanke kommt, mit dem Container durch eine Vermietung an favela-Bewohner Geld verdienen zu können, können sie sich für ihn begeistern. O CONTÊINER folgt damit sowohl in den ersten Szenen der Afrikaner als auch in einigen Fragmentszenen dem Prinzip der Repräsentation, um die thematische Politizität zu etablieren, den Zuschauer durch die Illusion von Wirklichkeit bei der Einfühlung zu unterstützen und durch epische Elemente Reflexion zu ermöglichen. Auch positioniert sich die Aufführung im politischen Konflikt mithilfe der dramatischen Strukturelemente eindeutig aufseiten der Migranten. Allerdings lässt sich aus dem Dargestellten zunächst keine politische Wirkungsabsicht ableiten: Die Ignoranz der brasilianischen Mittelklasse gegenüber dem Schicksal von illegalen Migranten wird in den Fragmentszenen zwar kritisch beschrieben – ein Lösungsansatz für das Problem kann von den dramatischen Elementen allerdings nicht präsentiert werden. Eine klare politische Wirkungsabsicht wird erst durch Elemente des postdramatischen politischen Theaters vermittelt. Denn neben den oben beschriebenen Szenen, in denen für die Vermittlung der Wirkungsabsicht die Repräsentation dominiert, verfügt O CONTÊINER ebenfalls über Szenen, in denen Präsenz für die Vermittlung ausschlaggebend ist. So verfügen einige Elemente des Bühnentextes nicht nur über semiotische, sondern durch die Betonung von Räumlichkeit, Körperlichkeit und Zeitlichkeit auch über besondere performative Wirkung. Der orangefarbene, etwa 6 Meter x 2,50 Meter x 2,60 Meter große, an allen Seiten geschlossene Container, der zunächst in der hinteren Hälfte der Bühne steht, hat nicht nur semiotische Bedeutung – als Zeichen für den Container, in den die Afrikaner gesperrt werden und als Symbol für die globalisierte Welt, in der Waren, im Gegensatz zu Menschen, (fast) frei zirkulieren können. Durch seine Größe und sein Gewicht wirkt er auch performativ auf den Bühnenraum, prägt dessen Atmosphäre und macht dessen Räumlichkeit – beispielsweise seine Größe, in der der Container fast verschwindet – bewusst. Die Körperlichkeit der Schauspieler wird betont, wenn nach etwa der Hälfte der Aufführung der Container unter spürbarer Anstrengung der Schauspieler – Muskeln spannen sich, sie schwitzen – an Stahlseilen circa 1,50 Meter in die Höhe gezogen wird (32:40-34:25, 15).159 Die Zeitlichkeit der Aufführung tritt beispielsweise zum 159 | Eine ähnliche Wirkung ergibt sich in der Szene des Menschenschleppers, der zwei Kandidaten vom Container springen lässt (25:40-26:20, 12f.). Aufgrund der Höhe des Containers wird die Körperlichkeit der Schauspieler betont. Die Gefahr, sich zu verletzen, ist echt. Andererseits werden die Afrikaner durch das Einsperren ihrer Körperlichkeit beraubt. Semiotisch steht die Beraubung der Körperlichkeit auch für die Unterdrückung und Machtlosigkeit der Afrikaner gegenüber der Besatzung. Nachdem in B AI B AI P ELÔ die Marginalisierung und Unterdrückung der armen Bevölkerung durch

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Ende von O CONTÊINER in den Vordergrund, wenn lange Pausen, in denen auf der Bühne nur Schweigen herrscht, in Kontrast zu rhythmisch schnell gespielten Szenen treten (52:50-01:11:05, 23-27).160 Diese versetzen den Zuschauer in eine Erwartungshaltung, die im weiteren Verlauf allerdings nicht aufgelöst wird. Stattdessen wird der Zuschauer in seiner Anspannung zurückgelassen. Die in den dramatischen Szenen diagnostizierte Gleichgültigkeit der brasilianischen Mittelschicht gegenüber der Situation von illegaler Migration wird durch das postdramatische politische Theater überwunden: Durch Präsenz wird die Unmittelbarkeit des politischen Konflikts betont und die geografisch weit entfernte Herausforderung der illegalen Migration nach Europa in der räumlichen und zeitlichen Gegenwart des Zuschauers verortet. Die zahlreichen performativen Elemente der Aufführung haben des Weiteren zur Folge, dass die Realität in die Aufführung hereinbricht: Die Anstrengung der Schauspieler, während sie den Container in die Höhe ziehen, ist nicht gespielt, sondern echt. Ebenso werden die „Afrikaner“ nicht nur vermeintlich in einen Container gesperrt, sondern müssen sich wirklich mehr als eine halbe Stunde (32:50-01:11:05, 16-27) in dem klaustrophobisch wirkenden Raum aufhalten: Solange der Container in der Luft hängt, ist es ihnen tatsächlich unmöglich, ihn zu verlassen. Die Schläge der Schauspieler gegen die Containerwand sind nicht nur simuliert, sondern die Schauspieler trommeln, treten und werfen sich tatsächlich mit ihren ganzen Körpern gegen die Wände, „wirkliche“ und „gespielte“ Hilferufe werden ununterscheidbar. Dieser „Einbruch des Realen“ (Lehmann, 2011: 170) ist ein typisches Element des postdramatischen Theaters und kann auch eine Verunsicherung des Zuschauers bewirken: Wenn auf der Bühne das Reale sich gegenüber dem Inszenierten durchsetzt, so wie in einem Spiegel auch im Parkett. Fragt der Zuschauer sich notgedrungen (durch die inszenatorische Praxis veranlaßt), ob er auf den Bühnenvorgang als Fiktion (ästhetisch) oder als Realität (also z.B. moralisch) reagieren soll, so verunsichert ein solcher Grenzgang des Theaters zum Realen gerade diese entscheidende Disposition des Zuschauers: die unreflektierte Sicherheit und Gewißheit, mit der er sein Zuschauersein als unproblematische soziale Verhaltensweise erlebt. (Ebd.: 177)

die Weigerung, Negócio Torto eine Stimme zu geben (siehe Kapitel 4.1.1.1), symbolisiert wurde, ist es hier nun die Körperlichkeit, die den Unterdrückten verweigert wird. 160 | In einer der letzten Szenen, in denen George vom „pássaro negro“, einer Allegorie des Todes, fantasiert, laufen schwarz gekleidete Figuren hinter dem Container hin- und her (01:07:07-01:08:03, 26). Ihre nackten Füße klatschen auf den Boden und erzeugen so einen immer schneller werdenden Rhythmus, der auf die Zuschauer einwirkt.

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Die Verunsicherung des Zuschauers, ob er eingreifen soll oder nicht, überträgt sich durch dieses Element des postdramatischen Theaters auf das Problem der illegalen Migration, vor dessen Hintergrund er sein Handeln oder Nichthandeln ebenfalls infrage stellen muss. Erneut wird der Zuschauer damit in eine Situation versetzt, in der in Bezug auf einen politischen Konflikt Haltungsdruck erzeugt wird. Durch den Einsatz von Elementen des postdramatischen politischen Theaters lässt die Aufführung den Zuschauer die Verunsicherung, welche die Flüchtlinge auf ihrer illegalen Reise spüren, auch selbst erfahren. So konfrontiert O CONTÊINER den Zuschauer beispielsweise mit unauflösbaren Widersprüchen auf Zeichen- und Klassemebene. Der Bühnentext stellt die Körperlichkeit der Schauspieler und die Erscheinung der Figuren in Opposition: Die Hautfarbe der Schauspieler und ihr Geschlecht geben keinen Hinweis auf die Nationalität und das Geschlecht der von ihnen verkörperten Figuren. George erscheint als branco, während die linguistischen Zeichen ihn als Afrikaner ausweisen, ein Schauspieler mit blonden Haaren verkörpert afrikanische illegale Einwanderer und ein anderer, der eine weiße Hautfarbe hat, trägt seine Haare im Afro-Look. Die Schauspieler repräsentieren in den Fragmentszenen jeweils neue Figuren beider Figurengruppen, der Europäer und der Afrikaner, sodass sich keine automatische Zuordnung durch „Wiedererkennung“ vornehmen lässt – in jeder Szene muss der Zuschauer die Figuren neu identifizieren und kann sich nicht auf Gewissheiten vergangener Szenen oder externe Umkodierung verlassen. Auf diese Weise wird der Zuschauer verunsichert und aktiviert – er weiß nicht, auf welche Zeichen er sich bei der Bedeutungsgenese verlassen kann. Ein weiteres Beispiel für Widersprüche und Mehrdeutigkeit auf Zeichenebene findet sich bei der Geschlechterzuschreibung der Afrikaner: So beschreiben ihre Namen, das Genus der von ihnen für die Selbstbeschreibung verwendeten Adjektive, ihre Glatzen und dunkle Stimmen George und Peter als Männer. Damit stehen diese Zeichen im Gegensatz zu den Körpern der Schauspielerinnen, die sie verkörpern. Besonders deutlich wird diese Opposition in der Szene, in der die Afrikaner von der Besatzung eingesperrt werden (29:39-32:50, 16). Hier entblößen die Schauspielerinnen von Peter und George ihre Brüste und verdeutlichen so, dass Schauspieler und Figuren nicht identisch sind. Auch zwei von Schauspielerinnen verkörperte männliche Besatzungsmitglieder treten mit nacktem Oberkörper auf. Abgesehen von der oben beschriebenen Wirkung widersprüchlicher Zeichensysteme verunsichert die Nacktheit der Schauspielerinnen den Zuschauer, da Zuschauerraum und Bühnenraum hell erleuchtet sind und die Schauspielerinnen direkt ins Publikum blicken. Wie bereits in CABARÉ DA RRRRRAÇA (siehe Kapitel 4.1.1.4) wird durch dieses Element des postdramatischen Theaters der Zuschauer aus seiner passiven Beobachterrolle im Konflikt herausgerissen. Er wird angehalten, seine Reaktion und sein Verhalten zu hinterfragen und sich zu positionieren.

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Auch der Einsatz von Videokameras führt zu einer Konfrontation verschiedener Zeichensysteme.161 Als Merkmal des postdramatischen Theaters von Lehmann als „Medien-Nutzung“ (Lehmann, 2011: 416) bezeichnet, betont dieser die liveness der Theatersituation: Indem die Handlung innerhalb des Containers, nachdem die Afrikaner eingesperrt wurden, nicht „live“ auf der Bühne, sondern nur auf Bildschirmen verfolgt werden kann, wird die Handlung um die Afrikaner vom Publikum distanziert. Die von den Kameras übertragenen visuellen und die zur selben Zeit aus dem Container vernehmbaren akustischen Zeichen zwingen den Zuschauer zudem, eine Entscheidung zu treffen: Entweder richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Bühne, auf der, wie er weiß, die Handlung passiert, er sie aber nicht sehen kann, oder aber auf die über den jeweils anderen Zuschauerblöcken angebrachten Fernseher, in denen die Handlung übertragen wird, dort aber eben nicht stattfindet. Auch hier resultieren die Opposition der Zeichen und die Simultanität des Zeicheneinsatzes in einer Verunsicherung des Zuschauers – stets muss er befürchten, etwas zu verpassen – und in dem Zwang, eine Entscheidung unter den verschiedenen „Angeboten“ zu treffen. Das Gefühl der Verunsicherung erfährt der Zuschauer ebenfalls, indem ihm in der Aufführung verdeutlicht wird, dass seine Perspektive – auf den theatralen, aber auch auf den politischen Konflikt – lückenhaft ist: Die Bühnenform der Semiarena bewirkt, dass jeder Zuschauerblock deutlich unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen hat. Indem der Container darüber hinaus stets einige der Handlungen auf der Bühne verdeckt (z.B. 11:18-12:30, 6), werden die Unterschiedlichkeit der Perspektiven und die Lückenhaftigkeit der Wahrnehmung in der Aufführung verdeutlicht. Der Container dominiert den Raum gegenüber dem Zuschauer, dessen Wunsch, alles, was sich auf der Bühne abspielt, zu sehen, nicht nachgekommen wird. Neben einer Verunsicherung, die der Zuschauer durch das Wissen um sein lückenhaftes Wissen erfährt, lässt sich die Erfahrung auch auf vermeintliche Gewissheiten im außertheatralen politischen Konflikt übertragen. Ebenso wie hier eine Entkopplung von visuellen und auditiven Zeichen stattfindet, findet in anderen Szenen eine Entkopplung der sprachlichen und der proxemischen Zeichen bzw. der Dialoge und der abgebildeten Handlung statt: Während die sprachlichen Zeichen als Dialoge und Repliken auf eine Ge161 | Auch Aufführungen des dramatischen politischen Theaters nutzen Videoaufnahmen (siehe Kapitel 4.1.1.2 oder 4.1.1.3): „Erst wo das Videobild in eine komplexe Beziehung zur Körperlichkeit tritt, beginnt eine eigene mediale Ästhetik des Theaters.“ (Lehmann, 2011: 416) Der Einsatz des Videos in O C ONTÊINER ließe sich mit Lehmann folgendermaßen beschreiben: „Es ist deshalb logisch, daß die Video-Technik die Tendenz aufweist, für die Kopräsenz von Videobild und lebendigem Akteur genutzt zu werden, ganz allgemein als technisch vermittelte Selbstreferentialität des Theaters zu fungieren.“ (Ebd.: 423; Herv.i.O.)

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sprächssituation hinweisen, blicken sich die Schauspieler/Figuren in einigen Szenen nicht an, sondern stattdessen starr ins Publikum (29:39-32:50, 14-16; 01:09:30-01:10:26, 27). Der hier kreierte „Konflikt zwischen Text und Szene“ (Lehmann, 2011: 261) kann ebenfalls als typisches Element des postdramatischen Theaters gelten. In O CONTÊINER trägt er zum bewussten Erleben der Theatersituation und zu der Verunsicherung der Zuschauer bei. Ein weiteres Element des postdramatischen politischen Theaters, das in O CONTÊINER zur Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht eingesetzt wird, ist der „Entzug der Synthesis“ (Lehmann, 2011: 139) und die Übertragung der Bedeutungsgenese an den Zuschauer. Während diese bereits in den oben beschriebenen Szenen durch nicht aufzulösende Widersprüche in den Zeichensystemen erschwert wurde, wird sie in einigen, auf Narration und Figuration komplett verzichtenden Fragmentszenen, vollständig an den Zuschauer übertragen. So treten zu Beginn der Aufführung zwei Schauspieler auf, die Fakten zur illegalen Migration präsentieren (11:18-12:30, 6). Sie interagieren nicht, erhalten keine Charakterisierung, werden zeitlich und räumlich nicht verortet und präsentieren sich allein als Medien, die Text wiedergeben. Unterstützt wird diese mangelnde Figuration durch die Kostüme: Diese bestehen aus bodenlangen, eng am Körper anliegenden schwarzen Röcken und nackten Oberkörpern und tragen zur Androgynität der Schauspieler, zur Kollektivierung der Figuren und zur dunklen Atmosphäre der Aufführung bei. Damit wird die Figuration im Sinne des postdramatischen Theaters durchbrochen. Auch andere, lyrische oder narrative Texte, die einen Bezug zum Themenfeld Migration aufweisen oder durch die Verwendung in diesen Kontext gestellt werden, werden im Verlauf der Aufführung auf diese Weise, losgelöst von Figuration und Narration, präsentiert (59:00-59:58, 25; 01:05:50-01:07:07, 26). Damit wird der Zuschauer einerseits aktiviert. Andererseits betonen auch diese Elemente die Präsenz und Unmittelbarkeit der Aufführung.162 Mit welchem Effekt diese Elemente die Repräsentation „stören“ wird besonders in der letzten Szene der Aufführung deutlich (01:09:40-01:10:26, 27). Hier stellt ein Musiker dem Kapitän auf seine Aufforderung an die Flüchtlinge, den Container zu verlassen, ein Gedicht entgegen: „Me dê apenas o que é meu. / Me mostre apenas o 162 | Ein Beispiel ist ein Gedicht, welches in einer der letzten Szenen von einem Schauspieler vorgetragen wird: „Preparei-te nas pedras da casa, asas do pássaro calulu. / Com pedaços de troncos destroçados pelos raios, e colados com cera. / Eu convidei a metade gêmea do meu espírito / para te passar remédio da cabeça aos pés.“ (01:05:50-01:07:07, 26) Weniger als semiotische Bedeutung zu generieren, wirkt der langsame, traurige Sprechrhythmus auf die Zuschauer ein. Die poetische, performative Funktion der Sprache gewinnt an Gewicht, ihre Rolle als semiotischer Bedeutungsträger wird abgewertet. Zur Bedeutung von Lyrik im postdramatischen politischen Theater siehe Kapitel 4.2.3.

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que é seu. / E não revogue seu amor nunca mais!“ Das Gedicht durchbricht die Repräsentation auf der Bühne und spricht den Zuschauer noch einmal direkt an. Nicht die Bedeutung der Worte, sondern die Präsenz der Theatersituation, welche durch sie erzeugt wird, steht hier im Vordergrund. Neben ihren spezifischen Beiträgen zur Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht von O CONTÊINER betonen die postdramatischen Elemente die Unmittelbarkeit der Aufführung, lassen den Zuschauer die Verunsicherung als dominierendes Gefühl von illegaler Migration selbst erfahren, übertragen ihm die Verantwortung für die Bedeutungsgenese und erzeugen so einen auf den politischen Konflikt bezogenen Haltungs- und Handlungsdruck. O CONTÊINER gelingt es mithilfe von Elementen des postdramatischen politischen Theaters, das abstrakte globale Problem der illegalen Migration direkt mit dem Zuschauer in Verbindung zu bringen. Damit zeigt sich, dass, wenn auch Repräsentation weiterhin verwendet wird, die Präsenz für die Formulierung der Wirkungsabsicht von O CONTÊINER ausschlaggebend ist: Erst durch postdramatische Elemente, die dem Zuschauer die Unmittelbarkeit des komplexen, ihn scheinbar nicht betreffenden politischen Konfliktes verdeutlichen, kann dieser aus seiner Gleichgültigkeit herausgerissen und für ein Engagement aktiviert werden.

4.2.2

P RIMEIRO DE A BRIL – postdramatische Vermittlung einer alternativen Historiografie No debemos nos enganar pensando que eso terminará. Al parecer, ya terminó, para algunos, és claro. (Narrador, P RIMEIRO DE A BRIL)

Der Theatertext PRIMEIRO DE ABRIL wurde am 08.10.2004 anlässlich des Gedenkens zum vierzigsten Jahrestag des brasilianischen Militärputsches unter der Regie von Gordo Neto von Companhia de Teatro dos Novos und Vilavox im großen Saal des Teatro Vila Velha uraufgeführt. PRIMEIRO DE ABRIL beschreibt in 23 Szenen die Ereignisse im März 1964 sowie die zunehmenden Repressionen der Diktatur in den 1960er- und 1970er-Jahren. In der ersten Spielzeit wurden gesonderte Schulaufführungen durchgeführt, die von Vorträgen von Historikern begleitet wurden. Im Jahr 2008 wurde das Stück für eine weitere Spielzeit gezeigt.163 163 | Text: Gordo Neto, Jarbas Bittencourt, Jacyan Castilho, Hector Briones; Regie: Gordo Neto; Musikalische Leitung: Jarbas Bittencourt; Ensemble: Cell Dantas, Cláudio Machado, Glauber Santos, Jacyan Castilho, Márcia Lima, Mariana Carvalho, Roberto Brito, Cida Oliveira, Emiliano Maximus, Felice Souzatto, Héctor Briones, Igor Epifanio,

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Auch wenn sie im Vergleich zur chilenischen und argentinischen Militärdiktatur deutlich weniger Opfer forderte, war die Diktatur in Brasilien keineswegs sanft (vgl. Goes, 2012: 3): Laut Bericht der Comissão Nacional de Verdade (2014) forderte die Militärdiktatur mindestens 434 zivile Todesopfer, darunter 243 Personen, die bis heute als desaparecidos gelten (vgl. ebd.). Insgesamt wurden mindestens 1.843 Personen gefoltert (vgl. ebd.). Zudem wird davon ausgegangen, dass bis zu 500.000 brasilianische Bürger von den Sicherheitsbehörden überwacht und 200.000 mit Verdacht auf subversives Verhalten eingesperrt wurden (vgl. Cunha, 2004). Bis zum Erscheinen des Berichts der Wahrheitskommission galt die brasilianische Militärdiktatur im Vergleich zu den anderen Ländern als kaum aufgearbeitet: Die brasilianische Regierung [begegnete; Anm. SV] der autoritären Vergangenheit des Landes mittels Verleugnung und Vermeidung, erließ ein Amnestiegesetz [Lei No. 6683, 1979 von João Figueiredo beschlossen; Anm. SV] und hoffte auf Amnesie. Säuberungen und Gerichtsverhandlungen fanden nicht statt. Erst in den vergangenen Jahren wurden Reparationen gezahlt, allerdings ohne Bekanntgabe offizieller Informationen: Die Sonderkommission für Politische Todesfälle und Verschwundene bot Entschädigungen an, ohne klarzustellen, wofür entschädigt werden sollte. (Goes, 2012: 9)

Wie sehr die Frage nach der Aufarbeitung der Militärdiktatur die brasilianische Gesellschaft prägt und spaltet, zeigt sich an wiederkehrenden politischen Debatten: Noch 2002, zwei Jahre vor der Uraufführung von PRIMEIRO DE ABRIL, wurden geheime Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur von Fernando Henrique Cardoso mithilfe eines umstrittenes Gesetzes zur ewigen Verschlusssache deklariert (vgl. ebd.).164 Leonardo Suzart, Maria Rosa Espinheira, Mariana Freire, Mônica mello, Nilson Rocha, Rodrigo Frota; Vivianne Laerte. 164 | Auch lange nach der Uraufführung von P RIMEIRO DE A BRIL setzte sich die Debatte fort: Noch im Jahr 2010 führte das Programa Nacional de Direitos Humanos, in dem die Bildung der Comissão Nacional de Verdade vorgeschlagen wurde, zu einer politischen Krise, in der der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim sowie drei Generäle Präsidenten Lula da Silva mit ihrem Rücktritt drohten (vgl. Schneider, 2011: 164f.). Die brasilianischen Medien wandten sich dabei ebenfalls mehrheitlich gegen die Einrichtung der Wahrheitskommission, „reproducing the vocabulary of a repressive state and concealing the illegitimacy of the [military] regime“ (ebd.: 168). Erst mit der Aufhebung der von Cardoso unterzeichneten Ewigkeitsklausel im Jahr 2011 und der Aufnahme der Arbeit durch die Wahrheitskommission 2012 unter der Präsidentschaft von Dilma Rousseff wurden Fortschritte in der Aufarbeitung der Militärdiktatur verzeichnet (vgl. Goes, 2012: 10f.). Die Zeitung O Globo erkannte 2013 ihre Unterstützung der Militärdiktatur öffentlich als Fehler an (vgl. O Globo, 2013).

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Abbildung 19: Performative Szene: Wassertank

PA1 08:32: Insgesamt sechs Mal wiederholt sich die Szene, in der der nackte Schauspieler im Inneren des Tanks ins Wasser stürzt. Die Szene macht die Körperlichkeit des Schauspielers bewusst und hält den Zuschauer dazu an, sein Eingreifen oder NichtEingreifen zu reflektieren.

Abbildung 20: Konflikt zwischen Text und Szene

PA1 01:49: Während die von den Schauspielern auf der oberen Galerie wiedergegebene Originalrede von João Goulart von 200.000 Zuschauern spricht und eine aufgeregte Atmosphäre suggeriert, ist die Szene unten eher statisch, der Blick ins Publikum gerichtet. Das Auseinanderfallen von Text und Szene unterstreicht die Aktualität der historischen Situation. Identische Kleidung und Schminkmasken erschweren die Figuration.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

An dieser Diskussion um die Aufarbeitung und Konsequenzen der Verbrechen der Militärdiktatur beteiligt sich PRIMEIRO DE ABRIL, indem die Aufführung ein Ende des Schweigens und weitere Aufarbeitung fordert (vgl. hier und im Folgenden PA1/PA2 und Neto, 2004). Dabei entscheidet sich die Aufführung allerdings dafür, nicht die aktuelle Debatte der 2000er-Jahre abzubilden, sondern durch den Einsatz von performativen Elementen die andauernde Bedeutung der vergangenen Ereignisse präsent zu machen. Diese Funktion zeigt sich beispielhaft im Bühnenbild der Aufführung: Auf einer großen Schwarz-Weiß-Fotografie ist die Passeata dos Cem Mil165 mit dem Plakat: „Abaixo a ditadura = Povo no poder!“ abgebildet. Durch nachfolgend beschriebene Betonung der Präsenz der Aufführung wird das historische Originaldokument zu einer auf den gegenwärtigen Konflikt bezogenen politischen Aufforderung: Durch Aufarbeitung soll die Macht des Militärs vierzig Jahre nach dem Putsch endlich vollständig gebrochen werden. Durch die Verortung des Großteils der Szenen in der Vergangenheit wird es der Aufführung möglich, neben der Positionierung in der aktuellen Debatte auch eine alternative Historiografie (siehe Kapitel 4.1.2.2) zu entwickeln. Dabei präsentiert sie eine Perspektive auf die Diktatur, die João Goulart und diejenigen, die Widerstand leisteten, als Helden zeichnet, während sie seine Gegner und die Militärs insgesamt als korrupt, brutal und nur auf die eigene Macht bedacht darstellt. PRIMEIRO DE ABRIL ist damit ein Beispiel, wie auch postdramatisches politisches Theater eine alternative Historiografie entwickeln und gleichzeitig eine politische Wirkungsabsicht für die Gegenwart formulieren kann.166 Anstatt einer die gesamte Aufführung umspannenden Fabel werden in der Aufführung fragmenthaft Situationen zur Erläuterung verschiedener Aspekte der Militärdiktatur dargestellt. Zunächst präsentiert die Aufführung die Ereignisse vom 13.03.1964 bis 01.04.1964, die dem Militärputsch unmittelbar vorausgingen (PA1, 00:07-54:10, 1-26). Nach der Schilderung des 01.04.1964 165 | Die Demonstration von Studenten, Intellektuellen und Künstlern gegen die Militärdiktatur, die Passeata dos Cem Mil, fand am 26.06.1968 in Rio de Janeiro statt (vgl. do Valle, 1999: 111). Das Plakat „Abaixo a ditadura = Povo no poder!“ führte den Demonstrationszug an (vgl. ebd.). 166 | Ebenso wie die in Kapitel 4.1.2.2 vorgestellten Aufführungen, weist P RIMEI RO DE A BRIL damit streng genommen zwei Bedeutungsebenen auf: Eine, welche sich auf einen aktuellen Konflikt der Gegenwart bezieht (hier: die Aufarbeitung der Militärdiktatur) und eine zweite, welche ein Ereignis der Vergangenheit abweichend von der dominierenden Geschichtsschreibung erzählt (hier: der Putsch und die Ereignisse der Militärdiktatur selbst). Da sie sich beide auf die Diktatur beziehen, lassen sich die Ebenen in diesem Fall allerdings nicht voneinander trennen, sondern sind immer gleichzeitig präsent und bedingen sich gegenseitig. Daher wird in der folgenden Analyse auf die Unterscheidung der Bedeutungsebenen verzichtet.

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beginnt der zweite, sich an den Atos Institucionais orientierende Teil der Aufführung, der von den Schauspielern mit „Depois do golpe – uma tragédia em cinco atos“ (PA1 54:10, 27) angekündigt wird (PA1, 54:10-PA2 27:10, 27-36). Im Vergleich zum vorherigen Teil sind die Szenen nun noch kürzer und collagenhafter. Der Kontrast zwischen fiktiver Zeit und realer Spielzeit wird verstärkt, indem in schneller Abfolge die Entwicklung mehrerer Jahre präsentiert wird, während in derselben realen Zeit zuvor die Ereignisse weniger Tage geschildert wurden. Von der Politik, welche die Szenen im ersten Teil thematisch dominiert hat, wechselt der Blick der Aufführung inhaltlich nun zu der Bevölkerung. Die einzelnen „Akte“ werden jeweils durch eine Bandeinspielung angekündigt, welche die Inhalte der Atos Institucionais kurz zusammenfasst. Insgesamt zeichnet sich die Aufführung dadurch aus, dass die Schauspieler, durch Kostüm und Schminke kaum voneinander unterscheidbar sind: Alle tragen Jeans, T-Shirts mit der Abbildung des Bühnenbildplakates sowie rote Schminkmasken und Stiefel. Die Ähnlichkeit betont die Kollektivität der Erfahrung – jeder kann zu jeder Zeit in jede Rolle schlüpfen – verhindert aber auch eine über die einzelnen Szenen hinausgehende Figuration: In jeder Szene und Situation muss der Zuschauer die Figuren neu verorten, Kostüme bieten dabei keinerlei Hilfestellung. Das Prinzip der Figuration des dramatischen Theaters wird auf diese Weise bereits durch die Kostüme und die beständig wechselnden Zuordnungen der Schauspieler zu Figuren gebrochen. Ähnlich wie in O CONTÊINER (siehe Kapitel 4.2.1) werden auch in PRIMEIRO DE ABRIL zur Beschreibung der Opfer zunächst dramatische Elemente genutzt, die eine besondere emotionale Einfühlung der Zuschauer in die Opfer der Militärdiktatur ermöglichen. Die Szene „Podia ser seu filho – De como os gorilas matam adolescentes“167 (PA2 0:00-03:23, 30-32) zeigt die Ermordung des sechzehnjährigen Schülers Edson Luis de Lima Souza bei einer Demonstration in Rio de Janeiro, die sich in der Realität am 28.03.1968 zugetragen hat und Ausgangspunkt für die Passeata dos Cem Mil war. Vom Militär wurde der Einsatz von Gewalt, um das Vaterland vor „terroristas“ (Castro, 1994: 66) zu schützen, noch nach dem Ende der Diktatur gerechtfertigt (ebd.). Auf der Bühne werden die Demonstration und die Gegenaktion der Polizei abgebildet, indem eine Figur zunächst ihre Forderungen nach einem neuen Studentenrestaurant präsentiert und nach einem Knall zu Boden sinkt. Der Leichnam wird mit der brasilianischen Flagge bedeckt. Eine Figur kniet sich vor den Leichnam und wendet sich an das Publikum:

167 | „Podia ser seu filho“ war der Protestslogan der Menschen, die bei der Beerdigung des Schülers gegen die Militärdiktatur demonstrierten (vgl. União Nacional dos Estudantes, 2014).

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Mãe: Entrei na fila para olhar o corpo do rapaz. Ele é muito garoto e eu pensei se, em vez dele, fosse meu filho. Pensei na mãe dele e quase chorei. Depois de quase uma hora encontrei o meu garoto segurando um cartaz ao lado de um orador. Eu nunca soube que ele andava metido em política estudantil, nem sei se o aprovaria, mas naquela hora, fiquei do lado dele. (PA2 0:48-02:10, 31)

Begleitet wird die Rede vom traurigen Chorgesang der restlichen Schauspieler. Durch den Bericht der Gefühle der Mutter erhält die Aufführung an dieser Stelle starke Emotionalität, der Zuschauer wird durch die dramatische Szene angehalten, sich in die Mutter einzufühlen.168 Während einige Militärs den Einsatz von Gewalt gegen so genannte „terroristas“ rechtfertigen, wurde von anderen der systematische Einsatz von Folter noch zu Beginn der 1990er-Jahre bestritten (vgl. Castro, 1994: 69).169 In PRIMEIRO DE ABRIL werden dagegen auf der Bühne verschiedene Folterszenen dramatisch dargestellt: Die Szene „O DOPS quer dialogar com você – de como milicos conversaram com seres humanos, neste caso, com seres humanos do sexo feminino“ (PA2 09:30-15:40, 33-35) wird von einer weiblichen Schauspielerin eröffnet, die auf der Vorderbühne ein Plakat mit dem Schriftzug „Maria. Presa durante 4 anos e 2 meses no Recife.“ in die Höhe hält. Nun wird im Hintergrund dargestellt, wie „Maria“ von der DOPS gefoltert wird: So wird sie auf der Bühne auf einen pau-de-arara170 gebunden, ihr Kopf in eine Toilette gedrückt, sie wird an den Händen aufgehängt und von ihrem Folterer vergewaltigt. „Maria“ wird dabei jeweils von einer anderen weiblichen Schauspielerin an einer anderen Position auf der Bühne verkörpert. Dies bewirkt, dass ihr Schicksal nicht als individuell, sondern als Erfahrung zahlreicher Frauen verstanden wird, und widerspricht so dem Narrativ der Militärs, wonach Folter nicht systematisch angewandt wurde. Die gegenwärtige Maria, die sich dem Publikum präsentiert, bleibt stumm und kommuniziert nur über die Plakate. Zwischen den Foltersituationen lässt sie jeweils ein Plakat klatschend auf den Boden fallen. Im Kontrast zu dem Schweigen wirken das Klatschen der auf den Boden fallenden Plakate und die Geräusche der dramatischen Szenen, in denen Schreie, Wimmern und Trampeln eingesetzt werden, umso eindrücklicher auf den Zuschauer ein. Im Laufe der Szene enthüllt Maria auf den Plakaten weitere Kommentare: 168 | Die Politisierung einer Mutter durch die politischen Aktivitäten ihres Sohnes erinnert an Brechts D IE M UT TER . L EBEN DER R EVOLUTIONÄRIN P ELAGEA WLASSOWA AUS TWER (UA 1932). 169 | Vgl. auch Fontoura (1994: 97) und Etchegoyen (1994: 116). 170 | Caldeira (2000: 390) erklärt die Foltertechnik des pau-de-arara als „the most common torture used against political prisoners during military rule. The prisoner is suspended from a bar by the back of his or her knees, hands tied in front of the legs.“ (Ebd.)

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Muitos morreram. É muito difícil falar sobre a tortura, muito difícil. Eu faria tudo outra vez. Tenho vergonha de estar viva.

Das anhaltende Trauma und das Bewusstsein, im Gegensatz zu den zahlreichen Todesopfern die Folter und das Regime überlebt zu haben, verhindern für Maria das Sprechen über die Militärdiktatur.171 Durch die Abbildung der Folter auf der Bühne wird es dem Zuschauer erleichtert, trotz ihrer Schwierigkeit, selbst von der Folter zu sprechen, ihr Leid nachzuvollziehen. Die Schwierigkeit der Opfer, das Geschehene anzusprechen, wird auch in der letzten Szene der Aufführung, „Nós não fomos os únicos – de como outros golpes – ou o mesmo – foram dados na América Latina.“172 (PA2, 17:24-26:05, 35f.) mit dramatischen Mitteln dargestellt: Ein Mann und eine Frau beobachten aus einer der ersten Zuschauerreihe vorgelagerten Stuhlreihe das Geschehen auf der Bühne, das zunächst tanzende Pärchen, anschließend die Trennung der Pärchen und Erschießung von Gefangenen durch Militärs symbolisiert. Währenddessen kommentiert die Frau: Narradora: Quero primeiro pedir desculpas... Porque pode ser que minhas palavras não sejam muito claras... É difícil falar... Existia muito medo, mas esse medo era deles! Só depois que esse medo foi nosso também... Quando digo nosso, todos sabemos... É assim, infelizmente isso aconteceu aqui, mas não só aqui, e não só com a gente. (PA2 18:15-20:05 , 35)

Neben den langen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen und Satzteilen (hier markiert durch Auslassungspunkte) wird die anhaltende Schwierigkeit, über die Militärdiktatur zu sprechen, ausgedrückt, indem sie sich immer wieder verhaspelt und neu ansetzen muss, bis sie schließlich vollständig aufhört zu sprechen. Anschließend scheitert auch der Mann daran, über seine Erlebnisse mit der chilenischen Militärdiktatur zu berichten: Narrador: No debemos nos enganar pensando que esto terminará. Al parecer ya terminó, para algunos, és claro. Pero no puedo dejar de recordarlo… El golpe militar de Augusto Pinochet en 1973 fue en el dia 11 de septiembre… Muchos muertos, como mi hermano, talvez… No sé… Pero yo no morí… yo querría decir que… todos sabemos… Pero hablar de… Disculpen, no puedo más hablar. (PA2 23:10-24:53, 36) 171 | Der Grund für das Schweigen ist damit ein anderer als die Subalternität in B AI B AI P ELÔ (siehe Kapitel 4.1.1.1), die sich ebenfalls durch Stummheit ausdrückte: Während es den Subalternen gesellschaftlich unmöglich gemacht wird, zu sprechen, ist verhindert bei Maria die eigene Erfahrung, dass sie sich zum Geschehenen äußert. 172 | Die letzte Szene wurde vom chilenischen Mitglied von Companhia Teatro dos Novos, Hector Briones, geschrieben und inszeniert.

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Durch die spanische Sprache sowie die Bezugnahmen auf Chile und Argentinien weitet die Szene die Ereignisse in Brasilien – und die mangelnde Aufklärung – auf andere lateinamerikanische Länder aus.173 Durch die Platzierung von Narrador und Narradora im Zuschauerraum bezieht die Aufführung an dieser Stelle auch das Publikum ein: Auch ihm wird unterstellt, nicht über die Diktatur sprechen zu können – oder zu wollen. Die dramatischen Szenen ermöglichen dem Publikum damit eine Einfühlung in die Opfer der Militärdiktatur. Das Narrativ der „sanften“ Diktatur wird auf diese Weise widerlegt und die Dringlichkeit, das Vergangene im Namen der Opfer aufzuarbeiten, verdeutlicht. Gleichzeitig stellt die Aufführung in den dramatischen Szenen die Schwierigkeit der Opfer dar, über das Erlebte zu sprechen. Dieses Schweigen steht einer Aufarbeitung der Diktatur in der Gegenwart entgegen: Die Sprache, im dramatischen politischen Theater ein zentrales Element der Bedeutungsgenese, scheitert an den traumatischen Erfahrungen der Opfer. Um das Schweigen durchbrechen zu können, setzt PRIMEIRO DE ABRIL daher Elemente des postdramatischen politischen Theaters ein. Wie im Folgenden dargestellt wird, ermöglicht es das postdramatische politische Theater, das Schweigen zu überwinden. Auch kann mithilfe von Präsenz verdeutlicht werden, dass die Aufarbeitung der Militärdiktatur nicht abgeschlossen ist, sondern als aktueller politischer Konflikt den Zuschauer weiterhin unmittelbar betrifft. Präsenz wird dabei erzeugt, indem die Täter, im Gegensatz zu den Opfern, nicht figurativ abgebildet, sondern verfremdet dargestellt werden, indem die Zuschauer die Verunsicherung der Militärdiktatur selbst erfahren und indem ein Konflikt zwischen Text und Szene die Theatersituation deutlich aufscheinen lässt. Die verfremdete Darstellung der Täter findet sich in zahlreichen Szenen der Aufführung (z.B. 4-7; PA1 16:40-19:50, 9-11). Sie steht im starken Gegensatz zu der Einfühlung ermöglichenden, figurativen dramatischen Abbildung der Opfer und lässt die Täter als fremd und bizarr erscheinen. So folgt die Darstellung der Schlüsselereignisse kurz vor dem Putsch im ersten Teil der Aufführung dem Prinzip, Elemente des dramatischen Theaters zur Einfühlung in die Opfer und Elemente des postdramatischen Theaters zur Entlarvung der Täter einzusetzen. In diesem Abschnitt der Aufführung wird die Entwicklung der alternativen Historiografie zur Person von João Goulart besonders sichtbar, indem PRIMEIRO DE ABRIL Partei für den in der brasilianischen Öffentlichkeit kontrovers diskutier-

173 | Zwischen den beiden Monologen sagen der Mann und die Frau im Wechsel in chronologischer Reihenfolge die Daten der Militärputsche in Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile und Peru auf, woraufhin auf der Bühne die Gefangenen erschossen werden (PA2 21:00-23:10, 36). Die Zusammenarbeit zwischen den Militärdiktaturen wird durch das Händeschütteln von Soldaten auf der Bühne symbolisiert.

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ten brasilianischen Präsidenten174 ergreift: Er wird in dramatischen Szenen als Opfer der zunehmenden Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft und als Privatmann präsentiert, der sein Familienleben für seine Überzeugung aufgeben muss (PA1 06:04-07:10, 3). Durch die dramatische Darstellung wird dem Zuschauer ein Einfühlen in die Trauer von Goulart beim Abschied von seiner Familie möglich. Das Einfühlen in seine Gegner175 wird dem Zuschauer dagegen unmöglich gemacht: Diese werden durch stark überzeichnete Gestik, Mimik und sprachliche Zeichen als von Geldgier getriebene Spielbälle der amerikanischen CIA abgebildet, zudem wird ein Großteil der Szene gesungen und getanzt. Der Einfluss der USA auf den Militärputsch176 wird sowohl performativ als auch semiotisch hervorgehoben, indem sich die Gegner von Goulart in einem Tanz auf der Bühne vor der CIA erniedrigen (PA1 09:14-13:30, 4-7) und nach der erfolgten Verschwörung symbolisch eine USA-Flagge aufgehängt wird (PA1 16:05-16:30). Diese Darstellung der USA kann als Einspruch gegen den imperialistischen Einfluss auf brasilianische Innenpolitik und damit als postkoloniale Kritik verstanden werden. Ein weiteres Beispiel für die verfremdete Darstellung von Goularts Gegnern ist die Szene „Nas Gerais. De como os mineiros comeram pão de queijo em plena semana santa“ (PA1 16:40-19:50, 9-11). Hier wird die Verschwörung des brasilianischen Militärs mit Politikern aus Minas Gerais und Mato Grosso do 174 | Toledo (2004: 13f.) fasst im Jahr der Aufführung zusammen: „Passados quarenta anos, o governo e os tempos de Goulart são ainda objeto de interpretações controversas e antagônicas. Liberais e conservadores atribuem ao período e ao governo apenas aspectos negativos e perversos: ‚baderna política‘, ‚crise de autoridade‘ e ‚caos administrativo‘; inflação descontrolada e recessão econômica; quebra da hierarquia e indisciplina nas forças armadas; ‚subversão‘ da lei da ordem e avanço das forças de esquerda e comunizantes etc. Enquanto existe um forte consenso entre liberais e conservadores, divergentes são as visões entre os setores de esquerda acerca da natureza e do significado do governo Goulart. Para estes, vários foram os juízos aplicados: governo de ‚traição nacional‘, de orientação social-democrata ou democrático popular; governo populista de esquerda ou nacional-reformista – e até mesmo de ‚orientação revolucionária‘.“ 175 | Diese werden in der Aufführung als „Federação das Indústrias Brasileiras“, „Instituto Brasileiro de Ação Democrática“, „Instituto Brasileiro de Pesquisas e Estudos Sociais“, „Fraterna Amizade Urbana e Rural“, „Sociedade Rural Brasileira“, „União Cívica Feminina“, „Campanha da Mulher pela Democracia“, „burgesia paulista“, „a igreja“, „Ademar de Barros“ und „a imprensa“ (PA1 09:14-13:30, 4-7) benannt. 176 | Diese war zweifellos umfangreich. 2004 gab die US-Regierung Dokumente frei, welche eindeutig die Unterstützung und militärischen Maßnahmen belegen, die zur Unterstützung der „anti-Goulart forces“ (US Department of State, 1964) getroffen wurden.

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Sul symbolisch als zynisches Kartenspiel präsentiert. Die Szene bemüht sich um keinerlei Illusionswirkung, sondern zielt allein darauf ab, das Bizarre an der Verschwörung herauszuarbeiten und dem Zuschauer zu vermitteln. Dazu wird ein drehender Tisch auf die Bühne getragen, an dem die verschiedenen Verschwörer Platz nehmen. Ein Chor zieht die Parallele zwischen der Verschwörung und einem Kartenspiel, bei dem die Karten die verschiedenen Heereseinheiten repräsentieren. Die Darstellung der Verschwörung als Kartenspiel, betont noch durch die Nennung der Namen und Funktionen der historischen Figuren, entlarvt den zynischen Charakter, mit dem das Schicksal des demokratischen Brasiliens von wenigen Menschen verändert wurde. Die Gegner von Goulart werden symbolisch als gewissenlose Spieler dargestellt. Sie bleiben dem Publikum durch die Art ihrer Darstellung fremd. Ein Beispiel, wie die Zuschauer durch performative Elemente die Verunsicherung selbst erfahren, findet sich im „Primeiro Ato“ in der Darstellung der während der Regierung von Emílio Garrastazu Médici durchgeführten operação gaiola, in deren Verlauf zahlreiche Regimegegner festgenommen wurden. (PA1 55:10-56:30, 27f.) Hier positionieren sich die Schauspieler in einer Reihe gegenüber dem Publikum, marschieren rhythmisch, bis plötzlich verschiedene Schauspieler aus der Reihe ausbrechen und auf das Publikum zu rennen. Im Verlauf der kurzen Szene verliert sich rasch die Ordnung der Reihe, die Schauspieler springen zu lauter Musik herum, „headbangen“ und wiederholen die von einem hinter ihnen positionierten Mann über ein Mikrofon ins Publikum geschrienen Worte: Operação gaiola – prende, prende, prende, dá uma porrada, torce o braço, bota a algema. Prende o bicho na gaiola, corta as asas, não tem pena. (PA1 55:10-55:30, 27)

Anstelle einer Erklärung oder Abbildung der operação gaiola wird diese mit Mitteln des postdramatischen Theaters stark verzerrt dargestellt: Nicht die Handlung, sondern das Gefühl der Verunsicherung und Verstörung tritt in den Vordergrund. Im Gegensatz zu einer dramatischen Darstellung kann der Zuschauer die Szene nicht vollständig einordnen und Aktionen nicht antizipieren. Durch diese Verstörung – die Rhythmen, die Bewegungen, die Schreie, die direkt an das Publikum gerichtet sind – wirkt sie auf das Publikum umso fremder und unmittelbar bedrohlich. Die Brutalität und die Absurdität der Gewalt, welche die Militärdiktatur gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, werden entlarvt und dem Zuschauer erfahrbar gemacht. Auf diese Weise wird erneut, diesmal für den Zuschauer selbst spürbar, das Narrativ der „sanften Diktatur“ widerlegt und der Zuschauer durch eigene Erfahrung aktiviert, in die aktuelle Debatte um die Aufarbeitung einzugreifen. Nach demselben Prinzip der Entlarvung der Brutalität der Militärdiktatur durch Verzerrung, Verstörung und Aktivierung des Zuschauers durch eigenes

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Erleben wird auch die Verbindung sowie zwischen dem wirtschaftlichen Aufschwung der ersten Jahre der Militärdiktatur und der zunehmenden Repression postdramatisch vermittelt. Ersterer wird durch die Einspielung von Werbejingels, z.B. für „Hellmanns Maionese“ dargestellt, zweitere, indem aus dem Off die Inhalte der einzelnen Atos Institucionais verlesen werden. Nachdem die Jingles zunächst nach den Atos Institucionais erfolgen, überlagern sie diese zunehmend, bis beim Ato Institucional No. 4 der Inhalt nicht mehr zu verstehen ist – so wie auch der wirtschaftliche Erfolg der Militärregierung die politischen Repressionen in der öffentlichen und internationalen Wahrnehmung immer mehr überlagerte (PA1 01:02:23-01:03:10, 30). Die Kombination der fröhlichen, banalen Jingels und der Bürger- und Menschenrechte einschränkenden Atos Institucionais wirkt bizarr und entlarvt, wie wenig tragbar eine Rechtfertigung der Militärdiktatur aufgrund ihres wirtschaftlichen Erfolges ist. Der Ato Institucional No. 5 wird schließlich von einem „Wetterbericht“, ersetzt: Brasília, 13 de dezembro de 1968. Tempo instável. Temperatura sufocante. O ar está irrespirável. O país está sendo varrido por fortes ventos. Max. 38°, em Brasília. Mínimo 5 graus, nas Laranjeiras. (PA2 03:24-03:45, 32)

Die Darstellung der politischen Repression anhand eines Wetterberichts zeigt die Verschlüsselungen, derer sich der brasilianische Bürger und das Theater nach dem Ato Institucional 5 bedienen mussten, da eine freie Meinungsäußerung nicht mehr möglich war (siehe Kapitel 2.2.2). Damit versetzt die Aufführung den Zuschauer in die Situation des Publikums während der Militärdiktatur: Er erfährt hier die Codifizierung, derer sich das Theater in den 1970er-Jahren bedienen musste, am eigenen Leib. So wie im zweiten Teil der Aufführung original Werbespots eingespielt werden, werden auch im ersten Teil Originaldokumente (z.B. Reden von João Goulart, Protokolle der Senatsverhandlungen, Tonbandaufnahmen) eingesetzt. Im Gegensatz zum dramatischen dokumentarischen Theater (siehe Kapitel 2.2.1.2) werden diese allerdings nicht als Grundlage für Repräsentation genutzt, sondern mit der Darstellungsweise kontrastiert, sodass ein postdramatischer Konflikt zwischen Text und Szene (siehe Kapitel 4.2.1) erzeugt wird. Die erste Szene der Aufführung verortet ein Schild mit „13 de março de 1964, Central do Brasil, Rio de Janeiro“ (PA1 01:15-05:00, 1-3) in die Zeit kurz vor dem Militärputsch. Die Handlung, in diesem Fall die Entfremdung zwischen Goulart und den brasilianischen Eliten, wird durch die gemeinsame Ankündigung der Figuren „O Discurso das Reformas – de como um presidente da elite desafiou as elites“, d.h. durch ein Element des epischen Theaters, vorweggenommen. Dieses epische Element bewirkt einerseits eine Distanzierung der Zuschauer, andererseits verdeutlicht es die Botschaft, die mit der Szene vermittelt werden

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soll.177 João Goulart, der hier eine Rede hält, wird von einem Schauspieler auf der oberen Galerie verkörpert. Vierzehn Schauspieler auf dem Bühnenboden, die Schilder („Manda brasa, Jango“, „Jango, defenderemos suas reformas a bala“, „Jango, pedimos cadeia para os exploradores do povo“) in die Höhe halten, stellen sein Publikum dar. Der Schauspieler auf der Galerie gibt verschiedene Ausschnitte aus der Originalrede von João Goulart am 13.03.1964 wieder, in der Goulart die von ihm beabsichtigten Reformen vorstellte. Allerdings erwähnt die Rede 150.000 bis 200.000 Zuschauer, die sich versammelt hätten, während auf der Bühne nur vierzehn Personen seine Zuhörerschaft bilden. Der Text lässt auf eine stark aufgeheizte Stimmung schließen, während auf der Bühne keine Aufregung abgebildet wird: Von den „Zuhörern“ wendet sich nur ein Teil Jango zu, der Rest blickt ins Publikum und bindet es auf diese Weise in die dargestellte Szene ein. Zwischen den Redeabschnitten äußern sich die Demonstranten mit Blick zum Publikum positiv oder negativ zu den Ankündigungen Goularts. Allerdings wird eine Figuration verhindert, indem dieselben Schauspieler mal Befürworter, mal Kritiker Goularts mimen. Originaltext und Darstellungsweise fallen hier deutlich auseinander, die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird vom vergangenen Ereignis zur gegenwärtigen szenischen Darstellung gelenkt. Auf diese Weise wird deutlich, dass es in der Aufführung nicht um die Vergangenheit, sondern um den gegenwärtigen Umgang mit derselben geht. Nach demselben Prinzip wird auch an anderen Stellen der Aufführung ein Kontrast zwischen Text und Szene hergestellt.178 Allerdings werden als Dokumente nicht nur nicht-fiktionale Texte, sondern auch Szenen aus dem Drama BAILEI NA CURVA, 1983, d.h. kurz vor dem Ende der Militärdiktatur, von Julio Contes geschrieben und in Porto Alegre uraufgeführt, verwendet (PA1 07:2008:15, 3f.; PA1 29:20-34:05, 15-19; 01:03:10-01:04:15, 30).179 Die Szenen, im ers177 | An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass epische Elemente, wie dieses Schild, in der auf Poschmann und Lehmann zurückgehenden Definition dieser Arbeit zwar die Illusion, aber nicht die Repräsentation brechen, da sie die Geschlossenheit der abgebildeten Welt selbst nicht infrage stellen (siehe Kapitel 2.1.2). 178 | So werden in der Szene „No Congresso Nacional. De como o golpe foi dado na mesa do congresso“ (PA1 36:02-47:38, 20-24) Originalaufnahmen der betreffenden Kongresssitzung verwendet. Diese wird dargestellt, indem die „Kongressmitglieder“ in unterschiedlichen Choreografien auf der Bühne im Kreis umherlaufen. Die Rhythmen steigern sich und geben so die zunehmende Anspannung und zwischendurch ausbrechendes Chaos wieder. 179 | B AILEI NA C URVA gehört zu den größten brasilianischen Theatererfolgen nach dem Ende der Zensur in den 1980er-Jahren und schildert für einen Zeitraum von über 20 Jahren die Ereignisse der Militärdiktatur, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Redemokratisierung aus der Perspektive einer Gruppe von heranwachsenden Kindern und jungen Erwachsenen (vgl. Albuquerque, 1992: 27). Im Gegensatz zu P RIMEIRO DE

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ten Drittel der Aufführung etwa der enthusiastische Bericht eines Familienvaters nach einem Gewerkschaftstreffen (PA1 07:20-08:15, 3f.), werden auf der Bühne nicht dramatisch dargestellt, vielmehr wird von den Schauspielern nur der Text bewegungslos über Mikrofone ins Publikum gesprochen. Damit fallen auch hier Text und Darstellung dergestalt auseinander, dass die Darstellungsweise, d.h. in diesem Fall nicht die Diktatur, sondern der Umgang mit bzw. die Aufarbeitung derselben, in den Vordergrund gerückt wird. Indem die Szene eben nicht dramatisch, sondern durch die Verweigerung von Repräsentation postdramatisch vermittelt wird, wird der Theatertext der 1980er-Jahre revitalisiert und für den gegenwärtigen politischen Konflikt nutzbar gemacht.180 Die Absicht von PRIMEIRO DE ABRIL, die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit zu verdeutlichen, manifestiert sich auch im Leitmotiv der Aufführung, das sowohl als dramatisches als auch postdramatisches Element gewertet werden kann. Es zeigt den Sturz eines nackten Schauspielers in ein auf der Bühne aufgebautes, circa 3 Meter hohes x 1,50 Meter breites x 1,50 Meter tiefes umfassendes, durchsichtiges Wasserbecken. Während der gesamten Aufführung kauert der Schauspieler nackt auf einer kleinen Plattform über dem Wasserbecken, während sich die Szenen auf der Vorderbühne abspielen. Zu Beginn, am Ende und an vier Stellen während der Aufführung wird ein Spot auf die Plattform und das Wasserbecken gelenkt.181 Der Schauspieler auf der Plattform kauert sich zunächst weiterhin zusammen, lässt dann seine Glieder erschlaffen und A BRIL wird B AILEI NA C URVA allerdings nicht als Kritik an der Militärdiktatur bzw. am mangelnden Widerstand der Bevölkerung gegen die Diktatur gelesen: „A característica mais notável de Bailei na curva é a ênfase na experiência individual, desviando-se assim das preocupações sócio-políticas das duas décadas anteriores. Apesar do comovente tributo prestado a Pedro, a única personagem que, como o pai, participou da resistência ao regime militar e, ao que somos informados, ‚desapareceu‘, a peça reabilita, com compaixão e perdão, aqueles que, talvez ignorando o que lhes dizia a própria consciência, decidiram não se meter em política, seguindo uma rota segura para não bailar na curva.“ (Albuquerque, 1992: 28) 180 | In der zweiten Szene aus B AILEI NA C URVA , etwa in der Mitte der Aufführung („De como meninas e meninos brincam de dia de mentira.“ PA1 29:20-34:05, 15-19), die am 01.04.1964 spielt, werden die Dialoge der Figuren von tiefem und klagend klingendem Chorgesang eingeleitet, zudem wird von den Figuren ein schnellerer Sprechrhythmus verwendet. Der Inhalt der Dialoge, die hier die Sicht der Kinder auf den Militärputsch – in erster Linie Freude, da die Schule ausgefallen ist – wiedergeben und dadurch Leichtigkeit vermitteln, stehen in starkem Kontrast zu dem traurigen Chorgesang, dem dunklen Licht und der starren Haltung der Schauspieler, sodass auch hier ein Bruch in der Repräsentation und ein Distanzierungseffekt nachweisbar ist. 181 | PA1 00:22-01:01, 1; PA1 08:30-09:07, 4; PA1 34:19-34:52, 19; PA1 47:3848:25, 24; PA2 06:32-07:07, 33; PA2 26:05-27:10, 36

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stürzt ins Wasser. Dort taucht er zunächst unter, kämpft sich an die Oberfläche, schreit, schnappt nach Luft, taucht wieder unter und kämpft sich schließlich zurück auf die Plattform. Da seine Pose und der Sturz tatsächlich Schmerzen verursachen müssen, wendet die Aufführung einerseits ein typisches Mittel des postdramatischen Theaters an: [W]enn die Bühne sich dem Leben gleichmacht, wenn auf ihr banal real gestürzt und geschlagen wird, Angst um die Unversehrtheit der Spielenden aufkommt. Daß ein Übergang von dargestelltem Schmerz zu einem in der Darstellung erfahrenen Schmerz sich vollzieht – das ist das Neue. (Lehmann, 2011: 392f.)182

Bei jedem Sturz besteht zudem zumindest die Möglichkeit, dass der Schauspieler tatsächlich Schwierigkeiten hat, auf die Plattform zurückzukehren, sodass ein „Einbruch des Realen“ (Lehmann, 2011: 170) stattfindet, der den Zuschauer verunsichert und ihn dazu bringt, seine Handlung (oder eben Nichthandlung) zu reflektieren (vgl. ebd.: 177): Muss er eingreifen, um den Schauspieler zu retten oder ist die Szene nur gespielt? Wann würde er tatsächlich eingreifen? Im Kontext der Aufführung werden diese Fragen auf die Militärdiktatur, ihre Aufarbeitung und die Frage nach dem Schweigen oder Eingreifen des einzelnen Menschen übertragen. Verstärkt wird diese Selbstreflexion durch die Wiederholung der Szene im Laufe der Aufführung, ein nach Lehmann typisches Element des postdramatischen Theaters (vgl. ebd.: 334). Die Wiederholungen lenken die Aufmerksamkeit von der Handlung auf der Bühne auf die Wahrnehmung durch den Zuschauer: Es geht nicht um die Bedeutung des wiederholten Geschehens, sondern um die Bedeutung der wiederholten Wahrnehmung, nicht um das Wiederholte, sondern um die Wiederholung selbst. (Ebd.: 337)

Der Druck, eine Entscheidung hinsichtlich des eigenen Eingreifens zu treffen, schwindet zwar mit zunehmenden Wiederholungen, dafür nimmt der Zuschauer die eigene Reaktion auf das Dargestellte sowie die Reaktion der anderen Zuschauer stärker wahr. Das Ende der Aufführung weicht von der zuvor etablierten Routine ab, indem die Figur nicht einschläft und ins Wasser fällt, sondern selbst ins Wasser springt. Ein begleitender Kommentar einer Männerstimme mahnt währenddessen: 182 | Solche Elemente werden ebenfalls in O C ONTÊINER eingesetzt (siehe Kapitel 4.2.1). Hier nähert sich P RIMEIRO DE A BRIL der Performance an. Zu den Eigenschaften der Performance vgl. Umathum (2005: 231-234).

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Sem sonhar, o homem insana, delira, desfaz-se. A material etérea do sonho envolve o corpo e ele amolece. É preciso aprender a sonhar com o corpo rígido. (PA2 26:4527:05, 36)

Im Zusammenhang mit den weiteren Isotopien der Aufführung lässt sich der wiederholte Schlaf und Sturz des schlafenden Mannes ins Wasser damit zum Ende dramatisch als vergeblicher Versuch der brasilianischen Gesellschaft lesen, die Ereignisse der Militärdiktatur zu vergessen und aus diesem „Schlaf“ immer wieder brutal geweckt wird. Der Sprung des Mannes am Ende kann als symbolischer Appell an die brasilianische Gesellschaft gelesen werden, die Aufarbeitung der Militärdiktatur bewusst anzugehen und sich der Vergangenheit zu stellen – wenn dies auch zunächst mit schmerzhaften Konflikten einhergehen sollte. Wenn sich die Aufführung auch dramatischer Elemente bedient, um beispielsweise eine Einfühlung in die Opfer der Militärdiktatur zu ermöglichen und so ihr Leid zu verdeutlichen, sind es somit erst die Elemente des postdramatischen politischen Theaters, die das Schweigen durchbrechen und dem Publikum verdeutlichen, dass die Vergangenheit eben nicht vergangen ist, sondern eine Aufarbeitung in der Gegenwart benötigt wird. Damit verdeutlicht die Aufführung, wie postdramatisches politisches Theater vergangene Ereignisse in die Gegenwart übertragen und für aktuelle politische Konflikte nutzbar machen kann.

4.2.3

L ATIN

IN

B OX – Alles ist konstruiert, Alles ist veränderbar A história se repete? Ou se repete solo como penitência de quem são incapazes de escuta-lá? (Todos, L ATIN IN B OX)

Der Theatertext LATIN IN BOX wurde am 04.04.2005 von der Gruppe Companhia Teatro dos Novos unter der Regie von João Sanches im großen Saal des Teatro Vila Velha uraufgeführt.183 Die Aufführung ist eine Collage aus Gedichten, Textausschnitten und Liedern lateinamerikanischer Autoren und Sänger, die von 183 | Textkomposition: João Sanches (Texte: Alberto Rodriguez Pinzon, Amado Nervo, Ana Maria Rodas, Armando Romero, Clementina Suaréz, Demetrio Korsi, Eduardo Galeano, Jorge Carrera Andrade, José Maria Zonta, Julio C. Palencia, Manuel de Cabral, Mario Benedetti, Mia Gallegos, Michelè Najlis, Nicolás Guillen, Oliverio Girando, Pablo Neruda, Roque Dalton, Vicente Farias, Alejandro Sanz, Jennifer Lopez, Ricky Martin, Shakira, Thalía, Menudos, Manu Chao); Regie: João Sanches; Musikalische Leitung: Leonardo Bittencourt; Ensemble: Igor Epifânio, Mariana Freire, Mônica Mello, Nilson

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sechs Schauspielern vorgetragen werden (vgl. hier und im Folgenden LIB und Transkription). Die Aufführungszeit beträgt circa sechzig Minuten. Im Gegensatz zu den anderen Aufführungen des Korpus thematisiert LATIN IN BOX keinen konkreten politischen Konflikt, sondern spricht, unter dem Oberthema der Konsumkritik, zahlreiche Konflikte auf globaler Ebene an, von der wirtschaftlichen Ungleichheit der lateinamerikanischen Gesellschaften und der weltweiten Dominanz des kapitalistischen Systems über die Macht der Massenmedien bis hin zu Diskriminierungen von Homosexuellen, Frauen und negros. Allerdings bildet sie diese Konflikte nicht in einer Fabel auf der Bühne ab: LATIN IN BOX verzichtet auf Figuren, Handlung, Dialoge und Illusion. Stattdessen werden in der Aufführung achtzehn Gedichte verschiedener lateinamerikanischer Autoren, ein Essay sowie sechs Popmusiklieder präsentiert. Indem die Aufführung essayistische und lyrische Texte aneinanderreiht und dafür auf die dramatischen Strukturelemente verzichtet, zeigt sie sich als postdramatische Mischung aus „szenischem Essay“ (Lehmann, 2011: 203), der die Handlung durch „die öffentlich gemachte Reflexion über bestimmte Themen“ (ebd.) ersetzt, und „szenischem Gedicht“ (ebd.: 199). In diesem „wächst [dem Zuschauer; Anm. SV] die Rolle eines Lesers zu, der die menschlichen, räumlichen, klanglichen Signifikanten, die auf der Bühne verstreut sind, zusammenliest“ (ebd.: 201).184 Die folgende Analyse zeigt, wie die Aufführung als postdramatisches politisches Theater trotz des Verzichts auf Repräsentation eines Konflikts eine politische Wirkungsabsicht vermittelt: LATIN IN BOX verdeutlicht die Konstruktivität von Welt und Gesellschaft und präsentiert die daraus entstehenden Gestaltungsmöglichkeit des Einzelnen als politisches Instrument. Die szenischen Elemente dienen dabei nicht der Repräsentation von Wirklichkeit, sondern der Illustration und Umdeutung von narrativen und lyrischen Texte sowie der Aktivierung des Zuschauers, so dass dieser die Veränderlichkeit von Texten sowie Identitäten und damit der Welt selbst erfahren kann. Den zeitlich größten Teil der Aufführung nimmt das Vorlesen von Ausschnitten aus dem im Jahr 2003 erschienenen Essay Patas Arriba – La escuela del mundo al revés von Eduardo Galeano185 ein, der insbesondere die kapitalistische Rocha, Rodrigo Frota, Wanderley Meira. Da kein Schrifttext zur Verfügung gestellt werden konnte, wird jeweils die Seite der Transkription angegeben. 184 | Diese Form der Präsentation geht zurück auf das avantgardistische lyrische Drama: Die Ursprünge des lyrischen Dramas liegen in der Romantik. Es wird von Schels (1990) definiert als „literarische Form, in der zwei verschiedene Gattungen, Lyrik und Dramatik, in Verbindung treten“. (Ebd.: 12f.) 185 | Galeano, geboren 1940 in Uruguay, gilt als einer der auch über die Grenzen Lateinamerikas hinaus bekanntesten politischen Autoren. Er „verschaffte mit Las venas abiertas de América Latina den Unterdrückten des Kontinents Gehör“ (Spiller, 2007: 468; Herv.i.O.).

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Konsumkultur der globalisierten Welt kritisiert. Dieser sieht er alle anderen Elemente des menschlichen (Zusammen-)Lebens unterworfen. Die insgesamt zehn, teilweise sehr langen Textausschnitte, werden in der portugiesischen Übersetzung zunächst von einem auf einem Stuhl sitzenden Schauspieler verlesen, dazwischen auch von mehreren Schauspielern im Wechsel gesprochen. Die Ausschnitte eröffnen und beschließen LATIN IN BOX. Der Autor und der Titel des Buches werden in der Aufführung nicht genannt, sodass für den Zuschauer, der nicht mit dem Werk vertraut ist oder sich im Vorfeld bereits mit der Inszenierung auseinandergesetzt hat, unklar bleibt, ob es sich hierbei um ein eigenes, in der Realität existierendes Werk handelt, oder um einen Text, der nur für die Aufführung geschaffen wurde und daher nur in ihrem Rahmen existiert. Der Essay von Galeano bzw. die in der Aufführung verlesenen Ausschnitte konzentrieren sich auf zwei Themen: die aus der Vormachtstellung des Kapitalismus resuliterenden politische Herausforderungen der globalisierten Welt mit Fokus auf den lateinamerikanischen Kontinent und die Konstruktion lateinamerikanischer Identität. Die insgesamt sieben Lieder, die von den Schauspielern begleitet von einer Band auf der Bühne performt werden, sind eine Auswahl internationaler Hits von Repräsentanten des „Latin American Music Boom“ (Avant-Mier, 2010: 88) um die Jahrtausendwende. Die zehn Gedichte, die in der Aufführung präsentiert werden, stammen ebenfalls von lateinamerikanischen Autoren, darunter auch international bekannten Schriftstellern wie Jorge Luís Borges186 oder Pablo Neruda187. Im Gegensatz zum Essay und zu den Liedern, bei denen die Namen der Sänger und Titel ebenfalls nicht angesagt werden, wird nach den Gedichten jeweils Autor und Herkunftsland benannt – und so verdeutlicht, dass es sich hier um bereits existierende Werke handelt. Das Bühnenbild der Aufführung besteht, entsprechend des Fokus der Aufführung auf eine Kritik an der Konsumkultur, aus mit Kartons und Schachteln gefüllten Supermarktregalen und zwei Einkaufswagen. Im Verlauf der Aufführung werden die Regale und die Einkaufswägen auf der Bühne entleert (z.B. LIB1 09:45-11:30, 6; LIB1 45:10-45:50, 27f.). Die Schauspieler tragen Jeanshosen 186 | Jorge Luis Borges (1899-1986) „versucht sowohl in der Form des Gedichts als auch in Erzählung und Essay die Konsequenzen des dieser [von Berkely, Hume und Schopenhauer; Anm. SV] Philosophie zu Grunde liegenden radikalen Zweifels als Gedankenexperiment durchzuspielen“. (Rössner, 2007b: 360) De que nada se sabe wurde 1975 in dem Gedichtband La rosa profunda veröffentlicht. 187 | Der Chilene Pablo Neruda wird auch als „Prototyp der engagierten Dichterpersönlichkeit“ (Rössner, 2007b: 366) bezeichnet. Das in L ATIN IN B OX verwendete Gedicht entstammt der Sammlung Veinte Poemas de Amor e una canción desesperada (1924). Sie gilt als „von einer spätromantischen Vorstellung von Liebe als Schmerz und unstillbarer Sehnsucht nach dem Unendlichen“ (ebd.) geprägt und geht damit Nerudas späteren, politische engagierterem Werk voraus.

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oder -röcke, weiße T-Shirts und rote Schminkmasken, dazu Schmuck von indígenas in den Haaren und verbinden auf diese Weise die moderne Konsumkultur mit den historischen Ursprüngen Lateinamerikas und weisen gleichzeitig auf deren Verkitschung hin. Durch die ähnlichen Kostüme und die Schminkmaske sind die Schauspieler schwer voneinander zu unterscheiden: Anstelle von individuellen Figuren werden hier Wesen präsentiert, welche allein als Kanäle zur Vermittlung der Texte dienen. Sie erzeugen auf der Bühne keine Illusion, sondern vollziehen performative Akte, die den Zuschauer die Veränderlichkeit von Texten und Identitäten erfahren lassen. Zu Beginn der Aufführung wird ein Abschnitt des Essays verlesen, in dem Kritik an der zeitgenössischen Konsumkultur, der alles andere untergeordnet wird, formuliert wird. Ein Schauspieler sitzt dazu an einem Mikrofon und liest aus einem Buch vor, ansonsten ist die Bühne, bis auf Spots, welche die Regale erleuchten, zunächst vollkommen dunkel: Homem 1: A cultura do consumo, cultura do efêmero, condena tudo à descartabilidade midiática. Tudo muda no ritmo vertiginoso da moda, colocada à serviço da necessidade de vender. As coisas envelhecem num piscar de olhos, para serem substituídas por outras coisas de vida fugaz. Hoje, quando o único que permanece é a insegurança, as mercadorias, fabricadas para não durar, são tão voláteis quanto o capital que as financia e o trabalho que as gera. […] A injustiça social não é um erro por corrigir, nem um defeito por superar: é uma necessidade essencial. Não existe natureza capaz de alimentar um shopping center do tamanho do planeta. (LIB1 06:00-07:45, 5f.)

Anhand dieses Ausschnittes wird deutlich, dass der Essay von Galeano durch seine Syntax den Eindruck erweckt, in jedem Satz eine wahre, überprüfbare Diagnose über den Zustand der globalisierten Welt und zu aktuellen politischen Problemen zu formulieren. Durch die Länge des Ausschnittes und die Dichte des Textes wird der Zuschauer mit den Thesen Galeanos bestürmt, durch die Menge an Argumenten überfordert, sodass ihm keine Zeit gelassen wird, die Thesen von Galeano zu reflektieren oder zu hinterfragen. Der Spot auf die „Supermarktregale“ verdeutlicht ebenfalls von Beginn an den Kontext der Konsumkritik. Im Verlauf der Szene wird die Bühne heller beleuchtet. Der Text wird szenisch interpretiert, indem die Stimme des Schauspielers im Verlauf des Lesens immer bedrückter wird. Zudem legen zwei Schauspielerinnen während der Szene Produkte aus den Supermarktregalen in den Einkaufswagen, halten sie hoch, präsentieren sie dem Publikum und zeigen so die von Galeano kritisierte Konsumkultur. Aufgrund seiner Präsentationsweise, seiner Syntax und der szenischen Mittel, welche den Text nicht hinterfragen, sondern ihn bestätigen, erhalten der Essay und seine Botschaft innerhalb der Aufführung beson-

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dere Autorität. Diese wird verstärkt, indem er als einziger Text immer wieder auftaucht und so zeitlich einen großen Bestandteil der Aufführung ausfüllt. Das anschließend präsentierte Lied My love don’t cost a thing (LIB 1 09:4511:30, 6f.) von Jennifer Lopez erfährt durch die Verbindung mit dem Essay eine Umdeutung und wird ebenfalls in den Kontext der Konsumkritik gesetzt: Die Beteuerung von Jennifer Lopez, sich eben nicht für den Kontostand ihres Partners zu interessieren,188 kehrt sich durch die Kombination mit dem politischen Essay in die von Galeano beschriebene Huldigung von Marken und Konsum um. Unterstützt wird diese Operation189, indem eine der Schauspielerinnen während des Liedes mit einem der Einkaufswagen tanzt und Kartons auf den Boden wirft, während andere Schauspieler die Waren liebkosen. Die Bühne, zunächst noch aufgeräumt, wird so mehr und mehr mit Ware bedeckt. Vom Bild eines Supermarktes transformiert sie sich im Verlauf der Aufführung zur Müllkippe. Am Ende des Liedes wird einer der Einkaufswägen über eine der Schauspielerinnen gestülpt: Die silbernen Stäbe des Einkaufswagens, durch die die Schauspielerin blickt, werden so zu Gefängnisstäben der Konsumkultur. Die szenischen Mittel unterstützen die Aussagen des Essays und verstärken die Bedeutungsübertragung der Thesen von Galeano auf die anderen Texte. Auf My love don’t cost a thing folgt das Gedicht Posso escrever os versos mais tristes nesta noite des Chilenen Pablo Neruda (LIB1 11:30-14:25, 7f.). Das Gedicht besteht aus acht Strophen und gibt semantisch zunächst keine Anknüpfungspunkte für die Konsumkritik.190 Durch den Kontext des politischen Essays und indem die in den Einkaufswagen eingesperrte Schauspielerin ab der Mitte des Gedichts mit zunehmend verzweifeltem Tonfall „Posso escrever os versos mais tristes nesta noite“ wiederholt (LIB1 12:54-13:50) und den vortragenden Schauspieler damit mehr und mehr übertönt, wird auch das Gedicht im obigen Sinne 188 | „You think you gotta keep me iced / You don’t, / You think I’m gonna spend your cash, I won’t, / Even if you were broke, / My love don’t cost a thing.“ 189 | Legt man ein breites Verständnis von Dekonstruktion an, könnte diese Operation auch als „dekonstruktivistisch“ beschrieben werden: „Das Aufbrechen der scheinbaren Einheit und Geschlossenheit des Textes in die Offenheit eines intertextuellen Spannungsfelds, durch das der Einzeltext erst konstituiert wird und das seine immanenten Bedeutungen stets bereits von außen her affiziert, ist eine charakteristische Operation der Dekonstruktion.“ (Zapf, 2008: 116) Da allerdings in der Aufführung weniger das Verhältnis von „Innen und Außen“ bzw. „Zentrum und Peripherie“ im Vordergrund steht, wird das Vorgehen hier nicht als dekonstruktivistisch, sondern als Umdeutung beschrieben. 190 | „Posso escrever os versos mais tristes esta noite. Escrever, por exemplo: ‚A noite está estrelada, e tiritam, azuis, os astros lá ao longe‘. O vento da noite gira no céu e canta. / Posso escrever os versos mais tristes esta noite.“ (LIB1 11:30-12:25, 7f.) Aus dem Gedicht selbst ergibt sich demnach kein politischer Bezug.

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umgedeutet: Seine Geschlossenheit wird aufgebrochen und die Trauer des lyrischen Ichs auf die zuvor beschriebenen Auswirkungen des Kapitalismus bezogen. Gleichzeitig lädt sich der Essay von Galeano mit den Bildern des Liedes und des Gedichtes weiter auf – die Kritik erhält so auch eine poetische, emotionale Dimension. Durch die Kombination der drei Texte wird die Unterordnung alles Emotionalem und Erotischem unter die Logik des Konsums und gleichzeitig die Veränderlichkeit von Texten durch Umdeutung erfahrbar gemacht. Nach diesem Prinzip – Präsentation der Kritik in essayistischer Form, szenische Illustration und Umdeutung von Lied und/oder Gedicht – werden in der Aufführung verschiedene politische Themen adressiert: So formuliert der Essay auch eine Kritik an der Monopolisierung lateinamerikanischer Medien und die von ihnen bewirkte Entfremdung der lateinamerikanischen Gesellschaften von ihren tatsächlichen Herausforderungen. Die These wird szenisch illustriert, indem die Schauspieler in bläulichem Licht, scheinbar Popcorn essend auf dem Boden sitzend, gemeinsames Fernsehen simulieren (LIB1 21:05-23:10, 11f.). Der Text von Galeano wird nun nicht mehr von einer Person, sondern im Wechsel von den Schauspielern vorgetragen. Er kritisiert zunächst die Monopolstellungen lateinamerikanischer Medienkonzerne, anschließend die von ihnen in den Telenovelas geprägten Diskurse, die auf das Leben der Reichen fokussieren und die Marginalisierung der armen Bevölkerung vorantreiben: Homem 1: As vezes aparecem temas deste mundo, como a corrupção política, o tráfico de drogas, os meninos de rua ou os trabalhadores sem terra, mas as telenovelas de maior difusão são as que soube definir o presidente da empresa mexicana Televisa, quando explicou, no ínico de 98: ‚Vendemos sonhos. De nenhuma maneira pretendemos refletir a realidade. Vendemos sonhos, que são como o sonho da Cinderela.‘ (LIB1 21:05-22:00, 11f.)

Das anschließende Lied Maria la del Bairro (LIB1 23:10-24:48, 12f.), Begleitmelodie der zuvor kritisierten Telenovela Los ricos también lloran,191 wird in diesem Zusammenhang von der Schilderung des sozialen Aufstiegs von Maria zu einem unrealistischen Märchen, das nur in der Telenovela, nicht aber in der Realität stattfinden kann. Auf das Lied folgt das Gedicht Aqui estamos nós des guatemaltekischen Poeten Julio C. Palencia (LIB1 24:48-28:44, 13-15). Nachdem zuvor kritisiert wurde, 191 | Die Novela erzählt die Aschenputtelgeschichte einer armen Bewohnerin der Peripherie von Ciudad de México, die nach dem Tod ihrer Mutter als Hausmädchen in eine reiche Familie kommt, sich in einen der Söhne verliebt, ihn heiratet und so den sozialen Aufstieg schafft (vgl. Gonzalez, 2015). Der Liedtexte lautet: „Y a mucha honra / María la del Barrio soy / La que de escuincla quedó resola / Y pa’ cambiar su suerte / De su barrio querido se fué / Pa’ poder comer.“

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dass sich die Telenovelas nur auf das Leben der Reichen konzentrieren, rückt das lange Gedicht die Verlierer der Globalisierung in den Mittelpunkt, formuliert aber auch die Hoffnung auf eine Veränderung der Situation: Mulher 1 e Mulher 2: Aquí estamos nós, os ilégitimos filhos da pós-modernidade, nós. Os fantasmas de países desangrados, paridos dia a dia à intemperie, nós. Nós os eternos janitors do primeiro mundo, os de medio tempo ou de plano sem emprego, fazendo fila para o welfare, […]. Os ilegais nós, os drogadictos e drug dealers, nós. […] Somos agora o excremento, amanha seremos um começo, lua nova sol da madrugada, um punto luminoso, uma esperança válida, uma paz que não seja mentira. Nós chega o dia ao coração de repente e tudo se ilumina. (LIB1 24-48-28:44, 13-15)

Die Positionierung der Verlierer wird szenisch illustriert, indem die Männer erinnernd an einen asiatischen „Sweatshop“ Tücher zusammenknoten. Der Text von Galeano wird auf diese Weise von den Schilderungen der „Verlierer“ des Kapitalismus ergänzt – die aber, wie das Ende des Gedichts verrät, im Gegensatz zum Essay noch über Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation verfügen. Diese wird durch die szenischen Mittel zerstört: Mit den selbst geknüpften Tüchern fesselt einer der Männer die drei am Boden sitzenden „Arbeiter“, legt ihnen am Ende eine Schlinge um den Hals und zieht zu.192 An anderen Stellen der Aufführung wird der Zuschauer in die Bedeutungsgenese einbezogen. Während ein Textabschnitt verlesen wird, in dem der Kampf gegen den Drogenhandel als „luta social“ kritisiert wird, da nicht der reiche Konsument, sondern nur der arme Drogendealer bestraft wird, werden zugleich von den restlichen Schauspielern Süßigkeiten an das Publikum verteilt (LIB1, 31:12-33:20, 17-19). Im Verlauf der Szene beginnen die Schauspieler, zunehmend mit dem Publikum über die Süßigkeiten zu verhandeln und diese anzupreisen, während die Zuschauer versuchen, die Schauspieler durch Rufe auf sich aufmerksam zu machen und auf diese Weise Süßigkeiten zu bekommen. Trotz des immer lauter werdenden Vorlesers ist der Text von Galeano durch die Rufe von Schauspielern und Zuschauern immer weniger und schließlich gar nicht mehr zu verstehen. Damit fügt diese Szene der szenischen Illustration ein partizipatives Element hinzu: Der Zuschauer, der auf das Angebot von Süßigkeiten reagiert, wird zum Teil der Bedeutungsgenese, indem er durch sein Verhalten erfährt, wie, wie im Essay von Galeano und in der Aufführung kritisiert,

192 | Auf dieses Gedicht folgen weitere, die ebenfalls im Sinne einer Kapitalismuskritik umgedeutet werden. Dabei ist irrelevant, ob die Gedichte von sich aus einen politischen Bezug haben – wie zum Beispiel Desacuerdo von Ana Maria Rodas (LIB1 28:45-30:00, 16) – oder sich wie in Posso escrever os versos mais tristes esta noite von Pablo Neruda im Gedicht selbst kein politischer Bezug nachweisen lässt.

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das Bedürfnis zu konsumieren alles andere überlagern kann. Gleichzeitig erfährt er an dieser Stelle, dass er die Aufführung selbst gestalten kann. Auch hier wird der Text von Galeano mit einem Pophit, in diesem Fall Livin’ la vida loca vom puertoricanischen Sänger Ricky Martin, kombiniert (LIB1 33:3535:55, 19-21).193 Die aufregende Frau, die von Ricky Martin besungen wird, wird durch Umdeutung des Liedes zur Droge. Das folgende Gedicht, Lobos na Brisa des costa-ricanischen Poeten José Maria Zonta, stellt sich schließlich vor, wie das Leben nach dem Tod weitergeht – und schließt in diesem Kontext den konstruierten Bogen von den diskriminierenden Facetten des Drogenkrieges über das „vida loca“ des Konsumenten hin zum Totenreich (LIB1 33:57-37:10, 21f.). Weitere politische Themen, die in der Aufführung nach demselben Prinzip der Umdeutung adressiert werden, sind Gewalt gegen Homosexuelle (LIB1 41:4743:35, 25-27)194, Rassismus (LIB1 45:50-47:35, 28f.)195 und Gewalt gegen Frauen (LIB1 37:10-39:12, 22f.).196 193 | „She’s into new sensations / New kicks in the candlelight / She’s got a new addiction / For every day and night […] She’ll make you live her crazy life / But she’ll take away your pain / Like a bullet to your brain.“ 194 | Die Gewalt gegen Homosexuelle in Lateinamerika wird durch den Tanz von zwei Pärchen in der Bühnenmitte illustriert, bei denen Männer und Frauen die Partner wechseln und so von hetero- zu homosexuellen Paaren werden, bis ein Mann versucht, den anderen zu küssen und von ihm weggeschubst wird (LIB1 41:47-43:35, 25-27). 195 | Der Text zu Rassismus und Polizeigewalt wird dargestellt, indem die Personen in einer Reihe nebeneinander stehen, der Lichtspot auf die weißen T-Shirts gelenkt. Marschmusik, Tusch – einer nach dem anderen sinkt in sich zusammen, als wäre er erschossen worden, und wankt aus dem Lichtkegel hinaus (LIB1 45:50-47:35, 28f.). 196 | Eine Textstelle von Galeano, welche die Marginalisierung und Diskriminierung von Frauen, insbesondere von negras und indígenas, kritisiert, wird nicht vom Vorleser, sondern von den Schauspielerinnen im Wechsel vorgetragen (LIB1 37:10-39:12, 22f.). Die Schauspieler simulieren, dass sie an einem Stoff nähen. Der kritisierte Akt der Marginalisierung der Frau wird auf der Bühne verweigert, indem „die Frau“ selbst sprechen kann und nicht über sie gesprochen wird. Kombiniert wird der vorgetragene Text mit dem Gedicht Se Deus Fosse Uma Mulher des uruguayischen Poeten, Novellisten und Journalisten Mario Benedetti (LIB1 39:15-40:32, 24). Benedetti gilt als „meistgelesene[r] Gegenwartsautor Uruguays. […] Seine sozialkritischen Gedichte neigen zur poesía conversacional, das heißt zu der in den 60er-Jahren dominierenden ‚Konversationslyrik‘, in der Aussage und Mitteilung im Mittelpunkt stehen und eine bewusst unpoetische Ausdrucksweise gewählt wird“. (Spiller, 2007: 467) Dieses wird ebenfalls allein von den Männern vorgetragen. Hier wird als Gegensatz zur Diskriminierung der Frau die Idee eines weiblichen Gottes als „afortunada, esplêndida, impossível, prodigiosa blasfêmia“ (LIB1 40:30, 24) entwickelt und das Gedicht als Gegenentwurf zur Marginalisierung der Frau in der Realität dargestellt.

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Abbildung 21: Vorleser: Schminke und Kostüm

LIB1 07:20: Indem Kostüm und Schminke bei allen Schauspielern gleich sind, erschweren sie die Figuration. Mit T-Shirt und Blue Jeans weisen sie einerseits auf die Konsumkultur, mit Federn und schwarzer Augenbemalung andererseits auf die Wahrnehmung des Lateinamerikaners als „Indianer“ hin.

Abbildung 22: Zuschauerpartizipation: Süßigkeiten

LIB1 31:51: Indem er um Süßigkeiten bittet, übertönt der Zuschauer den vorgelesenen Text, welcher den Drogenkonsum in Lateinamerika kritisiert. Der Musiker (rechts) ist die gesamte Zeit auf der Bühne präsent. Im Hintergrund ist das aus Supermarktregalen bestehende Bühnenbild erkennbar. Einige Waren sind bereits auf dem Boden verstreut und verwandeln sich so in Müll.

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Neben der in der Aufführung mit einer Überwindung des dramatischen politischen Theaters einhergehenden Umdeutung wendet LATIN IN BOX auch weitere Elemente des postdramatischen politischen Theaters an. Das Gedicht El puro no des argentinischen Dichters Oliverio Girondo197 steht beispielhaft für eine Szene, die keine semiotische, sondern allein performative Bedeutung generiert (LIB1 40:33-41:46, 25). Das Gedicht stammt aus dem Buch En la masmédula (1954), das „völlig befreit mit dem Klang und der Bedeutung sprachlicher Einheit experimentiert“ (Wentzlaff-Eggebert, 2007: 240). Es wird, ebenso wie einige der Lieder, auf Spanisch vorgetragen.198 Der Akzent wird von der Bedeutung auf den Klang verschoben: Homem 1: El no / el no inóvulo / el no nonato / el noo / el no poslodocosmos de impuros ceros noes que noan noan noan / y nooan / y plurimono noan al morbo amorfo noo / no démono / no deo / sin son sin sexo ni órbita / el yerto inóseo noo en unisolo amódulo / sin poros ya sin nódulo / ni yo ni fosa ni hoyo / el macro no ni polvo / el no más nada todo / el puro no / sin no. (LIB1 40:33-41:46, 25)

Die Art des Vortrags – der Schauspieler spricht mit dunkler Stimme und dehnt die Vokale – erschwert die semiotische Bedeutungsgenese weiter. Stattdessen wird die „Sprache als Ausstellungsobjekt“ (Lehmann, 2011: 266) – und damit ein typisches Element des postdramatischen Theaters – in den Vordergrund gestellt. Die Wirkung beschreibt Lehmann als „schockhaft: mit aller Dringlichkeit suggerierter Bedeutsamkeit wird etwas exponiert – läßt aber die erwartete Bedeutung dann nicht erkennen“ (ebd.). Diese Wirkung wird politisch aufgeladen. Der Zuschauer wird in die Bedeutunsgenese der Aufführung einbezogen, die Konstruktivität von Diskursen, aber auch von der Welt allgemein – und damit

197 | Oliverio Girondo (1891-1967) gilt als Vertreter der argentinischen Avantgarde: „Als besonders aktiver ‚martinfierrista‘ erweist sich dagegen Oliveirio Girondo, der auch das Manifest verfasst […]. Dieses Manifest ist kämpferisch und beginnt mit einer Verhöhnung all dessen, was für die verkrusteten Strukturen der Gesellschaft steht […]. Dem hält Girondo entgegen, dass alles neu ist auf Erden, wenn man es nur mit den Augen von heute sieht und zeitgemäß zum Ausdruck bringt. […]. Man hat gerade auch bei Girondo das gesellschaftspolitische Engagement vermisst.“ (Wentzlaff-Eggebert, 2007: 239f.) 198 | Neben den Liedern ist es nur dieses eine Gedicht, das im spanischen Original vorgetragen wird. Der Sprachenmix hat zur Folge, dass einerseits die lateinamerikanische Identität gestärkt wird, andererseits, im Fall von El puro no, die poetische Wirkung der Sprache gegenüber der Bedeutung der einzelnen Worte weiter hervorgehoben wird.

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auch die Einflussmöglichkeiten des Zuschauers – werden betont.199 Gleichzeitig zeigt sich, dass auch der Essay von Galeano nicht geschlossen ist, sondern trotz seiner Dominanz gegenüber den anderen Texten umgedeutet werden kann: Indem das Gedicht Sprache als Bedeutungsträger insgesamt hinterfragt, stellt es auch den Essay mit seinen Botschaften und Aussagen, in Frage. Das zweite Themenfeld der Aufführung neben der politischen Kritik widmet sich der Konstruktion von Identität. In diesem Themenfeld entfaltet die Aufführung ihre Wirkung, indem sie dem Zuschauer verschiedene lateinamerikanische Identitäten anbietet: So eröffnet das Lied Clandestino von Manu Chao die Aufführung, welches (unter anderem) „den Lateinamerikaner“ als „clandestino“, als illegalen Migranten, darstellt: Homem 3: Solo voy con mi pena, sola va mi condena, correr es mi destino, por no llevar papel, perdido en el corazón, de la grande Babylon, me dicen el clandestino, yo soy el quiebra ley, mano negra clandestina, peruano clandestino, africano clandestino. (LIB1 0:00-01:20, 2)

Das Lied wird von einem der Schauspieler gesungen, während die anderen drei eine Schauspielerin beobachten, die zu dem Lied tanzt. Ihr Tanz erinnert an ein archaisches Stammesritual, während die Musik modern ist. So entsteht ein Bild des Lateinamerikaners als primitiver „Indianer“, der im starken Gegensatz zu den modernen Zielorten der illegalen Migranten, Nordamerika und Europa, steht. Dass die Schauspielerin auch hier einen Jeansrock trägt zeigt, dass gerade die kapitalistische Konsumkultur, die in der Aufführung kritisiert wird, USA und Europa für die Migranten attraktiv machen. Anschließend wird in dem Essay von Galeano humorvoll ein „anderer Lateinamerikaner“ präsentiert, dem es – auch aufgrund seines eigenen Verschuldens – nicht gelingt, sich aus dem Eurozentrismus der Welt zu befreien:

199 | Theaterbesucher, die sich bereits intensiver mit brasilianischer Literatur auseinandergesetzt haben, werden an dieser Stelle Bezüge zur „Konkreten Poesie“ herstellen, die in Brasilien in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt wurde (vgl. Wild, 2007b: 388): „Dabei [bei den Regeln der Konkreten Poesie; Anm. SV] ist von besonderem Interesse, dass die Konkrete Poesie sowohl die Verbindung mit der bildenden Kunst im Ideogramm/Bildgedicht als Möglichkeit enthält wie die Verbindung zur Klangkunst im reinen Lautgedicht, ohne sich dabei der politischen Aussage zu enthalten und ohne als Material den „Textabfall“ des Alltagslebens der modernen Welt zu scheuen.“ (Ebd.) Das politische Potential von konkreter Poesie wird insbesondere in der Demonstration der Veränderlichkeit von Sprache gesehen, die sich auf die Veränderlichkeit von Welt übertragen lässt (vgl. Nierand, 1996: 14). Genau dieses Prinzip wird – wie oben beschrieben – auch von L ATIN IN B OX angewandt.

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Homem 1: Dizem que temos faltado ao nosso encontro com a história e, enfim, é preciso reconhecer que chegamos tarde a todos os encontros. Tampouco conseguimos tomar o poder, e a verdade é que, às vezes, nos perdemos pelo caminho ou nos enganamos de rumo e depois tratamos de fazer um longo discurso sobre o tema. Nós, latino-americanos, temos a má fama de charlatães, vagabundos, criadores de caso, esquentados e festeiros, e não há de ser por nada. […] Levamos quinhentos anos aprendendo a nos odiar entre nós mesmos e a trabalhar o corpo e alma para a nossa perdição, e assim estamos; mas ainda não conseguimos corrigir nossa mania de sonhar acordados e esbarrar em tudo, e certa tendência à ressurreição inexplicável. (LIB1 01:38-02:50, 2f.)

Schließlich folgt das Lied Estoy Aqui von Shakira, das dem Zuschauer wiederum einen anderen Aspekt der lateinamerikanischen Identität anbietet, den emotionalen, verliebten Lateinamerikaner: Mulher 2: Estoy aquí queriéndote, ahogándome / entre fotos y cuadernos, entre cosas y recuerdos que no puedo comprender. / Estoy enloqueciéndome cambiándome un pie por la cara mía esta noche por el día y nada le puedo yo hacer. (LIB1 02:5004:55, 3)

Während bei dem Text von Galeano der Vorleser ruhig auf seinem Stuhl sitzt, wird das Lied von Shakira von überzeichneten Tanzbewegungen begleitet. Das Gedicht Do que se sabe nada von Jorge Luís Borges geht nicht spezifisch auf die lateinamerikanische Identität ein, sondern stellt die Frage nach dem menschlichen „Ich“ überhaupt: Homem 2: A lua ignora que é tranquila e clara / E não pode sequer saber que é lua; / A areia, que é a areia. Não há uma / Coisa que saiba que sua forma é rara. / As peças de marfim são tão alheias. / Ao abstracto xadrez como essa mão / Que as rege. / Talvez o destino humano, / Breve alegria e longas odisseias, / Seja instrumento de Outro. / Ignoramos; / Dar-lhe o nome de Deus não nos conforta. / Em vão também o medo, a angústia, a absorta / E truncada oração que iniciamos. / Que arco terá então lançado a seta. / Que eu sou? / Que cume pode ser a meta? (LIB1 04:55-06:00, 3)200

200 | Aus der Gegenüberstellung von Popmusik und Gedichten lässt sich, wenn dies auch nicht relevant für die Politizität der Aufführung ist, grundsätzlich eine Abwertung der Latinohits gegenüber den Gedichten entnehmen: Während die Aussagen der Lieder häufig ins Gegenteil verkehrt werden, werden die Gedichte eher mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Letztlich werden aber – entsprechend der politischen Wirkungsabsicht der Aufführung – beide der Konsumkritik untergeordnet.

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Auch in diesem Fall wird der philosophische Text durch Gesten wie einen anhaltenden Blick in die Ferne unterstrichen. Das Publikum erhält durch die unterschiedlichen Texte die Möglichkeit, sich aus den Identitätsangeboten eine eigene Identität zu konstruieren bzw. zu „basteln“ und so einen typischen Prozess des individualisierten Menschen in modernen Gesellschaften201 nachzuvollziehen: Das individuelle Sinnbasteln des individualisierten Menschen hat – gelingenderweise – folglich stets etwas von einem Patchwork bzw. von einer Collage, von jenem ästhetisch-technischen Verfahren also, diverse Sujets zu einem neuen Assoziationsraum zusammenzuschließen. Es ist die mehr oder weniger – meist weniger – originelle Verarbeitung von vorgefertigten Sinn-Elementen zu einem Sinn-Ganzen, das unter anderem und vor allem das eigene Dasein ‚erklärt‘. (Hitzler/Honer, 1994: 310)

Die Aufführung präsentiert in diesem Sinne nicht nur eine Text-, sondern auch eine Identitätscollage. Verdeutlicht wird die Freiheit des modernen Menschen in der Zusammensetzung seiner Identität auch durch das Beispiel der in der Aufführung zitierten Popmusiker: Auch wenn nur einige von ihnen wie Shakira (Kolumbien), Ricky Martin (Puerto Rico), Thalía (Mexiko) und Menudos (Puerto Rico) tatsächlich Lateinamerikaner sind202, stehen sie alle für die Latinidad, „the state and process of being, becoming, and/or appearing Latino/a“ (Guzmán/Valdívia, 2004: 205f.), die zu Beginn der 2000er-Jahre als „the ‚It‘-ethnicity and style in contemporary U.S. mainstream culture“ (ebd.: 206) beschrieben wurde.203 Damit sind die Popmusiker Beispiele, wie Identität sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene konstruiert werden kann. Der Zuschauer erhält einerseits die 201 | Die Bedingungen in modernen Gesellschaften sind für Hitzler/Honer (1994: 308) Voraussetzung für die „Bastelexistenzen“: „Denn mit dem Verblassen der (im Hinblick auf die Bewältigung des Alltagslebens sich als unzulänglich erweisenden) großen säkularen Weltdeutungen, der politischen Ideologien, wurden und werden nun Angebote aller Art zu immer kurzlebigeren Modephänomenen. Das bedeutet aber, daß der Mensch heute mental typischerweise ‚im Freien‘ steht und berieselt, beregnet, überschüttet wird mit religiösen, esoterischen, chauvinistischen, nationalistischen, internationalistischen, klassenkämpferischen, konsumistischen, ökologischen, sexistischen und dergleichen Ideen mehr.“ (Ebd.) 202 | Jeweils laut offizieller Website. Jennifer Lopez wurde in den USA geboren, Alejandro Sanz und Manu Chao kommen aus Spanien. 203 | Die Konstruktion lateinamerikanischer Identität in der US-amerikanischen Popkultur wurde dabei sowohl positiv wie negativ bewertet: „While these contemporary representations may provide the opportunity for individual Latinas to open spaces for vocality and action, they nevertheless build on a tradition of exocitiation, racialization and sexualization.“ (Guzmán/Valdívia, 2004: 217)

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Freiheit, sich für verschiedene Aspekte der lateinamerikanischen Identität zu entscheiden, gleichzeitig setzt ihn die Aufführung unter Druck: Anstatt eine fertige Identität aus der Aufführung herauszulesen, muss er die Konstruktion selbst leisten. Im Zusammenhang mit dem sich, wie oben beschrieben, ebenfalls mit lateinamerikanischer Identität auseinandersetzendem, konsumkritischem Essay von Galeano und dem Bühnenbild verweist die Aufführung kritisch auf gegenwärtige Tendenzen, Identität im Sinne eines „Shopping for Identity“ (Halter, 2000) durch Konsum zu collagieren.204 Zusammengefasst finden sich die verschiedenen Themen der Aufführung in dem Titel, LATIN IN BOX, der ebenfalls für verschiedene Interpretationen und Umdeutungen offen ist: Einerseits kann er auf die „eingesperrte“, d.h. vermeintlich festgelegte lateinamerikanische Identität verweisen, die durch die Aufführung aus ihrer Eingrenzung „befreit“ wird. Liest man ihn hingegen beispielsweise als Verweis auf die amerikanische Fast-Food-Kette „Jack in the Box“, verweist er auf die konsum- und globalisierungskritische Botschaft der Aufführung. Die Aufführung bricht mit allen Strukturen des dramatischen politischen Theaters, demonstriert die Dominanz des Kapitalismus und die Möglichkeit der Umdeutung von Texten, betont die „Bastelexistenzen“ (Hitzler/Honer, 1994) und stellt damit die Konstruktivität von Texten und Identitäten heraus. Anstatt eine Geschichte zu erzählen, erstellt die Aufführung eine Collage verschiedener Texte und Identitäten, aus denen der Zuschauer wählen kann. Indem dies als postdramatisches Theater nicht in einer fiktiven Welt geschieht, sondern vor den Augen des Zuschauers auf der Bühne vollzogen wird, kann die Möglichkeit von Umdeutung und Konstruktion von der Bühne direkt auf die Realität übertragen werden: Die Welt ist konstruiert und veränderbar – daher kann jeder einzelne dazu beitragen, die Dominanz von Kapitalismus und Konsum zu brechen. Die Aufforderung an die Zuschauer, sich selbst und die Welt als Konstruktion zu begreifen und mitzugestalten, wird am Ende der Aufführung noch ein204 | L ATIN IN B OX kann damit nicht nur als postdramatischer, sondern auch als postmoderner Text gelten: „Ein wichtiger Bezugspunkt für die epistemologische Krise der Postmoderne ist so der bereits in der Moderne angelegte Bruch mit dem aufklärerischen Projekt einer umfassenden Erfassung und Erklärung der Welt, die Ablösung der sinnstiftenden ‚großen Erzählungen‘ der Religion und der Wissenschaft durch fragmentarische und vorläufige Wissensmodelle. – Der daraus folgende Orientierungsverlust findet auch in theoretischen Reflexionen zum Wirklichkeitsverlust Ausdruck, […] und jegliches Geschichtsbewusstsein verliere sich in der Oberflächenästhetik der Konsumgesellschaft. […] Beide Positionen führen zu der Verarbeitung etablierter Codes und Stile durch die formalen Mittel von Parodie, Plagiat, Pastiche und Collage.“ (Mayer, 2008: 589f.)

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mal explizit formuliert. Während die Schauspieler die letzten noch in den Regalen verbliebenen Schachteln ausräumen und auf den Boden werfen, wird der letzte Abschnitt von Patas arriba von allen gemeinsam im Wechsel vorgetragen: Todos: A história se repete? Ou se repete solo como penitência de quem são incapazes de escuta-lá? Não tem história muda. Por muito que a queimem, por muito que a rompam, por muito que a mentam, a história humana se nega a fechar a boca. O tempo que foi segue latendo, vivo, dentro do tempo que é, se bem que o tempo que é não o quer ou não o soube. (LIB1 50:57-51:16, 31)

Damit wird noch einmal eine klare Aufforderung an den Zuschauer formuliert, die Geschichte sich nicht einfach wiederholen zu lassen und in der kapitalistischen Welt zu verbleiben, sondern die Realität neu zu gestalten. Danach kündigen die Schauspieler das Ende der Aufführung an, bedanken sich – aber anstatt sich zu verbeugen, übergeben sie die Bühne an das Publikum (LIB1 51:59-LIB2 03:05, 31f.): Es könne nun selbst Gedichte, die von den Schauspielern zur Verfügung gestellt werden, oder aus Patas Arriba vorlesen, tanzen, singen, im Zuschauerraum verbleiben oder die Bühne betreten – kurz: die Fortsetzung der Aufführung konstruieren.205 Das „Empowerment“ des Zuschauers findet damit seine extremste Form: Ihm wird nicht ein anzustrebendes Verhalten vorgelebt oder ein konkretes Engagement nahegelegt – stattdessen erhält er die absolute Freiheit, das Theaterereignis – und damit auch seine unmittelbare Gegenwart – zu verändern. Nachdem einige Zuschauer Gedichte vorgelesen haben, wird die politische Wirkungsabsicht der Aufführung noch einmal zusammengefasst: Mulher 1: Diante dum quadro politico como o que nos vemos, diante de tanto mensalão, de tanta corrupção, de tanta mentira, de tanta ilusão, a gente se pergunta: Como será o mundo? […] Todos nos podemos fixar o olhar além da infâmia. Outro mundo e possivel! Porque nós podemos! (LIB2, 03:40-04:36, 33)

Mit dem abschließenden Lied (LIB2 04:36-08:30, 33) rufen die Schauspieler nacheinander ihre Wünsche für die Zukunft, z.B. „Eu quero um mundo onde não há meninos de rua!“, in den Raum, fordern die Zuschauer auf, mitzusingen und mitzuklatschen und bieten so das letzte Mal eine Partizipationsmöglichkeit, diesmal konkret im Hinblick auf die gemeinsame Gestaltung der Zukunft, an. Die Kombination mit den politischen Themen von Galeano machen das Bewusstmachen der Konstruktivität der Wirklichkeit zu einem politischen Projekt und die Aufführung nach der Definition dieser Arbeit zu politischem Theater: 205 | In der analysierten Aufführung nahmen die Zuschauer das Angebot tatsächlich an, Gedichte zu verlesen. Allerdings blieben alle auf ihren Plätzen im Zuschauerraum sitzen (LIB1 51:59-LIB2 03:05, 31f.).

Schlussbetrachtungen

Die Zuschauer sollen nicht nur begreifen, dass die Welt insgesamt von ihnen verändert werden kann, sie sollen dieses Verständnis auch ganz gezielt einsetzen, die angesprochen, aus der Konsumkultur resultierenden politischen Probleme anzugehen. LATIN IN BOX kann, indem es Konstruktion von Welt zum politischen Prinzip erhebt und auf Mittel des dramatischen Theaters weitgehend verzichtet, damit am deutlichsten als postdramatisches politisches Theater eingeordnet werden. Es demonstriert, wie radikal die Vermittlung der politischen Wirkungsabsicht eben nicht durch die Repräsentation politischer Konflikte, sondern durch das Erleben des Zuschauers umgesetzt werden kann, ohne die politische Wirkungskraft abzuschwächen.

4.2.4

Merkmale und Funktionen des postdramatischen politischen Theaters in Salvador da Bahia

Analog zum Vorgehen beim dramatischen politischen Theater (siehe Kapitel 4.1.3) sollen im Folgenden auch für das gegenwärtige postdramatische politische Theater Salvador da Bahias aus den einzelnen Aufführungsanalysen übergreifende Merkmale und Funktionen abgeleitet und im Vergleich mit den in Kapitel 2.2 beschriebenen praktischen Ausprägungen des politischen Theaters eingeordnet werden. Dabei ist zu beachten, dass die Beschreibung des postdramatischen politischen Theaters auf Basis von deutlicher weniger Aufführungen vorgenommen werden muss – und daher mit Blick auf Verallgemeinerungen besondere Vorsicht geboten ist. Es zeigt sich, dass performative Elemente genutzt werden, um die Distanz zwischen den abstrakten dargestellten Konflikten und dem soteropolitanische Zuschauer zu überbrücken. Durch das Theater wird dieser in eine Situation der Verunsicherung versetzt, die durch postdramatische – und in einigen Aufführungen auch dramatische – Elemente in eine politische Haltung übertragen werden kann. Im gegenwärtigen postdramatischen politischen Theater Salvador da Bahias stammt der Zuschauer – im Gegensatz zum dramatischen politischen Theater – nicht mehr aus einer abgrenzbaren Klasse oder Schicht, sondern repräsentiert allgemein den brasilianischen Bürger. Im Vergleich mit den historischen Formen zeigt sich: Auch das gegenwärtige, postdramatische politische Theater in Salvador da Bahia hat eine eigenständige, dem modernen Gesellschafts- und Politikverständnis angepasste Form, hervorgebracht. Auf Basis der in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen Analysen lässt sich festhalten, dass postdramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia eine große Bandbreite an Themen und Formen umfasst: O CONTÊINER fokussiert sich auf die Gleichgültigkeit der brasilianischen Bevölkerung gegenüber dem globalen Problem der illegalen Migration und setzt als performative Elemente insbesondere Verweise auf Räumlichkeit, Körperlichkeit und Zeitlichkeit

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ein (siehe Kapitel 4.2.1). PRIMEIRO DE ABRIL kann mit seiner Thematisierung der 1985 beendeten Militärdiktatur hingegen als Beispiel für eine Aufführung gelten, welche die Konstruktivität von Geschichte – und von Debatten zur Aufarbeitung vergangener Ereignisse – betont (siehe Kapitel 4.2.2). Durch performative Elemente durchbricht sie das in der brasilianischen Gesellschaft bis heute andauernde Schweigen hinsichtlich der Militärdiktatur, das einer Aufarbeitung entgegensteht. Der Bühnentext LATIN IN BOX, der sich dem Kapitalismus sowie wirtschaftlichen und sozialen Konflikten ebenso widmet wie der Frage nach einer lateinamerikanischen Identität, demonstriert schließlich, wie eine Aufführung ihre politische Wirkungsabsicht durch den Prozess der Umdeutung und Betonung von Konstruktivität postdramatisch vermitteln kann (siehe Kapitel 4.2.3). Während die ersten beiden Aufführungen neben performativen Elementen auch Vermittlungsstrategien des dramatischen Theaters nutzen, nähert sich LATIN IN BOX, indem es auf Figuration und dramatische Handlung fast vollständig verzichtet, dem „Idealtypus“ des postdramatischen politischen Theaters an. Die Zusammenfassung macht deutlich, dass sich das postdramatische politische Theater im Salvador da Bahia der Gegenwart abstrakten, d.h. entweder aufgrund ihrer strukturellen Komplexität oder ihrer zeitlichen und geografischen Verortung vom soteropolitanischen Zuschauer entfernten, politischen Konflikten widmet. Dem soteropolitanischen Publikum wird in den Aufführungen unterstellt, diesen mit Ignoranz und Gleichgültigkeit zu begegnen. Deutlich wird dies beispielsweise in LATIN IN BOX, wenn der Erzähler vorliest: „A história se repete? Ou se repete solo como penitência de quem são incapazes de escuta-lá?“ (siehe Kapitel 4.2.3), oder in PRIMEIRO DE ABRIL, wenn der im Wassertank kauernde Mann, der die brasilianische Gesellschaft personifiziert, immer wieder einschläft und ins Wasser gleitet (siehe Kapitel 4.2.2). Um die Distanz zwischen soteropolitanischem Zuschauer und dargestelltem politischen Konflikt, der eben nicht „direkt vor der Haustür“ bzw. im „Hier und Jetzt“ stattfindet, zu überwinden, werden im postdramatischen politischen Theater Salvador da Bahias performative Elemente eingesetzt: Indem diese dem Zuschauer die abstrakten Konflikte selbst erfahrbar machen, wird die Gleichgültigkeit durchbrochen. In O CONTÊINER wird die liveness der Aufführungssituation und damit die Tatsache, dass der Konflikt auch den Zuschauer betrifft, beispielsweise durch das Hochziehen des Containers durch die Schauspieler und dem Aufscheinen ihrer realen Anstrengung, sichtbar gemacht (siehe Kapitel 4.2.1). In PRIMEIRO DE ABRIL lässt die Codierung der Auswirkungen der Atos Institucionais als Wetterbericht den Zuschauer die Zensur der Militärdiktatur noch einmal erfahren, und überwindet so das gesellschaftliche Schweigen, das einer Aufarbeitung entgegen steht (siehe Kapitel 4.2.2). In LATIN IN BOX verteilen Schauspieler Süßigkeiten an die Zuschauer, übertönen mit diesen gemeinsam den parallel vorgelesenen, konsumkritischen Text von Galeano und demonstrieren auf diese Weise dem Zuschauer unmittelbar, dass er, ebenso wie

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

an der Szene, auch an dem geschilderten Konflikt beteiligt ist (siehe Kapitel 4.2.3). Trotz der geografischen Ferne der Migration zwischen Europa und Afrika, der zeitlichen Distanz zur Militärdiktatur und der Komplexität des Systems des Kapitalismus wird dem Zuschauer auf diese Weise verdeutlicht, dass es sich um reale, aktuelle, ihn selbst betreffende Probleme handelt. Damit knüpft das postdramatische politische Theater im Salvador da Bahia der Gegenwart bei der Funktionalisierung der performativen Elemente zunächst an internationale und nationale Vorgänger wie The Living Theatre und Teatro Oficina an, die ebenfalls makrogesellschaftliche, politische Herausforderungen in den Blick nahmen (siehe Kapitel 2.2.1.3 und 2.2.2.3).206 Ein Blick auf das intendierte Publikum und das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauer, d.h. auf die Frage, was von wem erfahren werden soll, zeigt allerdings, dass Theater in Salvador da Bahia der gegenwärtigen Situation und einem modernen Gesellschaftsverständnis angepasst ist. Insbesondere Teatro Oficina zeichnete sich dadurch aus, dass das Verhältnis zwischen Akteuren und Publikum von einer violênica revolucionária (siehe Kapitel 2.2.2.3) geprägt war: Durch Beschimpfungen, Schockeffekte etc. sollte beispielsweise in O REI DA VELA ein Konflikt zwischen Akteuren und Zuschauern erzeugt werden. Eine solche von den Akteuren gegen die Zuschauer gerichtete Aggression lässt sich für das gegenwärtige postdramatische politische Theater nicht verzeichnen.207 Im postdramatischen politischen Theater im Salvador da Bahia der Gegenwart ist hingegen ein Gefühl der Verunsicherung Ausgangspunkt der intendierten politischen Wirkung. So wird der Zuschauer beispielsweise durch unauflösbare Widersprüche auf Zeichenebene – so dem Gegensatz zwischen den männlichen Figuren und den weiblichen Körpern der Schauspielerinnen in O CONTÊINER – verunsichert (siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.3). Am stärksten wird diese Verunsicherung, wenn durch performative Elemente die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufweichen: Indem der Zuschauer beispielsweise in O CONTÊINER und PRIMEIRO DE ABRIL im Unklaren gelassen wird, ob sich die Schauspieler im Container bzw. im Wassertank tatsächlich in einer Bedrohungslage befinden, wird er mit der Frage konfrontiert, wann ein Ein206 | Allerdings richtete Teatro Oficina im Gegensatz zu The Living Theatre und zum gegenwärtigen postdramatischen politischen Theater in Salvador da Bahia seinen Fokus weniger auf internationale Konflikte, als auf ihre Auswirkungen in Brasilien (siehe Kapitel 2.2.2.3). 207 | Ausnahme ist die Szene der operação gaiola in P RIMEIRO DE A BRIL , die durch die direkte Konfrontation mit dem Publikum sowie durch harte Rhythmen und abrupte Bewegungen durchaus als Aggression gegenüber dem Zuschauer gewertet werden kann (siehe Kapitel 4.2.2). Im dramatischen politischen Theater lässt sich das Lied Eu fiz as perguntas, bei dem die Schauspieler/Figuren in Z UMBI das Publikum direkt ansprechen, als Aggression werten (siehe Kapitel 4.1.2.2).

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greifen – in die Theateraufführung, aber auch in den dargestellten politischen Konflikt – geboten ist (siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2).208 Der Zuschauer wird dazu angehalten, seine eigene Verunsicherung auf den politischen Konflikt und die aktuelle Situation zu übertragen und das eigene Verhalten zu reflektieren. Als weiteres Element der Verunsicherung wird durch performative Elemente, wie die Erzeugung eines Konflikts zwischen Text und Szene, die Konstruktivität von Diskursen offen gelegt. Durch die Hinterfragung etablierter Diskurse wird, z.B. in Bezug auf die Aufarbeitung der Militärdiktatur in PRIMEIRO DE ABRIL oder durch die Auflösung eindeutiger Botschaften im Gedicht El puro no in LATIN IN BOX, eine gesellschaftliche Diskussion ermöglicht – und deren dringliche Notwendigkeit betont.209 Der Ersatz der Aggression durch Verunsicherung spiegelt auch eine veränderte Haltung gegenüber dem vorherrschenden Gesellschaftssystem wider: Während die politische Wirkungsabsicht bei Teatro Oficina und The Living Theatre den Zuschauer zu einer Revolution, d.h. zu einem vollständigen Umbruch des Gesellschaftssystems aufrufen sollte (siehe Kapitel 2.2.1.3 und 2.2.2.3), fordert das postdramatische politische Theater der Gegenwart den Zuschauer auf, vermeintliche Gewissheiten – wie seine Positionierung in den politischen Debatten, sein eigenes Verhalten und Engagement, seine eigene Identität – zu hinterfragen. Ziel ist dabei zunächst nicht, eine politische Handlung des Zuschauers zu bewirken, stattdessen wird eine Veränderung seiner politischen Haltung angestrebt. Entsprechend werden in den Aufführungen keine konkreten Formen der Partizipation vorgegeben, sondern die Verunsicherung in einen politischen Haltungsdruck übertragen. Dies geschieht beispielsweise, indem der Zuschauer beim Beobachten der Situationen auf der Bühne wiederum von den Schauspielern und anderen Zuschauern beobachtet wird,210 wenn er sein eigenes Handeln durch die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion hinterfragen oder zwischen verschiedenen Zeichensystemen eine Aus208 | Hierfür lassen sich sowohl in O C ONTÊINER als auch in P RIMEIRO DE A BRIL Beispiele finden. Besonders auffällig ist das Beispiel des nackten Schauspielers, der in P RIMEIRO DE A BRIL wiederholt in einen Wassertank fällt und um die Rückkehr auf die trockene Plattform kämpft (siehe Kapitel 4.2.2). 209 | P RIMEIRO DE A BRIL diagnostiziert zunächst, dass es den Opfern der Militärdiktatur unmöglich ist, über das von ihnen erlittene Leid zu sprechen und stellt dann Originaldokumente aus der Militärdiktatur in Opposition zu anderen Zeichensystemen (siehe Kapitel 4.2.2). Auf diese Weise demonstriert sie die unterschiedlichen Perspektiven, die auf die Ereignisse eingenommen werden können, und wie wichtig eine Aufarbeitung ist, da ansonsten die Sichtweise der Militärs weiterhin dominieren wird. 210 | Ein besonders markantes Beispiel ist die Szene in O C ONTÊINER, in der Besatzung und Flüchtlinge, bevor letztere in den Container gesperrt werden, sich mit entblößten Oberkörpern dem Publikum präsentieren (siehe Kapitel 4.2.1).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

wahlentscheidung treffen muss.211 Im postdramatischen politischen Theater im Salvador da Bahia der Gegenwart ist der Wandel, der sich innerhalb des Zuschauers vollzieht, daher nicht revolutionär. Stattdessen soll der Zuschauer als Grundlage für politische Beteiligung eine kritische Haltung gegenüber den bestehenden Konflikten und dem bestehenden Gesellschaftssystem einnehmen. Die Aufgabe der Revolution gegenüber einer kritischen Haltung als Ausgangspunkt der politischen Beteiligung steht in enger Verbindung mit dem intendierten Publikum. So zeichneten sich Teatro Oficina und The Living Theatre dadurch aus, dass sie sich an eine intendierte Zuschauerschaft aus dem Bürgertum richteten (siehe Kapitel 2.2.1.3 und 2.2.2.3). Das postdramatische politische Theater in Salvador da Bahia adressiert hingegen nicht mehr eine bestimmte, abgrenzbare Klasse oder Schicht, sondern spricht alle Bürger gleichermaßen an. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn in O CONTÊINER die Barbesitzerin die Container, die in dieser Szene symbolhaft für illegale Migration stehen, vor ihrem weniger als den Mindestlohn verdienenden Mitarbeiter als „representação da responsabilidade que cada um de nós tem perante a sociedade“ bezeichnet (siehe Kapitel 4.2.1),212 oder wenn das Gedicht Nós, por exemplo in LATIN IN BOX eine Gemeinschaft aller Lateinamerikaner als „ilegítimos filhos da pós-modernidade“ fordert (siehe Kapitel 4.2.3). Damit spiegelt das postdramatische politische Theater ein demokratisches Politikverständnis wider: Anstatt die Gesellschaft wie im marxistischen Verständnis in antagonistische Klassen zu teilen, die sich im Kampf gegenüberstehen, wird der Bürger, egal, ob arm oder reich, als zentrales Element der Demokratie und Akteur des gemeinsamen gesellschaftlichen Wandels erachtet. Während in den auf der Bühne thematisierten Konflikten mithilfe von dramatischen und postdramatischen Mitteln noch zwischen Opfern und Tätern unterschieden wird, wird die Konfliktlinie im Zuschauerraum bereits überwunden: Nachdem in O CONTÊINER und PRIMEIRO DE ABRIL die zentrale Rollen des Bürgers und der Gemeinschaft immerhin angedeutet werden (siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2),213 können in LATIN IN BOX die Zuschauer das Ende der 211 | Ebenfalls in O C ONTÊINER müssen sich die Zuschauer beispielsweise entscheiden, ob sie ihre Aufmerksamkeit den akustischen Zeichen aus dem Container oder der visuellen Übertragung der Handlung auf Bildschirmen widmen (siehe Kapitel 4.2.1). 212 | Allerdings zeigt sich hier auch, dass die brasilianische Gesellschaft selbst weiterhin von unterschiedlichen Klassen durchzogen ist: Der Angestellte der Barbesitzerin, Jeremias, erhält zwar ebenfalls einen Container, allerdings ist dieser, da er weniger als einen Mindestlohn verdient, nur aus Karton (siehe Kapitel 4.2.1). 213 | In O C ONTÊINER findet sich diese Andeutung beispielsweise in den androgynen Kostüme und in der Weigerung, Figuren eindeutig als Männer oder Frauen bzw. branco oder negro zu kennzeichnen (siehe Kapitel 2.2.1). In P RIMEIRO DE A BRIL geschieht dies, indem die brasilianische Bevölkerung eben nicht in unterschiedliche Klassen oder

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Aufführung vollkommen frei gestalten (siehe Kapitel 4.2.3). Auf diese Weise wird eine Gemeinschaft zwischen Akteuren und Zuschauern hergestellt und die Verantwortung für das Ende vollständig an die Zuschauer delegiert: In der konstruierbaren Welt ist die gemeinsame Gestaltung der Zukunft, für die jeder Bürger Verantwortung übernimmt, die Lösung für politische Konflikte. Somit vollzieht das postdramatische politische Theater im gegenwärtigen Salvador da Bahia selbst, was es für die Gesellschaft fordert: Die durch die Aufführungen vermittelte kritische Haltung des Zuschauers soll eine Überwindung der gesellschaftlichen Teilung und eine gemeinschaftliche Lösung politischer Konflikte ermöglichen. Demgegenüber zeigt sich, dass die zweite in den Aufführungen thematisierte Konfliktlinie, Afrika/Europa bzw. Lateinamerika/Europa, im Zuschauerraum nicht aufgelöst wird: Durch die Verlegung einzelner Szenen nach Brasilien und die explizite Thematisierung der Täter/Opfer-Rolle Brasiliens in Bezug auf globale Migration spricht O CONTÊINER den Zuschauer dezidiert als Brasilianer – und nicht etwa als Weltbürger – an (siehe Kapitel 4.2.1). PRIMEIRO DE ABRIL widmet sich dem brasilianischen Problem der mangelnden Aufarbeitung der Militärdiktatur, zieht dabei aber auch Parallelen zu anderen lateinamerikanischen Diktaturen und kritisiert die Rolle der amerikanischen CIA (siehe Kapitel 4.2.2). LATIN IN BOX, die die Mittel des postdramatischen politischen Theaters am konsequentesten nutzt, geht schließlich über die nationalen Grenzen hinaus, vermischt Essays, Gedichte und Lieder verschiedener lateinamerikanischer Autoren und fordert zur Konstruktion lateinamerikanischer Identität(en) auf (siehe Kapitel 4.1.3). Somit lässt sich festhalten: Im postdramatischen politischen Theater der Gegenwart werden Klasse und Schicht als gemeinschaftsstiftende Elemente durch eine nationale bzw. lateinamerikanische Zugehörigkeit ersetzt. Der Zuschauer wird nicht als Mitglied des Bürgertums oder des Proletariats, sondern als Brasilianer bzw. Lateinamerikaner angesprochen. Auch wenn das postdramatische politische Theater transnationale Probleme thematisiert, werden diese stets aus brasilianischer bzw. lateinamerikanischer Perspektive beleuchtet. Das postdramatische politische Theater lässt sich damit auch als postkoloniales Theater beschreiben: In allen drei Aufführungen werden Europa bzw. die USA als Hegemonial- und Kolonialmächte dargestellt, deren Vorherrschaft über Afrika bzw. Lateinamerika überwunden werden muss. Das postdramatische politische Theater fordert den Zuschauer als Bürger damit auch dazu auf, als Brasilianer bzw. Lateinamerikaner Verantwortung für eine Schwächung der Hegemonie Europas bzw. der USA zu übernehmen. Mit dieser postkolonialen Kritik schließt das postdramatische soteropolitanische Gegenwartstheater an Ethnien gespalten, sondern allgemein der brasilianische Bürger adressiert wird (siehe Kapitel 2.2.2).

Ausprägungen des politischen Theaters in Salvador da Bahia

Teatro Oficina an, das beispielsweise mit O REI DA VELA einen Beitrag zu einer neuen brasilianischen Identität leisten wollte (siehe Kapitel 2.2.2.3). Allerdings ist festzuhalten, dass das postdramatische politische Theater in Salvador da Bahia, im Gegensatz zu Teatro Oficina und zum gegenwärtigen dramatischen politischen Theater, seine postkoloniale Kritik an Europa und den USA nicht auf deren Einflüsse in Brasilien selbst, sondern in Bezug auf globale Machtbeziehungen formuliert. Dieser Aspekt des gegenwärtigen postdramatischen politischen Theaters spiegelt den ab Mitte der 1990er-Jahre zunehmenden Gestaltungsanspruch Brasiliens als „rising global power“ (Trinkunas, 2014: 3) wider: Seit diesem Zeitpunkt ist es Brasilien nicht nur gelungen, sich als Regionalmacht auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu etablieren (vgl. Stuenkel, 2014), sondern, indem es sich für einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat bewarb, der G-20 Gruppe beitrat und als Mitglied der BRICS beispielsweise an der Gründung der BRICS-Bank beteiligt war (vgl. Trinkunas, 2014: 3), zunehmend auch auf globaler Ebene Gestaltungsansprüche geltend zu machen. Das postdramatische politische Theater kann mit seinem Anspruch, eine brasilianische Perspektive auf globale Fragestellungen zu formulieren, als Ausdruck dieser neuen Gestaltungsansprüche verstanden werden. Im Hinblick auf die dieser Arbeit zu Grunde liegende Unterscheidung zwischen dramatischem und postdramatischem politischen Theater muss abschließend festgestellt werden, dass zumindest zwei der drei Aufführungen, PRIMEIRO DE ABRIL und O CONTÊINER, um die Gleichgültigkeit des brasilianischen Zuschauers zu überwinden, neben postdramatischen auch auf dramatische Mittel zurückgreifen (siehe Kapitel 4.2.2 und 4.2.1). So werden Handlung und Figuration zumindest in einigen Szenen der beiden Aufführungen aufrechterhalten. Dabei wird das dramatische Mittel der Figuration genutzt, um die Opfer des jeweiligen Konfliktes, illegale Migranten und die Gegner der Militärdiktatur, als Menschen mit Emotionen, Träumen und Hoffnungen darzustellen, in deren Schicksal sich der Zuschauer auf diese Weise einfühlen kann. Ihnen werden Antagonisten, im Fall von O CONTÊINER die Schiffsbesatzung, im Fall von PRIMEIRO DE ABRIL die Militärs und ihre Unterstützer, gegenübergestellt, die durch postdramatische Elemente verfremdet und verzerrt bleiben. Damit lässt sich feststellen, dass auch das postdramatische politische Theater bemüht ist, denjenigen eine Stimme zu verleihen, die sich im öffentlichen Diskurs nicht äußern können. Auch werden ebenso wie im dramatischen politischen Theater epische Elemente eingesetzt, die die Szenen der Einfühlung unterbrechen und den Zuschauer nachdenken lassen. Damit lässt sich im Vergleich zu The Living Theatre oder Teatro Oficina eine deutliche Abnahme an Radikalität in der Überwindung der dramatischen Form verzeichnen (siehe Kapitel 2.2.1.3 und

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2.2.2.3).214 Indem es durch die dramatischen Elemente Dialogplattformen herstellt, trägt auch das in erster Linie auf die Verantwortung des brasilianischen Bürgers in der Welt ausgerichtete postdramatische politische Theater der peripheren Moderne Brasiliens Rechnung.

214 | Dabei ist festzuhalten, dass zumindest einige Aufführungen von Teatro de Oficina durchaus auch Elemente des dramatischen politischen Theaters enthielten (siehe Kapitel 2.2.2.3). Allerdings wurden diese im Gegensatz zum gegenwärtigen Theater nur vereinzelt eingesetzt.

5. Schlussbetrachtungen

Entsprechend der theaterwissenschaftlichen Diskussion im deutschen Sprachraum wurde zur Beschreibung des gegenwärtigen politischen Theaters in Salvador da Bahia zwischen dramatischen und postdramatischen Formen des politischen Theaters unterschieden. Nachdem in Kapitel 4.1.3 und 4.2.4 aus den Aufführungsanalysen zunächst die Merkmale und Funktionen der jeweiligen Typen abgeleitet wurden, werden diese im abschließenden Kapitel zu allgemeinen Merkmalen des politischen Theaters in Salvador da Bahia zusammengefasst und in die theaterwissenschaftliche Diskussion eingeordnet: Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem soteropolitanischen Kontext für die internationale Debatte um die Wirksamkeit politischen Theaters ableiten? Und welche Forschungsansätze ergeben sich für folgende Arbeiten? Anschließend soll der Forschungsansatz der vorliegenden Arbeit reflektiert bewertet werden, bevor ein Ausblick darstellt, welche künftigen Entwicklungen sich für das politische Theater in Salvador da Bahia erwarten lassen.

Politisches Theater in Salvador da Bahia Wie in Kapitel 2 dargestellt, zeichnet sich politisches Theater durch die Thematisierung politischer Konflikte und insbesondere durch das Vorhandensein einer politischen Wirkungsabsicht aus. Hinsichtlich der Thematisierung politischer Konflikte lässt sich für das politische Theater in Salvador da Bahia festhalten, dass es eine große Bandbreite an Konflikten adressiert, die sich auf lokaler, nationaler und globaler Ebene verorten lassen – von der lokalen Wohnungspolitik über die Diskriminierung der negro-Bevölkerung und der brasilianischen Frauen über Korruption, ungerechte Landverteilung und die mangelnde Aufarbeitung der Militärdiktatur bis hin zu globaler Migration und der Ausbeutung Lateinamerikas im kapitalistischen System. Dabei lässt sich feststellen, dass, wenn auch jeweils verschiedene Ausprägungen in den Blick genommen wer-

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Politisches Theater in Brasilien

den, letztlich stets die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Fokus steht.1 Als Merkmal des politischen Theaters in Salvador da Bahia lässt sich damit festhalten, dass es sich für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft einsetzt – nicht nur in Salvador da Bahia und Brasilien, sondern auch weltweit. Um das Ziel einer solchen Gesellschaft zu erreichen, setzt das politische Theater in Salvador da Bahia eine große Bandbreite an Vermittlungsstrategien ein. So kommt sowohl dramatisches als auch postdramatisches Theater zum Einsatz. Zahlreiche Aufführungen weisen zudem Elemente beider Theatertypen auf. Mit Blick auf das Korpus der vorliegenden Arbeit lässt sich festhalten, dass die Anzahl an Aufführungen, die sich dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen, gegenüber der Anzahl derer, die eher im postdramatischen politischen Theater verortet sind, deutlich überwiegt. Während das dramatische politische Theater während des gesamten Untersuchungszeitraums (19942008) eingesetzt wird, lässt sich postdramatisches politisches Theater erst nach der Jahrtausendwende (ab 2004) nachweisen.2 Die Analysen haben gezeigt, dass jene Konflikte, die einen konkreten lokalen oder nationalen Bezug aufweisen, mit Mitteln des dramatischen politischen Theaters verhandelt werden, während sich die Aufführungen mit abstrakteren, internationalen Konflikten dem postdramatischen politischen Theater zuordnen lassen. Hinsichtlich des dramatischen politischen Theaters konnte festgestellt werden, dass die Aufführungen unterschiedlich eng an die Realität gebunden sind: Während einige eine sehr realistische Abbildung anstreben, setzen andere gezielt phantastische oder epische Elemente ein, um die Illusion von Realität zu brechen. Das postdramatische politische Theater weist starke Heterogenität in Bezug auf die Konsequenz seiner Umsetzung auf: Während zwei der drei Aufführungen weiterhin dramatische Elemente nutzen, löst LATIN IN BOX die dramatische Struktur vollständig auf; während im dramatischen politischen Theater Einfühlung und Reflexion im Vordergrund stehen, ist im postdramatischen politischen Theater für die Vermittlung der Wirkungsabsicht die 1 | Eine Ausnahme ist P RIMEIRO DE A BRIL , das sich der Aufarbeitung der Militärdiktatur widmet und daher ein anderes Primärziel als Ungleichheit zu reduzieren verfolgt (siehe Kapitel 4.2.2). 2 | Postdramatische Elemente in Aufführungen des dramatischen politischen Theaters lassen sich allerdings bereits ab Mitte der 1990er-Jahre nachweisen, beispielsweise in Z UMBI oder C ABARÉ DA R RRRAÇA (siehe Kapitel 4.1.2.2 und 4.1.1.4). Auch die „Antworten“ auf die metatheatrale Frage nach der Wirksamkeit von politischem Theater, die von U M TAL DE D OM Q UIXOTE und E SSE G LAUBER gestellt wird, sind in diesem Zusammenhang aussagekräftig: Während U M TAL DE D OM Q UIXOTE Mitte der 1990erJahre dramatisches politisches Theater als wirksames Instrument bestätigt, bestreitet das nach der Jahrtausendwende entstandene E SSE G LAUBER diese Wirksamkeit (siehe Kapitel 4.1.2.1).

Schlussbetrachtungen

Erfahrung des Zuschauers entscheidend. Alle drei Reaktionen – Einfühlung, Reflexion und Erfahrung – werden vom politischen Theater in Salvador da Bahia hervorgerufen. Indem es sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzt und auf dramatische und postdramatische Vermittlungsstrategien zurückgreift, knüpft das politische Theater in Salvador da Bahia an seine nationalen und internationalen Vorgänger an. Allerdings zeigt sich, dass es neue – ethnische oder geschlechterbasierte – Konfliktlinien aufnimmt und zunehmend auch internationale Konflikte thematisiert. Zudem offenbart sich, dass die Vermittlungsstrategien im Vergleich zu den historischen Theaterformen neu kombiniert und modifiziert werden: So lässt sich beispielsweise in allen Aufführungen zwar ein Rückgriff auf das epische Theater von Bertolt Brecht verzeichnen. Dieses wird im gegenwärtigen dramatischen politischen Theater Salvador da Bahias allerdings mit Elementen kombiniert, die eine Einfühlung des bürgerlichen Publikums in subalterne Protagonisten ermöglichen. Das soteropolitanische, postdramatische politische Theater greift beispielsweise auf die von Teatro Oficina und The Living Theatre genutzte Auflösung der Grenzen zwischen Zuschauern und Akteuren zurück – begegnet den Erstgenannten aber nicht mit Aggression, sondern erzeugt ein Gefühl der Verunsicherung. Diese Modifikationen zeigen: Der Einsatz der Vermittlungsstrategien im politischen Theater Salvador da Bahias ist einem gegenwärtigen Gesellschaftsverständnis angepasst. Während im dramatischen politischen Theater der Zuschauer zu einer politischen Handlung aufgefordert wird, dominiert im postdramatischen politischen Theater die Befähigung des Zuschauers zu einer kritischen politischen Haltung. Anstatt aber wie seine Vorgänger eine marxistische Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen zu befördern, wird der Zuschauer im zeitgenössischen politischen Theater Salvador da Bahias dazu aufgefordert, Verantwortung als Bürger einer demokratischen, solidarischen Gesellschaft zu übernehmen. Das politische Theater in Salvador da Bahia strebt keine auf Klassenkampf beruhende Revolution, sondern eine gemeinsame Reform der demokratischen Gesellschaft an. Der Bürger wird nicht zu einem Umsturz aufgerufen, sondern zu konventioneller Partizipation innerhalb des demokratischen Systems ermutigt. Der Antagonismus zwischen unterschiedlichen Klassen innerhalb der Gesellschaft wird aufgelöst: Während im dramatischen politischen Theater insbesondere die wachsende brasilianische Mittelschicht angesprochen und zu Solidarität mit den Marginalisierten aufgerufen wird, hat das postdramatische politische Theater die gesamte brasilianische Bürgerschaft im Blick. Indem der Zuschauer nicht mehr anhand seines sozio-ökonomischen Status, sondern als brasilianischer Bürger adressiert wird, konstituiert das postdramatische politische Theater in seinem Zuschauerraum bereits die angestrebte gerechte Gesellschaft.

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Über diese Anpassung an eine demokratische Gesellschaft hinaus ist das politische Theater in Salvador da Bahia auf den konkreten soteropolitanischen Kontext zugeschnitten: Es spiegelt den Entwicklungsstand Salvador da Bahias als Teil des Schwellenlandes Brasilien um die Jahrtausendwende wider. Dieser ist – trotz einer rasant wachsenden Mittelschicht – einerseits von drängenden innenpolitischen Problemen wie der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, Korruption und Rassismus geprägt. Diesem Aspekt entspricht das dramatische politische Theater: Mit seiner Wirkungsabsicht, in der das politische Engagement der Mittelschicht für die Subalternen im Mittelpunkt steht, zielt das dramatische politische Theater darauf ab, einen Beitrag zur weiteren inneren Entwicklung Salvador da Bahias bzw. des Schwellenlandes zu leisten. Im Korpus dieser Arbeit korreliert die Anzahl an Theateraufführungen, die sich dem dramatischen politischen Theater zuordnen lassen, mit einer Phase besonders virulenter innenpolitischer Probleme: Besonders viele Aufführungen des dramatischen politischen Theaters entstehen in der Mitte der 1990er-Jahre, als Brasilien und Salvador da Bahia von einer schweren wirtschaftlichen Krise mit drastischen Auswirkungen auf die soziale Ungleichheit erschüttert wurden. Andererseits formuliert das Schwellenland Brasilien zunehmend weltpolitische Gestaltungsansprüche. Dieser Aspekt spiegelt sich im postdramatischen politischen Theater Salvador da Bahias wider. Sein Aufkommen ab Mitte der 2000er Jahre korreliert mit einem Zeitpunkt der wirtschaftlichen Stabilisierung und den zunehmenden Ambitionen Brasiliens, Verantwortung für die Lösung globaler Herausforderungen zu übernehmen. In diesem Kontext ist es das Ziel des postdramatischen politischen Theaters, dem ausdrücklich als Brasilianer bzw. Lateinamerikaner verstandenen Bürger seine Verantwortung für globale Herausforderungen bewusst zu machen, indem ihm durch performative Elemente die Relevanz abstrakter und/oder entfernter Probleme vermittelt wird. Indem sich das politische Theater in Salvador da Bahia in zahlreichen Fällen dramatischer und postdramatischer Elemente gleichzeitig bedient, trägt es beiden Aspekten des Schwellenlandes Rechnung: Während postdramatische Elemente im dramatischen Theater als weitere Strategie gegen die innenpolitischen Auswirkungen der peripheren Moderne eingesetzt werden, wird durch dramatische Elemente in postdramatischen politischen Theateraufführungen auch Einfühlung in die Opfer internationaler Konflikte ermöglicht. Daraus lässt sich schließen, dass, wenn Brasilien tatsächlich global Verantwortung übernehmen will, zunächst der Grundkonsens der peripheren Moderne, welcher Subalternen Menschen- und Bürgerrechte verweigert, durchbrochen werden muss. Beide Aspekte des Schwellenlandes sind somit nicht voneinander unabhängig, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Entsprechend wird auch im politischen Theater von Salvador da Bahia die mit Mitteln des dramatischen Theaters angestrebte Überwindung der peripheren Moderne zur Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung globaler Gestaltungsansprüche.

Schlussbetrachtungen

Ein weiteres Charakteristikum eines Schwellenlandes neben anhaltenden innenpolitischen Herausforderungen bei zunehmenden außenpolitischen Gestaltungsansprüchen ist seine dynamische Entwicklung: Sowohl die Verhältnisse im Inneren des Landes als auch seine globale Positionierung verändern sich beständig (vgl. Stamm, 2004: 9-16). Die metatheatrale Bedeutungsebene, welche die vorliegende Arbeit im dramatischen politischen Theater Salvador da Bahias nachgewiesen hat, lässt sich als Anpassung an diese für ein Schwellenland typische Volatilität interpretieren: Indem das politische Theater seine eigene Wirksamkeit auf einer metatheatralen Ebene immer wieder überprüft, wird sichergestellt, dass diese trotz der beständigen Veränderung gewährleistet bleibt. Die beiden Seiten des Schwellenlandes Brasilien, nach innen gerichteter Entwicklungsbedarf und nach außen formulierter Gestaltungsanspruch, spiegeln sich auch in der postkolonialen Kritik des politischen Theaters in Salvador da Bahia wider. So widmet sich das dramatische politische Theater dezidiert postkolonialen Fragestellungen wie der Rolle der negro-Bevölkerung oder der Frauen in der brasilianischen Geschichte. Dabei geht es, anders als im brasilianischen politischen Theater der 1960er-Jahre, allerdings nicht darum, durch Kritik an europäischen und amerikanischen Einflüssen eine nationale Kultur oder Identität zu befördern. Stattdessen zielt die postkoloniale Kritik im gegenwärtigen, dramatischen politischen Theater darauf ab, verbliebene koloniale Machtstrukturen zu überwinden und auf diese Weise die Grundlage für eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Dass sich im dramatischen politischen Theater ein Untertypus nachweisen lässt, der eine ausgeglichenere Geschichtsschreibung zur Voraussetzung für die Lösung aktueller politischer Konflikte macht, zeigt die große Relevanz, die der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit im politischen Theater von Salvador da Bahia zukommt. Die postkolonialen Elemente im postdramatischen politischen Theater stellen hingegen die Hegemonie Europas und der USA nicht nur in Brasilien, sondern weltweit infrage und fordern eine Neuverhandlung der seit der Kolonialzeit erhaltenen internationalen Machtstruktur. Dazu zielen sie auch dezidiert auf die Konstruktion einer brasilianischen oder lateinamerikanischen Identität ab. Sie unterstützen vom postdramatischen politischen Theater allgemein formulierte außenpolitische Gestaltungsansprüche. Auf die Frage „Que teatro nós baianos podemos fazer que tenha algum poder?“ geben die Aufführungen somit folgende Antwort: Theater, das in Salvador da Bahia um die Jahrtausendwende einen politischen Wirkungsanspruch verfolgt, trägt nicht nur einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der inneren und äußeren Entwicklung Brasiliens Rechnung. Dies gelingt in Salvador da Bahia, indem sowohl dramatisches als auch postdramatisches politisches Theater – und oftmals in einer Aufführung auch Elemente beider Formen – eingesetzt werden. Auch der Einzug mehrerer Bedeutungsebenen berücksichtigt die Komplexität des (postkolo-

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Politisches Theater in Brasilien

nialen) Schwellenlandes: Die Bedeutungsebene der alternativen Historiografie erlaubt es, die Relevanz der (kolonialen) Vergangenheit für gegenwärtige politische Konflikte sichtbar zu machen. Die Bedeutungsebene der metatheatralen Diskussion stellt sicher, dass das politische Theater trotz der rasanten Entwicklung in Brasilien dem spezifischen Kontext angepasst bleibt – und entsprechend dramatische und postdramatische Vermittlungsstrategien (neu) kombinieren, modifizieren und entwickeln kann.

Einordnung in die theater wissenschaftliche Debatte und Ansätze für weitere Forschung Die vorliegende Arbeit lässt sich im Hinblick auf drei Kategorien in die theaterwissenschaftliche Debatte einordnen: Erstens in Bezug auf ihren Beitrag zur Erforschung des Theaters in Salvador da Bahia und Brasilien, zweitens in Bezug auf die theaterwissenschaftliche Debatte um dramatisches und postdramatisches politisches Theater sowie drittens in Bezug auf die postkoloniale Theatertheorie. Als erste deutschsprachige Monografie, die sich theaterwissenschaftlich mit soteropolitanischem Theater auseinandersetzt, hat die vorliegende Studie das Theater Salvador da Bahias für die deutsche Wissenschaft erschlossen. Allerdings ist zu beachten, dass das Korpus aus forschungspraktischen Gründen auf nur zwei Theaterhäuser begrenzt war. Es bleibt künftigen Forschungsarbeiten vorbehalten, das Korpus durch den Einbezug von Theateraufführungen weiterer Theaterhäuser und Gruppen zu erweitern und die in der vorliegenden Studie formulierten Hypothesen zu überprüfen. Danach bietet sich eine Ausweitung der Untersuchung auf politisches Theater in anderen brasilianischen Städten an. So existieren in São Paulo und Rio de Janeiro mit Companhia do Latão, Companhia São Jorge de Variedades, Companhia do Feijão und Teatro da Vertigem national bekannte Theatergruppen, für die eine systematische Untersuchung als politisches Theater noch aussteht.3 Aber auch abseits der Metropolen bieten sich weitere Untersuchungen zum politischen Theater in Brasilien an: Lassen sich Unterschiede zwischen Metropolen und kleineren Städten bzw. regionale Differenzen hinsichtlich der behandelten Konflikte und der Funktionalisierung von dramatischem und postdramatischem Theater feststellen? Indem Aufführungen wie PRIMEIRO DE ABRIL und LATIN IN BOX verstärkt auch 3 | Mit einigen dieser Gruppen setzen sich – wenn auch nicht unter dem Aspekt des politischen Theaters – Atzpodien (2006) und Sambaquy-Wallner (2015) auseinander. Insbesondere die Arbeit von Sambaquy-Wallner, welche die Aspekte der Zuschauerpartizipation und Verlagerung der Aufführung an Orte außerhalb des Theatergebäudes untersucht, verspricht zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für eine Untersuchung zum politischen Theater.

Schlussbetrachtungen

eine lateinamerikanische Perspektive betonen, stellt sich schließlich auch die Frage nach politischen Theaterformen in anderen lateinamerikanischen Ländern: Wird die lateinamerikanische Identität dort ebenfalls bestätigt – oder ist dies ein Phänomen des Schwellenlandes Brasilien, das regional und global besondere Gestaltungsansprüche formuliert? Nachdem die vorliegende Arbeit zur Erschließung eines im deutschsprachigen Raum theaterwissenschaftlich bisher nicht behandelten Forschungsgegenstandes bewusst eine deutsche Perspektive eingenommen hat (siehe Kapitel 1), bleibt es künftigen Studien auch vorbehalten, die theoretischen Grundlagen und methodischen Werkzeuge mit Blick auf originär brasilianische bzw. lateinamerikanische Ansätze weiterzuentwickeln. Wie in der Einleitung sowie den Kapiteln 2.1.2 und 2.1.3 dargestellt, wird die Wirksamkeit politischen Theaters in der deutschen Theaterwissenschaft und -praxis ausführlich diskutiert. Diese Diskussion wird auch zum Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit fortgesetzt (vgl. z.B. Stegemann, 2014; Englhart/Pelka, 2014; Stockmann, 2014).4 In Brasilien lässt eine vergleichbare Diskussion noch auf sich warten. Nachdem in den vergangenen Jahren zunächst immer wieder einzelne Artikel zu dem Thema erschienen waren (z.B. Fabião, 2008), widmete im Jahr 2014 die theaterwissenschaftliche Zeitschrift Sala Preta der Universidade de São Paulo eine ganze Ausgabe politischen Performances (vgl. Sala Preta, 2014). Damit bleibt zu hoffen, dass sich die brasilianische Theaterwissenschaft künftig auch in ausführlicheren Studien mit zeitgenössischen Formen des politischen Theaters auseinandersetzt. In der Diskussion um die Wirksamkeit dramatischen und postdramatischen politischen Theaters hat die vorliegende Studie für den Kontext Salvador da Bahias gezeigt, dass sowohl dramatische als auch postdramatische Formen eingesetzt werden. Zudem konnte belegt werden, dass sich das postdramatische politische Theater auch dramatischer Elemente bedient. Diese parallele

4 | In seiner Publikation Kritik des Theaters wirft der Dramaturg Bernd Stegemann dem postdramatischen Theater vor, sich den Kommunikationsregeln des „postmoderne[n] Kapitalismus“ (Stegemann, 2014: 9) zu unterwerfen, was eine wirksame Kritik unmöglich mache. Stattdessen fordert er eine „Theaterkunst, die das Spielen als kritische Kunst in einer kontingent verspielten Gegenwart neu erfindet“. (ebd.: 161) Am anderen Ende des Spektrums steht der junge Dramatiker Nis-Momme Stockmann, der in dem 2014 erschienenen Sammelband Junge Stücke – Theatertexte junger Autorinnen und Autoren der Gegenwart postdramatisches politisches Theater fordert: „Was wir brauchen, ist Raum für ‚das Viele‘, für das Uneindeutige, für das, was diskutiert und überlegt werden will, damit es Sinn macht. […] Die ergebnisorientierte Dramaturgie, mit ihren zeitlichen, ästhetischen und strukturellen Vorgaben, ist eine im kapitalistischen Produkt- und Produktivitätszwang pervertierte Form, Narrativität zu begreifen.“ (Stockmann, 2014: 383f.)

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Politisches Theater in Brasilien

Nutzung dramatischer und postdramatischer Elemente wird auch allgemein für das zeitgenössische deutsche Theater konstatiert: Die dramatischen Grundprinzipien Mimesis und Fiktion bewahren in zeitgenössischen Theaterinszenierungen einen bedeutsamen Stellenwert. […] Zeitgenössische Regisseure streben, wie es scheint, in ihren Arbeiten vielmehr die Verknüpfung von postdramatischen und dramatischen Verfahren an, als die Ablehnung der einen oder der anderen Theorie. (Laudahn, 2012: 353) 5

Während Laudahn auf Basis dieser Beobachtung für den deutschen Kontext einen neuen Typus des „post-postdramatischen“ (ebd.: 12) oder „neodramatischen“ (ebd.:) Theaters entwickelt, lassen sich die in der vorliegenden Studie untersuchten Aufführungen anhand des Kriteriums der Dominanz von Präsenz oder Repräsentation weiterhin dem einen oder anderen Typus zuordnen. Auch vor dem Hintergrund der geringen Anzahl an Aufführungen des postdramatischen Theaters im Korpus dieser Arbeit scheint es verfrüht, für das politische Theater in Salvador da Bahia einen neuen Typus auszumachen.6

5 | Für politisches Theater im anglo-amerikanischen Kulturraum konstatiert Anneka Esch-van Kan (2008), „dass eine Öffnung gegenüber tagespolitischen Themen in keiner Weise bedeuten muss, dass die Diskussion um das Politische im ‚Wie‘ der Darstellung zurücktreten müsse. Es soll vielmehr angenommen werden, dass keine ‚Entweder-Oder‘-Entscheidung im Bezug auf ‚Politisches Theater‘ und das ‚Politische im Theater‘ gefällt werden muss, sondern dass es sich im Idealfall um zwei Seiten derselben Medaille handelt.“ (Ebd.: 90) Allerdings legt der Aufsatz ein – im Sinne der vorliegenden Arbeit (siehe Kapitel 2.1) – zu allgemeines, da allein an der thematischen Politizität orientiertes Verständnis von politischem Theater als „Stücke […] und Aufführungen […], die sich auf heterogene Weise mit der aktuellen Tages- und Weltpolitik auseinandersetzen“ (ebd.: 73) zu Grunde. Trotz des Vorhandenseins beider Formen stellt Esch-van Kan für das politische Theater im anglo-amerikanischen Kulturraum eine Dominanz von Aufführungen fest, die sich „am besten mit den Kategorien des postdramatischen Theaters fassen lassen“ (ebd.). Einen theater- oder kulturwissenschaftlichen Erklärungsansatz für diese Diagnose, wie er in der vorliegenden Arbeit für Salvador da Bahia vorgenommen wird, bleibt Esch-van Kan schuldig. Dennoch stellt er einen viel versprechenden Ausgangspunkt für systematische Analysen des anglo-amerikanischen politischen Theaters dar. 6 | Dabei ist zwischen Entwicklungstendenzen der gemeinsamen Verwendung dramatischer und postdramatischer Elemente, die sich letztlich aber weiterhin dem einen oder anderen Typus zuordnen lassen, und eines vollkommen neuen Typus zu unterscheiden. Im postkolonialen Kontext bietet sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Hybridität eines neuen Typus an.

Schlussbetrachtungen

Während eine Reduzierung auf den einen oder anderen Typus für das politische Theater in Salvador da Bahia somit keine Gültigkeit beanspruchen kann, zeigt die Studie neue, in der theaterwissenschaftlichen Literatur noch nicht behandelte Grenzen des dramatischen und postdramatischen politischen Theaters auf. So konnten die Analysen nachweisen, dass im Kontext der peripheren Moderne Brasiliens trotz der Existenz der Massenmedien dem Theater weiterhin die Funktion zukommt, die Mittelschicht über die Perspektiven, Wünsche und Träume der subalternen Bevölkerung aufzuklären. Damit zeigt sich, dass dramatisches politisches Theater hier keineswegs seinen Informations- und Aufklärungsanspruch verliert, wie es Lehmann für den deutschen Kontext konstatiert (vgl. Lehmann, 2002a: 31). Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit lassen vermuten, dass diese Funktion auch in anderen, über marginalisierte Bevölkerungsschichten verfügenden Gesellschaften weiterhin Relevanz besitzt. Selbst in Deutschland, das sich als europäisches Land nicht der peripheren Moderne zuordnen lässt (vgl. Souza, 2006: 36), wäre eine solche Funktion denkbar. Ein Ansatz für folgende wissenschaftliche Arbeiten ist damit, kontextübergreifend zu untersuchen, in welchem Typus von Gesellschaften das dramatische politische Theater seine Aufklärungs- und Informationsfunktion erhalten hat. Ebenso widerlegt die vorliegende Arbeit für den soteropolitanischen Kontext die u.a. von Haas (2007: 40f.) und Laudahn (2012:43f.) vertretene Hypothese, dass postdramatisches Theater aufgrund der ihm inhärenten Auflösung von Sinn und des Verzichts auf eindeutige Botschaften keinen politischen Wirkungsanspruch vermitteln kann.7 Die Analyse von LATIN IN BOX, eine Mischung aus szenischem Gedicht und szenischem Essay, hat gezeigt, wie eine Aufführung trotz des Verzichtes auf alle dramatischen Strukturelemente eine 7 | Laudahn lehnt die Beschreibung politischen Theaters durch Kategorien des postdramatischen Theaters grundsätzlich ab: „Die eindeutige teleologische Ausrichtung politischen Theaters, das politische Aufklärung anstrebt, widerspricht der Theorie eines Theaters, das sich der Energetik und nicht der Information verschreibt. Der nicht zu leugnende referentielle Wirklichkeitsbezug politischen Theaters lässt sich nicht mit der von Lehmann proklamierten Referenzlosigkeit der Zeichen in Einklang bringen.“ (Laudahn, 2012: 43f.) Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich diese Hypothese nur halten lässt, solange ein Verständnis von postdramatischem Theater zu Grunde gelegt wird, bei dem der Verzicht auf Kohärenz – nicht wie bei Lehmann (2011: 146) oder Poschmann (1997: 259-261) – als ein Element unter vielen, sondern als einziges Kriterium betrachtet wird. Dabei ist der Verfassering der vorliegenden Studie, wie in Kapitel 2.1.3 beschrieben, durchaus bewusst, dass bei der von ihr zu Grunde gelegten, engen Definition von politischem Theater ein Mindestmaß an Sinn zur Vermittlung politischer Botschaften enthalten bleiben muss. Wo genau dieses Mindestmaß liegt, sollten künftige Untersuchungen anhand extremer Formen des postdramatischen Theaters explorieren.

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politische Haltung vermitteln kann. Tatsächlich zeigt postdramatisches politisches Theater in Salvador da Bahia die zunehmenden internationalen Gestaltungsansprüche Brasiliens. Auch hier bietet sich ein Ansatzpunkt für weitere Forschung: Lassen sich diese Ansprüche – wie auf Basis der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zu vermuten ist – auch im postdramatischen politischen Theater anderer Schwellen- und/oder Industrieländer nachweisen? Zudem hat die vorliegende Arbeit im dramatischen politischen Theater in Salvador da Bahia verschiedene Bedeutungsebenen nachgewiesen. Auch hier würde sich eine weiterführende, systematische Untersuchung anbieten: Welche weiteren Bedeutungsebenen lassen sich in diesem oder anderen Kontexten identifizieren? Welche metatheatralen Diskussionen lassen sich im politischen Theater Deutschlands nachweisen? Und werden alternative Historiografien auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten, in denen mangelnde Aufarbeitung historischer Ereignisse vorliegt, politisch funktionalisiert? Als besonders umstrittene Ereignisse der jüngsten Geschichte scheint dabei insbesondere der Blick auf den theatralen Umgang mit der Aufarbeitung der Militärdiktatur in anderen lateinamerikanischen Ländern interessant. Die von der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Grenzen des dramatischen politischen Theaters ergeben sich insbesondere aus dem postkolonialen Kontext. Es wurde dargestellt, dass das Ziel des dramatischen politischen Theaters, eine Plattform für die Perspektiven, Gefühle und Meinungen der Marginalisierten zu schaffen, nur eingeschränkt erreicht werden kann: Durch sein Grundprinzip der Repräsentation ist das dramatische politische Theater ein Akt des „speaking for“ (Spivak, 1999: 28)8 – die marginalisierte Perspektive wird nicht von den Subalternen selbst, sondern vom Regisseur und von Schauspielern vermittelt.9 8 | Spivak unterscheidet zwischen Repräsentation als „darstellen“ und als „vertreten“ (Spivak, 1999: 29). Bahri (2004: 204) fasst Spivaks Antwort auf die Frage „Can the Subaltern Speak?“ zusammen: „Those ‚other‘ to the dominant discourse have no voice or say in their portrayal; they are consigned to be ‚spoken for‘ by those who command the authority and means to speak.“ Verstärkt wird das Phänomen des „historical silencing of the subaltern“ (Spivak, 1999: 35) im untersuchten Fall noch, indem sich das Theater an die Mittelschicht wendet – und somit den Marginalisierten abspricht, selbst ihr Schicksal verändern zu können. 9 | Eine Reproduktion der Marginalisierung durch das speaking for könnte z.B. durch einen Ansatz, wie er im postdramatischen Experten-Theater des Theaterkollektivs Rimini Protokoll vorgenommen wird, verhindert oder zumindest reduziert werden: „Sie setzen sich unmittelbar mit der Wirklichkeit auseinander, indem sie nicht nur dokumentarisches Material zur Grundlage ihrer Inszenierungen machen, sondern die Realität in Form von Experten, von nicht-professionellen Darstellerinnen und Darstellern, direkt in das Theater holen.“ (Dreysse, 2011: 134) Einen ähnlichen Weg gehen in Brasilien Theaterprojekte, in denen Marginalisierte selbst das komplette Produzen-

Schlussbetrachtungen

Auch haben die Analysen gezeigt, dass dramatisches politisches Theater in der Abbildung von Alterität eingeschränkt ist: Während sich kulturelle Alterität durch „anders codierte Weltbilder“ (Horatschek, 2008: 15) auszeichnet, setzt die dem dramatischen Theater zu Grunde liegende semiotische Bedeutungserzeugung voraus, dass der Zuschauer die dargestellten Zeichen verstehen, d.h. entschlüsseln, kann. Es bietet sich an, diese in den Analysen der vorliegenden Arbeit aufscheinenden Grenzen des dramatischen Theaters im postkolonialen Kontext in weiterführenden Studien systematisch zu untersuchen und auf diese Weise die postkoloniale Theatertheorie weiterzuentwickeln. Eine weitere Grenze des postdramatischen Theaters bei der Ermöglichung von Einfühlung hat sich in den Analysen zumindest angedeutet: Um diese zu erzeugen, setzen zwei der drei Aufführungen, die dem postdramatischen politischen Theater zugeordnet werden, dramatische Elemente ein. Postdramatisches Theater allein scheint damit oftmals nicht auszureichen, um die politische Wirkungsabsicht emotional zu vermitteln. Es bleibt die Aufgabe weiterer Studien, diese Annahme mithilfe eines größeren Korpus postdramatischer Theateraufführungen zu überprüfen.

Ausblick Zum Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation in ganz Brasilien im Vergleich zum Beginn des Untersuchungszeitraums in den 1990er-Jahren deutlich verbessert: Nach drei Legislaturperioden unter Herrschaft der PT gilt Brasilien heute als „Erfolgsmodell der Armutsreduzierung“ (Blanke/Quiroga, 2013: 19) und als „ruhige, stabile und liberale Demokratie“ (ebd.). Trotz dieser positiven Entwicklungen kam es im Umfeld der Copa das Confederações im Jahr 2013 sowie der Fußballweltmeisterschaft 2014 zu massiven Protesten insbesondere gegen „Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr, gegen den maroden Zustand des Gesundheits- und Bildungssystems, gegen die Korruption und die hohen Steuern und gegen die Megaprojekte“ (ebd.: 20). Die Demonstrationen richteten sich vor allem gegen Dilma Rousseff als amtierende Präsidentin und die Regierungspartei PT (vgl. tenkollektiv bilden. In São Paulo hat sich beispielsweise in der favela Monte Azul ein Theaterprojekt der Bewohner gebildet (vgl. Associação Comunitária de Monte Azul, 2015). In Rio de Janeiro setzt sich die Theatergruppe Nós do Morro, deren Mitglieder selbst aus den favelas stammen, mit sozialen Fragestellungen auseinander (vgl. Nós do Morro, 2015). Im Unterschied zu Rimini Protokoll, in dessen Inszenierungen Laien als „Experten für ihr eigenes Leben, für ihre eigene Alltagsrealität, von der sie auf der Bühne berichten“ (Dreysse, 2011: 134) wirken und so die Repräsentation vollständig aufbrechen, stellen die Mitglieder von Nós do Morro und der favela Monte Azul allerdings Figuren dar.

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ebd.). Das knappe Ergebnis, mit dem Rousseff im Oktober 2014 mit 51,64% gegenüber 48,36% des Kandidaten der PSDB, Aécio Neves, im zweiten Wahlgang für weitere vier Jahre als Präsidentin gewählt wurde (vgl. O Globo, 2014), ließ vermuten, dass die Proteste und Demonstrationen andauern würden. Tatsächlich setzten sich die landesweiten Proteste auch 2015 und zu Beginn des Jahres 2016 fort (vgl. O Globo, 2016). Von zahlreichen Wissenschaftlern werden diese zunächst allerdings positiv, als „Motor für Brasiliens Demokratie“ (Fraundorfer, 2013: 1) oder als „Zeichen und Resultat des demokratischen und sozialen Fortschritts“ (Blanke/Quiroga, 2013: 19) bewertet. Die nationalen Proteste und das Wahlergebnis spiegelten sich auch in Salvador da Bahia wider: Auch hier fanden in den Jahren 2013 und 2014 zahlreiche Massenproteste statt (vgl. Santana, 2013; Girardi/Belo, 2014), die sich bis heute fortsetzen (vgl. z.B. Brasil 247, 2015). Im Oktober 2014 wurde der Kandidat der PT, Rui Costa, ebenfalls nur mit knappen 52,4% zum Gouverneur Bahias gewählt (vgl. Gazeta do Povo, 2014). Es bleibt abzuwarten, wie sich die zunehmende Mobilisierung auf das politische Theater in Salvador da Bahia auswirkt: Mit Blick auf die 1960er-Jahre, in denen eine starke politische Mobilisierung mit einer großen Anzahl politischer Theateraufführungen korrelierte, wäre zu erwarten, dass sich das Theater künftig vermehrt mit den Protesten und ihren Inhalten auseinandersetzt. Auf Basis der vorliegenden Arbeit ließe sich, da die Demonstrationen einen innerbrasilianischen Fokus haben, zudem ein vermehrtes Auftreten des dramatischen politischen Theaters vermuten. Die brasilianische Uraufführung des Theatertextes A MULHER COMO CAMPO DE BATALHA des Rumänen Matéi Visniec am Teatro Vila Velha im Herbst 2014 weist allerdings darauf hin, dass auch der globale Gestaltungsanspruch im politischen Theater Salvador da Bahias erhalten bleibt: Er thematisiert die Situation der Frauen im Balkankrieg und wurde mit Elementen des postdramatischen politischen Theaters inszeniert (vgl. Alfredo, 2014).10 Daneben zeichnen sich in Salvador da Bahia in der jüngsten Zeit auch vollkommen neue Ansätze ab, das Theater zu einer Steigerung der politischen Partizipation zu nutzen. Bereits 1999 hatte Márcio Meirelles einen Wandel im politischen Theater gefordert, welcher die politische Wirkungsabsicht vom Zuschauer auf den Akteur verlagert: Eu sou de uma geração que […] acreditou que a arte poderia transformar o mundo. Hoje eu sei que não pode, mas ainda pode transformar as pessoas, principalmente quem faz. (Meirelles, zitiert nach Franco, 2010) 10 | Das Werk von Visniec basiert auf Interviews mit Frauen, die während des Balkankriegs Opfer von Gewalt wurden: „Montado pela primeira vez no Brasil, o espetáculo aproxima da realidade do país as discussões sobre as violências sexual, étnica e de gênero, a guerra, o poder, o imperialismo, entre outros temas levantados pelo texto.“ (Alfredo, 2014)

Schlussbetrachtungen

Nachdem er nach dem Ende seiner Tätigkeit als Kulturstaatssekretär 2013 wieder die Leitung des Teatro Vila Velhas übernommen hatte, wurde dort die Universidade Livre de Teatro Vila Velha gegründet (vgl. Teatro Vila Velha, 2014b). Gegen einen Beitrag von R$ 200 pro Monat sowie 20 Arbeitsstunden am Theater als „moeda social“ (vgl. Diga Bahia!, 2013) erhalten die Teilnehmer – unabhängig von ihrer vorherigen Ausbildung, ihrem Alter oder Schulabschluss11 – über drei Jahre eine Schauspielausbildung und Einblick in die verschiedenen Arbeitsfelder eines Theaters. Die Universidade Livre wird dabei in erster Linie als politisches Instrument, als „arte como ferramenta política de transformação“ (Seixas, 2014), verstanden: Indem die Beteiligten ihre Kreativität und Managementkompetenzen selbstständig entwickeln, sollen sie sich auch als Bürger weiterentwickeln (vgl. Teatro Vila Velha, 2014b). In den nächsten Jahren wird sich abzeichnen, ob sich die Universidade Livre de Teatro Vila Velha und damit, neben dramatischem und postdramatischen politischem Theater eine weitere Ausprägung des politischen Theaters in Salvador da Bahia, langfristig etablieren kann.

11 | Allerdings ist fraglich, ob das Ziel einer „Universität für jeden“ durch die Universidade Livre tatsächlich erreicht werden kann: So müssen sich die Teilnehmer, bevor sie fest aufgenommen werden, zunächst bei zwei Workshops bewerben und ihr künstlerisches Talent unter Beweis stellen (vgl. Teatro Vila Velha, 2014b). Auch ist davon auszugehen, dass die zeitlichen und monetären Aufwendungen für mögliche Teilnehmer aus den unteren sozialen Schichten schwer überwindbare Barrieren darstellen.

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6. Bibliografie

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7. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Dramatische Gesprächssituation | 138 Abbildung 2: Figuration: Negócio Torto | 138 Abbildung 3: Phantastische Elemente | 154 Abbildung 4: Ansprache der Zuschauer | 154 Abbildung 5: Peachum als Prediger  | 170 Abbildung 6: Brecht – Moderne – Brasilien | 170 Abbildung 7: Gesellschaftliche Debatte  | 179 Abbildung 8: Figuration – Wensley de Jesus | 179 Abbildung 9: Scheitern an der Realität | 197 Abbildung 10: Phantasie von Dom Quixote | 197 Abbildung 11: TodoMundo und QualquerUm | 208 Abbildung 12: Epische Brechung durch Lieder | 208 Abbildung 13: Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit | 220 Abbildung 14: Performative Elemente | 220 Abbildung 15: Bühnenbild: Küche und Müllkippe | 232 Abbildung 16: Figuration – Aparecida | 232 Abbildung 17: Performative Szene – Hochziehen des Containers | 252 Abbildung 18: Opposition von Zeichen: Peter | 252 Abbildung 19: Performative Szene: Wassertank | 264 Abbildung 20: Konflikt zwischen Text und Szene | 264 Abbildung 21: Vorleser: Schminke und Kostüm | 284 Abbildung 22: Zuschauerpartizipation: Süßigkeiten | 284 Abbildungen 17 und 18: Teatro Vila Velha, A Outra Companhia de Teatro. Alle weiteren Abbildungen: Screenshots von Stella Voutta unter Verwendung der jeweiligen im Literaturverzeichnis genannten DVD-Aufzeichnung.

Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2017, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Mai 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit Oktober 2016, ca. 600 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3603-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Katharina Rost Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance Oktober 2016, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3250-7

Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3520-1

Ingrid Hentschel Theater zwischen Ich und Welt Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Theorien – Praxis – Geschichte März 2016, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3382-5

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Theater Martin Jörg Schäfer Das Theater der Erziehung Goethes »pädagogische Provinz« und die Vorgeschichten der Theatralisierung von Bildung Oktober 2016, ca. 290 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3488-4

Teresa Kovacs Drama als Störung Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas September 2016, ca. 314 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3562-1

Nora Haakh Muslimisierte Körper auf der Bühne Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater September 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3007-7

Manfred Brauneck, ITI Zentrum Deutschland (Hg.) Das Freie Theater im Europa der Gegenwart Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik August 2016, ca. 640 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3242-2

David Fopp Menschlichkeit als ästhetische, pädagogische und politische Idee Philosophisch-praktische Untersuchungen zum »applied theatre« August 2016, ca. 418 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3580-5

Artur Pelka Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama Juli 2016, 228 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3484-6

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt ›JUMP & RUN‹ Februar 2016, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Annika Wehrle Passagenräume Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart 2015, 388 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3198-2

Karin Burk Kindertheater als Möglichkeitsraum Untersuchungen zu Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« 2015, 336 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3176-0

Miriam Dreysse Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3054-1

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