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German Pages 304 Year 2007
Table of contents :
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Politisches Denken in Deutschland nach 1945.
Erfahrungen und Umgang mit der Kontingenz inder unmittelbaren Nachkriegszeit
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung
Politisches Denken in der politischen Gesellschaft jenseits
der Politikwissenschaft
Kontext und Voraussetzungen politischen Denkens in Deutschland nach der Niederlage des
nationalsozialistischen Deutschen Reiches
Zur Vorgehensweise, Methode und Art der DarstellungDas
II. Politik der geistigen Umkehr und Erziehung
Alfred Weber: Politik als Erziehung zum freien Menschentum angesichts des Doppelgesichts der„transzendenten Hintergrundmächte“
Friedrich Meinecke: „Ritonar al segno!“ zu Abendland und Goethe
Karl Jaspers: Schuldbekenntnis als „geistig politisches Wagnis am Abgrund“
Felix Schottlaender: Die Katastrophe“ als geheimer Wunsch der Deutschen – und die zukünftige Rettung durch die Frauen
Eugen Kogon: Vom „Fiasko“ der Re-education Macht
III. Das Gemeinwesen neu begründen: Varianten des Föderalismus – auf jeden Fall antiborussisch
Vorbemerkung zur Föderalismusdiskussion in der Nachkriegszeit
Hans Peters: Integration des deutschen Volkes durch eine föderalistische Demokratie „sui generis“
Georg Laforet: Der Föderalismus als organisatorische Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips
Otto Feger: „Schwäbisch-Alemannische Demokratie“ – ein Staat nur für die Alemannen und Schwaben
IV. Gegen Kapitalismus und Kommunismus: „Dritte Wege“
Wilhelm Röpke: die Wettbewerbsordnung als Garant der Freiheit gegen Kollektivismus
Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal): Demokratischer Sozialismus in der Epoche der „hierarchischen Produktionsweise“
Walter Dirks: Die Entscheidung für einen europäischen Sozialismus aus christlicher Verantwortung
V. Die Sowjetunion als Vorbild
Vorbemerkung zum Verständnis marxistisch-leninistischer Politik und Taktik
Alexander Abusch: Der deutsche „Irrweg“ als Folge sozialdemokratischen Verrats
VI. Freiheit im Planstaat
Ernst Niekisch: Vom bürgerlichen Individuum zum „planvoll organisierten Ordnungszustand des Kollektivs“
Helmut Schelsky: Freiheit als „Summe aufbauender Kräfte“ einer „sozialen Planwirtschaft“
VII. Epilog: Nichtkontingente Demokratie
Personenregister
Quellen
Literatur
Sammlung Budrich - Texte zur Gesellschaft
Michael Th. Greven
Politisches Denken in Deutschland nach 1945 Erfahrungen und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Verlag Barbara Budrich Opladen & Farmington Hills 2007
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte vorbehalten. © 2007 Edmund Budrich. Beratung und Betreuung von Verlagsprojekten. In Lizenz bei: Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills www.budrich-verlag.de ISBN eISBN
978-386649-079-6 (Hardcover) 978-3-8474-1222-9 (PDF)
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal – www.disenjo.de Satz: Beate Glaubitz, Redaktion + Satz, Leverkusen Druck: paper & tinta, Warschau Printed in Europe
Inhalt
Vorwort ....................................................................................................................
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I.
Einleitung ......................................................................................................
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Politisches Denken in der politischen Gesellschaft jenseits der Politikwissenschaft .................................................................................................
9
Kontext und Voraussetzungen politischen Denkens in Deutschland nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches .......................
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Zur Vorgehensweise, Methode und Art der Darstellung .................................
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II. Politik der geistigen Umkehr und Erziehung ....................................
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Alfred Weber: Politik als Erziehung zum freien Menschentum angesichts des Doppelgesichts der „transzendenten Hintergrundmächte“ ......................
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Friedrich Meinecke: „Ritonar al segno!“ zu Abendland und Goethe .............
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Karl Jaspers: Schuldbekenntnis als „geistig politisches Wagnis am Abgrund“ .................................................................................................................
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Felix Schottlaender: Die „Katastrophe“ als geheimer Wunsch der Deutschen – und die zukünftige Rettung durch die Frauen ............................
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Eugen Kogon: Vom „Fiasko“ der Re-education ...............................................
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III. Das Gemeinwesen neu begründen: Varianten des Föderalismus – auf jeden Fall antiborussisch ............................................................... 103 Vorbemerkung zur Föderalismusdiskussion in der Nachkriegszeit ................ 103 Hans Peters: Integration des deutschen Volkes durch eine föderalistische Demokratie „sui generis“ ...................................................................................... 111
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Inhalt
Georg Laforet: Der Föderalismus als organisatorische Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips .............................................................................................. 135 Otto Feger: „Schwäbisch-Alemannische Demokratie“ – ein Staat nur für die Alemannen und Schwaben ............................................................................. 145 IV. Gegen Kapitalismus und Kollektivismus: Dritte Wege ................... 159 Wilhelm Röpke: Die Wettbewerbsordnung als Garant der Freiheit gegen Kollektivismus ......................................................................................................... 159 Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal): Demokratischer Sozialismus in der Epoche der „hierarchischen Produktionsweise“ ............................................... 178 Walther Dirks: Die Entscheidung für einen europäischen Sozialismus aus christlicher Verantwortung .................................................................................... 196 V.
Die Sowjetunion als Vorbild .................................................................... 211
Vorbemerkung zum Verständnis marxistisch-leninistischer Politik und Taktik ........................................................................................................................ 211 Alexander Abusch: Der deutsche „Irrweg“ als Folge sozialdemokratischen Verrats ...................................................................................................................... 222 VI. Freiheit im Planstaat .................................................................................... 237 Ernst Niekisch: Vom bürgerlichen Individuum zum „planvoll organisierten Ordnungszustand des Kollektivs“ ............................................... 237 Helmut Schelsky: Freiheit als „Summe aufbauender Kräfte“ einer „sozialen Planwirtschaft“ ........................................................................................................ 250 VII. Epilog: Nichkontingente Demokratie .................................................. 273 Personenregister ...................................................................................................... 287 Quellen ..................................................................................................................... 291 Literatur .................................................................................................................... 295
Vorwort
Geboren 1947 in Hamburg, mütterlicherseits als Flüchtlingskind, aufgewachsen noch mit frühkindlichen Erinnerungen an die Folgen und Spuren von Nationalsozialismus, Krieg und Vertreibung, hat mir die intensive Beschäftigung mit den Zeugnissen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit nach und nach ganz persönlich bewußt gemacht, wie unwahrscheinlich und unvorhersehbar sich in den sechzig Jahren seitdem alles in diesem Land entwickelt hat – und ich mit. Die meisten Autoren hatten unmittelbar nach 1945 zwar Wünsche, politische Auffassungen und moralische Urteile – aber verständlicherweise nur eine sehr unklare Vorstellung einer möglichen Zukunft; nach nicht selten anzutreffender Auffassung von damals rechnete man mit einer Besatzungszeit von „Jahrzehnten“ oder schloß gar die staatliche Eigenständigkeit Deutschlands in Zukunft aus. Angesichts der Zerstörungen von Infrastruktur und Industrie, der Trümmerlandschaften in den Städten und der gewaltigen Last von mehr als 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in den Besatzungszonen konnte ich keinen Autor finden, der damals auch nur vageste Vorstellungen von dem schnellen Wirtschaftserfolg und ausbrechenden Wohlstand – zumindest Westdeutschlands, relativ gesehen aber auch der DDR – erahnen ließ; verständlicherweise lag angesichts der Misere alles Pathos des Neubeginns im Bereich der Kultur und Moral. Die Selbstverständlichkeit mit der manche die seitherige „Entwicklung“ – und ihre Annehmlichkeiten – heute hinnehmen, kommt mit der Lektüre von Texten aus jenen Jahren schnell ins Wanken und verstärkte mein Lebensgefühl, daß wenn nicht alles, so doch manches auch ganz anders hätte kommen können. Es scheint mir deshalb angemessen, dieses Buch den zwei Frauen zu widmen, die 1945, nachdem Ehemann und Vater, Sohn und Bruder im Krieg gefallen oder verschollen waren, in Ustí nad Labem (Aussig) vertrieben wurden, zu Fuß, nur mit Rucksäcken und schrecklichen Erlebnissen im Gepäck, nach monatelanger Wanderung schließlich nach Hamburg kamen und damit für mich einen Anfang ermöglichten, mit dem so und dort vorher nicht zu rechnen war. Ida Philipp, geb. Walter (geb. 9. November 1900 – gest. 30. Dezember 1987) Erika Greven, geb. Philipp (geb. 27. Dezember 1924)
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Vorwort
Weil es mir in erster Linie darum ging, so intensiv wie möglich in die Gedankengänge der damaligen Zeit einzudringen, habe ich mich sehr eng an die untersuchten Texte gehalten und viel zitiert – wenn nicht anders angezeigt, dann stammen alle Hervorhebungen aus den Originaltexten. Auf Fußnoten habe ich ganz verzichtet und Sekundärliteratur nur im Text verwendet, soweit es mir zum Verständnis der behandelten Texte wichtig erschien. Sie war sowieso nur zu einigen Autoren vorhanden und ich hoffe, auch ohne Fußnoten bleibt die „Wissenschaftlichkeit“ gewahrt – für deren Liebhaber siehe zum Verhältnis beider Anthony Grafton (1998). Auffällig wurde mit zunehmender Einarbeitung, wie selektiv die durchaus reichliche Sekundärliteratur zu jenen Jahren sich auf die immer gleichen Autoren und Texte stützt, an die sie fast immer die gleichen – keineswegs unberechtigten – Fragen stellt und ein darüber einmal gewonnenes Urteil fortschreibt, das in den häufig zur methodischen Kennzeichnung verwendeten Begriffen wie „geisteswissenschaftlich-idealistisch“, „moralisierend“, „Besinnungsliteratur“ anklingt. Inhaltlich wurde wiederholt die allenfalls marginale Behandlung von Antisemitismus, der Ermordung des europäischen Judentums, generell eine „Entlastungstendenz“ durch Abspaltung der „schuldigen Nazis“ von dem bewahrenswerten deutschen Kulturgut festgestellt. Alle diese Antworten sind auch im Hinblick auf die hier behandelten Autoren mal mehr, mal weniger richtig. Aber die Konzentration auf diese Fragen hat damit geradezu einen ,inhaltlichen Kanon‘ dieser Zeit als Beginn der sogenannten Gedächtnisliteratur geschaffen. An ihm hat sich die Politikwissenschaft bisher nur sehr begrenzt beteiligt und interessiert gezeigt, und wenn ja, dann mit ähnlichen Fragen. Das Politikverständnis der zeitgenössischen Autoren stand bisher nirgendwo im Zentrum des Interesses. Ich hoffe, die bisherige Perspektive mit meinem Beitrag mindestens erweitert und dabei gelegentlich auch einige stereotype Urteile relativiert zu haben. Zu danken habe ich Veit Selk, der unermüdlich zwischen meinem Büro und den Bibliotheken hin und her pendelte (und auch auf Büchertischen zeitgenössische Broschüren auf eigene Kosten erwarb), ihm und Karina Korecky für Korrekturlesen, den Studierenden der Vorlesung vom Sommersemester 2005, die mich mit ihrer Neugier zur Niederschrift ermutigten, Edmund Budrich für die Aufnahme in seine neue Reihe, sowie immer noch und wiederum Helga Kuhlmann für Liebe und seelischen Beistand – wann immer nötig. Michael Th. Greven, September 2006
I. Einleitung
Politisches Denken in der politischen Gesellschaft jenseits der PolitikwissenschaftD Das politische Denken in Deutschland in Form auch theoretisch relevanter Veröffentlichungen setzt nach 1945 angesichts der dramatisch schlechten Lebensumstände erstaunlich früh und vielfältig wieder ein. „In diesen Jahren von 1945 bis 1949, als die Schrecken des Krieges noch Gegenwart waren und der Holocaust von einem bedrückenden Geheimnis zu einer schrecklichen Entdekkung wurde, war die Zukunft der Deutschen noch offen, und entsprechend grundsätzlich waren die damals geführten Debatten“ (Assmann 1999, 34), schreibt Aleida Assmann, die 1945 zugleich als den „blinde(n) Fleck der deutschen Erinnerungsgeschichte“ (Assmann 1999, 97) bezeichnet. Die Auflagen, die damals erzielt werden, können heute nur Erstaunen hervorrufen; wo Angaben vorhanden sind (siehe dazu Cobet 1985), beziehen sie sich zumeist nur auf die jeweilige Besatzungszone und liegen selten unter 5.000 Exemplaren, oft weit darüber; in einzelnen Fällen werden bis 1950 mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Dieses Publizieren wird zunächst dominiert von Autoren, die bereits in der Weimarer Republik einen Namen besaßen, der auf Resonanz rechnen durfte. Auffällig ist, daß sich unter den Autoren – sieht man einmal von den Schriften des Exils ab – mit den Ausnahmen Otto Heinrich von der Gablentz, Eugen Kogons und Dolf Sternbergers kaum Namen der späterhin ersten Fachvertreter der nach 1949 zögerlich an den Universitäten Westdeutschlands eingerichteten Politikwissenschaft finden. Dies politische Denken und Theoretisieren ist bisher weder in der nachfolgend gegründeten Politikwissenschaft noch in anderen Disziplinen ausführlicher im Zusammenhang und als solches untersucht und interpretiert worden. Das ist umso erstaunlicher, als es sich doch nach der absoluten Niederlage und dem durch die „bedingungslose Kapitulation“ geschaffenen politischen und völkerrechtlichen Zustand eigentlich gerade um eine genuin politische Situation mit der Chance zur politischen Neugestaltung handeln mußte, wie sie in der Geschichte nur selten vorgekommen ist. Die hier herangezogenen Schriften beweisen eindrucksvoll, manchmal gerade durch die im Nachhinein „utopisch“ anmutenden Vorschläge und Visionen, daß ihre Verfasser die extreme Kontingenz des historischen Augenblicks sehr wohl empfunden haben müssen. Die Begrenzung auf die Untersuchung „in Deutschland“ in dieser Untersuchung ist ebenso begründungsnotwendig wie die Verwendung des Begriffs „po-
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Einleitung
litisches Denken“. Für erstere sprechen sowohl wissenschaftliche wie pragmatische Gründe. Die erst in den letzten beiden Jahrzehnten in Gang gekommene politikwissenschaftliche Fachgeschichtsschreibung hat mit gutem Grund, zumeist aber ohne explizite Begründung, den Kontext des jeweiligen politischen Systems als Abgrenzungs- und Auswahlprinzip gewählt, so etwa Wilhelm Bleek in seiner „Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland“ (Bleek 2001). Mit einer solchen Begrenzung geht keineswegs die relativistische Auffassung einher, es gäbe so etwas wie eine spezifisch deutsche Art, die Wissenschaft von der Politik zu betreiben oder das politische Denken in Deutschland sei nach anderen Verfahren zu analysieren und zu beurteilen als das in anderen Ländern. Die auf Wissenschaftlichkeit und Theorie bezogenen allgemeinen Ansprüche bleiben vielmehr auch dann an einer transnationalen, wenn nicht universalistischen, so dann doch wenigstens kulturellen Entwicklung der westlich-neuzeitlichen Idee von intersubjektiver Wissenschaft orientiert, wenn in Rechnung gestellt wird, daß der jeweilige gesellschaftliche und politische Kontext der Politikwissenschaft, der Politischen Theorie und des politischen Denkens sich spezifisch auf deren Gehalte auswirkt. Politische Theorien und politisches Denken, sofern sie sich nicht explizit die allgemeinsten Phänomene und Begriffe zum Gegenstand wählen, vergleichend vorgehen oder von supra- oder transnationalen Problemen handeln, nehmen ihren Erfahrungs- und Ausgangspunkt stets von konkreten gesellschaftlichen und politischen Problemen und haben damit sowohl historisch wie regional einen spezifischen Ausgangspunkt. Das war bei Hobbes „Leviathan“ nicht anders als bei Montesquieus „L’esprit de lois“. Nichts anderes konnte gemeint sein, als der gewiß unverdächtige Karl Loewenstein auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit der etablierten „political science“ an USamerikanischen Universitäten auf der ersten Konferenz zur Begründung einer eigenständigen akademischen Disziplin von der Politik in Westdeutschland 1949 in Waldleiningen feststellte: „Die meisten Lehrbücher sind vom amerikanischen Zentrum aus geschrieben. Jedes Land muß aber seine Politische Wissenschaft nach seinen eigenen ethnologischen Gegebenheiten und historischen Traditionen entwickeln“ (zit. nach Mohr 1988, 100). Umso mehr steht zu erwarten, daß das nicht akademisch disziplinierte politische Denken durch die besondere Situation und die historischen Umstände des Kontextes geprägt wird und auf diese zu reagieren versucht. Eine weit pragmatischere Begründung kann man freilich darin sehen, daß das für die Entwicklung der Politikwissenschaft in Westdeutschland hernach maßgeblich werdende Werk der deutschen Exilautoren bereits ungleich besser erforscht und dokumentiert ist, als jene gar nicht so raren Versuche innerhalb Deutschlands, von denen hier späterhin die Rede sein wird. Das liegt einerseits an dem eigenständigen Forschungsansatz und Erkenntnisinteresse der in den vergangenen Jahrzehnten sich herausbildenden interdisziplinären Exilforschung, in der die Beschäftigung mit deutschen Wissenschaftlern eine herausragende Rolle spielt, und andererseits an dem disziplinorientierten Ansatz der bisherigen
Politisches Denken in der politischen Gesellschaft jenseits der Politikwissenschaft
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Wissenschaftsgeschichtsschreibung, nach deren Prämissen es eine Geschichte der Politikwissenschaft erst nach deren institutioneller (Wieder-)Begründung durch die Einrichtung der ersten Lehrstühle in einzelnen Bundesländern nach 1948 geben kann. Damit fallen aber alle Werke und Publikationen durch das Raster, für die hier der offenere Begriff des „Politischen Denkens“ – im Sinne des auch in akademischen Zusammenhängen in der englischsprachigen Welt geläufigen „Political Thoughts“ – gewählt wurde. Die öffentliche politische Kommunikation einer Gesellschaft ist aber nicht auf die Existenz einer bestimmten akademischen Disziplin angewiesen; sie findet, wo immer Publikationswesen und Struktur der Öffentlichkeiten dies zulassen, sowieso statt. Hier folge ich Henning Ottmann, der im Vorwort zu seiner bereits vor dem Abschluß bewundernswerten „Geschichte des politischen Denkens“ von den frühen Griechen bis zur Gegenwart schreibt: „Aber das Nachdenken über Politik ist weder die Sache nur einer Disziplin, noch ist es auf die Wissenschaft beschränkt. Nachdenken über Politik kann jeder“ (Ottmann 2001, V). Mit Blick auf die Rolle und Bedeutung der inzwischen wohletablierten Politikwissenschaft in Deutschland möchte man hinzufügen: nicht immer gewährleistet ihr institutioneller Ausbau an den Universitäten auch schon ihren relevanten Beitrag zum politischen Denken der entsprechenden Gesellschaft, schon gar nicht kann sie einen exklusiven Anspruch auch nur unter den anderen politisch relevanten Disziplinen erfolgreich reklamieren. So waren es nach 1945 wie heute eben auch Historiker, Philosophen, Juristen, Ökonomen und andere (Autorinnen traten nur in sehr seltenen Fällen in Erscheinung – wo es sachangemessen ist, benutze ich i.Ü. beide oder geschlechtsneutrale Ausdrücke), die gewichtige Beiträge zur Analyse und zum Verständnis der damals gegenwärtigen politischen Probleme veröffentlichten. Nicht immer war ihr vordringliches Ziel auf wissenschaftliche Kommunikation gerichtet und gelegentlich verschwimmen die Grenzen zur rein politisch-programmatischen Veröffentlichung. Eine Grenzziehung kann auch hier nur pragmatisch vollzogen werden, etwa, indem die wiederum bereits gut erforschten und dokumentierten unmittelbar politischen Beiträge zur Wiederbegründung des Parteiensystems, die verschiedenen Programmentwürfe und Resolutionen oder die ebenfalls gut erforschte Debatte zur Entstehung des Grundgesetzes und der Länder ausgeklammert bleiben. Übrig bleibt eine bisher nicht mit der Fragestellung nach dem spezifischen Politikverständnis im Zusammenhang erforschte und dargestellte politische Literatur überwiegend akademischen und allgemeinbildenden Charakters, deren Darstellung und Interpretation Aufschluß eben über das sich wieder entfaltende politische Denken im post-nationalsozialistischen Deutschland geben kann. Wenige der dabei herangezogenen Texte und Autoren sind bisher gänzlich unbeachtet geblieben. Vor allem die Geschichtswissenschaft hat in zahlreichen Aufsätzen und Werken sich mit den Schriften ihrer maßgeblichen Vertreter auch in der Zeit unmittelbar nach 1945 beschäftigt. Hans-Peter Schwarz hat vor
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Einleitung
vier Jahrzehnten in seiner breiten und quellengesättigten Habilitationsschrift „Vom Reich zur Bundesrepublik“ auch manche der hier intensiver analysierten Schriften überblickshaft skizziert – aber sein Interesse war doch wesentlich auf ihre politik- und zeitgeschichtliche Einordnung gerichtet und dabei nicht an den politiktheoretischen Fragen interessiert; wie er selbst schreibt, ging es ihm um die Frage, welche „Denkfiguren und Motive die außenpolitische Neuorientierung der Deutschen bewirkt haben“ (Schwarz 1966, XXXII); im Einzelnen, etwa bei der kontroversen Beurteilung Wilhelm Röpkes, werde ich mich mit seinen Urteilen auseinandersetzen. Es standen also bisher verständlicherweise andere Fragen und Erkenntnisinteressen im Zentrum als hier, wo es um die Analyse und Interpretation des politischen Denkens als Denken des Politischen geht. Auch in Texten, die sich selbst nicht explizit als Beiträge zur politischen Theorie verstehen, läßt sich nach deren mehr oder weniger immanentem theoretischen Gehalt fragen, läßt sich dieser rekonstruieren und mit anderem vergleichen. Dabei muß, wer nach dem politischen Denken interpretierend sucht, eine gewisse Vorstellung davon mitbringen, was er zu finden hofft. Diese Vorstellung vom Gehalt des Politischen darf nicht zu eng sein, weil das Ergebnis der Suche sonst nur in der Bestätigung eines bereits vorausgesetzten Begriffes von Politik und dem Politischen liegen kann. Andererseits könnte eine völlig voraussetzungslose Suche sich nur auf die explizite Thematisierung von „Politik“ in den Texten beziehen. Auch hier ist ein pragmatisch-sensibles hermeneutisches Vorgehen angezeigt und versucht worden. Als Kerngehalt des Politischen gilt der gesamte Prozeß verbindlichen Entscheidens über die als regelungsbedürftig betrachteten Angelegenheiten in Gesellschaften. Gerade die gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, was im Konkreten verbindlich und allgemeingültig zu regeln ist, gehört schon generell in das Zentrum politischen Denkens – und die Geschichte des politischen Denkens zeigt hier ein weites Spektrum zwischen Inklusion und Exklusion, also weitgehender Politisierung oder politischer Selbstbegrenzung auf. Synchron und diachron lassen sich Gesellschaften und ihre politischen Regime nach dem Grad der Inklusion in den Prozeß verbindlicher politischer Regelung und Entscheidung vergleichen. Daß unter dem unmittelbaren Eindruck der totalitären Erfahrung nach 1945 gerade diese Fragen nach der Reichweite politischer Regulierung, etwa der Wirtschaft, der Erziehung und Bildung, elementar und zentral diskutiert werden, steht zu erwarten – und findet sich in den untersuchten Texten auch bestätigt. Diese allgemeinen Fragen nach der Rolle der Politik schließen freilich bei der Suche im weiten Bedeutungfeld des Politischen besondere Schwerpunkte und Erkenntnisinteressen nicht aus. Diese sind in meinem Verständnis der modernen Gegenwartsgesellschaften als „politische Gesellschaften“ (Greven 1999) begründet. In diesen modernen Gesellschaften ist entgegen dem populären Blick die Rolle und Bedeutung der Politik im Vergleich zu allen früheren Gesellschaften potentiell überragend geworden. Dieser herrschende Blick ist am
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Beginn des 21. Jahrhunderts durch die Dominanz des „Neoliberalismus“ geprägt – und zwar sowohl bei jenen, die sich auf ihn positiv und affirmativ wie bei jenen, die sich auf ihn negativ und kritisch beziehen. Dieses von Verfechtern wie Kritikern des dominanten kapitalistischen Marktdenkens gemeinsam, wenn auch kontrovers, erzeugte momentane Gegenwartsbewußtsein verstellt in eigenartiger Weise den Blick darauf, was doch die Prämisse und Voraussetzung des politischen wie wissenschaftlichen Streits über den sogenannten Neoliberalismus darstellt: daß es nämlich politisch darum geht, wie mit der solchermaßen wahrgenommenen ,Realität‘ praktisch umzugehen sei. Beide Seiten unterstellen also – wenn auch in unterschiedlichem Maße – politische Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Das gilt gerade auch für diejenigen, die ,neoliberal‘ denkend den potentiellen politischen Eingriff für schädlich erachten und die Märkte am liebsten ungestört ihre Funktionen verrichten lassen wollen. Ganz abgesehen davon, daß auch sie zumeist die marktkonstituierenden wie marktschützenden Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Politik anerkennen, beteiligen sie sich mit Verve an der Auseinandersetzung, weil sie das Potential zur politischen Intervention als gegeben ansehen und für wirksam halten. Wie könnten sie es auch verkennen? Im Zwanzigsten Jahrhundert konnte man doch mehr als einmal erleben, wie kraft politischer Entscheidungen ganze ökonomische und soziale Systeme rigide umgestaltet, wie Gesellschaften für neuartige Kriege „total“ mobilisiert, wie die Wissenschaften, Künste und Kultur von Gesellschaften politisch in den Dienst genommen wurden – und wie es dagegen keine anderen „aufhaltenden“ Mächte als eben wiederum politische gab. In Gesellschaften dieses Typs kann prinzipiell alles, vom Eltern-KindVerhältnis über den Reinheitsgrad des Bieres bis zur Definition von Lebensbeginn und Lebensende politisiert, das heißt, zu einem öffentlichen Problem gemacht werden, das dann allein noch durch verbindliche Entscheidung gelöst oder zumindest verbindlich geregelt werden kann. Dabei bleibt es dem politischen Prozeß vorbehalten, die Entscheidung an das Recht oder die Wissenschaft oder andere Instanzen zu delegieren und sich selbst dem Recht zu unterwerfen. Gerade die freiheitliche Variante der politischen Gesellschaften, wie wir sie in den vielfachen Gestalten und Ausprägungen des modernen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates kennen, beruht auf solchen politisch beschlossenen Selbstbegrenzungen des politischen Prozesses. Grundrechte oder Menschenrechte etwa erscheinen in dieser Perspektive als das Ergebnis politischer Entscheidungen, in Zukunft in bestimmten Hinsichten – eben den individuell gewährleisteten Grundrechten – keine in die Belange der Individuen eingreifenden Entscheidungen zu treffen oder zuzulassen. Solche Rechte können am Ende allein politisch erfolgreich gewährleistet werden; ohne die dahinter stehende Mobilisierungs- und Durchsetzungsmacht konkreter politischer Mächte bleibt das Recht hilflos und nur postulativ. Dabei ist unter diesen das Recht gewährleistenden realen Mächten „der Staat ... oft nur eine Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen“ (M. Weber 1968,
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Einleitung
211) und in der praktischen Durchsetzung oder Verteidigung von Rechtspositionen sind es konkrete Akteure und Organisationen, die die entscheidende Rolle spielen. Weil dieser politische Prozeß in politischen Gesellschaften aber in seiner Entscheidungsmöglichkeit und -macht nur sich selbst begrenzen, da er nur selbst die Maßstäbe setzen und hervorbringen kann, die als positives Recht auch auf ihn zurückwirken und weil er dabei die Vielfalt und Pluralität der Auffassungen, Werte und Interessen berücksichtigen muß, die alle aus der Sicht der Individuen zunächst den gleichen Anspruch auf Gültigkeit beanspruchen, entsteht gegen Ende des 18. Jahrhunderts das in der Geschichte neuartige Problem der Kontingenz des Politischen, in dem sich das Immanenzdenken der Aufklärung niedergeschlagen hat. „Kontingenz“ bedeutet, wenn es um den Bereich menschlichen Entscheidens und Handelns geht, also gesellschaftstheoretisch und politisch gesprochen, nicht, daß alles möglich wäre, sondern nur, daß alles auch anders sein könnte, weil es keinen „notwendigen“ Grund seiner Existenz gibt (Bubner 1984, 35). „Kontingent“ ist also alles, was zugleich nicht notwendig aber möglich ist; Kontingenz bezeichnet damit mehr als jeder andere Modus den sozialontonlogischen Status des Politischen. Die am Ende des 19. Jahrhundert populäre und Bismarck zugeschriebene Formel von der „Politik als Kunst des Möglichen“, traf dabei dieses moderne Kontingenzbewußtsein metaphorisch schon sehr genau. Alles, was das Ergebnis früheren Entscheidens und Handelns ist, damit aber die historische Gestalt der Gesellschaft insgesamt und ihre politische Dimension im Besonderen, könnte also anders sein als es gegenwärtig ist. Einmal zum Bewußtsein gekommen, zersetzt die Erkennntis der Kontingenz nicht nur die Selbstverständlichkeit der jeweiligen Gegenwart, sondern sogar die bereits stattgefundene Vergangenheit beginnt im Lichte nicht realisierter Möglichkeiten und verpaßter Gelegenheiten ihre scheinbar feststehenden Konturen zu verlieren – die Geburt des Historismus. Wo in Vergangenheit und Gegenwart neben die realisierte Wirklichkeit die Möglichkeit als ebenfalls sozialontologische Kategorie tritt, da wird aber erst recht die Zukunft sozialontologisch zum Feld der Wahlen und Entscheidungen. Daß heißt: ob es in Zukunft so weiter geht wie bisher, gewissermaßen die Fortgeltung der Gegenwart für die kommende Zeit, ist nicht einfach schon die notwendige Folge der momentanen Beschaffenheit von Gesellschaft und Politik. Gewiß gibt es so etwas wie die Präponderanz von Status Quo und Routinen, gewiß auch, was die Politikwissenschaft als „Pfadabhängigkeit“ thematisiert, aber prinzipiell und tatsächlich existieren Gesellschaften nur als relativ stabile Handlungszusammenhänge, in denen Veränderungen wiederum nur durch Handlungen zustande kommen können. „Modern“ an diesen sozialontologischen Aussagen ist, daß mit dem historischen Bewußtsein der Aufklärung diese Kontingenz bewußt wird, daß Kontingenzbewußtsein also seitdem reflexiv Entscheiden und Handeln begleitet. Darin finden nicht nur „Kritik und Krise“ (Koselleck 1979), sondern auch viele ande-
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re die Moderne begleitende Phänomene, von „Revolution“ über „Angst“ bis zum „Risiko“, ihre eigentliche gesellschaftliche Grundlage. Bereits Max Weber hatte Anfang des letzten Jahrhunderts eine Wissenschaftstheorie für die Sozialwissenschaften entwickelt, die nicht nur vom stets ,konstruierten‘ Charakter der Erfahrungstatsachen ausging, sondern – in der Auseinandersetzung mit dem Historiker Eduard Meyer – auch „Möglichkeitsurteile“ als notwendige Bestandteile jeder „historischen Darstellung“ nachwies (M. Weber 1968, 275). Wie oben bereits einmal festgestellt, sind aber auch diese „Möglichkeiten“ historisch jeweils nicht beliebig, denn „jede Gesellschaft, so könnte man in Abwandlung eines wissenssoziologischen Basistheorems sagen, hat ihren spezifischen Möglichkeitshorizont“ (Makropoulos 1997, 17) – anders gesagt: auch die gesellschaftliche und politische Phantasie ist historisch in ihrem möglichen ,Material‘ begrenzt; nicht alles ist zu jeder historischen Zeit denkmöglich, nicht alles Denkmögliche ist realisierbar. Aus dem jeweils Denkmöglichen aber Unrealisierbaren einer historischen Gesellschaft formen sich ihre „Utopien“; auch die sind späterhin manchmal historisch ein- und überholbar. Auf diesen verschiedenen sozialontologischen Ebenen, dem jeweiligen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewußtsein formt sich das gesellschaftliche Bewußtsein einer konkreten Gesellschaft zu bestimmten Zeitpunkten und bestimmt damit ihren Wirklichkeits- wie Möglichkeitsraum, in dem politische Entscheidungen und Handlungen allein stattfinden können. Das war auch nach 1945 in Deutschland so und muß bei der Analyse der herangezogenen Quellen hermeneutisch berücksichtigt werden. Hinzu tritt nun noch die komplexe, differenzierte und pluralistische Gesellschaftsstruktur der Moderne, auf deren Hintergrund sich die lebensweltliche Vielfalt der Milieus und letztlich individuellen Bewußtseine ausbildet, die jeden Konsens nichttrivaler Art unwahrscheinlich macht. Mehr als zu jeder bisher bekannten historischen Zeit muß in der Moderne politisch unter Kontroversverhältnissen entschieden und gehandelt werden und die gerade in der Politikwissenschaft und politischen Philosophie der Gegenwart anzutreffende normative Präferenz für konsensgestützte Politik erscheint auf diesem Hintergrund nicht selten als wirklichkeitsfremd und eskapistisch. Jenseits dieses Wirklichkeits- und Möglichkeitsraumes des politischen Entscheidens gibt es keine allgemein anerkannte Berufungsinstanz, die universell gültige und anerkannte Kriterien bereit hielte. Jedes wissenschaftliche, philosophische oder theologische Argument wird in den politischen Gesellschaften unserer Tage in den Strudel des prinzipiell unentscheidbaren Pluralismus hineingezogen. „Unentscheidbar“ meint hier, daß neben und außerhalb der Politik keine allgemein anerkannten Gründe, Kriterien oder Verfahren zur Verfügung stehen, die den empirisch anzutreffenden Pluralismus der Präferenzen und Interessen in einer bestimmten Frage in der Sache überwinden helfen könnten. In diesem Sinne bedeutet „unentscheidbar“ paradoxerweise genau das Gegenteil, nämlich, daß zur Herbeiführung von Geltung einer Regelung irgendwie von irgendwem
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Einleitung
dazu Berufenem entschieden werden muß. Auch die Behauptung der Universalität der Geltung – etwa der Menschenrechte – ist heute nicht nur das Ergebnis früherer politische Entscheidungen, sondern auch in Zukunft allein politisch zu garantieren. Ob dazu freilich Krieg und Gewalt nachhaltige Mittel sind, darf man angesichts der jüngsten Erfahrungen mit einer sich auf die Garantie der Menschenrechte berufenden Interventionspolitik bezweifeln. Vielleicht hatte der aus dem schweizer Exil zurückgekehrte, nach 1946 langjährige stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, Erich Friedlaender mit seinem 1947 veröffentlichten strikt theoretischen Versuch über „Das Wesen des Friedens“ doch recht, wenn er gegen allzu optimistische Szenarios eines „Aufbruch(s) zum Weltbundesstaat“ (Wilbrandt 1947) theoretisch begründet Zweifel an der Friedensfähigkeit eines Völkerrechts anmeldete: „Die Erkenntnis, daß es eine Völkergerechtigkeit nur in einer Völkergemeinschaft geben kann, führt das Wünschen und das Denken in die Versuchung, eine universale Völkergemeinschaft, die Völkergemeinschaft anzustreben, um nur ja des Friedens und der Gerechtigkeit im weitest möglichen Rahmen habhaft zu werden. Das aber ist ein Illusionswünschen und ein Illusionsdenken“, das an der „Individualität“, das heißt kulturellen Verschiedenheit der „Kulturkreise“ scheitern müsse (Friedlaender 1947, 195f). Außerdem setze der erwünschte internationale Frieden zwischen den Völkern unbedingt deren innere Autonomie, Gerechtigkeit und demokratische „Repräsentanz“ voraus (Friedlaender 1947, 92) – wovon die Welt bekanntlich bis heute weit entfernt ist. Im politischen Prozeß gibt es in den politischen Gesellschaften unserer Tage bis heute keine automatische Geltung universalistischer Normen, sondern immer Instanzen, Institutionen, Ämter und Personen, die über die Bedingungen und den Inhalt von Normgeltung entscheiden und die für ihre Entscheidungen Verbindlichkeit reklamieren können – und die zum Teil auch über die Mittel verfügen, ihren Entscheidungen Nachdruck zu verleihen. Mögen die einzelnen Individuen denken und glauben, was sie wollen – wenn sie Glück haben, leben sie in der eher freiheitlichen Variante politischer Gesellschaften. Dann müssen sie nur ertragen, daß auch ihre aus letzter Glaubensüberzeugung für wahr und gültig gehaltenen Vorstellungen sich gegebenenfalls an den Grenzen des positiven Rechts brechen – ihnen wird die kontingente Konstitution der modernen Gesellschaft und das positive Recht dann zurecht als relativistisch erscheinen müssen. Umgekehrt gibt es für diejenigen, die sich an der individuellen Freiheit aus der Selbstbegrenzung des politischen Prozesses momentan erfreuen, stets die Bedrohung, daß sich die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung des politischen Prozesses mehrheitlich gerade gegen ihren Glauben und ihre Bedürfnisse richtet: plötzlich dürfen sie nicht mehr arbeiten, lesen und sagen was sie wollen, ein Kopftuch bei der Arbeit tragen, nicht ihr Land verlassen oder ein anderes betreten – und wie alle aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts wissen, kann es noch wesentlich schlimmer kommen. Auch sie sollten sich also der Kontingenz der sie im Moment zufriedenstellenden Verhältnisse
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bewußt bleiben und gegebenenfalls sich praktisch für ihre Beibehaltung engagieren. Es mag auf den ersten Blick beruhigend wirken, daß auf diesem kontingenten Grund der modernen politischen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits an so vielen Orten der Welt sich relativ freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaften gegründet haben und daß sie sich untereinander zu stützen scheinen, aber es wäre fahrlässig und unhistorisch, daraus auf eine allgemeine teleologische Geschichts- oder Modernisierungstendenz zu schließen, nach der die Entwicklung zur freiheitlichen Demokratie für alle Zukunft alternativlos wäre. Auch nach 1945 erwies sich diese Erwartung in Ostdeutschland und darüber hinaus in Teilen Mittel- und Osteuropas für mehr als eine Generation als trügerische Hoffnung. So sehr die moderne Kontingenz die Entwicklung individueller Rechte und Freiheiten begünstigen mag, ja gerade wiederum durch deren Praktizierung und Anerkennung auch mit konstituiert wird, so prekär sind angesichts der ungeheuren Potentiale und Möglichkeiten, die heutigen politischen Gesellschaften im Vergleich zu allen früheren Gesellschaftszuständen im Guten wie im Schlechten zur Verfügung stehen, auch die Sicherungen gegen neue totalitäre Versuche. Auf diesem hier in aller Kürze angedeuteten gesellschaftstheoretischen Hintergrund gewinnen bei der Analyse und Reflexion politischen Denkens bestimmte Fragen eine besondere Bedeutung: wie steht es um die Wahrnehmung und den Umgang mit der Kontingenz moderner Politik? Was galt in der Vergangenheit, was gilt in der Zukunft – für den Einzelnen wie für die Gesamtheit – als politisch entscheidbar? Verständlich, daß gerade der erste Teil der Frage bei der Reflexion der nationalsozialistischen Machtergreifung und Herrschaftsausübung, bei der Frage nach Widerstand, Schuld, Verantwortung und Haftung eine große Rolle spielt. War die jüngste Geschichte zwangsläufig das Ergebnis früherer Entwicklungen, hätte es anders kommen können, trägt jemand Verantwortung – das sind die aktuellen politischen Fragen, die das politische Denken nach 1945 bewegen. Aber natürlich auch: wie kann in Zukunft solches verhindert werden und welche Rolle können bewußte politische Entscheidungen dabei spielen? Welche Institutionen werden entworfen, welchen ideellen und normativen Gehalt soll die Politik zukünftig mit welcher Legitimität zugrundelegen, welche Wirtschafts- und Sozialordnung entspräche den politisch gesetzten Zielen? – schon Überlegungen dieser Art beweisen, daß man sie für politisch entscheidbar und gestaltbar hält, aber seltener, daß man sich des eigenen Kontingenzdenkens reflexiv bewußt wird. Viele der beispielhaft herangezogenen und interpretierten Texte sehen die totale Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches als eine allgemeine Zeitenwende oder Epochenschwelle an, die weit über die spezifisch deutsche Situation hinausreicht. Aber verständlicherweise steht doch zunächst die durch die „bedingungslose Kapitulation“ geschaffene Situation des besetzten Territoriums im Vorder-
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grund, für die sich schnell der Topos von der „Stunde Null“ einbürgerte. Handelte es sich bei der vollständigen Besetzung und der Übernahme der souveränen Regierungsgewalt durch die Oberkommandierenden der Alliierten nur um eine debellatio, um eine occupatio bellica, oder gar um eine endgültige Annexion, diese Fragen erörterte der spätere Marburger Professor der Politischen Wissenschaft und habilitierte Völkerrechtler Wolfgang Abendroth 1947 mit dem Ergebnis: „Die bedingungslose Kapitulation vom 8. 5. 1945 hat eine Situation geschaffen, die in der Rechtsgeschichte keine volle Parallele kennt und als casus sui generis angesehen werden muß“ (Abendroth 2006a, 472) und beantwortet sie mit der Formel „von der völkerrechtlichen Diskontinuität bei staatsrechtlicher Kontinuität“ (Abendroth 2006b, 534). Existiert Deutschland, das 1871 durch Bismarcks Politik geschaffene Deutsche Reich, als eigenständiges Völkerrechtssubjekt überhaupt noch, soll es nach einer Übergangsphase der Besatzung weiter- oder wiederentstehen oder in verschiedene Einzelstaaten zergliedert werden? Diese Fragen waren selbst bei den Allierten auf ihren Konferenzen bis zum Potsdamer Treffen weitgehend offen geblieben, wie Peter Graf Kielmansegg in seiner „Geschichte des geteilten Deutschland“ mit dem Titel „Nach der Katastrophe“ überzeugend darstellt (Kielmansegg 2000, 16ff) – und auch das Abschlußdokument der Potsdamer Konferenz hatte um der notwendigen und schon schwierigen Kompromisse Willen manches, wie etwa die Endgültigkeit der polnischen Westgrenze, offen oder undeutlich gelassen. „Ob das Deutsche Reich auch rechtlich untergegangen war, blieb umstritten“ (Eschenburg 1983, 23) – deutsche Handelsschiffe führten nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 39 anstatt einer Nationalflagge den Buchstaben „C“ (blau-weiß-rot-weiß-blau) mit gezackter Kante am Heck und ihnen gebührte daher der in der „Christlichen Seefahrt“ international übliche Gruß durch „dippen“ der Flagge in der Vorbeifahrt nicht (Eschenburg 1983, 21). Wie sollten es bei diesen Unsicherheiten die häufig von nahezu aller aktuellen Information oder gar den Quellen ausgeschlossenen deutschen Autoren 1945-46 besser wissen? Machtpolitisch „Antwort auf diese Fragen zu geben, war zuerst und vor allem Sache der Sieger“; selbst ob Deutschland „als Staat unter Staaten fortbestehen würde und wie (es) fortbestehen würde, lag ganz in ihrer Hand“ (Kielmansegg 2000, 8). Aus zeitgenösssischer Perspektive schreibt der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss in seinen Aufzeichnungen Ende Mai 1945 über die „fast vollkommene Ungewißheit über die Gestaltung des staatlichen volkhaften Lebens, der Grenzzuständigkeiten, Fremd- und Eigenverwaltung“ (Heuss 1966a, 79). Zwei Jahre später, also nach Ablauf des Zeitraumes, in der die nachfolgend im Einzelnen analysierten Texte fast alle entstanden, hat sich die Situation grundlegend noch keinesfalls geändert – die Kontingenzerfahrung dauert an. In einem Memorandum für seinen 1933 emigrierten Freund Gustav Stolper, der an seinem Buch „German Realities“ (Stolper 1948) arbeitet, schreibt Heuss nunmehr: „Die öffentliche Erörterung der Möglichkeiten einer gesamtdeutschen Verfassung kommt nur mühsam in Fluß“
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(Heuss 1966b, 111) und führt das auf die anhaltende Besatzungsherrschaft zurück: „Die Pflicht der Deutschen, ihre Wunschvorstellungen zu klären und sie, wenigstens geistig, auf die machtpolitische Gesamtlage abzustimmen, bleibt von dieser aktuellen Schwierigkeit – einer sehr lange dauernden Aktualität – unberührt. Da gibt es einige Wirrung. Die Deutschen werden von den Besatzungsmächten angepredigt (am wenigsten von den Franzosen), sich der demokratischen Freiheiten und Verantwortungen zu bedienen. Aber die Deutschen haben gemerkt, daß ,Demokratie‘ in den verschiedenen Sprachen (und Zonen) verschiedene geistige Inhalte und eine wechselreiche ,Formenwelt‘ umschließt. Besatzungsherrschaft und Demokratie sind Widersprüche in sich ...“ (Heuss 1966b, 113). Auch Wolfgang Abendroth betont trotz der seiner Auffassung nach erloschenen völkerrechtlichen Souveränität angesichts der „kondominalen Verwaltung Deutschlands“, die Verpflichtung der Siegermächte nicht nur auf Einhaltung der Menschenrechte, sondern auch darauf, „die Neubegründung eigenständiger Staatsgewalt durch das deutsche Volk zu dulden und zu fördern“ (Abendroth 2006c, 539). Eine solche Situation, in der der Verlierer eines Krieges so vollständig am Boden lag, daß er als Subjekt oder Gegenüber eines Friedensschlusses nicht mehr in Frage kam und sein gesamtes Territorium unter die direkte Herrschaft einer Kriegskoalitation von Siegern geriet, die in ihren Interessen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen derart differierten, hatte es selbst in der an grausamen Kriegen nicht gerade armen Geschichte Europas noch nie gegeben. Selbst die Sieger schienen zeitweise überfordert mit der Situation und der ihnen dadurch zugewachsenen Regierungsgewalt und Verantwortung. Sollten etwa die Amerikaner dauerhaft und direkt die Regierungsgewalt in einem Teil Westeuropas ausüben? Jedenfalls waren gerade die US-amerikanischen Besatzungstruppen auf ihre Aufgabe trotz vieler offener Fragen gerade im Grundsätzlichen – etwa der endgültigen Grenzen des zukünftigen Deutschland – keineswegs unvorbereitet, wie jüngst Uta Gerhardt in einer bemerkenswerten Studie über die Konzeption ihrer Besatzungspolitik umfangreich dokumentiert und soziologisch analysiert hat. Darin versucht sie – allerdings beschränkt auf den US-amerikanischen Fall – nachzuweisen, daß die „Transformation zur Demokratie“ Westdeutschlands wesentlich auf die intendierte und „systematische Politik“ der – US-amerikanischen – Besatzungsmacht zurückgeht (Gerhardt 2005, 47), die „unbeirrt die Demokratisierung der Gesellschaft Deutschlands bezweckte“ (Gerhardt 2005, 16) und sich dafür einer langjährig vorbereiteten, ausgefeilten und nach zahlreichen policy-Domänen detaillierten Transformationsstrategie bediente, die in der Form umfangreicher „Handbooks for Military Government“ jedem Besatzungsoffizier in seiner Funktion klare Zielvorgaben und Anweisungen versprach. In dieser policy-Perspektive – bemerkenswerterweise von einer Soziologin eingenommen – erscheint der mit der Metapher „Stunde Null“ verbundene Übergangsstatus zwischen der nationalsozialistischen Diktatur und der durch zahlrei-
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che politische Einzelmaßnahmen herbeizuführenden Demokratie als eine „dynamische Phase der Transformation“: „Der Systemwechsel – als Übergangsphänomen – bildet entsprechend eine Dauer des Nicht-mehr und zugleich Noch-nicht – eine (nicht nur metaphorisch zu verstehende) Stunde Null“ (Gerhardt 2005, 58) – die solange dauerte, wie die unmittelbare Militärherrschaft der USA, nämlich „vom September 1944, als die amerikanischen Truppen die Westgrenze Deutschlands überschritten, bis zum September 1949, als der Bundestag der Bundesrepublik Deutschland den Vorsitzenden der aus freien und geheimen Wahlen als stärkste Partei hervorgegangenen Christlich Demokratischen Union, Konrad Adenauer, zum Bundeskanzler wählte, der die erste Bundesregierung berief“ (Gerhardt 2005, 63). Voraussetzung für diese in unterschiedlichen policy-Domänen unterschiedlich lange andauernde „Stunde Null“ war nach Uta Gerhardts plausibler soziologischer Argumentation die vollständige Stillstellung und Außerkraftsetzung ausnahmslos aller vorher geltenden Institutionen, rechtlichen Normen und tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse, für die wiederum die „bedingungslose Kapitulation“ – auf die sich die Alliierten bereits früh auf ihrer Konferenz in Casablanca als lange Zeit einziges operational feststehendes gemeinsames Kriegsziel geeinigt hatten – die logische und praktische Voraussetzung war. Nun war klar, daß die deutschen Autoren dieser Zeit in Unkenntnis des „Handbooks“ vor allem zunächst den ersten Schritt der Einleitung der „Stunde Null“ wahrnehmen konnten, also die vollständige Suspension eigenständig deutscher Institutionen und Autoritäten in der von Uta Gerhardt sogenannten „Nullphase der Institutionen“ (Gerhardt 2005, 90ff): Alle Inhaber öffentlicher Ämter und die Beamten in Regierungen und Verwaltungen wurden entlassen, alle Gerichte, Schulen und Bildungseinrichtungen geschlossen, es herrschte Reiseverbot, Sperrstunde, Vereins- und Versammlungsverbot und vieles dergleichen mehr, was den Deutschen ganz bewußt – so die Intepretation von Uta Gerhardt – ihren vorübergehend rechtlosen Status als bisherige Angehörige des besiegten nationalsozialistischen Regimes verdeutlichen sollte. „Für die gesellschaftlichen Lebensbereiche, die eine Nullphase durchliefen, galt ein Zustand à la tabula rasa ...“, die „Stillegungen etc. bewirkten einen Latenzzustand ganzer Sektoren des öffentlichen Lebens“ (Gerhardt 2005, 128 u. 130), den Gerhardt soziologisch als erste Phase einer Art kollektiver rites de passage von Mitgliedern und Anhängern des Nationalsozialismus zu zukünftigen Bürgern und Bürgerinnen einer freiheitlichen Demokratie interpretiert. Unabhängig davon, wie man letztlich ihre stark von den analysierten programmatischen Absichten der US-amerikanischen Transformationsstrategie her gezogenen Schlüsse auf den tatsächlichen Prozess beurteilt – Politikwissenschaftler sind gewohnt, die Differenz zwischen policy-Programm und policyoutcome systematisch in Rechnung zu stellen –, so enthalten ihre Analysen doch wichtige empirische Hinweise auf die strukturellen und institutionellen Gegebenheiten der ersten Besatzungsphase, die – vor allem auf deutscher Seite – wohl kaum anders denn als Ungewißheiten über die zukünftigen Handlungs-
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und Entwicklungsmöglichkeiten rezipiert werden konnten. Viele der hier im Weiteren erstmals im Detail interpretierten Schriften müssen daher vor dem Hintergrund und als Teil dieser rites de passage gelesen werden. Wenn auch für die anderen Besatzungszonen bisher keine ähnlich detaillierten und analytisch verarbeiteten Informationen vorliegen, so wird man generell von der plausiblen Annahme ausgehen dürfen, daß insbesondere die hier untersuchte politische Literatur dieser Transformationsphase, dieses „Interregnums“ zwischen der nationalsozialistischen Diktatur und dem jeweiligen Regime der beiden deutschen Staaten nach 1949, auf eine ähnliche Situation reagieren mußte: exogene Transformationserfahrungen auf dem Hintergrund zeitweilig vollständigen Verlustes eigener Entscheidungs- und Handlungskompetenz (siehe zum Vergleich von Ost und West Jarausch/Siegrist 1997). Damit war auch für die zumindest von den westlichen Besatzungsmächten intendierte Erziehung zur Demokratie eine paradoxe Situation gegeben, denn letztlich können demokratische Einstellungen nur auf der Erfahrung der Freiheit beruhen, die die deutsche Bevölkerung aber gerade in der ersten Phase der Besatzungszeit nicht machen konnte. Großen Teilen der Bevölkerung mochte zwar nicht bewußt gewesen sein, daß es in der berühmten Dienstanweisung JCS 1067/6 vom 26. April 1945 unter Part I 4.b. hieß: „Germany will not be occupied for the purpose of liberation but as a defeated enemy nation“; schon eher entsprach es ihrer alltäglichen Erfahrung, daß es sich bei dem für sie zuständigen Besatzungsoffizier, wie es in derselben Dienstanweisung unter 2.b. hieß um die „supreme legislative, executive and judical authority in the areas occupied“ handelte, dem gegenüber es keine Einspruchs- oder Berufungsinstanz gab. Wie sollte die Erfahrung von Freiheit und Demokratie ohne jede Gewaltenteilung und Berufungsinstanz wachsen können? Uta Gerhardts allein auf den Akten basierende wohlmeinende Interpretation der US-amerikanischen Absichten ist in der Gefahr, das Bild der historisch erlebbaren und erfahrbaren Realität der Besatzungszeit beschönigend zu verkennen. Dieses wird wohl eher aus den später analysierten zeitgenössischen Texten, etwa Eugen Kogons Kritik an der Entnazifizierungspolitik deutlich. Hier mußte die Besatzungserfahrung der Deutschen dominieren, daß sie sich einem permanenten Urteilsspruch ausgesetzt sahen. Dagmar Barnouw hat dies bis in die Berichte über Alltagsgespräche, die damals der als Besatzungsoffizier zurückgekehrte deutsch-jüdische Emigrant Hans Speier aufzeichnete, herausgearbeitet: „All information coming out of defeated Germany was directly equated with judgment ... in the German situation of 1945, the whole chaotic country had turned into evidence against itself, inviting even the most thoughtfully cautious observer to sort out immediately the good Germans from the very bad ones; the repentant from the unrepentant; the many guilty from the few innocent; the evil past from the redeeming future“ (Barnouw 1996, 140). Aber auch aus der Außenperspektive und im inneramerikanischen Diskurs wurde heftige Kritik laut, etwa in den Worten des deutschstämmigen, aber inzwischen naturalisierten Wirtschaftswissenschaftlers Gustav Stolper, der nach
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längerem Aufenthalt im besetzten Deutschland die „German Realities“ der Jahre 1945 bis 1947 für die US-amerikanische Öffentlichkeit beschreibt und dabei mit Kritik am Vorgehen der US-amerikanischen Politik nicht zurückhält, der er bereits für die Zeit lange vor Beginn der Besatzung eine völlige Verkennung der Lage und Notwendigkeiten in Deutschland vorwirft, die in dem Vorwurf kulminiert: „Denazification as instituted by JCS 1067/6 and practised by the military government has in effect meant renazification“ (Stolper 1948, 20) – ein Vorwurf, der wortgleich später im Text auch bei Eugen Kogon auftauchen wird. Jon Elster hingegen, der sich in seiner vergleichenden Untersuchung „transitionaler Justiz“ auch mit Deutschland nach 1945 beschäftigt, betont vor allem den internationalen Kontext des heraufziehenden Kalten Krieges mit seinen „widersprüchlichen Beschränkungen“ (Elster 2005, 205), die sich jedenfalls für die justizielle Seite der Re-education daraus sehr bald ergeben hätten. Die erste Runde des Nürnberger Prozesses in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sei noch Ausdruck der „amerikanische(n) Einstellung gegenüber der Sowjetunion“ gewesen, die 1944/45 „deutlich positiver, man könnte auch sagen: naiver“ (Elster 2005, 206) gewesen sei; dann aber habe man Westdeutschland schon bald wieder in der traditionellen Rolle als Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus gesehen und deswegen seien Bestrafung – etwa der Industriellen – und Reeducation in den Hintergrund getreten. Es muß unmittelbar einleuchten, daß sich das politische Denken dieser Zeit über die Zukunft Deutschlands, vor allem aber in Deutschland auf der Ebene erfahrungsmäßig zu beurteilender ,objektiver‘ Verhältnisse unter solchen Umständen vor einen politischen Kontingenz- und Möglichkeitsspielraum gestellt sah, wie er in modernen Zeiten kaum jemals zuvor aufgetreten war; gerade das macht das Studium dieser zeitgenössischen Texte unter politik- und kontingenztheoretischen Gesichtspunkten so spannend und interessant. Wie weit reichte die gesellschaftliche und politische Phantasie der Zeitgenossen, wieweit griffen sie gerade in dieser Situation tiefster Ungewißheit argumentativ auf Vertrautes und vermeintlich Bewährtes zurück? Gaben sie sich völlig in die Hände ihrer jeweiligen Besatzungsmacht oder wie stellten sie sich den zukünftigen Status als politisches Subjekt vor? Was sollte zukünftig aus dem ehemaligen Deutschen Reich werden, nachdem es spätestens seit der Potsdamer Konferenz klar geworden war, daß es gegenüber dem Stand von 1937 nahezu ein Viertel seines Territoriums endgültig verloren hatte? Wie sollte es mit den Millionen Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Gebieten Ostpreussens, Schlesiens, Pommerns sowie aus dem Sudentenland fertig werden, wie zwischen diesen Deutschen und jenen in den nun besetzten Gebieten Gerechtigkeit herstellen? Hatten die Deutschen, die die Alleinschuld an diesem europaweiten Elend trugen, überhaupt einen Anspruch auf Gerechtigkeit, untereinander und erst recht gegenüber den Angehörigen ehemals von ihnen eroberter Länder? In der zeitgenössischen politischen Reflexion der deutschen Verhältnisse werden oft allgemeine politische Überlegungen, etwa zur Veränderung des Poli-
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tischen im „Massenzeitalter“ oder zur „Dämonie der Macht“ deutlich, die auch von allgemeinem theoretischen Interesse sind. Im Folgenden werden daher politische Schriften überwiegend einzeln auf das in ihnen repräsentierte politische Denken ihrer Autoren hin analysiert – im Übrigen ohne näher etwa auf ihren werkgeschichtlichen und biographischen Kontext einzugehen, als zu ihrem unmittelbaren Verständnis nötig.
Kontext und Voraussetzungen politischen Denkens in Deutschland nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches Thomas Mann schrieb 1939 angesichts des „Anschluß“ Österreichs und „des Verrats der europäischen Demokratie an der tschechoslowakischen Republik“, durch die er „die kontinentale Hegemonie Hitler-Deutschlands besiegelt, Europa in die Sklaverei verkauft“ sah (Mann 1953a, 639 u. 643): „Ich habe es oft gesagt: ehe es besser werden könne in Deutschland, müsse es dahin kommen, daß die Menschen dort beim Worte ‚Freiheit‘ in Tränen ausbrächen“ (Mann 1953b, 652). Aber im Bewußtsein vieler Zeitgenossen war Deutschland „Erobert, nicht befreit“, wie zum Beispiel ein anderer Exilant, Karl B. Frank, durchaus mit kritischem Unterton gegen die Besatzungsmächte, seine unter Pseudonym verbreitete Veröffentlichung betitelte (Hagen 1946). In Wirklichkeit stand mit der Niederlage und dem Ende des damit nur knapp ein Dreivierteljahrhundert altgewordenen bis dahin einzigen deutschen Nationalstaates weniger die Freiheit als vielmehr bereits die die nachfolgende Epoche prägende Ost-West-Auseinandersetzung undeklariert auf der Tagesordnung. Beiden Seiten im sich abzeichnenden Kalten Krieg mußte es deswegen schon machtpolitisch darum gehen, ihre politischen Leitvorstellungen und ihr Gesellschaftsmodell in ihrem Besatzungs- und Herrschaftsbereich durchzusetzen und die damit verbundenen Wertvorstellungen mittelfristig in der deutschen Bevölkerung zu verankern. Zwar ist es in der Geschichtswissenschaft umstritten, wann die Kriegskoalition gegen Hitler zu zerbrechen begann: bereits 1942-43 mit der kriegsentscheidenden Wende in Stalingrad (Förster 1975), oder ob erst die Kompromisse und Uneindeutigkeiten der Potsdamer Konferenz als die Inhibitionsphase des Kalten Krieges angesehen werden müßten, wie er dann 1946/47 tatsächlich offen ausgesprochen begann; aber ebenso klar ist, daß zumindest zwei der Verhandlungsführer auf den Konferenzen der Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam von der Richtigkeit des Gedankens ausgingen, nach dem die jeweilige Besatzungsmacht über die politische und gesellschaftliche Zukunft ,ihres‘ Territoriums entscheiden würde: einerseits der sowjetische Führer Josef Stalin, der nach dem glaubwürdigen Bericht Milovan Djilas bereits im April 1945 festgestellt hatte „Wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch
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sein eigenes gesellschaftliches System auf“ (zit.n. Kielmansegg 2000, 27), und andererseits der britische Premier Winston Churchill, der bereits früher als andere westliche Führer die dauerhaften Annexions- und Expansionspläne der Sowjetunion thematisierte, sich aber mit seinen vor allem die Zukunft Polens betreffenden Befürchtungen gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt nicht durchsetzen konnte. Jede Darstellung des nach 1945 nur sehr allmählich aufkeimenden eigenständigen politischen Denkens und Wollens in Deutschland muß sich vorab dieser mindestens für die ersten unmittelbaren Nachkriegsjahre herrschenden Randbedingungen versichern; freilich sofort und einher damit auch der Tatsache, daß diesen formal vergleichbaren Besatzungsbedingungen, die die Zensur über jegliche veröffentlichte Meinung, insbesondere des Rundfunks, die Lizensierung von Büchern und Zeitschriften, die Kontrolle über die Schulen und Hochschulen usw. einschloß, in ihrem normativen Gehalt und politischen Verständnis absolut unterschiedliche, ja entgegengesetzte Doktrinen für die Entfaltung eigenständigen politischen Denkens in Deutschland entsprachen. Die westliche „re-education“ zur freiheitlichen parlamentarischen Demokratie mit gesicherten Grundrechten ist – selbst wenn man die normative Paradoxie der Fremdbestimmung einer keineswegs durchweg demokratisch gesonnenen deutschen Bevölkerung zur Selbstbestimmung im Begriff und in der Praxis der westlichen Besatzungsmächte in Rechnung stellt – politisch und normativ keinesfalls mit dem allmählichen und teilweise gewaltsam durchgesetzten Oktroi einer in ihrem Anspruch totalitären Parteidiktatur und ihrer langfristig repressiven Absicherung gleichzusetzen. Selbständiges politischen Denken traf deshalb in der Öffentlichkeit der östlichen und der drei westlichen Besatzungszonen von allem Anfang an auf restringierende, aber wesentlich verschiedene Entfaltungsbedingungen – eine Differenz, die sich mit der Etablierung der beiden deutschen Staaten 1949 und dem allmählichen Übergang zur staatlichen Souveränität Westdeutschlands grundsätzlich nicht veränderte. Während in der nachmaligen DDR spätestens mit dem sogenannten Dritten Volkskongreß die Parteidiktatur unter Stützung durch die sowjetische Militäradministration begann und jegliche vom Monopolanspruch der SED abweichende öffentliche Publizität gefährlich, wenn nicht unmöglich machte, kam es im demokratischen Westen Deutschlands nicht ohne Einfluß der Alliierten nach 1949 zur Etablierung der „wehrhaften Demokratie“, in deren Folge in den fünfziger und späteren Jahren nicht nur nationalsozialistisches Gedankengut, sondern auch die kommunistische Weltanschauung, insbesondere in der Form des Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung unter Verfolgung geriet und es nicht nur zu dem „keiner politischen Notwendigkeit“ entsprechenden (Abendroth 1956, 305) Parteienverbot der bereits politisch einflußlos gewordenen westdeutschen KPD, sondern auch zu tausenden individuellen Strafverfolgungen derjenigen kam, die nach der damaligen verfassungswidrigen Rechtsprechung „auf irgendeine Weise“ die verbotene KPD förderten (von Brünneck 1978, 134ff).
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Diese in dieser für den Zweck begrenzten und deshalb äußerst groben Skizze der sich für das politische Denken nach 1945 ergebenden und unterschiedlich entwickelnden Randbedingungen soll hier nur andeuten, daß sich spiegelbildlich zur Etablierung des jeweiligen Gesellschaftsmodells in Ost und West die Entfaltungsbedingungen der politischen Ideen, Ideologien und Theorien verhielten. Während für die Entfaltung, Publizierung und Etablierung eines freiheitlichen, auf unveräußerlichen Menschenrechten basierenden politischen Diskurses in der SBZ und nachmaligen DDR sich die äußerlichen Bedingungen repressiv und rapide verschlechterten, etablierte sich in den westlichen Besatzungszonen und der BRD der fünfziger Jahre – anfänglich durchaus noch unter publizistischer und politischer Beteiligung der KPD und ihres entsprechenden Gedankengutes des Marxismus-Leninismus – bis etwa Mitte der fünfziger Jahre der „links“ und „rechts“ antitotalitär begrenzte politische Diskurs der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ einer „wehrhaften Demokratie“. Wenn heute deutliche Mehrheiten in Befragungen in Deutschland die unter dem Anspruch politischer Korrektheit erwartete Antwort geben und das Ende des Nationalsozialismus und des Krieges in Europa als „Befreiung“ bezeichnen, so ist das kaum eine halbe Wahrheit, sondern das Ergebnis einer spezifisch mit der westdeutschen Erfahrung korrelierenden geschichtspolitischen Deutung – die freilich in dem bald schon DDR-offiziösen „Anti-Faschismus“ ihr spiegelbildliches geschichtspolitisches Pendant fand. Völkerrechtlich jedenfalls waren die Deutschen in den besetzten Gebieten nach der „bedingungslosen Kapitulation“ ihrer Führung nicht „frei“, sondern ganz im Gegenteil zunächst absoluter politischer Fremdbestimmung durch die Besatzungsmächte unterworfen, aus der sich – bereits sehr schnell erkennbar und in zeitgenössischen Dokumenten auch reflektiert – unterschiedliche Perspektiven für den Rückgewinn politischer Freiheit im Sinne kollektiver Selbstbestimmung und individueller Freiheiten im Sinne von Menschen- und Grundrechten ergeben sollten. „Frei“ hätten die Deutschen nur in einer erfolgreichen Revolution und durch die selbständige Abrechnung mit der nationalsozialistischen Herrschaft werden können. Wenn nachfolgend viel die Rede von den Problemen und Fehlern der Entnazifizierung durch die Alliierten sein wird, so findet sich bei Fritz Ermath das mögliche Alternativszenarium nach der Kapitulation angedeutet: „Wenn bei uns die Alliierten im Frühjahr 1945 nicht so schnell eingerückt wären ... wenn bei uns – in anderen Worten – die Dinge einen ‚normalen‘ Verlauf genommen hätten, dann hätte es höchstwahrscheinlich eine sehr blutige Revolution gegeben ... manchen Aktivisten hätte die gerechte Strafe ereilt für das, was er mit veranlaßt oder gebilligt hat. Denn vergessen wir doch nicht ganz, wie gehaust worden ist, wie man Wehrmachtssoldaten erschossen hat, die sich zurückzogen, nachdem längst jeder Blinde sehen konnte, daß Widerstand Selbstmord war und ein Verbrechen am eigenen Volke. Vergessen wir nicht ganz, wenn wir über die Härte von Spruchkammerurteilen das Haupt schütteln, daß bei den Nazis bis in die letzten
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Tage hinein der Volksgerichtshof und die Sondergerichte Todesurteile am laufenden Band aushändigten“ (Ermath 1947, 116). Spontane gewaltsame Abrechnung durch die enttäuschte und erbitterte Bevölkerung, vor allem mit den lokalen Nazirepräsentanten, oder Entnazifizierung durch die Alliierten – das war vielleicht historisch die Alternative, in der die tatsächliche Entwicklung bei allen Problemen am Ende moralisch und politisch nicht ganz so schlecht wegkommt, wie das mancher zeitgenössische Kommentar vermuten läßt. Wenn es die von Thomas Mann 1939 erhofften Tränen 1945 gegeben hat, dann werden sie in der Mehrheit der Fälle dem „Frieden“ nach sechs Jahren des Krieges gegolten haben. In den Jahren unmittelbar nach 1945 war hingegen das Gefühl und Bewußtsein der „Befreiung“ oder der direkte Wunsch nach „Demokratie“ nur bei kleinen Minderheiten vorhanden, wie wir aus den umfangreichen Erhebungen der Bevölkerungsmeinung während der Besatzungszeit wissen (Merritt/Merritt 1970). Das hatte sicher ganz verschiedene Gründe. Der wichtigste war wohl, daß die materielle Not und das Elend, daß Wohnungsnot, Massenflucht und die beiden ,Hungerwinter‘, die unmittelbar auf das Kriegsende folgten, solche Gefühle behinderten. In seinem bereits erwähnten Buch geißelt Stolper – ganz im Gegensatz zu dem Anschein, den Uta Gerhardt erweckt – das Unverständnis und die schlechte Vorbereitung der Besatzungstruppen und gibt unter anderem folgende, für die psychologische und soziale Lage in Deutschland vielsagende Anregung: „All foreign observers sent to Germany should be subjected in an advance training course to live on 800 or 1000 calories a day for several weeks and to watch their own mental and emotional reactions, if possible in the bleak environment in which the great mass of Germans live today, in windowless, airless cellars or in an overcrowded garret overlooking miles of bizarre ruins. What they will notice in themselves will be a rapid shrinking of all mental and moral energies, intellectual indifference, incapacity for strong emotion, and above all a fast growing obsession with the thought of food to the exclusion of anything else“ (Stolper 1948, 55). Dann gab es aber auch noch jene zahlenmäßig nicht geringe Gruppe in der einheimischen Bevölkerung, die zwar wie alle unter den Folgen des Krieges gelitten hatte, die aber soziale Stellung, Karriere und nicht selten auch Teile ihres Vermögens der nationalsozialistischen Zeit und ihrer aktiven Mitwirkung daran verdankten. Insgesamt wird man also allzu viel Enthusiasmus über die in Aussicht stehende Freiheit oder Demokratie in den zeitgenössischen Schriften nicht erwarten dürfen. Außerdem: kaum einmal wurde in den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des „Kriegsendes“ erwähnt, daß dieser von Deutschland begonnene „Weltkrieg“ nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in den frühen Morgenstunden des 7. Mai 1945 (ausführlich dazu Henke 1996, 965ff) nicht nur noch Monate dauerte, sondern mit dem Abwurf der ersten beiden Atombomben auf japanische Großstädte auch noch einmal eine historisch neuartige Realität der zukünftigen Bedrohung menschlichen Lebens manifestierte. Dieses epochemachende Ereignis hinterließ im politischen Denken in Deutschland der unmittel-
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baren Nachkriegszeit erstaunlich geringe Spuren und wird in den zahlreichen Texten selten erwähnt. Als der amtierende Bundespräsident Köhler in seiner Ansprache die in Westdeutschland seit 20 Jahren zum historischen Wendepunkt stilisierte Rede seines Amtsvorgängers von Weizsäcker von der „Befreiung“ des 7. Mai 1945 (dazu Kirsch 1999, 71ff) um die Feststellung ergänzte, nicht überall in Deutschland und den ost- und mitteleuropäischen Landen sei der Befreiung vom Terror des Nationalsozialismus die Freiheit zur politischen Freiheit gefolgt, da deckte er – auch wenn es nicht seine Absicht gewesen sein mag – einen Aspekt der westdeutschen vergangenheitspolitischen Stilisierung auf, die sich in der Rede seines Vorgängers und ihrer kritiklosen Verwandlung zu einem offiziösen geschichtspolitischen Dokument verborgen hatte. Wie wenig nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Gefolge der zunächst antitotalitären, dann zunehmend auch nationalen Befreiungsbewegung in der DDR vom Herbst 1989 auch die Erfahrung der Ostdeutschen in die repräsentative vergangenheitspolitische Selbstdarstellung integriert wurde, zeigte sich am Maß der Kritik, die gerade dieser Aspekt der Rede von Bunderspräsident Köhler erfahren hat. Sieht man sich das publizierte politische Denken in der ersten Zeit nach der Befreiung von der totalitären Herrschaft des Dritten Reiches an, so wird man – soweit es dabei um Programme und Entwürfe für die politische und gesellschaftliche Neuordnung eines oder mehrerer deutscher Staaten ging – die hier angedeuteten restriktiven Rahmenbedingungen und ihren jeweiligen konkreten Entwicklungsstand in Ost wie West stets mitbedenken müssen – auch wenn sich ein expliziter Bezug darauf nicht immer zeigt. In diesen Zusammenhang gehört auch noch eine Beobachtung nach Lektüre der vielfältigen Schriften aus der Nachkriegszeit, die keineswegs selbstverständlich ist, aber oft unterbleibt: anders als nach dem Ende anderer Regime findet sich in den ersten Jahren nach 1945 keine direkt apologetische Literatur des nationalsozialistischen Regimes. Vorauseilende Warnungen vor einer Wiederholung der „Dolchstoßlegende“ blieben gegenstandslos (Schröder 1946). Welch ein Unterschied zu 1918 und zur Niederlage im Ersten Weltkrieg! Es ging für die verbliebenen Vertreter rechter oder gar nationalsozialistischer Ideen und Politik in einem von den Siegern vollständig besetzten Land allenfalls um „Selbstbehauptung“, aber nicht wie damals nach ,Versailles‘ um „Revision“ wie Dirk van Laak einsichtig feststellte (Laak 1998, 72). Man möchte einen Augenblick optimistisch annehmen, daß sich dieser überraschende Befund nicht nur der bereits angesprochenen Besatzungsherrschaft und Zensur verdankt, sondern der Erkenntis und Einsicht in die verbrecherische Natur des untergegangenen Systems wenigstens nach dessen Ende auch bei jenen, die es bis zum Schluß geistig oder tatkräftig beförderten; daß es mithin nach menschlichem Verstande und politischer Urteilskraft keinerlei Möglichkeit mehr gegeben hat, nach Kenntnisnahme der von den Siegern endgültig aufgedeckten Verbrechen für dieses Regime oder seine maßgeblichen
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Akteure noch irgend eine Form der Rechtfertigung zu finden. Aber zu einem solchen Optimismus gibt es angesichts der später innerhalb wie außerhalb Deutschlands bis heute immer wieder auftauchenden neonazistischen Literatur leider keinen Anlaß, denn selbst vor der schrecklichsten nationalsozialistischen Tat – bis heute in ihren Motiven wie der Verhöhnung aller menschlichen Moral unbegreiflich –, dem Versuch der Ausrottung des europäischen Judentums und anderer als ,minderwertig‘ eingestufter Menschengruppen durch die systematische Ermordung in den Gaskammern der Vernichtungslager, macht diese geschichtsrevisionistische Literatur (etwa eines Zündel) nicht halt. Aber auf einer tiefer liegenden Ebene als der der momentanen Wirksamkeit der politischen Zensur sollte der eigentliche Grund für das Ausbleiben einer nachhaltigen Apologie in der Natur des zusammengebrochenen und besiegten nationalsozialistischen Systems selber liegen. Hannah Arendt schrieb dazu später, aber an ihre Eindrücke kurz nach dem Krieg anknüpfend: „Erst im Moment der Niederlage macht sich die wesentliche Schwäche totalitärer Propaganda geltend. Bricht die Bewegung aus gleich welchen äußeren Gründen zusammen und ist die ‚Gewalt der Organisation‘ verschwunden, so hören ihre Anhänger von einem Tag zum anderen auf, an ein Dogma und eine Fiktion zu glauben, der ihr Leben zu opfern sie noch gestern bereit waren. Mit dem Zusammenbruch ihrer fiktiven Heimat kehren die Massen wieder in die Welt zurück, vor deren Realität die Bewegung sie geschützt hatte, werden wieder zu den isolierten Individuen, als die sie massenhaft sich zusammengefunden hatten ... Eben noch freudigst entschlossen, den Tod von Robotern auf sich zu nehmen um irgendwelcher tausendjährigen Reiche willen, wird keiner es den religiösen Fanatikern gleichtun und den Märtyrertod sterben. In aller Stille, als handele es sich um nichts als einen dummen Reinfall, werden sie ihre Vergangenheit aufgeben und, wenn es not tut, verleugnen, sich nach einer neuen vielversprechenden Fiktion umsehen oder warten, bis die alte Ideologie wieder an Stärke gewinnt und eine neue Massenbewegung ins Leben ruft“ (Arendt 1986, 574). Allerdings darf diese „Stille“ nicht mit der in der Forschung häufig unzulässig gleichgesetzten Behauptung verquickt werden, es habe deswegen keine öffentliche Debatte und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen gegeben und „the Germans“ hätten ihre unmittelbare Vergangenheit „verdrängt“. Anthony D. Kaunders, der sich detailliert mit diesen vor allem mit den Thesen Adornos und der beiden Mitscherlichs in Zusammenhang gebrachten Thesen auseinander gesetzt hat, stellt zu Recht fest: „In point of fact, numerous works on postwar repesentations of the Third Reich indicate that there was a lively discourse on National Socialism and the World War II, both in the popular media and in political debate“ (Kaunders 2003, 102). Aber es war in die „Stille“ der Mehrheit der Bevölkerung hinein, in die die nachfolgend interpretierten Texte zu kommunizieren suchten. Die Beschäftigung mit ihnen muß ihre Berechtigung in sich selbst tragen, denn in der Regel ist über ihre direkte Aufnahme und Wirkung nichts bekannt.
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Zur Vorgehensweise, Methode und Art der DarstellungDas Das „politische Denken“ in Deutschland der Jahre 1945-49 bezieht sich in dieser Studie auf in dieser Zeit in Deutschland veröffentlichte Texte, zumeist Bücher und Broschüren. Wie schon bemerkt, waren allein die große Anzahl und inhaltliche Variation von Themen und Ansätzen ein überraschendes Ergebnis des Such- und Forschungsprozesses, auf die es zuvor in der auf politisches Denken und erst recht politische Theorie gerichteten wissenschaftlichen Literatur zu dieser Zeit kaum Hinweise gegeben hatte. Lediglich zahlreiche (auch) politische Zeitschriften haben, vor allem außerhalb der Politikwissenschaft, in der Forschung eine rege Beachtung gefunden – und eine Diskussion über ihre „täuschende Fülle“ ausgelöst (siehe dazu Laurien 1991, 1-10); dabei war der Topos durchaus nicht nur kritisch auf die im Vergleich zur Weimarer Republik absolut dann doch geringe Zahl von Publikationen gerichtet, sondern auch inhaltlich gemeint. Diese Zeitschriften haben offensichtlich in großem Maße die „Öffentlichkeit“ und ihre Diskussion im Untersuchungszeitraum geprägt. Auch hier nimmt man aus heutiger Sicht die „durchschnittliche Auflagenzahl der ‚repräsentativen Kulturzeitschriften‘ “, die offenkundig „zwischen 30.000 und 50.000“ variierte (Laurien 1991, 9), mit Staunen zur Kenntnis. Einzelne Zeitschriften, die auch politikwissenschaftlich hohes Interesse beanspruchen können, haben, wie beispielsweise „Ost und West“ (Baerns 1968), „Der Ruf“ (Vaillant 1978), oder die „Frankfurter Hefte“ (Ewald 1988) sogar monographische Behandlung erfahren – wenn dabei zumeist auch andere Fragestellungen und Erkenntnisinteressen als hier leitend waren. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat 1973 die „literarisch-politische Publizistik 1945-1950“ dokumentiert (Hay/Rambaldo 1973) und auch in der internationalen Forschung erfreut sich dieses Thema wachsender Beliebtheit (Flanagan 2000) – die aber zumeist auf die Frage nach den „German Reactions to Nazi Atrocities“ (bereits Janowitz 1946, jetzt wieder bei Olick 2005) eng begrenzt bleibt. So wichtig diese Frage gerade aus einer moralischen Perspektive der Geschichtsbetrachtung ist und bleibt, so sehr sind auch andere Perspektiven auf die zeitgenössischen Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit legitim und wissenschaftlich notwendig. Maßgeblich für meine Auswahl war neben den erläuterten inhaltlichen Gesichtspunkten die große Zahl der bisher vernachlässigten selbständigen Veröffentlichungen und damit in gewissem Maße auch eine Korrektur der These von Ingrid Laurien: „So übernahmen Zeitschriften, die schneller und regelmäßiger erscheinen konnten, in den Buchhandlungen zu einem erheblichen Maße die Aufgaben des Buches“ (Laurien 1991, 7). Was immer hier mit den „Aufgaben des Buches“ genau gemeint gewesen sein mag – Tatsache ist, daß die zahlreichen und zum Teil umfangreichen Monographien des Untersuchungszeitraumes eher wissenschaftliche Bedürfnisse befriedigen und Raum für weniger aktualistische Darlegungen auch theoretischer Zusammenhänge bieten konnten.
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Daß es dabei inhaltlich Redundanzen gab, ist gar nicht zu bestreiten. Viele der im Weiteren mit ihren monographischen Veröffentlichungen untersuchten Autoren waren auch in den Zeitschriften sehr präsent oder fungierten gar – wie beispielsweise Dolf Sternberger in der „Wandlung“ oder Eugen Kogon bei den „Frankfurter Heften“ – als deren maßgebliche Herausgeber. Wegen der Bedeutung gerade ihrer Publizistik habe ich denn auch bei ihnen eine Ausnahme von der Begrenzung auf Monographien gemacht. Für meine Auswahl waren – von wenigen begründeten Ausnahmen abgesehen – neben den inhaltlichen Gesichtspunkten Erscheinungssort und Veröffentlichungsdatum im Nachkriegsdeutschland ausschlaggebend. Letzteres führt dazu, daß auch bereits vor dem Mai 1945 geschriebene Texte, die aber aus verständlichen Gründen erst nach diesem Datum in Deutschland erscheinen konnten, einbezogen werden. Schließlich verwandelt erst die Veröffentlichung das „politische Denken“ eines Individuums zu einem objektiven Tatbestand in Gestalt eines auslegbaren Textes. Eine Ausnahme wurde in solchen Fällen wie im Falle vor allem von Verlagen in der deutschsprachigen Schweiz gemacht, in denen die Intention der Autoren sich ganz offenkundig auf das deutsche Publikum richtete und auch davon auszugehen war, daß die jeweiligen Texte vordringlich in Deutschland Absatz fanden. Eine weitere Ausnahme wurde etwa im Falle des Buches von Alexander Abusch „Der Irrweg einer Nation“ gemacht, das zwar zuerst 1945 in kleiner Auflage in Mexiko im Verlag El libro libre publiziert wurde, dann aber nach seiner Wiederauflage 1946 im Aufbauverlag bis 1951 immerhin in einer deutschen Gesamtauflage von 130.000 Exemplaren erschien (Cobet 1985, Nr. 1) und damit wohl eines der am meisten gelesenen einschlägigen Bücher im Nachkriegsdeutschland gewesen ist. Die nach und nach überraschend große Zahl der gefundenen Schriften machte es unmöglich, auf sie im Rahmen eines Buches jeweils in gleichem Umfang und mit gleicher Intensität oder in vielen Fällen überhaupt einzugehen; in nicht wenigen Fällen wäre das auch inhaltlich kaum zu rechtfertigen gewesen und hätte zu vielen Wiederholungen geführt. Andererseits mußten sie gerade angesichts des existenziellen Ernstes, mit dem viele dieser Texte in einer solchen historischen und nicht selten persönlich dramatischen Situation auch von Autoren geschrieben wurden, deren Beruf und Berufung ansonsten kaum die Analyse politischer Ereignisse und das politische Denken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war, mit dem gebotenen Respekt behandelt werden. Dies gilt besonders unter den damals sich erst allmählich durchsetzenden normativen Ideen einer dem öffentlichen Bürgerdiskurs verpflichteten Demokratie; ihnen widerspräche jede wissenschaftliche und professorale Arroganz gegenüber vermeintlichem „Dilletantismus“ – denn im politischen Diskurs der Bürger und Bürgerinnen untereinander gibt es keinen normativen Vorrang für das vermeintlich wissenschaftlich Richtige. Persönlich habe ich im Übrigen keineswegs generell den Eindruck gewonnen, daß sich die teilweise bereits bekannten Schriften so prominenter Autoren wie beispielsweise Friedrich Meinecke oder
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Wilhelm Röpke qualitativ immer so eindeutig von später im Bereich politischen Denkens nicht wieder aufgetretenen Gelegenheitsautoren der Nachkriegsperiode unterscheiden. Ich habe mich deshalb bemüht, neben der Behandlung dieser bekannter Autoren gelegentlich auch auf solche zu verweisen, die späterhin nicht wieder als Autoren politischen Denkens in Erscheinung traten, also „politische Gelegenheitsautoren“ in Analogie zu Max Webers Feststellung, nach der wir alle auch „Gelegenheitspolitiker“ seien. Politisches Denken verfolgt stets Intentionen. Diese Intentionen müssen, sofern sie nicht direkt und manifest politische Phänomene wie den Staat, Parteien oder die Rolle von Bürgern und Bürgerinnen betreffen, sich mindestens erkennbar auf die Gestaltung der gemeinsamen, im üblichen Sinne ,öffentlichen‘ Angelegenheiten richten, um hier Berücksichtigung zu finden. Titel wie „Der Mensch der Gegenwart“ hingegen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit einerseits auch politische Erwartungen wecken, sich mit der konkreten Situation zu beschäftigen, die dann aber unter der Kapitelüberschrift „Das deutsche Schicksal“ in nichts als dem Aufruf zur „Verinnerlichung“ (Lersch 1947, 172) gipfeln, repräsentieren zwar gewiß auch einen Aspekt der damaligen „politischen Kultur“, sind aber nicht als intentionales politisches Denken zu verstehen und werden hier ignoriert. Für Texte wie den von Philipp Lersch trifft in der Tat das allerdings allzu oft pauschal für die gesamte Literatur dieser Zeit verwandte Verdikt einer „Besinnungsliteratur“ zu, der Axel Schildt eine „elegische Sicht auf das in die Moderne geworfene und zum Objekt gemachte Subjekt“ zurechnet, die sich mit Karl Jaspers 1947 wiedererschienener Zeitdiagnose von 1931 (Jaspers 1947) „Hunderte von literarisch schlechteren Beiträgen teilten“ (Schildt 1999). Anders als vielleicht bei rein poetischen oder auch manchen wissenschaftlichen Texten, wollen politische Texte nicht nur Sachverhalte und Probleme analysieren und darstellen, die für wichtig gehalten werden. Typischerweise will der Autor seine Leser und Leserinnen von der Richtigkeit seiner Ideen, der Geltung bestimmter Normen, der Unabdingbarkeit bestimmter Entscheidungen überzeugen; für Autorinnen gilt, in der damaligen Zeit selten genug, selbstverständlich dasselbe. Nicht selten beeinhaltet politisches Denken die Aufforderung zur gemeinsamen Umkehr, macht Vorschläge zur konkreten Entscheidung, zu einem bestimmten Handeln. Politisches Denken richtet sich – auch da, wo es in weitschweifigen historischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Gedankengängen auftritt – letztlich an seine Adressaten als Bürger und Bürgerinnen. Es ist als publizierter Text selbst Teil des politischen Prozesses einer Gesellschaft und will in ihm wirken. Es kann ebenso interpretiert und verstanden werden wie politisches Handeln selbst. Letztlich mußte ich aus der großen Zahl der gefundenen und durchgesehenen Publikationen eine Auswahl treffen, deren Subjektivität ich gar nicht verschleiern, über deren Ansprüche ich nur negativ zweierlei Feststellungen treffen will: erstens ist dieses Buch keine Darstellung der „Geschichte“ des politischen
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Denkens oder eines Teils von ihr und zweitens kann die Auswahl allenfalls Symptomatik für das politische Denken in dieser Zeit, nicht aber Repräsentativität im sozialwissenschaftlichen Sinne beanspruchen. Damit unterscheiden sich mein Vorgehen und meine Absicht stark von Jeffrey K. Olicks nach weitgehender Fertigstellung meines Manuskripts erschienener umfangreicher Untersuchung über die „trajectories“ of „collective memory“ als Teil seiner beabsichtigten und weitgehend verwirklichten „history of German memory“ (Olick 2005, 6f), also einer „Gedächtnisgeschichte“ (Assmann 1999, 30f). Dieser Ansatz ist weniger an der genauen Rekonstruktion der teilweise nachfolgend behandelten Einzelveröffentlichungen interessiert; wo er über sie schreibt, geht es ihm mehr um die in den Schriften geprägten und nachfolgend in der Rezeption dieser Schriften als Teil der Erinnerungskultur entstandenen Erinnerungstopoi – wie etwa „deutsche Katastrophe“ oder „Stunde Null“. Dabei kommt es paradoxerweise bei ihm selbst zur unkritischen Übernahme von in der Wissenschaft unkritisch tradierten und ihrerseits zu wissenschaftsinternen Topoi geronnenen Stereotypen der Rezeption, mit denen sich bereits Winfried Schulze in seiner hermeneutisch herausragenden Studie über die Schreibsituation der Historiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit kritisch auseinandergesetzt hatte (Schulze 1989). Ich werde darauf insbesondere am Beispiel von Olicks geradezu standardisierter Rezeption von Friedrich Meineckes „Die deutsche Katastrophe“ noch näher eingehen. Olick teilt mit zahlreichen Studien, so auch Schulze oder Eberan (1985), inhaltlich die Fokussierung auf die gewiß berechtigte Frage, wie die historische Deutung des Nationalsozialismus und seiner Vorgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgefallen ist: „Irrweg“, „Sonderweg“, „Betriebsunfall“ oder nur durch besondere Umstände bedingte Ausprägung einer allgemeinen Entwicklung der „Moderne“, etwa zur „Massengesellschaft“ oder zur „seelenlosen Technizität“ – die auch überall sonst in Europa und darüber hinaus hätte eintreten können. Auch Wolgast, der einerseits feststellt, „fast durchweg sind die programmatischen Äußerungen von 1945/46 zukunftsorientiert“, beschreibt den selektiven Ansatz seiner Studie dann so: „Das eigentliche Ziel der Äußerungen von 1945/46, die Zukunftsprogrammatik, wird im Folgenden nicht erörtert“ (Wolgast 2001, 16). Meine textnahen Analysen können die vergangenheitsorientierten Fragen natürlich nicht völlig ausblenden, aber wie bereits gesagt zielen sie auf Anderes; Politik hat es intentional immer mit der Zukunft zu tun – auch wenn sie vermeintlich nur Vergangenheit interpretiert. Auffällig ist aus der Sicht des Politologen freilich das geringe Interesse, daß die geschichtswissenschaftlichen Studien für das genuin Politische der von ihnen herangezogenen Texte zeigen. Mal dominiert die struktur- oder sozialgeschichtliche Perspektive, mal die erinnerungs- oder geschichtskonstruktivistische wie jetzt bei Olick; in beiden Fällen wird Politik als Gegenstand der Betrachtung, wird die politische Intention als manifeste oder latente Dimension der zeitgenössischen Texte zu sehr vernachlässigt.
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Gegenstand meiner Studie bleiben in erster Linie die Texte selbst, in denen das politische Denken seinen veröffentlichten Niederschlag gefunden hat – nicht deren Autoren. Wo gelegentlich Bemerkungen über die persönlichen Hintergründe der Autoren eingeflochten werden, da nicht, um deren Inhalt dadurch ,biographisch‘ verständlich zu machen. Im Falle jener Autoren, wie etwa Karl Jaspers oder Alfred Weber, bei denen es über die hier herangezogenen Texte hinaus weitere veröffentlichte Schriften gibt, geht es mir nicht um den ,Werkzusammenhang‘ – zumal für manche Autoren hier Biographien oder systematische Analysen vorliegen. Auch kann und will ich mit meinen Mitteln nichts über die ,Wirkung‘ oder ,Rezeption‘ der im einzelnen herangezogenen Texte sagen – es sei denn, sie reagieren direkt aufeinander. Wie also bereits geschrieben, beanspruchen diese Studien keine ,Repräsentativität‘ für das politische Denken in Deutschland nach 1945, wie es etwa Olick anstrebt. Was wäre darunter auch zu verstehen – selbst wenn man sich nur auf das publizierte politische Denken einer historisch Periode beschränkte? Zwar ist es sehr wahrscheinlich, daß viele der nachfolgend aus den Texten herausgearbeiteten Problematiken deren ,Zeitgeist‘ widerspiegeln, das ergibt sich schon allein daraus, daß bestimmte Themen und Topoi, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, in zahlreichen der hier behandelten Texte auftauchen. Publizierte Idiosynkrasien bleiben selten. Aber das in dieser Form publizierte politische Denken mit seiner Zwischenstellung zwischen rein auf den wissenschaftlichen Fachdiskurs gerichteten Werken und tagespolitischen und programmatischen politischen Aussagen kann doch nicht pars pro toto für den politischen Zeitgeist einer ganzen Periode stehen. Die letztlich näher besprochenen und analysierten Texte stellen also nur eine Auswahl derjenigen dar, die ich als Zeugnisse des politischen Denkens gefunden und interessant gefunden habe; die Liste der Quellen, die in den Anhang aufgenommen wurde, ist demnach umfangreicher, führt auch nur kurz erwähnte zeitgenössische Texte an und lädt zu weiteren Studien ein – und selbst sie kann nach Lage der Dinge selbstverständlich keine Vollständigkeit beanspruchen. Sicher wurden bei aller Bemühung doch wichtige Veröffentlichungen aus der Zeit übersehen – zumal die Beurteilung dessen, was als Dokument „wichtigen“ politischen Denkens anzusehen ist und was nicht, keineswegs nach formalen und unumstrittenen Kriterien festliegt. Insofern richtet sich das hermeneutische Verstehen der Texte einerseits auf diese textimmanenten Intentionen der Autoren und will ihnen gerecht werden. Die methodologische Unmöglichkeit jeder Hermeneutik, dabei zwischen ,heraus- und hineinlesen‘ jederzeit ganz genau unterscheiden zu können, ist mir dabei wohl bekannt. Ich versuche Ersterem durch zum Teil vielleicht ungewöhnlich umfangreiche Textwiedergabe gerecht zu werden. Auf diese Weise zeichnet sich nach und nach ein Bild jener Themen und Probleme ab, die den behandelten Autoren dieser Zeit aus ihrer damaligen Sicht wichtig waren, das – nochmals: ohne Repräsentativität beanspruchen zu können – zu unserem heuti-
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gen Verständnis der damaligen Situation beitragen kann. Was wurde diskutiert, vorgeschlagen, gefordert? Was erschien damaligem politischen Denken endgültig erledigt, ein für alle Mal überwunden oder umgekehrt unabdingbar geboten oder gar zwingende Folge? Mit unseren heutigen Kenntnissen über den tatsächlichen Gang der Dinge können wir diese Gedanken besser einordnen und vielleicht auch im Nachhinein verstehen, warum sich manches in der späteren Praxis und Entwicklung niederschlug und anderes nicht. Gerade Letzteres aber lehrt uns auch, was damals möglich, zumindest denkmöglich war und öffnet gegenüber der tatsächlich eingetretenen Entwicklung den damaligen Möglichkeitsraum. Was waren also die Alternativen, welche Ziele wurden propagiert, was ist heute vergessen, obwohl es damals nahelag oder zwingend erschien? Dann aber können an die Texte auch Fragen aus heutiger Sicht gestellt werden – darunter die nicht ganz unwichtige, warum bestimmte Themen wie zum Beispiel der Antisemitismus und seine Rolle im Geschehen aus heutiger Sicht nur selten eine größere Rolle spielen. Eine solche hermeneutische Gratwanderung, die den Autoren, deren im Text erkennbaren Intentionen und ihrer damaligen Lage gerecht zu werden versucht, muß, gerade bei Versuchen der rückblickenden Einordnung, sich immer wieder vergewissern, wie sich unser heutiges Wissen über den späteren Verlauf der Ereignisse von den damaligen Erkenntnismöglichkeiten unterscheidet. Ich möchte mich mit meiner verstehenden textnahen Rekonstruktion ganz eindeutig von einer arroganten Expost-Besserwisserei absetzen, die im vermeintlich macht-realistischen Argumentationsstil mit ihrer später gewonnenen Erkenntnis die Autoren und ihre idealistischen Hoffnungen und Sehnsüchte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit abkanzelt, wie dies etwa Hans-Peter Schwarz in seiner bereits erwähnten Studie am Beispiel der Schriften Ulrich Noacks vorgeführt hat. Wie bereits erwähnt ist Schwarz vorwiegend am außenpolitischen Denken, am Kalten Krieg und an der Entstehung des westdeutschen Teilstaates interessiert. Deshalb findet sich zu dem eigentlichen Verfassungsentwurf Noacks auch nur ein kurzer Absatz. Immerhin widmet er der frühesten Nachkriegsveröffentlichung Noacks „Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt“ (Noack 1946) mehrere Seiten (Schwarz 1966, 358-369) und stellt damit eine der wenigen Ausnahmen dar, in denen das politische Denken der unmittelbaren Nachkriegszeit überhaupt eine detailliertere Aufmerksamkeit gefunden hat. Vieles wird dabei aus dieser Schrift richtig zusammengefaßt, aber die Urteile über Noacks „Abwendung vom Machtstaatsgedanken“ fallen herb aus: „Eskapismus“ (Schwarz 1966, 362), „einmal mehr die eskapistischen Elemente seines utopischen Gesamtentwurfs deutscher Außenpolitik“ (Schwarz 1966, 369), „weit entfernt von der weltpolitischen Realität des Jahres 1946“ (Schwarz 1966, 365), „kein Wort vom Kalten Krieg, für dessen wahrscheinliches Ausbrechen zur Zeit der Abfassung der Schrift schon vieles sprach“ (Schwarz 1966, 363). „Kein Wort vom Kalten Krieg ...“, also von einem Sachverhalt und semantischen Topos, die zur Zeit der Niederschrift durch Noack im Jahre 1945 (!) noch
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gar nicht im öffentlichen Bewußtsein verankert sein konnten – man sieht, wie in diesen nachträglichen Verurteilungen sich das erst später zur Gewißheit werdende Wissen gegen Nichtwissenkönnen im Jahre 1945 niederschlägt und als vermeintlicher „machtpolitischer Realismus“ aufspielt. Um wieviel verständnisvoller hat demgegenüber Schulze sich in die tatsächliche Schreibsituation der von ihm behandelten Historiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit hineingedacht, wenn er zum Beispiel daran erinnert, daß der Mediävist Gerd Tellenbach sein Manuskript „Die deutsche Not als Schuld und Schicksal“ „oft auf den Knien schrieb“ (Schulze 1989), wenn er den Informationsmangel, den fehlenden Zugang zu Bibliotheken, nicht zuletzt Hunger und Kälte erwähnt, die die Autoren dieser Jahre oft in schlechtgeheizten Notunterkünften oder sogenannten „Einquartierungen“ ertragen mußten. Um solche Arroganz zu vermeiden, möchte ich auch bei der nachträglichen Einordnung des damaligen Denkens sensibler vorgehen und mich besonders um das Verständnis der Autorenintention angesichts ihres begrenzten Wissens- und Erwartungshorizonts in den Texten bemühen. Daneben aber habe ich bereits die Fragen und ihren politiktheoretischen Hintergrund angesprochen, für die ich – unabhängig von den Intentionen der jeweiligen Autoren der Texte – ein besonderes Interesse zeige; deshalb interessiere ich mich für bestimmte Passagen der Texte auch mehr als für andere. Zu diesen Fragen geben die Texte gelegentlich explizit oder auch nur implizit Antworten, ohne daß es die besondere Absicht ihrer Autoren gewesen wäre. Mir geht es letztlich darum, wie die Autoren der Texte die Rolle von Politik und dem Politischen wahrnehmen oder bestimmen, ob sie deren Kontingenz thematisieren, welche institutionellen oder normativen Strategien sie bevorzugen, mit ihr umzugehen oder sie zu verdrängen. Dazu habe ich, immer in möglichst direkter Auseinandersetzung mit den Texten selbst, jene politischen Fragen ausgewählt und die besonders intepretierten Texte nach ihnen gruppiert, die damals in ihnen im Vordergrund der Agenda zu stehen schienen. Es sind keineswegs überraschend weitgehend, aber keineswegs in allen Fällen, jene Fragen, die auch realgeschichtlich und politisch die Agenda jener Zeit bestimmten. Aber – nur um ein Beispiel zu nennen – es mag im Nachhinein erstaunen, wieviele Autoren noch, nachdem längst auf der Potsdamer Konferenz durch die Entscheidungen der Besatzungsmächte zugunsten einer gemeinsamen obersten Kontrollbehörde, und damit zur Behandlung des besiegten Deutschlands als prinzipiell weiterbestehendem Ganzen, gefallen waren, „vor der Entwicklung zum Nationalstaat als der für die deutsche Geschichte sinnwidrigsten Tendenz gewarnt haben“ (Kramer 1946, 8) oder explizit einer Aufteilung und Rückentwicklung des verbliebenen Reichsgebietes in Einzelstaaten das Wort redeten, die dann allenfalls einen mehr oder weniger integrierten Staatenbund bilden könnten (z.B. Röpke 1945; Feger 1946). Innerhalb der so zustande kommenden jeweiligen thematischen cluster, die sich schwerpunktmäßig zum Beispiel mit der Frage des Verstehens und Um-
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gangs mit der ,deutschen Schuld‘, der Alternative Sozialismus oder Kapitalismus, der Föderalisierung, der politischen Demokratie und so weiter beschäftigen, habe ich jeweils mir als besonders markant erscheinende Texte ausgewählt und ausführlicher behandelt, während auf andere mit ähnlicher Schwerpunktsetzung gelegentlich nur knapp verwiesen wird. Für diese Auswahl gilt das bereits Gesagte. Besonders bestreitbar ist die Zuordnung solcher Texte zu einzelnen clustern, die sich umfassend und vielseitig mit der durch die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands entstandenen historischen und politischen Situation beschäftigen und ganze Gesellschaftsmodelle der Zukunft oder umfangreiche Politikkonzeptionen entwerfen. Bei ihnen ist es unvermeidbar, daß die von mir vorgenommene Zuordnung zu einem cluster zugleich Folge meiner Interpretation über ihren wesentlichen und bestimmenden Inhalt ist. Aber gerade diese Texte waren es auch, die mich davon überzeugten, daß mein Vorgehen das kleinere Übel gegenüber ihrer analytischen Zergliederung und thematischen Aufteilung auf verschiedene cluster ist. Mit einer solchen analytischen Vorgehensweise würde man gerade den in diesen Fällen ganzheitlichen und umfassenden Ansätzen mancher Autoren nur unzureichend entgegenkommen, denen ich trotz der pragmatisch vorgenommenen interpretativen Zuordnung zu nur einem cluster gerecht zu werden versucht habe. Im Zweifel war es mir immer wichtiger, jeweils die umfassenden Intentionen des Autors, wie sie in der untersuchten Schrift zum Ausdruck kamen, angemessen zu interpretieren, als die eindeutige Zuordnung zu nur einem cluster zu betonen. Damit hoffe ich gerade dem politischen Anspruch und Charakter der hier untersuchten Texte eher gerecht zu werden als durch die bloß methodisch strengere Beachtung der ja bloß als Erkenntnishilfe fungierenden Analytik. Wenig überraschend war das geistige Leben in der Not der unmittelbaren Nachkriegsjahre kaum dazu geeignet, kohärente politische Theorien – noch dazu im engeren akademischen Verständnis einer zu dieser Zeit in beiden Teilen Deutschlands nicht existierenden Politikwissenschaft – hervorzubringen. Die sich auch in akademischen Kreisen nach dem Mai 1945 bis hin zu den Nürnberger Prozessen erst allmählich und stets durch neue Tatsachen ergebenden Einsichten in das ganze Ausmaß der Verbrechen und Zerstörungen, die seit dem Januar 1933 in Deutschland und mit dem Krieg dann in Europa und darüber hinaus als unmittelbare Folge der nationalsozialistischen Herrschaft geschehen waren, warf bei den politisch Denkenden als erstes die Frage auf, wie dieses Geschehen zu deuten und als was es zu begreifen war. Beim Versuch, diese Texte aus den letzten Kriegstagen und den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu intepretieren, muß man sich unbedingt vor Augen halten, daß ihre Autoren oft zwar die unmittelbare Erfahrung, nicht aber die objektivierende Einsicht in den erst viel später als Ergebnis systematischer Forschung sich ergebenden Wissensstand besaßen. Umso erstaunlicher ist im Einzelfall die Deutlichkeit, mit der die Verbrechen im nationalsozialistischen Regime, ja dessen verbrecherischer Charakter im Ganzen zur Sprache kommen. Entgegen vielerlei privater
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Legenden und Lebenslügen und einer unterschwelligen Rechtfertigung der deutschen Bevölkerung im öffentlichen Diskurs, mindestens in den ersten beiden Jahrzehnten der westdeutschen Republik, machen viele der hier untersuchten Texte deutlich, daß es zur Erkenntnis des verbrecherischen Charakters der nationalsozialistischen Herrschaft keineswegs erst der Niederlage und des Offenkundigwerdens der Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern durch die Alliierten bedurfte. Wer sich politische Urteilskraft und sittliches Bewußtsein bewahrt hatte, konnte die völlige Abkehr von allen Prinzipien des Rechtsstaates und die permanente Verletzung der Menschenrechte insgesamt in der Diskriminierung und Verfolgung der Juden als solcher und vieler anderer darüberhinaus politisch verfolgter Gruppen und Individuen seit dem Frühjahr 1933 nicht übersehen. Ich möchte zum Beleg dafür aus einem ganz besonderen Buch zitieren, daß 1946 erschienen ist, aber vor der Verhaftung des Verfassers durch die Gestapo bis zum Juli 1943 im Manuskript bereits fertiggestellt war; es belegt in seltener Deutlichkeit, was man zu diesem Zeitpunkt auch innerhalb Deutschlands und trotz der Geheimhaltung wissen konnte, wenn man wissen wollte. Sein Verfasser, der Arzt Rudolf Degkwitz hatte zur Rechtfertigung der von ihm vorausgesehenen und gerechtfertigten totalen Entwaffnung Deutschlands nach der für ihn absehbaren Niederlage geschrieben: „Wer Millionen jüdischer Menschen, Männer und Frauen, Greise und Kinder verbrannt, erschossen, ertränkt, vergast und gehenkt und mindestens ebensoviele absichtlich dem langsamen Hungertode und den Seuchen überliefert hat, darf sich darüber nicht beklagen. Außerdem haben wir in den besetzten Ländern viele Tausende wehrloser Männer, Frauen und Kinder als Geiseln erschossen, viele Zehntausende russischer Gefangener hinter der Front abgeschlachtet und innerhalb der deutschen Grenzen mehr als eine Million russischer Gefangener absichtlich verhungern oder erfrieren lassen“ (Degkwitz 1946, 228). Was in kaum einem Text der ersten Jahre nach Kriegsende in dieser Deutlichkeit und Konkretheit ausgesprochen wurde und was Teile der Öffentlichkeit noch Jahrzehnte nicht wahrhaben wollten, bis es durch die Wissenschaft eindeutig bestätigt und belegt wurde, das schrieb dieser Autor bereits 1943 unter Lebensgefahr nieder. Es ist der einzige Text unter meinen Quellen, der die jüdischen und russischen Opfer in einem Atemzug benennt.
II. Politik der geistigen Umkehr und Erziehung
Alfred Weber: Politik als Erziehung zum freien Menschentum angesichts des Doppelgesichts der „transzendenten Hintergrundmächte“ Alfred Weber, der jüngere Bruder Max Webers, mußte nach Lehr- und Publikationsverbot ab 1933 sein großes Werk „Kulturgeschichte als Kultursoziologie“ 1935 im Ausland veröffentlichen; trotz zeitweise heftiger Meinungsunterschiede und Verstimmungen bildete er zusammen mit Karl Jaspers und Marianne Weber in den Jahren des Nationalsozialismus das klandestine geistige Zentrum Heidelbergs, in dem im privaten Austausch zeitdiagnostisch die Entwicklung von Hitlers Herrschaft, der Krieg und die durch ihn herbeigeführte Lage danach diskutiert wurde (Demm 1999, 234ff). Seine 1946 bei Claassen & Goverts in Hamburg verlegte Schrift „Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus“ (Weber 1946) stellt gegenüber den meisten anderen hier später herangezogenen Veröffentlichungen dadurch eine Besonderheit dar, daß der Verfasser in der Vorbemerkung feststellt, sie sei „geschrieben worden in der letzten Zeit des Krieges, als klar wurde, daß er ein die weitere Geschichte von Grund aus umwälzendes Ereignis werden würde“ (Weber 1946, 7). Weber war also einer der wenigen Autoren, die das Kriegsende und die totale Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands voraussehend und herbeisehnend diesen Zustand in einem größeren Manuskript auch antizipierten. Schon in diesem offenkundig 1944-45 geschriebenen Text kommt dabei – wenn auch noch sehr vage – ein politischer Anspruch des Autors zum Ausdruck, auf die zukünftige politische Gestaltung im besiegten Deutschland mindestens publizistisch Einfluß zu nehmen. Am Anfang aber steht verständlicherweise wie bei fast allen hier traktierten Autoren mit der relativen Ausnahme von Karl Jaspers der Versuch, den Nationalsozialismus in die Geistes- und Realgeschichte Deutschlands einzuordnen und vor diesem Hintergrund zu verstehen. Darauf kann hier nur wenig eingegangen werden – nur soviel: Das im Titel angesprochene Ende bisheriger „Geschichte“ bezieht sich auf den Terminus „Abendland“, der die griechische, römische und christliche Prägung der europäischen Kultur seit dem Ausgang der Spätantike zusammenfaßt, die in der Renaissance ihre höchste Ausprägung gefunden hat; nachfolgend sei durch den einseitigen Rationalismus der Aufklärung, der im Positivismus und Nihilismus des 19. Jahrhundert mündete, das einst bestehende geistige und kulturelle Fundament mehr oder weniger zerstört worden. Kapitalismus, moderner Staat und naturwissenschaftlicher Geist reprä-
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sentieren dabei gleichermaßen diese Vereinseitigung des Rationalismus gegenüber den umfassenderen menschlichen „Anlage-Potentialen“. Mit dieser These über das endgültige Ende des „Abendlandes“ als bisher kulturell prägendem Leitbild Europas und Deutschlands galt für Alfred Weber jedenfalls nicht Axel Schildts pauschale Behauptung, daß in vielen Beiträgen dieser Zeit „mit Neuanfang Besinnung auf abendländische renovatio gemeint war, und ‚Abendland‘ war wohl in dieser Phase eines der im positiven Sinn meistbenutzten Worte“ (Schildt 1999, 154). Diese These kann vor allem für die Literatur aus süddeutsch-katholischem Umfeld mit stark anti-preußischem Tenor Geltung beanspruchen, von der noch die Rede sein wird. Auch findet sich die zukunftsorientierende Berufung auf das „Abendland“ keineswegs ungebrochen in allen damals wichtigen Zeitschriftenprojekten wie etwa der „Wandlung“, dem „Ruf“ oder selbst den linkskatholischen „Frankfurter Hefte(n)“. Für das politische Denken Webers besonders bedeutsam in diesem nicht unüblichen geistesgeschichtlichen Krisenszenarium der modernen Gegenwart ist seine einseitig-eindeutige Kritik des Staates, genauer der spezfisch deutschen Verselbständigung des Staatsbegriffes seit Hegels objektiv-idealistischer Philosophie, wie sie sich hernach im praktischen Staatsdenken etwa eines Heinrich von Treitschke und darüber hinaus in der deutschen Sonderentwicklung einer juristischen Allgemeinen Staatsrechtslehre auf allen Seiten des politischen Spektrums als dominant erwiesen habe. Vom „Staat“ erwartet sich Weber – auch nach 1945 – nichts Gutes: „Nicht Verstärkung sondern möglichster Abbau der Staatsgewalt und Sicherung gegen staatliche Übergriffe, das ist überall, wo man die Schrecken des staatlichen Totalitarismus erfahren hat, die Parole der Denkenden“ schreibt Weber 1947 (in Weber 1979, 63); alle Hoffnung liegt bei ihm auf der Hebung des moralischen Durchschnittscharakters der Einzelmenschen, auf deren Erziehung zur „Selbstregierung“ auch unter den soziologischen Bedingungen des Massenzeitalters es ihm in Zukunft ankommt. Wie sich zeigen wird, kann man dieses oder ähnliches weitausholende geschichtlich einordnende Denken nicht nur bei fast allen hier behandelten Autoren beobachten, man kann sie auch danach unterscheiden, ob sie eher für eine geradezu zwangsläufig im Nationalsozialismus mündende „Vorgeschichte“ in der Art der später diskutierten „Sonderwegthese“ votieren, ob und wie sie in dieser „Vorgeschichte“ das „Schuldige“ vom zu „Rettenden“ einer guten Tradition differenzieren oder ob sie den Nationalsozialismus als ein völlig traditionsloses kontingentes Ereignis der jüngsten Geschichte ansehen. Dazu liegt seit längerem eine quellengesättigte Dissertation (Eberan 1983) vor, die aber gerade in politiktheoretischer Hinsicht wenige Interessen befriedigen kann. Auch im letzteren Fall reicht das Spektrum wiederum von ersten Versuchen der Erklärung des Nationalsozialismus aus einem bestimmten Verständnis der „Moderne“ bis hin zum jede Erklärung und kontextuierende Deutung abbrechenden Versuch, den Nationalsozialismus auf den „Einbruch des Dämonischen“ oder des „radikal Bösen“ (Arendt 1986, 701) in die Ereignisgeschichte zurückzufüh-
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ren. Hannah Arendt hat übrigens später – im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß in einem Brief an Gershom Scholem ihre frühere Auffassung revidiert: „I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen ... es hat keine Tiefe und auch keine Dämonie“ (Arendt 1989, 78). In den meisten Texten findet sich freilich eine strengere theoretische Maßstäbe irritierende Mischung all dieser Deutungsversuche – so auch in dem Buch Alfred Webers, das man aber keineswegs damit abfertigen kann, daß man ihm wegen der Einordnung der allgemeinen soziologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus in breitere europäische Dimensionen der Kultur- und Strukturgeschichte eine bewußte Schuldentlastungstendenz unterschiebt. Wenn Jeffrey Olick, Alfred Webers „Abschied von der bisherigen Geschichte“ nach der englischsprachigen Ausgabe zitierend, die den Titel „Farwell to European History or The Conquest of Nihilism“ (Weber 1947) trägt, feststellt: „A second major feature of immediate postwar ‚explanations‘ – even more exculpatory than the first – was what had happend to Germany was by no means unique to Germany“ (Olick 2005, 166), so grenzt das an Manipulation. Dabei ist die aus welchen Gründen auch immer erfolgte Wahl des englischsprachigen Titels ja durchaus hintersinning als Anspielung auf eine ,deutsche Sonderwegthese‘ zu verstehen, die aber nicht Webers niedergeschriebener Auffasssung entspricht. Weber stand mit seinem Versuch, die allgemeinen, gewissermaßen modernisierungstheoretischen Hintergründe der Ermöglichung einer totalitären Diktatur aufzuzeigen, auch keineswegs allein. Wie auch das Beispiel des in Heidelberg zum Diskussionskreis Alfred Webers gehörenden Alexander Mitscherlich zeigt, geschieht dies aber keineswegs mit dem Ziel der politischen oder moralischen Exkulpation, sondern für ihn gilt es, „im Hinblick auf die abendländische Position den Versuch der Deutung des Wiedererscheinens der Diktatur aus den Bedingungen eines bloß nationalen Geschehens herauszulösen. Dabei wird nicht eine einseitige Entlastung angestrebt, sondern eine Erkenntnisgrundlage für eine konstruktive Überwindung des Zustandes, dessen ganze Tragweite wir erst langsam begreifen“ (Mitscherlich 1947, 5) – eines Zustandes, muß man hinzufügen, der mit der Niederlage des Nationalsozialismus in seinen kulturellen und sozioökonomischen Voraussetzungen keineswegs überwunden ist. Webers soziologisch-genetische Rekonstruktion der Bedingungen für die nationalsozialistische Machtergreifung und Herrschaft hält nun aber gerade einen für soziologische Herangehensweisen erstaunlich breiten Kontingenzkorridor für individuelles Entscheiden und Handeln sowie für außersoziologische Faktoren bereit, von dem gleich die Rede sein wird. Gerade deshalb ist Webers Buch interessant und eigenständig. Zur Charakterisierung des Regimes verwendet er durchgehend den Begriff „TerrorRegime“: „Wer lernen will, was ein totales, bis zur Kontrolle der letzten Lebensfasern in modernster engmaschiger Zellenorganisation, unter völliger Versklavung der Bevölkerung durchgebildetes ,Terror-Regime‘ “ gewesen ist, der müsse vor allem die erste, bis zum Krieg reichende Phase des Nationalsozialismus stu-
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dieren (Weber 1946, 223). Dieses habe mit den Mitteln der „Massenpsychologie“ einer „allerdings lammsgeduldigen und denkträgen, Ordnung liebenden und an Ordnung gewöhnten Bevölkerung Ordnung und Brot“ geboten, „Brot, von dem diese Bevölkerung nicht ahnt, daß es im wesentlichen nur durch fieberhafte Kriegsvorbereitung vom ersten Tag an, also gewissermaßen als Kriegsvorspeise geboten werden konnte“ (Weber 1946, 223). Verglichen mit dem berühmten auf „Terror“ zugespitzten Versuch Hannah Arendts, das Wesen totaler Herrschaft zu erfassen (Arendt 1986, bes. Teil III), fällt bei Weber neben den Gemeinsamkeiten vor allem zweierlei auf: die Geringschätzung der Rolle der NS-Ideologie und die auch an anderer Stelle stets betonte, hier durch den Topos „Brot“ symbolisierte Behauptung einer wohlfahrtsstaatlichen Korruption der Bevölkerung, der es nach 1933 materiell bis Kriegsbeginn im Durchschnitt scheinbar besser ging als vorher und deren Akzeptanz des ja im Alltag zu beobachtenden Terrors gegen die Juden, Systemgegner und Minderheiten damit teilweise „erkauft“ wurde, wie Götz Aly in seinem diese monokausale These zu sehr in den Vordergrund rückenden und deshalb theoretisch unbefriedigenden Buch am Ende doch nicht ohne allen Anlaß betont (Aly 2005). Anders als Aly, der sich in der Verabsolutierung seiner These dazu versteigt, den „Sozialismus“ am vermeintlichen „nationalen Sozialismus“ ernst zu nehmen (z.B. Aly 2005, 360) oder gar Ursache und Wirkung zwischen Terrorregime und vermeintlicher wohlfahrtsstaatlicher „Sorge um das Volkswohl der Deutschen“ (Aly 2005, 345) auf den Kopf zu stellen, wie Michael Ruck in einer vernichtenden Kritik des wissenschaftlichen Anspruchs von Alys Buch zurecht feststellt (Ruck 2005), führt die realistische Beobachtung von Alfred Weber aber eben nicht zur Verkennung des eigentlichen Sinns und Zwecks nationalsozialistischer Politik. Daß dieses „Terror-Regime“ trotz der problematischen Entwicklungen in der Geschichte Deutschlands, die Weber vor allem seit dem 19. Jahrhundert als gegeben ansieht und für die er vor allem das Wechselspiel von naturwissenschaftlichem und technologischem Positivismus und geistigem Nihilismus verantwortlich macht, keine Zwangsläufigkeit der Entwicklung darstellte, sondern politisch entschieden wurde und also verantwortet werden konnte und mußte, geht aus Webers allgemeiner Betrachtung über die Kontingenz in der Gesellschaftsentwicklung hervor, die in der Betrachtung der Vergangenheit wie bei den Überlegungen zur Gestaltung der Zukunft gleichermaßen Geltung beanspruchen kann: „Wir können in der Geschichte stets nur äußere Bedingungen samt den in ihnen enthaltenen Möglichkeiten und die Ausnutzung dieser Möglichkeiten durch spontane Eingriffe erkennen. Was geschieht, ist kontingente Erfüllung einer unter vielen Möglichkeiten in dem auf diese Art geschaffenen Raum“ (Weber 1946, 15). Politik, jener spontane Umgang mit Bedingungen und Möglichkeiten durch „Eingriffe“ in den Lauf der Dinge ist also etwas anderes als der bewußte oder gar unbewußte Vollzug von Gesetzmäßigkeiten wie in einer dogmatisierten marxistisch-leninistischen Perspektive (zur Kritik: Fleischer 1969) oder aber der bloße „Zufall ... von Variation und Selektion“, der nach
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jüngster Theoretikeransicht angeblich sogar die Fortschrittsgeschichte der Freiheit „regiert“ (Brunkhorst 2000, 12). Nach Weber sind die Subjekte jener ,spontanen Eingriffe‘ stets die „konkreten Einzelmenschen“, einzeln oder in ihrem Zusammenwirken, auf deren „durchschnittliche Charakterqualität“ es ankomme und die deshalb in Zukunft durch „Massenschulung, Schulung ... Umbau der Erziehung ... Massenformung und -umformung“ (Weber 1946, 234) heranzubilden die vordringlichste Aufgabe als Voraussetzung für die von ihm angestrebte „freiheitliche Massenregierung“ sei (Weber 1946, 231f). Diese Aufgabe der Massenerziehung stellt sich nach Weber heute vor allem den „Geistigen“, denn „wir, die Geistigen wollen doch Freiheit, geistige Freiheit“ und im direkten Appell an diese Elite, den eigentlichen Adressaten seines Buchs, fährt er fort: „Kann es aber heute geistige Freiheit geben, anders als auf der Basis der politischen? Und ist politische Freiheit heute ... als etwas anderes möglich denn als politische Massenfreiheit, und das heißt Massen-Selbstregierung? Ganz gewiß nicht. Also Massen-Selbstregierung!“ (Weber 1946, 233f). Zweierlei fällt wiederum auf: glaubt man im ersten Moment in der durchgängigen Charakterisierung der Moderne seit dem 19. Jahrhundert als eine der „Bedingungen“ von der im Zitat über die „Kontingenz“ die Rede war, den traditionellen antidemokratischen Massendiskurs von rechts (König 1992) zu erkennen, so erweist sich bei näherem Hinsehen wenigstens bei Weber die Annahme als falsch, daß es nur diese antidemokratische Stoßrichtung geben könne. Wie schon die voranstehenden Zitate verdeutlichen, geht Weber zwar von der realsoziologisch gewiß nicht zweifelhaften Existenz der Massengesellschaft gerade auch in der Politik und hier im Gegensatz zum 19. Jahrhundert aus, ebenso gewiß wie sein älterer Bruder Max auch weiterhin von einem Bedarf der „Auslese“ für Leitungsfunktionen und politische Ämter (Weber 1946, 234, 242ff). Im Gegensatz aber zum antidemokratischen Massendiskurs in der Tradition eines Le Bon – um von Hitlers „Mein Kampf“ hier gleich zu schweigen –, nach dem „die Masse“ strukturell und dauerhaft unfähig zur Freiheit und Selbstbestimmung und mit ihrer angeblichen Leidenschaft gefährlich für jede höhere Kultur sei und deshalb durch „Führung“ gebändigt werden müsse, stellt er fest: „als allgemeine Deutung wäre solch ein negatives Urteil (über die Masse, M.G.) ein Vorurteil“ (Weber 1946, 231). Wie bereits zitiert, hält Weber die Angehörigen der „Masse“ nicht nur für bildungsfähige Persönlichkeiten, sondern er gründet auch auf ihrer zukünftigen Bildung die Idee einer „Massen-Selbstregierung“ als den von ihm für wünschbar gehaltenen Regimetypus der Zukunft. Gerade aus politikwissenschaftlicher Sicht ist nun hier die Vermeidung des Demokratiebegriffs zugunsten dieses sperrigen Neologismus auffällig; sie kann angesichts der Häufigkeit, mit der letzterer Verwendung findet, kaum ein Zufall sein. Wirkt hier die ehemalige Einordnung der „Demokratie“ als „undeutsch“, „westlich“ nach, wie sie etwa noch vor seiner demokratischen Wende in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ bei Thomas Mann so beispielhaft vorgeführt war?
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Weber jedenfalls geht es bei seinen aus politikwissenschaftlicher Sicht durchaus noch recht vagen Andeutungen über die präferierte „Massen-Selbstregierung“ um die durch ,Verapparatung‘ in ihrer Menschlichkeit auch nach dem Verschwinden des Nationalsozialismus bedrohten, „apparat-verwendeten Massen“ (Weber 1946, 234), die ganz im Sinne des berühmten Zitats seines älteren Bruders über das drohende „Gehäuse der Hörigkeit“ in der Gefahr stünden, ihre „substanziell transzendente Wesensfreiheit“ (Weber 1946, 240) einzubüßen. Sie sollen daher durch die angesprochene Massenerziehung, „durch Weckung ihrer natürlichen Spontaneität, und das heißt vor allem durch Pflege und Anspornung ihrer Freiheits-Anlagemächte insbesondere durch politische Freiheit und möglichste praktische Selbstregierung“ (Weber 1946, 239) zur (Massen-) Selbstregierung gebracht werden. Diese ist nicht allein mit irgendeiner Form der institutionalisierten politischen Demokratie, die trotz des Fehlens des Begriffes von Weber auch gemeint ist, gleichzusetzen und auf diese begrenzt, sondern reicht darüber hinaus in andere gesellschaftliche Bereiche, insbesondere die Arbeits- und Wirtschaftswelt hinein. Weber plädiert nicht nur für „die Verstaatlichung oder besser noch Verwandlung einiger der entscheidenden deutschen Kriegspotentialindustrien in korporative öffentliche Gebilde“ (Weber 1946, 246), sondern will ausdrücklich die „selbstverwaltete Freiheit“ auf den „äußeren Lebensrahmen, also vorwiegend Materielles (Lohn, Arbeitszeit u. dgl.)“ ausgedehnt wissen und sieht selbst in „jedem Ringen um Verbesserung der Arbeitsexistenz, jedem daraus hervorgehenden Arbeitskampf“ stets den „Willen zu freiem Menschentum“, den es zu fördern gelte (Weber 1946, 240), weil er auch „ins Praktische und vor allem Politische ausstrahlt“ (Weber 1946, 241). Hier liegen die Ansatzpunkte für jene Konzeption des „Freien Sozialismus ... unter Vermeidung überflüssiger und schädlicher Verstärkung autoritärer und leicht einseitig beeinflußbarer Bürokratie“ (Weber 1947a, 5), dessen Ideen und Programmatik Weber 1945 und in den folgenden Jahren, durchaus mit eigenen politischen Ambitionen, anknüpfend an seine Ideen aus den zwanziger Jahren in mehreren kleineren Beiträgen entwickelt und dem er nach 1945 zahlreiche Aktivitäten und Denkschriften widmet (ausführlich dazu Demm 1999, 371ff). Dieser Sozialismus ist zuförderst antibürokratisch, antietatistisch und antiautoritär konzipiert und hat mit dem traditionellen Sozialismus der Arbeiterbewegung wenig zu tun. Auffällig aus heutiger Sicht ist, wie Weber – geradezu visionär – die Entwicklung der europäischen Integration, ja mehr noch die aktuelle Debatte über ,global governance‘ vorwegnimmt. In einer Zeit, in der aufgrund der „naturwissenschaftlichen und technischen Umwälzungen“ das alltägliche „Dasein völlig veränderten Verkürzungen und ständigen Universalkontakten“ ausgesetzt, die Welt „ein Gebilde ohne unübersteigliche Entfernungen, ohne geschiedene Welten der Wahrnehmung und Aktion“ geworden sei (Weber 1946, 10f) – heute spricht man vom „globalen Dorf“ und „Globalisierung“ –, sei „der alte freie souveräne Rivalitätsstaat ... jedenfalls als allgemeiner politischer Formungstyp zu Ende“ gekommen (Weber 1946, 19), hatte er schon vor
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Kriegsende geschrieben. Aufgrund der von ihm – u.a. unter Mitwirkung des später am Fachbereich Politikwissenschaft der FU Berlin und seinen Vorläuferinstituten lehrenden Gert von Eynern – bereits in den zwanziger Jahren empirisch untersuchten und nachgewiesenen realen „produktionswirtschaftlichen Integration Europas“ hält er das „politisch so zersplittert gewesene Europa“ objektiv für anachronistisch und sieht eine „syndikale Gesamtverwaltung Europas“ durch einen „europäischen Konsultativrat“ kommen (Weber 1946, 247251) – und in seinen politischen Schriften nach 1945 für geboten an. Interessant ist hier die Feststellung, daß anders als andere, vordringlich friedenspolitisch begründete Europa-Ideen, Webers Auffassungen über das, was kommen wird und kommen muß, soziologisch aus der Entwicklung von wirtschaftlicher und technologischer Verflechtung abgeleitet werden und daß seine Kritik des souveränen Nationalstaates auf einer ähnlichen Diagnose beruht wie die heutigen Diskussionen über Funktionsverluste des Nationalstaates im ,Containermodell‘ (Ulrich Beck) in einer „globalisierten“ Welt. Angesichts des von ihm vorausgesehenen „kontrollierenden Systems zusammenoperierender großer Weltgruppen“ in West und Ost werde das „Europa im alten Sinne“ an Bedeutung verlieren und im Sinne „gleichwertig konkurrierender Machtstaaten danach verschwunden sein“ (Weber 1946, 245). Diese neue Epoche sei freilich auch als „Resultat dieses Krieges“ (Weber 1946, 244), der „etwas völlig Andersartiges geworden (sei) als ehemalige Kriege ..., (nämlich, M.G.) eine mit allem Raffinement betriebene systematische gegenseitige Vernichtung“, also „totaler Krieg“ (Weber 1946, 16), entstanden. 1945 fügt er dem in einem Beitrag „Über das Problem der Macht“ im ersten Jahrgang der Zeitschrift „Die Wandlung“ die Erfahrung des Abwurfs der beiden ersten Atombomben hinzu und schließt angesichts von deren Zerstörungskraft daraus, „daß jeder künftige Krieg, soweit es in menschlicher Kraft steht, unmöglich gemacht werden muß“ (zit. n. Weber 1979, 112). „Soweit es in menschlicher Kraft steht ...“ – Formulierungen wie diese machen auf Passagen in den Schriften des Soziologen Alfred Weber aufmerksam, die aus heutiger Sicht und einer handlungstheoretisch orientierten Politikanalyse nur schwer nachzuvollziehen und zu verstehen sind. Selbst Eberhard Demm, in seiner monumentalen Biographie Alfred Webers diesem durchweg wohlgesonnen, äußert zum Folgenden Unverständnis und Ablehnung: „Am meisten befremdet heute Webers metaphysische Position“, die ihm als „irrationaler Religionsersatz“ (Demm 1999, 273 u. 275) erscheint. Während die bereits zitierten Gedanken über die stets durch handelnde „Eingriffe“ kontingent geschehene Auswahl aus „Möglichkeiten“ sich umstandslos in die hier zugrunde gelegte handlungstheoretische Kontingenztheorie der ,geschichtlichen Entwicklung‘ einordnen lassen, weil es dabei immer um das Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten – „Chancen“ im Sinne Max Webers (Palonen 1998, 133ff ) –, Handlungsrestriktionen materieller und bewußtseinsmäßiger Art sowie schließlich um die aus immer eintretenden nichtintendierten Handlungsfolgen und Interferen-
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zen auftretenden Kontingenzdimensionen geht, wird es immer dann schwierig, um nicht zu sagen unverständlich, wenn Weber „objektiv transzendente Gewalten“ (Weber 1979, 104) oder „die überall in Abstufungen vorhandenen seelisch-geistigen Mächte“ (Weber 1946, 261) als Ursache für Ereignisse oder das Geschehen in bestimmten Phasen ins Spiel bringt. Immer dann wird der epistemologische Raum und das analytische Repertoire einer sozialwissenschaftlichen Konzeption von „Kultursoziologie“ erkennbar überschritten. Vermeintlich „Unerklärliches“ soll offenkundig durch problematische Metaphern und eine „metaphysische Deutung“ verständlich gemacht werden, deren Umrisse Alfred Weber seinem Buch „Abschied von der bisherigen Geschichte“ als „Fragmente zur unmittelbaren Transzendenz“ beigegeben hat (Weber 1946, 254ff). Weber berührt hier Fragen, die bis auf die aristotelische Ontologie zurückgehen und die später die scholastische Theologie und Philosophie vor allem in der Frage des „Kontingenzbeweises“ (z.B. Schmucker 1969) der Existenz Gottes endlos beschäftigt haben. Unter Bezug auf den biologischen Vitalismus von Hans Driesch und angeregt durch Richard Wolterecks „Ontologie des Lebendigen“ (Woltereck 1940) stellt Weber der „unmittelbaren Transzendenz im rein Vitalen“, also dem für die Biologie so schwierigen Begriff des „Lebendigen“, die Annahme einer „unmittelbar seelisch-geistigen Transzendenz“ an die Seite, deren „Sitz“ das Subjekt ist (Weber 1946, 261). Wie der katholische Theologe Josef Schmucker den „Subjektivismus und Idealismus“ Kants in dessen berühmter Kritik der scholastischen Gottesbeweise in der „Kritik der reinen Vernunft“ kritisiert, so wendet sich Weber gegen „den Grundirrtum jedes wertnormativen Idealismus“, indem er konstatiert: „Alle unsere Wert- und Unwertbezeichnungen sind eben nichts weiter als begriffliche Affichen, die wir gewissen Seiten der in der Erscheinungswelt sich manifestierenden transzendenten Gewalten anheften ... ihr Wesensgesamt bleibt uns geheimnisvoll und in seinem Zusammenhang unfaßbar“ (Weber 1946, 263f). Die „sich manifestierenden transzendenten Gewalten“ wirken also jenseits subjektiver Vernunft und auf einer Ebene „jenseits der Erscheinungswelt“. Nach Weber bleiben diese „Hintergrundsmächte“ „überzeitlich und überräumlich, unveränderlich ... wie die gesamten transzendenten Hintergrundschichten, also im menschlichen Sinne ewig“ (Weber 1946, 270). Es ist bei dem gebildeten Weber, der Augustin und Thomas kennt und zitiert, sicherlich kein Zufall, wenn er hier als Attribute jener „Hintergrundsmächte“ eben jene wählt, die in scholastischen Gottesbeweisen die zentrale Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund hatte er bereits in seiner 1935 veröffentlichten „Kulturgeschichte als Kultursoziologie“ in der Einleitung angemerkt, daß sich „mit den Zeiten des Eintritts großer Völker in die Geschichte, aus einer Anfangskonstellation ... die ethnisch-seelische Substanz zu etwas Fixiertem, eine ,seelische Entelechie‘ schaffend“ forme (hier zit. n. der 2. Aufl., Weber 1950, 27), um dann fortzufahren: „Es ist ein hinzunehmendes Faktum immanenter Transzendenz, daß das seelisch-geistige Wollen gleichsam durch uns hindurch
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auf die gegebene Lebenssubstanz und deren von uns selbst gewandelte Gestaltungsbildungen wirkt, spontan, unzerstörbar“ (Weber 1950, 28) und daß dieses wirkende „Faktum“ nicht nur positiv für die Entwicklung von Hochkulturen Verantwortung trägt, sondern daß auch „das Dunkle, Dumpfe, Ungehobene, das Schwere, das nicht zur harmonischen Vollendung geklärte ebenso zu unserer Gesamtexistenz gehört“ (Weber 1950, 28). Ohne den Anspruch zu erheben, damit Alfred Webers skizzierte Metaphysik der „geistig-seelischen Existenz“ philosophisch und analytisch zureichend geklärt zu haben, sollen diese Andeutungen genügen, um die in seine soziologischen und zeitdiagnostischen Schriften eingebetteten Hinweise darauf einordnen zu können, daß neben den sozialwissenschaftlich beschreib- und analysierbaren Akteuren und Organisationen sowie ihrer „Bedingungsfaktoren“ vor allem bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus „noch etwas anderes gefühlt (wird, M.G.), das am Werke war“ (Weber 1946, 224). Das liest sich dann so: „Es wuchsen scheinbar Kräfte aus dem Boden: machthungrige, verschlagene Handlungsgiganten, die man vorher nicht gekannt hatte, schienen wie aus gesäten Drachenzähnen zu erstehen. ... Eine verdeckte und angekettet gewesene kollektive überpersönliche Macht war plötzlich aus ihrem Gefängnis ausgebrochen. ... Es war eine plötzliche Verfinsterung, die eintrat, in der man den unheimlichen Flügelschlag der Mächte spürte, von deren Wirkung man in den Geschichtsbüchern als von dem Auftreten von seelischen Massenepidemien gelesen hatte, die man aber niemals als wirklich, geschweige denn im eigenen Volkskörper möglich tatsächlich realisiert hatte. Der Flügelschlag dunkler dämonischer Kräfte; es gibt keinen anderen Ausdruck, um die überpersönliche und zugleich transzendente Art zu bezeichnen“ (Weber 1946, 224ff). Weber beugt einer psychologisierenden Deutung dieser Passagen ausdrücklich vor: „Man kann das natürlich kollektiv-psychologisch oder individual-psychologisch zu deuten suchen. ... Das eigentliche Wesen des Vorgangs erfaßt man damit nicht“ (Weber 1946, 224). Man wird nicht umhin können, diese in der Intention Alfred Webers keineswegs beiläufigen Passagen als Ausdruck einer in die theoretische Soziologie hineinragenden deistischen Metaphysik zu deuten, die sich durch das ganze Spätwerk zieht und bereits vor 1932 bei ihm angelegt ist. „Diese unmittelbare Transzendenz und die gesamte sich uns aufdrängende Hintergrundschicht des Daseins hat ... als ihr zweites Angesicht ... ohne daß ein persönlicher Gott damit in die hier betrachtete Tiefenschicht herbeizitiert zu werden braucht – göttliche Seiten“ (Weber 1946, 227). In seinem Versuch, die Herrschaft des Nationalsozialismus zu verstehen, geht es ihm gewissermaßen um deren ,dunkles‘ und ,dumpfes‘ Gegenüber. „Nicht irgendeine Dämonologie soll hier zur Aufdeckung und Erfassung gebracht werden. Das dunkel Dämonische, dessen Wirken wir wohl alle gespürt haben, gibt uns gewissermaßen nur den Zipfel in die Hand von dem her wir für uns selbst den Vorhang wegzuziehen vermögen, vor einer alles umfassenden, alles gliedernden, allgegenwärtigen Sphäre der hinter der Erscheinungswelt gewissermaßen uns zunächst liegenden Mächte“ (Weber 1946, 227f).
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Damit grenzt sich Alfred Weber bewußt gegen eine damals und bis heute weitverbreitete bloße Metaphorik ab, in der die Herrschaft Hitlers oder er selbst mit Prädikaten wie „dämonisch“, „absolut böse“ oder Ähnlichem bezeichnet wird. Damit wird aber zugleich auch jeder Versuch des deutenden Verstehens oder gar der Erklärung aufgegeben. Wer ohne theologischen oder philosophischmetaphysischen Ansatz solche Ausdrücke verwendet, zeigt nur, daß er oder sie in wissenschaftlicher Hinsicht die „weiße Flagge“ der Kapitulation gehißt hat. Weber hingegen scheint überzeugt zu sein, mit seiner „metaphysischen Deutung“ die „immanente Transzendenz“ der Kulturgeschichte allgemein, vor allem aber ihre ,dunklen‘ Seiten allgemeingültig erfassen zu können – und damit den „Nihilismus“ zu überwinden. Man darf also nicht überlesen, daß Weber in dem zuletzt Zitierten unterstellt, „was wohl alle (!) gespürt haben“, daß er seine Anknüpfung an „immanente Transzendenz“ „nicht privat“, sondern „allgemein-verbindend“ nennt (Weber 1946, 227) und das mit ihrer unmittelbaren, das heißt ohne transzendentale Reflexion erlebbaren „Erfahrbarkeit“ begründet: „Die innere Erfahrung, die, ohne voraufgehende Spekulation zugänglich, als plötzlich aufgerissener Blick in die Hintergründe der uns umfangenden äußeren Vorgänge sich uns aufdrängt, ist als etwas unmittelbar Empfangenes zugleich eine solche, die unser Denken nachträglich zu klären und so zum Teile unserer kritisch geprüften Einsichten zu machen hat“ (Weber 1946, 218). Damit wird dieser Deismus in die Nähe einer „natürlichen Religionsauffassung“ gerückt, ohne daß dies bei Weber jemals ausdrücklich gesagt wird, und das ,nachträgliche Denken‘ in Gestalt der Kultursoziologie mit wissenschaftlichem Anspruch nimmt demgegenüber dieselbe Stellung wie die christliche Theologie im Verhältnis zum offenbarten Glauben ein. Es ist wichtig sich dieses philosophischen Anspruchs ernstnehmend zu versichern, weil erst aus ihm die Reichweite der bereits erwähnten Erziehungs- und Umerziehungsrhethorik Webers recht erkennbar wird: es geht Alfred Weber bei der Erziehung der ,Massenmenschen‘ zur ,Massen-Selbstregierung‘ um nicht mehr oder weniger als die auch politisch bedeutsame Gestaltung eines „neuen Menschenbildes“. Die Politik hat dazu die Bedingungen zu schaffen, dazu beizutragen und findet letztlich in diesem Ziel ihre äußerste Bestimmung. Dieser „neue Mensch“ soll dereinst das Erbe des „Dritten Menschen“ vom Ende des 18. Jahrhunderts mit seinen Idealen des in den Menschenrechten universalistisch konkretisierten Humanismus antreten können – sofern er die mit dem Nihilismus des 19. Jahrhunderts aufgekommene Herrschaft der „Vierten Menschen“, der bloßen „Apparatmenschen“ und „Funktionäre“ des „Massenzeitalters“ überhaupt in ausreichender und zukunftsgestaltender Art überlebt hat. Alexander Mitscherlich, der die skeptische Diagnose Alfred Webers über „das Abaissement du niveau mental, das mit einem so allgemeinen Freiheitsverlust wie dem unsrigen einhergeht“ weitgehend teilt, beruft sich auf das Dollo’sche Gesetz der Evolutionstheorie, wonach eine einmal eingetretene Differenzierung niemals wieder rückgängig gemacht werden könne, wenn er festhält, es könne eine Rückkehr zur alten Freiheitsidee des Humanismus nicht geben; ob es frei-
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lich gelingen könne „aus der (neuen, M.G.) Sozialstruktur heraus dem Einzelnen wieder Verantwortung zuzuschieben (wozu er aus altem Denken heraus schon fast nicht mehr fähig und willens ist)“ (Mitscherlich 1947, 42), das sei weit über Deutschland hinaus die Schicksalsfrage der Zukunft.
Friedrich Meinecke: „Ritonar al segno!“ zu Abendland und Goethe Unter den nach 1945 erschienen politischen Büchern war Friedrich Meineckes „Die Deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen“ zweifellos das erfolgreichste. Nicht nur erlebte es bis Mitte der sechziger Jahre mindestens fünf weitere Auflagen, sondern es prägte mit seinem Titelbegriff auch die vorherrschende Rhetorik und Semantik der Nachkriegszeit. Wenn auch dasselbe Wort ebenso bei den anderen Autoren hier und da Verwendung fand, so wurde es doch bei Meinecke und in der Rezeption seiner Schrift zum allgemeinen Topos – ähnlich wie die „Stunde Null“, über deren tatsächliche Existenz sich hier und da Kontroversen entspannen (dazu Gerhardt 2005). Die Bedeutung dieses Topos scheint nur auf den ersten Blick einfach zu entschlüsseln: als politische oder historische Kategorie hatte das Wort keine Tradition und fand nach dem Register der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ (Brunner u.a. 1997, 602) nur ganz selten und unsystematisch beiläufig im Zusammenhang mit Revolutionen oder Kriegen Verwendung. Lediglich Walter Benjamins polemisch-dialektische Umkehrung, daß „alles ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“ (Benjamin 1974, 683), bringt den Begriff mit Kontinuität und Normalität in eine paradoxe Verbindung, der ansonsten gerade die Unterbrechung des gewohnten Ablaufes, den Einbruch und Zusammenbruch der normalen Ordnung, laut Duden die plötzliche „Wendung zum Schlimmen“, ein „Unglück“, zumeist aufgrund eines äußeren Anlasses, bezeichnet. Verständlich, daß der Begriff eher zur Kennzeichnung von Naturereignissen Verwendung findet; sie erscheinen den Menschen vor allem in ihren verhängnisvollen Folgen zumeist unbegreiflich und ungerechtfertigt. An echten Naturkatastrophen trägt niemand Schuld oder Verantwortung; indem sie wahllos Gerechte und Ungerechte treffen, stehen sie jenseits der moralischen Beurteilung durch Menschen. Bei Erik Reger, dem ersten Herausgeber des „Tagesspiegel“, findet sich zeitgenössisch zum damals weitverbreiteten Topos der „Katastrophe“ der folgende Gedanke: „Nach dem ‚totalen Krieg‘ der totale Zusammenbruch: ein Naturgesetz. Es ist menschlich, wenn wir das Naturgesetz als Katastrophe empfinden, aber es ist nicht politisch“ (Reger 1947, 7). Wieweit die Katastrophe tatsächlich politisch gedeutet wurde, das war nach 1945 die große Frage. Wenn Meinecke in der Vorbemerkung seiner Schrift von den „ungeheuren Erlebnissen, die uns in den zwölf Jahren des Dritten Reiches beschieden wur-
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den“ als dem „heute gestellten Rätsel“ und der „von uns heute erlebte(n) Katstrophe“ (Meinecke 1946, 5) spricht, dann bringt er damit einerseits die erkenntnisskeptische Position eines Historikers zum Ausdruck, der die realgeschichtliche Entwicklung stets als das Zusammenwirken von „Zufall“ und „Allgemeinem“ ansieht. Der „Zufall“, der zumeist in der Gestalt der Wirkung einzelner Personen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation den weiteren Lauf der Dinge ausschlaggebend beeinflußt, übernimmt bei dem Machiavelli-Kenner Meinecke als „dynamisches Prinzip“ die Rolle der „virtu“, die man keinesfalls neuhumanistisch moralisch als „Tugend“ mißverstehen darf, sondern als die kontingente Ansammlung von Machtwillen, Kraft und Geschick in einer Person, deren „fortuna“ sich aber erst in den allgemeinen Bedingungskonstellationen ihrer Zeit entfalten und geschichtsmächtig verwirklichen kann. Meinecke erwähnt also einleitend das „Rätsel“ keineswegs resignativ, sondern um es mit seinen Mitteln dem Leser und der Leserin so weit es irgend geht aufzulösen. Wenn Meineckes Schrift in der Sekundärliteratur so häufig zitiert wird, dann zumeist mit dem Tenor, im Titel wie Duktus der Schrift drücke sich nicht nur die persönliche, sondern die herrschende „Ratlosigkeit“ aus. „Der tief erschütterte Dreiundachtzigjährige, Nestor und Doyen der deutschen Historiker, versucht Antworten zu geben und macht doch, indem er es versucht, nur deutlich, wie unfaßbar, gänzlich unerklärlich ihm und allen der Zivilisationsbruch war, der sich in Deutschland zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 ereignet hatte“, schreibt beispielsweise Peter Graf Kielmansegg (Kielmansegg 2000, 9) – der nicht nur den meineckeschen Topos in den Titel seiner „Geschichte des geteilten Deutschlands“, sondern auch die vermeintliche Ratlosigkeit der meineckeschen Schrift zu übernehmen scheint. Einen Versuch der genaueren Analyse von Meineckes Schrift unternimmt allerdings auch er – wie so viele andere – nicht. Meinecke selbst nämlich gibt sich keineswegs mit der unerklärlichen Unfaßbarkeit des Geschehenen zufrieden, sondern versucht – bei aller Skepsis, damit den „tiefsten“ Gründen auf die Spur zu kommen – doch einen eigenständigen Deutungsversuch. Während stereotyp noch bis in die jüngste Sekundärliteratur Meineckes keineswegs zentraler Gedanke zur Gründung von „Goethe-Gemeinschaften“ als die Quintessenz eines wissenschaftlich unbedeutenden und politisch bestenfalls harmlosen Buches lächerlich gemacht wird (Olick 2005, 161ff), ihm sogar gegen die ausgesprochene Intention des Textes eine „directly exculpatory“ (Olick 2005, 166) Wirkung unterschoben wird, spricht bereits Winfrid Schulze in seinem überzeugenden Überblick über Meineckes Schrift und ihre Rezeption von dessen „systematischen Überlegungen“ (Schulze 1989, 53) und nennt die „Goethekränzchen“ zu Recht einen „marginalen Aspekt eines Buches, der nicht die beachtliche analytische Leistung Meineckes, das Bekenntnis zur Schuld und die Warnung vor neuen Machtgelüsten verdecken sollte“ (Schulze 1989, 55). „Der Zufall und das Allgemeine“ trägt das dafür zentrale 8. Kapitel von Meineckes oft zitierter, aber selten im Detail analysierter Schrift im Titel, dem
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allerdings auch Schulze nur einen Satz widmet, der diese Begriffe immerhin als Zentrum von Meineckes Argumentation identifizierte (Schulze 1989, 54), und wie sich zeigt, verliert hier die „deutsche Katastrophe“ wenigstens teilweise ihren unbegreiflichen quasi-naturhaften Charakter. Reinhart Koselleck hat in einer Abhandlung gezeigt, wie sich zunächst christlicher Providenziasmus, dann das mechanistisch-materialistische Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts gegen den Zufall als Erklärungsprinzip mit jeweils anderen Gründen wehren mußten: einmal widersprach er der christlichen Vorstellung göttlicher Allmacht und Vorsehung, das andere Mal dem materialistischen Kausalitätsdenken, nach dem alles eine Ursache haben müsse. „Die historische Schule des 19. Jahrhunderts“ habe dann „den Zufall bis auf den letzten Rest verzehrt“, und zwar durch komplette Historisierung allen je einmaligen Geschehens (Koselleck 1979a, 170). Bereits vorher, nämlich bei Leibniz, habe sich aber anderes angekündigt, indem dieser „die geschichtlichen Tatsachen der Vergangenheit wie der Zukunft“ lediglich als „verwirklichte oder zu verwirklichende Möglichkeiten, die eine zwingende Notwendigkeit ausschließen“, begriffen habe. Bei aller Begründbarkeit bleiben die Tatsachen kontingent, sie entstehen im Raum „menschlicher Freiheit“, schreibt Koselleck (1979a, 173). Für Meinecke nun tritt genau in diesem nichtdeterminierten „Raum persönlicher Freiheit“ die persönliche Entscheidung und Verantwortung historischer Persönlichkeiten klar hervor, denn, wie sich zeigt, steht das abstrakte Prinzip „Zufall“ in Meineckes impliziter Geschichtstheorie vor allem für die Rolle individueller Persönlichkeiten, die auch angesichts der „allgemeinen“, von ihnen und niemandem sonst zu verantwortenden Umständen stets noch die Wahl, die Freiheit des Entscheidens und Handelns besitzen. Diesen Punkt hatte bereits Gisbert Beyerhaus 1949 in einem Artikel hervorgehoben – der aber die kontingenztheoretische Betrachtung des „Zufalls“ in einer von Berg als „hartnäckig“ beschriebenen „Umprägung der Begrifflichkeit“ des „Meinecke-Buches zu instrumentalisieren“ suchte (Berg 2004, 102f). Während dadurch der „Zufall“ als Abweisung von Schuld und Zurechenbarkeit erschien, ging es Meinecke genau um das Gegenteil: „Der Zufall Hindenburg steht also inmitten der allgemeinen Ursachen, die Deutschland auf diese Bahn gedrängt haben ...“ (Meinecke 1946, 104). Bereits die erste Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten muß man danach zu der kontingenten Reihe von Zufällen rechnen. Hindenburg, der später mit der Entlassung Brünings, dann mit der Ernennung des „abenteuerlichen Intriganten“ von Papen (Meinecke 1946, 102), schließlich aber – nicht zuletzt wohl auch aus persönlichen Gründen und Besorgnissen um seine durch die Aufdeckung seiner Bereicherung im Amt gefährdete Reputation (Kramer 1945, 79ff) – hatte mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 jeweils Entscheidungen getroffen, die durch die „allgemeine Dynamik“ als Möglichkeit nahegelegt, aber keineswegs auswegs- und alternativlos gewesen seien. „Es war ja eine ganz singuläre und in nicht geringem Grade zufällige Verkettung von Ursachen, die zur Machtergreifung Hitlers geführt hat. Keine pressende Notwendigkeit allgemeiner Art
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hat ... Hindenburgs Feder geführt, als er seinen Namen unter Hitlers Ernennung setzte. Abwehrkräfte gegen diesen wären genug da gewesen“ (Meinecke 1946, 138), schreibt Meinecke und verteilt damit klare Verantwortung. Er verweist an anderer Stelle auf sein Gespräch mit dem ehemaligen Reichswehr- und Innenminister Groener über die Reichswehrführung und die sozialdemokratische Regierung Preußens und deren Polizeikräfte, die mit vereinten Kräften der drohenden Gefahr noch bis zum 30. Januar 1933 ein Ende hätten machen können: „Mit Gewalt hätte man sie niederwerfen müssen“, so Groener, „dem stimmte ich ... mit voller Überzeugung zu“ (zit. nach Meinecke 1946, 74). Es ist also unzutreffend, wenn Robert A. Pois pauschal über „Die deutsche Katastrophe“ und ihre Interpretation durch den Historiker Meinecke feststellt, „Politics had been rejected“ – und offensichtlich kein Zufall, daß er bei seiner Interpretation dieses Buches dem zentralen Kapitel über den „Zufall und das Allgemeine“ keine besondere Beachtung schenkt. Auch Berg, in seiner im Übrigen abgewogenen und die gesamte Diskussion sachlich referierenden Darstellung, wendet sich gegen die kontingenztheoretische Interpretation des 8. Kapitels von Meinecke und stellt dem die Hauptthese gegenüber, es handle sich bei Meinecke um ein „historischchronologisches Dekadenzmodell“ (Berg 2004, 72), nach dem die Entwicklung der „Katastrophe“ in fünf Stufen sich als Meineckes „Apotheose des Schicksalsgedankens“ in „Tragödienperspektive“ (Berg 2004, 74f) dechiffrieren lasse. So erhellend diese Deutungsperspektive Licht auf die gerade von vielen lächerlich gemachten Passagen zu Goethe in Meineckes Werk wirft, so stark wird die These überzogen, wenn entgegen Meineckes klarer realpolitischer und realsoziologischer Konkretisierung der beiden die Moderne durchströmenden „Wellen“ daraus bei Berg nur der schwache Abglanz der Versöhnung von „Geist und Macht“ im Sinne der hochstilisierten Goethezeit gesehen wird (Berg 2004, 74). Gegen Bergs „Dekadenzmodell“ spricht neben der Vernachlässigung von Meineckes 8. Kapitel und seiner theoretischen Bedeutung nicht zuletzt, daß Meinecke ausdrücklich unter Berufung auf Friedrich Naumann eine politische Lösung andeutet und auch nach der „Katastrophe“ für das entscheidende Problem der Zukunft hält. Insgesamt hat man auch bei Berg, wie in so vielen Analysen von Nachkriegshistorikern den Eindruck einer massiven Kontingenzverdrängung; übersehen wird dabei, daß ohne Kontingenzbetrachtung auch Überlegungen zur Verantwortbarkeit sinnlos werden. Anders hat das jüngst in seinem kontingenztheoretisch faszinierenden Buch Arnd Hoffmann gesehen, das mir erst nach weitgehender Fertigstellung meines Manuskripts bekannt wurde. Er unterstreicht mit ähnlicher Intention wie ich den zentralen theoretischen Stellenwert dieses vernachlässigten Kapitels in Meineckes Schrift und betont vor dem Hintergrund seiner eigenständigen Überlegungen zur Analyse des Kontingenzproblems, daß Meinecke „extensiv auf kontrafaktische Überlegungen“ zurückgreife, wenn er, wie dargestellt, einen möglichen anderen Geschichtsverlauf auf die „Kategorien Möglichkeit und Freiheit in der Bedeutung von Kontingenz“ zurückführe (Hoffmann 2005, 152f).
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Was kontingenztheoretisch für Hindenburg gilt, sieht Meinecke in noch stärkerem Maße für Hitler, die „schlechthin dämonische Persönlichkeit“ und das „Hitlertum“ (Meinecke 1946, 141) selbst als gegeben an. Hier kommen nun mit dem Topos des „Dämonischen“ und „Parasitären“ Kategorien ins Spiel, mit der die aufklärerisch-erklärende Intention skeptischer Geschichtswissenschaft, die auf einem klaren und nachvollziehbaren Handlungskonzept beruht, regelmäßig ihren Bankrott erklärt. Wenn Meinecke von den „Parasiten des Hitlertums“ spricht, die sich im „Blute“ des deutschen Volkes zeitweilig eingenistet hätten (Meinecke 1946, 141) so erschrickt zumindest den nachgeborenen Leser die Unbefangenheit, ja Fahrlässigkeit, mit der er hier die Sprache und Topoi des nationalsozialistischen Antisemitismus in seiner Deutung für diesen selbst verwendet. Dem korrespondiert noch eine andere Passage, eine von nur zweien, in denen in diesem Buch explizit vom Antisemitismus die Rede ist. Hier geht es um die Mängel der Weimarer Repubik, die zu ihrem Scheitern beitrugen und um „manche unerfreuliche Erscheinungen“ innerhalb der Weimarer Koalition, darunter „kurzfristige Machtgelüste, nicht zum wenigsten Wirkung der Tatsache, daß die an ihr beteiligten Schichten so lange vom Regierungstisch fern gehalten worden waren und nun plötzlich zum Genuß der Macht kamen. Zu denen, die den Becher der ihnen zugefallenen Macht gar zu rasch und gierig an den Mund führten, gehörten auch viele Juden. Nun erschienen sie allen antisemitisch Gesinnten als die Nutznießer der deutschen Niederlage und Revolution. Alles übrige in Deutschland, von solchen Nutznießern abgesehen, schien jetzt rettungslos der Verelendung ausgesetzt zu sein“ (Meinecke 1946, 53). Es fällt schwer, „viele Juden“ am „Regierungstisch“ und „beim Genuß der Macht“ in Erinnerung an die Weimarer Republik sich vorzustellen, denen diese moralisierenden Zwischentöne gerecht zu werden vermöchten; aber vor allem scheint es wieder einmal das vermeintliche Verhalten von Juden selbst zu sein, durch das die „antisemitisch Gesinnten“ sich bestätigt fühlen dürfen. Hier greift einmal Olicks ansonsten häufig das Ziel verfehlende Kritik, wenn er schreibt: „Meinecke’s few remarkts on Jews reflected traditional – though perhaps not fully blown Nazi – prejudices“ (Olick 2005, 174). Berg hebt in seiner umfangreichen Analyse den Satz, wonach in den „Gaskammern der Konzentrationslager ... der letzte Hauch nachchristlich abendländischer Gesittung und Menschlichkeit“ starb (Meinecke 1946, 125) als „irritierend, aber konsequent“ (Berg 2004, 82) hervor, weil damit „die Verbrechen dieser Jahre primär als Verrat am deutschen Kulturauftrag“ (Berg 2004, 72) und nicht als Verbrechen an den Juden und den tatsächlichen Opfern angesprochen würden; diese Kritik an den teilweise vergeistigten Abstraktionen von Meineckes – und nicht nur Meineckes – Sprache ist in ihrem moralischen Anteil berechtigt, aber irgendwie auch Ausdruck einer anachronistischen Perspektive. In dieser heute weitverbreiteten Kritik der zeitgenössischen Literatur schwingt immer auch ein Stück Selbstgerechtigkeit mit. Zurück zur eigentlichen Problematik. Die beiden, nicht identischen Semantiken des „Dämonischen“ und des „Parasitären“ lassen das deutsche Volk als
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bloßes Objekt, ja Opfer einer Übermächtigung durch unerklärliche Kräfte erscheinen, die zumindest der „Persönlichkeit“ Hitlers zugeschrieben werden. Im Unterschied zum deutenden Umgang mit Hindenburgs und Hitlers geschichtlicher Rolle in Meineckes Werk erscheint das „Dämonische“, das durch oder vermittels selten auserwählter „Persönlichkeiten“ geschichtsmächtig wird, als eigenständige dritte Dimension neben dem „Zufall“ der Persönlichkeit, die zur rechten Zeit am rechten Ort durch Entscheiden und Handeln wirkt und jenen „allgemeinen Entwicklungsfaktoren“, die für die jeweils gegebenen Bedingungen und Möglichkeiten ihres Handelns herrschen. Meinecke, der ja Machiavellis Werk und seine Konstruktion von „virtu“ und „fortuna“ gut kannte und in seinen früheren Veröffentlichungen, vor allem in seiner berühmten „Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (Meinecke 1976) breit verarbeitet hatte, scheint dieses Schema hier andeutungsweise um eine dritte Komponente ergänzt zu haben, in der vage christlich-theologische Assoziationen zur eigenständigen Wirkung des Bösen aufscheinen. „Es muß also noch eine besondere Zäsur die Hitlerbewegung von allen bisherigen, ihr irgendwie nahekommenden Bewegungen unterscheiden. Sie ist eines der großen Beispiele für die singuläre und unberechenbare Macht der Persönlichkeit im geschichtlichen Leben – hier nun der schlechthin dämonischen Persönlichkeit. Wer anders als eine solche hätte es vermocht, jenen Verbrecherclub zu organisieren, der das deutsche Volk zu umklammern und auszusaugen vermochte? Verbrecher hätten diese Herren auch ohne Hitler werden können ... Singulär also war die Persönlichkeit, singulär die Konstellation, in der allein es ihr glücken konnte, zur Macht zu gelangen und das deutsche Volk für begrenzte Zeit auf einen Irrweg zu zwingen“ (Meinecke 1946, 141f). „Die schlechthin dämonische Persönlichkeit“, das ist nach der traditionell mythologischen Vorstellung der Dämonie die von einem Dämon „besessene“, später nach christlicher Vorstellung von Gott in seiner Allumfassenheit einseitig abgefallene Persönlichkeit. „Dämonie ist metaphysische Perversion, nicht ethischer Mangel. Darum steht das Dämonische auch nicht in der persönlichen Entscheidung, sondern es hat den Charakter überpersönlicher Macht, es wird wirklich als Besessenheit“ (Tillich 1970, 287), in der sich dessen Dynamik alle anderen Aspekte einer Person unterworfen, sie selbst zum bloßen Werkzeug und Vollzugsorgan denaturiert hat: Machtbessenheit im Falle Hitlers. Man mag die Verwendung des „Dämonischen“ als eigenständige Erklärungsdimension für das Verständnis des nach menschlich-moralischem Erfassungsvermögen Unfaßbaren wissenschaftlich für bedenklich und wenig weiterführend betrachten. Etwas anderes ist es freilich, darin wie bereits am Beispiel Olicks zitiert, eine bewußte Strategie der Exkulpation zu unterstellen, wie dies auch Mary Fulbrook recht pauschal einer ganzen Reihe von zeitgenössischen Autoren und Meinecke unterstellt; sie schreibt: „... to condemn Nazism and Hitler as evil, while at the same time asserting that Nazism neither arose from long-term trends in German history, nor had any intrinsic relationship with the German people, who appear simply to have bumped into it and been blown off
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their proper course“ (Fulbrook 1999, 114), diene allein der Entlastung der Deutschen von ihrer Verantwortung. Dieser Vorwurf trifft von den hier analysierten Autoren selbst Wilhelm Röpke nur in Maßen, der in der Verantwortungseinbeziehung gerade auch der (West-)Alliierten, wie ich noch zeigen werde, am weitesten geht – aber gewiß nicht Alfred Weber, Karl Jaspers, Eugen Kogon oder eben Friedrich Meinecke. Wie gerade Meineckes Analyse mit ihrem anspruchsvollen analytischen Instrumentarium von „Zufall“, „Notwendigkeit“ und dem „Dämonischen“ zeigt, macht es überhaupt keinen Sinn, wie in Fulbrooks Zitat oder Olicks Argumentation die Frage der moralischen oder politischen Verantwortungsübernahme gegen eine geschichtstheoretische Betrachtung langfristiger Trends dichotomisierend auszuspielen. Wenn Meinecke 1946 von der „heute erlebten Katastrophe“ spricht, so darf man das nicht mißverstehen, denn er erlebte „von vorne herein die Machtergreifung Hitlers als den Beginn des allergrößten Unglücks für Deutschland“ (Meinecke 1946, 7) – und es dürfte klar geworden sein, daß sich dieses „Unglück“ nach Meinecke zumindest wesentlich auch den kontingenten Faktoren des „Zufalls“, der Akteure, ihrer Konstellation und der von ihnen zu verantwortenden Entscheidungen und Handlungen verdankt. Wenn Olick entgegen dem gerade zitierten Text und vielen ähnlichen Stellen hingegen behauptet, „for Meinecke and others is May 8, 1945 – the onset of external foreign rule – and what came after, not January 30, 1933“ der Beginn der „ ‚catastrophe‘ “, so grenzt diese falsche Behauptung schon fast an Denunziation. Auch bei Assmann findet sich indirekt dieser an Meinecke falsch adressierte Vorwurf (Assmann 1999, 100); er gehört selbst zu den nachträglichen Konstruktionen einer „Gedächtnisgeschichte“ – die sich inzwischen allzu oft auf die Sekundärliteratur zu verlassen scheint. Aber diese Akteure sahen sich nach der Intepretation des Historikers in Deutschland vor „unaufhaltsame dynamische Ursachen“ (Meinecke 1946, 11) gestellt, mit denen sie fertig werden mußten, die ihre Handlungsvoraussetzungen und Möglichkeiten im Sinne des heutigen Gebrauchs des politikwissenschaftlichen Begriffs von „opportunity structures“ bestimmten. In diesen „tieferen Ursachen der furchtbaren Katastrophe, die über Deutschland hereingebrochen ist“ zeigt sich nach Meinecke das „abendländische Schicksal überhaupt“, genauer noch dessen Ende: „Der Nationalsozialismus Hitlers ... ist keine bloß aus deutschen Entwicklungskräften abzuleitende Erscheinung, sondern hat, so schrecklich eigenartig er sich auch als Entartungserscheinung unseres Wesens darstellt, auch bestimmte Analogien und Vorstufen in den autoritären Systemen der Nachbarländer“ (Meinecke 1946, 9). Meinecke spricht auf dem Hintergrund „der bis dahin verlaufenden Hauptentwicklungslinie in Europa“ von „dieser erstaunlichen Umbiegung“ (Meinecke 1946, 9), die in Deutschland geschehen sei. Diese abendländische „Hauptentwicklungslinie“ wird – unter Berufung vor allem auf Jakob Burckhardt – durch folgende „unaufhaltsame dynamische Ursachen“ bestimmt: als Folge der „optimistischen Illusionen der Aufklärungszeit
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und der französischen Revolution“, die Burckhardt noch „zu sehr als ein moralischer Entartungsprozeß der europäischen Gesellschaft“ erscheint (Meinecke 1946, 10f), erwiesen sich nach Meinecke doch in ihrem Gefolge realgeschichtlich die „Mobilisierung der Massen und Erweckung nicht nur der Freiheits-, sondern auch Macht- und Erwerbstriebe“ zusammen mit der „zuerst in England sich anbahnenden wirtschaftlich-technischen Revolution“ sowie der „ungeheure Druck, den die jetzt viel schneller als bisher wachsenden Volksmassen auf alle bisherige Gesellschaftsordnung und Kultur fortan ausübten“ als die entscheidenden objektiven Entwicklungsfaktoren. „Die alte Gesellschaft und die neuen Massen, das war fortan die Relation, in der sich alles unter der Decke, zentral oder peripherisch vollzog“ (Meinecke 1946, 11). Dabei ist für Meinecke „die rapide Zunahme der Bevölkerungsmassen seit Beginn des 19. Jahrunderts ... die elementarste und dynamisch stärkste Ursache des universalen Umgestaltungsprozesses des Abendlandes“ (Meinecke 1946, 13). Diese drei Faktoren zusammen aber formen sich in der metaphorischen Sprache Meineckes zu zwei „Wellen“, deren Überlagerung schließlich zur „deutschen Katastrophe“ werden wird. Die erste Welle ergibt sich für Meinecke daraus, daß die „Massen ... naturgemäß zuerst zur Demokratie, darüber hinaus dann aber, um ihren Lebensstandard völlig zu sichern, zum Sozialismus“ drängen (Meinecke 1946, 11). Der „Gefahr“, die aus dieser drohenden „Revolution“ resultierte, wurde „man zunächst wieder Herr, teils durch eigene vorbeugende, repressive oder reformerische Innenpolitik, teils und wohl noch viel mehr dadurch, daß schon eine zweite mächtige Welle aus dem gesteigerten Volks- und Massenleben des 19. Jahrhunderts entsprungen war und die erste Welle quer überflutete, mehrfach sie dadurch abschwächte und ablenkte – nun aber nicht mit dem Ziel einer grundstürzenden sozialen Revolution, sondern mit dem Ziel einer machtpolitischen Steigerung des eigenen Volkstums“ (Meinecke 1946, 12). Diese „nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts“ hatte ihre „Hauptanhängerschaft“ in „dem gebildeten und sich bereichernden Mittelstande“, der seinerseits „in seiner Breite, seinem wachsenden Wohlstand und Selbstbewußtsein ein Ergebnis der oben charakterisierten Umwälzungen“ (Meinecke 1946, 12) gewesen sei. In dem „Zusammenprall der beiden großen Wellen der bürgerlich-nationalen und der proletarisch-sozialistischen Bewegung“ (Meinecke 1946, 32) bestand die objektive Situation, vor der sich die handelnden Mächte und Personen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in ganz Europa gestellt sahen. Die bedrohliche Alternative sah Meinecke einerseits in Klassenkampf und revolutionärer Überwindung der bürgerlichen Herrschaft aus der Perspektive der marxistischen Interpretation dieser Konstellation, in der – keineswegs gleichmäßigen – Repression beider Bewegungen aus der Sicht der traditionell-monarchischen Feudalherrschaft des preußischen Hofes im neuen Deutschen Reich andererseits. Die objektive Aufgabe, vor die diese Entwicklung der gesellschaftlichen Fundamente die Politik – nicht nur in Deutschland – freilich gestellt hatte, war
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die Integration oder gar Synthese der beiden Bewegungen, wie sie Meinecke in der „nationalsozialen Bewegung“ Friedrich Naumanns angelegt sah, diesem „rein gedanklich und geistesgeschichtlich betrachtet ... wunderbaren Versuch ... eine(m) der edelsten Träume der deutschen Geschichte“ (Meinecke 1946, 34), die beiden großen Bewegungen „zusammenströmen zu lassen zu machtvoller Vereinigung“ (Meinecke 1946, 33). Für diese nach Meineckes Ansicht auch noch 1946 „in hohem Grade wünschenswert(e), ja eigentlich lebensnotwendig(e)“ Vereinigung mußte freilich „Maß gehalten werden in der einen wie der anderen Bewegung, mußten sie gewissermaßen an einem Punkte miteinander vereinigt werden, wo das Schädliche in jeder der beiden nicht die Überhand gewonnen hatte“ (Meinecke 1946, 33f). Genau dieses „Maß“, das in Friedrich Naumanns erfolglos bleibendem Versuch angeblich (kritisch dazu Radkau 2005, 512) „rein gedanklich“ angelegt gewesen sei, ließen die beiden geschichtsmächtig und real werdenden Versuche einer praktischen Synthese vermissen. Den ersten Versuch sah Meinecke im nach-bismarckschen Imperialismus des wilhelminischen Deutschen Reiches und im zaristischen Rußland verwirklicht und im Ersten Weltkrieg und dessen Ausgang mit schrecklichen Folgen scheitern: „Die imperialistische Idee scheiterte sowohl in Rußland wie in Deutschland mit ihrem Unterfangen, den Sozialismus zu überflügeln und die Millionenheere, diese charakteristische Frucht des gewaltigen Bevölkerungszuwachses im Abendlande, für die Ziele des nationalistischen Bürgertums einzusetzen“ (Meinecke 1946, 14f). Der Imperialismus erscheint in dieser – etwas mechanisch wirkenden Strömungslehre oder Wellentheorie – also als die maßlose Überformung der sozialistischen Bewegung durch die nationale. Dem folgte nun – zuerst in der bolschewistischen Machtübernahme in Rußland erfolgreich und im Winter 1918-19 in Deutschland zunächst scheiternd – der spiegelbildlich ebenso einseitige Versuch einer sozialistischen Revolution. Durch den gescheiterten Revolutionsversuch in Deutschland ebenso wie durch das Ausbleiben einer „klaren Auseinandersetzung der imperialistischen und der sozialistischen Idee“ in „den Siegerstaaten Westeuropas und Nordamerikas“ (Meinecke 1946, 15) blieb die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Frage des Verhältnisses der beiden großen Bewegungen vorläufig in der Schwebe, ihr objektiv drohender „Zusammenprall“ aber eine dauernde Gefährdung für den Frieden und die gesellschaftliche Entwicklung. „Aber konnten die beiden großen Wellen des Abendlandes auf die Dauer voneinander getrennt bleiben? Gab es nur Kampf und Gegensatz zwischen ihnen, konnte nicht auch eine innere Verschmelzung beider gelingen?“ (Meinecke 1946, 15). Mit dieser Frage läßt Meinecke 1946 seine aktuelle Gegenwartsdiagnose anklingen, denn seiner Auffassung nach muß man „doch anerkennen, daß sowohl die eine wie die andere Welle, die nationale nicht minder wie die sozialistische, ein tiefes geschichtliches Recht für sich geltend machen konnte. Sie waren keineswegs nur, wie Burckhardts Gedanken nahelegen könnten, Ausgeburten dieser oder jener menschlichen Begehrlichkeit, sondern instinktiv tastende Versuche, die Probleme für die Menschheit zu lösen, die durch den in der
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Weltgeschichte bisher unerhörten Bevölkerungszuwachs aller Länder entstanden waren“ (Meinecke 1946, 15f). Vor diesem Hintergrund erscheinen Meinecke nun der italienische Faschismus wie der deutsche Nationalsozialismus als „Experimente“, „beide Wellen miteinander zu verschmelzen“: „Mit der Verschmelzung der nationalen und der sozialistischen Welle verband sich hier der Gedanke, durch eine autoritäre und konzentrierte, von allen Hemmungen parlamentarischer Art freie Staats-, Volksund Menschenlenkung solcher Verschmelzung Härte und Festigkeit zu geben“ (Meinecke 1946, 16). Den wesentlichen Kern dieser „Verschmelzung“, bei dem die bisherigen Ideale des Abendlandes „in den Schatten traten“, erkennt Meinecke in dem Nachrang der „Einzelseele“, denn nicht länger stand „das Individuum im Mittelpunkte, sondern das aus den Einzelseelen fest zusammengeschmolzene Ganze. Die Einzelseele hatte ihren Eigenwert verloren an das Ganze. Eine ungeheure Umwälzung, ein unausmeßbarer Verlust bisheriger Kulturwerte, der nur tragbar gewesen wäre, wenn die neue Lebensform auch neue, ungeahnte Kulturwerte hervorzubringen vermocht hätte“ (Meinecke 1946, 16f). Das Erstaunliche dieses Gedankenganges ist die nur relative Abwertung des totalitären Aspekts nationalsozialistischer Herrschaft, der ja gerade im uneingeschränkten Vorrang des „Ganzen“ im Sinne von „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ zum Ausdruck kam. Sollte Meinecke es wirklich für denkmöglich gehalten haben, daß es „ungeahnte Kulturwerte“ hätte geben können oder gar in Zukunft geben könnte, die einen solchen totalitären Vorrang und damit die Aufhebung der individuellen Menschenrechte jemals rechtfertigen könnten? Ganz offenkundig wird auch, daß Friedrich Meinecke den Nationalsozialismus – und früher schon den italienischen Faschismus – prinzipiell als einen Versuch ansah, die objektiv aus dem 19. Jahrhundert heraus erwachsene Problem- und Konfliktkonstellation von Nationalismus und Sozialismus, bürgerlicher und proletarischer Bewegung zu lösen. Die totalitäre Herrschaft der Nationalsozialisten bekommt damit eine unterschwellig geschichtsfunktionalistische Rechtfertigung, deren positive Bewertung offenkundig allein an der verbrecherischen Natur seiner maßgeblichen Akteure und der durch die dämonische Persönlichkeit Hitlers bedingten Maßlosigkeit ihrer Verwirklichung scheiterte. Nach der Katastrophe, nachdem Deutschland – wie historisch zuvor schon Schweden, Holland – nur noch als „ausgebrannte(r) Krater der großen Machtpolitik“ (Meinecke 1946, 162) übriggeblieben sei, bleibe ihm nunmehr nichts anderes als die Anlehnung an eine Hegemonialmacht. Gegen die Potsdamer Erklärung der Siegermächte, nach der in Deutschland „Nationalsozialismus und Militarismus als die Quelle aller Beunruhigung für die Welt auszurotten“ seien, wendet er allerdings ein: „Also auch unsere Wehrhoheit, unsere allgemeine Wehrpflicht soll fallen“ (Meinecke 1946, 162) – aber „ohne einen gesunden Wehrgeist kann ein gesundes Volk in Mitteleuropa auf die Dauer nicht leben und sich als Volk erhalten“ (Meinecke 1946, 163). Zuvor aber müsse sich der Machtgedanke in Deutschland vom „Schmutz“ reinigen, dem Militarismus abschwören, damit er „wieder
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bündnisfähig werden könnte für Geist und Kultur“ (Meinecke 1946, 160). Damit knüpft Friedrich Meinecke unmittelbar an seine 1907 zuerst veröffentlichte Interpretation der zeitweise fruchtbaren Synthese von national freiheitlichem Machtstaatsdenken, wie er sie durch „Stein, Gneisenau und W. von Humboldt in den Jahren 1812-1815“ einmal so fruchtbar für die deutsche Kulturstaatsentwicklung verkörpert sah (Meinecke 1911, 155-198), und dem weimarischem kosmopolitischen Geist der ,Goethezeit‘ an – wie überhaupt eine gewisse unterschwellige Analogisierung der Niederlagen von 1806 und 1945 sich durch das ganze Buch zieht. Wiedererlangt werden könne diese Voraussetzung zur Erhaltung des deutschen Volkes aber wohl nur in einem föderalistischen Zusammenschluß mehrerer west- und mitteleuropäischer Staaten als „Gebilde Vereinigter Staaten von Europa“, weiter allerdings „unter der Hegemonie der Siegermächte“ (Meinecke 1946, 161). Damit bleibt aber die historische Aufgabe zumindest europaweit bestehen, zukünftig den erneuten Zusammenprall der beiden geschichtsmächtigen „Wellen“ aus dem 19. Jahrhundert zu vermeiden, ja sie künftig „zu verschmelzen“. „Wir antworten darauf, daß diese Verschmelzung nicht die Sache einer bewußten rationalen Planung sein kann, sondern in allmählicher Evolution und in besonderen Formen für jedes Volk nur vor sich gehen kann“ (Meinecke 1946, 163). Wo einmal der „großartige Entwurf Friedrich Naumanns“ aus machtpolitischen Gründen keine Chance bekam und wo dann Bolschewisten, Faschisten und Nationalsozialisten mit dem Preis der Zerstörung individueller Freiheit ohne neuartigen Kulturgewinn gewaltsam scheiterten, da soll es nun auf einmal die „Evolution“ richten. Hier, nicht aber bei der Interpretation der „deutschen Katastrophe“, kann man am ehesten Robert A. Pois’ bereits zitierte Interpretation über Meineckes ,rejection of politics‘ nachvollziehen; wie Pois selbst zurecht feststellt, handelt es sich dabei allerdings nur um die normative Zurückweisung einer rein am Machterhalt oder der Machtausweitung orientierten Politikvorstellung, eine Zurückweisung des an der vermeintlichen Staatsräson allein orientierten übersteigerten Nationalismus. Die Trennung zwischen Kultur beziehungsweise Moral und Politik, die er aufgrund seiner einseitigen Lektüre angeblich bei Meinecke findet, legt er dabei seiner eigenen Kritik zugrunde, indem er die Zurückweisung einseitiger Machtsstaatspolitik für „a way to the ‚apolitical‘ (Pois 1972, 145), für die Ablehung von Politik selbst hält. Daß davon weder in der historischen Deutung noch bei den für die Zukunft für notwendig gehaltenen Anregungen Meineckes die Rede sein kann, hat schon Stefan Meineke in seinem Forschungsüberblick zur Einleitung seiner eigenen wichtigen Studie über den frühen Meinecke überzeugend herausgestellt (Meineke 1995, 1-42, zu Pois 25ff). Um aber gerade diesen Machiavellismus zu überwinden, müsse sich freilich der nationale Gedanke „von der nationalistischen Überwucherung wieder befreien und humanisieren. Ritonar al segno heißt es ... Hat nicht Herder, als er epochemachend auftrat, Humanität und Nationalität gleichzeitig verkündet?“ (Meinecke 1946, 164).
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Auf dem Wege zu dieser „Wiederhinwendung zu den Altären unserer Väter“ müsse – um die alten konfessionellen Konflikte zu vermeiden – freilich „etwas Neues“ (Meinecke 1946, 167) hinzukommen: In Anknüpfung an den „abendländisch-christlichen Gemeinbesitz“, an dem noch die Freimaurer Anteil hätten, sollte zukünftig „Vielfalt respektiert werden. Nicht bloß Toleranz, sondern Respekt“ könne dann vielleicht ein erneuertes „ökumenisches Christentum“ entstehen lassen (Meinecke 1946, 167). Auf dem Weg dahin könnten die für Meineckes Schrift in der selektiven Rezeption notorisch gewordenen sonntäglichen „Goethegemeinschaften“ den Weg bereiten, ein Gedanke, der bereits unter Zeitgenossen auf Kritik stieß. Alfred Müller-Armarck, dessen „Diagnose unserer Gegenwart“ vor allem auf einer Kritik der säkularisierungsbedingten „Verabsolutierung säkularer Lebensinhalte“ fußt, kritisierte Meineckes Vorschlag, denn er sah in dem Dichter einen ihrer Hauptprotagonisten, wenn nicht überhaupt ihren Gründer: „Der Versuch, aus der Kunst und aus der Freiheit persönlichen Schöpfertums eine neue Gesamtweltanschauung zu schaffen, wurde in sichtbarster Form erstmalig von Goethe unternommen“ (MüllerArmack 1949, 141). Nach gemeinsamer Auffassung bedürfe es aber „keiner radikalen Umschulung, um wieder als Glied der abendländischen Kulturgemeinschaft wirksam zu werden. Radikal verschwinden muß nur der nazistische Größenwahn mit seiner Un- und Afterkultur“ (Meinecke 1946, 173). Vielleicht waren es nicht zuletzt diese Absage an notwendige „Umschulung“ oder re-education und der in der Tat etwas betuliche Schluß, die den Publikumserfolg dieser Schrift mitbedingt haben. Auf jeden Fall überlagert ihre einseitige Rezeption und das „übermäßig fixiert“-Bleiben auf den Vorschlag von „Goethegemeinschaften“ (Meinecke 1995, 33) oft auch in Texten mit wissenschaftlichem Anspruch die bedeutsameren Gehalte dieses eher in der Tradition seiner sonstigen Schriften stehende Buch. Anders als bei Alfred Weber und in moralphilosophischer Hinsicht gibt es bei Friedrich Meinecke keinen radikalen Abbruch des „Abendlandes“, und damit auch nicht einen so offenen Möglichkeitsraum für einen kontingenten Neuanfang, sondern die Jahre nationalsozialistischer Herrschaft erscheinen eher als eine in der Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts angelegte, letztlich aber kurzfristige Unterbrechung. Als Modell für die Zukunft scheint für Meinecke das „Abendland“ einerseits zeitlos das humane Entwicklungspotential sittlicher, geistiger und künstlerischer Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben; es bedarf allerdings der Politiker und in zweiter Hinsicht auch Bürger und Bürgerinnen, die sich an ihnen orientieren. Andererseits gibt es kein Zurück hinter die Dynamiken der modernen Massengesellschaft, die vor allem eine Synthese seiner beiden prägenden Bewegungen Nationalismus und Sozialismus weiterhin aktuell und notwendig erscheinen lassen. Zumindest mit ihren Ausblicken und Hoffnungen auf eine europäische post-nationale Konstellation scheinen hier Alfred Weber und Karl Jaspers weitsichtiger gewesen zu sein, während Meinecke sich vor allem wegen seiner idealisierten Kulturstaats-
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idee die Realisierung abendländischer Sittlichkeit nur im Rahmen des Nationalstaates denken konnte.
Karl Jaspers: Schuldbekenntnis als „geistig politisches Wagnis am Abgrund“ Macht Auch der Philosoph Karl Jaspers hatte nach Lehr- und Publikationsverbot und wegen seiner jüdischen Ehefrau durch alle antijüdischen Diskriminierungsmaßnahmen massiv betroffen in einer Art ,inneren Emigration‘ das NS-Regime knapp überlebt. Im Frühjahr 1945 erreichte ihn und seine Frau noch der Deportationsbeschluß in ein Konzentrationslager, vor dem sie gerade noch rechtzeitig durch Befreiung Heidelbergs durch die amerikanischen Truppen gerettet wurden. Jaspers sollte bis in die sechziger Jahre hinein, als er im Vorfeld der sich abzeichnenden Großen Koalition noch einmal mit dem publizistischen Bestseller „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ (Jaspers 1966) scharfe Diskussionen auslöste, einer der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen in Nachkriegsdeutschland werden – nach moralischem Gewicht und publizistischer Wirkung vergleichbar einem Jürgen Habermas im letzten Viertel des Jahrhunderts. Für Klaus von Beyme wurde er in seinem im Übrigen höchst kritischen Beitrag nach 1945 „rasch zur wichtigsten moralischen Autorität des ‚anderen‘, des unbelasteten Deutschlands und zum Praeceptor Germaniae“ (von Beyme 1996, 130). Die Frage ist allerdings, ob überhaupt und wenn ja, wann Jaspers diese öffentliche Autorität zuwuchs und wie sehr sie gerade mit der Schrift zur Schuldfrage verküpft war, wie dies auch Rabinbach als zentrale These vertreten hatte (Rabinbach 1997, 132), obwohl er doch zugleich Jaspers Klagen über die mangelnde öffentliche Diskussion seiner Thesen, ja über Proteste in seiner Vorlesung und persönlichen Umgebung ausführlich zitierte (Rabinbach 1997, 133f). Bei Jeffrey Olick findet sich eine interessante und insgesamt überzeugende Infragestellung dieser These – jedenfalls für die unmittelbaren Nachkriegsjahre, in denen vielleicht doch eher eine Scham- als die von Jaspers propagierte und geforderte Schuld-Kultur im Sinne der bekannten Dichotomie von Ruth Benedict (Benedict 1989) vorherrschte. Erstere hatte Benedict unmittelbar nach Kriegsende in Japan beobachtet: sie kommt ohne internalisierte generelle moralische Überzeugungen aus und führt im Umgang mit empfundener Schuld und angesichts angedrohter Sanktionen zum Rückzug und zum Schweigen; so konnte man das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den re-education-Bemühungen der Alliierten jedenfalls auch deuten. Umgekehrt beruht die von Jaspers in kantischer Tradition propagierte Schuldkultur auf dem Gewissenszwang, sich durch öffentliches Bekenntnis gerade zu entlasten. Die diametral entgegengesetzten Verhaltensweisen, die im Umgang mit Schuld resultieren, seien beispielhaft nach dem Krieg in Japan und Deutschland jeweils propagiert und prakti-
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ziert worden. Für Olicks Annahme, daß die Wahrnehmungskonzentration auf Jaspers’ prominente Schrift die empirische Dominanz einer Schamkultur bloß überdecke, in der viele den Nationalsozialismus und seine Verbrechen betreffenden Gespräche nur „in der Sicherheit des Schweigens“ (van Laak 1993) möglich gewesen seien, spricht vieles, nicht zuletzt Jaspers’ eigene bittere Einsicht: „Jaspers himself viewed his effort to introduce a culture of guilt as a near total failure“ (Olick 2005, 275). Man sollte aber letztlich Scham- oder Schuldkultur nicht nachträglich als real existierende Alternative betrachten; beide ,Kulturen‘ konnten sich in einer heterogenen Öffentlichkeit auch mischen. Nach Olick entsteht Jaspers’ herausragende Stellung in dieser Frage erst auf der Basis einer nachträglichen Geschichtskonstruktion in den sechziger Jahren: „Jaspers’s argument did achieve quasi-normative status, just not until many decades later“ (Olick 2005, 275), was sich vor allem Jürgen Habermas verdanke, für den „Jaspers’s approach the sine qua non of a healthy German political culture“ sei (Olick 2005, 173). Habermas hatte 1966 in einer keinesweg unkritischen Rezension von Jaspers’ Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ geschrieben: „Karl Jaspers ... hatte unmittelbar nach dem Kriege Thesen zur Schuldfrage vorgetragen ... Jaspers hat damals gesehen, daß ohne ein Bewußtsein der politischen Haftung die verhängnisvolle Kontinuität mit dem Staat, der Konzentrationslager eingerichtet hat, und mit der Gesellschaft, in der die Ermordung willkürlich definierter Minderheiten möglich geworden ist, nicht abreißen würde“ (Habermas 1981, 96f); diese politische Grundintention hat sich durch Habermas’ ganzes Werk durchgehalten (Greven 2005), ja in den von ihm initiierten Auseiandersetzungen des sogenannten „Historiker-Streits“ eher noch deutlicher manifestiert. Nach allem enthält Jan-Werner Müllers Feststellung über Jaspers’ ,Schuldfrage‘ wohl eine doppelte Fehleinschätzung: „The book established the fundamental parameters for post-war discussions of German guilt ... – to such an extent, in fact, that left-liberal intellectuals like Grass and Habermas continued to return to Jaspers’s categories“ (Müller 2000, 27): während Jaspers’ Wirkung unmittelbar nach 1945 und in den Jahren danach durchaus bezweifelt werden muß, brachte erst die – nicht von Instrumentalisierungen freie – Berufung auf ihn in den sechziger Jahren den Durchbruch zum ,Paradigma‘. Schärfer als Alfred Weber, bei dem bei aller Kritik am nationalsozialistischen Ungeist und der für notwendig gehaltenen militärischen Niederlage doch noch eine gewisse Identifikation mit dem eigenen Land stets durchschimmerte, hatte sich Jaspers nach eigenem glaubwürdigen Bekunden 1936 aus Anlaß der Besetzung des Rheinlandes schon den „Einmarsch der Alliierten“ erhofft, den er sogar „bereits seit 1933 begehrt hatte“, wie er schreibt. Denn seine „Grunderfahrung war der Verlust der Rechtsgarantie im eigenen Staat“, den er selbst als Nichtjude aufgrund der in Treue festgehaltenen Ehe mit seiner jüdischen Frau im Alltag bis hin zum schlußendlichen Entzug der Lebensmittelkarten erlitt. „Wohl war keine konkrete Hoffnung auf ein Überleben in der Tyrannei und auf ein Nachher“ (Jaspers, o.J., 69; ähnlich auch in Jaspers 1946, 21), aber wenn
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überhaupt, dann sah er die einzige Chance für die Zukunft paradoxer Weise im Krieg und einer dann wahrscheinlichen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland. Daß eine solche Haltung sicherlich auch bei vielen Nicht-Nazis unter seinen Heidelberger Kollegen und Freunden als „Hochverrat“ galt und lebensgefährlich war, muß ihn und seine Frau im Alltag zusätzlich zu den antijüdischen Repressionen der offiziellen Stellen isoliert haben. Jaspers war im Übrigen nicht der einzige, der diese in der unmittelbaren Nachkriegszeit keineswegs populäre Wahrheit nach der Niederlage öffentlich aussprach. Auch der Philosoph Julius Ebbinghaus, von den Amerikanern eingesetzter erster Nachkriegsrektor der Philipps-Universität Marburg, sprach in seiner ersten Semestereröffnungsrede die zahlreichen Offiziere und Soldaten unter den Studierenden direkt an, wenn er sagte, „daß es sogar Kriege geben kann, in denen zu kämpfen der einzelne zwar aus letzten Gründen des Staatsrechtes verpflichtet werden kann, deren siegreiche Beendigung er sich aber aus eben diesen Gründen unmöglich zum Zweck machen kann“ (Ebbinghaus 1946, 53). Im Wintersemester 1945/46 hält Jaspers seine erste Vorlesung nach dem Kriegsende über die „geistige Situation in Deutschland“, damit im Titel an seine berühmte Veröffentlichung von 1931 anknüpfend. 1946 publiziert er daraus die Teile über „Die Schuldfrage“ (Jaspers 1946) – und sticht damit inmitten des allgemeinen Beschweigens, ja der sich bereits in weiten Bevölkerungskreisen abzeichnenden stillschweigenden Resistenz gegen die alliierten Entnazifizierungspraktiken, in ein politisches Wespennest. Seine einleitende Feststellung, das freie politische Denken befinde sich auch unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft grundsätzlich in einer ganz anderen Lage als unter der Diktatur des Nationalsozialismus, ruft im Publikum damals Proteste hervor (Rabinbach 1996, 149). Ausgehend von der moralischen Verantwortung und damit gegebenen Schuldfähigkeit jedes mündigen Einzelmenschen baut Jaspers in seiner Schrift eine komplizierte philosophische Kasuistik der „Schuldfrage“ auf, mit der sich alle Deutschen, ausdrücklich auch jene, die wie er selbst und seine jüdische Frau unter nationalsozialistischer Herrschaft gelitten hatten, und jene, die 1933 oder danach emigrierten (Jaspers 1946, 91) kritisch prüfen müßten, um ihren eigenen Schuldanteil festzustellen. Dagmar Barnouw hat das in ihrer sensiblen hermeneutischen Interpretation „Jaspers’s inclusive view“ genannt, mit dem er als ausgebildeter Arzt und Psychologe „showed remarkable social and psychological insight“ (Barnouw 1996, 146); dieser identifizierende Blick auf die Schuldfrage habe sich massiv von dem konfrontativen der Alliierten unterschieden und die Aufnahme von Jaspers’ Argumenten bei der deutsche Bevölkerung begünstigt. Wenig erfährt man in dieser Schrift einerseits über den politischen Charakter des nationalsozialistischen Regimes oder andererseits über die politischen Notwendigkeiten der Zukunft. Die moralphilosophische Reflexion überlagert und dominiert insgesamt das konkrete politische Denken – was ihm bei einem ansonsten durchaus verständnisvollen DDR-Autor den Tadel einbringt, er habe
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angesichts „seiner idealistischen philosophischen Prämissen ... die Basis, die schuldhaftes Verhalten begründenden materiellen, in letzter Instanz ökonomisch determinierten Interessen, Beziehungen oder gar Klassen-und Eigentumsverhältnisse nicht berühr(t)“ (Wroblewsky 1983, 85). Daß sich angesichts solcher unterstellten Determinationsverhältnisse moralische Schuldfragen letztlich erübrigen, bleibt dem Marxismus-Leninismus verborgen. Auch in dieser Konzentration auf die „Schuldfrage“ steht für Jaspers aber unbezweifelbar am Ausgangspunkt die Beurteilung des nationalsozialistischen Regimes als „Verbrecherstaat“ (1946, 48), der seine Herrschaft im Innern wie dann im Krieg nach außen auf „Terror“ gegründet habe (Jaspers 1946, 74) und der für die in ihm Gebliebenen bereits kurz nach 1933 wie ein „Zuchthaus“ (Jaspers 1946, 73) gewirkt habe, in dem die Handlungs-, insbesondere die Widerstandsmöglichkeiten des Einzelnen jenseits einer moralisch nicht einzufordernden – gleichwohl von Einzelnen wie den namentlich erwähnten Geschwistern Scholl bewußt gewählten – Märtyrerrolle gleich Null gewesen seien. Trotzdem sei „Niemand schuldlos“ (Jaspers 1946, 23), stellt Jaspers rigoros und einigermaßen apodiktisch fest – was sich nur mit seiner bereits erwähnten differenzierenden Kasuistik unterschiedlicher Schuldarten erklären und rechtfertigen läßt. Jaspers unterscheidet „vier Schuldbegriffe“ und diskutiert in seiner Schrift sodann, welche Konsequenzen aus welcher Schuldart folgen müßten und wie sich die „deutsche Schuld“ insgesamt differenziert darstellt: „Kriminelle Schuld“ verstößt „gegen eindeutige Gesetze“ und soll in formellen Verfahren mit „eindeutiger Feststellung“ der „Tatbestände“ durch ein „Gericht“ abgeurteilt werden (Jaspers 1946, 31). „Politische Schuld“ „besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin und durch dessen Ordnung ich mein Dasein habe. Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird“; „Instanz ist die Gewalt und der Wille des Siegers“ (Jaspers 1946, 31). „Moralische Schuld“ ergibt sich aus „Handlungen, die ich doch immer als dieser Einzelne begehe“ und für die ich „die moralische Verantwortung“ habe, ausdrücklich, so Jaspers, „auch für politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe. Niemals gilt schlechthin ‚Befehl ist Befehl‘. Wie vielmehr Verbrechen Verbrechen bleiben ... so bleibt jede Handlung auch der moralischen Beurteilung unterstellt ... Die Instanz ist das eigene Gewissen“ (Jaspers 1946, 31). „Metaphysische Schuld“ resultiert – Jaspers argumentiert in der Tradition Kants und nimmt, wie noch zu zeigen sein wird, Habermas’ Argument von der notwendigen Antizipation einer allgemein gültigen Weltrechtsordnung vorweg – aus der geschuldeten „Solidarität zwischen Menschen als Menschen“ und läßt jene mitschuldig werden, die gegen Verbrechen in ihrer Gegenwart nicht tun, was sie tun könnten, die „dabeigestanden“ haben; „Instanz ist Gott allein“ (Jaspers 1946, 31).
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Gerade hinsichtlich der Erwähnung der „metaphysischen Schuld“ wird zwar einerseits der bereits zitierte Satz verständlich, daß „Niemand schuldlos“ sei – aber vielleicht auch, warum ich mich im Weiteren auf die anderen Schuldarten beschränken werde. Auch die „moralische Schuld“ würde man als Politologe am liebsten außen vor und den Moralphilosophen überlassen – aber wie Jaspers überzeugend argumentiert, lassen bestimmte Lebensumstände „die radikale Trennung von moralischer und politischer Schuld nicht zu“, gerade wenn man ihr Verhältnis unter der Perspektive oder aus der Erfahrung „politischer Freiheit“ betrachtet (Jaspers 1946, 69). Aus dieser Perspektive gelte nämlich: „Wir tragen die Verantwortung für unser Regime, für die Taten des Regimes, für den Anfang des Krieges in dieser weltgeschichtlichen Lage und für die Artung der Führer, die wir an unsere Spitze ließen“, und aus dieser Verantwortung folgt für alle deutschen Bürger und Bürgerinnen „Haftung“ und die Verpflichtung zur „Wiedergutmachung“ (Jaspers 1946, 70). Angesichts dieser klaren Worte zur inneren Verbindung von politischer und moralischer Schuld ist es mir unverständlich, wie Anson Rabinbach in einem ansonsten interessanten Beitrag von „Jaspers’ strict seperation of political and moral responsibility“ (Rabinbach 1996, 157) sprechen kann und damit den kaum unterschwelligen Vorwurf verbindet, Jaspers sei es in Wahrheit um eine Entlastung der Deutschen gegangen. Das Gegenteil ist in beiderlei Hinsicht der Fall: gerade auch in Abgrenzung zu seinem Idol Max Weber sind für Jaspers Politik und Moral grundsätzlich nicht getrennte Sphären und wo Erstere sich von Letzterer isoliert, da pervertiert sie. Und auch Rabinbach stellt fest, mit der Veröffentlichung der Schuldfrage „in the eyes of many conservatives, Jaspers had committed ‚Landesverrat‘ “ (Rabinbach 1996, 151). Bekanntlich war in Theodor W. Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno 1964) die Philosophie Karl Jaspers neben der Heideggers der Hauptgegenstand der kritischen Polemik. Wenn Rabinbach allerdings mit der Formulierung Adornos „concentration on the language of Die Schuldfrage points directly to its redemptive dimension“ (Rabinbach 1996, 153) suggeriert, Adornos Verdikt beziehe sich direkt auf Jaspers Schrift von 1946, so erschleicht er sich die Autorität Adornos für sein abfälliges Urteil, der zwar zahlreiche Schriften Jaspers kritisch zitiert, aber die für sein Thema und seine eigene Biographie wie Philosophie ,nach Ausschwitz‘ so zentrale Schrift Jaspers gerade ausgeklammert läßt. Nach meinem Urteil könnte der Grund dafür darin liegen, daß Jaspers hier wie in seinen sonstigen direkt politischen Schriften relativ zu dem von ihm ansonsten durchaus gepflegten „Jargon der Eigentlichkeit“ eine direkte und konkrete Sprache anschlägt. Nach Jaspers’ expliziter Überzeugung trägt also jeder Deutsche Mitverantwortung und Anteil an der moralischen Gesamtschuld. Diese Mitverantwortung und daraus resultierende Schuld trifft ausdrücklich auch diejenigen, die wie Jaspers und seine Frau unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatten, verfolgt und diskriminiert wurden – und sogar die nach 1933 Emigrierten. Hier kommt eine gewissermaßen republikanische Tugendauffassung Jaspers’ zum Vorschein,
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die – nicht nur beschränkt auf die Sonderbedingungen im „Verbrecher-Staat“ – die Mitbürger grundsätzlich politisch und moralisch zugleich zur Verantwortung und politischen Haftung für die Taten ihrer Regierung zieht: „Es ist das Verhängnis jedes Menschen, verstrickt zu sein in Machtverhältnisse, durch die er lebt. ... Das Unterlassen der Mitarbeit an der Strukturierung der Machtverhältnisse, am Kampf um die Macht im Sinne des Dienstes für das Recht, ist eine politische Grundschuld, die zugleich eine moralische Schuld ist. Politische Schuld wird zur moralischen Schuld, wo durch die Macht der Sinn der Macht – die Verwirklichung des Rechtes, das Ethos und die Reinheit des eigenen Volkes – zerstört wird“ (Jaspers 1946, 33). Freilich nimmt sich angesichts der bereits zitierten Feststellung, man habe schon bald nach 1933 „wie in einem Zuchthaus“ gelebt, die rigorose Verurteilung auch des „Unterlassen(s) der Mitarbeit an der Strukturierung der Machtverhältnisse ... im Sinne des Dienstes für das Recht“ eigentümlich wirklichkeitsfremd und gegenüber den Verhältnissen in einer totalitären Diktatur unangemessen aus. Wenn überhaut, so kann dieses Verdikt nur für die Zeit bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung Geltung beanspruchen. Hier wie in vielen anderen Formulierungen kommt in Jaspers’ moralphilosophischem und politischem Denken ein an abstrakten Prinzipien orientierter streitbarer Rigorismus zum Ausdruck, der für die öffentliche Wirkung, aber auch die teils heftige Ablehnung von Karl Jaspers’ Gedanken in der Nachkriegsöffentlichkeit sicherlich Mitverantwortung trägt. In dem letzten Zitat ist zugleich auch Jaspers’ eher an Kant als am traditionellen Republikanismus orientierte Vorstellung von der zentralen Aufgabe und Rechtfertigung der Politik angeführt: sie hat der Verwirklichung des Rechts, orientiert an der Idee der Gerechtigkeit, zu dienen und „pervertiert“, wie nach 1933, wo sie in der Willkür des Machtgewinns und der Machtausübung sich das Recht unterwirft. Jaspers’ Urteil gilt erst recht dann, wenn sich die politische Führung so direkt wie in den unmittelbar nach der Machtergreifung einsetzenden Maßnahmen, etwa der von der SA zunächst ohne Rechtsgrundlage vollzogenen „Schutzhaft“ gegenüber tausenden Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und sogenannten Intellektuellen in kurzfristig eingerichteten „Konzentrationslagern“, den sofort einsetzenden verwaltungsmäßigen und der Weimarer Verfassung widersprechenden Diskriminierungen gegen Juden, kulminierend im Reichsbürgergesetz von 1935, zwar in rechtlicher Form aber im Sinne der Orientierung des Rechts an der Idee seiner Gerechtigkeit widerrechtlich gegen Teile der eigenen Bevölkerung richtet. Gustav Radbruch wird nach 1945 – damit wie Jaspers an die uneingeschränkte Geltung des sich an den Menschenrechten und dem entstehenden Völkerrecht orientierenden Naturrechts anknüpfend – vom „gesetzlichen Unrecht“ sprechen (Radbruch 1990, 83ff), um die seit dem bereits rechtswidrig zustande gekommenen „Ermächtigungsgesetz“ dem eigentlichen normativen Anspruch des Rechts widersprechenden sogenannten „Rechtsakte“ des nationalsozialistischen Regimes angemessen zu qualifizieren. Spätestens seit den offenkundigen Rechtsbrüchen und
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Rechtsverdrehungen des Frühjahrs 1933 hatte diese politische Führung jeden Anspruch auf Gehorsam und Gefolgschaft verloren, und niemand konnte sich nach Jaspers’ Argumentation in der „Schuldfrage“ angesichts der Offenkundigkeit dieser nicht nur vollzogenen, sondern seit Februar 1933 lauthals propagierten Entrechtung zahlreicher deutscher Bürger und Bürgerinnen auf Unwissenheit über die verbrecherische Natur der nationalsozialistischen Führung berufen. Daß es die geforderte „Wiedergutmachung“ zu verantwortenden Unrechts nur in gewissem Maße und als rechtliche und materielle Kompensation erlittenen Unrechts und Schadens gäben könne, weiß der Moralphilosoph nur zu genau; aber die politische Öffentlichkeit Westdeutschlands – um von der in dieser Hinsicht völlig unglaubwürdigen DDR ganz zu schweigen – sollte diese notwendige Grenzziehung in der Nachfolge nicht immer ausreichend beachten, wenn hier und da Stimmen laut wurden, die meinten, nun habe man sich mit der „Wiedergutmachung“ doch auch moralisch salviert. Im Zentrum politischer Betrachtung müssen nun aber „kriminelle“ und „politische Schuld“ und ihre Verquickung im „Verbrecherstaat“ stehen, wie sie im und über den „Nürnberger Prozeß“ zu anhaltenden Kontroversen führten. Man muß bedenken, daß Jaspers’ Vorlesung zeitlich parallel zu dem am 20. November 1945 in Nürnberg vor dem Internationalen Militärgerichtshof der Alliierten begonnenen Prozeß gehalten wurde und über welchen Kenntnisstand der deutsche Professor zu diesem Zeitpunkt nur verfügen konnte. Umso bemerkenswerter, daß seine aus der aktuellen Situation heraus getroffenen Urteile und Feststellungen auch später sich behaupten konnten. Jaspers läßt keinen Zweifel an der juristischen, politischen und moralischen Berechtigung des Nürnberger Verfahrens aufkommen, sondern stellt umgekehrt fest, daß der Prozeß gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ in dem, wie er den USamerikanischen Anklagevertreter zitiert, „nicht das deutsche Volk, sondern einzelne als Verbrecher angeklagte Deutsche“ vor Gericht stehen (Jaspers 1946, 47), sogar das deutsche Volk entlaste (Jaspers 1946, 55). Feststellungen wie diese können aber angesichts der ansonsten klaren Schuld- und Verantwortungsübernahme durch Jaspers nach meinem Urteil nicht als „self-exculpatory position“ (Olick 2005, 277) interpretiert werden. Wie die Alliierten fordert er die strikte Verurteilung derjenigen, die durch eigenes Handeln und verantwortliche Teilhabe in dem „Verbrecherstaat“ an „Verbrechen gegen die Menschheit“ teilgenommen haben. „Daß er ein Verbrecherstaat sei, konnte jeder Mensch wissen in Deutschland“, stellt er 1946 und in späteren Veröffentlichungen (Jaspers 1946, 21) stets erneut und unter Hinweis auf die öffentlich vollzogene willkürliche schrittweise Entrechtung bestimmter Gruppen deutscher Staatsbürger, darunter in vorderster Linie der jüdischen Deutschen kategorisch fest. Axel Schildt fand für diesen Sachverhalt die kurze Formel, daß „nur wenige alles wußten, aber sehr viele zumindest vage und fragmentarische Vorstellungen besaßen“ (Schildt 1998, 26). Peter Longerichs
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materialreiche Studie bestätigt 60 Jahre später Jaspers’ damaliges Urteil, wonach der Satz „Davon haben wir nichts gewußt!“ nicht zuletzt aufgrund der strategischen Propaganda- und Kommunikationspraxis der nationalsozialistischen Führung, die gerade angesichts der drohenden Niederlage darauf abzielte, das gesamte Volk zu Mitwissern zu machen, in den meisten Fällen unwahr ist oder allenfalls als Ausdruck einer anhaltenden Verdrängung verstanden werden konnte (Longerich 2006). Hinsichtlich der bereits 1945 erfolgenden Charakterisierung des NS-Regimes als historisch neuartiger „Verbrecherstaat“ macht Jaspers später noch deutlicher, daß dieser sich „kategorial“ dadurch von früheren Staaten unterscheide, die immer wieder auch einzelne „Staatsverbrechen“ begangen hätten, weil er sich 1933 für jeden urteilsfähigen Menschen erkennbar von einer der beiden Quellen jedes Rechtsstaates, nämlich der grundsätzlichen Orientierung an der „Idee der Gerechtigkeit“ verabschiedet habe (Jaspers 1966, 20). Das sei etwas prinzipiell Anderes und Neuartiges in der Geschichte als einzelne Verfehlungen und kriminelle Akte von Regierenden, die es immer gab und leider immer geben werde. „Den Verbrecherstaat als Verbrecherstaat klar vor Augen zu haben, ist die Voraussetzung jeder weiteren Argumentation“; dessen Existenz und Untergang habe 1945 eine „sittlich-politische Revolution“ notwendig gemacht – von der man nun, zwanzig Jahre später feststellen könne, daß sie nur unzureichend gelungen sei, schreibt er in seiner späteren Abrechnung mit der Politik der Bundesrepublik (Jaspers 1966, 21). Mit dieser kategorialen Unterscheidung von einzelnen Staatsverbrechen und einem „Verbrecherstaat“ nimmt Jaspers eine Unterscheidung vor, die später in Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ eine zentrale Rolle spielen sollte. Für sie war der „verbrecherische Charakter des Regimes“ ein häufig in der auf bloßer Indikatorenbildung beruhenden empirisch-scheinpräzisen „Totalitarismustheorie“ übersehenes Wesensmerkmal „totaler Herrschaft“. In der erweiterten deutschen Ausgabe macht sie in ihrem neugeschriebenen famosen Schlußteil „Totale Herrschaft“ – in Kenntnis der inzwischen vorhandenen kritischen Literatur zur „Totalitarismustheorie“ – diesen Unterschied an einem plastischen Beispiel deutlich: durch die legendäre „Enthüllungsrede“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 „lenkte Chruschtschow ... gerade indem er einige Verbrechen zugab ... von dem verbrecherischen Charakter des Regimes als Ganzem ab“ – und der Beifall, den diese „Verschleierung“ und „Heuchelei“ (Arendt 1986, 481) des ja tief in die stalinistische Terrorpraxis verstrickten Chruschtschow bei einigen westlichen Linksintellektuellen fand, bestätigte sie in ihrem Urteil über deren mangelnde Urteilskraft. Es war Jaspers’ Sorge, daß die Nürnberger Prozesse eine ähnliche Ablenkungs- und Entlastungsfunktion haben könnten, die ihn zu dem teilweise das Pathos bloß moralischen Postulierens nicht scheuenden Aufrufen zur kritischen Selbstprüfung durch Jedermann in seiner „Schuldfrage“ veranlaßten. Die historische Neuartigkeit des nationalsozialistischen Gewaltregimes erlaubt Jaspers auch, die Tätigkeit seiner maßgeblichen Führer und Organisatio-
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nen wie der SS unter der Kategorie „kriminelle Schuld“ zu rubrizieren, obwohl bis fast vor Kriegsende die oben von ihm selbst genannten – ein „eindeutiges Gesetz“, ein zuständiges „Gericht“ – Voraussetzungen formaljuristisch nur unzureichend erfüllt waren (s.a. Gründler/v. Manikowsky 1967, 22ff). Er bedient sich dabei zusätzlich zur Berufung auf das Naturrecht einer Argumentationsfigur, die in der jüngeren Vergangenheit rechtsphilosophisch prominent auch von Jürgen Habermas, nämlich 1999 zur Rechtfertigung des NATO-Angriffs gegen Serbien im sogenannten ,Kosovo-Krieg‘ benutzt wurde (Habermas 2001). Sie beruft sich auf die Antizipation und Herbeiführung eines Rechtszustandes, der aus rechtlichen Prinzipien heraus gefordert wäre, aber wegen der kontingenten Umstände der nur allmählichen Herausbildung des Völkerrechts und insbesondere des Völkerstrafrechts bisher nur unvollkommen in der Wirklichkeit der Staatenwelt Gestalt annehme. „Es handelt sich in Nürnberg um etwas wirklich Neues“, schreibt Jaspers parallel zur Eröffnung des Prozesses, der sei „ein Glied in der Folge sinnvoll aufbauender politischer Handlungen“, durch das die alliierten Gerichtsherren zeigten, „daß sie in Gemeinschaft die Weltregierung wollen, in dem sie sich einer Weltordnung unterwerfen“ (Jaspers 1946, 54); deshalb sei „was in Nürnberg geschieht, mag es noch so vielen Einwänden ausgesetzt sein, ... ein schwacher, zweideutiger Vorbote der der Menschheit heute als notwendig fühlbar werdenden Weltordnung“ (Jaspers 1946, 55). Hannah Arendt hat in einem Essay über die Philosophie ihres Lehrers und Freundes Jaspers die „weltbürgerliche Absicht“ als „Jaspers’ gesamtes philosophisches Werk von den Anfängen in der Psychologie der Weltanschauungen (1919) bis zu der im Entstehen begriffenen ‚Weltgeschichte der Philosophie‘ “ durchziehend beschrieben (Arendt 1969, 102). Allein die Tatsache, daß Habermas sich jüngst immer noch bloß antizipierend auf diesen eindeutigen Rechtszustand berufen mußte, zeigt ebenso wie die fortbestehenden Probleme und Hindernisse bei der Durchsetzung einer allgemeinen Akzeptanz eines sanktionsbewährten Völkerstrafrechts an, daß Jaspers 1946 vielleicht zu optimistisch hinsichtlich der baldigen Verwirklichung des rechtlich Gebotenen gewesen ist. Aber man kann fragen: werden durch die kontingenten politischen Hindernisse und Widerstände der Realisierung die von ihm und Habermas gleichermaßen zugrunde gelegten Rechtsprinzipien deswegen etwa außer Kraft gesetzt? Wiederum zeigt sich hier allerdings die kategoriale Differenz von Politik, Recht und Moral, denn wer sich für die praktische Durchsetzung der prinzipiell geltenden Rechtsidee stark machen wollte, der wird mit der stets kontingent bleibenden Politik notwendig ein Bündnis eingehen müssen, die ihr allein zur erfolgreichen Durchsetzung verhelfen könnte. Ob freilich die machtpolitischen Verhältnisse im Weltzusammenhang jemals eine Situation werden entstehen lassen, in der das Rechtsprinzip auch stets und gegen jedes rechtsbrüchige Regime durchsetzbar sein wird, muß nach den Erfahrungen gerade des letzten Jahrhunderts – durchaus auch in der Zeit nach 1945 – bezweifelt werden.
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Durch die Antizipation und durch die auf ihr beruhende Festlegung der drei Anklagekomplexe des Nürnberger Gerichts wurde vor allem der formaljuristische Grundsatz „nulla poene – sine lege“ verletzt. Dies geschah aber ausdrücklich nicht zur Unterminierung geltenden Rechts, sondern im Gegenteil zur Überwindung eines allein traditional, das heißt nicht aus den Prinzipien universellen Rechts begründeten Rechtszustandes, für den es nach allgemein anerkennungswürdigen Maßstäben heute keine Rechtfertigung mehr gibt. Jaspers nennt dafür zwei markante Beispiele: die traditionelle Immunität von Staatsoberhäuptern, die dazu führe, daß zwar auf Befehl handelnde Untergebene, nicht aber die die verbrecherischen Befehle gebenden „Staatsmänner“ zur Verantwortung gezogen werden könnten und das noch im 19. Jahrhundert weithin unproblematisierte Recht souveräner Staaten, zur Wahrnehmung ihrer wie auch immer definierten Interessen Krieg zu beginnen, das vorkonstitutionelle ,ius ad bellum‘. Die im Abkommen und Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes am 8. August 1945 nach langwierigen Verhandlungen schließlich zustandegekommenen drei Anklagekomplexe verstießen zwar teilweise, insbesondere im dritten Punkt gegen diesen römischen und späterhin vor allem in Deutschland rechtspositivistisch geheiligten Grundsatz, aber sie waren als ein Akt der Rechtsfortbildung orientiert an den Universalität beanspruchenden Grundsätzen der Menschenrechte, keineswegs ohne rechtmäßige und erst recht moralische Begründung. „Im Sinne der Menschlichkeit, der Menschenrechte und des Naturrechts, und im Sinne der Ideen der Freiheit und Demokratie des Abendlandes sind Gesetze schon da, an denen gemessen Verbrechen bestimmbar sind“ (Jaspers 1946, 51), stellte Jaspers dazu fest. Daß Jaspers sich mit seiner Zustimmung zu und Berufung auf diese überwiegend ,überpositiven‘ Rechtsgrundsätze ein politisches Bewußtsein mindestens der westlichen Alliierten teilte, dürfte ihn 1945 von der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung entfremdet und die positive Aufnahme seiner Schrift behindert haben. Geurteilt werden sollte in Nürnberg erstens über „Verbrechen gegen den Frieden“ – und hierzu gab es sogar den 1928 von Deutschland und den meisten damaligen Staaten unterzeichneten Briand-Kellog-Pakt, in dem sich die Signatarmächte nicht nur verpflichtet hatten, internationale Streitfälle friedlich beizulegen, sondern in dem insbesondere der „Angriffskrieg“ für völkerrechtswidrig erklärt wurde. Ein expliziter Bezug auf diesen Vertrag in dem Nürnberger Statut unterblieb übrigens wegen des Widerstandes der Russen und Franzosen – wobei die Russen wegen ihrer Beteiligung an dem Angriff auf Polen und wegen ihres Einmarsches in Finnland dazu auch allen Grund hatten. Denen freilich, die 1945 in der vor allem im Kalten Krieg dann populär werdenden Logik des Aufrechnens – die Jaspers bereits 1946 antizipiert und mit der er sich in seiner Schrift überzeugend auseinandersetzt (Jaspers 1946, 79ff und 90ff) – mit diesen und ähnlichen Hinweisen die Legitimität und Berechtigung des Verdikts von Nürnberg anzweifelten, muß man rechtsphilosophisch entgegenhalten, daß Recht sich nicht wegen seiner stets nur begrenzten Durchsetzung in Einzelfäl-
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len der Anwendung zum Unrecht verkehrt – eine Verurteilung wegen Mordes bleibt auch dann rechtsmäßig, wenn viele Morde ungesühnt und unentdeckt bleiben, denn der Verweis auf fortdauerndes Unrecht delegitimiert nicht das Recht, sondern setzt es umgekehrt in seiner Geltung voraus. Jon Elster unterstreicht in seiner vergleichenden Untersuchung der internationalen Herausbildung einer schuldstrafrechtlichen „transitionalen Justiz“ die Rolle des US-amerikanischen Hauptanklägers Robert Jackson, dem es vor dem Hintergrund auch ganz anderer, allein gegen Deutschland gerichteter Motivationen bei diesem Prozeß vor allem um die Fortentwicklung des internationalen Völkerstrafrechts und den damit verbundenen zukünftigen Abschreckungscharakter gegangen sei und stellt fest, daß „der Nürnberger Prozess das internationale Recht, wie Jackson dies beabsichtigt hatte“, prägte (Elster 2005, 210) – ein Urteil, das man jedenfalls hinsichtlich der unterstellten Abschreckungswirkung angesichts der seitdem fortdauernden Greuel wechselnder Diktaturen in aller Welt anzweifeln muß. Jaspers läßt in seiner Schrift keinen Zweifel daran, daß es in pragmatischer Hinsicht 1945 nur ein durch die Sieger angewandtes und vollzogenes Recht habe geben können, denen insbesondere die Entscheidung über die Art und Reichweite der politisch zu übernehmenden „Haftung“ zukäme (Jaspers 1946, 32). Das begründet Jaspers so: „Wenn in der Lage der Kriegsentscheidung geurteilt wird, so hat der Sieger in bezug auf das Urteil über die politische Haftung das absolute Vorrecht: er hat sein Leben eingesetzt und die Entscheidung ist für ihn gefallen“ (Jaspers 1946, 40). Dieses beiläufig eingeführte Argument erscheint allerdings rechts- und moralphilosophisch allzu pragmatisch auf die Situation bezogen und kann den ansonsten von Jaspers hochgehaltenen Prinzipien kaum standhalten. In ihm kommt ein geradezu atavistisches Argument vor, daß den Einsatz des Lebens und den Sieg allzu sehr in die Rolle Geltung beanspruchender Rechtsquellen rückt. Ungewollt bietet dieser eher beiläufige Gedanke Jaspers den Kritikern einer angeblichen illegitimen bloßen „Siegerjustiz“ eine offene Flanke und widerspricht damit dem sonstigen Duktus seiner Argumentation. Angesichts der bekannten Verhältnisse und gerade auch des politischen Mißbrauchs der Justiz im Stalinismus seit den dreißiger Jahren hätte man sich unter dem reinen Rechtsanspruch der Rechtsidee natürlich 1945 auch ein anders zusammengesetzes, unabhängiges und unparteiliches Gericht vorstellen können – aber wiederum entschieden in der Wirklichkeit die realpolitischen Zusammenhänge. Immerhin sorgte die westliche Rechtskultur und juristische Professionalität der Prozeßbeteiligten für ein den Umständen entsprechendes Maß an rechtsstaatlicher und prozeßrechtlicher Rationalität, wovon nicht zuletzt die für viele damals überraschenden Freisprüche einiger der Hauptangeklagten sprechen. Der zweite Anklagepunkt in Nürnberg war und blieb weitgehend unstrittig, denn eine Verurteilung wegen „Kriegsverbrechen“ war bereits seit der Haager Landkriegsordnung weitgehend völkerrechtlich abgesichert. Auch hier muß
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man festhalten, daß es rechtlich unerheblich war, daß dieses Recht nur von den Siegern an den Besiegten vollstreckt werden konnte. Im Sinne der dargelegten Rechtsfortbildung und Antizipation eines allgemeinen Völkerrechts und Völkerstrafrechts war freilich der dritte Anklagepunkt, in Deutschland zumeist als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt, von weitreichender Bedeutung. Jaspers hat in einer späteren Diskussion mit Rudolf Augstein zurecht auf die Problematik der traditionellen Übersetzung des im englischen Original verwandten Begriffs „humanity“ mit „Menschlichkeit“ verwiesen, denn nicht ein abstraktes Prinzip, sondern konkret der Gedanke der einen Menschheit lag diesem Anklagepunkt zugrunde. Gegen die „Menschlichkeit“ als ein moralisch gebotenes Prinzip verstießen auch Kriegsverbrechen und andere unmenschliche Akte der Grausamkeit, aber bei den neuartigen „Verbrechen gegen die Menschheit“, die das Nürnberger Statut im Sinne hatte, handelte es sich um „den Anspruch, darüber zu entscheiden, welche Menschengruppen und Völker auf Erden leben dürfen oder nicht, und (darum) diesen Anspruch durch die Tat der Ausrottung durchzuführen. Man nennt es heute Genocid – das Wort Völkermord genügt ja“, fügt Jaspers hinzu (Jaspers 1966, 26). Im Sinne des kosmopolitischen Gedankens in der Tradition Kants geht es bei der Begründung dieses Rechts also darum, daß sich die Menschheit konkret als einheitliches Weltsubjekt und Quelle wie Träger universellen Rechts deklariert, daß es sich also legitimatorisch nicht mehr um bloßes Völkervertragsrecht handelt, bei dem die je einzelstaatlich konstituierten Völker in Gestalt ihrer Regierungen als souveräne Vertragspartner miteinander Vereinbarungen treffen. Dieser im dritten Nürnberger Anklagepunkt enthaltene neuartige Rechtsgrundsatz ist seitdem als Stachel der Rechtsfortbildung und gewissermaßen utopischer Überschuss in den parallel 1945 in San Francisco gegründeten Vereinten Nationen wirksam. Jaspers hat in einer autobiographischen Schrift nach dem Krieg eindrucksvoll bezeugt, welche Hoffnungen von Menschen, die unter der Diktatur leben und überleben müssen, sich an solch eine kosmopolitische Rechtsordnung knüpfen können – und angesichts der höchst selektiven und willkürlichen Wahrnehmung des Rechts und der Pflicht zur „humanitären Intervention“ im Falle von schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Staatengemeinschaft bis heute vielerorts weiter unkalkulierbare Hoffnungen bleiben müssen. Wie er anläßlich des Konkordats, das der Vatikan 1933 mit dem nationalsozialistischen Regime schloß und ihm damit die erste fortwirkende internationale Anerkennung verschaffte, schreibt, „wuchs zugleich in mir der Drang zum Weltbürgertum. Zuerst Mensch zu sein und dann aus diesem Ursprung einem Volke anzugehören, das schien mir das Wesentliche. Wie sehnsüchtig suchte ich eine Instanz über den Völkern, ein Recht, das über den Staaten dem Einzelnen, der von seinem Staat rechtlos vergewaltigt wird, rechtlich helfen kann ... Die Solidarität aller Staaten allein könnte diese übergeordnete Instanz sein. Der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist der Deckmantel für das Zulassen des Unrechts. Der Anspruch absoluter Souverä-
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nität ist der, nach dem eigenen Willen dieser Souveränität auch verbrecherisch sein zu dürfen“ (Jaspers o.J., 71f). Diese Sätze haben angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage nichts von ihrer Aktualität verloren und an dem Zustandekommen einer „Solidarität aller Staaten“ darf – wie man am historischen bis gegenwärtigen Gebrauch des Vetos im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen sehen kann – weiterhin gezweifelt werden. Für die innerdeutsche Debatte wurde Jaspers’ Schrift von 1946 recht einseitig vor allem wegen ihrer strikten Zurückweisung einer „Kollektivschuld“ bedeutsam, auf die sich allzu viele zu ihrer einseitigen Entlastung weit über eine mögliche Anklage wegen eines konkreten Verbrechens hinaus beriefen. Bei Jaspers heißt es: „Für Verbrechen kann je nur der einzelne bestraft werden, sei es, daß er es allein ist, oder daß er eine Reihe von Komplizen hat, die jeder für sich nach Maßgabe der Teilnahme und im Minimum schon durch bloße Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden. ... Kollektivschuld eines Volkes oder einer Gruppe innerhalb der Völker also kann es ... nicht geben, weder als verbrecherische, noch als moralische, noch als metaphysische Schuld“ (Jaspers 1946, 38, 40). Viele Deutsche haben diese und ähnliche Sätze mißverstanden und als billige Entlastung schnell für sich in Anspruch genommen – dabei aber Jaspers in seinem moralischen Ernst und politischem Urteil über die Mitverantwortung jedes Deutschen für sich instrumentalisiert. Die Zurückweisung moralischer oder metaphysischer „Kollektivschuld“ schließt ja keineswegs aus, daß alle als Einzelne in der Verletzung moralischer Prinzipien, wie Jaspers nicht müde wird zu betonen, im unterschiedlichen Ausmaß schuldig geworden sind. Die „Kollektivschuld“ wird von ihm zurückgewiesen, weil die Instanz für moralische Schuld das individuelle Gewissen ist und weil metaphysische Schuld jeder mit seinem Gott auszumachen habe. Die Zurückweisung der „Kollektivschuld-These“ durch den Moralphilosophen ist also nicht als pauschaler Freispruch individuell einfach in Anspruch zu nehmen, sondern als Aufforderung zur individuellen Gewissensprüfung zu verstehen. Wenn es hingegen um politische Haftung und kriminelle Schuld jedes einzelnen geht, „so hat unter den Mitbürgern jeder das Recht, Tatsachen zu erörtern und ihre Beurteilung am Maßstab klarer, begrifflicher Bestimmungen zu diskutieren. Die politische Haftung stuft sich ab nach dem Grade der Anteilnahme am nunmehr grundsätzlich verneinten Regime“ (Jaspers 41). Politische Haftung ist also sowenig wie kriminelle Schuld eine Privatangelegenheit, die jeder und jede nur mit sich allein auszumachen hätte. Vielmehr sind sie ihrer Natur nach öffentlich und deshalb auch so zu diskutieren und zu verhandeln. Dieser Gedanke verbindet sich, wie gleich noch zu sehen sein wird, nahtlos mit Jaspers’ Vorstellung von freier Politik als einem öffentlichen Kommunikations-, ja Deliberationsprozeß. Auch bei der „kriminellen Schuld“ läßt Jaspers – ganz im Einklang mit dem Nürnberger Statut – eine Einschränkung des Prinzips des individuellen Schuldnachweises gelten, die aus der generell konstatierten Qualität des „VerbrecherStaates“ und seiner ihn tragenden Organisationen resultiert. „Es gibt Zusam-
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menrottungen von Räuberbanden, Verschwörern, die als Ganzes als verbrecherisch gekennzeichnet werden können. Dann macht die bloße Zugehörigkeit straffällig“ (Jaspers 1946, 38) – eine Rechtsfigur die bekanntlich als § 129a, wenn auch erst spät und unter dem Eindruck terroristischer Herausforderung, Einzug in das Strafrecht des heutigen deutschen Rechtsstaates gefunden hat. Im Sinne dieser Begründung hielt es Jaspers bereits 1945 für uneingeschränkt richtig, daß das Nürnberger Statut prinzipiell die Mitglieder der nationalsozialistischen Reichsregierung und der SS unter Anklage stellte. Der Unterschied zur Zurückweisung einer möglichen Kollektivschuldfeststellung für „Gruppen“, wie oben konstatiert, erklärt sich so, daß für Jaspers die Mitgliedschaft in „Organisationen“ auf der bewußten individuellen Entscheidung des moralisch für mündig und verantwortlich gehaltenen Individuums beruht, wie dies im Sinne der Nürnberger Anklageschrift für die Reichsregierung, die Leiter der NSDAP, die SS und SA, die Gestapo sowie den Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht unterstellt wurde (Gründler/v. Manikowsky 1967, 84). Demgegenüber gehört man einer „Gruppe“ – jenseits freundschaftlicher und privater Beziehungen – nur aufgrund bestimmter Merkmale, oft nur aufgrund der Zuschreibung durch andere an. Eine Erfahrung, die viele Deutsche jüdischer Herkunft im Zusammenhang mit der Zunahme des Antisemitismus und dann besonders seit 1933 machen mußten, wie sie Hannah Arendt besonders plastisch als Erleben aus der Erinnerung heraus dargestellt hat. Bloße Fremdzuschreibung aufgrund abstrakter Merkmale – ein Verfahren eher statistischer Natur – kann aber niemals persönliche Verantwortung für das solchermaßen zustandekommende Konglomerat begründen. Praktisch-politisch und rechtlich bedeutsam wurden diese noch von den Besatzungsmächten in ihrer Entnazifizierungspolitik zugrunde gelegten Differenzen nach 1945 unter anderem in der öffentlichen Umgangsweise mit der Zugehörigkeit zur Waffen-SS, bei der es neben Freiwilligen auch zugeordnete Angehörige gab. Ungeachtet solcher Streitfälle konnte aber von einer konsequenten Anwendung dieser nach Jaspers politisch und moralisch gebotenen Unterscheidung vor allem nach 1949 durch die Regierung, die Behörden, die Gerichte und nicht zuletzt die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik keine Rede sein (Frei 1999; Reichel 2001), so daß sogar das angesichts der Fakten keineswegs willkürliche Verdikt von der „kalten Amnestie“ für die früheren nationalsozialistischen Funktionäre aufkam (Friedrich 1984). Helmut Dubiel hat in seiner ansonsten bemerkenswerten Untersuchung geschichtspolitischer Debatten des Deutschen Bundestages eine merkwürdige These in die Welt gesetzt, die sogleich vielfach in der Sekundärliteratur übernommen wurde. Unter Bezug auf die „Abwehr der Kollektivschuldthese ... ist vor allem bemerkenswert, daß sie auf einen Vorwurf reagiert, den niemand erhoben hatte“ (Dubiel 1999, 71); jedenfalls für die unmittelbare Nachkriegsgeschichte würde schon ein flüchtiger Blick in die US-amerikanische Literatur (z.B. Welles 1944) oder die Lektüre des Dokuments „Joint Chiefs of Staff Di-
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rective 1067“ eines Anderen belehren, wo ausdrücklich die Erweckung eines Kollektivschuldbewußtseins als Ziel der Besatzungspolitik befohlen wurde. Dem dienten unter anderem die Plakate und Filme der Leichen von Opfern aus den Konzentrationslagern, die nach Jaspers Worten „im Sommer 1945 ... in den Städten und Dörfern hingen mit ... dem entscheidenden Satz: Das ist eure Schuld!“ (Jaspers 1946, 44). Wie eingangs bemerkt, treten bei Jaspers allgemeinere politische Fragen ganz hinter der Erörterung der Schuldfrage zurück; wo sie aufscheinen, sind es entweder unmittelbare politische Stellungnahmen, wie die bereits zitierte über die Rechtfertigung der Sieger als Richter, oder sie sind oft ohne systematische Ausführung eingestreute allgemeine Bemerkungen über das Verhältnis von Politik und Recht, ihrer beider Aufgaben und die Rolle des Menschen beziehungsweise der Individuen für ihre Entwicklung. Jaspers’ politisches Denken ist dabei von der rechtsphilosophisch-republikanischen Tradition Kants beeinflußt, steht aber auch im Schatten des biographisch bedeutsamen Einflusses Max Webers. Dadurch kommen eigentümliche Brechungen und Überblendungen von philosophischer Rechtsbegründung und realpolitischer Kontingenzbetrachtung zustande. Dazu hier nur wenige Bemerkungen über Jaspers’ politisches Denken über den Nationalsozialismus und die sich aus ihm ergebenden politischen Schlußfolgerungen jenseits der „Schuldfrage“, die aber eine eingehendere politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jaspers politischer Philosophie nicht ersetzen können, wie sie aus philosophischer Perspektive bereits versucht wurde (Pieper 1973; Sutor 1965), zu der aber politikwissenschaftlich allenfalls Ansätze in den Aufsätzen Raymond Arons (1986) und Klaus von Beymes (1996) vorliegen. Wenn Klaus von Beyme in seiner gerade hinsichtlich des Politikbegriffes von Jaspers heftigen Kritik schreibt, „Pseudopolitik und Überpolitik werden bei ihm begrifflich nicht hinreichend geklärt“ (von Beyme 1996, 136), so fällt dieser Vorwurf letztlich auf ihn zurück, denn die beiden ungewöhnlichen, von ihm zur Kennzeichnung von Jaspers’ verwandten Begriffe werden von ihm keineswegs erklärt und von „Politik“ selbst unterschieden. Demgegenüber hat Alexander Schwan Jaspers’ Existenzphilosophie als „geistige Grundlegung der pluralistischen Demokratie“ vielleicht doch etwas überhöht (Schwan 1984). Der fast lebenslang positive, geradezu hagiographische Bezug Jaspers auf Max Weber – Joachim Radkau nennt ihn „von 1920 bis in die frühen 60er Jahre“ den „Künder des kommenden Weberschen Weltruhms“ (Radkau 2005, 84 zu dem „fast“ siehe ebd. 841 u. 856ff) – den Jaspers 1932 als Verkörperung „menschlicher Größe“ und einer „Seite jüngstvergangenen und noch wirksamen deutschen Wesens ... eigentlicher Vernünftigkeit und Menschlichkeit aus dem Ursprung der Leidenschaft“ zuerst geradezu im feierlichen Bekenntniston manifestiert hatte (Jaspers 1932, 7), bleibt bei Jaspers nur in einem, für die Politik freilich zentralen Punkt doch kritisch: zwar nahm er, wie er schreibt, unter Webers Einfluß während des ersten Weltkrieges „nationales Denken ... in (s)ein
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Herz auf“ (Jaspers o.J., 61), aber: „Vielleicht bin ich in der politischen Grundstimmung nie ganz einmütig mit ihm gewesen. Mir fehlte das Bewußtsein der Größe Preussens und Bismarcks ..., der soldatische Sinn ... der heroische Zug, die Größe im Maßlosen, das ich doch in Max Weber liebte“ (Jaspers o.J., 64). Ob Jaspers mit diesen Zeilen Max Webers komplexes und in sich nicht ganz von Widersprüchen freies politisches Denken angemessen erfaßt, muß hier offenbleiben. Raymond Aron geht allerdings sehr weit, wenn er zwischen dem Politikverständnis Max Webers und Karl Jaspers einen fundamentalen Unterschied zu erkennen glaubt, weil letzterer wenig Sinn für das konkrete Alltagsgeschäft besessen und einseitig gesinnungsethisch argumentiert habe (Aron 1986). Denn was Jaspers mit Max Weber unbezweifelbar teilt, das ist das von mir durchgängig als Kontingenzdenken der Freiheit bezeichnete Grundverständnis des Politischen, das vor allem nach 1945 und gewiß unter dem Einfluß der engen Freundschaft mit Hannah Arendt eine republikanische Wendung nimmt, die so bei Max Weber nicht angelegt war. Unter dem Eindruck der nationalsozialischen Herrschaft schreibt Jaspers in einer interessanten biographisch geprägten Passage: „Politik gibt es nur in der Freiheit. Wo diese vernichtet ist, bleibt das Privatleben, soweit es geduldet ist. ... Das bedeutet den Verzicht vor der Realität brutaler Macht, der gegenüber der Einzelne nichts mehr tun kann. Diese Einsicht entspricht der Tatsache, daß Deutschland vom Nationalsozialismus nicht durch sich selber, sondern nur von außen befreit werden konnte, daß kein Totalitarismus von innen her überwunden, sondern allenfalls nur durch blutige Umwälzungen in einen anderen verwandelt werden kann. Das Ende echter Politik hebt das Interesse für Politik auf. Echte Politik ist aber nur möglich, wenn eine Wirkung durch Überzeugung der Anderen in Rede und Gegenrede stattfindet, in der die Erziehung eines öffentlichen Bewußtseins durch freien Kampf der Geister sich vollzieht“ (Jaspers, o.J. 63). Auch wenn Jaspers in dem hier zunächst ausgelassenen Teil des Zitates aufgrund eines aus der Erinnerung übermittelten Gesprächszitates Max Webers den Eindruck der Übereinstimmung zu erwecken sucht – und selbst im Moment des Schreibens sicherlich von ihr überzeugt war –, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß hier die Verwandschaft mit dem politischen Denken Hannah Arendts und nicht mit dem an Machtgebrauch und Herrschaft definitorisch gekoppelten Politikbegriff Max Webers (Greven 2004) besteht. Geradezu in Vorwegnahme heutigen deliberativen Politikverständnisses wird von Jaspers in dem Zitat der Begriff der „echten Politik“ für Prozesse der machtfreien Verständigung reserviert und wie bei Hannah Arendt die Unvereinbarkeit von totaler Herrschaft und Politik behauptet. Für Hannah Arendt bedeutete „totale Herrschaft“ ja vor allem das Ende jeglicher Politik, denn: „Totale Beherrschung kann freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, weil sie kein Handeln zulassen darf, daß nicht absolut voraussehbar ist“ (Arendt 1986, 544). „Freie Initiative“, die Spontaneität des Anfangen-Könnens, auf dieser Basis das Zusammen-Handeln sind nach Hannah Arendts seit den fünfziger Jahren immer konkreter entwickelter Theorie des
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Politischen aber die wesentlichen Voraussetzungen und Qualitäten der politischen Existenz. Demgegenüber gehe es „totaler Herrschaft“ um die „Abschaffung der menschlichen Spontaneität überhaupt“ (Arendt 1986, 629). In diesen Gedanken treffen sich nach 1945 die einstige Doktorandin und Karl Jaspers. „In den neuen Fragen, vor denen wir nun standen, wurde Hannah ArendtBlücher für meine Frau und mich aus alter, durch Jahrzehnte nicht erloschener Neigung hilfreich“ (Jaspers o.J, 73; s.a. Arendt/Jaspers 1985). Die Kontingenz ist freilich die gemeinsame Grundlage Max Webers, Jaspers’ und Arendts, die sich hierin als durchweg moderne Theoretiker der Politik in der politischen Gesellschaft erweisen. Kontingenz besteht einerseits hinsichtlich des Geschichtsverlaufs, in den die Tagespolitik mit ihren Entscheidungen eingebunden ist und zu dessen Richtung sie maßgeblich beiträgt, ohne ihn doch wegen der unüberschaubaren Interdependenzen und nichtintendierten Nebenfolgen politischer Einzelentscheidungen jemals determinieren zu können. Das schließt aber die Zuordnung von Handlungen und Handlungsfolgen im Einzelnen, also auch die Übernahme von Verantwortung nicht aus. Im Zusammenhang seiner Erörterung der „Schuldfrage“ kommt Jaspers auf die Unterscheidung von kausaler „Ursache“ und „Schuld“, um dann aber festzustellen: „Nun liegt es aber bei historischen Kausalzusammenhängen so, daß die Trennung von Ursache und Verantwortung überall da nicht durchführbar ist, wo menschliches Handeln selber ein Faktor ist. Sofern Entschlüsse und Taten mitwirken am Geschehen, ist, was Ursache ist, zugleich Schuld oder Verdienst“ (Jaspers 1946, 75). Im Kern dieses Kontingenzbewußtseins steht der Handlungsbegiff, mit dem die Fähigkeit des freien Individuums zur Wahl zwischen Alternativen und zur Bewirkung von etwas grundsätzlich Neuem im menschlichen Miteinander thematisiert wird. Diese Alternativen beschreiben nach der gemeinsamen Auffassung von Max Weber, Hannah Arendt und Karl Jaspers einen „Möglichkeitsraum“. Erst ein solches Verständnis und reflexives Selbstbewußtsein des Handelnden macht „Freiheit“ unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen aus und läßt die Übernahme politischer Verantwortung für das eigene Handeln und die ihm zugrundeliegenden Entscheidungen zu. Insofern ist Freiheit auch die Voraussetzung für Schuld. Hier scheint allerdings das eigentliche Dilemma einer theoretischen Analyse „totaler Herrschaft“ auf, die darauf insistiert, daß unter „totaler Herrschaft“ freies Handeln in diesem Sinne gar nicht mehr möglich wäre. Bei Jaspers wurde die Frage angesichts der Zuchthaus-Metapher bereits angedeutet. Bei Hannah Arendt läuft die Argumentation auf ein letztlich unbefriedigendes Paradox hinaus: „Totalitäre Herrschaft beraubt Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln, sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie wirklich alle nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplicen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen“ (Arendt 1986, 727). Jaspers ist unzweideutig ein Anhänger der Demokratie, und das Grundmotiv seiner späteren Kritik an der Entwicklung der Bundesrepublik ist die in sei-
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nen Augen sich aus der entstandenden „Parteienoligarchie“ ergebende Gefahr – verantwortet von dem autokratischen Regierungsstil Adenauers und aktualisiert durch die drohende Notstandsgesetzgebung – eines „Weges in die Diktatur“. Aber wie bei Max Weber, dessen Demokratieauffassung die spätere „Theorie demokratischer Elitenherrschaft“ vorwegnahm, hat doch auch seine eigene Demokratievorstellung stark elitäre Züge: zwar bedeutet ihm Demokratie auch „Selbsterziehung ... des Volkes“ (Jaspers 1966, 140), aber der „Wille der echten Demokratie, in der sich die republikanische Verfassung der Freiheit konstituiert, würde sich zuerst an die Besten, die Denkenden, die Urteilsfähigsten, die Sehenden, in der Tat an eine Minorität wenden, aber an eine solche, die die politische Aristokratie im Wortsinn, nicht im Sinne von Geburt und Herkunft wäre. Demokratie ist ihrem Sinn nach zugleich aristokratisch“ (Jaspers 1966, 139). Das war nun freilich sowohl ideengeschichtlich wie politisch eine etwas gewagte Interpretation und Begründung der Notwendigkeit von meritokratischen Eliten in der modernen Demokratie. Aber wie die bereits zitierten Überlegungen seines Heidelberger Kollegen Alfred Weber von 1944-45 zeigen, befand sich Jaspers hier in großer Übereinstimmung mit vielen zeitgenössischen Autoren; zu nennen wäre etwa auch Karl Mannheim (Greven 1997). Der gemeinsame Hintergrund, den Karls Jaspers bereits in „Die geistige Situation der Zeit“ vor 1933 herausgestellt hatte – das Buch wird übrigens 1947 in fünfter Auflage mit großem und anhaltendem Publikumserfolg erneut aufgelegt –, ist die vor allem für damalige Gebildete epochale Erfahrung „des Massendaseins“ im technischen Zeitalter der Großapparate und Bürokratien (Jaspers 1947, 27ff), das schließlich „die Grundfrage der Zeit, ob der unabhängige Mensch in seinem selbstergriffenen Schicksal noch möglich sei“ (Jaspers 1947, 189) aufwirft und mit dem Hinweis auf die „Lücken ... in den Bindungen des Riesenapparates“, die ein „Aufraffen am Rande des Untergangs“ (Jaspers 1947, 190) gerade noch ermöglichen sollen, nicht gerade euphemistisch beantwortet. Mit der inzwischen eingetretenen kollektiven Erfahrung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird man diese düsteren Perspektiven zurückweisen müssen. Nicht vorhersehbar und für Jaspers und Zeitgenossen anscheinend unvorstellbar war, daß das „Massenzeitalter“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in vielen Weltgegenden umgekehrt auch zu einer strukturellen Freisetzung einer Vielfalt der Wirklichkeitsfaktoren und Verwirklichungsbedingungen führen konnte, die heute eher Probleme der – nicht nur politischen – Integration auf die historische Tagesordnung gesetzt haben, die unter Stichworten wie „Individualisierung“, „Post-Moderne“ und nicht zuletzt „reflexive“, d.h. bewußt wahrgenommene „Kontingenz“ thematisiert werden. Man kann sich durchaus fragen, ob Jaspers Buch von 1946 für sich allein genommen überhaupt dem Begriff des politischen Denkens subsumiert werden kann. Explizit ist darin von Politik in einem praktischen oder institutionellen Sinne nur sehr wenig die Rede. Bereits 1950 hatte Dolf Sternberger angemerkt, „Karl Jaspers weigert sich geradezu, irgend etwas wie ein Leitbild menschlicher
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Gesellschaftsordnung“ auszuarbeiten (Sternberger 1950, 11). Aber Rabinbach schüttet meines Erachtens das Kind mit dem Bade aus, wenn er aus dieser fehlenden Konkretheit als Jaspers’ „most important conclusions“ schlußfolgert: „First, that Germany is no longer a viable political entity and would not become one in future“ (Rabinbach 1997, 138). Richtig ist, daß Jaspers die Situation des deutschen Volkes am Ende seiner in späteren Auflagen fortgelassenen Einleitung seiner Vorlesung als eines beschrieb, „das der Welt heute als Pariavolk gilt“ (Jaspers 1946, 26) und „politisch ohnmächtig“ den alliierten Mächten ausgeliefert sei (Jaspers 1946, 23). Der erste Teil der Aussage bei Rabinbach gibt also zutreffend ein momentanes Lageurteil von Jaspers wieder, aber für den zweiten Teil der Aussage finden sich keine expliziten Stellen im Text. In eine andere Richtung geführt wird die Textdeutung, wenn man berücksichtigt, daß Jaspers – durchaus bei Anerkennung grundlegend verschiedener Betroffenheiten und Reaktionen in der Schuldfrage (Jaspers 1946, 20 und passim) – durchgehend ein appelatives „Wir“ konstruiert und rhetorisch benutzt. Es taucht im Vorwort auf der zweiten Seite das erste Mal auf: „Vor 1933 duften wir und jetzt dürfen wir wieder frei denken und reden. ... Daß wir heute eine Militärregierung haben ... bedeutet keine Einschränkung unserer Forschung. ... Wir müssen lernen, miteinander zu reden. ... Wir müssen uns in Deutschland miteinander geistig zurecht finden“ (Jaspers 1946, 12f) und dann als erste Schlußfolgerung: „... dieser Weg ist der einzige, der unsere Seele vor dem Pariasein bewahrt. Was sich aus ihm ergibt, müssen wir sehen. Es ist ein geistig politisches Wagnis am Abgrund“ (Jaspers 1946, 18). Wenn hier durchgehend vom Kollektivsubjekt des deutschen Volkes die Rede ist, das auch explizit als Subjekt von Sätzen an die Stelle des abstrakten „Wir“ tritt, wenn es etwa heißt: „Für uns Deutsche gilt hier die Alternative: Entweder wird das Übernehmen der Schuld ... zu einem Grundzug unseres deutschen Selbstbewußtseins ... oder wir sinken ab in die Durchschnittlichkeit des gleichgültigen bloßen Lebens“ (Jaspers 1946, 101) – dann ist es offenkundig, daß Jaspers ein politisches Kollektivsubjekt im Sinne einer fortexistierenden Verantwortungsgemeinschaft vor Augen steht. Im Sinne der bei Mary Fulbrook vorgenommenen Unterscheidung ist Jaspers hier sicherlich ein „essentialist“ (Fulbrook 1999, 8f). Die staatliche Existenz des deutschen Volkes ist angesichts der momentanen Fremdregierung und Besatzung suspendiert und in seiner Zukunft von den Entscheidungen anderer vollständig abhängig – aber eben von Jaspers auch nirgendwo in seiner Schrift explizit ausgeschlossen. Vielmehr lassen sich die gerade zitierten Stellen so deuten, daß er die moralische „Reinigung“ als „die Bedingung auch unserer politischen Freiheit“ (Jaspers 1946, 104) begreift; erstere ist gewissermaßen Bringschuld der Deutschen und besitzt moralphilosophisch – und therapeutisch, wie Dagmar Barnouw betont (Barnouw 1996, 146) – eine zwingende Notwendigkeit und einen Eigenwert, letztere ist kontingent und hängt von der Gnade der Siegermächte ab; „was sich daraus ergibt, müssen wir sehen. Es ist ein geistig politisches Wagnis am Abgrund“ (Jaspers 1946, 18).
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Für das politische Urteil über die wenigen politischen Anmerkungen von Jaspers in seiner „Schuldfrage“ wichtig ist die Bedeutung des Erziehungsgedankens sowie die strukturelle Offenheit des meritokratischen Elitenbegriffs, die – jedenfalls prinzipiell – jedem Gesellschaftsmitglied die Tür zur verantwortlichen politischen Mitwirkung offenhält. Was aus heutiger Sicht, wiederum gleichermaßen für Alfred Weber und Jaspers geltend, überraschen mag, ist die starke Betonung der Trias ,Denken, Urteilen, Sehen‘, also die Konzentration auf die geistigen Grundlagen der Demokratie bei ihren Bürgern und Bürgerinnen, die insgesamt für ihre zukünftige Stabilisierung für wichtiger gehalten werden als irgendwelche detaillierten institutionellen Vorstellungen. Bei der heutigen Lektüre dieser Texte mag man sich durchaus fragen, ob die in der gegenwärtigen Politikwissenschaft zu beobachtende Betonung der institutionellen und rechtlichen Voraussetzungen der Demokratie, gerade auch in einer Phase der Transnationalisierung beziehungsweise ,Globalisierung‘ der Politik, ihren Zukunftschancen und -möglichkeiten besser gerecht wird.
Felix Schottlaender: Die Katastrophe“ als geheimer Wunsch der Deutschen – und die zukünftige Rettung durch die Frauen Die kleine Schrift Felix Schottlaenders mit dem Titel „Zwang und Freiheit. Ein Versuch über die Entstehung des Terrors“, geschrieben im August 1945, endet wie Meineckes Schrift mit einem Aufruf, sich auf Goethes Maxime für Deutschland „Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe“ (Schottlaender, 1946, 43) zu besinnen und ist ebenfalls an die „geistig führende Schicht gerichtet, die heute keine Möglichkeit mehr hat, sich der politischen Verantwortung zu entziehen“ (Schottlaender 1946, 42) und Bildung auf die reine Innerlichkeit zu reduzieren – wie sie dies seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im „Lande der zwölfhundert Tyrannen“ (Schottlaender 1946, 30), vor allem dann während der Zeit des „bismarckschen Staatsabsolutismus“ (Schottlaender 1946, 26) kontinuierlich bis zur Machteroberung Hitlers getan habe. Das allein würde eine besondere Behandlung im Kontext der Darstellung des politischen Denkens nach 1945 kaum rechtfertigen. Wenn der hier als Grenzfall politischen Denkens angesehenen Schrift des nachmals bekannten und einflußreichen Psychoanalytikers und Mitbegründers der Zeitschrift „Psyche“ doch Beachtung geschenkt wird, dann, weil sie mit ihrer auf Sigmund Freuds Theorie zurückgehenden Erklärung allgemeinster politischer Phänomene wie Herrschaft und Staat einen seltenen Sonderfall im damaligen Geistesleben darstellt – und weil sie mit ihrer protofeministischen Schlußpointe für Jahrzehnte singulär, jedenfalls im Rahmen des politischen Denkens von Männern, geblieben ist.
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In loser und durchaus eigensinniger Anknüpfung an Sigmund Freuds späte Theorieentwicklung der Psychoanalyse, die sich mehr und mehr über die individuelle Leidensgeschichte hinaus der Deutung und Erklärung historisch-kultureller Phänomene zuwandte (Freud 1930), versucht Schottlaender in großen Strichen die Vorgeschichte von Hitlers Machtergreifung und das Wesen von dessen Herrschaft durch eine Mischung von deutscher Sonderweggeschichtsschreibung und allgemeinen triebtheoretischen Annahmen zu deuten; da nur Letztere hier Originalität beanspruchen können, richte ich mein Augenmerk vorwiegend auf sie. Auf der allgemeinen Ebene geht es Schottlaender darum, „Gefahren und Mißverhältnisse in der Beziehung des Einzelmenschen zum Staat aufzudecken“, um die „Frage, wie denn ‚von Natur aus‘ Einzelmensch und Gemeinschaft aufeinander bezogen sind“ (Schottlaender 1946, 5). Für Schottlaender steht auf dem Hintergrund entwicklungsgeschichtlicher und anthropologischer Forschung fest, daß „die Gemeinschaft die Wiege des Einzelmenschen ist, daß der Mensch als Herden- und Hordentier, in kleinen, aber sehr fest zusammengeschlossenen Verbänden unter Führung eines Häuptlings aus den Händen der Natur hervorging, daß es am Anfang der Geschichte auch nicht den Schatten von persönlicher Freiheit gegeben“ habe (Schottlaender 1946, 6). Daher gilt: „Die Gemeinschaft, vertreten durch den Staat, ist das Ursprüngliche und Primitive“ (Schottlaender 1946, 6), dem von den „beiden stärksten Trieben, die den Menschen als soziales Wesen erfüllen“, der „Trieb nach Sicherheit“ als „der ältere, der ursprünglichere“ entspricht (Schottlaender 1946, 7). In der Darstellung Schottlaenders bleibt etwas mirakulös, wie demgegenüber der jüngere „Trieb nach Freiheit“ überhaupt zur Wirksamkeit kommen konnte, denn man muß dessen Antriebskraft und Durchsetzungsvermögen ja bereits voraussetzen, wenn man unterstellt, daß „sich im Laufe der Jahrhunderte der Einzelmensch mit seinen Selbständigkeitsansprüchen und seinem Freiheitsbedürfnis“ (Schottlaender 1946, 6) gegen Häuptlinge, Gemeinschaft und Staat herausbildete. Auf jeden Fall entsteht so die heutige Triebspannung zwischen Sicherheits- und Freiheitsbedürfnis: das erste nährt sich aus der „Angst“ als „Ureigenschaft des primitiven Menschen“ und richtet sich auf den starken Führer („Häuptling“) oder „Staat als Anwalt der Kollektivsicherheit“ (Schottlaender 1946, 8), das Freiheitsbestreben hingegen auf Individualität und Selbstverwirklichung. Angesichts der „Du-Bezogenheit“, die ihre konstituierende Prägung in der „Einbettung ..., daß der Mensch wie jeder Warmblütler einmal im Leibe eines anderen Wesens ein Leben der Geborgenheit hat führen dürfen“, findet (Schottlaender 1946, 8) und die nachgeburtlich auch sein Verhältnis zur unmittelbaren „Gemeinschaft“ prägt, bezeichnet Schottlaender die „Ängste“ vor „Ausstoßung und Diskriminierung“ durch die Führer der Gemeinschaft oder den Staat als „urzeitliche Ängste“, ihre Androhung oder Vollziehung als „Terror“ : „Die Anwendung des Terrors durch eine souveräne Instanz stützt sich darauf, daß der Mensch sowohl als soziales wie als Einzelwesen
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grundsätzlich Du-bezogen ist und angesichts der Drohung der Ausstoßung aus der Gemeinschaft seine frühesten Ängste wiederbelebt“ (Schottlaender 1946, 11). Man erkennt hier deutlich die von Freud vorgeprägte ,Methode‘ eines ständigen argumentativen Wechselspiels zwischen der onto- und der phylogenetischen Ebene, wobei Ersterer eindeutig die Priorität verbleibt und die ,sozialen‘ oder ,politischen‘ Phänomene letztlich bloß als emergente Effekte des individuellen Triebschicksals erscheinen. Weiterhin bedeutsam ist die andauernde Gleichzeitigkeit der ursprünglichen „primitiven“ Triebdynamiken und ihrer jeweiligen symptomatischen Ausprägung mit den späteren, gewissermaßen zivilisierenden Effekten; konkret gesagt bleibt die „Urangst“ als jederzeitig regressiv mobilisierbare Triebdynamik bestehen und aktualisiert um des erwarteten „Schutzes“ willen gegebenenfalls das Unterwerfungsbedürfnis unter die Gemeinschaft, den Staat – auch wenn dieser, wie es nun aufgrund der spezifisch deutschen Geschichte der Fall gewesen ist, der „urzeitliche Staat“ ohne freiheitlichen Anspruch des „preussischen Staatsabsolutismus“, „Bismarcks“, ja sogar der Versailler Mächte zu Zeiten der Weimarer Republik ist. „Die Not und Bedrängnis, in der sich die deutsche Reichsregierung damals befand, die Forderungen des Auslands aus dem Versailler Vertrag und die rücksichtslose Opposition im Innern erwiesen eben, daß die Weimarer Verfassung eine Attrappe war, und daß das Deutsche Reich seit 1871 niemals etwas anderes gewesen war als eine Diktatur in mehr oder minder deutlicher Verhüllung“ (Schottlaender 1946, 27). Dieser „Diktatur“ aber hatte sich vor allem auch die deutsche Oberschicht gefügt, ihr Leben vorwiegend als politikferne Bildungsklasse im „Schutz“ der Macht kultiviert. Aber es wäre „trotz allem nicht zu der verhängnisvollen ‚Machtergreifung‘ von 1933 gekommen, wenn nicht ein auslösender Faktor den Umsturz begünstigt hätte: die Angst“ (Schoettlaender 1946, 33), ausgelöst durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Inflation und die Weltwirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre. „Die Angst war im wesentlichen Angst vor Verarmung“ (Schottlaender 1946, 35). Als diese Entwicklung „zu riesigen Verlusten (des Bürgertums, M.G.) und zu rasch wachsender Arbeitslosigkeit führte, verlor das deutsche Volk die Nerven ... erhob sich der Ruf nach dem ‚starken Mann‘. Er wird erklärlich aus einer zur Selbstaufgabe gewachsenen Angst und bedeutet, daß ein Volk in diesem starken Mann einen Führer und allmächtigen Vater sucht, der es aus der Gefahr erlösen soll“ (Schottlaender 1946, 33f). Damit war aber die Regression zur urzeitlichen „Verfassung des Häuptlingsstaates auf dem Kriegspfad“ (Schottlaender 1946, 35) eingetreten. Damit sie möglich wurde, muß Schottlaender allerdings noch erklären, was aus den historischen Mächten wurde, die der zweite mächtige „Trieb“, das Freiheitsbedürfnis des Individuums in seiner langen Entwicklung geschaffen hatte. Nach Schottlaenders phylogenetischer Rekonstruktion der Zivilisationsgeschichte waren das vor allem der Adel und das Christentum.
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Wiederum setzt die Genealogie ,urgeschichtlich‘ an und beschreibt, wie die „Geschlechter, die die Gewalt des Häuptlings zu stützen berufen, aber auch zu stürzen imstande sind“ (Schottlaender 1946, 12), sich nach und nach historisch „durch Kriegstaten und damit zusammenhängende Verdienste für den Stamm, Vorrechte, Freiheiten erworben (haben, M.G.), die der Häuptling achten muß“ (Schottlaender 1946, 12). „Im Adel verkörpert sich also erstmals das der Menschenseele eingeborene Freiheitsstreben, das auf Tradition und Erblichkeit fußend eigensinnig verteidigt wird und zwar nach zwei Seiten: nach oben gegen die Quelle der Staatsmacht, den Häuptling, dessen ursprünglicher Allgewalt aus der Urzeit die Vorrechte des Adels abgetrotzt worden sind, nach unten gegen die Unterschicht der Beherrschten, deren Machtstreben und Kritik unablässig bemüht ist, die Ruhe und Sicherheit der Oberschicht zu untergraben“ (Schottlaender 1946, 12). Hat so der Trieb des Freiheitsbedürfnisses über Jahrhunderte soziologisch eine Trägerschicht gewonnen, so ist zugleich mit dem „Machtstreben“ der „Unterschicht“ – bei ihr ist bezeichnenderweise so wenig vom Trieb des Freiheitsbedürfnisses die Rede, wie sich der abschließende Appell zur geistigen Erneuerung über die „geistige Oberschicht“ hinaus an sie richtet – ein dynamisches Modell angedeutet, in dem es zur „Revolution, die alle Völker der Geschichte von Zeit zu Zeit befallen hat“ (Schottlaender 1946, 13) kommt, wenn „eine mattgewordene, nicht mehr zur Herrschaft brauchbare Adelsschicht“ abgewirtschaftet hat „und eine neue Minderheit aus dem Schoß der namenlosen Masse“ an ihre Stelle tritt (Schottlaender 1946, 13), wie dies in den bürgerlichen Revolutionen und zuletzt 1917 in der „radikalste(n) Revolution des Abendlandes“ erneut geschehen sei (Schottlaender 1946, 13). Man sieht also, daß der Begriff des „Adels“ hier nicht länger historischsoziologisch gebraucht wird, sondern im Sinne einer funktional zur Herrschaft befähigten und befugten Minderheit als „herrschender Oberschicht“ (Schottlaender 1946, 13). In ihr ist im historischen Ablauf jeweils das politische Freiheitsstreben verkörpert, jedenfalls solange, bis der unter Berufung auf Jakob Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ konstruierte Kreislauf von Ermattung der Herrschaftsschicht und revolutionärer Neustiftung wieder beginnt. Wenn Schottlaender diesen Abschnitt mit der Feststellung beginnt: „Der Grundzug der Gemeinschaftsgliederung des Menschen ist die Zweischichtigkeit“ (Schottlaender 1946, 11), so scheint er freilich sein eigenes Modell der zeitlosen Dreigliedrigkeit von „Häuptling“ (Staat), Adel („herrschende Oberschicht“) und der „Unterschicht der Beherrschten“ aus dem Auge verloren zu haben; Letzterer wird auch in den unmittelbar auf die Situation nach 1945 bezogenen Passagen keine Beachtung geschenkt, obwohl dort von „Demokratie“, „Christentum“ und „Sozialismus“ vage die Rede ist (Schottlaender 1946, 42). Ist solchermaßen mit dem Adel beziehungsweise heutzutage der herrschenden Oberschicht oder Elite der Träger des Freiheitsbedürfnisses bestimmt, so erkennt Schottlaender im Christentum zivilisationsgeschichtlich dessen geistiges Prinzip. Erneut setzt er aber zunächst auf der Ebene der Urgemeinschaft an,
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auf der der „Mensch die Beute ununterbrochener Angst“ gewesen sei (Schottlaender 1946, 14). Sofern diese sich auf wilde Tiere oder Angriffe anderer Stämme bezog, versprachen Gemeinschaft und Herrschaft des Häuptlings Schutz im Tausch gegen Unterwerfung. Aber in „allen ‚übernatürlichen‘ Dingen“ etablierten sich „Zauberpriester“ als „unentbehrliche Berater des Häuptlings“ (Schottlaender 1946, 15) – wobei paradoxerweise das „Übernatürliche“ sich gerade im Walten der Natur manifestierte. So entsteht geschichtlich aber die „Zweihäuptigkeit der Führung“, in der das „Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche“ wurzelt, „das bis in das allererste Auftauchen menschlicher Gemeinschaften zurückzuverfolgen ist“, wie Schottlaender unter Berufung auf Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ als „maßgebende“ Quelle feststellt. Gegenüber dieser traditionellen „Zweihäuptigkeit der Führung“ abgeschlossener Gemeinschaften erwies sich der „Einbruch des Christentums in die Geschichte der Menschheit“ als „grundstürzende Revolution“, denn „weit über die reine Stammeswohlfahrt hinausreichend trägt die jüdische Ethik schon in der vorchristlichen Zeit universelle Züge“ und „sucht nach objektiven Gesetzlichkeiten in der Beziehung von Mensch zu Mensch“ (Schottlaender 1946, 16), die schließlich den sich daraus entwickelnden universalistischen Anspruch des Christentums „als Gegenmacht der Politik in die Geschichte der Menschheit einfügt“ (Schottlaender 1946, 17). Blieb also „die Politik“ in ihrer der nationalstaatlichen Staatsraison verpflichteten Organisationsstruktur partikularistisch, gewissermaßen auf „primitivem“ Stammesniveau, entwickelte sich demgegenüber die Kirche mit ihrer Katholizität universalistisch (Schottlaender 1946, 18f). Hier kann nun wieder die deutsche Sonderweggeschichtsschreibung Schottlaenders einsetzen, denn mit der Reformation in Deutschland und dem daraus hervorgehenden protestantischen Bündnis von „Thron und Altar“ versagt auf dem Hintergrund des Prinzips ,cuius regio, eius religio‘ mindestens in den protestantischen Ländern, allen voran Preußens und nach 1871 des preußisch dominierten Deutschen Reiches, die Religion als „Gegenmacht“ der Politik; sie verkehrte sich vielmehr in „die ideologische Stütze der landesherrlichen Autorität“ (Schottlaender 1946, 29). So kann es angesichts der politikfernen Bildungselite und des verängstigten Bürgertums zur Hitlers Machtergreifung kommen: „Das Vorherrschen dieser reaktionären und freiheitsfeindlichen Einstellung der kirchlichen Gewalten in Deutschland ist es, das im Verein mit dem Fehlen einer starken politischen Oberschicht dem Nationalsozialismus den fährlichen Vorschub geleistet hat“ (Schottlaender 1946, 32). Sind somit ziemlich direkt aus der Triebkonstellation der Urgesellschaft jene Voraussetzungen hergeleitet, die in den Augen Schottlaenders Hitlers Machtergreifung ermöglichten, so bekommt die psychoanalytische Deutung dieser Herrschaft und ihres Unterganges zum Schluß nochmals eine neue Perspektive, die „viel elementarer, viel tiefer im deutschen Menschen wurzelt“, denn „heute wissen wir um den Zusammenhang, der damals, als Hitler seine Laufbahn be-
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gann, noch nicht zu ermessen war. Das Deutsche Reich schickte sich an zu sterben“. Die „Angst“ – von der schon soviel die Rede war ... – „war also in tieferer Schicht Todesangst“ (Schottlaender 1946, 36). Angesichts der folgenden Passage muß man sich als Leser nun freilich fragen, ob sich die psychoanalytisch gemeinte Geschichtsdeutung nicht selbst zur Mythologie verkehrt und ihren aufklärerischen Gehalt verspielt. Erst wird die indische Göttermythologie unter Berufung auf Freuds „Unbehagen in der Kultur“ mit „dem aufbauenden Brahma“ und dem „zerstörenden Schiwa“ als „Projektion“ der „tiefen Erkenntnis“ gedeutet, „daß Aufbau und Zerstörung neben- und gegeneinander im Menschenherzen leben“; dann behauptet, „Hitler war ganz und gar ein Geschöpf Schiwas, das Werkzeug der Selbstzerstörung eines Volkes“ und dann schließlich gefragt: „Liegt nicht gerade darin unsere Gesamtschuld für das Unglück, das wir über Europa gebracht haben, daß dieser Hitler ein Vollstrecker unserer eigenen unbewußtesten und gefürchtetsten Wünsche gewesen ist? Die Wahrheit ist, daß Deutschland in seinem alten Kleid nicht mehr leben wollte und nicht mehr leben konnte. Und deshalb mußte es wohl aus seinem Schoße einen Teufel hervorbringen, der alle Welt durch seinen Wahnsinn zur Zerstörung des Reiches aufrief, das wir selber zu gestalten weder die Kraft noch die Einsicht besaßen“ (Schottlaender 1946, 36). Man versteht, warum ich eingangs dieses Abschnittes bezweifelte, ob wir es hier noch mit politischem Denken im engeren Sinne zu tun haben; aber man darf auch an der immanenten Konstruktion zweifeln: wessen „Todesangst“ wird hier projiziert, kann man Freuds triebtheoretische Annahme eines individuellen „Todestriebes“ tatsächlich so erweitert in den Wunsch nach dem Untergang eines historischen Staatswesens übersetzen? Was soll es bedeuten, daß sich ,das Reich zu sterben anschickte‘, ,in seinem alten Kleid nicht mehr wollte und konnte‘ und daß sich darin ,unsere eigenen unbewußtesten und gefürchtetsten Wünsche‘ äußerten? Politisch gelesen kann man in diesen Gedankengängen immerhin eine bewußte Gegenposition zu den weitverbreiteten zeitgenössischen Ansichten erkennen, Hitler und die seinen seien über die Deutschen wie eine fremde Macht gekommen und diese deshalb dessen erstes und eigentliches Opfer. Die übliche und umstrittene These über die Kollektivschuld der Deutschen bekommt in diesen Passagen eine ganz eigentümliche Wendung, die man ansonsten in der Literatur nicht findet. Normalerweise bezieht sie sich ja in problematischer Weise auf die Verbrechen, die in der Phase der nationalsozialistischen Herrschaft begangen wurden, in einem gewissen Sinne auch auf die Mitverantwortung an deren verbrecherischem Charakter insgesamt. Aber in diesen merkwürdigen Passagen bei Schottlaender geht es ja gar nicht um die Verbrechen; vage Erwähnung findet nur einmal das „Unglück, das wir über Europa gebracht haben“; im Kern geht es vielmehr um den Untergang und die „Zerstörung des Reiches“, um die „Katastrophe von 1945“, wie er bezeichnender Weise schreibt (Schottlaender 1946, 40) – anders als Meinecke, der sie 1933 begin-
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nen und 1945 enden ließ. Nirgends außer in jener abstrakten Formel des „Unglücks“ ist von den Opfern der deutschen Politik außer den Deutschen selbst die Rede, schon gar kein Wort findet sich über die Juden. Deshalb ist auch offenkundig, worauf sich die Frage bezieht: „Ist es vermessen, angesichts dieses Elends die Vermutung zu wagen, daß wir all das in unserem geheimsten Herzen gewollt haben, was uns durch Hitlers Wahnsinn zustieß?“ (Schottlaender 1946, 37). Nach meinem Urteil nimmt der Gedankengang Schottlaenders – sicher entgegen seiner eigenen Intention – hier gerade in den Augen wahrhaft religiöser Menschen blasphemischen Charakter an, wenn er fortfährt zu fragen, ob es „vermessen“ sei anzunehmen: „Daß wir erst jetzt, in diesen furchtbaren Elendsjahren, die hinter uns liegen und unser noch warten, den Weg antreten, den Gott uns gewiesen hat, den Weg der Wahrheit, der Menschlichkeit und der inneren Einkehr? Mußten wir erst so arm und unglücklich werden, um diesen Weg zu finden?“ (Schottlaender 1946, 37) Das sind aus der Feder eines bei Hans Driesch promovierten Philosophen und unter anderem bei Helene Deutsch in Wien ausgebildeten Psychoanalytikers Gedankengänge, die sich vielleicht nur mit seiner schweren inneren Erschütterung und Verwirrung in der unmittelbaren Nachkriegszeit erklären, aber deswegen doch nicht rechtfertigen lassen. Hier wird in geradezu narzistischer Manier die Notwendigkeit eines Purgatoriums der Deutschen zu ihrer seelischen Reinigung insinuiert, ohne mit einem Wort auf die mehr als 50 Millionen Toten und die Zerstörungen weit über Europa hinaus einzugehen, die dafür offenkundig, wenn auch als ,Kollektivschuld‘, in Kauf genommen werden mußten. Wie eingangs schon angeführt, endet dieser merkwürdige und in den letzten Passagen verstörende Text geradezu besinnlich mit einem Aufruf an die deutsche Oberschicht, vor allem in Gestalt der „Bildungsschicht“ (Schottlaender 1946, 41), politische Verantwortung zu übernehmen: „Wer anders sollte Garant und Hüter unserer Freiheit werden als eben die geistig führende Schicht ... es muß der Versuch gemacht werden, diese Schicht politisch so zu entwickeln, daß sie einen Hort der Freiheit bildet und es als ihre Pflicht erkennt, Freiheit und Frieden bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen ... nicht Zwang sondern freiwillige Verantwortung wird die Haltung dieser Oberschicht beherrschen und die Bildungsmittel beschaffen, die erforderlich sind, unsere Freiheitsmittel zu erobern. Alle Kräfte, die diesem Ziel dienen, sind als Bundesgenossen zu begrüßen“ (Schottlaender 1946, 42). Es wird kaum überraschen, daß recht vage und allgemein allerdings, Christentum und Sozialismus gleichermaßen als „Bundesgenossen“ vorgesehen sind und daß es vor allem gelte, „unsere Jugend einem echten Bildungsideal zu erschließen“ (Schottlaender 1946, 42). Dann aber hat Schottlaender noch eine echte Schlußpointe zu bieten, die allein seine Berücksichtigung in den Augen mancher Leserinnen gerechtfertigt erscheinen lassen mag: „Und doch sind wir noch“ – trotz Christentum, Sozialismus und Jugend – „immer unsicher in der Sache der Freiheit, wenn uns nicht der mächtigste Bun-
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desgenosse friedlicher Entwicklung zur Hilfe kommt: die Frau!“ (Schottlaender 1946, 42f). Dieser Auffassung war 1946 auch Gertrud Bäumer, eine der großen Gestalten der bürgerlichen Frauenbewegung, Mitarbeiterin Friedrich Naumanns und später Theodor Heuss’, 1919 bis 1933 für die Demokratische Partei Mitglied des Reichstages und zuletzt bis 1933 Ministerialrätin für Frauenfragen im Reichsministerium des Innern, im ersten Band der in der Nachkriegszeit vieldiskutierten Reihe „Der Deutschenspiegel. Schriften zur Erkenntnis und Erneuerung“. Sie schrieb, der „nationalsozialistische Männerstaat“ hätte „nicht nur die Unterordnung eines Mannes unter eine Frau abgelehnt“, sondern dessen ganze Struktur und Ideologie „richtete sich gegen den unerwünschten Einfluß der Frau als solchen, ihrer Auffassung, Betrachtungsweise und inneren Haltung“ (Bäumer 1946, 24). Dabei unterstellt sie in essentialistischer Weise einen spezifischen Geschlechtscharakter der Frauen, der sich vor allem aus ihrer Bestimmung zur Mutterschaft ergäbe, den aber der Nationalsozialismus mit seiner bevölkerungspolitischen Instrumentalisierung – etwa in der „Aktion Lebensborn“ – immer mehr mißbraucht habe, indem er den Frauen eine Scheinautonomie auch im Sinne sexueller Selbstbestimmung nur vorgegaukelt habe, um in Wahrheit zum Ausgleich der Opfer an den Fronten die Geburtenziffern nach oben zu treiben. Viele Frauen seien in bester Absicht und entgegen ihren Interessen dieser ,Verführung‘ nationalsozialistischer Propaganda durch Mutterkreuze und den perversen Ruf erlegen, dem „Führer Kinder zu schenken“ (Bäumer 1946, 13). Heute aber gehe es darum, den „Zerstörungsgewalten“ das Bündnis der Frauen mit den „Erhaltungsmächten entgegenzusetzen: „entweder der Vernichtung oder einer radikalen Umkehr“ gegen den reinen „Männerstaat“ eine Chance zu geben; „eine solche Entscheidungsstunde ruft nach der Stimme der Frauen. Werden sie den Mut haben, sie zu erheben? Denn jetzt geht es um die Menschheitsfrage nach dem Krieg als solchem. Hat er sich nicht überlebt durch seine Vernichtungsmittel, die, als solche, technisch, das Übergewicht über die Kräfte des Aufbau errungen haben? Lohnt es überhaupt noch, etwas anderes als Behelfsheime zu erstellen, wenn die Menschheit auf dem beschrittenen Wege weiter ‚Fortschritte‘ macht? Das ist die Frage, die heute von den Frauen gestellt werden muß, von ihnen vor allem“ (Bäumer 1946, 22). In dieser Überlebensfrage der Menschheit gibt es „keine Heilung, ohne daß den männlichen Impulsen das Gegengewicht der weiblichen in gleicher Freiheit der Auswirkung zugesellt wird“ (Bäumer 1946, 31) ; angesichts des gegenwärtigen Zustandes der Welt könnten die Frauen „ihre Mission ... gar nicht groß genug sehen. Von den gottverbundenen Mächten der Erhaltung, die zu hüten ihnen insbesondere aufgetragen ist, hängt an dieser Wende alles ab“ (Bäumer 1946, 33). Die Frau als „mächtigster Bundesgenosse der friedlichen Entwicklung“ soll nun also richten, was der „Männerbund“ des Staates (Kreisky 1992) historisch nicht vermochte; darin sind sich Bäumer und Schottlaender einig. „Im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarn sind wir eine patriarchal bestimmte Nation ge-
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wesen“ in der „die Frau trotz aller Bildungsfreiheit soziologisch bisher nicht die Selbständigkeit und Selbstbestimmung erlangt hat wie anderwärts ... Wo die Frau abhängig und unterjocht ist, wo sie in törichter Bewunderung vor ihrem überlegenen Gebieter versinkt, fehlt der wichtigste Schutz gegen das falsche Heldentum und das ewige Gerede vom Krieg, fehlt die wichtigste Schutzwehr gegen den Terror. Die Frau sollte wissen, daß sie zu allen Angelegenheiten der Erde, also auch zum Regieren, mitberufen ist. An der Frau wird es liegen, ob der Geist des Friedens nach so viel Unheil und Not endlich in die Herzen der deutschen Menschen einzieht“ (Schottlaender 1946, 43). Kaum als gleichberechtigt anerkannt und zum „Regieren mitberufen“, wird den Frauen schon im nächsten Satz die ganze Verantwortung für den Frieden angelastet – wenn das mal angesichts der verfahrenen Lage 1945 keine patriarchalische Projektion des Herrn Psychoanalytikers war. Jedenfalls wird man die Stimmen Bäumers und Schottlaender – ungeachtet ihrer teils problematischen theoretischen Voraussetzungen – noch für Jahrzehnte in Fragen der gleichen politischen Teilhabe der Geschlechter als einsame Rufer in der Wüste männlicher Politikdominanz bezeichnen müssen. Ob ihre Hoffnung, diese würde den Frieden bringen und stabilisieren, sich dann als zutreffend erweisen wird, kann man eigentlich nur mithoffen.
Eugen Kogon: Vom „Fiasko“ der Re-education
Macht
Eugen Kogon gehört zu den markantesten Publizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit. Mit seinem Buch „Der SS-Staat“ veröffentlichte er 1947 das wohl erfolgreichste und einflußreichste Buch dieser Periode, das ein Welterfolg wurde und seinen bis dahin aus der Vorkriegszeit nur katholischen Kreisen als Publizisten bekannten Autor berühmt machte. Von wenigen Bemerkungen im Schlußkapitel und dem 1948 hinzugefügten Abschnitt „Der Terror als Herrschaftssystem“ – ursprünglich als Referat auf dem 9. Deutschen Soziologentag in Worms gehalten – abgesehen, ist dieses Buch aber kein Beitrag zum politischen Denken der Nachkriegszeit über die Nachkriegszeit. Eugen Kogon war aber als Mitherausgeber der „Frankfurter Hefte“ seit 1946 und darüberhinaus als aktiver Politiker in der deutschen Europabewegung auch einer der meistgelesenen und beachteten politischen Publizisten nicht nur des Untersuchungszeitraumes; er blieb es auch nach seiner Berufung auf den ersten Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt bis weit in die siebziger Jahre hinein. Die Anlässe seines Schreibens und die Themen sind dabei weit gespannt, haben meist tagesaktuelle Anlässe und nach Art und Duktus seines Schreibens wird man die Beiträge engagiert und sachlich, überwiegend aber im methodischen Sinne kaum wissenschaftlich oder auf die Wissenschaft gezielt nennen können. Am ehesten ist das noch bei seinem bereits erwähnten Beitrag für den 9. Soziologentag anders, in
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dem Kogon eine analytisch und systematisch gegliederte Darstellung des Terrors, seiner psychischen und ideellen Grundlagen und Voraussetzungen, seines instrumentellen Charakters zur Erringung und Stabilisierung von Herrschaft wie seiner Folgen für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gibt. Wie bereits einleitend bemerkt, mache ich bei der Behandlung Kogons eine Ausnahme vom Prinzip, nur Monographien in die Untersuchung einzubeziehen; seine Schriften aus dem Untersuchungszeitraum waren einfach zu symptomatisch und einflußreich, um sie auszulassen. Man darf nicht vergessen – und erinnert sich dieser Zahlen angesichts der heutigen Misere der kulturellen und politischen Zeitschriften nur mit Verwunderung und Traurigkeit – daß die „Frankfurter Hefte“ bis zur Währungsreform immerhin eine verkaufte Auflage von 70.000 erreichten, „und hätten sicherlich 200.000 haben können, wenn wir genügend Papier besessen hätten“; wie Kogon in seinen Erinnerungen an anderer Stelle festhält, lagen noch „150.000 Voranmeldungen auf Abonnements“ vor (Kogon Bd. 6, 90 und 94). Angesichts der oben beschriebenen Ausnahme werden die Beiträge Eugen Kogons im Übrigen wegen der besseren Zugänglichkeit nach den von seinem Sohn Michael Kogon und Gottfried Erb besorgten „Gesammelten Schriften“ mit Band- und Seitenzahl zitiert, während im Text gegebenenfalls auf die ursprünglichen Titel und das Erscheinungsjahr der Originalbeiträge verwiesen wird. Zunächst wird in diesem Beitrag nur auf Kogons eher systematische Darstellung des „Terrorsystems“ wie auf seine frühe und grundsätzliche Kritik der Besatzungspolitik eingegangen. Sie gehören in den Zusammenhang einer „Politik der geistigen Umkehr und Erziehung“. Den „christlichen Sozialismus“ als eine Gestalt des „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus, für den er sich anfangs praktisch und beherzt engagierte, hat Kogon nur in einem größeren Aufsatz detaillierter entfaltet (Kogon Bd. 5, 18-41), ansonsten aber in einer Art Arbeitsteilung mit Walter Dirks ihm dessen Darstellung und Begründung in den „Frankfurter Heften“ überlassen. Kogon wiederum fiel in dieser Beziehung die Aufgabe zu, die Europäisierung des demokratischen Sozialismus und die Vereinigung Europas darzustellen und zu propagieren, für die beide eintraten; davon wird noch an anderer Stelle die Rede sein. Der in die Auflagen des Buches über den „SS-Staat“ 1948 als Einleitungsabschnitt aufgenommene Beitrag über den „Terror als Herrschaftssystem“ beginnt mit einem Abschnitt über die zerstörerischen Wirkungen des Zeitalters der ‚Aufklärung‘, das auf den ersten Blick große Parallelen mit der kurz zuvor bei Querido in Amsterdam erschienen „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aufweist. Es gibt aber keine Hinweise darauf, daß Kogon bei der Abfassung seines Textes die in dem Amsterdamer Exilliteraturverlag in kleiner Auflage kurz zuvor erschienene Schrift der beiden nunmehr in den USA lebenden ehemaligen Frankfurter Soziologen und Philosophen kannte. Aber auch für ihn stellt die Aufklärung mit ihren fortschrittlichen Prinzipien nicht einfach einen ethischen und historischen Gegenpol zum jüngst
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offenbar gewordenen „Terror als Herrschaftssystem“ dar. Spricht er davon, der „Schrecken umgibt uns wieder wie die Primitiven“ (Kogon Bd. 1, 84) so Horkheimer und Adorno ähnlich von dem „Rückfall von Aufklärung in Mythologie“ (Horkheimer/Adorno 1969, 3). Wollen sie in der „Dialektik der Aufklärung“ „die Selbstzerstörung der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1969, 3) begreiflich machen, so stellt Kogon bereits im ersten Satz fest: „Das Zeitalter der ‚Aufklärung‘ ... ist außerhalb der Wissenschaft in Europa so gut wie total gescheitert“ (Kogon, Bd. 1, 84). Der Anlaß für die in diesen Sätzen zum Ausdruck kommende Zeitdiagnose ist in beiden Fällen derselbe: der Sieg totalitärer Herrschaft über die humanen Verheißungen des Aufklärungszeitalters in Form der Natur- und Menschenrechte nicht gegen, sondern mit den Mitteln der Aufklärung. Nach Kogon unterscheidet sich heute die „Schreckensherrschaft“ gegenüber „der früheren Zeiten durch Rationalität“ (Kogon Bd. 1, 85), nach Horkheimer und Adorno behandelt der „Faschismus“ im „Einklang mit der reinen Vernunft ... die Menschen als Dinge ... die totalitäre Ordnung aber setzt kalkulierendes Denken ganz in seine Rechte ein ... ihr Kanon ist die eigene blutige Leistungsfähigkeit“ (Horkheimer/Adorno 1969, 93). Beide Male ist es, wie viele ähnliche Textstellen zeigen, die vereinseitigte oder verabsolutierte „Rationalität“ beziehungsweise „Vernunft“, die die totalitäre Schreckensherrschaft des 20. Jahrhunderts von der geschichtlichen Tyrannei unterscheidet. Viele Jahre später wird Zygmunt Bauman in seinem Buch, das im englischen Original den treffenderen Titel „Modernity and the Holocaust“ als im deutschen trägt (dt. Bauman 1992), im Detail an der ,Holocaust-Forschung‘ durchdeklinieren, was in diesen frühesten Reaktionen auf die Ermordung des europäischen Judentums in den Gaskammern der Vernichtungslager bereits mit dem Hinweis auf die Rationalität der Schreckensherrschaft intuitiv erkannt wurde: „Das ist die erschütterndste Lehre aus der Analyse des ‚komplexen Phänomens Auschwitz‘, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-NutzenÜberlegungen, Finanzfragen und einheitliche Rechtsauslegung eine Rolle spielten“ (Bauman 1992, 30f). Und noch auf eine letzte Gemeinsamkeit sei hingewiesen: während es für Horkheimer und Adorno auch in dem 1969 zur Neuausgabe geschriebenen Vorwort kaum des Nachweises im Einzelnen bedarf, daß es die im Kapitalismus einseitig zur Herrschaft gekommene „Vernunft“ ist, die auch nach dem Ende der Schreckensherrschaft die in der „Dialektik der Aufklärung“ „erkannte Entwicklung zur totalen Integration“ als „unterbrochen, nicht abgebrochen“ erscheinen läßt (Horkheimer/Adorno 1969, IX), spricht Kogon in seinem genannten Beitrag zum Soziologentag unter dem Zwischentitel „Terrormittel in begrenzter Auswahl“ die „Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems“ als ein Beispiel an, in dem die spezifischen Terrormittel des Kapitalismus – genannt werden u.a. „sozial willkürliche Entlassungen, willkürliche Stillegungen“ – „auf den schuldlos wirtschaftlich Ungesicherten nicht weniger vernichtend ein-
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wirken als einige der Terrormaßnahmen einer politischen Diktatur“ (Kogon Bd. 1, 95). Für die beiden dann schließlich doch so unterschiedlich begründeten Ansätze waren also die Vereinseitigung der Rationalität, die sich von jeglicher Moral losgelöst glaubt, und das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen allein am Profitmotiv ausgerichteten Gesetzmäßigkeiten Quelle allen Übels und Gegenstand heftigster Kritik. Auch in der typischen totalitarismustheoretischen Perspektive auf den Vergleich der nationalsozialistischen und der bolschewistischen Herrschaft, die Kogon in eher beiläufigen Bemerkungen in diesem Text anspricht (Kogon Bd. 1, 85, 92), unterscheiden sich die Frankfurter nicht, wie die Heranziehung weiterer Texte von ihnen deutlich machen würde. Aber damit ist der Gemeinsamkeiten genug. Eine entscheidende Differenz hat Kogon bereits in dem schon zitierten Eingangssatz seines Beitrages deutlich gemacht: während er ohne nähere Begründung die „Wissenschaft“ von dem totalen Scheitern der Aufklärung ausnimmt, sehen Horkheimer und Adorno gerade in der modernen Entwicklung der Wissenschaft in der „Industriegesellschaft“ die Verwirklichung des Prinzips der Herrschaft über Natur und das „Selbst“; das „Sein wird von ihr unter dem Aspekt der Verarbeitung und Verwaltung angeschaut. Alles wird zum wiederholbaren, ersetzbaren Prozeß, zum bloßen Beispiel für die begrifflichen Modelle des Systems, auch der einzelne Mensch, vom Tier zu schweigen“ (Horkheimer/Adorno 1969, 91). Diese Kritik, ursprünglich nur der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer 1967) oder dessen, was Adorno später den „Positivismus“ (Adorno 1969) nennt, endet in der praxislosen Aporie einer Kritik, die sich als „negative Dialektik“ (Adorno 1970) schließlich selbst den begründungsmäßigen Boden unter den Füßen wegzog. Solche Probleme hat Kogon nicht, der sich bereits in seinem Schlußkapitel zum „SS-Staat“ auf Jesus Christus als „den Erlöser zur Freiheit und Menschenwürde“ (Kogon 1982, 420) bezieht und der in diesem durchgängig in seinem Werk mehr oder weniger offen wiederholten Glaubensbekenntnis einen festen Grund für die von ihm immer wieder ins Feld geführten „Gesetze der Menschlichkeit“ (Kogon 1982, 408 und passim) als Grundlage jeder echten Aufklärung und Wissenschaft sieht, deren inhaltliche Konkretisierung man bei ihm im katholischen Naturrecht verorten darf. Als göttlich gestiftetes Naturrecht sind die aus der Gottesbildlichkeit stammende Menschenwürde und die aus dem Nächstenliebegebot abgeleitete, sittlich gebundene Freiheit und Solidariät dem gläubigen Christen keiner weiteren Begründung bedürftig, sondern im Glauben selbst erkannt und jeder Wissenschaft vorausgesetzt. Insofern ist die oben von Kogon kritisierte Verselbständigung der Rationalität mit ihrer Ablösung vom Glauben gleichzusetzen. Wo diese Grundlage von Kogons Denken und Urteilen nicht unvermittelt als persönliches Glaubensbekenntnis auftaucht, da übernehmen in seinen Texten die Berufung auf „Humanität“ beziehungsweise „Moral“ semantisch und argumentativ diesselbe Funktion, von deren tatsächlicher historischer Wirksam-
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keit Kogon trotz seiner persönlichen Erfahrung mit der entmenschlichenden Praxis der SS-Schergen im Konzentrationslager zutiefst überzeugt bleibt. „Die Geschichte verläuft eben weder nach den Regeln der Logik noch wie ein Rechenexempel. Sehr wohl spielt in ihr aber, wenn auch zumeist umwegig, die Moral eine mitausschlaggebende, eine nicht zu übersehende Rolle“ (Kogon Bd. 1, 236), schreibt er 1973 im Rückblick auf die „Besinnungsliteratur“ die „nach der totalen Niederlage des Regimes im besetzten, besiegten Deutschland dann eine Flut von Publikationen hervorbrachte“ – aber, wie er bedauernd hinzufügt, „ihr Ziel nicht erreicht hat“ (Kogon Bd. 1, 236). Ausgerüstet mit solcher persönlichen Gewißheit kennt in Kogons Auffassung eben auch die „Wissenschaft“ die Möglichkeit objektiver Erkenntnis – jedenfalls der letzten moralischen Natur der geschichtlichen und gegenwärtigen Verhältnisse; sie ist in der mit aller Sachlichkeit jeweils zu betreibenden Tatsachenfeststellung einbegriffen. Kogon spricht im Vorwort zur Taschenbuchausgabe nach dreißig Jahren von seinem Buch als einem „Sachbericht“ (Kogon 1982, 8), letztlich auf solches moralisches Urteil hin orientiert. Dafür steht Kogons Buch „Der SS-Staat“ als Paradigma, das jenseits von Einleitung und bereits angesprochenem Schlußkapitel zum größten Teil in einem faktenorientierten Berichtstil noch die grausamsten Sachverhalte nüchtern darstellt und sich dabei auf die Evidenz der moralischen Einordnung durch den Leser oder die Leserin zu verlassen können glaubt. Adorno hätte gegen dieses Vorgehen sicherlich jenen Einwand vorgebracht, den er später im sogenannten „Positivismusstreit“ der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts Karl Popper als vermeintlichem „Positivisten“ entgegenhielt: „Daß einer rein der Sache sich überlasse, heißt dann soviel, wie daß er nichts eigenes an diese heranbringe, sondern sich einer registrierenden Apparatur gleichmache“ (Adorno 1969, 131). Auch Kogon war sich der darin liegenden Gefahr bewußt, wenn er schrieb: „Manchmal kam es mir in den Sinn, ob ich nicht der sei, der das System, von dem Kunde gebracht wird, nun eigentlich erst rationalisiere“ (Kogon 1982, 7) – aber zum Glück hat er dem momentanen Impuls, das Manuskript zu verbrennen, schließlich nicht nachgegeben. Mag es auch hier und da seitdem welche gegeben haben, die jene Evidenz der moralischen Verurteilungswürdigkeit des rein sachlich Berichteten beim Lesen aus einer Verkümmerung ihres sittlichen Empfindens nicht verspürten, so dürfte Kogons Vertrauen in die spontane moralische Urteilskraft der meisten Menschen ihm am Ende doch Recht gegeben haben. In der neueren Literatur zur Wahrnehmung des sogenannten „Holocaust“ – des nationalsozialistischen Versuchs der Ausrottung des europäischen Judentums in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau und den anderen Vernichtungslagern – wird häufig zurecht bemerkt, daß dieses Menschheitsverbrechen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und bis in die sechziger Jahre wenig thematisiert worden und hinter der Darstellung der deutschen Kriegsleiden zurückgetreten sei. Der damit verbundene moralische Vorwurf hat weitgehend seine Berechtigung. Wo er sich allerdings – mindestens unterschwellig – auch
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auf Eugen Kogons Darstellung des „SS-Staates“ richtet (Olick 2005, 102) muß man genauer den Entstehungskontext seines Buchs berücksichtigen, das er als ehemaliger Buchenwald-Häftling unmittelbar nach der Befreiung im Auftrag der US-amerikanischen Besatzungsmacht als einen erfahrungsbasierten „Sachbericht“ niederschrieb. Mary Fulbrook schreibt zum Beispiel, „... even those Germans who had themselves experienced life inside a concentration camp as political prisoners were less than fully aware of the true extent and character of the extermination camps and the Holocaust proper. Thus Eugen Kogon’s pathbreaking early anatomy of the ‚SS-State‘ was deeply rooted in his own experiences as a German political prisoner in a concentration camp designed primarily for detection rather than extermination“ (Fulbrook 1999, 116). Kogon hat seinem überwiegend auf eigener Anschauung beruhenden Bericht über Buchenwald aber eigens ein besonderes Kapitel über die in Buchenwald nicht existierenden Gaskammern beigegeben, indem er unter Berufung auf den Bericht des „jungen Juden aus Brünn, Janda Weiß“ detailliert über die Gaskammern und die Mordpraxis in Birkenau berichtet, was er zum damaligen Zeitpunkt nur wissen konnte: „Vergast wurden in Auschwitz vor allem Juden aus allen europäischen Ländern. ... Die Höchstleistung wurde mit 34.000 Menschen in einem ununterbrochenen Tag- und Nachtbetrieb erreicht. ... Allein während der Zeit des Lagerkommandenten Höß – von 1942 bis Herbst 1944 – wurden nach seinem eigenen Geständnis etwa 2,5 Millionen in Auschwitz vergast“ (Kogon 1982, 185187). Das bereits erwähnte, nachträglich ergänzte Kapitel von Kogon zum „Terror als Herrschaftssystem“ versteht sich nicht als Analyse des deutschen Nationalsozialismus im Ganzen, der freilich zusammen mit dem „bolschewistischtotalitären System“ den Anlaß für die systematisch gemeinten Betrachtungen bietet. Die eigentliche Bedeutung und Kogons Anliegen kommen in der These zum Ausdruck, daß der Terror „sich inmitten heutiger Demokratien entwickelt ... und sich als Demokratie selbst ausgibt“ (Kogon Bd. 1, 86). Daß, wie Kogon an anderer Stelle schreibt, „die moderne gesellschaftliche Entwicklung die gefährliche Tendenz zur Herausbildung einer solchen Art von Termitenstaat in sich trägt“ sei „schwerlich zu übersehen“, denn „wie nach dem Greshamschen Gesetz schlechtes Geld gutes verdrängt, scheinen sich totalitäre Tendenzen überall auszubreiten“ (Kogon, Bd. 1, 102). Terror, von Kogon auch als „Gewaltmethode“ bezeichnet (Kogon Bd. 1, 86) und Totalitarismus gehen zusammen, beide entstammen der Moderne und sind eine ihr inhärente Gefahr. Kogon arbeitet nicht mit Definitionen seiner zentralen Begriffe, aber ihre Bedeutung erschließt sich aus den jeweiligen Zusammenhängen und Appositionen. Die Demokratie als solche bietet dabei nach Kogon allein noch keine Gewähr gegen die Gefahren totalitären Terrors, wenn sie bloß in institutionellen oder verfahrensmäßigen Vorkehrungen besteht: „Nie ist die Demokratie ein Zustand, immer eine Forderung ... niemals sind es Institutionen allein, die uns (vor Terror und Totalitarismus, M.G.) zu schützen vermögen, immer ist es in
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besonderen Gefahrenlagen der Geist“ oder auch „der Freiheitswillen seiner Bürger“ der zählt (Kogon Bd. 1, 103). Dieser „Freiheitswillen“ ist praktisch politisch nach Kogon die entscheidende Voraussetzung zur Aktualisierung „jener Rechte, die wir aus dem Wesen und den Aufgaben des Menschen selbst herleiten“ (Kogon Bd. 1, 88), die aber bloße Glaubenssätze und formale Regeln blieben, wenn ihnen keine entsprechenden Handlungen folgen. Kogon wendet sich an anderer Stelle konsequent „gegen einen absoluten Rechtspositivismus“ (Kogon Bd. 1, 209) – ohne dabei Hans Kelsen zu nennen, den er immerhin neben Othmar Spann auch als seinen akademischen Lehrer erwähnt (Kogon Bd. 6, 36), dem er aber mit seinen Prämissen und Überzeugungen rechts- und demokratietheoretisch niemals hätte folgen können. Der Rechtspositivismus habe nach Kogon zwar „in einem bestimmten Abschnitt der abendländischen Geschichte eine segensreiche Rolle gespielt“; aber „er wird zur ernsten Gefahr, wenn er seine eigene ursprüngliche Grundlage: die Sicherung der Freiheit des Menschen, preiszugeben droht, indem er die Menschlichkeit als verbindliche Norm ausschließen wollte“ (Kogon Bd. 1, 209f). Für Kogon bezeichnet vor aller Positivierung „Menschlichkeit ... das innerste Wesen des Rechts. Sie braucht nicht eigentlich kodifiziert zu sein. Sie, und nur sie allein, nicht irgendein ‚gesundes Volksempfinden‘ oder dergleichen, versteht sich von selbst. Sie wurde nicht erst als Rechtssatz erfunden, sie war immer Recht, auf ihr beruht alles Recht“ (Kogon Bd. 1, 209). Kogon lastet hier der „Menschlichkeit“ nach dem Urteil Kelsens jene unmittelbare Evidenz „eines materialen Geltungsprinzips an“, „deren Normen, weil sie unmittelbar aus der Natur, aus Gott oder der Vernunft hervorgehen, ebenso einleuchtend sind wie etwa die Regeln der Logik“ (Kelsen 1964, 78) – allerdings nur für den, der glaubt. Denn wo es gelte, im Sinne Kogons die „Menschlichkeit“, also die Geltung der „generellen (abstrakten) Normen“ des Naturrechts „zu verwirklichen, wo seine Normen ganz ebenso wie die des positiven Rechts an die von ihm geregelten realen Tatbestände des sozialen Lebens unmittelbar herangebracht, weil auf diese Tatbestände angewendet werden müssen, ... erhebt sich die Frage, ob das Naturrecht seine Existenz jenseits von aller ‚Positivität‘ behaupten kann, ob es ... als ein vom positiven Rechte verschiedenes und unabhängiges Normensystem, ob das Naturrecht daher überhaupt als solches möglich ist“ (Kelsen 1964, 87). Weil aber Kogon daran glaubt, daß das aus der „Menschlichkeit“ resultierende Recht letztlich auf die göttliche Stiftung zurückgeht, ist der Terror „als Gewaltmethode, die das Recht bricht, in sich schlecht“ (Kogon Bd. 1, 86), weil gegen Gottes Willen und Absicht gerichtet. Deshalb kann also niemals der jeweilige Zweck dieses in sich schlechte Mittel heiligen. Aber auch für das Recht gilt dasselbe wie für die Demokratie: als formales System bietet es keinen Schutz gegen die auch der Demokratie innewohnenden Gefahren. Den gibt es nicht „ohne die unablässige Aktivität des edelsten Humanismus derer, die human sind, des menschlichsten Sozialismus derer, die freiheitliche Sozialisten sind, und der
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echtesten Religiosität aller, die aus der Religion eine Verpflichtung auch für diese Welt ableiten“ (Kogon Bd. 1, 103). Kogon wendet sich nicht nur angesichts der totalitären Gefahr gegen die dem „Individualismus“ wie „Kollektivismus“ gleichermaßen angebliche eignende Auffassung, die in der „Demokratie nichts als ein(en) wohlfunktionierenden Massen-Mechanismus“ (Kogon Bd. 7, 237 ) sehen will, was man vielleicht heute angemessen in die in der normativen Demokratietheorie vertretene Begrifflichkeit einer bloß „methodischen“ oder „prozeduralistischen“ Demokratieauffassung übersetzen könnte. Seine Kritik einer bloß „formalen Demokratie“ ist aber bei Kogon ein bis in die späten Jahre durchlaufender Gedanke, der normativ nicht ganz unproblematisch ist und sich dem Verdacht aussetzt, daß in ihm die ständestaatlichen und berufs-korporatistischen Gedanken seines Lehrers Othmar Spann nachwirken. Bei aller Betonung des religiösen und sittlichen Werts der Einzelperson und seines jeweiligen Verhaltens für die Qualität der Reproduktion der Gesellschaft, geht Kogon in seiner Demokratie- und Gesellschaftsauffassung nicht vom individualistischen Kontraktualismus aus, sondern von Vorstellungen, die dem antithetisch dem Individualismus entgegengesetzten katholischen „Universalismus“ seines zeitweiligen Lehrers sehr ähneln. Danach sind Individualismus wie Kollektivismus gleichermaßen Ausdruck eines durch Vereinseitigung der Rationalisierung geprägten mechanistischen Zeitalters. Spanns wie Kogons Kritik richten sich gegen den „Liberalismus“ mit seinem Grundgedanken der im Kontraktualismus logischen und politisch weiterhin normativen Priorität der Einzelnen gegenüber Staat und Gemeinschaften und der damit verbundenen Mehrheitsherrschaft: „Die Mehrheit in den Sattel setzen heißt das Niedere herrschend machen über das Höhere. Demokratie heißt also: Mechanisierung der Organisation unseres Lebens“ (Spann 1923, 110). Wie Spann zieht also auch Kogon gelegentlich noch nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ,Individualismus‘ und ,Mechanisierung‘ sprachlich negativ zusammen und kontrastiert damit „eine andere Vorstellung von Demokratie“; nach Kogon ist sie nämlich „ein kunstvoller Organismus, nicht ein Schema, ist Ausdruck ausgewogener Zuständigkeits- und Machtverhältnisse, nicht ein Wohlfahrts- oder Termitenstaat. Ihr Ziel ist die gegliederte Ordnung der aufeinander abgestimmten natürlichen Kräfte des Volkes“ (Kogon Bd. 7, 237). In diesem ,kunstvollen Organismus‘ hat „der Einzelne mit seinen Grundrechten und Grundpflichten“, haben „die Familie, das Werk, die Schule, die Pfarrei, die Gemeinde, der Berufsverband, der Bezirk, der Kreis, die Landschaft, der besondere Kulturbereich, die Kirche, die Partei, das Vaterland, die Gemeinschaft der Völker Europas, die Organisation der Vereinten Nationen – sie alle (und alle, die in den zahlreichen vernünftigen Gliederungen des lebendigen menschlichen Auf und Ab noch dazugehören) ... ursprüngliche, wesenseigene Aufgaben, die nach den überlieferten Grundsätzen, nach den Erfahrungen der eigenen Generation und in planvoller Zweckmäßigkeit aufeinander abzustimmen sind“ (Kogon Bd. 7, 239). Man geht nicht fehl mit der Annahme, daß sich
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hinter „den überlieferten Grundsätzen“, nach denen Individuum wie Familie und alle anderen Einrichtungen „ursprüngliche, wesenseigene Aufgaben“ in dem „kunstvollen Organismus“ der Demokratie besitzen, diejenigen der katholischen Soziallehre verbergen, wie sie zum Beispiel in der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo Anno autoritativ zum Ausdruck gebracht wurden. Dementsprechend plädiert Kogon sowohl für die nationalstaatliche wie für die europaweite Demokratie im Sinne eines „Föderalismus“ als „Machtgliederung in Anerkennung der aus natürlichen und sachlichen Zuständigkeiten erwachsenden Rechte und Pflichten“, in dem das Prinzip der Subsidiarität im Sinne des katholischen Ordo zu Geltung kommt, die jedem „natürlichen“ Teil des Ganzen unhistorisch, also ein für alle Mal eine spezifische Rolle und Gestalt zuweist. Man braucht kaum zu betonen, daß ein solches Gesellschaftsmodell nicht nur normativ im scharfen Gegensatz zum Liberalismus steht, sondern auch mit modernen wissenschaftlichen Theorien über die historisch kontingente Gestalt und Funktion gesellschaftlicher Einrichtungen unvereinbar ist. Neben seinem publizistischen Engagement in der Europabewegung wird aber ein anderes Problem zu Kogons Leib- und Magenthema für die ersten Nachkriegsjahre: das Scheitern der re-education der deutschen Bevölkerung, die aufgrund der dabei von den Alliierten angewandten „unpädagogisch(en)“ und „undemokratisch(en)“ „‚Schock-Therapie‘ vom Frühjahr 1945, die zwar gut geplant, aber teilweise mit einem falschen Vorzeichen versehen war, (und) weniger zur Einsicht als zur Verhärtung geführt hat“ (Kogon Bd. 3, 42). Bereits 1946 nennt er das „Ergebnis“ der „Umerziehung“ „ein Fiasko“ (Kogon Bd. 1, 223), es habe, so sein Urteil 1947 „weniger Denazifizierung als Renazifizierung“ bewirkt (Kogon Bd. 1, 237). Er hält auch in späteren Beiträgen stets an diesem Urteil fest, ja verschärft es insofern, als er 1949 konstatiert, der von den Alliierten unternommene Versuch, „das deutsche Volk zur Besinnung über seine damals soeben grausig beendete Himmel-Höllen-Fahrt und seine führenden Schichten zu einem Bekenntnis der gräßlichen Verstrickung in Schuld und Sühne zu bringen“, sei „von vorne herein zum Scheitern verurteilt“ gewesen (Kogon Bd. 3, 64f). Dabei gilt Kogons Kritik an den verfehlten Methoden der alliierten Umerziehungspolitik keineswegs deren Absichten und Zielen und erst recht nicht einer falschen Entschuldigung der deutschen Bevölkerung. In dem großen zweiteiligen Aufsatz „Gericht und Gewissen“ von 1946, den man am besten parallel zu Karl Jaspers „Schuldfrage“ betrachtet, geht es Kogon auf dem Hintergrund seiner religiösen Einstellung um die grundsätzliche Frage, ob und wie Politik überhaupt angesichts der entsetzlichen Verbrechen des Nationalsozialismus zu dem „notwendige(n) Läuterungsprozeß“ (Kogon Bd. 1, 227) beitragen könne. Bedenkt man Kogons Formulierungen und eigene Hervorhebungen, so ist deren religiös-theologische Färbung hier wie überall unübersehbar, und es wäre unangemessen, sie aus heutiger Sicht als politikwissenschaftlich irrelevant auszublenden, weil damit jeder Weg nicht nur zum Verständnis der Intentionen
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von Text und Autor versperrt, sondern auch eine Deutung der damals zeittypischen Interpretation der realen Verhältnisse behindert würde. Kogon vermischt seine Analysen der Ursachen des Scheiterns der alliierten Umerziehungspolitik untrennbar mit seiner eigenen spontan religiös gefärbten Welt- und Gesellschaftsbeobachtung: „Nach allem, was ich seit Kriegsende bis jetzt in Deutschland gesehen, vernommen, selber gehört und beobachtet habe, weiß der durchschnittliche Deutsche noch immer nichts davon, daß Gott uns in Menschengestalt zu erscheinen pflegt, in der Gestalt des ‚geringsten der Brüder und Schwestern‘, um uns auf die erlösende Probe der einfachen Menschlichkeit zu stellen ... Von einem Hitler verführt, hat das deutsche Volk die mannigfache mahnende Erscheinung des Herrn nicht erkannt. Von den Stimmen der Staatsanwälte betäubt, erkennt es ihn auch heute als Richter nicht. Aber hat Er denn nicht schweigend geprüft, gewogen und durch die Geschichte selbst ein Urteil gesprochen? Ich meine, das deutsche Volk sollte mit jener Objektivität, die es einst ausgezeichnet hat, lesen, was in den Prozeßakten der Wahrheit als ermittelt und bezeugt geschrieben steht und dann sich selber fragen: Wo sind wir hingeraten? Wie war das möglich? Was können wir tun, um vor uns selbst und der Welt zu bestehen?“ (Kogon Bd. 1, 220f). Voraussetzung für die geforderte sittliche „Läuterung“ ist also die objektive Anerkennung der Wahrheit der Verbrechen oder besser des verbrecherischen Charakters des vergangenen Regimes. Bezeichnend sind die Differenzen zu dem bereits dargestellten protestantischen Umgang Jaspers’ mit der „metaphysischen Schuld“, der bei ihm als individuelle Gewissensprüfung angelegt war. Für Kogon ist der Adressat das „deutsche Volk“, hier hat „Er“ mit der totalen Niederlage des NS-Regimes „durch die Geschichte selbst ein Urteil gesprochen“, jetzt geht es nach Kogon darum, „seinen tiefen Sinn für Deutschland und die erzieherische Absicht der Geschichte zu begreifen“ (Kogon Bd. 1, 221). Es ist offenkundig, daß die notwendigerweise bürokratisch und schematisch ablaufende Entnazifizierung der Alliierten diesen Ansprüchen nicht genügen konnte, mehr noch, im Sinne der hochgesteckten Ziele nach dem Urteil Kogons kontraproduktiv schnell zu „einer dumpfen Atmosphäre des Grolls aufgrund verdrängter Gefühle“ (Kogon Bd. 1, 224) führen mußte. Kogon hätte wahrscheinlich auch einer anderen Beobachtung von John H. Herz über „the strange modification of meaning that the term ‚denazification‘ itself has undergone“ zugestimmt: „While at first signifying the elimination of Nazis from public life, it has now in Germany everyday language come to mean the removal of Nazi stigma from the individual concerned, that is, the procedure by which he gets rid of certain inhibitions or restrictions“ (Herz 1948, 590). Wenn nämlich jemand die Prozedur hinter sich gebracht und damit „entnazifiziert“ war – und sei es eingestuft in die Kategorie „Mitläufer“ – dann hieß das nach der damaligen Logik soviel wie ,erneut verwendungsfähig‘. Das hieß für Herz und Kogon: „German public life, on the other hand, is in the process of being ‚renazified‘, with the ‚denazified‘ former Nazi now
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able and very willing to enter, or re-enter, public service, economic positions, cultural activities, and so on“ (Herz 1948, 590). Der originäre Fehler freilich, den die Alliierten nach dem Urteil Kogons begingen und aus dem all die späteren resultierten, ließ sie nach 1945 schnell „Opfer der doppelten Propaganda, der nationalsozialistischen und der eigenen“ werden: „Die psychologische Kriegführung der Alliierten hatte sich, da es ihr nicht gelungen war, einen Aufstand Deutschlands gegen Hitler zu entfesseln, die nazistische These, daß ‚Führer und Volk‘ unerschütterlich eins seien, zu eigen gemacht; jetzt, zu Kriegsende ... behandelte (sie) das deutsche Volk als verderbte Einheit. Seht ihr, sagten die Deutschen daher alsbald, Hitler hat mit seiner Propaganda recht gehabt: sie machen keinen Unterschied zwischen Deutschen und Nazi!“ (Kogon Bd. 1, 238). „Man hat es infolgedessen als KollektivEinheit beschuldigt“, wirft er vor allem der Anfangsphase der US-amerikanischen Besatzungspolitik vor (Kogon Bd. 1, 242) – und ging erst viel zu spät mit dem „Befreiungsgesetz“ in der US-Zone und der Executive Instruction Nr. 54 in der britischen Zone zu der auch von ihm befürworteten individualisierten Praxis von Spruchkammern und Prüfungsausschüssen über. Um Kogons harsches Urteil zu verstehen, muß man vielleicht nur an die Tatsache eines zu Beginn der Besatzungszeit geltenden absoluten Kontakt- und Sprechverbots mit Deutschen für die US-amerikanischen Soldaten jenseits dienstlich notwendiger Beziehungen erinnern, an das anfangs unterschiedslos geltende „Beschäftigungsverbot“ für alle Mitglieder einer als NS-Organisation eingestuften Organisation oder schließlich an die von Kogon beklagte „Erobererpolitik“ (Kogon Bd. 1, 238), die mit ihren formlosen Requierungen von Privathäusern, Fahrzeugen und anderem Eigentum wenig geeignet war, in der deutschen Bevölkerung schnell wieder das Vertrauen auf rechtstaatliches Bewußtsein zu wekken und zu fördern. Als die individualisierte Überprüfungspraxis schließlich, nach seinem Urteil viel zu spät und „viel zu breit angelegt“ (Kogon Bd. 1, 244) zögerlich einsetzte, hatte der „Entlassungswirrwarr“ (Kogon Bd. 1, 244) bereits eine „soziale Revolution“ in Gang gesetzt, die die „gebotenen politischen Möglichkeiten“ unterlief: „unter dem Deckmantel der Säuberung vollzog sich ein erbitterter Kampf um Arbeit und Einfluß, eine Schichtablösung in allen Etagen der Verwaltung und Wirtschaft. Zwar hatte, als Folge der alliierten Besatzungspolitik, die Gerechtigkeit bei uns nicht das Gewand einer Sansculotte angezogen, aber sie wurde vielfach als Quartiermacherin derer benutzt, die nun ihrerseits, zu recht oder zu unrecht, geeignet oder weniger geeignet, die Versorgungs- und Kommandostellen einnehmen wollten“ (Kogon Bd. 1, 245). Man wird im Lichte späterer sorgfältiger Untersuchungen Kogons zeitgenössisches Urteil über die Reichweite der „sozialen Revolution“ revidieren müssen, kam es doch in den Westzonen jedenfalls im Zuge der Besatzungspolitik keineswegs zu einem systematischen Austausch der Eliten in Wirtschaft und Verwaltung (Frei 1999, bes. 54ff); aber ihm ging es ja auch eher um den geistigen und sittlichen Gehalt des angemahnten
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„Läuterungsprozesses“, dessen grundlegende Verfehlung er mit seiner Darstellung des für ,strategischen Mißbrauch‘ sicherlich anfälligen Massenverfahrens besser traf: „Spruchkammern in der amerikanischen Zone, Prüfungsausschüsse in der britischen wurden zu Lichtungen, auf denen aus dem Hinterhalt parteipolitische Gegner ‚abgeschossen‘ wurden“ (Kogon Bd. 1, 246). Mit seinem 1947 veröffentlichten „Recht auf den politischen Irrtum“ ging er sogar noch einen Schritt weiter, indem er sich prinzipiell gegen ein Verfahren wandte, in dem es um anderes als um strafrechtlich zu ahndende „Verbrechen“ ging. Dabei teilte er seine Kritik, wie so oft, nach zwei Seiten aus, in diesem Fall gegen jene damals wohl populäre Auffassung, nach der man den sogenannten „kleinen Mann“, als bloßen „Mitläufer“ eingestuft, umstandslos in Ruhe lassen und sich nur auf die politisch Verantwortlichen konzentrieren sollte. „Mitnichten, antworten wir; keiner von beiden gehört dorthin, wenn es sich nicht um Verbrechen, sondern um politischen Irrtum gehandelt hat! ... Wir wollen es ohne Umschweife aussprechen: Es ist nicht Schuld, sich politisch geirrt zu haben“ (Kogon Bd. 1, 247). So konnte also nach Kogons Auffassung einer auch aus politischem Irrtum Nazi gewesen sein, Mitverantwortung für das verbrecherische Regime im Ganzen an seinem Platz übernommen haben, ohne doch im strafrechtlichen Sinne schuldig geworden zu sein. Es ist interessant, Kogons Position mit der ungleich rigoroseren des Neukantianers Ebbinghaus zu vergleichen, der aus dem allgemeinen Sittengesetz den Begriff der „schuldhaften Unwissenheit“ ableitet: „Der Mensch ist zwar nicht verpflichtet, sich nicht zu irren, wohl aber ist er verpflichtet, die Unterlagen seiner Urteile gewissenhaft zu prüfen. Daß gegen diese Pflicht in Deutschland grenzenlos gesündigt worden ist, ist leider nur zu wahr, und ebenso wahr ist es, daß jeder, der aufgrund solcher schuldhaften Unwissenheit gehandelt hat, für das Böse, das aus diesen seinen Handlungen entstanden oder dadurch ermöglicht worden ist, mitverantwortlich ist“ (Ebbinghaus 1946, 85). Auch diese vielleicht im ersten Augenblick überraschende Position Kogons, die er selbst unter anderem mit der populären Weisheit „Irren ist menschlich“ (Kogon Bd. 1, 248) rechtfertigt, sollte man auf dem Hintergrund seines katholischen Weltbildes interpretieren, nach dem es in Fragen des Diesseits keine endgültige Gewißheit geben könne. Politikwissenschaftlich interessant ist aber, wie er selbst diese spezielle Frage mit der grundsätzlichen Natur der Politik und der Demokratie in Verbindung bringt. Hier kommt, selten genug, auch bei ihm die Kontingenz des Politischen gewissermaßen als Kehrseite der religiösen Heilsgewißheit ins Spiel. „Unser Weg zur Wahrheit – schon die Erwähnung des Wortes ist in der Politik irrealistisch und verdächtig, da sie ein Ergebnis notwendigerweise einander widerstrebender Gedanken und Kräfte ist! – führt in dieser Welt der Verworrenheit, des Halbdunkels, der Leidenschaften und so vieler verschiedenartiger Beweggründe nur über Erfahrungen, und das will heißen: über die Erkenntnis von Folgen, die wir ganz und gar nicht mit mathematischer Sicherheit vorausbe-
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rechnen können, die sonach aus bloß bruchstückhaften Einsichten und aus mangelhaften Willensakten entstehen, aus einem Gemisch von Wahrheit und Irrtum. Die Voraussetzung echter Demokratie ist das, denn in ihr glaubt man, daß niemals ein Einzelner oder eine Gruppe, Schicht oder Klasse, die ganze Wahrheit gepachtet hat; nur in Teilen und Splittern ist sie vorhanden, so daß sie durch Argumente und friedlichen Wettbewerb allmählich zu einer verhältnismäßig vollkommenen Wirklichkeit gebracht werden muß“ (Kogon Bd. 1, 248). So kommt Kogon – mit ganz anderer Begründung als sein Lehrer Kelsen – ebenfalls zu der Auffassung, daß die Demokratie nicht wahrheitsbasiert, sondern stets relativistisch in ihren Grundlagen bleiben müsse, daß politische Positionen in ihr zwar Erfahrungen bedenken und auswerten sollten, daß aber anders als bei wissenschaftlichen Urteilen oder technischen Berechnungen politisches Handeln letztlich unter Ungewißheitsbedingungen sich vollziehe. In der Politik geht es unter demokratischen Bedingungen nicht um falsch oder richtig, wahr oder unwahr, sondern um den Ausgleich stets partikularer Perspektiven und unterschiedlicher Interessen; die „Spielregeln“ sind dafür nur Mittel zum Zweck und bezeichnen nach Kogon keinen Wert an sich. Es wird in diesem Zusammenhang auch deutlich, warum Kogon – lange vor einer ähnlichen Semantik der Neuen Linken in den sechziger Jahren – die neuen politischen Verhältnisse häufiger als bloße „Formaldemokratie“ (z.B. Kogon Bd. 1, 244) bezeichnet; aber anders als diese wollte er sie gerade nicht durch zukünftige Verhältnisse ersetzen, die mit einem wie auch immer begründeten absoluten Anspruch auftreten. Ohne Überinterpretation kann man aus dem obigen Zitat sowie aus ähnlichen Passagen herauslesen, daß für Kogon anders als in der Religion die Politik grundsätzlich pluralistischen Charakter besitzt, daß die Demokratie normativ die angemesse Form ist, damit umzugehen und daß absolute Ansprüche, wo sie erhoben werden, den Weg zur totalitären Herrschaft bereiten. Diesen grundsätzlichen politischen Gedankengang wendet Kongon nun in seinem Aufsatz über das Recht auf politischen Irrtum auch gegen die von ihm als Anmaßung empfundene Praxis der Alliierten, die gesamte Bevölkerung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung des Nationalsozialismus für „schuldig“ zu erklären und entsprechend zu behandeln. „Behauptung wie Praxis, schuldig sei, wer geirrt hat, ist undemokratisch, totalitär und überdies pharisäisch; man erschüttert auf solche Weise von vorne herein jede Politik der Umerziehung in den Grundlagen“ (Kogon Bd. 1, 248). Die Kritik der alliierten re-education als „totalitär“ war nun 1947 gegenüber der im Umgang mit Kritik keineswegs zimperlichen Besatzungsmacht einerseits mutig und konnte nur von einem unabhängigen Intellektuellen mit der Geschichte und dem Ruf Eugen Kogons gewagt und vorgetragen werden. Sie war und blieb aber vor allem anfällig für Beifall von der falschen Seite jener Unverbesserlichen, die zunehmend lauter und dann anfangs der fünfziger Jahre auch im öffentlichen Raum das Vorgehen der Alliierten als bloße „Siegerjustiz“ zu denunzieren trachteten und tatsächlich unter der Regie-
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rung Adenauer manches rückgängig zu machen wußten. Allerdings war jemand wie Kogon mit seiner fortgesetzten Kritik an der einsetzenden „Restauration“, gerade auch der Politik Adenauers, und seinem Engagement für die Demokratie von dieser Seite her glaubwürdig nicht zu vereinnahmen. Allerdings kann bei einem so religiösen Autor wie Kogon diese relativistische und damit vielleicht auch realistische Sicht der Politik in der Demokratie natürlich nicht als eine grundsätzliche Absage an deren sittliche Fundierungsbedürftigkeit verstanden werden. Sie bedeutet nur, daß es nicht die Politik selbst sein könne, die aus sich selbst heraus sittliche Maßstäbe oder gar fundamentale Prinzipien zu entwickeln in der Lage sei. Auch diese Problematik wird von ihm im Zusammenhang mit den Ansprüchen der Besatzungspolitik 1946 diskutiert und zeigt im Übrigen, wie er sich bei aller Kritik der Alliierten innerhalb der deutschen Öffentlichkeit gegen jene wendet, die etwa die Nürnberger Prozesse als bloße „Siegerjustiz“ denunzieren. „Die so denken – und gegenwärtig noch gehindert sind, es in größerem Kreise auszusprechen –, gehören nicht alle zur Masse derer, die Hitler bloß deshalb verurteilen, weil er nicht gesiegt hat. Erfahrene, weit in der Welt gereiste Männer halten bußfertige Gesinnung einer modernen Nation für ein gefährliches atavistisches Überbleibsel“ aus der Antike (Kogon Bd. 1, 222). Nach ihrer Ansicht, sei sie „im heutigen Kampf der realen Interessen, der zäh, Stellung um Stellung geführt wird ... entschieden hinderlich. Sittlichkeit ist denen, die so denken, nicht Voraussetzung einer idealeren Politik, sondern Mittel wie dieses und jenes“ (Kogon Bd. 1, 222). Man beachte, daß Kogon hier nur den relativen Komparativ verwendet – und „idealer“ bezeichnet bekanntlich weniger als „ideal“; gleichwohl aber scheint er auf den ersten Blick den Gegensatz von sittlich fundierter Politik einerseits und jener spätestens seit Bismarcks Zeiten so benannten „Realpolitik“ anzusprechen, der es allein um die erfolgversprechenden Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen geht und deren Motto „Der Zweck heiligt die Mittel!“ lautet. Aber Kogon nennt das einen „falschen Gegensatz“, denn „Realpolitik, die mehr ist als die Abwandlung von Fehlern unserer Vorfahren und mehr als ein noch so kluger Opportunismus, gewinnt durch sittliche Läuterung erst ihre sichere Grundlage ... Die beste Realpolitik kann auf die Dauer nur die sein, die alle Werte in Rechnung stellt, die höchsten zuerst, und ihnen gemäß handelt“ (Kogon Bd. 1, 222). Scheint hier der „falsche Gegensatz“ zugunsten einer sittlichen Fundierung durch „höchste“ Werte einseitig aufgehoben und dem, was Max Weber als „Gesinnungsethik“ bezeichnete, das Wort geredet zu werden, so wird durch das Beispiel, mit dem Kogon sein Denken erklärt, die Sache wieder verwirrt. „Der deutsche Wehrkreisbefehlshaber in Frankreich oder im Osten, der zur Sühne eines zivilen Angriffs auf einige Wehrmachtsangehörige ein ganzes Dorf ausrotten oder anderswo Alleen von Galgen errichten ließ, gab sich dem Wahn hin, realpolitisch zu handeln. In Wahrheit erwürgte er, indem er die Gesetze der Menschlichkeit strangulierte, das wohlverstandene deutsche Interesse: ex ossibus ultor – aus den Leichen der Geiseln entstanden die Rächer zu Tausenden“
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(Kogon Bd. 1, 222). Das Handeln nach den Geboten der Menschlichkeit folgt im Beispiel zugleich dem wohlverstandenen Interesse, sittlich fundierte Politik erweist sich nach Kogons Sicht auf lange Sicht auch im Hinblick auf die eigenen Interessen als die eigentliche „Realpolitik“. In diesem offenkundig auch durch seine Erfahrungen im Konzentrationslager nicht erschütterbaren Vertrauen auf die Wirklichkeitsmacht sittlich fundierter Politik erkennt man den tiefsten Grund von Eugen Kogons politischem Denken, das damit eine kritische, ja utopische Distanz zur wirklichen Wirklichkeit auch da behält, wo er sich mit ihr, wie so oft auch später noch in seiner Publizistik, ins polemische Handgemenge verstrickt.
III. Das Gemeinwesen neu begründen: Varianten des Föderalismus – auf jeden Fall antiborussisch
Vorbemerkung zur Föderalismusdiskussion in der Nachkriegszeit Mensch Wie bereits einleitend in diesem Buch bemerkt: auf kaum eine jüngere geschichtliche Situation paßt die Kennzeichnung „kontingent“ besser als zur Charakterisierung der subjektiv wahrnehmbaren und tatsächlichen politischen Lage Deutschlands nach der totalen Kapitulation und vollständigen Besetzung im Mai 1945. Nicht nur, was in Zukunft werden würde oder werden sollte, sondern bereits was der gegenwärtige Zustand in politischer, rechtlicher und kultureller Sicht bedeutete, lag aus der Sicht der Beteiligten keineswegs fest. Die Frage „What They Would Do about Germany“ (Lach 1945) oder „What to Do with Germany“ (Nizer 1944) galt ja sogar für die politischen und militärischen Führungsgremien der Besatzungsmächte, des Weiteren für die hier nicht behandelte politische Literatur in den Ländern außerhalb Deutschlands – aber es gilt in einem noch viel existenzielleren Sinne für jene Publikationen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland entstanden. Nichts und zugleich alles schien möglich: würde es überhaupt jemals wieder einen deutschen Staat geben? Wenn ja: in welchen Grenzen und mit welchem Maß an zugestandener Selbständigkeit oder Souveränität? Wie sollte er im Innern strukturiert, wie sollte in ihm regiert und verwaltet werden? Woher könnte sich historisch seine Legitimität ableiten, auf welche Traditionen könnte er aufbauen? Was für eine Gesellschaftsordnung sollte aus den Trümmern der Städte, der Institutionen entstehen, was ihr Leitbild in politischer und kultureller Hinsicht werden? Der Politik wächst – jedenfalls im Denken – in solcher Lage eine weit über die Routinen der Verwaltung und Steuerung eines bestehenden und sich nur allmählich verändernden politischen Systems hinausgehende Rolle zu. Ihr wird nun vieles, vielleicht zu vieles auf einmal, zugetraut. Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits an Beispielen verdeutlicht, geht es vor allem um die Änderung, also Besserung der Menschen durch Erziehung und durch die Form und Institutionen der Politik selbst. Das reicht von der Frage wie man ausreichend qualifizierte demokratische Bürger und Bürgerinnen, gar den neuen ,demokratischen Menschentyp‘ schafft (Hundt 1947) bis zur Programmatik der Kreation des „neuen sozialistischen Menschen“, der – freilich erst etwas später – in der sowjetischen Besatzungszone nach dem Vorbild der Sowjetunion auf die politische Agenda gesetzt wird.
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Nur politisch läßt sich eine neue Ordnung gründen. Das gilt auch, wenn es sich nicht um die „Gründung der Freiheit“ im emphatischen Sinne handelt, also um eine Revolution, die die Freiheit bereits voraussetzt (Arendt 1963), sondern wenn die neue Ordnung sich zunächst als Fremdherrschaft etabliert, aber mit der Verheißung operiert, daß an ihrem Ende die wiedergewonnene oder eine ganz neuartige Freiheit stehen soll. Aber eindeutig war diese Verheißung in den ersten Erklärungen der Alliierten nach der Übernahme der Herrschaft in Deutschland in dieser Hinsicht keineswegs; mehr ging es darum, den Deutschen die Totalität ihrer Niederlage unzweideutig zum Bewußtsein zu bringen, ihren Feindstatus aus der Sicht der Besatzungsmacht wie der eigenen Truppen aufrecht zu erhalten; deshalb etwa das Fraternisierungsverbot für die US-amerikanischen Soldaten. Zumindest in den ersten Wochen sorgten zudem vor allem – wenn auch nicht ausschließlich (Naimark 1995, 106) – Teile der sowjetischen Truppen schon allein durch ihr zügelloses Verhalten dafür, den Deutschen, darunter besonders den Frauen, zu zeigen, wer den Krieg gewonnen hatte und wer nun Herr im Hause sei (Grossmann 1995; Mühlhauser 2001). Auch hinsichtlich der politischen Neuordnung und territorialen Gliederung ihres jeweiligen Besatzungsgebietes hatten die Alliierten das Heft fest in der Hand; ihre Pläne und Aktionen unterschieden sich freilich in den Besatzungszonen sehr und waren darüberhinaus – besonders im Südwesten zwischen Amerikanern und Franzosen sowie in der Frage eines eventuellen Nordstaates zwischen Amerikanern und Briten unzureichend koordiniert. Die zukünftige Entwicklung war aus der damaligen Gegenwart heraus kaum abschätzbar. Die dann Schritt für Schritt tatsächlich eingetretene ,Entwicklung‘ „vollzog sich im Verlauf eines ‚vielgestaltigen Prozesses‘ “, wie Theodor Eschenburg etwas hilflos formuliert, denn „der Weg war nicht gradlinig vorgezeichnet. Einzelne seiner Stationen scheinen im Rückblick ‚zwangsläufig verknüpft mit der präjudizierenden Festigung administrativer Organe und Zuständigkeiten, rechtlicher Normen und gesellschaftlicher Strukturen‘. Materielle Aufbauzwänge konnten auch ordnungspolitische Entscheidungen ‚im Stile eiliger Improvisation‘ herbeiführen. Den wenigsten damals Handelnden stellte sich das zu jener Zeit schon so dar. Allgemein schienen Alternativen noch realisierbar“ (Eschenburg 1983, 77). Man kann sich die komplexe und kontingente Situation vielleicht am besten am Beispiel der britischen Besatzungszone klar machen, die unter historischen Gesichtspunkten sich aus vier kleinen Ländern (Oldenburg, Braunschweig, LippeDetmold und Schaumburg-Lippe) sowie nach der beschlossenen Zerschlagung Preussens aus vier ehemaligen preussischen Provinzen (Schleswig-Holstein, Hannover, Westfalen sowie Teile der Rheinprovinz) und zunächst zwei Stadtstaaten (Bremen und Hamburg) bestand; in all diesen traditionellen Territorien gab es politische Ansprüche auf Eigenständigkeit – insbesondere Hannover hatte seine Degradierung zur preussischen Provinz nach der Niederlage von 1866 nie verwunden, und in Schleswig-Holstein war der deutsch-dänische Konflikt weiterhin so virulent wie bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.
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Es ist schwer für eine nachgeborene Generation, sich heute vorzustellen, unter welchen Bedingungen die damaligen Autoren über die politische Zukunft Deutschlands in Deutschland nachdenken mußten. Abgeschnitten von den meisten Informationen, die uns heute selbstverständlich zu Gebote stehen; vielfach bereits von der Kommunikation über die Besatzungsgrenzen oder gar den unmittelbaren lokalen Lebenskreis hinaus. Die Freizügigkeit war ja zunächst sehr beschnitten; überregionale Medien über die Verlautbarungen der Besatzungsmächte hinaus zunächst nicht vorhanden. Gerücht und wertvolle Nachricht waren unter diesen Bedingungen, vor allem im ersten Besatzungsjahr, nicht immer leicht zu scheiden, das was man heute deliberierende Öffentlichkeit nennt, entstand erst sehr allmählich und dezentral, entwickelte sich also hier und dort – häufig unter dem Einfluß regionaler Traditionen – manchmal in ganz verschiedene Richtungen. Viele der äußerst abschätzigen Werturteile, die sich – als Stereotyp literarisch vermittelt – in der wissenschaftlichen Literatur späterer Jahre über die „Abendland-“ oder „Besinnungsliteratur“ dieser frühen Jahre finden, ja wie im bereits zitierten Falle Eugen Kogons sogar von Teilnehmern und Zeitgenossen nachträglich geteilt werden, verraten ungewollt eine mangelhafte hermeneutische Sensibilität für die subjektive und objektive Lage der damaligen Autoren. Vor allem gilt die spätere tatsächliche Entwicklung in zwei deutschen Staaten und mit dem prekären Status Berlins schon bald als so selbstverständlich, daß die objektive Kontingenz der Zukunft seit Mai 1945, als die ersten der hier diskutierten Texte gedacht und geschrieben werden, vollständig aus dem Blick gerät; im Nachhinein müssen dann natürlich Gedanken etwa über die Wiederbegründung deutscher Kleinstaaten, eine bloße Konföderation deutscher Staaten oder gar die Wiedererrichtung deutscher Monarchien als phantastisch erscheinen. Gerade der virulent werdende Ost-West-Konflikt hat die Diskussion über eine föderalistische Neuordnung politisch belastet, weil die Anhänger des Sozialismus im Westen (z.B. Schumacher 1946) wie erst recht im Osten Deutschlands darin eine Strategie zur Sozialismusverhinderung zu erkennen glaubten; letzterer setzte zumindest in der damaligen Sicht des später bekannten DDR-Historikers Alfred Meusel ein „zentralistisches Deutschland“ voraus, wie dieser in polemischer Auseinandersetzung mit Wilhelm Röpkes Konföderationsplänen (Röpke 1945) ausführte (Meusel 1947). Versucht man, einen Überblick über die zahlreichen politischen Broschüren und ersten Bücher dieser Zeit zu finden, so schälen sich schnell einige wenige Themen heraus, die in diesem denkerischen Kontingenzraum als Wünsche und Möglichkeiten für die politische Zukunft im Vordergrund standen. Zu kaum einem Thema sind in der unmittelbaren Nachkriegszeit mehr Broschüren und Bücher erschienen als zum „Föderalismus“ – mehr als zum Beispiel über „Demokratie“ oder „Gerechtigkeit“ oder gar „Freiheit“. Die frühe Debatte zum Föderalismus ist von Ernst Deuerlein in ihren staatsorganisatorischen Aspekten im Wesentlichen gut aufgearbeit worden (Deuerlein 1972), während er sich für die zugrundeliegenden gesellschaftstheoreti-
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schen und teils sogar theologischen Positionen nicht interessierte. Die teils, besonders im linken Spektrum, skeptischen Reaktionen der politischen Parteien auf Dezentralisierungs- wie Föderalisierungsbestrebungen lassen sich bei Kurt Wedl (Wedl 1969) nachlesen. Staatsorganisatorisch und völkerrechtlich ging es, wie bereits festgestellt, einerseits um die Frage, ob es überhaupt einen deutschen Gesamtstaat nach dem Willen der alliierten Siegermächte wieder geben sollte. Die damalige Fragestellung darf nicht aus nachträglicher Sicht mit der dann tatsächlich im Zuge des Kalten Krieges eingetretenen Spaltung in einen west- und ostdeutschen Teilstaat von vorne herein gleichgesetzt werden, denn in den Diskussionen der Alliierten untereinander oder intern ging es vor allem um die Frage, ob und inwiefern eine Aufspaltung Deutschlands in Teileinheiten das agressive Potential im Zentrum Europas, das man allgemein für zwei Weltkriege verantwortlich machte, dauerhaft zu Ruhe bringen könnte. Der in der Rezeption zur „Legende“ gewordene Morgenthau-Plan (Greiner 1995) sah zum Beispiel neben der dauerhaften Abtrennung der der Sowjetunion und Polen im Osten und Frankreich im Westen zugesprochenen Gebiete die Teilung Restdeutschlands in einen Nord- und einen Südstaat vor, die ihrerseits intern dezentralisiert und nur in einem Staatenbund locker zusammengeschlossen werden sollten (Morgenthau 1945). Auch wenn sich um ihn „Legenden“ rankten, muß man doch deren realpolitische Wirkung auf deutsche Autoren ernstnehmen, die ihn ja teilweise nur aus Gerüchten kennen konnten. Außerdem stellt Olick nach Durchsicht des heutigen Forschungsstandes über die damalige Kriegszieldiskussion in den USA fest: „Morgenthau’s proposals were not merely as extreme and outside of the discourse“ (Olick 2005, 33) als es von vielen nachträglich eingeschätzt wurde; die Befürchtungen über ein Ende jeglichen souveränen deutschen Nationalstaates waren also 1945 nicht ohne Anlaß – und es geht nicht an, allein schon das Plädoyer für eine eigenständige Zukunft Deutschlands pejorativ unter Revisionismus- oder Nationalismusverdacht zu stellen (Tauber 1967). Auch die sowjetische Seite forderte die Aufteilung Deutschlands in Einzelstaaten und eine zentrale Verantwortung zunächst nur insoweit, als es zur Erbringung der gesamtdeutschen Reperationsleistungen notwendig sein würde. Der Begriff, besser das Wort Föderalismus steht zunächst für ein breites, in sich differenziertes Spektrum von theoretischen Auffassungen und politischen Zielsetzungen, die sich in diesen Jahren nur in der entschiedenen Verneinung des nationalen oder dynastischen Staatszentralismus einig sind. Die Bismarcksche kleindeutsche ,Reichsgründung‘ unter der Dynastie der Hohenzollern 1871, die als Usurpation wahrgenommene Kaiserkrone in der Hand nord- oder gar ostdeutscher Protestanten, gilt vor allem in südwestdeutschen Landen und im Rheinland als Mißbrauch des wahren universalistisch-katholischen Reichsgedankens durch „nationalstaatlichen Etatismus“ (Ferber 1946, 12). Das was selbst ein so abwägend urteilender Preußenfreund wie der spätere Berliner Ordinarius für Politische Wissenschaft Otto Heinrich von der Gablentz als „borussischen Machiavellis-
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mus“ bezeichnete (Gablentz 1948, 46), der daraus erwachsende „Wilhelminismus“, der den neudeutschen Reichsnationalismus prägte, erst recht dann die zentralistisch erscheinende Führerdiktatur, wurde vielerorts über Süddeutschland hinaus als Resultat einer die bürgerlich-städtische oder ländlich-kommunale Selbstorganisation freier Bürger oder selbständiger Bauern unterdrückende Fremdherrschaft oder gar als „kulturelle Barbarei“ (Feger 1946, 35) eingeschätzt. Der darin zum Ausdruck kommende Antizentralismus konnte viele Motive besitzen und war keineswegs nur und immer katholisch geprägt: nostalgische Rückwendung zu und Loyalität gegenüber den von Bismarck unterworfenen ehemals souveränen Fürsten- und Königshäusern fand sich auch unter Protestanten wie bei Wilhelm Röpke (Röpke 1945, 235), der die „föderative Eigenart dieses Landes als eine Nation von Nationen“ (Röpke 1945, 182) geradezu nach dem schweizer Modell stets betonte. Der bekannte Münchener Hans Nawiasky schlug 1946 explizit einen bloß lockeren „Staatenbund“ nach dem Muster der Zeit vor 1866 vor (Nawiasky 1946), andere eine „Föderation deutscher Republiken“ (Doberer 1947, 8). Solche Vorschläge verbanden sich gelegentlich mit einem Autonomiestreben innerhalb eines „Volks von Völkern“ und „deutschen Stämmen“ (Mueller-Graaf 1948, 222) wie beispielsweise den Welfen, Bayern oder Alemannen, dem ein prämoderner essentialistischer Volks-, Nationen- oder sogar Staatsbegriff zugrunde lag, der diese als „natürliche Gebilde“ und das jeweilige „Volk als kulturelle biologische Einheit“ (Peters 1947, 7) auffaßte und damit ziemlich nahe an völkische Vorstellungen heranreichte. Manchmal verbanden sich solche Pläne oder Ideen aber auch mit ganz funktionalen und demokratieorientierten Perspektiven, zum Beispiel einer an sozialistische Vorstellungen heranreichenden ,Verstaatlichung‘ all’ jener Wirtschaftsunternehmen und Verbände, die „sich für den Staat zu gefährlichen Machtgebilden entwickelt haben“ (Dietrich 1947, 94). Schließlich gab es, was man einen ,Föderalismus aus Not‘ nennen könnte, der angesichts der Besatzungsherrschaft zu „Beginn des Jahres 1947“ zurecht beobachtete, daß ohne eigene deutsche Letztverantwortung sich gewissermaßen inkrementalistisch der Wiederaufbau Deutschlands „von unten nach oben“ (Peters 1947, 75) bereits vollziehe, so daß es wenig Sinne hätte, sich um staatsrechtliche Prinzipien zu streiten, da „der deutsche Raum keineswegs mehr so gestaltlos“ wäre; ... „daß wir noch die völlig freie Wahl hätten, wie wir den deutschen Gesamtstaat organisieren wollen“ sei Illusion; „ja sogar Neubildungen wie Nordbaden-Württemberg, Niedersachen oder Nordrhein-Westfalen existieren“ (Peters 1947, 57) bereits; obwohl „kein Mensch ... bis zum heutigen Tag ganz sicher (weiß, M.G.), was diese Gebilde juristisch sind“ (Peters 1947, 56) – aber „gearbeitet wird bereits in all diesen Ländern, als ob das letzte Wort schon gesprochen sei“ (Peters 1947, 57). Die Zitate von Peters zeigt beispielhaft, wie die zeitgenössischen Autoren das Spannungsverhältnis zwischen den durch neue Tatsachen geschafffenen Verhältnissen und der zumindest in staats- und völkerrechtlicher Hinsicht kontingenten Situation zu begreifen und verarbeiten suchten.
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Die Debatte während der unmittelbaren Nachkriegszeit stand einerseits in der Kontinuität vielfacher Forderungen der verschiedensten antinationalsozialistischen Widerstandsbewegungen seit etwa 1940 nach einer Föderalisierung der europäischen Nachkriegsordnung, in deren Rahmen ein in sich mal mehr mal weniger föderativ aufgeteiltes Deutschland eingegliedert werden sollte; bereits 1945 erschien hierzu die umfangreiche Dokumentation von Walter Lipgens (Lipgens 1945), die auf diese Debatten nicht ohne Einfluß blieb. Hier liegt einer der Ursprünge der Europa-Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg (Koebner/Sautermeister/Schneider 1987). Andererseits wurde die politische Willensbildung aber belastet durch die innerdeutsche, häufig mehr auf Gerüchten denn Informationen beruhende Rezeption alliierter Diskussionbeiträge wie des sogenannten Morgenthau-Plans (Morgenthau 1945) oder des vieldiskutierten Beitrages von Sumner Welles (Welles 1944), in denen eine erzwungene Zerstückelung oder Zerschlagung des deutschen Nationalstaates mit dem Argument gefordert wurde, so für alle Zukunft eine vom deutschen Zentralstaat ausgehende Kriegsgefahr zu bannen. Außerdem konnte jeder aufmerksame Beobachter – zu denen gewiß die neuen politischen Akteure auf der entstehenden Landesebene gehörten – bemerken, daß die praktische Politik und Verwaltung in den Besatzungszonen mehr oder weniger bewußt höchst unterschiedliche und teilweise im Widerspruch zum gemeinsamen Kontrollratsregime stehende Ziele verfolgte: „In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Wiedererrichtung einer zentralen Staatsgewalt angestrebt. Die britische Militärregierung übernahm die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten der Reichsverfassung vom 11. August 1919. Die französische Militärregierung betrieb eine sehr bestimmte Dezentralisierung, womit sie die Dezentralisierung von ganz Deutschland vorwegzunehmen glaubte. Nur in der amerikanischen Besatzungszone wurde in Übereinstimmung mit den Erörterungen der Nachkriegsplanung für Deutschland und den Emfehlungen des Kommuniqués der Konferenz von Potsdam ein Neuaufbau Deutschlands von unten nach oben durchgeführt“, schreibt Ernst Deuerlein (Deuerlein 1972, 225) auf dem Hintergrund einer zeitgenössischen Studie (Virally 1948). Gerade am französischen Beispiel kann man gut erkennen, daß es keineswegs nur um die normative Vertretung des selbst für richtig gehaltenen und praktizierten Demokratiemodells ging, sondern um macht- und außenpolitische Interessenwahrnehmung; eine Mischung von beiden Motiven darf man für die sowjetische Besatzungspolitik unterstellen. Solche strategisch-machtpolitischen oder gar nur polemischen Unterstellungen gab es auch innerhalb des sich ausbildenden neuen (west-) deutschen Parteiensystem, so wenn beispielsweise der einflußreiche Sozialdemokrat Carlo Schmid das fiktive Wahlergebnis gesamtdeuscher Wahlen durch Zusammenrechnung aller ,linken‘ Stimmen projizierte und höhnte: „dann ist die Majorität der Sozialisten erreicht und dann nützt uns der schönste Adenauersche Föderalismus nichts mehr“ (Schmid 1948, 28), dieser „partikularistische Föderalismus ... der Herrn Adenauer als Mittel zur Schaffung eines Naturschutz-
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parkes zur Erhaltung der Besitzprivilegien im Westen so teuer ist“ (Schmid 1948, 35). Die durch die tatsächlichen Maßnahmen oder unterstellten Ziele der Alliierten in den Augen vieler „diskreditierten“ (Deuerlein 1972, 230) innerdeutscher Beiträge zur Dezentralisierung oder Föderalisierung des auf dem Territorium der vier Besatzungszonen eventuell wieder zu errichtenden deutschen Gesamtstaates wurden also in einem politisch schwierigen Umfeld geäußert. Die Begriffe Dezentralisierung beziehungsweise Föderalisierung bedürfen dabei jeweils im einzelnen einer Klärung; Hans Peters, von dessen zeitgenösssischen Beiträgen nachfolgend gehandelt wird, hatte der staatsrechtlichen Klärung der beiden Konzepte 1928 eigens eine systematische Abhandlung gewidmet (Peters 1928), die auch nach 1945 regelmäßig zitiert wurde. Wichtig ist die Unterscheidung, weil sie nicht nur mit höchst unterschiedlichem Bedeutungsgehalt, sondern auch mit teilweise entgegengesetzten politischen Intentionen verbunden wurde (dazu Deuerlein 1972, 214-248). Während die innerdeutsche Föderalismusdebatte eher den Aspekt der Machtaufteilung des bisherigen nationalsozialistischen Zentralstaates in föderativ verbundene Einzelstaaten bis hin zur Befürwortung des einzelstaatlichen Rechts auf Separatismus meint, bedeutet vor allem im angelsächsischen Sprachgebrauch die Föderalisierung Deutschlands gerade den bei aller geforderten und praktisch durchgesetzten Dezentralisierung – etwa der Behörden- und Polizeikompetenzen – irgendwie erhaltenen Aspekt eines deutschen Gesamtstaates in Form eines Bundesstaates oder mindestens einer Konföderation. Hinzu kamen schnell die institutionalisierten Eigenständigkeitsinteressen der Länder, wobei Bayern als einziges mehr oder weniger historisch gewachsenes Land sich besonders hervortat. Friedrich August von der Heydte sprach wenig später in seiner vehementen Kritik der Entwürfe des Parlamentarischen Rates zum späteren Grundgesetz nur von den „Angriffen auf Christentum und Staatlichkeit der Länder“ und hielt dem maßgeblichen Staatsrechtstheoretiker der SPD Carlo Schmid entgegen: „Das deutsche Volk gliedert sich nicht ... in Länder, sondern in Stämme. Die Länder – wenigstens soweit sie nicht bloß dem Befehl der Besatzungsmacht ihr Dasein verdanken – finden nur Ausdruck dieser Gliederung des Volkes in Stämme“ (Heydte 1948, 44). Diese Argumentation mit „Deutschen Stämmen“ war weit verbreitet und wurde auch von protestantischen Autoren norddeutscher Herkunft wie beispielsweise Wilhelm Röpke geteilt – der sogar im Einzelfall das Recht auf Separation verteidigte, wie sich noch zeigen wird. Über eines schienen sich alle einig: die Zerschlagung Preussens als den seit 1871 den jungen deutschen Nationalstaat mit mehr als 60% der Fläche und zwei Dritteln der Bevölkerung dominierenden Hegemonialstaat war öffentlich bei den Alliierten wie innerhalb der deutschen Publizistik weitgehend unumstritten. Selbst Historiker wie Friedrich Meinecke (1946) und Gerhard Ritter (1948), die in ihren einflußreichen Nachkriegsschriften bemüht sind, Preussen gegen eine zu einseitige Verurteilung als geistig-kulturelle und politische Hauptquelle des
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späteren Nationalsozialismus zu verteidigen, treten nicht als Anwälte von dessen Weiterexistenz als Teil des zukünftigen Deutschlands in Erscheinung. Bei Franz Albert Kramer, dem späteren Herausgeber des „Rheinischen Merkur“ und maßgeblichen Propagandisten eines zukünftigen dezentralen Föderalismus in Deutschland heißt es beispielsweise: „Es sind einheitliche, durchgehende Entwicklungslinien, die von 1850 zum Zweiten, später zum Dritten Reich geführt haben. Sie sind der preußisch-neudeutschen Reichstradition inhärent. Diese wird – ob in aristokratischer, ob in bürgerlicher oder proletarischer Form – stets zum Zentralismus, zur absoluten Herrschaft im Innern, zur imperalistischen Expansion nach außen streben. Dieses Erbe ist eine tödliche Last. Es gibt als Alternative zu einem drohenden Vierten Reich nur eines: im Rückgriff auf die vorbismarcksche Zeit die deutschen Stämme und Länder wiederherzustellen, in ihrer natürlichen und geschichtlichen Ordnung, um sie in vernunftgemäßer Fortentwicklung zu einem neuen Bund oder zu Bünden zu vereinigen, die wieder Bestandteil Europas sein können“ (Kramer 1945, 98). Oft nehmen aber die antipreussischen Polemiken nach 1945 gerade auch in den rheinländischen und südwestdeutschen Beiträgen zur föderalistischen Neuordnung dabei Züge einer Sündenbockargumentation an, so als habe es im „Süden“ von München bis Freiburg keine Unterstützung der nationalsozialistischen Machtergreifung und -ausübung gegeben; davon konnte bei allen regionalen Unterschieden überhaupt keine Rede sein. Aber für Otto Feger beispielsweise steht fest, daß „gerade der Osten Deutschlands für diese Ideen besonders empfänglich war, wo im ostelbischen Kolonialland die deutsche Tradition am schwächsten ausgeprägt ist, und wo aus einer dünnen blutmäßigen Überlagerung alteingesessener slawischer Völker durch deutsche Einwanderung und durch weitgehende Übernahme altslawischen Gedankengutes eine gefährliche Mischung entstanden ist ... Dazu kamen halb verwischte Erinnerungen an Judenpogrome, ein bißchen ungestraft Plündern und Totschlagen“ (Feger 1946, 53). Hier liegt die angebliche „Schuld des Nordostens“ am Scheitern Weimars begründet, hier liegt für Feger die Ursache des Nationalsozialismus. Otto Feger muß in seinem Aufruf zur Begründung einer selbständigen „schwäbisch-alemannischen Demokratie“ vor allem eines „mit aller Eindringlichkeit immer wieder feststellen: der deutsche Westen und Südwesten ist 1933 majorisiert worden“ (Feger 1946, 55) und gehört nach dieser landsmännischen Logik 1945 nicht zu den Mitschuldigen, sondern zu den ersten Opfern nationalsozialistischer Unterdrückung, in der sich die bereits seit 1871 nur ertragene preussische Unterdrückung lediglich gesteigert fortsetzte. Nachfolgend sollen beispielhaft drei frühe Beiträge zu dieser Diskussion um das Stichwort „Föderalismus“ behandelt werden, die jeweils typisch für einen Diskussionsstrang stehen. Wiederum geht es mir – anders als bei Deuerlein und in der üblichen Literatur zum Föderalismusproblem – weniger um die verfassungsmäßige und institutionelle Ausgestaltung als um das darin zum Ausdruck kommende zeittypische politische Denken, das sich in bestimmten Zielen und
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Werten ausdrückt, die „föderalistisch“ verwirklicht werden sollen. Bei der Lektüre gilt es zu beachten, daß auch heute wieder eine Diskussion über den Föderalismus, seine gegenwärtige Gestalt und notwendige Reform auf der Tagesordnung sowohl Deutschlands wie Europas steht. Dabei kann man die Merkwürdigkeit beobachten, daß in vielen Fällen zur Rechtfertigung des Status quo auf eine vermeintlich historisch gewachsene und tief verankerte und als solche legitimierte „Identität“ von Ländern zurückgegriffen wird, bei denen es sich im früheren Westdeutschland mit der einzigen Ausnahme Bayerns ausnahmslos um Neuschöpfungen oder Umgründungen aus nationalsozialistischer – so im Falle Hamburgs – oder unmittelbarer Nachkriegszeit handelt. Die umstandslose Wiederbegründung der Länder noch in der DDR direkt nach dem Fall der SEDDiktatur mag man als spontane Reaktion gegen den Zentralismus der Parteidiktatur und/oder Übernahme der vermeintlichen westdeutschen Normalität aus den damaligen Umständen heraus für verständlich, ja schier unvermeidlich halten, aber sie als „ ‚Wunder‘ des Wiedererwachens der fünf ostdeutschen Bundesländer“ zu überhöhen, weil die „Gliedstaatlichkeit“ angeblich „tief ... in der Kultur, ja in der Seele der Menschen verwurzelt“ sei (Häberle 1997, 264), verklärt angesichts der Erfahrungen mit den neuen Bundesländern Westdeutschlands nach 1945 durchaus vorhandene regionale Kulturen und Traditionen zu geradezu essentialistischen Eigenmächten; auf die Idee einer Wiederbegründung Preussens kam allerdings bezeichnenderweise auch Häberle nicht. Eher hat nun aber in ganz Deutschland dieser einigungsbedingte hybride Föderalismus mit der Schaffung von zusätzlichen, aus sich selbst heraus kaum lebensfähigen Bundesländern eine Situation erzeugt, die mehr Probleme schafft als sie löst – und die damit vor allem dem genuinen Gedanken föderalistischen Denkens Hohn spricht. Eine wirkliche Gewalten- und Funktionsteilung kann es nämlich nur zwischen politischen Einheiten geben, die zur selbstständigen Regelung ihrer Aufgaben und zu ihrer eigenständigen Reproduktion überhaupt in der Lage sind.
Hans Peters: Integration des deutschen Volkes durch eine föderalistische Demokratie „sui generis“ Der nach seinem Weggang von der zunehmend marxistisch-leninistisch unterwanderten Universität Berlin seit 1949 an der Universität Köln lehrende bekannte Jurist Hans Peters ist vor allem wegen seines in den fünfziger Jahren weit verbreiteten „Lehrbuch der Verwaltung“ sowie später wegen des von ihm herausgegebenen dreibändigen „Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis“ und, vor allem in katholischen Kreisen, als langjähriger Präsident der Görres-Gesellschaft im Gedächtnis geblieben. Seine Anerkennung im Kollegenkreis schlug sich in der Wahl zum Vorsitzenden der Staatsrechtslehrerverei-
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nigung in den Jahren 1958 und 1959 nieder. Demgegenüber trat in den Hintergrund, daß Hans Peters bereits in jungen Jahren als Jurist in der Weimarer Republik über die Tätigkeit in der Verwaltung den engen Kontakt zur politischen Gestaltung suchte und fand. Es wird – gerade in der normativen Politikwissenschaft – häufig übersehen, daß es im deutschen Verwaltungsrecht mit gutem Grund eine Tradition gibt, „die Verwaltung“ als konstitutiven Bestandteil der „Exekutive“ im Gewaltenteilungsschema zu betrachten. Hans Peters betrachtete sie – so der Titel seiner Kölner Rektoratsrede – als „eigenständige Staatsgewalt“ im rechtlichen Zustand „prinzipieller Gleichwertigkeit“ (Peters 1965, 29) zu den anderen Staatsfunktionen der Legislative und Jurisdiktion. Für ihn gab es also keine prinzipielle Trennung zwischen „Regierung“ und „Verwaltung“, die ihm unter funktionaler Perspektive im Gewaltenteilungsschema als Einheit erschienen, wie Bernd Becker zurecht feststellt (Becker 1989, 62). Thomas Ellwein nannte in seinem von den „Theoretikern“ viel zu wenig beachteten großen Werk über den „Staat als Zufall und Notwendigkeit“ Peters’ aus dieser Diagnose resultierende Warnung an den Gesetzgebungsstaat, nicht im „ ,Kleinkram zu versinken und das Parlament zur Behörde werden zu lassen‘ ..., prophetisch“ (Ellwein 1993, 66). Angesichts seiner über die enge Juristerei herausragenden Interessen kann es kaum verwundern, daß sich – ansonsten im Kreise wohletablierter Juristen eher ungewöhnlich – Hans Peters in Nordrhein-Westfahlen in den frühen fünfziger Jahren sachkundig und engagiert für die Etablierung der Politischen Wissenschaft als eigenständige Disziplin in Forschung und Lehre äußerte (Peters 1953). In den letzten Jahren der Weimarer Republik war er, seit 1928 beamteter außerordentlicher Professor an der Universität Berlin, zugleich für vier Jahre als Generalreferent des damaligen preussischen Kultusministers Becker nebenamtlich zuständig für die Universitätsreform (Peters 1946, 64). Er spielte außerdem eine bedeutende Rolle in der Etablierung der Qualifizierung und Fortbildung für den höheren Verwaltungsdienst als „Studienleiter der größten deuschen Verwaltungsakademie“ seit 1928 in Berlin und war Verfasser der „Denkschrift über eine planvolle Fortbildung“ des Reichsverband deutscher Verwaltungsakademien (Peters 1931). Zuletzt, im März 1933, wurde er als Abgeordneter der Zentrumspartei in den Preussischen Landtag gewählt, „zu spät, um noch eine wirklich seinen Fähigkeiten entsprechende politische Tätigkeit entfalten zu können“, wie Ernst Friesenhahn in dem kurzen Nachruf, der als Einleitung zu einer posthumen Festschrift für Hans Peter 1967 erschien, feststellte (Friesenhahn 1967, 3). Auf dem Hintergrund seiner tiefen religiösen Verankerung im katholischen Milieu war seine Ablehnung der totalitären Ansprüche und Praxis der nationalsozialistischen Machtergreifung von Anfang an prinzipiell begründet und eindeutig – und mutig. Noch 1935 schrieb er in einem Aufsatz „Der totale Staat und die Kirche“: „Die ganze Grundeinstellung des totalen Staates ist aber schon deshalb unhaltbar, weil sie ihre Rechtfertigung darin sucht, daß die menschliche Gesellschaft außerhalb des Staates ungeordnet sei und erst der vom Staat erlassenen
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Ordnungsprinzipien bedürfe“ (Peters 1935, 357). Jegliche – nicht nur nationalsozialistische – kontingenzbegründete Vorstellung von Politik und Recht widerstreitet den von Peters stets engagiert vertretenen Auffassungen einer „katholischen Staatslehre“ mit ihrer „organischen Staatstheorie“ (Peters 1946, 127, hervorg. i.O.) für die gilt: „Die Staatsethik ist der logische Prius einer Rechtsordnung“ (Peters 1946, 129). Aus dieser grundsätzlichen Opposition gegenüber jeder Art von säkular begründetem „Positivismus“, den er vor allem in der ideengeschichtlichen Sequenz Machiavelli, Hegel, Faschismus (Nationalsozialismus) verkörpert sah (Peters 1946, 126), resultierte eine konservative und essentialistische Staatsauffassung, die er bereits in seinem Engagement im Widerstand des Kreisauer Kreises um den Grafen Moltke vertrat. Peters referierte bei geheimen Treffen zu Konkordatsfragen (Roon 1967, 253), trat für eine eigenständige Rechtsstellung der Kirchen im befreiten Deutschland und für christliche Gemeinschaftsschulen mit Religionsunterricht als Pflichtfach für Angehörige beider Konfessionen ein (Roon 1967, 355) und war insgesamt für „die Ausarbeitung des Kulturprogramms“ des Kreisauer Kreises für eine zukünftige Regierung zuständig (Roon 1967, 114). Auf diesem persönlich-biographischen Hintergrund war es nicht erstaunlich, daß Hans Peters nach 1945 nicht nur mit juristischen Fachpublikationen, sondern auch mit engagierten Zeugnissen seines politischen Denkens öffentlich in Erscheinung trat. Wenn nachfolgend seine kleine Schrift zum „Deutschen Föderalismus“ (Peters 1947) und damit im inneren Zusammenhang seine Publikation zur „Problematik der deutschen Demokratie“ (Peters 1948) näher betrachtet und damit Hans Peters’ frühe systematische Überlegungen zur föderalistischen Neuordnung Deutschlands besonders herausgestellt werden, so liegt darin eine gewisse Willkür, denn mit seinen bereits 1946 in Buchform erschienen Betrachtungen „Zwischen Gestern und Morgen“ (Peters 1946) hätte er ebenso gut im voranstehenden Kapitel über „Politik der geistigen Umkehr und Erziehung“ einen würdigen Platz einnehmen können; seine Gedanken von 1946 stehen denen der dort bereits behandelten Autoren an Ernsthaftigkeit und politischem Gehalt kaum nach und er teilt mit ihnen die zentrale Idee, daß für die politische Neuordnung vor allem eine geistige und moralische Reorientierung durch Erziehung der deutschen Bevölkerung, besonders aber ihrer zukünftigen Eliten, erforderlich sei. Es ist erstaunlich, daß Peters’ Schriften neben den immer wieder als exemplarisch behandelten von Meinecke, Röpke oder Jaspers kaum Beachtung gefunden haben, beispielsweise weder bei Cobet (Cobet 1985) noch bei Fulbrook (Fulbrook 1999) oder Olick (Olick 2005) erwähnt werden. Wenn Rabinbach in seiner bedeutenden Studie feststellt, daß Jaspers „was practically alone in publically acknowledging“ – das an den Juden begangene Verbrechen –, so beruht auch dieses Urteil auf fehlender Kenntnisnahme, nicht nur der Schriften von Peters. Manchmal hat man den Eindruck, daß die Sekundärliteratur späterer Zeit sich geradezu mit einem einmal gefundenen „Kanon“ zeitgenössischer Literatur und seiner Reproduktion begnügt und darauf ihre nur zum Teil richtigen Urteile stützt.
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Hier seien zunächst nachfolgend nur einige für Peters spezifische Besonderheiten der Argumentation aus dieser ersten Nachkriegsschrift herausgestellt, die auch für sein Verständnis einer föderalistischen Demokratie konstitutiv waren. Seine gesamte Argumentation, sowohl seine einleitende, vernichtend ausfallende „Bilanz der letzten 12 Jahre“, wie seine Vorschläge zu „positiver Aufbauarbeit“ ranken sich um den Begriff der „Kultur“; grundsätzlich gelte: jedes „Volk“ könne „nur von seiner Kultur her verstanden werden“ (Peters 1946, 18). „Deutschlands künftige Lebensfähigkeit, auch materiell, hängt ab von seinem eigenen Kulturwillen und von den Leistungen seiner Kulturschaffenden und Erzieher“ (Peters 1946, 17). Dafür müsse Politik die Voraussetzungen schaffen. „Politik besteht in der ethisch fundierten Meisterung realer Lebensverhältnisse und im Erreichen bestmöglicher Lebensbedingungen für das eigene Volk“ (Peters 1946, 4). Genau an jenem ethischen Fundament habe es der durch und durch „verbrecherischen Handlungsweise der Nationalsozialisten“ (Peters 1946, 14) gefehlt, deren „Vernichtungswerk von dem tosenden Beifall einer gröhlenden Masse, die verhetzt und verdummt mit geschlossenen Augen in ihr Verderben rannte“ (Peters 1946, 1), bis zum bitteren Ende begleitet und aktiv unterstützt wurde. „Die Folgen des (von Hitler und Goebbels befohlenen, von den Massen befolgten M.G.) ‚Durchhaltens bis fünf Minuten nach Zwölf‘ spüren wir jetzt ... darüber sollten wir nicht vergessen, auch an die eigene Schuld zu denken“ (Peters 1946, 5). Zweierlei wird deutlich und durch das von Peters selbst kursiv hervorgehobene „auch“ betont: einerseits vollbrachte „der Nationalsozialismus“ einen „riesenhaften Volksbetrug“ (Peters 1946, 14), der wie alle Verbrechen „ausschließlich auf das Schuldkonto des Nationalsozialismus zu buchen ist“ (Peters 1946, 8); anders als etwa bei dem später ausführlich behandelten Wilhelm Röpke gibt es keine „Mitschuldigen“ außerhalb Deutschlands oder jenseits der Nationalsozialisten und ihrer Unterstützer. Andererseits brauchten „der Nationalsozialismus“ und seine verbrecherischen Führungsgestalten, allen voran die von Peters immer wieder persönlich genannten Hitler und Goebbels, bis zur bedingungslosen Kapitulation die Unterstützung der „Massen“ und „alle(r) ... aktiven Helfershelfer“, die deshalb „bösartig, leichtfertig oder aus Dummheit“ (Peters 1946, 2) an dem „Vernichtungswerk“ eben „auch“ Schuld tragen. Von dieser „Schuld“ nimmt Peters – angesichts seines eigenen Engagements im Widerstand verständlicherweise – den aktiven Widerstand aus und erwähnt dabei, in konservativen Kreisen und der frühen Bundesrepublik keineswegs selbstverständlich, ausdrücklich neben den „christlichen“ auch „auf marxistischem Boden stehende(r) Kreise“ (Peters 1946, 16). Ausführlicher und deutlicher gegenüber Meinecke, Röpke und selbst Jaspers spricht Peters über die „nationalsozialistischen Ausrottungsmethoden“ und ihre Hauptopfer, die Juden. Die Einzigartigkeit des rassisch begründeten Exterminismus wird von ihm mit den Worten angesprochen: „Zum ersten Mal im abendländischen Gedankenkreis taucht daher der Wille zur völligen Vernich-
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tung anderer Völker (nicht bloß von Staatsgebilden, Dynastien oder Ideen) auf“ (Peters 1946, 50; die Klammer ist Teil des Originals). Die „Kulturzerstörung“ des Nationalsozialismus blieb nicht auf die materiellen Kulturgüter beschränkt, sondern gipfelte in der „Vernichtung ethischer Werte. ... Alles wäre nicht so bitter ernst, wenn sich mit der Verkündigung solcher Gedanken – die Tötung unschuldiger Kranker oder von Juden – nicht die Untergrabung der ethischen Wertskala selbst verbunden hätte. Mörder, Meineidige oder sonstige Verbrecher wird es immer geben ... im Nationalsozialismus aber wurde dem Mörder und all den anderen Übeltätern unter irgendwelchen, der nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘ entnommenen Vorspiegelungen die Erkenntnis des Bösen ihrer Tat genommen“ (Peters 1946, 6). Noch weit in die Nachkriegsgeschichte hinein, etwa in den Protokollen des Auschwitz-Prozesses (Langbein 1965), konnte man immer wieder mit Erschrecken den nachhaltigen Erfolg dieser nationalsozialistischen Erziehung und Manipulation des ethischen Bewußtseins beobachten; Hannah Arendt versuchte diese ethische Verkümmerung am Beispiel des Eichmann-Prozesses in Jerusalem mit ihrer Formel von der „Banalität des Bösen“ auf den Begriff zu bringen (Arendt 1986a), der sich unter anderem gegen die in Nachkriegsdeutschland häufig – unter anderem von Alfred Weber und Friedrich Meinecke – verwendete Rhetorik der „Dämonie“ wendet. „Das sogenannte Kulturbild des Nationalsozialismus bedurfte zu seiner Rechtfertigung der Geschichtsfälschung ... Haß und Neid sollten gegen die dem nationalsozialistischen System unbequemen Menschen gewaltsam gezüchtet werden“ (Peters 1946, 6f); Peters zählt als Zielgruppen entsprechender Kampagnen Priester und Pfarrer, Adlige oder ehemalige Deutschnationale, Kommunisten und Generale auf. Aber „den deutlichsten Beweis, wohin solche Haßzüchtung führen kann, zeigt die Behandlung der Juden. Bis 1938 trotz aller Übergriffe noch in Grenzen gehalten, verloren schließlich die gegen Juden verübten Verbrechen aller Art jegliches Maß. An Wehrlosen ließen sich dann auch solche Menschen aus, die früher keinerlei Haß gegen Juden gekannt hatten. Wenn auch immer Widerstandszentren sich hier und da mit geringen Erfolgen für Juden einsetzen konnten, so bleibt doch die Tatsache der Ermordung Tausender von Juden unter übelsten Begleitumständen unumstößlich. Gewiß lehnten sehr viele Deutsche diese nationalsozialistischen Ausrottungsmethoden ab, aber mit der Verbreitung starker antisemitischer Anschauungen und wildester Haßinstinkte hatte die nationalsozialistische Propaganda bei weitesten Kreisen zweifellos großen Erfolg. Der Umfang und die Zahl der an den Juden begangenen Verbrechen steht noch nicht fest, wird auch vielleicht nie ganz aufzuklären sein; sicher aber ist, daß sie eine der traurigsten Verirrungen des deutschen Menschen darstellt, die ausschließlich auf das Schuldkonto des Nationalsozialismus zu buchen ist“ (Peters 1946, 7f). Angesichts unseres heutigen Wissens mag die Formulierung von „der Ermordung Tausender Juden“ im ersten Augenblick befremden; aber es ist hier zum wiederholten Male an den Entstehungszeitpunkt und -kontext solcher Sätze zu erinnern. Sie wurden hier so ausführlich zitiert, weil sie im Zusammen-
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hang gelesen eines der deutlichsten Zeugnisse dafür darstellen, daß der nationalsozialistische Vernichtungswille und die damit verbundenen Ausrottungsmethoden gegenüber den Juden in ihrer historischen Neuartigkeit erkannt und benannt werden konnten und von Hans Peters ins ethische Zentrum seiner „Bilanz“ gestellt wurden. Auch der Hinweis, daß die Nationalsozialisten mit der Propagierung ihrer Ziele „bei weitesten Kreisen zweifellos großen Erfolg“ zeitigten und Menschen zu Verbrechen bewogen, „die früher keinerlei Haß gegen Juden gekannt hatten“, bleibt in der zeitgenössischen Literatur nach meiner Kenntnis in dieser Deutlichkeit singulär. Die Bestandteile der nationalsozialistischen Weltanschauung – u.a. weltanschaulicher Totalitätsanspruch, Vorrang des ,Volkes‘ vor dem Einzelnen, Rassismus, Leugnung des Naturrechts, Militarismus – müßten fortan „aus dem bisherigen Geistesbild ausgemerzt“ (Peters, 1946, 49), ihre Repräsentanten von aller zukünftigen Mitwirkung am öffentlichen Leben, insbesondere in der Vermittlung von Bildung und Kultur, ferngehalten werden. „Nur wenn im deutschen Volke die Ausrottung alles nationalsozialistischen Gedankengutes als eine deutsche Sache, nicht bloß als Ausführung alliierter Befehle empfunden wird, ist der Nationalsozialismus wirklich zu töten“ (Peters 1946, 218). Bereits früh werden bei Peters die Umrisse einer Konzeption ,wehrhafter Demokratie‘ sichtbar, wie das später in der Bundesrepublik genannt wurde, die sich aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit bei ihm noch in die breite „antifaschistische“ Strömung einordnen läßt, wie Peters’ zunächst durchaus entspanntes Verhältnis zum Marxismus als politischer Strömung zeigt; zur Verwirklichung der angestrebten Kultursynthese empfiehlt er geradezu, die „Verbindung mit den Kräften des Ostens zu schaffen“ (Peters 1946, 57) – wobei dieser Hinweis über die Bemerkung hinaus, heute werde „mindestens ein wirtschaftlicher Sozialismus“ (Peters 1946, 56) weithin vertreten, recht kryptisch bleibt. Positiv müsse der Staat hingegen die Kulturentwicklung auf breiter Front fördern, pflegen – aber auch überwachen, um sie vor Mißbrauch für Propaganda, wie man sie bei den Nationalsozialisten erlebt habe, zu schützen. Dafür sei ein funktional angemessenes Verhältnis von Dezentralisation und Zentralisation notwendig, wie Peters unter Hinweis auf seine Schrift von 1928 ausführt: „Jedenfalls ist im folgenden von einer starken Dezentralisation der Kultur- (einschließlich Schule und Hochschule) Verwaltung als einer notwendigen und zweckmäßigen Voraussetzung unseres geistigen Wiederaufbaus auszugehen“ (Peters 1946, 217); jede Dezentralisation, so einer der grundlegenden Gedanken aus Peters’ früher Schrift, setzt freilich Zentralisation voraus, deshalb werde es auch in Zukunft „nicht ganz ohne zentrale Leitung gehen“ (Peters 1946, 218), die gerade für die Bekämpfung des Nationalsozialismus notwendig sei. Dafür schlägt Peters 1946 ein direkt dem „Kontrollrat“ unterstehendes „Staatssekretariat für Kulturangelegenheiten“ mit einem umfassenden Zuständigkeitsbereich nach Maßgabe der durch den Beschluß der Alliierten im August 1945 eingerichteten einheitlichen Verwaltungsstellen vor (Peters 1946, 215f) – ein Vorschlag, dem nicht gefolgt wurde.
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Positiv aber könne „der Staat selbst keine Kultur schaffen, auch nicht ein einheitliches Kulturbild herbeiführen, ja ein solcher Versuch wäre als völlig verfehlt anzusehen“ (Peters 1946, 37). Es ginge darum, die Kultur einerseits als „die materielle Grundlage für unseren Wiederaufbau“ zu verstehen (Peters 1946, 16), andererseits gegen das „Vorurteil, Kulturpflege sei überaus kostspielig und nur in Zeiten wirtschaftlicher Blüte möglich“ (Peters 1946, 20) zu kämpfen – Gedanken, denen man auch heute wieder eine gewisse Anerkennung wünschen würde. Gerade jetzt, wo Deutschland wirtschaftlich und machtpolitisch am Boden liege und seine Städte zerstört seien, sei die kulturelle Erneuerung jener Schritt des Wiederaufbaus, der zuerst gegangen werden könne – auch „die Zeit unserer klassischen Dichtung und unserer klassischen Musik, also die Zeit um 1800“ sei „geradezu mit einer besonderen Schwäche unseres Vaterlandes“ zusammengefallen (Peters 1946, 25). Dafür bedürfe es in der Abkehr von der hegelschen Tradition der Allzuständigkeit des Staates vor allem des privaten Engagements auch bei der Wiedereinrichtung von Theatern und sogar ausdrücklich „Privatschulen“ (Peters 1946, 24). Mit der angeblichen totalitären Tendenz der hegelschen Staatslehre, deren Auffassung vom Staat als ‚absoluter, unbewegter Selbstzweck‘ “ (Peters 1935, 313) hatte sich Peters bereits in seinem großen Aufsatz zum Begriff des „totalen Staates“ kritisch auseinander gesetzt, der – auch wenn man gerade das Urteil zu Hegel nicht uneingeschränkt teilen mag (siehe z.B. Dallmayr 1993, bes. 247ff) – nicht nur einen fulminanten kritischen Überblick über die Apologie des „totalen Staates“ in der damaligen deutschen Staatsrechtslehre abgibt, sondern bereits auch im Schlußabschnitt Hinweise auf den späteren Widerstand beziehungsweise seine Begründbarkeit aus Peters’ Sicht erkennen läßt; zwar sei aus der Sicht der Katholischen Kirche ein modus vivendi, wie er im Konkordat vorübergehend gefunden sei, vorzuziehen, aber wenn der „totale Staat“ aus seinem inneren geistigen Prinzip heraus sich über den eigenen Anspruch der Kirche stellen und auch ein geistiges Monopol über seine Schutz- und Daseinsfunktionen hinaus etablieren wolle, „so bedeutet das den offenen Kampf zwischen weltlicher und geistlicher Macht“ (Peters 1935, 333). Wenn der Staat auch selbst also die Kultur nicht hervorbringen könne, so müsse er doch in seiner fördernden und schützenden Rolle „das abendländische Kulturideal“ mit seinen „fünf Grundfaktoren“ bejahen: „den auf das Schlagwort Kalos k’agathos“ gebrachten „Geist der Antike“, das „Christentum“, den „Rationalismus“ der Aufklärung, die „Romantik“ und „den Geist der Technik“ (Peters 1946, 52ff). „Wer auch nur einen dieser Grundfaktoren fanatisch ablehnt, vermag meines Erachtens dem abendländischen Kulturideal nicht gerecht zu werden“ (Peters 1946, 65). Dreierlei ist meines Erachtens in dieser auf den ersten Blick konventionellen Bestimmung westlicher Kultur überraschend und unterscheidet Peters von zeitgenössischen Berufungen auf das AbendlandKonzept (Faber 1979): erstens werden Aufklärung und Romantik nicht alternativ gegeneinander gestellt, zweitens wird ungewöhnlicherweise der „Geist der Technik“ nicht gegen das Kulturideal ausgespielt, sondern in dieses integriert
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und drittens stellt Peters fest: „Die Synthese zu einem geschlossenen Kulturbild kann von jedem der fünf Grundfaktoren her gewonnen werden“, aber: „wir stehen noch mitten im Ringen um die noch nicht erreichte Synthese“ (Peters 1946, 56). Damit ist trotz der bekenntnishaften christlichen Grundlage Peters’ zunächst scheinbar ein dynamisch offenes Kulturkonzept entworfen, auf dessen Hintergrund „die Erziehung des deutschen Menschen zum Europäertum und seine geistige Rückkehr in die abendländische Völkerfamilie“ (Peters 1946, 46) nach Peters’ Wunsch und Vorstellung gelingen könnte. Diese pluralistische Offenheit wird aber nachfolgend, wie sich zeigen wird, doch in Frage gestellt. Der Staat selbst aber ruhe auf einem vorpolitischen ethischen Fundament, denn „im geistigen Bereich gelten ... Gesetze des Sollens“ (Peters 1946, 121), die sich für den religiösen Menschen – unabhängig von seiner Konfession – von selbst verstünden, für deren Existenz und Richtigkeit man freilich „bei einem in den letzten Jahrhunderten so wenig erforschten Gebiet wie dem der Seele und der metaphysischen Kräfte ... kaum mehr erwarten könne als einen groben empirischen Beweis“ (Peters 1946, 122). Durch die einfache Beobachtung, daß in allen „natürlichen Gemeinschaften ... auch von Natur aus immanente Normen gelten“ (Peters 1946, 125), könne „die Existenz moralischer Gesetze schon mit dem Verstande erfaßt werden“ (Peters 1946, 123) – auch mit dem Verstande des Agnostikers oder Materialisten, wie Peters wohlmeinend insinuiert. Letztlich sei die aufgrund solcher Beoachtungen universell in allen Gemeinschaften – z. B. des Tötungsverbots, des Sittengesetzes, der Opferverpflichtung usw. – vorhandene Moral auch die Grundlage für die „Anerkennung einer Staatsethik“, die „wie jede Ethik – eine Willensfrage und demgemäß Ergebnis sittlicher Erziehung ist“ (Peters 1946, 129). Angesichts dieses philosophisch unzureichenden Arguments oder Vorgehens ist man versucht, an Kants Vorrede zu den ,metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre‘ zu erinnern, wo er feststellt, daß „die empirische Mannigfaltigkeit ... nur als Beispiele in die Anmerkungen kommen können“ (Kant 1966, 3) – aber eben nicht zur philosophischen Begründung einer Moral oder Rechtslehre taugen. Verständlich bleibt Peters’ Argumentation – trotz seines Versuches, durch empirische Argumente Agnostiker und Materialisten einzubinden – nur auf dem Hintergrund der metaphysischen Anerkennung auch des Staates selbst als einer „natürlichen Ordnung“, die er im Sinne einer thomistisch verstandenen, katholisch-organischen Staatsauffassung, als „societas perfecta“ neben der Kirche zugrundelegt und die „den Staat als einen natürlichen Organismus anerkennt, der sich aus dem Wesen des Menschen ergibt, aber sich aus Zellen geistig freier selbstverantwortlicher Persönlichkeiten zusammensetzt“ (Peters 1946, 127). Aber: „Eine societas perfecta ist der Staat vielmehr nur im Hinblick auf seine eigentliche Rahmenfunktion; nur insofern bedarf es neben ihm keines anderen gesellschaftlichen Gebildes“ (Peters 1935, 327), hält er 1935 den juristischen und politischen Propagandisten des „totalen Staates“ entgegen, der also nicht mit der thomistischen „societas perfecta“ verwechselt oder gleichgesetzt werden darf.
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So kann es nicht weiter überraschen, wenn Peters nach dieser umständlichen Argumentation feststellt: „Die einfachste Formulierung ethischer Grundsätze, die den Staat nicht anders wie den einzelnen binden, enthalten die 10 Gebote. Abgesehen von ihrem göttlich-religiösen Ursprung stellen sie zugleich mit der Vernunft erkennbare, natürliche Normen der menschlichen Gemeinschaft dar“ (Peters 1946, 130f). Bereits in der ersten, weitgehend Fragen der Kultur- und Bildungspolitik gewidmeten Schrift macht Peters sich auch allgemeine politische Gedanken über die Zukunft; im Zentrum stehen dabei die Prozesse der Parteibildung und der Rolle des zukünftigen Parteiensystems. Als Ausgangspunkt konstatiert Peters „eine starke Abneigung gegen politische Parteien überhaupt, zum Teil wenigstens gegen alle im Jahre 1933 vorhanden gewesenen“ (Peters 1946, 187); das darin liegende „Vorurteil wird alsdann ausgedehnt auf die Staatsform, die in der Weimarer Verfassung niedergelegt war und die im Hinblick auf ihre demokratisch-parlamentarische Grundlage als der deutschen Situation, ja vielleicht sogar als dem deutschen Menschen nicht entsprechend auch heute noch von vielen abgelehnt wird, die durchaus dem Nationalsozialismus feindlich gegenüberstehen und -standen“ (Peters 1946, 187). Was Peters hier als Einschätzung der politischen Lage zum Ausdruck bringt, wurde in vielen zeitgenössischen Umfragen seitens der Alliierten (dazu Merritt/Merritt 1970) und später bis in die fünfziger Jahre der Bundesrepublik hinein bestätigt, nämlich, daß positive Einschätzungen der Demokratie damals in der Bevölkerung nur schwach ausgeprägt waren und keineswegs von eindeutigen Mehrheiten geteilt wurden. Politisch-kulturell gelang die „Ankunft im Westen“ (Schildt 1999) – auch in den Westzonen – 1945 ja keineswegs auf einen Schlag und ist eher ein der außenpolitischen Einordung der Bundesrepublik nachlaufendes Produkt erst der fünfziger Jahre (Bänsch 1985; Eisfeld 1999). Peters will angesichts dieser Lage mit seinen Schriften im guten Sinne zur politischen Bildung beitragen, wenn er schreibt: „es muß geprüft werden, was an jenen Einwänden gegen Demokratie und Parteiwesen berechtigt und was unberechtigt ist. ... Nur so werden wir allmählich zu einem Staatswesen gelangen, dessen Willen auf breitester Grundlage im Volke verwurzelt ist, das die innere Stärke und selbstbewußte Sicherheit bietet, um in der Völkerfamilie der Welt einmal künftig wieder positiv mitarbeiten zu können, und in dem Terror und Diktatur als politische Mittel allgemein verpönt sind“ (Peters 1946, 187). Zwei Jahre später, als bereits die meisten Länder über demokratische Verfassungen verfügen und überall auf Gemeinde- und Länderebene die ersten freien Wahlen längst stattgefunden haben, beklagt Peters sicherlich zutreffend, „daß noch sehr viele Deutsche nicht davon überzeugt sind, daß die Demokratie, zumindest nicht die geschichtlich in Westeuropa und Nordamerika entwickelte, noch weniger die in Osteuropa entstandene, die für Deutschland geeignete Staatsform“ sei (Peters 1948, 91) – eine Auffassung, die er insoweit teilt, als auch er der Meinung ist, Deutschland müßte einen „deutschen“ Föderalismus
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(1947) und eine „deutsche“ Demokratie (Peters 1948), beides gewissermaßen „sui generis“ (Peters 1947, 76) auf die deutsche Kultur zugeschnitten, entwikkeln. Dafür müßte „ ,Demokratie‘ – Sphärenmusik in den Ohren der einen, verwirrender Lärm ohne tiefere Bedeutung für die anderen – ... erst einmal stark in den Mittelpunkt der politischen Erziehung unseres Volkes gestellt werden“ (Peters 1946, 188), denn „in der Tat ist das Wort mehrdeutig, und zwar sowohl in der politischen Praxis als auch in der wissenschaftlichen Terminologie“ (Peters 1946, 189). Für Peters liegt das „allen Formen der Demokratie Wesentliche ... darin, daß in der Demokratie die Willensbildung der Gesamtheit aus den Kräften der Gewaltunterworfenen in einem gesonderten Verfahren von unten herauf zu den regierenden Organen führt. ... Die Kräftequellen des gesamten Volkes werden in der Demokratie in den Dienst des Staates gestellt“ (Peters 1946, 192). In dieser Formulierung kündigt sich bereits eine nicht unproblematische Integrationsperspektive an, in der noch erhebliche Reste einer überkommenen Staatsphilosophie nachklingen, die mit Peters’ ansonsten vertretenen Auffassungen, vor allem mit einem individualistisch-personalistischen Freiheitskonzept von Verfassung nur schwerlich in Einklang zu bringen sind. Peters entwickelt seine Konzeption – wie es ja später auch seit dem Parlamentarischen Rat Gang und Gebe wurde – im Kontrast zum Scheitern der Weimarer Republik: „An den Mängeln der Gesetzgebung als solcher“ kann es kaum gelegen haben, denn „konstruktiv betrachtet hat die Weimarer Verfassung die Ideenwelt der Demokratie in einer Weise zusammen gefaßt, die ... kaum vollständiger gedacht werden kann“ (Peters 1946, 188). Gescheitert sei sie vielmehr daran, daß „ihr eigenes Ethos“ nicht genügend in der Bevölkerung und bei den politischen Eliten verankert war: „Daß die Demokratie ihr eigenes Ethos hat, daß sie trotz ihrer Entstehung aus der Quelle des Rationalismus auch eine tiefere Ideologie, ja geradezu einen Mythos entfaltet und daß sie sich mit der politischen Tradition eines Landes verbinden muß, hatten nur wenige erfaßt“ (Peters 1946, 189). Als Vorbilder des Gelingens dienen Peters immer wieder die USA und England, wo der „demokratische Apparat glatt und lautlos“ ablaufe und „selbst die umstürzendsten Wahlergebnisse ... nicht die Kontinuität der Staatsführung“ unterbrächen (Peters 1946, 189). Entscheidend sei, daß hier im Wechselspiel von Regierung und Opposition, angesichts „der Verschiedenartigkeit menschlicher Interessen und Willensbetätigungen in einem durch differenzierte Kultur und Zivilisation ausgezeichneten Gemeinwesen ... in diesem ewigen Stirb und Werde des Kräftespiels immer wieder die Mannigfaltigkeit zur Integration (Smend), zur inneren Einheit“ (Peters 1946, 190) gebracht würde. Damit ist unter Berufung auf die Verfassungstheorie Rudolf Smends der entscheidende Gedanke von Peters genannt, daß es angesichts des kulturell gewollten und bedeutsamen Pluralismus der gesellschaftlichen Kräfte politisch auf ihre „Integration“ in und vermittels der Demokratie ankomme: „So ist die Weimarer Republik daran gescheitert, nicht daß ihr die formalen Grundele-
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mente der Demokratie fehlten, sondern daß die Integration der demokratischen Kräfte nicht erreicht wurde und daß bei weiten Kreisen der Bevölkerung weder der ernste Wille zur Demokratie und ihren Konsequenzen noch das erforderliche Ethos vorhanden waren“ (Peters 1946, 191). Es ist wichtig zu verstehen, daß Peters hier zunächst von der „Integration der demokratischen Kräfte“ spricht, also dem, was man später häufig als den notwendigen ,Konsens der Demokraten‘ jenseits der notwendigen oder sogar erwünschten Parteien- und Weltanschauungskonkurrenz bezeichnet hat. Mit Ausnahme des Verbotes jeglicher Fortwirkung nationalsozialistischer Kräfte spricht Peters aber zu diesem frühen Stadium das Problem des Umgangs mit den Feinden der Demokratie in einer ,streitbaren Demokratie‘ nach dem Muster der späteren Bonner Verfassung noch nicht an. Darüber hinaus ist die – in den Schriften Peters’ aus dieser Zeit wiederholte – Berufung auf die explizit antiliberale Staatstheorie Rudolf Smends vielsagend, der mit seiner „Integrationstheorie“ eine essentialistische Staatstheorie geschaffen hat, in der „der Staat“ als eigenständige homogene Existenz normativen Vorrang gegenüber der bloß partikularen Existenz des Einzelnen beanspruchen kann (Smend 1968). Peter von Oertzen hat Smends „Integrationstheorie“ zurecht als Smends Reaktion auf dessen Wahrnehmung einer angeblich in Weimar herrschenden typisch „liberalen Staatsfremdheit“ gelesen (Oertzen 1974, 16), Hans Mayer sie bereits zeitgenössisch als „Staatsauffassung des konservativen preußischen Beamtentums“ (Mayer 1931, 90) zu entlarven gesucht. Smend teilte mit Peters neben der Ablehnung einer positivistischen Staats- und Rechtstheorie zugunsten einer materialen Theorie auch manche andere Ansicht, so vor allem die starke Betonung der staatstragenden Rolle der Verwaltung und des höheren Beamtentums. Die demokratische Integration wird bei beiden immer aus der Perspektive des Staates und seiner Führung betrachtet; soziologisch erscheint sie unter modernen Bedingungen als alternativlos, aber potentiell auch die Einheit gefährdend; auch bei Peters wird sie stets mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet. Vorstellungen einer partizipatorisch-republikanischen Demokratietheorie, nach der die Teilnahme an der Willensbildung auch für die Individuen einen Eigenwert besitzt, bleiben dieser Auffassung fremd Die „Willensbildung ... von unten herauf“ ist in der „Demokratie ohne ständig mitwirkende Volksmeinung und ohne politische Parteien kaum denkbar“, (Peters 1946, 193) antwortet Peters auf die eingangs zitierten Antiparteienressentiments in der Bevölkerung; sie seien zur Integration „unentbehrlich“ (Peters 1946, 194), problematisch sei allein die einfache Fortschreibung des alten Parteiensystems aus Weimar. Aber mit der „notwendig gewordenen Zusammenarbeit der vier antifaschistischen Parteien in Berlin“ (Peters 1946, 208f) sei bereits ein Ansatz gefunden, wie ein neues Parteiensystem aufgrund der „Grundeinstellungen“ in der Bevölkerung aussehen könnte. Peters sieht „vier Gruppen“ in deren organisatorischer Zusammenfassung sich „das Parteiwesen ... erschöpfen könnte“:
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„1. einer kollektivistisch-sozialistisch-(marxistisch-)materialistisch-revolutionären Gruppe, 2. einer personalistisch-solidarisch-christlich-evolutionären Gruppe, 3. einer individualistisch-liberal-kapitalistisch-fortschrittlichen Gruppe, 4. eine vierte, in einzelnen Teilen Deutschlands problematisch gewordene, in anderen sehr starke Gruppe folgt aus unserer Parteigeschichte, weil die Radikalität der Gruppe zu 1. zu einer Gruppierung geführt hat, die gemäßigt erscheint und eine beachtliche Revision früherer Grundsätze vorgenommen hat; vielleicht entwickelt sich hier eine aus dem Rahmen dieses deutschen Systems fallende Labour-Party deutscher Art“ (Peters 1946, 212). Überraschend mag auf den ersten Blick stärker die rationalistische Konstruktion eines zukünftigen Parteiensystems durch Peters als die Einzelheiten der Zuordnung wirken. Deutlich wird aber aus der ganzen Argumentation von Peters, wie sehr bei aller Anerkennung der Notwendigkeit des Parteiwesens die integrationistische Grundidee des organischen Staatsaufbaus durchschlägt. Auch als Repräsentanten partikularer Weltanschauungen – von Interessen ist systematisch weniger die Rede: „den Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen gibt es praktisch kaum mehr“ (Peters 1946, 204) – sollen die Parteien sich vor allem „in den Dienst des Staates“ stellen (Peters 1946, 192). Wenig überraschend ist zunächst, was Peters hinsichtlich der „Existenzberechtigung ... bisher in der Praxis in Erscheinung“ getretener Parteien schlußfolgert. Die vier den „Grundeinstellungen“ entsprechenden Parteien seien „zu 1.: Kommunisten, zu 2.: Christliche, zu 3.: Liberale, zu 4.: Sozialdemokraten“ (Peters 1946, 212), aber einigermaßen verblüffend wird es, wie Peters – bereits im Angesicht der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED in der sowjetisch besetzten Zone – fortfährt: „Interessant ist, daß im Osten Deutschlands die mehr in der Methode liegenden Unterschiede der Gruppen 1 und 4, d.h. der Kommunisten und Sozialdemokraten, nicht mehr als so groß empfunden werden, so daß man eine Vereinigung beider zur Sozialistischen Einheitspartei durchführte. Wieweit das auch anderwärts in Betracht kommt, hängt von der selbständigen Haltung der Sozialdemokratie und der Beibehaltung ihres Terror, Radikalismus und Kirchenfeindlichkeit ablehnenden Programms ab“ (Peters 1946, 212f). Zweierlei scheint mir aufschlußreich für das konservative Bild, das sich Peters – sicherlich wie viele andere – von den beiden linken Parteien macht: sie unterscheiden sich danach mehr durch die „Methode“ als durch ihre Ziele, vor allem aber sind die drei Elemente interessant, die Peters als sozialdemokratische Hindernisse für ein Zusammengehen mit den Kommunisten ausmacht. Angesichts dessen ist seine gelassene Beschreibung der Zwangsvereinigung, die ja doch gerade in Berlin heftigste Auseinandersetzungen und in der Sozialdemokratie der Westzonen massive Kritik hervorrief, kaum nachvollziehbar. Erstaunlicherweise fanden Peters’ abstrakte Überlegungen zur systematischen
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Struktrierung des Parteiensystems 45 Jahre später, nach dem Fall der Mauer und den ersten gesamtberliner Wahlen in den Augen von Günter Wirth nicht nur erneut Beachtung, sondern seiner Auffassung nach auch eine gewisse Bestätigung (Wirth 2002, 918). Sollten bei diesem zurückhaltenden Votum bei Hans Peters, dem ehemaligen Mitarbeiter Beckers im preussischen Kulturministerium, der in seinem Buch auch zweimal beiäufig vorschlug, die „Verbindung mit den Kräften des Ostens zu schaffen“ (Peters 1946, 57), und dessen Buch in dem Vorschlag für die Einsetzung eines „Staatssekretariats für Kulturangelegenheiten“ beim alliierten Kontrollrat gipfelte, etwa taktische Überlegungen und persönliche Ambitionen eine Rolle gespielt haben? Jedenfalls bleibt es auffällig, daß der konservative Peters hier die antikommunistische Karte nicht offen ausspielt – was freilich die prinzipielle, sich aus seiner Religiosität und damit verbundenen organischen Staatsauffassung ergebende Gegnerschaft keinesfalls kaschieren konnte. Wahrscheinlicher ist aber, daß nicht persönliche Ambitionen, sondern die Orientierung an einem wiederzugewinnenden nationalen Gesamtstaat den CDU-Politiker und zeitweiligen Berliner Fraktionsvorsitzenden nach einer die Kommunisten einbeziehenden Lösung suchen ließ. Die zwei genuin politischen Veröffentlichungen Peters’ aus den beiden nachfolgenden Jahren reflektieren die anhaltende Kontingenzerfahrung, aber auch die geistig-politische Verarbeitung der ersten Ergebnisse des wiedererwachten politischen Eigenlebens im besetzten Deutschland. In „Deutscher Föderalismus“ von 1947 stehen die „Länder“ als bisher wichtigstes, ungeplantes, aber für die politische Zukunft eines möglichen Gesamtstaates nicht mehr zu relativierendes „Faktum“ im Zentrum der nach wie vor dominierenden Kontingenzerfahrung. Das Buch beginnt mit den Sätzen: „Die heutige politische Lage Deutschlands ist durchaus unklar. Selbst Fachleute streiten darüber, ob ein deutscher Gesamtstaat noch besteht“ (Peters 1947, 5). Angesichts der einsetzenden Diskussion über eine neue deutsche Verfassung, die sich weitgehend an dem Weimarer Vorbild orientiert und in der er beobachtet, „wie alterfahrene Politiker verschiedener Parteien altes Gezänk schleunigst wieder aufleben lassen ... und so tun, als ob nicht Wesentliches zwölf Jahre geschehen und die heutige Welt der vor 1933 eigentlich noch recht ähnlich wäre“ (Peters 1947, 12f), schreibt er weiter: „Wem die ganze Schwere des Schlages klar ist, den Deutschland bekommen hat, und von dem noch völlig ungewiß ist, ob eine Erholung möglich ist, dem dürften wohl Zweifel aufsteigen, ob nicht mancherlei was jetzt geschieht und sich stolz ‚Verfassung‘ nennt, allzu verfrüht ist. Wer meint wirklich, mit überkommenen Rezepten eine von Grund auf veränderte soziale, politische und kulturelle Situation meistern zu können, wenn er mit den Kategorien der bürgerlichen oder der marxistischen Ideenwelt aus dem 19. Jahrhundert neue Gestaltungen versucht?“ (Peters 1947, 13f). Wenn in diesen Sätzen einerseits ein grundlegendes politisches Kontingenzbewußtsein aufscheint, das sogar – gewissermaßen wissenssoziologisch – nach der kategorialen Angemessenheit der meistens aus dem 19. Jahrhundert stam-
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menden Denkformen und institutionellen Elemente des bisherigen Politikrepertoirs fragt, so muß man angesichts der von Peters gleichzeitig auch in diese Schrift wiederum ohne weitere Begründung eingeführten katholisch-naturrechtlichen Prämissen „einer organischen Staatsauffassung“, nach der „Staat wie Volk natürliche Gebilde – der Staat als eine für die Entwicklung der Menschheit notwendige Gesellschaftsform, das Volk als kulturelle biologische Einheit –“ (Peters 1947, 7) darstellen, feststellen, daß es sich bei Peters gewissermaßen um eine halbierte Kontingenz handelt. Es wäre wohl in diesem Zusammenhang auch angemessen, dem in seinen Schriften bekennenden Christen mit der Bibel vorzuhalten, er ,sehe den Balken im eigenen Auge nicht‘. Steht also für Peters die „natürliche Ordnung von Staat und Gesellschaft“ als Teil einer religiösen Gewißheit und normative Richtschnur politischen Entscheidens und Handelns nicht zur Disposition, so ergeben sich angesichts der ,unklaren‘ realpolitischen Lage gleichwohl Notwendigkeiten und Zwänge politischen Entscheidens unter Bedingungen großer Ungewißheit über die jeweiligen Maßstäbe. In der grundlegend neuen ,Lage‘ erscheint Peters der ungeprüfte Rückgriff auf Früheres als „eine durch die Not oder durch die geistige Armut erzwungene Unfruchtbarkeit, die, um ein Eingeständnis eigener Ideenlosigkeit zu vermeiden oder um sich der Notwendigkeit einer längeren Zeitspanne zum Heranreifen heute erst vage erfühlter Ideen zu entheben, eine unmittelbare Anknüpfung an das Jahr 1933 oder an das Verfassungsrecht einer unserer Besatzungsmächte versucht“ (Peters 1947, 14). Unter Verweis auf seine 1946 veröffentlichten Gedanken zur grundlegenden Rolle der Kultur heißt es: „Aber einen Nutzen sollten wir gerade aus unserem Zusammenbruch ziehen; es ist vielleicht der einzige Vorteil, den uns das Nichts bietet, vor dem wir auch nach zwei Jahren sogenannten Wiederaufbaus noch stehen: Statt mühsam historisch Überholtes wieder aufzunehmen für den Versuch des vorübergehenden Einbaus in unser öffentliches Leben, sollten wir Umschau halten nach den ewigen Werten und lebenskräftigen Trägern unserer künftigen Kultur und daraus auch die neuen Ideen für unseren demnächstigen Verfassungsbau ableiten“ (Peters 1947, 15). Drei Akzente sind also neben der katholischen Fundierung durch Peters bereits einführend gesetzt: eine bloße Übernahme und Fortführung früherer Staats- und Rechtskonstruktionen aus der Zeit vor 1933 ist nicht opportun, weil die Lage grundlegend verändert ist; deutlich, deutlicher als in seiner Schrift von 1946, die noch gegen das verbreitete Antiparteienressentiment deren „Notwendigkeit“ betonte und konstruktiv über ein zukünftiges Parteiensystem nachdachte, kommt nun seinerseits bei Peters ein Ressentiment gegen die sich etablierende parteipolitische Elite – vor allem auf Länderebene – zum Durchbruch, die angeblich nur „altes Gezänk“ (Peters 1947, 13) wiederaufleben lasse; und drittens müsse das zukünftige Verfassungsleben auch in seinen institutionellen Formen Ausdruck der „künftigen Kultur“ des deutschen Volkes sein und dürfe nicht von den „Besatzungsmächten“ einfach abgeschaut und übernommen
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werden. Der oben zitierte „natürliche“ Volksbegriff schlägt sich hier in einem bereits in den Titeln programmatisch zum Ausdruck gebrachten, zwar inhaltlich nicht auftrumpfenden, aber normativ zentralen Nationalismus nieder: es geht um „deutschen“ Föderalismus und nachfolgend um „deutsche“ Demokratie für das „deutsche Volk“, und das soll nicht jeweils Föderalismus und Demokratie ,in‘ Deutschland bedeuten – sondern dem Sinne nach ,in deutscher Art aus einer eigenen zukünftigen Kultur erwachsend‘, eben „sui generis“ (Peters 1947, 76). Auch wenn eingangs im Sinne der katholischen „organischen Staatsauffassung“ von der „natürlichen“ Tatsache des „Volkes“ die Rede war, so ist Peters’ politisches Denken doch eher national als völkisch, orientiert vor allem an dem überragenden Ziel der Wiedererrichtung eines „demokratischen deutschen Gesamtstaates“ (Peters 1947, 45). „Die Volkstumsidee“, von den Nationalsozialisten politisch mißbraucht, könne „nicht mehr als genügend tragfähige Basis deutscher Einigungsbestrebungen anerkannt werden“ (Peters 1947, 36); das „entscheidende Bindemittel deutscher Staatlichkeit“ sei heute vielmehr „das rund tausendjährige Zusammengewachsensein zu einer staatlichen Einheit und zu einer großen Kulturgemeinschaft“ schreibt Peters im Hinblick auf „jenes staatliche Gebilde in Mitteleuropa“ (Peters 1945, 37), mit dem nur das ehemalige und damals bereits seit fast 150 Jahren untergegangene „Reich“ gemeint sein kann, dem er offenkundig nach 1945 realsoziologisch weiterhin die Bindungskraft einer „Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft“ (Kielmansegg 1996, 55) zutraut, auf die die Legitimität eines zukünftigen deutschen Gesamtstaates aufbauen könnte. Zu seiner Forderung, realistisch und empirisch von der entstandenen Lage auszugehen, will das allerdings nicht recht passen, denn jenseits einer kleinen bildungsbürgerlichen Intellektuellenschicht dürfte die Berufung auf dieses „Reich“ schon wegen des Mangels konkreter Geschichtskenntnisse keine politische Wirkung entfaltet haben können. Als zusätzliches Argument fügt Peters eine geopolitische Stabilitätsbegründung für Europa an, das „einen wirklichen Staat, der – militärisch entmachtet – als selbständiges Gebilde, nicht willenlos im Schlepptau einer einzigen Macht, die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Brücke zwischen den gewaltigen Machtfaktoren darstellt“ (Peters 1947, 74), braucht. In diesem Zusammenhang bekommen die von mir als „kryptisch“ bezeichneten Hinweise auf eine Vermittlung „zwischen Ost und West“ in der Schrift von 1946, nun 1947, auf dem Hintergrund des nicht mehr zu leugnenden Kalten Krieges und der sich damit abzeichnenden OstWest-Spaltung einen konkreteren, nämlich deutschland- und außenpolitischen Sinn: „Daß die Welt mit einer quer durch Deutschland gehenden Linie in zwei sich entgegenstehende Teile zerlegt würde, ist heute für jedermann einleuchtend. Zerfällt das mitteleuropäische Bindeglied Deutschland, dann ist mit dessen Vernichtung auch die Zerreißung Europas und das harte Aufeinanderprallen unversöhnlich erscheinender Gegensätze besiegelt. Ein Deutschland aber, das infolge der verschiedenen, in ihm zur Auswirkung kommenden politischen
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Kräfte gezwungen ist – schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb – die Synthese zu finden und sich nicht auf eine Seite zu verschreiben ... muß und wird, als organisierte Einheit eine neue große geschichtliche Aufgabe zu erfüllen haben“ (Peters 1947, 38). „Schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb ...“ wird Deutschland hier, wenn auch für den Erhalt Europas, doch erstaunlich schnell wieder eine „geschichtliche Aufgabe“ angedient. Unabhängig von der Tragfähigkeit der Begründungen steht also für Peters die politische Orientierung an zukünftiger deutscher Gesamtstaatlichkeit fest. Von diesem Ausgangspunkt her kommt es zur Forderung nach einem „deutschen Föderalismus“ angesichts einer politisch fremdbestimmten Ausgangslage und den aus der Sicht Peters’ unklaren Zielen der Besatzungsmächte einerseits, angesichts des „Wiedererstehen(s) staatlicher Lebensäußerungen von unten nach oben“ (Peters 1947, 56) andererseits. Beides wird von Peters als potentielle Gefahr für die Wiederentstehung eines deutschen Gesamtstaates angesehen. Sein nachfolgendes Plädoyer für den Föderalismus ergibt sich, jedenfalls in den politischen Schriften aus dieser Zeit, also erstaunlicherweise nicht direkt aus seiner immer wieder proklamierten katholisch „organischen Staatsauffassung“ – wenn sie auch natürlich mit dieser im vollen Einklang steht. Es geht ihm vielmehr hauptsächlich darum, das drohende Auseinanderbrechen Deutschlands oder möglichem Seperatismus durch ,Föderalismus‘ zu begegnen. „Anders als etwa hinsichtlich Preußens, dessen historische Mission allgemein als erfüllt und dessen geschichtliche Stunde als vorüber erkannt wird, ist die Meinung hinsichtlich Gesamtdeutschlands“, beschreibt Peters die zeitgenössische öffentliche Meinung, und folgert daraus, besonders an die Besatzungsmächte gerichtet: „Diese seltene Einmütigkeit aller, auch solcher Leute, deren friedliche Gesinnung und deren Kulturwille außer Zweifel steht, sollte doch allen Schwankenden im In- und Ausland zu denken geben!“ (Peters 1947, 45). Methodisch müsse man zur Entdeckung dieser angemessenen Formen zukünftiger Politik- und Staatsverfassung „zunächst Vorhandenes und Zukunftsmöglichkeiten, Worte und Lehren, wie sie aus dem In- oder Ausland kommen, argwöhnisch und vorsichtig abtasten“, man kenne „den Bedeutungswandel von Rechtsbegriffen ebenso wie die normative Kraft des Faktischen, um beiden gegenüber das notwendige Verständnis, aber auch die erforderliche Kritik entgegenzubringen“ (Peters 1947, 17): In seiner nachfolgenden Schrift zur „deutschen Demokratie“ schreibt er, „die Beantwortung nach der für die Deutschen geeigneten Spielart der Demokratie“ könne nur dadurch gelingen, „den empirischen Begriff der Demokratie“ von einem Idealtyp zu trennen; der „für Deutschland gültige Idealtyp“ wiederum könne „nur auf empirischem Weg gefunden werden, wenn anders man nicht die vom Nationalsozialismus überkommene unwissenschaftliche Arbeitsmethode fortsetzen“ wolle (Peters 1948, 14). Dazu fällt einem Carlo Schmids zeitgenössisches Diktum über eine konservative Denktradition in Deutschland ein, nach der es Leute gäbe, die meinten, „daß die Demokratie überhaupt für die Deutschen nichts tauge; wenn schon, dann nur eine ‚ei-
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genständige‘ Demokratie, wie man das nannte. Damit öffnete man das Tor allen jenen Beiwörtern, deren einziger Zweck zu sein scheint, das Hauptwort seines Sinnes zu entkleiden“ (Schmid 1948, 20). Soweit muß man in der Beurteilung Peters mit seiner „deutschen Demokratie“ nicht gehen, auch wenn bei ihm die Gefahr der Instrumentalisierung der Demokratie deutlich erkennbar wird – nicht zuletzt für eine religiöse Erneuerung des Menschen, wie noch zu zeigen sein wird. In der Umsetzung dieses methodischen Programms geht Peters in beiden Schriften ähnlich vor: nach einer einleitenden Kurzfassung seiner „Bilanz der letzten 12 Jahre“ aus der Schrift von 1946 und der Begründung der Notwendigkeit eines fundamentalen Neuanfangs bemüht er sich – erkennbar auch in der Absicht, politische Bildung zu vermitteln – um die Klärung von „Begriffen“. 1947 geht es dabei um die Unterscheidungen zwischen Unitarismus und Föderalismus, um Staatenbund und Bundesstaat einerseits und Einheitsstaat andererseits – wobei er nochmals ausführlich auf seine 1928 entwickelte Unterscheidung Zentralisierung-Dezentralisierung eingeht, der in jeder Staatsform eine unabhängige Bedeutung zukomme. „Deutschland“ sei nur einmal in seiner Geschichte, „und zwar von 1934 bis 1945 Einheitsstaat“ gewesen (Peters 1947, 27), den Peters wegen seiner inneren Zentralisierungstendenz immer durch die Entwicklungsmöglichkeit zum „totalen Staat“ gefährdet sieht (Peters 1947, 27); wenn auch ein dezentraler Einheitsstaat prinzipiell möglich sei, wie das Beispiel Frankreichs zeige, ergibt sich von hier Peters’ bereits im Buch von 1946 nachgewiesenes Plädoyer. Allerdings könne nur dezentralisiert werden, was eine Einheit darstelle, wie die immer wiederholte Prämisse seiner Lehre von 1928 lautet, so daß auch die gegen den „totalen Staat“ gewendete Dezentralisierungsforderung im logischen Einklang mit seiner Forderung nach einem nationalen Gesamtstaat bleiben kann. Im Buch von 1948 gilt es angesichts der allgemein geteilten und von den Besatzungsmächten auferlegten Forderung nach zukünftiger Demokratie „zu untersuchen, ob von einem allgemein anerkannten einheitlichen, klaren Begriff der Demokratie überhaupt die Rede sein kann“ (Peters 1948, 14); die Frage ist offensichtlich rhetorisch gestellt und zu verneinen, aber sie gibt Peters die Gelegenheit, wiederum in einführender Absicht Varianten der Demokratie und ihrer normativen Begründung zu diskutieren – und eröffnet zugleich die von Peters argumentativ gesuchte Möglichkeit, einen für die spezifischen Bedürfnisse und geschichtlichen Gegebenheiten des gewünschten deutschen Gesamtstaates zu konstruieren. Auf die Bildung vermittelnden und einführenden Abschnitte soll hier nicht weiter eingegangen werden; sie sind in diesem Sinne keine Zeugnisse originellen politischen Denkens. Wichtiger erscheinen mir jene Passagen, in denen Peters auf der Basis seiner politischen Situationsdefinition und vor dem Hintergrund von Handlungsmöglichkeiten und wahrgenommenen Restriktionen eine eigene politische Argumentation entfaltet.
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„Es lag außerhalb deutscher Willensbestimmung, wie der staatliche Aufbau begonnen hat“, nämlich, wie bereits zitiert „von unten nach oben“, die „ersten obrigkeitlichen Lebensäußerungen“ fingen „in den Gemeinden an. Das von vier Großmächten besetzte Deutschland vermochte anfänglich kaum noch Lebenszeichen von sich zu geben. Mit Hilfe der Alliierten Mächte gelang es dann, als nächste Stufe die früheren Länder (außer Preußen) und die preußischen Provinzen (jetzt Länder) zum Leben zu erwecken“ (Peters 1947, 55f). Nun folgt der bereits eingangs zitierte Satz und wird aus seinem Kontext verständlich: „Kein Mensch weiß bis zum heutigen Tag ganz sicher, was diese Gebilde juristisch sind. Aber da irgendein deutscher Staat nicht funktionierte, übernahmen die Länder diejenigen Staatsaufgaben, deren Erfüllung augenblicksnotwendig war. Ob und wieweit ihre Zuständigkeit bestand, war cura posterior. Man tat zunächst aus einem Notstandsrecht heraus, was unerläßlich erschien, unbekümmert, ob man damit Reichs-, Landes-, oder kommunale Aufgaben erfüllte“ (Peters 1947, 56). Peters beobachtet kritisch, daß diese Situation den Ländern beziehungsweise ihren Vertretern geradezu strategische Handlungsmöglichkeiten eröffnete, einerseits, „wenn es bequemer schien, Aufgaben und Verantwortung dem völkerrechtlich fremden Organ, der Okkupationsmacht zuzuschieben“, andererseits „wo es staatliche Rechte geltend zu machen galt, war man schnell bei der Hand, und sei es auch nur durch die Beanspruchung von Titeln einer ‚Landesregierung‘, von ‚Ministern‘ usw. Wenn aber Lasten zu übernehmen waren, bestritt man gern Kontinuität und Rechtsnachfolge“ (Peters 1947, 56f). „Gegen den Willen der Besatzungsmächte hätte sich diese Entwicklung natürlich nicht vollziehen können, aber sie war faktisch so stark, daß sie sich im Wesentlichen auch in Gegenden durchsetzte, in denen Allierte wie Deutsche eine andere Entwicklung lieber gesehen hätten“ (Peters 1947, 57). Peters betrachtet aus seiner politischen Perspektive diese teilweise Usurpation gesamtstaatlicher Aufgaben durch die Länder mit Sorge, aber die entstandene Lage selbst als kontingent entstandenes und nichtrevidierbares Faktum: „wir beobachten hier einmal die normative Kraft des Faktischen und die Richtigkeit des Satzes, daß der zielbewußt Handelnde vor dem abwartend Zögernden einen Vorsprung hat. ... Eine Länderbildung hat sich vollzogen; ja sogar Neubildungen wie Nordbaden-Württemberg, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen existieren. ... Diese Länder heute zu leugnen, bedeutet lediglich Vogelstraußpolitik“ (Peters 1947, 57). Angesichts seiner vorangegangenen definitorischen Begriffsbestimmungen hat diese kontingent entstandene Lage aber zumindest zwei Konsequenzen: Gedanken über einen Einheitsstaat und den Grad seiner Zentralisierung oder Dezentralisierung braucht man sich nicht mehr zu machen – wie man sieht, hält Peters eine spätere Rezentralisierung zum Einheitsstaat, wie sie in der DDR faktisch stattgefunden hat, für politisch und historisch ausgeschlossen. Aber auch ein Staatenbund als Zusammenschluß selbständiger Staaten käme wegen des juristisch-völkerrechtlich zweifelhaften Legalstatus der Länder jedenfalls nicht in Betracht – auch wenn einige Länder, darunter vor al-
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lem Bayern, sehr stark ihre Eigenstaatlichkeit zu festigen trachteten. Bei Peters verschwimmen hier die juristischen und politischen Argumente zu einer eindeutigen Ablehnung der Eigenstaatlichkeit aus Sorge um die gefährdete aber erwünschte Gesamtstaatlichkeit. Deswegen sollte nach Peters 1947 – zu einem Zeitpunkt, zu dem die meisten Länder bereits eigene Verfassungen besaßen – politisch die Frage „nach der juristischen Natur dieser Länder“ „offen bleiben bis zur Entscheidung über den Aufbau des deutschen Gesamtstaates“. „Sie sind eben rechtlich ‚Länder‘, und es besteht nur für Formaljuristen, die einem geschichtlichen Werden fremd gegenüber stehen, ein Zwang, diese ‚Länder‘ in eine(n) der überkommenen staatsrechtlichen Begriffe wie Staat oder Provinz usw. einzuordnen“ (Peters 1947, 58). Die „normative Kraft des Faktischen“ führt Peters also dazu, anzuerkennen: „daß in verschiedenen Teilen Deutschlands regional gebundene selbständige politische Kräfte am Werke sind. Diese nennen wir in der überkommenen Terminologie föderalistisch“ (Peters 1947, 59). „Damit ist – einfach unter Anerkennung des seit 1945 begonnenen Wiederaufbaus in den Teilen – das föderalistische Prinzip als selbstverständlich festgelegt“, heißt es an anderer Stelle (Peters 1947, 76). Es klingt fast etwas resignativ, wenn Peters feststellt: „Es ist nun einmal eine Tatsache, daß die politische Betrachtung des deutschen Gesamtschicksals, der staatsorganisatorischen Probleme sowie kultureller, sozialer, ja selbst wirtschaftlicher Fragen ... trotz vieler, oft unterschätzter Gemeinsamkeiten, anders geartete politische Kräfte zur Wirkung bringt“ (Peters 1947, 59), aber „wer einen Staat demokratisch organisieren will, darf nicht so intolerant sein, dem, der über irgendwelche Fragen anders denkt, die Lebensrechte zu verweigern. Das gilt auch hinsichtlich der föderalistischen Kräfte“ (Peters 1947, 60). „Gewiß können diese verschiedenen Kräfte auseinanderstreben und den deutschen Gesamtstaat zerreißen“, aber gerade die „Unterdrückung dieser Kräfte“ könnte „noch verhängnisvollere Wirkungen“ zeitigen (Peters 1947, 61). Die einzige Möglichkeit besteht also in wirksamer Integration, womit wir wieder bei dem von Peters geteilten Integrationsverständnis Rudolf Smends angelangt sind, wenn Peters fordert: „daß die durch die Länder repräsentierten Kräfte zu einer Einheit zusammengeführt, daß sie wie in einem Kräfteparallelogramm mit den von anderen politischen Faktoren getragenen Ideen zum Ausgleich gebracht und zu einer wirklichen Einheit zusammengeschweißt werden“ (Peters 1947, 61) – der des deutschen Gesamtstaates eben. Der „Ausgleich“ der Interessen und unterschiedlichen Ziele allein tut es – wie man an der Sprache erkennen kann – eben alleine nicht: erst zu „einer wirklichen Einheit zusammengeschweißt“ kann der deutsche Gesamtstaat offenkundig erneut „großen Ideen dienstbar“ gemacht werden (Peters 1946, 61). Nur beiläufig erwähnt Peters die normalerweise für die Begründung föderalistischer Ordnungen normativ zentrale Funktion der Freiheitssicherung: „So können zumindest föderalistische Tendenzen sogar stärkere Schutzwälle der Freiheit sein als unitarische“, wie
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Peters mit dem für ihn kennzeichnenden Nachsatz feststellt, „wenn man sie nur im Interesse des Gemeinwohls einzubauen versteht“ (Peters 1946, 62). Peters geht im Folgenden auf institutionelle Einzelheiten der möglichen Ausgestaltung ein, die teilweise der nachfolgenden Demokratieschrift vorgreifen und eher aus der Perspektive der Regierungslehre von Interesse sind; das kann hier ausgespart bleiben. Von Interesse ist angesichts des sui-generis-Charakters des „zu schaffenden Gebildes Gesamtdeutschland“ bei dem „zunächst dahin gestellt bleiben kann“, ob es „ein Bundesstaat im hergebrachten Sinne ist oder ein Wesen sui generis“ (Peters 1947, 76), allerdings die verfassungs- und machtpolitisch bis heute interessante Frage der Kompetenzkompetenz. Peters vertritt hier – offenkundig hin und her gerissen zwischen seiner antitotalitären Ablehnung des Einheitsstaates und seiner staatsintegrationistischen Präferenz für einen starken Gesamtstaat – einen Kompromiß: „M.E. sollte zwar die Kompetenzkompetenz beim Gesamtstaat liegen, aber durch das Erfordernis der Zustimmung der förderalistischen Kammer gegenüber unitarisierenden Übertreibungen unschädlich gemacht werden“ (Peters 1947, 78) – daß sich die Länder eines Tages aus Finanznot dabei Kompetenzen vom Bund würden abkaufen lassen, konnte er sich offenkundig nicht vorstellen. Daß er zudem eine Zweite (Länder-)Kammer zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung mit dem Argument vorschlägt, damit würde im Sinne der Gewaltenteilung das „Übergewicht über alle anderen Staatsorgane“ der „Volksvertretung“ verhindert (Peters 1947, 83) und „eine weitere Sicherung sowohl positiv im Sinne der Vertretung möglichst vieler im Volke vorhandener Strömungen als auch negativ vor Übergriffen des Gesetzgebers gegeben“ (Peters 1947, 84), leitet bereits zum Thema „Demokratie“ über. Sie ist, wie der Föderalismus, durch die politische Lage aufgegeben, und Peters vertritt sie ohne Einschränkung, allerdings mit der Skepsis, daß ein Zuviel an direkter „Volksvertretung“ wiederum der Freiheit würde gefährlich werden können. „Nach einem totalen Zusammenbruch ... steht heute Deutschland ... ideell und materiell verarmt, hungernd, verzweifelt und mißtrauisch vor der Aufgabe, seinen Staat unter Aufsicht und mit Hilfe von vier untereinander uneinigen Besatzungsmächten neu aufzubauen. Gestellt ist die Aufgabe, die Idee der Demokratie im eigenen Lande zu verwirklichen“ (Peters 1948, 5). Mit diesen beiden sprachlich verräterischen Sätzen beginnt Peters seine dritte politische Veröffentlichung. Sie verraten, mehr als ihm vielleicht bewußt ist, seine innere Distanz vor der ,gestellten Aufgabe‘ und das genannte ,Mißtrauen‘ ist bei aller grundsätzlichen Befürwortung der Demokratie offenkundig auch sein eigenes. In dieser grundsätzlichen Befürwortung der Demokratie schwingt immer und unüberhörbar auch der Hinweis auf ihre „Problematik“ mit, die Peters ja bereits in den Titel seiner Schrift aufgenommen hat. Er steht mit dem Hinweis auf die „Gefahren der modernen Demokratie“ – so der Titel einer gleichzeitigen Veröffentlichung von Hans Zbinden (Zbinden 1948) – keineswegs allein; Franz W. Jerusalem beispielsweise befürwortet die Demokratie auch nur „richtig gesehen“ (Jerusa-
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lem 1947). Davon wird in einem abschließenden Abschnitt des Buches noch die Rede sein, in dessen Zusammenhang Peters’ Schrift über die Demokratie von 1948 systematisch gehörte. Ich verfahre hier aber weiter danach, das politische Denken der Autoren in seinem geistigen Zusammenhang jener Jahre zu beschreiben. Auf sein methodisches Vorgehen wurde bereits hingewiesen. Peters versucht, aus einer vergleichenden Betrachtung etablierter Demokratien induktiv den „Gehalt“, die „formalen Elemente“ und die „Ethik“ der Demokratie im Allgemeinen zu erschließen, um dann unter Berücksichtigung der deutschen Kultur und besonderen Lage „der für die Deutschen geeigneten Spielart“ (Peters 1948, 14) auf die Spur zu kommen; auch hier sollen vor allem seine Empfehlungen von Interesse sein und seine eher einführenden Darstellungen nur insoweit, als sie charakteristische Besonderheiten aufweisen. Auffällig ist zum Beispiel, daß er neben den zu erwarteten Demokratien der Schweiz, USA, Englands und Frankreichs auch die Sowjetunion aufführt. Die in dieser angeblich ,empirischen‘ Betrachtung der bolschewistischen Diktatur liegende mehrfache Verkennung des tatsächlichen Charakters der Herrschaft in der Sowjetunion ist aus heutiger Sicht schon verblüffend. Dort habe sich „eine Staatsform herausgebildet, die die tautologische Bezeichnung ‚Volksdemokratie‘ führt. „Der russische Bolschewismus hatte nach der siegreichen Revolution diejenigen Staatsbürger, die nicht zur Klasse des Proletariats gehörten oder sich zumindest nicht darin einfügen ließen oder wollten, ausgemerzt und dann auf der Basis der Arbeiter und Bauern, und insoweit Gleichheit aller, eine Demokratie mit nur einer Partei aufgebaut, die alle Staatsgewalt in die Hand des durch die gewählte Volksvertretung aktiv werdenden Volkes (im vorstehenden engeren Sinne) legt und von den demokratisch gewählten Sowjets ausgeübt wird“ (Peters 1948, 21). Diese „Demokratie neuer Art“ habe nach Peters zwar einen „kollektivistischen Grundcharakter“ und sei „bewußt totalitär“, was ihn merkwürdiger Weise aber nicht darin hindert, neben der Feststellung zu den „demokratisch gewählten Sowjets“ auch noch von einer „auf demokratische Weise erfolgenden Willensbildung – allgemeine, gleiche Wahlen, Mehrheitsprinzip usw.“ (Peters 1948, 21f) zu schreiben. Was ihn an diesem Typus, den man „mit ähnlicher letzter Zielsetzung ... in den im sowjetischen Machtbereich liegenden Staaten Osteuropas“ einzuführen dabei sei (Peters 1948, 22) – die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands erwähnt er nicht eigens oder sollte er sie bereits zu ,Osteuropa‘ zählen? – besonders charakteristisch und politisch bedenklich erscheint, ist die angesichts der faktischen Parteiherrschaft des Politbüros absurd erscheinende Annahme einer „Allmacht des Parlaments“ (Peters 1948, 23) – ein Gedanke, der bereits in der Föderalismusschrift als Gefahr für die Demokratie begegnete. Sie führe zur von Peters abgelehnten „absoluten Demokratie“ (Peters 1948, 98) oder sei wie in der Sowjetunion „totalitär“; für beide Typen findet Peters den plastischen Ausdruck der „einspurigen Demokratie“ (Peters 1948, 58). Denn „eine Gefahr für die moderne Demokratie liegt in ihrer Hemmungslosig-
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keit, die allzu leicht zur Totalität des Staates führt“, was bedeutet, „daß man selbst dem Volke gelegentlich politische Hemmungen auferlegen muß“ (Peters 1948, 50f). Da aber jede „Spielart“ der Demokratie sich vom Prinzip der „Volkssouveränität“ allein her legitimieren könne (Peters 1948, 25), sei neben der föderalen Willensbildung innerhalb der Länder und ihrer Beteiligung an der gesamtstaatlichen Gesetzgebung die gewissermaßen ,mehrspurige‘ „Gewaltenteilungslehre“, nach der die „Gesetzgebung, Rechtssprechung und Verwaltung je in der Hand voneinander organisatorisch getrennter Staatsorgane liegen sollen“ (Peters 1948, 50), ergänzt durch einen „Grundrechtskatalog“ (Peters 1948, 52) das geeignete Gegenmittel. Der Fehler aller „einspurigen“ Auffassungen „absoluter“ oder „totalitärer“ Demokratie sei aber, daß sie nicht anerkennten, „daß in jeder echten Demokratie alle Organe Volkswillen repräsentieren“ (Peters 1948, 52). Ebenso erstaunlich ist freilich, daß der nach seinen eigenen Worten systematisch-empirisch bei den real praktizierten Demokratien ansetzende Peters neben der Sowjetunion und den bereits erwähnten ,klassischen‘ Demokratien des weiteren die „von der Bewegung der Moralischen Aufrüstung (Moral ReArmament) als inspirierte Demokratie“ vertretene Auffassung als eigenständigen Typus aufführt (Peters 1948, 24). Offenkundig mit großer Sympathie stellt Peters fest, daß „hier die Demokratie primär von der ethischen Seite“ erfaßt würde (Peters 1948, 24), ja mehr noch, daß die namengebende Inspiration dann erfolge, „wenn die für das Volk handelnden Staatsmänner ‚auf Gott hören‘, sich also bei ihren Entscheidungen von Ihm inspirieren lassen“ (Peters 1948, 24). Das lesend muß man anfangs des 21. Jahrhunderts unwillkürlich an Zeitungsberichte denken, nach denen ein gewisser US-amerikanischer Präsident angeblich Kabinettssitzungen mit einem gemeinsamen Gebet eröffnen läßt und sich gleichzeitig im politischen Konflikt mit theokratischen Fundamentalisten sieht. Bei Moral Re-Armament (MRA) handelt es sich um die von Frank Buchman gegründete, geistig inspirierte und über Jahrzehnte geführte internationale evangelikale Bewegung, die 1946 in Caux oberhalb des Genfer Sees ein Missions- und Tagungszentrum eröffnete, das zeitweise auch in Europa politisch über großen Einfluß verfügte. Die zwischen 1948 und 1950 in Deutschland, insbesondere in den industriellen Ballungszentren Nordrhein-Westfalens offenkundig mit Unterstützung der englischen und US-amerikanischen Besatzungsmacht von 260 Mitarbeitern von MRA durchgeführte Missionierungskampagne ist bisher nicht wissenschaftlich erforscht worden – so wie überhaupt die Literatur zu MRA überwiegend auf Eigendokumentationen beruht, deren Wahrheitsgehalt schwer einzuschätzen ist. Nach den von MRA veröffentlichten Dokumenten scheint die Bewegung und ihr Anführer zeitweilig in den USA großen Einfluß gewonnen zu haben. Dokumentiert ist von deutscher Seite nach 1945 die Unterstützung durch die nordrhein-westfälische Landsregierung. Die damalige Kampagne geht zurück auf eine Einladung von „150 German leaders“, die „with the assistance of General Clay, as well as Lord Pakenham“ 1947 sich das erste erste Mal in Caux auf-
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hielten und mit den Ideen der „inspired democracy“ im Gesamtzusammenhang der evangelikalen Erlösungsverheißung bekannt gemacht wurden. Bezeugt ist die Teilnahme unter anderem der Ministerpräsidenten Karl Arnold (NordrheinWestfalen), Reinhold Maier (Württemberg-Baden), Hans Ehard (Bayern) und Gebhardt Müller (Württemberg-Hohenzollern), an späteren Treffen von Konrad Adenauer, Gustav Heinemann, aber auch dem Gewerkschaftsvorsitzenden Hans Böckler sowie einiger westdeutscher KPD-Mitglieder, die anschließend als ,wiedergeborene Christen‘ im regionalen Parteivorstand eine Säuberungsaktion der Parteizentrale notwendig machten; Robert Schuman führt die Liste der prominenten internationalen Gäste an und schreibt ein Vorwort zur französischen Ausgabe der Reden von Buchman. Von Konrad Adenauer und Karl Arnold sind Dankesbriefe und Unterstützungszusagen dokumentiert (nach Howard 1951, 26f; siehe auch Mowat 1955 mit prominenten Bekenntnissen zu MRA). Es ist nicht ausgeschlossen, daß Hans Peters zu einem frühen Zeitpunkt an einem der Treffen teilgenommen hat. Vielleicht hat er auch die in Deutschland und weltweit von zahlreichen Radiostationen am 4. Juni 1947 übertragene Rede Buchmans „The Good Road“ gehört, in der das Konzept der „inspired democracy“ als die „answer to Communism“ (Buchman 1955, 152) bezeichnet und propagiert wird. Angesichts der Verurteilung der MRA durch die Katholische Kirche (Portella 2000), ist allerdings Peters’ positive Berufung auf dieses evangelikale Konzept ebenso überraschend wie die große Zahl der anderen Katholiken unter den Sympathisanten von Buchman. Der hatte MRA als Nachfolger der sogenannten Oxford Gruppe 1938 in London mit einer Rede aus der Taufe gehoben, deren Kernsätze lauten: „The world’s condition cannot but cause disquiet and anxiety. ... The crisis is fundamentally a moral one. ... God alone can change human nature. The secret lies in that great forgotten truth that when man listens, God speaks; when man obeys, God acts; when men change, nations change. That power active in a minority can be the solvent of a whole country’s problems. Leaders changed, a nation’s thinking changed, a world at peace with itself“ (Buchman 1955, 46f). An anderer Stelle heißt es: „There is a tremendous power, too, in a minority guided by God. Think of a person like Joan of Arc“ (Buchman 1955, 63). Politologisch ist der Übergang von der individuellen Erweckung (rebirth) Einzelner über die Konversion einer Minderheit hin zu den Eliten und ,leadern‘, die eine Nation und schließlich die Welt zu versöhnen in der Lage seien, von Interesse; die Strategie ist eindeutig elitenorientiert, will zwar jedes einzelne Individuum religiös erwecken, erwartet aber die politische Veränderung ,von oben‘. Gleichzeitig ist die permanente Predigt des Frank Buchman, die in Zeiten des Krieges bereits weltweit über Rundfunk und auch schon „television“ verbreitet wird, selbst als „guidance“ konzipiert: „guidance is an absolute necessity and the irriducable minimum to keep millions spiritually and physically alive ... MRA is the great central revolutionary force“ (Buchman 1955, 109f); man achte auf das „central“ und den damit erhobenen geistiggeistlichen Führungsanspruch.
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Bereits das Ziel seiner Vorläuferorganisation, gegründet Anfang der zwanziger Jahre und nicht ohne Erfolg an zahlreichen Eliteuniversitäten der Ostküste und in England tätig, „ever since the last war has been to give a whole new pattern for statesmanship and a whole new level of responsible thinking“ (Buchman 1955, 60). Außerdem ruft Buchman zu einer militanten, auch militärischen Bekämpfung des gottlosen Materialismus in jeglicher Gestalt auf – die Publikation von MRA „You Can Defend America“ mit einem Vorwort des General Pershing wird in 1.3 Millionen Exemplaren im Zuge der US-amerikanischen Mobilisierung verbreitet (Buchman 1955 117). Die Mission ist also bis 1945 gleichermaßen antinationalsozialistisch wie antikommunistisch: „Today we see three ideologies battling for control. There is Facism, and Communism, and then there is that great other ideology which is the centre of Christian democracy – Moral Re-Armament“ (Buchman 1955, 146), schreibt er nicht ohne Anflüge von Größenwahn. Trotzdem darf man den Einfluß dieser evangelikalen Bewegung auf Teile der politische Eliten in den USA und Europa nicht unterschätzen. Der spätere US-Präsident Truman gehört ebenso zu ihren Sympathisanten wie wichtige Kreise innerhalb der US-amerikanischen und britischen Generalität, die den mobilisierenden „spirit“ von MRA zu nutzen wissen (Buchman 1955, 130). Der strikte Antikommunismus, der nach 1945 praktisch übrig bleibt, wird zum Erfolg der Bewegung in Zeiten des Kalten Krieges kräftig beigetragen haben. Solcherart ist also die geistige Inspiration, die Peters vor allem in der Darstellung der ethischen Elemente der von ihm bevorzugten „Spielart“ der Demokratie offenkundig für notwendig erachtet, um seinen ja bereits entwickelten katholisch religiösen und naturrechtlich normativen Grundlagen der Demokratie eine zusätzlich mobilisierende und politisch strategische Schubkraft zu verleihen: „Es ist eines der Verdienste der MRA, mit der Aufstellung des Begriffs der ‚inspirierten Demokratie‘ das Schwergewicht dieser Staatsform vom Formalen und Äußerlichen auf die Gesinnung der unter ihr lebenden Menschen verschoben zu haben“ (Peters 1948, 68f) schreibt Peters, ohne die sehr konkreten evangelikalen religiösen und sittlichen Inhalte überhaupt detailliert zu erwähnen; die Bürger müßten von dieser „Gesinnung“ aber überzeugt und durchdrungen sein, denn „ohne Demokraten gibt es keine Demokratie“ (Peters 1948, 69) – ein Satz, dem auch der Agnostiker oder Atheist zustimmen könnte, hätte die geforderte „Gesinnung“ nicht einen sehr spezifischen Inhalt: „Die ethisch verpflichtende Staatsform, die Gott auch in der Demokratie die Herrschaft läßt, ist daher die ‚inspirierte Demokratie‘ “, wie sie von der MRA propagiert wird (Peters 1948, 77). Religiös oder besser theologisch gesehen sind die Auffassungen Peters’ in diesem Zusammenhang jedenfalls das Beispiel eines sehr merkwürdigen Synkretismus; politisch besteht die Affinität der beiden Auffassungen in dem religiös begründeten Antimaterialismus und der unmittelbaren Berufung auf Gottes angeblichen Willen und Wirksamkeit auch in der Politik, ergänzt um die Furcht vor der „absoluten Demokratie“ (Peters 1948, 98) und der aus ihr re-
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sultierenden Notwendigkeit elitärer Führung der Massen. Erstaunlich ist, daß Peters – wohl bedingt durch seine eigene Religiosität und ihre konstituierende Einbeziehung auch in sein politsches Denken – offenkundig auf einem Auge blind wird gegen die sonst von ihm stets betonte Notwendigkeit der „Sicherung der persönlichen Freiheit ... gegen alle totalitären Bestrebungen“ (Peters 1948, 86f), wie sie in einem so einseitigen, jeglichem Pluralismus widersprechenden religiösfundierten Demokratiemodell zweifellos angelegt sind. In seinen abschließenden Schlußfolgerungen und direkten Empfehlungen einer „für die Deutschen geeigneten Spielart der Demokratie“ sind es denn auch weniger die institutionellen Vorschläge, sondern es ist das ihnen allen zugrundeliegende religiös-ethische Fundament, das Peters’ Modell einer „konstitutionellen Demokratie“ mit „nach Lage der Dinge hier heute unentbehrlichen förderalistischen Elementen“ (Peters 1948, 98) auszeichnet. Man muß dieses Konzept im zeitgenössischen Kontext der Bildung einer überkonfessionellen aber eben „christlichen“ Volkspartei betrachten. Man sieht im Nachhinein, daß es damals starke Kräfte und Einflüsse gegeben hat, die „christliche Union“ in eine noch stärker religiös fundierte Position – heute würde man sie vielleicht ,fundamentalistisch‘ nennen – zu dirigieren, als sie dies in manchen Politikfeldern (vor allem, aber keineswegs nur Erziehung, Bildung, Familie) sowieso schon war. Zwar sei die Sicherung der „Freiheit des Individuums und der natürlichen Gemeinschaften Wesensmerkmal der deutschen Demokratie“ der Zukunft (Peters 1948, 99); das hindert Peters aber nicht daran, sein Buch mit dem Postulat zu beschließen: „Jeder Einzelne wie das ganze Volk müssen sich bewußt in die göttliche Weltordnung einfügen und die ihnen vom Schöpfer zugewiesene Funktion auch erfüllen wollen“ (Peters 1948, 101, hervorgehoben diesmal von mir!) – wohl doch eine erstaunliche Forderung eines ausgewiesenen Verfassungsjuristen in der Moderne, der Grundgesetz, Verfassungsgericht und am Ende auch die „christliche Union“ zum Glück nicht gefolgt sind.
Georg Laforet: Der Föderalismus als organisatorische Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips Mensch Während bei Hans Peters die Forderung nach einer föderalistischen Neuordnung des besetzten Deutschland vor allem mit dem pragmatischen Zweck der Errichtung eines neuen deutschen Gesamtstaates begründet wird, weil nur auf diese Weise den kontingent entstandenen Realitäten nach dem Kriegsende angemessen Rechnung getragen werden könnte, findet sich bei dem katholischen Publizisten Georg Laforet in seiner „an der Wende des Jahres 1946“ geschriebenen Broschüre die explizite Absicht, „in knappen Umrissen die gesellschaftspolitischen Grundbegriffe des Föderalismus aus dem theistisch-thomistischen Zentralbegriff der Ordnung abzuleiten und das Bild eines wahrhaft geordneten
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Gesellschaftskörpers“ (Laforet 1947, IX) präskriptiv zu zeichnen. Der promovierte Philosoph will – anders als der pragmatisch argumentierende Jurist Peters – wie bereits der Untertitel seiner Schrift ankündigt, „Umrissse einer Philosophie des Föderalismus“ mittels einer durch Husserl und Theodor Lipps „begründeten phänomenologischen Methode der logischen Analyse der unmittelbar gegebenen Erlebnisse“ entwickeln, um damit eine „Antwort ... auf die Frage nach dem gesellschaftsphilosophischen ‚Apriori‘ “ (Laforet 1947, IXf) zu geben. „Apriori“ findet sich die „objektive Ordnung als Grundkategorie des menschlichen Denkens“ (Laforet 1947, 23) „im menschlichen Erleben“; sie sei wie „die objektive Form“ und der „objektive Zweck“ dieser „Ordnung“ „vom menschlichen Geist vorgefunden“ (Laforet 1947, 8). Diese auf Thomas zurückgehende, den aristotelischen Gedanken der Teleologie aufnehmende Ontologie erschließe sich dem „phänomenologischen Subjekt“ (Laforet 1947, 19) in vager Analogie zu Husserls Erkenntnislehre „im logischen Erlebnis unmittelbar einleuchtenden und ‚evidenten‘ Inhalt(s)“ (Laforet 1947, 5). Die damit prätendierte Gewißheitsbasis bei der Erkenntnis der „vorgefundenen objektiven Ordnung“ dehnt sich bei Laforet jenseits der Kategorien von Ordnung, Form und Zweck der in der Welt vorgefundenen Erscheinungen auch auf die sittliche Sphäre der unmittelbaren Geltung des Naturrechts aus, das „auf der objektiv im Gewissen sich kundgebenden Wertordnung“ (Laforet 1947, 34) beruht – jedenfalls dem nicht durch „selbstsüchtige Interessen ... erstickten Gewissen“ (Laforet 1947, 51). Dieses „im menschlichen Gewissen evident gewordene sittliche Werturteil ‚gut oder böse‘ hat absolute Geltung“ (Laforet 1947, 57). Die erkenntniskritische Auseinandersetzung mit den problematischen Annahmen einer sich in „Evidenzen“ und dem funktionierenden „(Einzel-)Gewissen“ niederschlagenden „objektiven Ordnung“ einschließlich des „Naturrechts“ kann und muß hier, wo es um die daraus resultierenden politischen Konsequenzen geht, unterbleiben. Bereits mit zwei Aufsätzen in der Zeitschrift „Neues Abendland“ aus dem Jahre 1946 hatte Laforet in vehementer Kritik „eines pseudoethischen Anarchismus“ der „rechtspositivistische(n) Lehre, die sittliche Voraussetzungen des Staates nicht anerkennt und den Geltungsgrund der staatlichen Gesetze lediglich in der Tatsache der staatlichen Normierung sieht“ (Laforet 1946b, 8), die (ideen-)politische Stoßrichtung seiner Veröffentlichungen deutlich gemacht; neben der soziologischen Schule der Staatstheorie eines Ludwig Gumplowicz wird von Laforet auch Max Weber, allein schon wegen seiner ,wertfreien‘ Bestimmung des Staatsbegriffes als dem ,Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit‘ als Vorläufer und Begründer für den „nationalsozialistischen Despotismus“ (Laforet 1946b, 8) mitverantwortlich gemacht, der ihm als Gipfel des bisherigen neuzeitlichen „Staatsabsolutismus“ erscheint. Demgegenüber könne „kein Recht der Einzelnen und der Gemeinschaften ... gegenüber dem Staatsabsolutismus geschützt werden, das seine Gewährleistung nicht aus seinem sittlichen Ursprung empfängt“ (Laforet 1946b, 9); genau um die Begründung und Bewahrung dieses ursprünglichen Rechts auch der „natürlichen Gemeinschaften“ aus
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der vorstaatlichen Geltung sittlicher Ordnung geht es Laforet beim Föderalismus, einem Föderalismus, der in der neuen „Verfassung die Grundgedanken einer ständischen Gliederung der Gesellschaft“ (Laforet 1946a, 10) aufzunehmen hätte. Denn wie die „natürlichen Rechte (des Individuums, M.G.) nicht vom Staate abgeleitet“ werden könnten und nicht in seinem positiven Recht begründet seien (Laforet 1946a, 9), so seien auch die „natürlichen Gemeinschaften, die selbständige, vom Staate unabhängige Rechte besitzen ... aus dem Staat nicht abgeleitet“, sondern müßten von diesem nur „anerkannt werden“ (Laforet 1946a, 10). Als natürliche, also vorstaatliche Gemeinschaften benennt Laforet die Familien, die „auf der Raum- und Lebensverbundenheit der Gemeinschaftsmitglieder beruhenden Gemeinden, sofern sie einen ihrem besonderen Gemeinschaftszweck entsprechenden Wirkungskreis besitzen“ (Laforet 1946b, 10), die „Stände“, die als „kulturelle und wirtschaftliche Leistungsgemeinschaften“ existierten – auch wenn „zugestanden“ sei, „daß es unter den gegebenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen schwer möglich“ sei, „auf einen Schlag und im gegenwärtigen Zeitpunkt jene gesellschaftlichen Ordnungen zu schaffen (Laforet 1946b, 10) –, den Staat, dessen notwendige Existenz aber nicht „Staatsform ... naturrechtlich bestimmt ist“ (Laforet 1947, 83) – und schließlich das „Volk“ „als rechtlich nicht konstituierte und formierte Größe“, das als solches „keinen Willen, auch keinen Gesamtwillen oder Gemeinschaftswillen“ habe (Laforet 1946a, 4). Aus dem letzten Gedanken heraus wendet sich Laforet auch konsequent gegen die ihm als rechtspositivistisch immanente Fassung der „Volkssouveränität“ erscheinende spätere Formel des Grundgesetzes in Art. 20,2 GG, wenn er 1946 fordert: „Der Satz, daß alle staatliche Gewalt vom Volke ausgehe, ist in die neuen Verfassungen nicht aufzunehmen“ (Laforet 1946a, 4). Vielmehr könne die oberste Staatsgewalt nur „von der durch die Verfassung berufene(n) Staatsbürgerschaft ausgeübt“ werden (Laforet 1946a, 4), also dem rechtlich und politisch bereits durch die Verfassung konstituierten ,Volk‘. Auch diese Wendung gegen eine spezifische transzendenzlose Theorie der Volkssouveränität dient schließlich nur der Begründung und Entwicklung des Gedankens, daß sich das positive Verfassungsrecht des Staatsvolkes in die vorstaatliche sittliche Ordnung einzufügen habe, um Geltung beanspruchen zu können; dies setze die uneingeschränkte Anerkennung der vorstaatlichen natürlichen Rechte der bereits aufgezählten „natürlichen Gemeinschaften“ voraus. Besonders an der kurzen Bemerkung über die angeblich natürlichen Gemeinschaften der „Stände“ erkennt man die Problematik solcher Ableitungen. Einerseits gesteht Laforget auf der historisch-empirischen Ebene die historisch kontingente Gestalt etwa von „Berufsständen“ in den modernen sozialstrukturellen Umbrüchen und erst recht den sozio-ökonomischen Wirren der Nachkriegszeit ein; andererseits begründet ihr vermeintlicher ahistorischer „natürlicher“ Existenz- und Rechtsgrund 1946 kontrafaktisch das Postulat, sie und ihre Rechte in der Verfassung zu verankern – mag ihre zukünftige Existenz auch
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über den aktuellen Nachkriegszustand hinaus modernisierungsbedingt prekär und noch so ungewiß sein. Interessant und eigenständig, etwa gegenüber dem pragmatisch-staatstheoretischen Föderalismus Peters’, wird die Argumentation Laforets dadurch, daß bei ihm der Föderalismus nicht in der üblichen Weise als politisch organisatorisches Instrument, sei es der Gewaltenteilung, sei es der Repräsentation unterschiedlicher Landesteile in einem relativ dezentralen Bundesstaat oder Staatenbund erscheint. Laforets „Föderalismus“ ist überhaupt nicht auf territorialer Basis gegründet, sondern auf der thomistischen Vorstellung einer „natürlichen Ordnung objektiver Gemeinschaften“ mit je eigenem nichtsubstituierbaren objektiven Zweck. Sie gilt es in der bloß „subjektiven“, das bedeutet historisch akzidentiellen und normativ gewissermaßen gleichgültigen Weise gesellschaftlicher Organisation in eine „Staatsform“ jeweils so zu übersetzen, daß ihr objektiv ontologischer Eigensinn unangetastet bleibt. „Das Subsidiaritätsprinzip bildet also das oberste gesellschaftliche Baugesetz, die organisatorische Leitidee für den philosophischen Föderalismus, d.h. für jenen Föderalismus, der die gesellschaftlichen Grundkategorien aus den allgemeinen philosophischen Prinzipien und insbesondere aus dem teleologisch erstandenen Begriff der ‚Ordnung‘ ableitet“ (Laforet 1947, 31). Diese „Ordnung“ ist nach der „Summa Theologiae“ des Thomas in der lex aeterna niedergelegt, die sich in der Schöpfung offenbart und im Intellekt Gottes ihr rationales Fundament besitzt; „hinter dem Gesetzesbegriff“ des Naturrechts und seiner darin enthaltenen Ordnungvorstellung der natürlichen Gemeinschaften mit ihren je objektiven Zwecken „steht ein Rationalismus, kein Voluntarismus“ (Ottmann 2004, 213). Genau im „logischen Erlebnis“ (Laforet 1947, 5) dieses schöpfungstheologisch begründeten Rationalismus der objektiven Kosmologie ist Laforets scharfe Ablehnung und Polemik gegen jegliche Form des immanenten Positivismus begründet, denn „mit den analytischen und abstraktiven Denkformen des subjektivistischen Rationalismus ist ein solcher geordneter Zweckzusammenhang geistig gewiß nicht zu erfassen“ (Laforet 1947, 61). Als autoritative Quellen des Subsidiaritätsprinzips als ,oberstem gesellschaftlichen Baugesetz‘, das allein der objektiven Ordnungsvorstellung des Naturrechts entspräche, zitiert Laforet wenig überraschend die Schriften und Enzykliken Leo XIII. und Pius XI. sowie die katholischen Moralphilosophen von Ketteler und Nell-Breuning, aber auch den protestantischen „Theisten Constantin Frantz“, dessen Kritik des bismarckschen „Staatsabsolutismus“ (Laforet 1947, 30) sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren einer breiten, konfessionsübergreifenden Rezeption erfreut (z.B. Ferber, 1946; Kramer 1946). An Frantz interessiert Laforget vor allem dessen Idee des „synthetischen“ Grundgedankens des Föderalismus, wonach der jeweilige Eigenwert der einzelnen Gliedelemente zur „höheren“ Qualität des Gesamtkörpers beizutragen hat (Frantz 1921). In Quadragesimo Anno von Pius XI. heißt es dann: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen und auf-
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saugen“. Darin komme der von Thomas übernommene Ordnungsgedanke „unum ex plurium accomodata dispositione oriens“, „der Einheit in wohlgegliederter Vielheit“ zum Ausdruck (zit. nach Laforet 1947. 29f). Die Einheit unter einem objektiven Zweck ist also gewissermaßen als Gesamtteleologie den jeweiligen ihrerseits teleologischen objektiven Gliedgemeinschaften der Familie, Gemeinde bis hinauf zum Staat vor- und übergeordnet, ohne im herrschaftlich organisatorischen Sinne eine Hierarchie zu begründen. Wo diese bestehe und notwendig sei – wie zum Beispiel am Vorbild der Katholischen Kirche selbst ersichtlich – sei sie rein auf den Zweck der jeweiligen Gemeinschaft begrenzt und finde am Gewissen des Individuum ihre absolute Grenze. So sei die „einzige naturrechtliche Forderung“, die an den Staat nach „dem Gesetz der Ordnung“, das „allgemeine, raum- und zeitlose, apriorische Geltung“ beanspruchen könne, gestellt werden könne, „daß eine gegliederte Vielheit zu einer Einheit verbunden wird“, damit überhaupt eine Ordnung entstehe (Laforet 19476, 80). Alles andere, beispielsweise „ob als Inhaber der obersten staatlichen Gewalt ein einziger Träger oder eine Mehrheit oder eine Vielheit von Trägern gestellt wird (Frage der ‚Staatsform‘), in welcher Weise die staatliche Gewalt in einzelne Teile zerlegt und auf getrennte Inhaber verteilt wird (Frage der innerstaatlichen Organisation im engeren Sinne): All das ist nicht apriorisch gefordert und naturrechtlich festgelegt“ (Laforet 1947, 80f). Allerdings wird sich am Beispiel des Eigentums und der Wirtschaftsverfassung gleich noch erweisen, daß es nicht bei dieser leeren Ordnungsvorstellung als Aufgabe des Staates bleibt, wie es im folgenden Zitat anklingt: Die „Aufgabe des Staates gegenüber den vorstaatlichen Gemeinschaften erschöpft sich in der Anerkennung und Förderung der Gemeinschaftszwecke“ der „vorstaatlichen Gemeinschaften“; deren „Selbstverwaltung ist entweder wirkliche und wirksame Unabhängigkeit vom Staat oder ein leeres Wort“ (Laforet 1947, 67). Wo der Staat, wie es freilich unselige deutsche Tradition gewesen sei, „irgendwie ‚personalisiert‘ oder ‚hypostasiert‘ “ werde, als „ ‚Gesamtwille‘ gedacht“ als „ichähnliches Gebilde neben und über die Einzelmenschen“ trete (Laforet 1947, 59), da pervertiere er von einer natürlichen Gemeinschaft mit klarer Zweckbestimmung „zu einem Götzen, auf dessen Altären die natürliche Moral geopfert wird“ (Laforet 1947, 60). Nach Laforget gibt es also eine klare Trennung zwischen den objektiv naturrechtlich sanktionierten natürlichen Gemeinschaften, ihren vorbestimmten „ewigen“ Zwecken und der geschichtlich-situativen Ausgestaltung der jeweiligen „gesellschaftlichen“ Erscheinungsformen, in denen sich diese Gemeinschaften zum einem geordneten Gemeinwesen verbinden. Damit öffnet sich auf dem Hintergrund der ewigen naturrechtlichen Ordnung mit ihrer Festschreibung bestimmter natürlicher Gemeinschaften nunmehr ein begrenzter Kontingenzraum der Gestaltung und Ausformung der lex naturalis. Hier kommen „Politik“ und „Gewissen“ des Einzelnen ins Spiel, nämlich immer dann, wenn trotz der unbedingten und absoluten Geltung der „naturrechtlichen Normen“ der Unterscheidung von „gut und böse“, gleichwohl „dem menschlichen Ermessen
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ein weiter Spielraum gelassen ist“ (Laforet 1947, 62). Politisches Entscheiden und Handeln ist insoweit nicht mehr naturrechtlich determiniert; wie bereits bei der Frage der Staatsorganisation erkennbar wurde, besitzt es „nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit, die räumlich-zeitlichen Voraussetzungen, unter denen die Entscheidung zu treffen ist, zu berücksichtigen, und die besonderen Umstände, die für den einzelnen Fall gelten, gebührend in Rechnung zu ziehen. Hier ist es unerläßlich, die voraussichtlichen Folgen der sittlichen Entscheidung im Sinne einer wirklichen ‚Verantwortungsethik‘ zu berücksichtigen“ (Laforet 1947, 62f). Man erkennt, wie hier die deontologische und die konsequenzialistische Ethik in einem Zwei-Ebenen-Modell zusammenspielen, das mit dem Begriff des „Ermessens“ der praktischen Urteilskraft eine eigene Rolle einräumt. „Soweit die auf politischem Gebiete zu treffenden ethischen Entscheidungen der als Organ des Staates tätigen Einzelmenschen Entscheidungen des sittlichen Ermessens sind, insoweit können und müssen sie im Rahmen dieses Ermessens den Tatsachen der Wirklichkeit Rechnung tragen, insoweit können und müssen sie ‚realpolitisch‘ sein“ (Laforet 1947, 63) – ein doch immerhin erstaunliches Wort im Kontext einer deistisch-thomistischen Sozialethik, in dem sich vielleicht der Machtpragmatismus des realen zeitgenössischen Katholizismus seit 1933 niedergeschlagen hat. Aus der Perspektive dieser durchaus im Sinne und unter explizitem Rekurs auf Max Weber formulierten Verantwortungsethik entspricht dem verpönten „Staatsabsolutismus“ im Bereich des kontingenten politischen Entscheidens und Handelns „der politische Chiliasmus, der das gewaltlose irdische Reich durch einen ‚letzten‘ Gewaltakt, den gewaltsamen Umsturz der auf der Gewalt beruhenden Herrschaft, herbeiführen will. Beide Irrwege, die Vergötzung des Machtstaates und die chiliastische Revolution, verlaufen zunächst in entgegengesetzter Richtung, beide Auffassungen scheinen sich zunächst auszuschließen. Und doch stehen sie zueinander im inneren Verhältnis der wechselseitigen Förderung: Der Machtstaat gebiert in seinem Schoße die Revolution, und die siegreiche Revolution schlägt zwangsläufig in eine absolutistische Diktatur um. Beide Auffassungen haben ja ein wesentliches Merkmal gemein: sie zerreißen beide den objektiven Zweckzusammenhang; sie zerstören beide die ethische Gesamtordnung und damit auch die wahre gesellschaftliche Ordnung“ (Laforet 1947, 64f). Sah es nun zunächst so aus, als gewährleiste die „Philosophie des Föderalismus“ letztlich nur die Begründung des Subsidiaritätsprinzips und der Naturrechte des Individuums und der „objektiven Gemeinschaften“, lasse aber die Staatsform und alle praktisch gesellschaftspolitischen Fragen dem situativen Ermessen politischen Entscheidens und Handelns übrig, so führt Laforet – weiterhin bis ins Detail inspiriert durch die päpstlichen Dokumente – seinen Gedankengang letztlich bis zur Konkretisierung einer naturrechtlichen Begründung des Eigentums, einer deshalb notwendigten Wirtschaftsordnung und schließlich der Demokratie fort.
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„Es mag zunächst überraschen, daß dem Prinzip des Eigentums in einer Erörterung der philsophischen Prinzipien des Föderalismus eine wesentliche, ja mitentscheidende Bedeutung beigemessen wird“ (Laforet 1947, 41), gesteht selbst Laforet zu, erinnert aber dann daran, daß schon sowohl von Ketteler wie Constantin Frantz „dem Problem des Wirtschaftsförderalismus von vorneherein das größte Augenmerk gewidmet“ hätten (Laforet 1947, 47) – von Quadragesimo Anno ganz abgesehen. „Die naturrechtliche Grundlage für die staatliche Regelung des Eigentums bildet das sittliche Recht des einzelnen Menschen als eines leiblich-seelischen Einzelwesens auf ‚sein‘ Eigentum, d.h. auf jenen Teil der körperlichen Umwelt, den der einzelne ohne Verletzung der sittlichen Rechte Fremder erworben hat“ (Laforet 1947, 42). Anders freilich als im Liberalismus sei dieses „leiblich-seelische Einzelwesen“ durch die „Zugehörigkeit zu einer objektiven Gemeinschaft“ charakterisiert (Laforet, 1947, 43). Deswegen habe „das Eigentum als naturrechtliche Einrichtung notwendig neben seiner individuellen eine soziale Seite. Der Zweck des Sondereigentums besteht nicht nur in der Beschaffung der zum Lebensbedarf des einzelnen Menschen erforderlichen wirtschaftlichen Güter, sondern auch in der Beschaffung derjenigen, die für die Bedarfsdeckung der Gemeinschaften notwendig sind“ (Laforet 1947, 44); damit sind Steuern und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Sinne des späteren Grundgesetzes, aber eben auch das „Sondereigentum“ des Individuums naturrechtlich begründet. Jenseits des grundsätzlichen Naturrechts auf Letzteres sei „die Frage der Verteilung der irdischen Güter lediglich durch Machtentscheidung“ zu treffen (Laforet 1947, 45). Dabei könne es aber nur ein individuelles Recht oder das „Gesamthandseigentum“ realer Personengesellschaften geben, nicht aber einen „staatlichen Anspruch des Gebildes auf ‚sein‘ Eigentum“ (Laforet 1947, 47). Mit anderen Worten wendet sich Laforet also gegen eine Verstaatlichung des Eigentums, wie sie auch in Quadragesimo Anno bereits abgelehnt wurde, denn diese führe „kraft innerer Gesetzlichkeit notwendig zur Beseitigung aller sittlich begründeten Rechte der Einzelmenschen, zur vollständigen Vergötzung des Staates, zum absolutistischen und ‚totalitären‘ Staat und zur Unterdrückung alles selbständigen Lebens“, wie Laforget erkennbar im Hinblick auf die weiterhin existierende kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion formuliert (Laforet 1947, 73). Man sieht aber auch die zentrale Stellung des Naturrechts auf Sondereigentum in einer Art ,Dammbruchsargumentation‘: mit ihm fielen „notwendig“ „alle sittlich begründeten Rechte des Einzelmenschen“ – einen mit diesem Naturrecht verbundenen strikten Sozialismus oder Kommunismus kann es danach also niemals geben. Laforet sieht es aber als naturrechtlich begründete „Sache des Staates“ an, „eine gerechte Ordnung der Eigentumsverteilung durch die entsprechende Gesetze herbeizuführen“ (Laforet 1947, 54), denn „die auf Kapitalkonzentration beruhende Vermachtung der Wirtschaft ist ... unsittlich, sofern sie die wirtschaftliche Macht als Zwangsmittel für subjektive Zwecke verwendet. Sie zu
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brechen ist daher Aufgabe des Staates“ (Laforet 1947, 72). Individuelle Profitmaximierung über den sinnvollen Eigenbedarf hinaus wäre ein solcher ,subjektiver‘ und damit sittlich verwerflicher Zweck. Der Weg zur Besserung führe über „Mitbesitz oder Mitverwaltung der Arbeiter und Angestellten an den Produktionsmitteln, Gewinnbeteiligung der Arbeiter und Angestellten am Sozialprodukt, Angleichung des Lohnarbeitsverhältnisses an das Gesellschaftsverhältnis und ähnliche Maßnahmen, die durch die bestehende Trennung der Unternehmerfunktion und des Kapitals wesentlich erleichtert werden“ (Laforet 1947, 53f). Weiterhin diene diesem Ziel auch der bereits angesprochene, naturrechtliche ordnungspolitisch gebotene „Gedanke einer berufständischen gesellschaftlichen Ordnung“; „mag es zur Zeit auch politisch nicht möglich sein“, diesen „vollständig zu verwirklichen. Das Eine ist auch jetzt möglich, ja notwendig, die Ansatzpunkte einer solchen Entwicklung, soweit sie bereits vorhanden sind, zu erhalten, und soweit sie noch fehlen, neu zu schaffen und alle Keime einer wirklichen Ordnung, wie sie vor allem in einer richtigen Lösung der Frage der Verteilung der wirtschaftlichen Güter und zu einem guten Teile auch in der Forderung einer ‚Wirtschaftsdemokratie‘ enthalten sind, durch staatliche Förderung zu pflegen und zu schützen“ (Laforet 1947, 75). Man sieht: keine „wirkliche Ordnung“ ohne berufsständische Organisation – was sich angeblich direkt aus dem Naturrecht ableiten läßt. Schließlich kommt Laforet über eine nicht immer ganz widerspruchsfreie und seine eigenen Grundannahmen gelegentlich weit dehnende Argumentation auch noch zur naturrechtlichen Begründung der Demokratie. Zwar sei, wie bereits zitiert, die „Staatsform“ naturrechtlich nicht vorgegeben und deswegen gelte: „Keine Staatsform, keine Organisation der Staatsgewalt hat vor den übrigen Staatsformen und Organisationsarten einen unbedingten und absoluten Vorrang“; es sei vielmehr „kraft menschlicher und daher fehlbarer Ermessensentscheidung“ herauszufinden, welche vorzuziehen sei (Laforet 1947, 83). Auf dieser Ebene gelten aber die bereits erwähnten verantwortungs- und sozialethischen Grundsätze nur in Verbindung mit den ewigen Gesetzen des Naturrechts. Ohne die Beachtung letzterer, lediglich aufgrund subjektiv-voluntaristischer Basis wie etwa in der positivistischen Rechts- und Demokratietheorie, bestehe das Problem einer bloß immanenten Begründung der Menschenrechte, daß „alle Menschenrechte durch staatlichen Machtspruch aufgehoben werden“ könnten (Laforet 1947, 74). Dies würde nur durch den direkten Bezug auf das geschilderte naturrechtliche Ordungsdenken verhindert. Es muß also gezeigt werden, daß die subjektiv gesellschaftlichen Prinzipien der Demokratie als eines rein formalen Organisationsprinzips mit den Inhalten des ewigen Naturrechts zusammenfallen oder wenigstens geeignet sind, diese im Interesse der objektiven Gemeinschaften zu fördern. Die Demokratie sei, so Laforet, als „Staatsform“ und „Organisationsprinzip“ dadurch charakterisiert, daß „ein möglichst weit gezogener Kreis politisch willensfähiger und politisch gleichberechtigter Staatsangehöriger (das ‚Volk‘ im staatsrechtlichen Sinne) die oberste Staatsgewalt inne hat und diese Gewalt durch
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rechtlich genau festgelegte gemeinsame Tätigkeiten ausübt“ (Laforet 1947, 85). „Aus diesen Begriffsbestimmungen ergibt sich der Grundsatz der – formellen – politischen Gleichheit und der – formellen – politischen Freiheit“ (Laforet 1947, 85). Bei der „Freiheit“ unterscheidet Laforet – elf Jahre vor der berühmten Antrittsvorlesung von Isaiah Berlin in Oxford 1958 (Berlin 1969) – sehr genau zwischen der „politischen Freiheit im Staat“ und dem „System der Freiheiten vom Staat“ (Laforet 1947, 85f), wobei es nicht überraschen kann, daß ihm Letztere besonders am Herzen liegen, weil mit ihnen die Autonomie der objektiven Gemeinschaften gewährleistet wird. Man erahnt gleichwohl die ja die Geschichte des katholischen Staatsdenkens selbst bei prinzipieller Anerkennung der Demokratie durchziehende Skepsis und Ambivalenz gegenüber ihrer Fundierung in bloß aufklärerischem Gedankengut dieses schließlich positiven Votums zur Demokratie, wenn Laforet schreibt: „Das Gesamtbild aber, das sich aus all diesen Einzelzügen ergibt, ist dies, daß hier in die Bestimmung des Wesens der Demokratie unzweifelhaft naturrechtliche Forderungen mit aufgenommen werden. Und wenn diese naturrechtlichen Züge zum Teil – und vor allem in jenen Teilen, die sich auf das Wesen und den Zweck des Staates beziehen, den Charakter des subjektivistischen und rationalistischen Naturrechts tragen, so kommt doch auch in anderen Zügen das in einer umfassenden objektiven sittlichen Ordnung begründete Naturrecht, das objektive Naturrecht im Sinne des ethischen Apriori aller staatlichen Gesetze, zum unverkennbaren Ausdruck“ (Laforet 1947, 87). Die moderne Demokratie steht also unter dem Vorbehalt der Wahrung der sich aus der lex naturalis ergebenden Autonomierechte der natürlichen Gemeinschaften, allen voran der Kirche und der Familie: Von daher waren die tagespolitischen Auseinandersetzungen in der Gründungsphase der Republik, beispielsweise um die ,Bekenntnisschule‘ oder das Ehe- und Familienrecht, vorprogrammiert – und eine nicht mit der katholischen Lehrmeinung übereinstimmende, aber demokratisch zustande gekommene Position stets von vorne herein utner den grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber der Demokratie insgesamt gestellt. Wer 1947 Laforets Buch aus Interesse an der Zukunft des konkreten Staatsaufbaus eines neuen deutschen politischen Gemeinwesens in die Hand nahm, sich beispielsweise für die zukünftige Rolle der Länder oder den institutionellen Aufbau einer föderalen Ordnung interessierte, der dürfte bald enttäuscht gewesen sein. Denn Laforets Buch handelt von der philosophischen Begründung eines naturrechtlich begründeten allgemeinen Subsidiaritätsprinzips, auf dessen Grundlage der „philosophische Föderalismus“ eher dem ähnelt, was zeitgenössisch unter der Überschrift einer Theorie oder Philosophie der Gerechtigkeit nach John Rawls (1971) verhandelt wird. Im Sinne der einige Zeit vielbeschworenen Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte liegt der Ausgangspunkt Laforets dabei bei einem grundsätzlich in eine objektive Sozialordnung eingebetteten Individuum, wie es etwa Michael Sandel der Rawlschen rationalistischen Fiktion entgegengehalten (Sandel 1982)
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und damit für zwanzig Jahre eine Debatte ausgelöst hat, die so neue Gedanken nicht enthielt, wenn man sie mit diesen früheren Texten vergleicht. Natürlich war später die in der analytischen Philosophie allgemein geteilte Grundlage ganz anders. Man kann aber in Laforets Argumentation zum Eigentum, zur Wirtschafts und zur Staatsverfassung – als politisches Denken gelesen – viele, wenn nicht die meisten der späteren ,kommunitaristischen‘ Argumente wiederfinden, wenn man zwecks Vergleich die spezifischen theologisch-philosophischen Begründungen beiseite läßt. Ein Vergleich zwischen Laforets „philosophischem Föderalismus“ und Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer 1983) erbrächte eine besonders große strukturelle Nähe der politischen Argumentationen und Konsequenzen. Wie bei Walzer geht es Laforet also wesentlich nicht um die Begründung eines territorial gegliederten und begründeten ,föderalistischen‘ Aufbaus der Staatsorganisation, um das Verhältnis von Gewaltenteilung und Volkssouveränität und Ähnliches, sondern um die Rechtfertigung und den Schutz der Autonomie der vorstaatlich begründeten Gemeinschaften. Deren konkreter Inhalt ist sicherlich in der modernen Debatte um das Verhältnis von Zivilgesellschaft und politischem Machtzentrum nicht mehr zeitgemäß, das strukturelle Problem des Verhältnisses politisch geltend gemachter universalistischer Prinzipien gegenüber der Eigenlogik kulturell oder funktional unterschiedlicher Gemeinschaften bleibt es weiterhin. Allerdings würde ein solcher ,struktureller‘ Vergleich mit den modernen zeitgenössischen Ansätzen des Kommunitarismus wiederum von dem absehen, was einem Autor wie Georg Laforet mehr als alles andere am Herzen lag, nämlich die theistisch-ontologische Grundlegung eines naturrechtlichen Politik- und Ordnungsverständnisses als Reaktion auf den vermeintlichen Anteil, den der bloß subjektivistisch-rationalistische Rechtspositivismus am Aufstieg und Sieg des Nationalsozialismus gehabt habe. Ernst Topitsch hat in seiner Einleitung der „Aufsätze zur Ideologiekritik“ von Hans Kelsen, einem der bedeutendsten Kritiker des Naturrechts (Kelsen 1964), etwas in diesem Zusammenhang sehr Passendes zur geistig politischen Lage nach 1945 in Deutschland geschrieben: „Wie dies in der Geschichte schon so oft geschehen war, wurden die Leerformeln und Prestigewörter der Sozialmetaphysik den neuen Gegebenheiten angepaßt, zugleich aber mußte das Ausmaß verschleiert werden, in welchem dieser altehrwürdige Apparat durch seine der eben besiegten Diktatur erwiesene Dienstbarkeit kompromittiert worden war. Dies erforderte mancherlei delikate Umstellungen. Hatte man seinerzeit in Vorbereitung oder im Dienste der totalitären Herrschaft den Positivismus als Bundesgenossen der liberal-humanitären Demokratie verdammt, so wurde man nunmehr nicht müde, die Metaphysik als den wahren Hort der Demokratie zu preisen, den Positivismus aber als Helfershelfer des totalen Staates zu brandmarken“ (Topitsch 1964, 26).
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Otto Feger: „Schwäbisch-Alemannische Demokratie“ – ein Staat nur für die Alemannen und Schwaben Der doppelt promovierte Jurist und Historiker Otto Feger, seit 1945 langjähriger Stadtarchivar in Konstanz, veröffentlichte Anfang 1946 „Aufruf und Programm“ zur Gründung einer autonomen „Schwäbisch-Alemannischen Demokratie“ (Feger 1946). Daß dieses immerhin 230 Seiten starke Buch in Zeiten extremer Papierrationierung in einer Auflage von 50.000 Exemplaren verbreitet wurde (Klöckler 1999, 44f), Krautkrämer spricht sogar von „240.000 Exemplaren“ (Krautkrämer 1986, 235), zeigt mindestens ein gewisses Eigeninteresse der zuständigen französischen Besatzungsmacht an, setzte Feger aber zeitgenössisch und später kaum verhüllten Kollaborations-Vorwürfen aus (Krautkrämer 1986, 235; Weihnacht 1992, 233), die er selbst wohl voraussah: „Der Verfasser dieser Zeilen wird der Verdächtigung nicht entgehen, ein durch Frankreich irgendwie gekauftes Subjekt zu sein“, schreibt er – und das von mir benutzte Bibliotheksexemplar trägt an dieser Stelle den in ordentlicher Handschrift eingetragenen Randvermerk „richtig!“ eines früheren Lesers (Feger 1946, 144), der mit Randbemerkungen wie „Unverschämtheit!“ auch ansonsten nicht sparsam war. In der Tat war ja Fegers Vorschlag aus der Perspektive der Fortgeltung des Deutschen Reiches gesehen „separatistisch“. Solchen absehbaren Vorwürfen begegnete Feger bereits mit seinen ersten Sätzen, in denen er „staatsrechtlich“ den Untergang des Deutschen Reiches konstatierte und die besetzten Territorien als einen „Landkomplex ohne eigene politische Organisation“ bezeichnete (Feger 1946, 11). Mit der staatlichen Souveränität seien – so die unausgesprochene Implikation – naturgemäß auch die Loyalitätsverpflichtungen der Bürger als „Angehörigen des einstigen Deutschen Reiches“ entfallen, denn „Hochverrat“ könne es logisch und rechtlich nur gegenüber einer legitim geltenden Staatsmacht geben. „Nachdem unsere staatlichen Formen ... untergegangen“ seien, komme es darauf an, „neu zu denken. Es gibt wenige Gebiete, auf denen nicht völlig neue Fundamente für die Zukunft zu schaffen sind“ (Feger 1946, 11). Sicher hatte gerade die französische Regierung unter den Alliierten das geringste Interesse an der Wiederentstehung eines zentralistischen deutschen Staates und sah wie zuvor in der Geschichte vor allem in der Entstehung eines linksrheinischen ,Pufferstaates‘ eine die nationalen Sicherheitsinteressen repräsentierende Option; von daher mochten alle separatistischen Tendenzen aus ihrer Sicht förderungswürdig erscheinen. Jürgen Klöckler hat die den deutschen Südwesten betreffenden keineswegs einheitlichen französischen Pläne dokumentiert und dargestellt (Klöckler 1998) und die partielle Übereinstimmung von Fegers Überlegungen mit denen des französischen Oberbefehlshabers General Pierre König konstatiert (Klöckler 1999). Andererseits gingen aber Fegers langfristige Ambitionen weit über den badischen Raum hinaus auf eine staatspolitische Integration der aus seiner Sicht vor allem historisch-kulturell als geschicht-
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liche Schicksalsgemeinschaft zusammengehörenden Alemannen und Schwaben, betrafen also im kurzfristigen Aktionsplan der unmittelbaren Nachkriegszeit das alemannische Baden, Württemberg, Hohenzollern und Bayrisch-Schwaben (Feger 1946, 156) – ließen aber die Perspektive auf eine Integration der alemannischen Anteile der Schweiz und Österreichs nicht unerwähnt. Damit waren einerseits neben den französischen auch die Interessen der US-amerikanischen Besatzungsmacht im Spiel, die bereits im Laufe des Jahres 1947 gegenüber den französischen und generell gegenüber allen separatistischen Tendenzen die Oberhand gewannen, und andererseits sah Feger selbst, daß weder die schweizer Alemannen noch erst recht die österreichischen mit ihrer gerade zurückliegenden „Anschluß“-Erfahrung für ein solches Projekt kurzfristig hätten gewonnen werden können (Feger 1946, 157). Auch war ihm bewußt, daß die notwendige Grenzziehung, etwa zum fränkischen Siedlungsraum Württembergs oder in Bayrisch-Schwaben schwierig werden könnte: „Hier eine Grenze zu ziehen, die nicht wesentliche Zusammenhänge zerschneidet, wird nicht leicht sein. Man wird da den Willen der Bewohner zum ausschlaggebenden Faktor machen müssen“ (Feger 1946, 156) postuliert er – aber die Geschichte lehrt, daß in gemischten Siedlungsgebieten solche Mehrheitsbeschlüsse kaum friedenstiftend wirken können. Schließlich sollte es sich um echte Staats- und Zollgrenzen handeln, um die schwäbisch-alemannische Autonomie als oberstes Prinzip zu gewährleisten. Fegers Schrift steht in diesem Kapitel über die Föderalismus-Diskussion der unmittelbaren Nachkriegszeit einerseits als wohl wichtigstes Beispiel für ein echt separatistisches Projekt, dem es vor allem um die Loslösung von der als Fremdherrschaft empfundenen nord-ostdeutschen Übermacht in einem erneuten deutschen Gesamtstaat ging – wichtigstes, wenn auch nicht einziges, wie noch Schwarz behauptete (Schwarz 1966, 28). Klöckler, der mit seiner umfangreichen Dokumentation verschiedener und unabhängig voneinander entstandener Entwürfe für einen Süd- oder Südweststaat auch Schwarz’ frühere Behauptung widerlegt, die Schrift Fegers sei aus „den Bestrebungen eines größeren Kreises, des ‚Schwäbisch-alemannischen Heimatsbundes‘, hervorgegangen“ (Schwarz 1966, 29), vertritt hier allerdings gegen den eindeutigen Text Fegers eine andere Auffassung, indem er ihm allein die Propagierung „eines lockeren Staatenbundes“ (Klöckler 1999, 48) unter Einschluß der „Schwäbisch-alemannischen Demokratie“ unterstellt. Seine ,Belege‘ für diese These sind gegenüber den nachfolgend noch im Detail zitierten eindeutigen Formulierungen Fegers schwach, wenn er zur Stützung seiner Lesart allein anführt, der neue Staat solle weiter „‚Glied am geistigen (sic!) Körper‘ des zukünftigen Deutschlands bleiben“ (Klöckner 1999, 49) oder sich an der Finanzierung einiger kultureller Auslandsinstitutionen beteiligen, aber nicht zitiert: „Auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet muß völlige Autonomie verlangt werden“ (Feger 1946, 86) und Fegers diesbezügliche eindeutige Formulierungen bis hin zur autonomen Außenpolitik in diesem Zusammenhang nicht diskutiert. Die bei Klöckler weiter angeführte „Zusammenarbeit“ des
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neuen Staates mit den anderen Teilen Deutschlands (Klöckler 1999, 56), kann als Argument auch nicht durchschlagen, denn sie sollte es nach Feger mindestens ebenso intensiv auch mit der Schweiz, Österreich und dem französischen Elsaß geben. Es scheint so, als ob Klöckler es noch nach 45 Jahren für nötig erachtet, Feger gegen den damals erhobenen Vorwurf des „Separatismus“ in Schutz zu nehmen, obwohl das wohl kaum die Aufgabe des Historikers sein kann. HansPeter Schwarz hingegen nimmt zutreffend die separatistische Position Fegers ernst, verhöhnt Fegers Plan aber zugleich als „eine Art Spitzwegstaat ..., dessen Hauptverlangen darauf zu richten wäre, sich aus den Welthändeln herauszuhalten“ (Schwarz 1966, 411). Während die damit von Feger repräsentierten Friedenshoffnungen angesichts der jüngsten kriegerischen Geschichte Europas und der zentralen Rolle, die Deutschland dabei gespielt hatte, auch im Nachhinein eher unrealistisch als unverständlich erscheinen, versteckt Schwarz seinen direkten Hochverratsvorwurf an jeglicher den deutschen Nationalsstaat und seine Fähigkeit zur Wiedererlangung souveräner Außenpolitik infrage stellenden Position in diesem Fall hinter einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat Edgar Morins: „Es handelt sich dabei um die alte Geschichte von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen“ (Schwarz 1966, 412). Hinsichtlich der vorgeschlagenen und in vielen Details konkretisierten Binnenstruktur der propagierten „Schwäbisch-Alemannischen Demokratie“ handelt es sich dann freilich um ein radikal föderalistisches Projekt, in dem sich vor allem das Schweizer Vorbild, aber in Einzelheiten auch einige Erfahrungen, die Feger während seiner Studienzeit in den USA gemacht hatte, niederschlugen. Darüber hinaus belegen Fegers einleitende Worte und sein ausgearbeiteter Projektentwurf für die Gründung eines eigenständigen souveränen Staates im deutschen Südwesten einmal mehr die damaligen Kontingenzerfahrungen und den politisch konstruktiven, ja phantasievollen Umgang mit ihnen. Man mag aus der heutigen Sicht und mit den heutigen Kenntnissen Fegers Vorschläge und Pläne als unrealistische und noch dazu parochiale Spinnereien abtun – Schwarz spricht abfällig von „Krähwinkeleien dieser Art“ (Schwarz 1966, 415) – aber aus der damaligen Situation heraus bezeugen sie eher einen politischen Gestaltungswillen, in dem etwas von dem aufscheint, was etwa in der Theorie Hannah Arendts das eigentliche Wesen des Politischen ausmacht: Neuanfangen, die Gründung eines Gemeinwesens aus dem kontingenten Willen heraus, für eine als Gemeinschaft angesehene Gruppe von Menschen Institutionen des Rechts und der Beteiligung an der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zu schaffen und damit die Freiheit zu konstituieren; solch republikanisches Pathos ist durchaus angemessen, um das Projekt Otto Fegers zu charakterisieren. Klöckler hält immerhin fest: „Es ist augenfällig, daß um die Jahreswende 1945/46 auf der Basis theoretischer Vorbereitungen und von Reformwünschen innerhalb der Militärregierung der Südstaat in den Bereich des politisch Möglichen und Realisierbaren gerückt war“ (Klöckler 1999, 105) – womit er sich freilich nicht direkt auf Fegers konreten, gerade erst im Entstehen begriffenen Vorschlag bezog.
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Auch in der ethnisch-kulturellen Unterstellung einer vorpolitischen Gemeinschaft findet sich eine Gemeinsamkeit mit dem – traditionellen – Republikanismus; für Feger steht die „Eigenheit der Alemannen“ seit ihrer Einwanderung „in die Länder beiderseits des Schwarzwaldes“ und rund um den Bodensee um das Jahr 250 n. Chr. „historisch, stammesmäßig, sprachlich, kulturell“ (Feger 1946, 15f) und angesichts der bedeutenden Rolle alemannischer Geschlechter in der deutschen Geschichte – die Staufer, Welfen, Zähringer, Habsburger und Hohenzollern werden dafür von Feger reklamiert (Feger 1946, 19) – gänzlich außer Frage; für Norddeutsche und andere Ortsfremde sei Fegers Auffassung hinzugefügt: „Historisch, stammesmäßig, sprachlich, kulturell sind Schwaben und Alemannen eins“ (Feger 1946, 15) – man wäre gespannt zu hören, was ,echte‘ Schwaben einerseits, ,echte‘ Alemannen andererseits zu dieser Identitätskonstruktion sagen würden. Was nun wiederum nach Feger der Wahrnehmung dieser „Eigenheit“ und Gemeinsamkeit entgegenstehe, sei nur die nachträgliche kleindeutsche und späterhin nationalsozialistische Geschichtsschreibung, die aus ihrer obrigkeitsstaatlichen und imperialistischen Eigenart heraus das Bild mangelnder nationaler Einheit und „unseliger Zersplitterung“ der Deutschen überhaupt, besonders aber des Südwestens geprägt habe (Feger 1946, 20f, 23). Feger hingegen betont für das frühe Mittelalter den freiheitlichen Charakter: „unter dem zugleich burgundischen und oberitalienischen Einfluß entstanden im alemannischen Land die ersten systematischen Stadtgründungen, die dann mit ihren freiheitlichen Verfassungen weithin beispielgebend wurden“ (Feger 1946, 19) und schreibt, daß unter der Herrschaft Habsburgs die teilweise „nunmehr vorderösterreichischen Lande ... ein für uns heute unbegreifliches Maß von örtlicher Freiheit und Selbständigkeit“ behaupteten (Feger 1946, 22). „Allerdings, eines war auf das tiefste im Denken ... verwurzelt: das Streben nach Freiheit“ – bringt Feger die schwäbisch-alemannische Geschichte auf einen Nenner (Feger 1946, 25). Seine Konstruktion der Geschichte der Alemannen kann hier mit ihren zahlreichen Details nicht zur Diskussion stehen, aber als politisches Denken in der unmittelbaren Nachkriegszeit verstanden kommt es darauf an, zu erkennen, wie und mit welchen Begründungen hier die „schwäbisch-alemannische Demokratie“ geschichtspolitisch durch die Konstruktion einer 1500jährigen Tradition gerechtfertigt wird. Dabei scheut er vor ethnisch-essentialistischem Vokabular nicht zurück, das allerdings nicht in rassischen, sondern in kulturell-historischen Traditionen sein Fundament hat: „Man wende nicht dagegen ein, es gebe keinen Unterschied zwischen Deutschen und Deutschen. Es trägt jeder die Traditionsmasse in sich, die er mitbekommen hat und die seinem Volksstamm gemäß und eigen ist“ (Feger 1946, 209). „Ist der Kern eines Volkes gesund, und in Schwaben und Alemannien ist er es“, wie Feger stets erneut im polarisierenden Kontrast zu Nord- und Ostdeutschland ausführt, „dann führt die Selbstbesinnung auf das Eigene, auf das Bodenständige, auf die Tradition immer zu guten Ergebnissen und macht fast immun gegen ungesunde fremde Beeinflussungen“
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(Feger 1946, 181); folglich habe man sich gegen die „Gefahr ... einer kulturellen Überfremdung zu schützen“ (Feger 1946, 185), durch staatsrechtliche Autonomie und Grenzziehung nach außen und durch die Handhabung des Staatsbürgerrechts nach innen, wie sich noch zeigen wird. Die angestrebte „Autonomie“ (Feger 1946, 213) erscheint bei Feger nach außen als die Wiedererlangung politischer Freiheit von externer Fremdherrschaft durch Preussen und das bismarcksche kleindeutsche Reich beziehungsweise dessen Nachfolgeregime während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus und im Innern als die Wiedererrichtung der historisch gewachsenen lokalen und regionalen Selbverwaltung und dezentralen Selbstregierung nach dem Schweizer Muster des Föderalismus. „So muß auch die Entwicklung der Schweiz zu einer freien Republik in der durchaus alemannischen Form eines aus 25 kleinen und kleinsten Staatswesen bestehenden Bundesstaates als Ausfluß der gesamtalemannischen Entwicklung gesehen werden. ... Der Friede und Reichtum der unzerstörten Schweiz gegenüber den Trümmern unserer Städte ist die beste Rechtfertigung der alemannischen ‚Kleinstaaterei‘ “ (Feger 1946, 27) – die Schweiz auch das Beispiel, an dem sich die Gründung der „schwäbischalemannischen Demokratie“ orientieren könne. Unter der Überschrift „Von Friedrich d. Gr. zu Adolf Hitler“ wird die eigene freiheitlich-föderalistische Tradition und daraus gebildete Zukunftsperspektive von Feger durch den stark gezeichneten Kontrast „des absolutistischen Großstaates ... mit einem starren Offiziers- und Beamtenapparat, der das Vermögen, die Arbeitskraft, den Willen, den Geist und das Leben aller ‚Untertanen‘ in eine einzige riesige Maschine preßte, die von einem Einzigen nach seinem Gutdünken und ohne äußere Kontrolle gelenkt wurde“ (Feger 1946, 27f), weiter konturiert. Auch Napoleon trägt an dieser Entwicklung Anteil, denn er „hat die bunte Staatenkarte des deutschen Südwestens mit einigen gewaltsamen Strichen bereinigt“ und „die beiden kleinen ‚Großstaaten‘ Württemberg und Baden geschaffen“ (Feger 1946, 31), die ihrerseits nun eine nationalstaatliche und zentralistische Gestalt anstrebten und gegen die alten Freiheiten der traditionellen Landschaften und Städte auch teilweise durchsetzten. „An die Stelle von Selbstverwaltungskörpern trat das Bezirksamt, später der Herr Landrat nach preußischem Muster ... und das Bezirksamt war nur der verlängerte Arm des Ministeriums, berichtete nach oben und führte nach unten die ministeriellen Erlasse aus. An den Residenzen aber entstanden unförmige Zentralbehörden. ... Es entsprach dabei der allgmeinen Tendenz, daß nicht nur das zivile Beamtentum, sondern auch die kirchliche Organisation nach der ministeriellen Melodie zu tanzen hatte“ (Feger 1946, 33). Wichtig ist, daß diese „allgemeine Tendenz“ zum zentralistischen Nationalstaat, die auch Baden und Württemberg erfaßte, von Feger nicht als Ausdruck der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates gedeutet wird, sondern als zuerst von dem Preussen Friedrich, dann von Napoleon, zeit- und teilweise aber weniger konsequent und erfolgreich von Metternich und dann schließlich wie-
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der vom zentralistischen kleindeutschen Reich nach 1871 ausgehende Fremdherrschaft dargestellt wird, die der „Eigenart“ und dem Freiheitssinn der alemannischen Urbevölkerung übergestülpt wurde. „Es wäre ein Wunder gewesen, wenn sich das in der Tradition der Freiheit erzogene alemannische Volk dies hätte gefallen lassen“ (Feger 1946, 35), schreibt er, und verweist unter Nennung von Rotteck und Welcker sowie des Dichters Ludwig Uhland im Folgenden darauf, daß der Südwesten stets „die Heimat der radikalen Richtung des deutschen Liberalismus“ gewesen sei (Feger 1946, 36). So kann ihm dann die Bismarcksche Reichseinigung von 1871 auch nur als „Annexion größten Stils, aber mit Bismarckscher Meisterschaft durchgeführt“ (Feger 1946, 38) gelten. Während Bismarck wegen seiner stabilitätsorientierten und nichtexpansionistischen Politik bei Feger trotz allem noch ganz gut wegkommt, geht es ihm nunmehr darum zu zeigen, daß Alemannen und Schwaben an der sich abzeichnenden imperialistischen Großmachtpolitik, „die schließlich zum Weltkrieg führte“, keinen Anteil hatten, denn sie „vollzog sich ohne Wissen und Zustimmung oder Mitwirkung des Südwestens“ (Feger 1946, 40). Nur in der Niederlage 1918 griff man auf sie zurück: „Der später vielgeschmähte badische Prinz Max sollte als Kanzler in vier Wochen die deutsche Demokratie einführen“ und „als die Revolution losbrach, waren die südwestdeutschen Länder die einzigen, in denen es nicht zu Exzessen kam und in denen ohne Blutvergießen der Übergang zu einem demokratischen Staat möglich war. Im Reich aber war es der Badener Ebert ... der die Zügel in die Hand nahm und die Anarchie verhütete ... Als Reichskanzler folgten die Alemannen Fehrenbach und Wirth“ (Feger 1946, 42f) – und von da an ging es weiter bergab in die Katastrophe: „Nachdem Wirth durch eine Opposition ostelbischer Nationalisten gestürzt worden war, konnten wir das Experiment einer starken norddeutschen Führung mit einem Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und fast dem Zusammenbruch des Reiches bezahlen. ... Die Führung geriet dann erneut in norddeutsche Hände. Der Südwesten wurde wieder zur Provinz und der Zentralismus entwickelte sich stärker den je“ (Feger 1946, 43) – um schließlich mit der nationalsozialistischen Machtergreifung sein ganzes totalitäres Potential zu entfalten. Die dualistische Geschichtskonstruktion zwischen einer geradezu teleologischen ,preussischen‘, ,norddeutschen‘ oder ,ostelbischen‘ Vorgeschichte des Nationalsozialismus, durch die „die Menschenmassen des Nordostens, ungewohnt jeglicher Freiheit, fest in die Hand reaktionärer Gruppen gerieten“, und einem Südwesten mit freiheitlicher Tradition, der im zentralistischen Nationalstaat von Ersterem zur Wirkungslosigkeit verdammt wurde – „Wir sind nun einmal durch den Norden vergewaltigt worden“ (Feger 1946, 201) – , ist so offenkundig, daß sie hier nur festgehalten zu werden verdient. Sie hat aber 1945 bei der Niederschrift durch Feger auch einen ganz konkreten apologetischen Sinn. Wenn Feger im Hinblick auf die Wahlergebnisse der NSDAP behauptet: „der deutsche Westen und Südwesten ist 1933 majorisiert worden“ (Feger 1946, 55), so mag das noch angehen, aber wenn er daraus folgert: „an dem was in der
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Folge gekommen ist, hat der Westen und der Südwesten geringere Schuld, denn bis zum letzten hat er Widerstand geleistet. Er schwieg erst, als er mit Gewalt zum Verstummen gebracht wurde“ (Feger 1946, 65), so wird hier das moralisch und politisch zweifelhafte Unternehmen deutlich, die zu gründende „Schwäbisch-alemannische Demokratie“ aus dem gesamtdeutschen Schuld- und Verantwortungskomplex wenigstens teilweise herauszulösen, ja sogar den Südwesten andeutungsweise als Ganzen in die Position des ,Widerstandes‘ gegen den Nationalsozialismus zu rücken: „Die Schuld ist nun einmal ungleich verteilt“ (Feger 1946, 200). In einem anschließenden umfangreichen Kapitel „Das Reich – Mythos und Wirklichkeit“ versucht Feger, im Wesentlichen die Argumente derjenigen zu entkräften, die auch in Zukunft einen deutschen Gesamtstaat erhalten wollen und deshalb den Separatismus einzelner seiner historischen Landschaften als ,anti-deutsch‘ oder ,gegen die deutschen Gesamtinteressen‘ gerichtet verpönen. Das kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, aber das zentrale Argument richtet sich gegen die bismarksche Usurpation des alten Reichsgedankens; dieser habe zuvor „nie das Reich der Deutschen“ gemeint, „es hatte nie zum Zweck, den politischen Zusammenschluß aller Deutschsprechenden oder aller Angehörigen der germanischen Rasse“ zu bewirken, sondern sei „vielmehr ein europäischer Ordnungsbegriff“ gewesen (Feger 1946, 71). Demgegenüber sei nach 1871 „von irgend einem europäischen Gedanken ... nicht mehr die Rede“ gewesen; „für eine gesamteuropäische Ausrichtung war im Staate Bismarckscher Prägung kein Platz mehr. ... In Wirklichkeit hatten spätestens mit der Annahme der Weimarer Verfassung die Länder aufgehört, Staaten im Rechtssinn zu sein ... und das ‚Deutsche Reich‘ war ein ziemlich stramm durchorganisierter Zentralstaat mit einer etwas komplizierten Unterteilung“ (Feger 1946, 73). Nachdem sich dieser deutsche Gesamtstaat durch eigenes Verschulden durch zweimalige imperialistische Kriegführung und verbrecherische Natur selbst um seine Existenz gebracht habe, „... liegt es nicht im Interesse mindestens des Südwestens ... sich weiterhin mit einem derart kompromittierten Staatsgebilde zu identifizieren. Der Südwesten hat weder den Staat Bismarcks bejaht – das beweisen die heute vergessenen Toten von 1866 – noch den Staat Hitlers – das beweisen die heute noch nicht vergessenen Toten von 1933 bis 1945. Es liegt heute an ihm, in irgendeiner Form von diesem Staat abzurücken, vor der Weltöffentlichkeit darzutun, daß er mit diesem System weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft identifiziert werden darf“ (Feger 1946, 76f). „Es geht also um eine politische und wirtschaftliche Autonomie von Schwaben und Alemannien“ (Feger 1946, 70), „auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet muß völlige Autonomie verlangt werden“ (Feger 1946, 86) – eine Forderung, die nach Lage der Dinge sich nur an die zuständigen Alliierten richten und deren Nachdruck sich nur aus der politischen Unterstützung hätte ergeben können, die sie in der allerdings politisch zu dieser Frage nicht unmittelbar artikulationsfähigen Bevölkerung finden konnte. Angesichts der Erfahrungen mit
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der ständigen Majorisierung durch das bereits erwähnte „in den breiten Schichten des Nordostens nur mäßig entwickelte politische Denken“ (Feger 1946, 53) und „gegen die Gefahr einer künftigen Majorisierung müssen Garantien geschaffen werden“ (Feger 1946, 78); „heute wird“ dafür „ein föderalistisches Programm nicht mehr genügen. Der föderalistische Bundesstaat auf gesamtdeutscher Grundlage bietet heute nur Scheinlösungen. ... Heute gibt es nicht eine einzige Schwierigkeit, die wir nicht leichter allein lösen können als in einem Gesamtreich, auch wenn dieses förderalistisch aufgebaut wäre“ (Feger 1946, 82f). Aus diesen Passagen wird nochmals der eindeutig separatistische, sich gegen jede Form der gesamtdeutschen Föderation oder auch Konföderation richtende Charakter des Fegerschen Programmes deutlich, dessen Konsequenzen natürlich über das unmittelbar betroffene Gebiet hinaus gesamtdeutsch von ihm bedacht werden mußten. Feger versucht überwiegend ex negativo mit allen Details, von der Rohstoffversorgung bis zur Zollpolitik deutlich zu machen, daß zumindest aus einer schwäbisch-alemannischen Separation auch keine gesamtdeutschen Nachteile erwüchsen, indem er die vermeintlichen Vorteile eines deutschen Gesamtstaates der Reihe nach zu widerlegen sucht; allein eine „Großmachtpolitik alten Stils“ würde dadurch künftighin unmöglich gemacht, die aber nur „ehrgeizige Staatsmänner“ vermissen würden (Feger 1946, 93); ansonsten überwögen angesichts der einmal entstandenen Lage für alle die Vorteile. Der Südwesten weise „damit möglichweise dem übrigen Deutschland den Weg“ (Feger 1946, 93), „die Autonomie Südwestdeutschlands könnte somit Muster und Vorbild für ein neues Leben auch der anderen deutschen Länder sein“ (Feger 1946, 95), schreibt Feger gleich zweimal fast gleichlautend und widerlegt wiederum Klöcklers Interpretation, wonach „Fegers Planungen kein Vorbild für die anderen Teile des ehemaligen Deutschen Reiches sein“ sollten (Klöckler 1999, 50). Richtig ist daran nur, daß Feger jeder anderen Region oder „Landschaft“ ausdrücklich das gleiche Recht auf Bestimmung des eigenen Schicksals zubilligt und deshalb von „konstruktiven“ gesamtdeutschen Vorschlägen völlig absieht (Klöckler 1999, 50). Wenn Feger hier den möglichen Schritt von der Separation eines neuen Staates von einem immerhin verbleibenden Restgesamtstaat zur völligen Auflösung in mehrere künftig autonome Staaten auf dem Gebiet des untergegangenen Deutschen Reiches andeutet – genannt werden von ihm als weitere Kandidaten explizit Bayern, das Rheinland und Niedersachsen (Feger 1946, 93) – so geht er damit noch einen Schritt über ähnliche Vorstellungen etwa von Wilhelm Röpke hinaus, von denen später noch die Rede sein wird. „Die Formen des politischen Deutschland, wie sie Bismarck geschaffen hat, müssen verschwinden, wie alles, was sich nicht bewährt hat“ (Feger 1946, 97). Was die angestrebte politische Autonomie des neuen Staates umfassen würde, zählt Feger auf: „Eine Einflußnahme auf unsere Verfassung, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, auf die Außen- und Innenpolitik, auf wirt-
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schaftliche, soziale, Verkehrsverhältnisse von irgend einer Instanz jenseits unserer Grenzen wäre mit dem Autonomiegedanken nicht vereinbar“ (Feger 1946, 86), wobei semantisch die Vermeidung des staatsrechtlichen Souveränitätsbegriffes ebenso auffällig ist, wie die von ihm stets gewählte Bezeichnung des gewollten Staatswesens als „Schwäbisch-alemannische Demokratie“, die er als historisch gewachsenes „bodenständiges Eigengewächs“ (Feger 1946, 94) ansieht, das man angesichts seiner langen Geschichte nicht neu erfinden, sondern – um im Bild zu bleiben – nur von der Überwucherung durch fremdartiges Unkraut befreien müsse. Allerdings, dies auch noch einmal gegen Klöcklers Deutung, ist bei Feger auch von „schwäbisch-alemannischer Staatlichkeit“ (Feger 1946, 227) oder vom „Staat der Alemannen“ (Feger 1946, 208) die Rede. Während Feger also für seine Region die Beteiligung an einer föderalistischgesamtdeutschen Lösung, sei es als Bundesstaat oder Konföderation eindeutig ablehnt, wird nun der Föderalismusgedanke für den Aufbau eines eigenen Staats- und Verwaltungsapparates der „Schwäbisch-alemannischen Demokratie“ eine entscheidende Rolle spielen. Auch er entwirft wie Hans Peters eine Art Subsidiaritätsprinzip in der Kompetenzverteilung, ohne daß er freilich diese Terminologie verwendet: „Innerhalb dieses Rahmens (der Außengrenzen, M.G.) wäre nun eine territoriale Gliederung nach den natürlichen Landschaften anzustreben. Diesen Landschaften ist ein möglichst großes Maß an innerer Selbständigkeit zuzuweisen. Oberster Grundsatz müßte sein, daß alle Angelegenheiten, die nicht ausdrücklich der Zentralverwaltung zugewiesen werden müssen, den Landschaften zustehen“ (Feger 1946, 158). Als zentrale Funktionen werden aufgezählt: Auswärtige Angelegenheiten, Wahrung des demokratischen und föderalistischen Charakters des Gesamtstaates und seiner Teile, vor allem Schutz der Republik, Sicherung der Währung, Sorge für ein einheitliches bürgerliches und Strafrecht, Post und Bahn, Hochschulen und Wissenschaftspflege, gewisse mehr informatorische Aufgaben für Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft und die Finanzierung der Zentralgewalt (Feger 1946, 169). „Ein Kriegsministerium fehlt“ (Feger 1946, 159), denn Feger geht von der unbewaffneten Neutralität des zukünftigen Staates aus, dessen „Unabhängigkeit und Freiheit“ durch seine friedlichen Nachbarn, insbesondere durch „das benachbarte Frankreich“ als „die gegebene Schutzmacht“ gewährleistet werde (Feger 1946, 147). Kurz deutet Feger an, daß er sich die Existenz eines schwäbischalemannischen Staates mit eigenen Grenzen als Durchgangsstadium für ein zukünftiges Europa vorstellen kann: „Europa hat keine politische Existenz ... ist vor allem eine kulturelle Einheit. ... Das muß doch irgendwie politische Auswirkungen haben. Der Krieg erweist sich in diesen Tagen als ein überholtes Mittel zur Regelung internationaler Konflikte. Sind nicht auch die Grenzen, als Mittel zur Regelung internationaler Beziehungen überholt?“ (Feger 1946, 151), fragt er, obgleich er doch zumindest die politische und ethnische „Grenzziehung“ als notwendige Bedingung der „Autonomie“ der Schwaben und Alemannen ständig als sein höchste Prinzip ausgibt. Den in der unmittelbaren Nachkriegszeit so
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überaus populären Gedanken eines friedenspolitisch geeinten Europas teilt er mit vielen hier untersuchten Autoren, allen voran Eugen Kogon und Richard Löwenthal – aber sie alle scheitern an dem bis heute in der Europapolitik nicht befriedigend gelösten Problem, daß die Praktizierung der gleichzeitig gewollten Demokratie die Bestimmung des aktivbürgerlichen Demos und damit Inklusion und Exklusion zugleich voraussetzt. Wie auch immer der Wert der „kulturellen Einheit Europas“ beschworen wird, als politisch belastbare Inklusionsgrundlage etwa für umverteilungspolitische Mehrheitsentscheidungen hat es sich in den Jahrzehnten danach immer noch nicht bewährt. Nach wie vor gilt: „Territoriale Grenzen sind überdies essentielle Regulative des binnenstaatlichen Gemeinwohls“ (Offe 1998, 102) . Was im Übrigen zum institutionellen Aufbau des trotz allem notwendigen schwäbisch-alemannischen Zentralstaates gesagt wird, ist wenig interessant oder überraschend und ähnelt in Vielem dem Schweizer Vorbild: Zweikammersystem, dessen erste Kammer direkt durch Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen rekrutiert werden soll (Feger 1946, 162), um die verhältniswahlbedingte Funktionärsherrschaft des Weimarer Parteiensystems zu vermeiden. In der zweiten Kammer sollten einerseits Vertreter der Landschaften, „gewählt durch deren Parlamente“, und zusätzlich gewählte Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Funktionsbereiche wie die Hochschulen, Konfessionen und Gewerkschaften und des Weiteren „verdiente Persönlichkeiten ... Personen von Format, Erfinder, Dichter, Wissenschaftler“ vertreten sein (Feger 1946, 162); hier mischen sich bei Feger eigentümlich ständische Repräsentationsgedanken mit dem Honoratiorenprinzip, die mit der demokratischen Idee gleichheitsbasierter Repräsentation nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen sind. Wichtig sei zukünftig „die weitgehende Einschaltung des Volkes in die Gesetzgebung. Wichtige Vorlagen, grundlegende Gesetze müßten stets dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden“, das außerdem das Recht zum „Volksbegehren (Initiative)“ haben sollte (Feger 1946, 163). Unter Berufung auf die weit verbreitete Praxis der USA wird „die Wahl einer Mittel- oder Kleinstadt“ – Feger nennt Rottweil, Sigmaringen und Donaueschingen als Möglichkeit (Feger 1946, 159f) – als Sitz der zentralen Gewalten vorgeschlagen; damit „wäre der Tendenz zur Entstehung von großen Zentralverwaltungen, Todfeinden jeder wahren Demokratie, wirksam entgegengearbeitet“ (Feger 1946, 160). Der politische Plan einer strikten Dezentralisierung des ehemaligen deutschen Gesamtstaates, die Idee, daß „Landschaften“ bis hinunter zu den Gemeinden als gleichberechtigte und originäre demokratische Institutionen sich selbst regieren und repräsentieren müßten, auch die Vorstellung, daß es bei dieser Repräsentation nicht auf die bloß „formelle Gleichheit“ ankäme, findet sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit verschiedentlich, so zum Beispiel auch bei Franz W. Jerusalem, dem der „moderne, zentralistisch aufgebaute Staat mit Recht ... als völliger Widerspruch zur Idee der Demokratie“ erscheint (Jerusalem 1947, 28). Bei Otto Heinrich von der Gablentz führt, schon im Jahr der Grün-
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dung der Bundesrepublik, der Weg zur wahren Demokratie, geleitet durch die beiden Prinzipien „Führerwahl und Selbstverwaltung“ bei der Verwirklichung des zweiten nur über „kleine Gemeinschaften mit übersichtlicher Verantwortung“ (Gablentz 1949, 62). Dazu gehören „räumliche Dezentralisierung“ zur „Durchdringung von Industrie und Landwirtschaft“, ,Auseinanderlegung‘ von „Großbetrieben“, „Werkstattaussiedlungen“, ein „Betriebsrätegesetz“ und „Gewinnbeteiligung“ (Gablentz 1949, 62); wie bei Feger oder nachfolgend dargestellt ebenso Wilhelm Röpke, sind sich viele Autoren der Nachkriegszeit einig in dem Ziel der „Gliederung der Masse“ (Gablentz 1949, 61), die notwendig und nur durch solche Gesellschaftsplanung zu erreichen sei. „Keine Befugnis ist an eine übergeordnete Instanz zu geben, wenn sie genau so gut von einer untergeordneten durchgeführt werden kann ... und zwar soll diese untergeordnete Instanz diese Befugnis aus eigenem Recht ausüben“ (Feger 1946, 167), wobei die sich aus verschiedenen lokalen Traditionen ergebende Unterschiedlichkeit der Verwaltungsstrukturen und Abläufe für ihn kein Problem darstellt (Feger 1946, 159). „Die Fülle der Gewalten liegt nicht bei der Zentralinstanz, sondern bei den Landschaften und Gemeinden“ (Feger 1946, 168). Es ist nicht ganz klar, warum Feger trotzdem weiter von „untergeordneten Instanzen“ schreibt, denn tatsächlich sollen die einzelnen Landschaften eigene gesetzgebende Körperschaften und Verwaltungen besitzen, die „keineswegs Vollzugsorgane der übergeordneten Zentralgewalt“ bleiben sollten (Feger 1946, 158): „das kann am Bodensee mit seiner alten städtischen Kultur nach ganz anderen Gesichtspunkten organisiert werden als auf dem Hotzenwald, wo die alten bäuerlichen Einungen unter den Redemännern und Einungsmeistern nach hauensteinischem Landrecht leicht wieder zum Leben gebracht werden können“ (Feger 1946, 159) – wie Feger in offenkundiger Verkennung funktionaler rechtlicher und verwaltungsmäßiger Erfordernisse in welchem modernen Staat auch immer annimmt. Hier wie an vielen anderen Stellen trifft Klöcklers Urteil, die Überlegungen zielten „in Richtung einer kleinräumigen, berufsständisch gegliederten und subsidiären, letztlich vormoderen Gesellschaft – einen Heimatstaat“ (Klöckler 1999, 107) gewiß zu. Feger teilt diese Sehnsucht freilich mit vielen Zeitgenossen, wie sich später am Beispiel Wilhelm Röpkes noch zeigen wird. Allerdings muß man die herabsetzende Kritik an der „Kleinstaaterei“ von der teils berechtigten Kritik an der romantisierend-rückwärtsgewandten Gesellschaftsidylle strikt unterscheiden; schließlich gibt es neben der Schweiz noch sehr viel kleinere „Kleinstaaten“, die sich höchst moderner und zeitgemäßer Strukturen erfreuen. Feger geht es freilich im Kern auch nicht um die organisatorischen Details des zukünftigen Staats- und Verwaltungsaufbaus, sondern um die Darlegung der beiden Prinzipien – „demokratischer Grundcharakter“ und „das Alemannisch-Eigenständige“ – die der neue Staat praktisch umsetzen müsse (Feger 1946, 161). Dafür müsse der „Durchbruch aus dem Beamtenstaat ... auf den Volksstaat“ gewagt werden (Feger 1946, 173); ersterer sei durch Zentralismus und die ab-
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strakte Einheitlichkeit seiner ministerial geleiteten Berufsverwaltung geleitet, letzterer soll vor allem so dezentral wie möglich – selbst noch innnerhalb der einzelnen Landschaften (Feger 1946, 159) – und durch die weitestgehende ,Einschaltung des Bürgers‘ in die Verwaltung charakterisiert sein, der die „Loslösung einer größeren Anzahl von Verwaltungs- und Aufsichtsfunktionen aus dem Beamtenkörper und ihre Übertragung an ehrenamtlich oder nebenamtlich tätige Bürger“ vorsieht. „Durch weitgehende Teilnahme an der Selbstverwaltung kann der Staat, den wir als mächtige Maschine, als unpersönlichen, alles beherrschenden Mechanismus, oder nach Nietzsche als kaltes Ungeheuer kennen und fürchten gelernt haben, wieder zu einem Staat des Volkes werden, so wie er durch ein Jahrtausend bei uns war und in der Schweiz heute noch ist“ (Feger 1946, 168). Da in dieser „alten Tradition ein tiefer Sinn für Recht“ (Feger 1946, 181) offenkundig bei allen Schwaben und Alemannen verankert sei, müsse man nicht nur Beamte weitgehend durch zur Selbstverwaltung bereite Bürger ersetzen, sondern könne auch in der Gerichtspflege weitgehend auf Berufsjuristen verzichten. Voraussetzung sei freilich „ein Recht, das vom Staatsbürger ohne Spezialausbildung verstanden werden kann ... ein Volksrecht, nicht ein Juristenrecht“ (Feger 1946, 174), denn „um die Gerichte zu demokratisieren, müssen sie ebenfalls dezentralisiert und laisiert werden“ (Feger 1946, 176). Man könne jedenfalls die „gesamte Bagatellgerichtsbarkeit aus der Hand der Fachjuristen herausnehmen“ und die „Dorfgerichtsbarkeit, die Talgerichtsbarkeit der früheren Zeit wieder einführen“, denn „ein Kollegium von drei oder fünf ehrenamtlichen, von der Gemeinde gewählten Richtern wird schließlich immer noch so viel an Weisheit aufbringen als ein junger Assessor als Einzelrichter“ (Feger 1946, 177), hofft Feger vielleicht nicht zu unrecht – denn bekanntlich spielt die „Weisheit“ in der heutigen Juristenausbildung nur eine untergeordnete Rolle. Ob freilich der auch unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit notwendigen Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Revisionsmöglichkeit der Rechtssprechung mit solch lokaler und parochialer Rechtsfindung aufgeholfen werden könnte, darf doch sehr bezweifelt werden. Auch hier zeigen sich Parallelen zum politischen Denken des Juristen Jerusalem, für den es gilt, die „besonderen Rechtskreise ... auch das besondere Rechtsbewußtsein einzelner Landschaften ... wieder ins Leben zu rufen. Das ist eines der Heilmittel, mittels deren das deutsche Volk aus jenem Vermassungsprozeß herausfinden könnte“ (Jerusalem 1947, 31) – eine für einen Professor des Öffentlichen Rechts erstaunliche Ansicht. Die entscheidende Rolle bei der Errichtung und zukünftigen Erhaltung dieses auf schwäbisch-alemannischer „Eigenart“ beruhenden „Volksstaates“ spiele nun also die partizipationsbereite Aktivbürgerschaft der Einheimischen und hier drohe – selbst nachdem die äußeren Grenzen geschlossen und die staatsrechtliche Autonomie errichtet sein würde – Ungemach durch die große Zahl von „Gästen aus andern deutschen Stämmen und Landschaften“, durch „zahlreiche Norddeutsche und Ostdeutsche“, die sich „in Alemannien niedergelassen“ hätten, durch „Beamte“ aus der Zeit des Nationalsozialismus, „große Massen an
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Evakuierten, später an Ostflüchtlingen“ und endlich „suchten Rückwanderer aus aller Welt im sonnigen Südwesten Unterkunft und Nahrung“ (Feger 1946, 206f). Aber, so Feger, „der Aufenthalt an einem Ort, ohne sonstige Beziehung zu seiner Kultur und Tradition kann noch kein Bürgerrecht schaffen. Ein autonomes Alemannien ist nicht nur ein räumliches Gebilde, sondern gleichzeitig der Staat der Alemannen“ (Feger 1946, 208), den man dauerhaft vor drohender Überfremdung schützen müsse, denn es „müßte zu unbestreitbaren Schwierigkeiten führen, wenn diese nicht aus dem Lande stammenden, vor allem norddeutschen Gäste, Einfluß auf unsere politische Entwicklung nehmen wollten und würden. Die notwendige Reorganisation unseres staatlichen Lebens ist eine zunächst ausschließlich alemannische Angelegenheit und auf Traditionen stammesmäßiger Art fußend, die in anderen Gegenden Deutschlands fehlen und dort durch sicher nicht weniger schlechte Traditionen ersetzt werden“ (Feger 1946, 207). Die letzte Bemerkung scheint Fegers Versuch der Abwehr des Vorwurfs eines schwäbisch-alemannischen Überlegenheitsdenkens geschuldet – ist aber bezüglich seiner Sicht der Nord- und Ostdeutschen kaum als glaubwürdig zu betrachten. Das Ressentiment gegen „Norddeutschland“ als Hort des Obrigkeitsstaates konnte damals offenkundig auf viel Zustimmung im Süden und Südwesten hoffen; es findet sich 1946 beispielsweise ebenso in der „Regierungserklärung“ des neuen Regierungspräsidenten in Würzburg (Stegerwald 1946, 19). Die praktische Konsequenz heißt für Feger: „Reform des Staatsbürgerrechts zum Schutz gegen Überfremdung. Landesfremde genießen die gleiche privatrechtliche Stellung und werden uns als Gäste wert sein. Über die Gestaltung unseres öffentlichen Lebens bestimmen sie nicht“ (Feger 1946, 128); und daß das Staatsbürgerrecht in Alemannien „nur für diejenigen möglich“ sei, „die das Bürgerrecht von Geburt haben oder es erwerben“ (Feger 1946, 208). Diese wenig eindeutigen Formulierungen lassen offen, ob im ersten Falle damit ein „ius soli“ wie im Falle der USA gemeint ist, was ja mindestens der zweiten Generation unabhängig von der Abstammung die Einbürgerung ermöglichen würde, oder ob „von Geburt“ sich auf die vorausgesetzte Staatsbürgerqualität der Eltern – beider? – im Sinne eines „ius sanguinis“ bezieht. Für Einbürgerungen sollen zweitens im Sinne der strikten Dezentralisierungsidee wie in der Schweiz die Ortsgemeinden zutändig sein: „auf dem Ortsbürgerrecht baut sich dann das Staatsbürgerrecht automatisch auf“ (Feger 1946, 209) – auch hier wäre ja die landsmannschaftliche Zugehörigkeit nicht automatisch gewährleistet. In funktionaler Hinsicht sind die angedachten Vorkehrungen zur Erreichung und Erhaltung schwäbisch-alemannischer „Eigenart“ also unvollkommen; politisch und theoretisch ist das bei Feger zum Ausdruck kommende essentialistische Stammesdenken mit den universalistischen Prinzipien eines modernen Staatsbürgerrechts der Demokratie unvereinbar. Allerdings hat dieses selbst bis heute keineswegs konsistente Prinzipien oder Regeln für die funktional jeweils notwendige Antwort auf die Frage nach der „Mitgliedschaft“ in der mit aktiven und passiven Rechten und Pflichten
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ausgestatteten „Staatsbürgerschaft“ einer Demokratie parat (Greven 1998), und die einzelnen demokratischen Staaten behelfen sich zumeist mit einer Mischung aus traditionalem Regelwerk und pragmatischer Einbürgerungspolitik nach Interessenlage. Otto Feger hat mit seiner Einschätzung, der von ihm propagierte „alemannische Staat“ sei vielleicht „weniger utopisch als der von vielen auch heute noch erstrebte deutsche Zentralstaat“ (Feger 1946, 155) 1949 nur zum Teil und 1990 entgültig nicht Recht behalten. Der deutsche Bundesstaat, in dem er keine Lösung der Probleme sah, hat trotz aller Bedenken gerade in der Hinsicht, in der ihm Feger mißtraute, eine gute Bilanz vorzuweisen: Freiheit und Frieden wurden durch ihn nicht bedroht. Aber konnte man das 1945, als Feger das Buch schrieb, wirklich so voraussehen? Feger hat mit seiner „Apologie und Vision“ (Feger 1946, 225ff) eines radikaldemokratischen selbständigen Südweststaates demokratietheoretisch normativ mehr eingefordert, als in der repräsentativen Demokratie Deutschlands schließlich verwirklicht wurde. Erst Jahrzehnte später, im Zeichen der „partizipatorischen Demokratie“ anfangs der siebziger Jahre tauchten wieder ähnliche Forderungen und Gedanken in Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen auf, von denen einige, etwa die „starke“ oder wenigstens „schwache“ Ergänzung (Schiller 2002, 18) der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Elemente, weiterhin aktuell bleiben. Feger hat hier die objektive Lage der unmittelbaren Nachkriegszeit als die kontingente Chance wahrgenommen und genutzt, ein von vielen damals wie heute als „utopisch“ wahrgenommenes Projekt zu propagieren. Was freilich „realistisch“ und was „utopisch“ ist, stellt sich oft erst im Nachhinein heraus, wie man am Beispiel der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in Folge der erfolgreichen Bürgerrechtsrevolution von 1989 gut studieren kann: „realistisch“ war zur Überraschung vieler die innere Überwindung der Parteidiktatur der SED und auf einmal auch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die als offizielles Staats- und Verfassungsziel der Bundesrepublik Deutschland vielen Bürgern und Bürgerinnen Westdeutschlands längst als „utopisch“ erschienen war. Umgekehrt stellten sich die ursprünglichen Ziele der ostdeutschen Bürgerrevolution in Form eines selbständigen „Dritten Weges“ erstaunlich schnell als „utopisch“ heraus. Dieser kleine Vergleich soll nur andeuten, welches kontingente Wechselspiel der Perspektiven sich aus der konkreten Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit heraus ergeben konnte, wenn man nicht nachträglich die wirklich eingetretene Situation als die einzig mögliche Entwicklung betrachtet. Im Vergleich zu anderen in diesem Buch betrachteten Nachkriegsentwürfen hat Feger den politischen Möglichkeitsraum jedenfalls als weiter und offener als die meisten anderen ein- und vielleicht überschätzt. Die bereits angesprochenen essentialistischen Deutungen der schwäbisch-alemannischen „Eigenart“ wollen allerdings nicht recht dazu passen.
IV. Gegen Kapitalismus und Kommunismus: „Dritte Wege“
Wilhelm Röpke: die Wettbewerbsordnung als Garant der Freiheit gegen Kollektivismus Macht Der Name Wilhelm Röpkes erscheint in Publizistik wie wissenschaftlicher Literatur sehr häufig unter der Rubrik der sogenannten geistigen Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“; für Hans-Peter Schwarz handelt es sich bei ihm sogar um den „geistige(n) Vater der Bundesrepublik Deutschland“ (Schwarz 1966, XXI) überhaupt, weil dieser nach Schwarz angeblich als erster eine „westdeutsche Konföderation“ (Schwarz 1966, 393) vorschlug und „die prägnanteste Darstellung des Konzepts der Westintegration Deutschlands bei gleichzeitiger Teilung des Landes entlang der Demarkationslinie zur sowjetischen Besatzungszone“ lieferte (Schwarz 1960, 394). Das ist zwar einerseits zutreffend, aber die Suggestion, die Schwarz damit erzeugt, ist es historisch nicht. Röpke plädierte keineswegs für einen westdeutschen Bundesstaat wie die nachmalige Bundesrepublik Deutschland, sondern wie später noch dargelegt, für die endgültige Zerschlagung des Bismarckreiches und die damit verbundene Vorstellung eines deutschen Nationalstaates. Die von ihm geforderte „politische Revolution“ bestünde jedenfalls nach der ersten Auflage von 1945 in einer „Wiederauflösung des Bismarckreiches und ... in der Schaffung einer deutschen Konföderation von autonomen Ländern. ... Das bedeutet, daß das Rheinland, Westfalen, Hannover oder Schleswig-Holstein den Rang selbständiger deutscher Staaten gewinnen oder sich untereinander zu solchen zusammenschließen“ (Röpke 1945, 226). Österreich gilt ihm dabei bezeichnenderweise als Beispiel für den Grad der Autonomie der „deutschen Staaten“ (Röpke 1945, 231), wenn er schreibt: „das föderative Band der deutschen Staaten (sollte, M.G.) so locker wie möglich gehalten werden, und wenn einer oder der andere Staat seine völlige Autonomie oder die Anlehnung an einen ausländischen Staat anstrebt, so sollte man ihm vielleicht nichts in den Weg legen“ (Röpke 1945, 248). Von diesen ersten Überlegungen Röpkes, die er bereits in einem gemeinsamen Memorandum mit F.A. Kramer noch im Schweizer Refugium den Amerikanern vorgelegt hatte (Röpke 1959, 369ff), führt keine direkte politische Linie zum unitarischen Bundesstaat der späteren Bundesrepublik. Richtig an der Einschätzung von Schwarz bleibt allein, daß Röpke bereits in der ersten Auflage von 1945 die „brutale Tatsache“, daß „die Elbe zu einem Limes des Abendlandes geworden“ war (Röpke 1945, 248) zutreffend beurteilte und deshalb seine Gedanken zur „Westintegration“
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auf die westlich dieser Linie zu bildenden selbständigen Staaten begrenzte. In den nachfolgenden Auflagen beginnt Röpke allerdings bereits seine Position den sich wandelnden Gegebenheiten anzupassen und spricht nicht mehr von ,autonomen Staaten‘, sondern von „autonomen Ländern“, die die „westdeutsche Konföderation“ bilden sollen (Röpke 1945, 256); im Übrigen schlägt er vor, die westlichen Alliierten sollten durch Verhandlungen mit den Russen den „tragischen Rückzug“ aus Sachsen und Thüringen dadurch rückgängig machen, daß sie im Tausch dafür Gesamtberlin anböten, was in seinen Worten „die ehrliche Preisgabe einer ebenso nutzlosen wie verderblichen Fiktion bedeuten“ würde (Röpke 1945, 256). Nach meinem Urteil zeigen diese wenigen Zitate, daß man Röpke in außen- und staatspolitischer Hinsicht nicht als „geistigen Vater der späteren Bundesrepublik“ bezeichnen kann. Aber auch die ihm zugeschriebene Rolle als geistiger Vater der „sozialen Marktwirtschaft“ darf man nicht so verstehen, daß die späteren tatsächlichen Verhältnisse weitgehend seinen Vorschlägen von 1945 entsprochen hätten. Röpke selbst hat in seinen maßgeblichen und weit verbreiteten Publikationen zum Neubeginn in Deutschland nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands zunächst die Bezeichnung „soziale Marktwirtschaft“ gar nicht selbst systematisch verwendet, sondern andere Bezeichnungen vorgezogen, mit denen er seine weitreichenden Ziele darlegen, abgrenzen und kenntlich machen wollte. Wenn mit „soziale Marktwirtschaft“ in späteren Publikationen ebenso oft nicht ein spezifisches ordnungspolitisches Programm, sondern die spätestens in den fünfziger Jahren in Westdeutschland tatsächlich entstandene Ordnung des Wirtschaftssystems gemeint ist, so weist diese Zuordnung erst recht in die falsche Richtung – denn Röpke selbst gehörte zu diesem Zeitpunkt bereits eher zu den Kritikern der praktischen Umsetzung seiner Ideen durch die Regierungen Adenauers (Haselbach 1991, 172) – wenn er auch bis zu seinem Tode großen Wert darauf legte, grundsätzlich als einer der geistigen Väter der westdeutschen Nachkriegsordnung anerkannt zu werden. In seinen umfangreichen Publikationen aus der hier untersuchten Zeit ging es Röpke aber um viel mehr als um nur ein angemessenes ordnungspolitisches Wirtschaftsmodell. Zweifellos stand „die Wirtschaftsverfassung freier Menschen“ (Röpke 1942, 284) an zentraler Stelle seiner philosophisch, historisch und gesellschaftspolitisch weit ausgreifenden Studien aus der hier untersuchten Zeit, aber sie besaß in seinem politischen Denken lediglich instrumentellen Stellenwert. Diese „freien Menschen“ und nicht eine „freie Wirtschaftsordnung“ als schlechtes Abstraktum waren das Ziel. Vor allem ging es nicht wie heute um das optimale Wirtschaftssystem – etwa im Sinne der höchsten Produktivitätssteigerung – als solches, sondern bereits in seinem 1942 erstmalig in der Schweiz erschienenen Buch „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ um nicht weniger als die Beantwortung der klassisch philosophischen Fragen: „Wo stehen wir? Woher kommen wir? Wohin treiben wir? Was sind wir? Wohin wollen, und noch mehr, wohin sollen wir?“ (Röpke 1942), also in normativer
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Betrachtung um die „Civitas Humana“ als Ganzes – wie er sein 1944 zuerst wiederum in der Schweiz veröffentliches nächstes Werk nannte (Röpke 1946). Das Buch, das er im Frühjahr 1944 schließlich über „Die deutsche Frage“ (Röpke 1945) nachfolgen ließ, kann und muß als Anwendung seiner grundlegenden Gedanken aus aktuellem Anlaß gelesen werden. Für diejenigen, die Röpke heute als Apologeten liberaler Wirtschaftspolitik, des unbegrenzt freien Marktes, ja des Kapitalismus vereinnahmen wollten, dürfte bei erneuter Lektüre die Radikalität seiner Kritik genau dieser drei Elemente dessen, was man heute ein neo-liberales Programm nennt, überraschen. Ihr historisches Versagen bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung stand für Röpke in den vierziger Jahren ebenso fest, wie ihr Anteil am Zustandekommen der totalitären Herrschaftssysteme in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. An sie dürfte nach der Niederlage des Nationalsozialismus keineswegs wieder so wie vor 1933 angeknüpft werden, um nicht erneut im Kollektivismus auf die eine oder andere Art zu enden. Was Not tue, sei vielmehr eine „dreifache Revolution“: geistig-moralisch, politisch und wirtschaftlichsozial (Röpke 1945, 236). Helga Grebing hatte früh, zustimmend und mit guten Argumenten gegen die heute noch übliche Rubrizierung Röpkes als ,Ordo-Liberalen‘ und seine Identifizierung als ,liberalen Marktwirtschaftler‘ darauf hingewiesen, daß Röpke sich selbst zunehmend als „radikaler, revolutionärer Konservativer“ bezeichnete (Grebing 1971, 333). Ihre differenzierte Auseinandersetzung und Kritik mit dem Werk Röpkes bleibt aber letztlich auf die gerade bei Röpke kaum weiterführende Alternative pro- oder antikapitalistisch reduziert. Eigenartigerweise erwähnt sie „Die deutsche Frage“ Röpkes nicht einmal. Was Röpke zur geistig-moralischen Seite dieser nach 1945 notwendigen „Revolution“ schreibt, ist – ohne natürlich grundsätzlich falsch zu sein – zunächst wenig originell und diskussionswürdig: „Reue und Wiedergeburt“, wie sie Max Scheler bereits nach dem ersten Weltkrieg gefordert habe, Einsicht in die Ursachen der Katastrophe – wozu ja nicht zuletzt sein Buch verhelfen sollte – und Weckung des „Gewissens aller Deutschen ... die nicht durch das diabolische System des Nationalsozialismus hoffnungslos verdorben sind“ (Röpke 1945, 222); man müsse den Deutschen „Bücher geben, die ihnen die unvergänglichen Werte unserer abendländischen Kultur nahebringen und den Satanismus des Nationalsozialismus enthüllen“ (Röpke 1945, 223) und dürfe im Übrigen darauf vertrauen, daß das Volk anders als seine von Röpke auch als „Naziteufel“ bezeichneten Führer, keinen Selbstmord begehen werde, „sondern umkehren, sofern man ihm einen Rückweg zeigt“ (Röpke 1945, 223). Was hier nur anklingt, wird an anderer Stelle viel deutlicher gesagt: nämlich „daß der Nationalsozialismus seinen Eroberungszug in Deutschland selbst begonnen hat, daß die Deutschen die ersten Opfer der Barbareninvasion gewesen sind, die sich von unten herauf über sie ergoß, daß sie die ersten waren, die mit Terror und Massenhypnose überwältigt wurden und daß alles, was dann später die be-
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setzten Länder zu erdulden hatten, zuerst den Deutschen selbst zugefügt worden ist, eingeschlossen das allerschlimmste Schicksal: zu Werkzeugen weiterer Eroberung und Unterdrückung gepreßt und verführt zu werden“ (Röpke 1945, 30). Die Deutschen also als Opfer eines letztlich unbegreiflichen Vorganges, der selbst die Logik außer Kraft zu setzen schien und sich „von unten herauf über sie ergoß“; von „unten“ also, wo „jede Gesellschaft, so zivilisiert-phäakenhaft sie uns auch erscheinen mag, in ihrer Tiefe eine Kloake untermenschlicher Typen (birgt), die fest geschlossen gehalten werden muß. ... Mit anderen Worten: überall lauern die dämonischen Kräfte des Bösen, auf die Gelegenheit wartend. ... Man bohre diese Tiefen an, und man wird erleben, wie die menschlichen Schlammassen in die Höhe geschleudert werden“ (Röpke 1946, 64). Wiederum also, wie in unterschiedlicher Ausprägung bereits bei Alfred Weber und Friedrich Meinecke begegnet, der Hinweis auf die „dämonischen Kräfte des Bösen“ als Pseudoursache für das, was man mit wissenschaftlicher Aufklärung allein nicht mehr zu begreifen vermag. Man darf aber auch hier nicht übersehen, wie schnell untadelige Demokraten – und Christen – sich in ihrem hilflosen Entsetzen über die nationalsozialistischen Verbrechen mit einer Wortwahl wie der von ,untermenschlichen Typen‘ in die unfreiwillige Nachbarschaft gerade derer begeben, die sie am meisten verachten. Es handelt sich bei Röpke keinesfalls um einen einmaligen lapsus, sondern häufig, wenn er von den verbrecherischen Seiten des Nationalsozialismus spricht, tendiert er zu solch einer problematischer Terminologie wie etwa „Ausschußprodukte der Natur“, die an „die Spitze eines Staates gelangen“ könnten (Röpke 1945a, 34). Diese Tendenz, „die Deutschen“ selbst pauschal als die „ersten Opfer einer Barbareninvasion“ darzustellen, wird noch verstärkt durch die Tatsache, daß er in seinem Buch über die „deutsche Frage“ noch vor der Thematisierung von deutschen Schuldproblemen die „Mitschuld der Welt“ ausführlich thematisiert. Olick stellt im Falle von Röpke zurecht die Tendenz heraus, bei allem und jedem die deutsche Schuld und Verantwortung durch Hinweise auf die Mitverantwortung anderer Mächte zu relativieren; so sei der Rassismus einst vom „French writer Gobineau“ zuerst verbreitet worden und selbst „the ‚destruction of the European Jews‘ is (für Röpke, M.G.) a symptom of other trends, which are not specifically German“ (Olick 2005, 174f). Die keineswegs nur britische und im Münchner Abkommen gipfelnde ,appeasement-Politik‘ macht Röpke verantwortlich dafür, „daß die Welt sich nicht rührte, daß sie nicht wissen wollte“ (Röpke 1945, 20), was doch seit den massiven Rechtsbrüchen und Gewaltmaßnahmen bereits des Frühjahres 1933 vor aller Augen geschah – und was ihr nicht zuletzt die Emigranten wie Röpke selbst zu erklären versuchten. Noch im Text von 1945 klingt die tragische Situation Röpkes und jener als Systemkritiker des Nationalsozialismus Emigrierten durch, denen man in ihren Fluchtländern wenig politisches Vertrauen entgegenbrachte, denen man ihre Berichte nicht glauben „wollte“, weil man es vorzog, sich mit den neuen Herrschern in Deutschland zu arrangieren. Röpke
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nennt dafür zwei maßgebliche Gründe: erstens die „Schwächung der moralischen Reflexe“, ein „im letzten moralisches Versagen“; das „aber ist eine Schuld, die die Welt durchaus mit den Deutschen teilen muß“ (Röpke 1945, 21). Ergebnis war, daß das „Liebeswerben des Dritten Reiches um die Weltgunst“ einen „beschämenden Erfolg“ hatte (Röpke 1945, 27), was sich nicht nur bei den Olympischen Spielen 1936, sondern mehr noch in der Art zeigte, wie international auf die vertragswidrige massive Aufrüstungspolitik, den Einmarsch in das Rheinland, den ,Anschluß‘ Österreichs, dann des Sudetenlandes und schließlich die Zerstörung und Unterwerfung der tschechoslowakischen Republik in einer „Kapitulation der Weltpolitik“ vor diesem aggressiven Expansionismus der Nationalsozialisten nicht reagiert wurde. „Während dieser ganzen Zeit hatten ungezählte Deutsche ihre letzten verzweifelten Hoffnungen auf eine feste Haltung der Großmächte gesetzt, aber immer wieder mußten sie den Triumph ihrer verhaßten Tyrannen über eine gelähmte Welt erleben“ (Röpke 1945, 29). Zweitens aber lag die Ursache des moralischen wie politischen Versagens auf Seiten der Westmächte in dem politisch-theoretischen Vor- und Fehlurteil über die wahre Natur der totalitären Bedrohung der freien Welt: „Es bleibt die große Schuld der Welt, daß sie sich damals durch dieses Ausspielen des Kommunismus gegen den Nationalsozialismus so sehr in ihrem Urteil und in ihren sittlichen Empfindungen hat verwirren lassen“ (Röpke 1945, 23). Auf dem Hintergrund einer bereits ziemlich elaborierten phänomenologischen Totalitarismustheorie, die sich vor allem auf Elie Halévys „L’ère des tyrannies“ (Haléy 1938) und das von ihm in der deutschsprachigen Übersetzung herausgegebene und eingeleitete Werk Friedrich A. Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ (Hayek o.J. ) stützte, kritisiert Röpke die ja bis in die Nachkriegszeit weit verbreitete politische Hoffnung, die in Nationalsozialismus und italienischem Faschismus ein „Bollwerk“ gegen den sowjetischen Imperialismus und die kommunistische Bewegung im eigenen Land zugleich sah, und die damit die „Strukturgleichheit“ dieser „beiden Hauptspielarten des Kollektivismus“ (Röpke 1945, 22) verkannte. Mit dem Begriff des „Kollektivismus“ ist der für Röpke zentrale Begriff seiner eigenen Theorie gefallen, von dem gleich noch die Rede sein wird, und der nach ihm das wesentliche geistige und politische Prinzip „jenes Gesellschaftsund Regierungssystems, das wir Totalitarismus nennen“, ist (Röpke 1945, 31). Der dritten Auflage seiner „deutschen Frage“ – das Buch ist zwischenzeitlich auch in englischer und französischer Übersetzung erschienen und wird wohl gerade international als ein entscheidender deutscher Beitrag wahrgenommen – fügt Röpke unter anderem ein neues Kapitel „Kollektivschuld?“ (Röpke 1948, 112-125) ein, dessen Hauptintention sich gegen das „heute allgemein als unhaltbar und verhängnisvoll erkannte Zerstörungsprogramm von Potsdam“ richtet, das „ausdrücklich und offiziell mit der Kollektivschuldthese begründet worden“ sei (Röpke 1948, 118). Die Argumente gegen diese „grundfalsche und verhängnisvolle Theorie, mit der die Alliierten nach Deuschland gekommen sind“ (Röpke 1948, 118), basieren hauptsächlich auf einem „Haupt-
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grundsatz unserer Zivilisation, nämlich (dem) der persönlichen Verantwortung“ (Röpke 1948, 116). Röpke weist ausdrücklich auf die hier bereits behandelte „Schuldfrage“ Karl Jaspers hin, die „weitgehend zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt“ (Röpke 1948, 113). Trotzdem lohnt es sich, einen Moment bei den Differenzen zu verweilen. In der Deutlichkeit, mit der die Alliierten und ihre in den willkürlichen Enteignungen und in der Entnazifizierungspraxis zum Ausdruck kommende Haltung als Besatzer von Röpke kritisiert werden, steckt natürlich auch die inzwischen längere Erfahrung mit der Besatzungspolitik – die Jaspers im Winter 1945-46 so noch nicht haben konnte. Aber die Differenzen gehen tiefer und sind in grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen über die politiktheoretische Deutung des Nationalsozialismus begründet. Während Jaspers, wie bereits im Einzelnen dargelegt, zwar die Kollektivschuldthese in „krimineller“ Hinsicht zurückwies, hatte er doch sehr deutlich die Ansicht vertreten, jedes Volk müsse nicht nur die Haftung für die durch die „eigene Regierung“ verursachten Schäden übernehmen, sondern sei auch politisch mitschuldig. In der Haftungsfrage ist Röpke mit ihm einig, wenn er auch stärker betont, es „wäre nun durchaus billig, diejenigen, denen sich ein hoher individueller Schuldanteil nachweisen läßt, auch in entsprechendem Maße zur Wiedergutmachung heranzuziehen“ (Röpke 1948, 115). Daß Röpke hier das später so populäre, aber falsche Entlastung versprechende Wort von der „Wiedergutmachung“ verwendet, sei nur am Rand bemerkt. Auch hinsichtlich der „politischen Schuld“ – in der Terminologie Jaspers – geht Röpke noch ein Stück weit mit ihm einig, wenn er feststellt, jedem Deutschen wäre „im Durchschnitt“ das Bewußtsein zu wünschen, „zu irgendeinem Teile moralisch-psychologisch verantwortlicher Mitträger“ der verhängnisvollen Entwicklung deutscher Politik „von 1866 bis 1933“ gewesen zu sein (Röpke 1948, 114). Aber eben nur bis 1933 – denn hier endet die Gemeinsamkeit mit Jaspers. Während dieser, ungeachtet seiner eigenen Erfahrung, man habe ab 1933 in Deutschland wie in einem „Zuchthaus“ gelebt, in einer an den abstrakten Republikanismus erinnernden Weise auch für die Zeit 1933-45 an der These festhält, jedes Volk sei für seine Regierung und deren Handlungen voll verantwortlich und gegebenenfalls mitschuldig, sieht Röpke das deutsche Volk, wie bereits dargestellt, ab 1933 als das erste Opfer einer „usurpierte(n) Regierung von Kriminellen“ (Röpke 1948, 115). Während es Jaspers als die alleinige Aufgabe der alliierten Sieger ansah, zu bestimmen, wie mit der Zukunft des deutschen Volkes zu verfahren und die Schuld im einzelnen zuzumessen sei, zieht Röpke aus seiner totalitarismustheoretischen Usurpationsthese weitreichende Schlußfolgerungen darüber, welches Handeln auf Seiten der Alliierten eigentlich angemessen gewesen wäre. Von ihrer maßgeblichen Mitschuld durch ,appeasement‘ war schon in den ursprünglichen Einleitungskapiteln der „deutschen Frage“ die Rede; 1948 verschärft Röpke diesbezüglich seine Angriffe auf die Alliierten. Neu ist dabei dieser Akzent: die Alliierten „mußten vor allem das Element des Bürgerkrieges verstehen, das ... dem internationalen Kriege beigemischt war, und danach trachten, die Regi-
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megegner in den feindlichen Ländern zu gewinnen“ (Röpke 1948, 119). Zwar hätten sie „den Krieg nicht gut anders als nach dem Territorialprinzip führen“ können – aber sie hätten „den Frieden nach dem Personalprinzip schließen“ müssen, „d.h. einen Frieden, der so beschaffen wäre, als ob der Krieg allein gegen die Träger und Anhänger des Regimes, nicht aber auch gegen seine Gegner geführt worden wäre“ (Röpke 1948, 119). Mit der folgenden Behauptung stellt sich Röpke nun diametral – wenn auch nicht ausdrücklich – gegen Jaspers: Die „Eigenart des Totalitarismus“ sei es, daß es in ihm „unangebracht ist, die Verantwortung der Regierung mit derjenigen des ganzen Volkes zu identifizieren“ (Röpke 1948, 120f). Angesichts dieser „Eigenart“ gelte: „Dieselbe Staatsstruktur, die ein Land zum Schlimmsten befähigt, vermindert zugleich die Schuld des Volkes an den begangenen Untaten. ... Daß wir just dann, wenn ein Land andere am meisten drangsaliert, unserem Zorne gegen die Gesamtheit seiner Bewohner am meisten Zügel anlegen müssen, ist gewiß sehr unbefriedigend. ... Die Folgerung ist, daß er verhindert oder gestürzt werden muß, ehe es zu spät ist“ (Röpke 1948, 121). Wäre die „Verhinderung“ also vor 1933 die Aufgabe der Deutschen, mindestens ihrer Eliten gewesen, so der „rechtzeitige Sturz“ von außen die Aufgabe der Allierten danach. In der Schuld stehen also nach Röpke die Deutschen und die Allierten gleichermaßen, weshalb nach 1945 die eigentliche ,Front‘ in der Schuldfrage zwischen den Nazigegnern im Lande, den Exilierten oder Vertriebenen wie Röpke selbst und den früher zur Intervention gegen den Nationalsozialismus bereiten internationalen Kräften einerseits und den Nazis und ,appeasement-Politikern‘ im Innern wie Äußeren andererseits verlaufe. Das waren gewiß 1948, vor allem auch nach den Erfahrungen mit der bürokratischen und vielfach zu Ungerechtigkeiten führenden Massenentnazifizierung, bei weiten Bevölkerungskreisen in Deutschland sehr willkommene Worte, die sich von dem moralischen Rigorismus Jaspers wahrscheinlich in ihrer Wirkung befreiend abhoben. Hier fanden sich Thesen eines persönlich gewiß völlig Unverdächtigen, die die sicherlich weit verbreiten Gefühle gegenüber den Besatzungsmächten auf den Punkt brachten und denen zufolge sie nicht mehr auf dem hohen moralischen Roß, sondern vielmehr in der Rolle des Mitschuldigen sich wiederfanden. Auf einem anderen Blatt steht, ob diese Zustimmung auch den aktuellen politischen Schlußfolgerungen Röpkes gelten mochte, denn er macht diese Schuldaufrechnung 1948, nach der offiziellen Deklaration des ,Kalten Krieges‘, mit eindeutig aktualistischem Bezug auf. Daß man den Anfängen wehren müsse, solange es noch Zeit sei, gilt ihm offenkundig nun auch gegenüber der anderen Form des totalitären Kollektivismus – „wenn wir bedenken, wie schwächlich sich heute diese selbe Welt gegenüber dem Kommunismus verhält“ (Röpke 1948, 124). „Ein Pazifismus aber, dem keine Sache mehr des Kampfes wert erscheint, verdient keinen Respekt, am allerwenigsten dann, wenn das Risiko des Konfliktes, wie am Anfang des Dritten Reiches, so gering ist“ (Röpke 1948,
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122). Das ist nun freilich aus heutiger Sicht kaum mehr zu beurteilen, ob Röpke mit diesen Anspielungen, immerhin nach den ersten Einsätzen von Nuklearwaffen in Japan und angesichts der Besetzung weiter Teile Ost- und Mitteleuropas durch das sowjetische Millionenheer, hier einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion befürworten wollte. Es gibt dafür an anderen Stellen keine Hinweise. In seinem Buch über die Zukunft der „internationalen Ordnung“ hatte sich Röpke jedenfalls auf wenige warnende Hinweise beschränkt, daß nach der absehbaren Niederlage des deutschen Nationalsozialismus dem Aufbau einer friedlichen Ordnung des freien Welthandels der anhaltende Kollektivismus in Rußland entgegenstehen müsse (Röpke 1945a, 61), denn der Sozialismus beziehungsweise Kommunismus müsse unweigerlich zur imperialistischen „Großraumwirtschaft“ und diese wiederum zum Krieg führen (Röpke 1945a, 105). Eine Aufforderung, den ,Kalten Krieg‘ mit anderen Mitteln zu verschärfen und sich der Gefahren des als expansiv eingeschätzten Kommunismus bewußt zu werden, muß man aus Röpkes Texterweiterung 1948 jedenfalls alle Mal herauslesen. Gerade weil Röpke in seiner „Einleitung“ zur deutschsprachigen Ausgabe von Hayeks zuerst auf englisch – und erkennbar für ein englisches Publikum – geschriebenem Werk diesen so enthusiastisch als „Freund, Kollegen und Gesinnungsgenossen“, als „einen starken Bundesgenossen begrüßt“ (Röpke o.J., 10), ist es vielleicht ratsam, wenigstens beiläufig auf die ideologisch und politisch feinen Nuancen aufmerksam zu machen, die das Denken dieser beiden im Kampf gegen den Kollektivismus tatsächlich vereinten Wissenschaftler trennen. Während Friedrich Hayeks Kritik des Kollektivismus sich ausdrücklich positiv auf den Liberalismus des 19. Jahrhunderts mit seinen leitenden Ideen des Individualismus, der Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen bezieht (Hayek o.J., 28ff und 265) und er heute mit viel größerem Recht als einer der Stammväter des aktuellen Neo-Liberalismus charakterisiert werden kann, rechnet Röpke, wie bereits angesprochen, den „klassischen“ Liberalismus zu den historisch überholten „Irrwegen“ (Röpke 1942, 79ff). Und das nicht nur wegen dessen falsch verstandenem und selbstzerstörerischem Laissez-faire-Prinzip in der Wirtschaftspolitik, sondern auch wegen seines eigenen bereits in den dreißiger Jahren inhaltlich und methodologisch vollzogenen „Übergangs von einer eng gefaßten, zünftigen nationalökonomischen Argumentation zu umfassenden kultursoziologischen Überlegungen“, die der „Erhaltung oder Rekonstruktion vormoderner Bewußtseinsinhalte und Institutionen“ dienen sollten, wie Dieter Haselbach in seiner 1990 in Marburg vorgelegten Habilitationsschrift gezeigt hat (Haselbach 1991, 162-183). Röpke bezeichnet sich in dem stark biographisch akzentuierten Einleitungsteil seines im Winter 1944-45 geschrieben dritten Buch der Trilogie über die „Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ über die „Internationale Ordnung“ selbst als ,Nationalökonom und Soziologen‘ (Röpke 1945a, 12). Daß in der Überschreitung der rein fachwissenschaftlichen Orientierung als Nationalökonom gerade auch die Politik eine konstituierende Rolle zu spielen
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hatte, die weit über die instrumentelle Marktordnungspolitik im klassischen Sinne hinausgeht, wird sich noch zeigen. Die hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der historischen Schuld also argumentationsarm propagierte geistig-moralische Revolution wäre nach Röpke offenkundig die mehr oder weniger natürliche Folge der politischen und wirtschaftlich-sozialen. Um diese und den mit den drei Revolutionen einzuschlagenden „Dritten Weg“ (z.B. Röpke 1942, 9; 1945a, 198; 1946, 46), also „weder Kapitalismus noch Kollektivismus“ (Röpke 1946, 69), freilich zu verstehen bedarf es des Umweges über die Darlegung von Röpkes zumindest terminologisch eigener Systematik von Begriffen und Ordnungen; man versteht ansonsten kaum, warum zwar Individuum, Eigentum und Wettbewerb, aber eben nicht Liberalismus und Kapitalismus Röpkes Favoriten sind. Wie auch andere schon bemerkten, sind die umfangreichen Publikationen Röpkes, zumindest jene aus dem Untersuchungszeitraum, der hier in Frage steht, neben aller Prägnanz der Formulierung auch durch die Weitschweifigkeit und Redundanz ihrer Gedankenführung ausgezeichnet. Vieles, was bereits in der „Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ dargestellt wurde, kehrt – zum Teil in wörtlichen Formulierungen ganzer Abschnitte – in den nachfolgenden Werken wieder; allerdings gerade in terminologischer und analytischer Hinsicht nicht immer konsistent. Am klarsten findet sich seine Systematik der „Wirtschaftsordnungen“ in seiner „Civitas Humana“ (Röpke 1946, 36-47). Röpke unterscheidet zunächst „undifferenzierte“ von „differenzierten“ „Wirtschaftsordnungen“, in denen sich die jeweilige Gestalt des „Wirtschaftssystems“ niederschlage, das jede Gesellschaft besitze. „Wirtschaftssystem“ ist also der übergeordnete ahistorische Terminus, mit dessen Hilfe beobachtet und untersucht werden kann, „wie die elementaren Probleme jeder wie immer gearteten Gesellschaft gelöst werden sollen“, nämlich das „Was, Wieviel und Wie der Produktion“. Die Kombination der Antwort auf die drei Fragen nennt Röpke „Wirtschaftsplan (Produktionsplan)“. Röpke stellt dazu fest: „Die Liste der Möglichkeiten ist erstaunlich begrenzt. Sie erschöpft sich in den drei Formen der Eigenwirtschaft, der Marktwirtschaft und der Kommandowirtschaft“ (Röpke 1946, 37). Methodisch wird man die drei Möglichkeiten – auch wenn Röpke den Weberschen Terminus selbst nicht verwendet – als ,Idealtypen‘ bezeichnen müssen, die sich im ersten Fall durch das angebliche Fehlen jeglicher Koordinations- und Regelungsnotwendigkeit und bei den beiden anderen danach, ob diese durch – wie man heute sagen würde – ,systemische Verknüpfung von Handlungsfolgen‘ oder durch ,intentionale hierarchische Steuerung‘ (Mayntz/ Scharpf 1995) vorgenommen wird. Vielsagend ist die apodiktische Form, in der Röpke etwa andere Formen der intentionalen Koordination, beispielsweise „Verhandlung“ oder „Deliberation“ prinzipiell ausschließt. Man sieht hier, wie auf vermeintlich rein analytisch-theoretischer Ebene der Möglichkeits- und Kontingenzraum des Denkens bereits sehr frühzeitig begrenzt und gegenüber gesellschaftspolitischen Alternativen verschlossen wird.
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Bei Röpke handelt es sich also um ,Idealtypen‘, denn „die drei Möglichkeiten ... sind natürlich niemals völlig rein vertreten. ... In jedem Wirtschaftsystem werden sie sich gemischt vorfinden, aber der Charakter des jeweiligen Wirtschaftsystems wird durch diejenige Planform bestimmt, die dominiert“ (Röpke 1946, 39). Es sei hier nur angemerkt, daß diese nicht allein empirisch zu beantwortende Frage angesichts der Situation in heutigen politischen Gesellschaften, in denen rund die Hälfte – und in manchen Fällen und zeitweise deutlich mehr – des Bruttosozialprodukts nicht durch jeweils individuelle Präferenzen und Entscheidungen auf Märkten, sondern durch politische Entscheidungen von Regierungen und Behörden verteilt wird, von ganz ausschlaggebender Bedeutung sein muß. Röpkes Argumentation – um nicht streckenweise sogar von Polemik zu sprechen – verbleibt aber in seinen hier zur Untersuchung anstehenden Texten trotz des methodischen Hinweises auf die empirischen Mischformen durchgängig auf der Ebene der reinen Typen und prinzipiellen Ableitungen aus ihnen. So entsteht einerseits ihre kaum zu leugnende Suggestionskraft, andererseits fragt man sich bei der Lektüre nicht selten, wie denn angesichts der den reinen Typen und Prinzipien so wenig entsprechenden Realität aus Röpkes Gedanken konkrete Empfehlungen abgeleitet werden sollten. Aber zurück zu den drei reinen Typen. Die „Eigenwirtschaft“ ist deshalb „undifferenziert“, weil Röpke ihre „reine Form“ als die autarke Subsistenzwirtschaft „freier Bauern“ definiert und – um ein späteres Urteil vorwegzunehmen – als auch heute angeblich noch mögliche gesellschaftsbildende Lebensform reichlich glorifiziert. Diese „Eigenwirtschaft“ freier Bauern findet im „Feudalismus“ ihr „entartetes“ Gegenstück – wobei es dem ökonomischen Laien wie mir eigentümlich und unplausibel erscheinen will, den „Feudalismus“ als eine „undifferenzierte“ Wirtschaft ohne „gesellschaftliche Arbeitsteilung“ und den entsprechenden Koordinationsaufwand von Produktion und Verteilung zu rubrizieren. Man lese nur einmal nach, was Arno Borst über die „Marktwirtschaft“ des 11. Jahrhunderts, die funktionale Arbeitsteilung und den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen Städten, Bauern und sich herausbildenden Fürstenhöfen schreibt (Borst 1979, 392ff) – eine „Differenzierung“, die es ja strukturell ungebrochen so oder ähnlich seit der Antike in nahezu allen Teilen Europas gegeben hat. Die „differenzierte Wirtschaft“ unterteilt Röpke in „Markt- und Kommandowirtschaft (Kollektivismus)“, wobei sich für die erstere wiederum der „reine“ Typus in Form einer „Wettbewerbsordnung“ findet, während der „entartete“ Typus als „Monopolismus“, also eingeschränkter oder behinderter Wettbewerb davon unterschieden wird. Davon wiederum prinzipiell typologisch getrennt wird die sogenannte „Kommandowirtschaft“, in der das Was, Wieviel und Wie der Produktion „durch bewußte, kommandierte und strafrechtlich sanktionierte Anordnung der Behörde“ (Röpke 1946, 38) gesteuert wird. Auch wenn er zwischen Markt- und Kommandowirtschaft einen fundamentalen kategorialen Unterschied macht, so darf man nicht übersehen, daß er die monopolistische
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pervertierte Marktwirtschaft mit fast ebenso großer Vehemenz zum Gegenstand seiner Kritik macht. Hier findet seine Kapitalismus- und Liberalismuskritik ihren Ansatzpunkt – bei denen es sich bei genauerem Hinsehen aber nur um die Kritik der Monopolbildung handelt, die der klassische Liberalismus mit seiner angeblichen Weigerung zur Staatsintervention in Wirtschaftsprozesse mit zu verantworten habe. Der normative Kern steckt also in Röpkes vorbehaltloser Präferenz für marktförmig organisierten Leistungswettbewerb. Ausschließlich wo dieser – etwa wegen auftretender und nicht zu vermeidender Externalitäten – prinzipiell nicht möglich sei (dazu Kirsch 2004, 33ff), läßt Röpke den Gedanken an andere Formen der Steuerung oder Koordinierung wirtschaftlicher Prozesse zu. Kommando- und Marktwirtschaft unterscheiden sich nicht durch Planung, denn, wie bereits gesagt, keine „differenzierte Wirtschaft“ kommt nach Röpke ohne Planung aus. Es macht für ihn deshalb keinen Sinn, wirtschaftliche Ordnungsysteme wie Markt- oder Wettbewerbswirtschaften heute über das angebliche Fehlen von Planung von eigentlichen „Planwirtschaften“ zu unterscheiden – was ihn selbst am ständigen polemischen Gebrauch dieses Begriffs keineswegs hindert. Bedeutsam sei vielmehr ein anderer Unterschied, der zugleich den normativen Kern von Röpkes scheinbar wertneutraler Typologie anspricht: es „besteht zwischen beiden der überaus bedeutsame Unterschied, daß in der kommandowirtschaftlichen Planwirtschaft im Gegensatz zur marktwirtschaftlichen gerade diejenigen nicht gefragt werden können, die es angeht und deren Bedürfnisbefriedigung die Produktion dient, nämlich die Gesamtmasse der Konsumenten. Die Marktwirtschaft ist daher auch einer liberalen, d.h. die Freiheitsrechte des Individuums respektierenden Gesellschaftsstruktur zugeordnet, die kommandowirtschaftliche Planwirtschaft jedoch notwendigerweise einer illiberalen, antidemokratischen, kollektivistischen, die Freiheitsrechte des Individudums verachtenden und die ‚Kollektivität‘ zum Endzweck proklamierenden, wenn auch in Wirklichkeit die herrschende Minderheit über alles setzenden Gesellschaftsstruktur“ (Röpke 1946, 38). Hier sind nun fast alle politischen und normativen Kernelemente von Röpkes Philosophie einer Gesellschaft freier Individuen versammelt. Man sieht, daß an dem, was manche Ökonomen die „Konsumentensouveränität“ nennen, die ganze Unterscheidung zwischen freier Gesellschaft und totalitärer Diktatur aufgehängt ist, von der noch die Rede sein wird und muß. Nicht nur, daß „die Gesamtmasse der Konsumenten“ „gefragt werden könne“, sondern auch, daß sich der „Produktionsplan“ des „Was, Wieviel und Wie“ nach den aggregierten Antworten (Kaufentscheidungen) auf diese Fragen (Angebote) richtete, ist die stillschweigende und empirisch wohl ziemlich gewagte Prämisse, die Röpke hier einschmuggelt. Es mag ja noch angehen, daß auf Märkten mit differenziertem Angebot den Käufern eine Auswahlentscheidung darüber zukommt, welches konkrete Angebot aufgrund ausreichender Nachfrage am Markt ,überlebt‘. Etwas ganz anderes ist die in der semantisch schwammigen Formulierung Röpkes anklingende Behauptung, die Konsumenten würden mit ihren Bedürfnissen da-
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für sorgen können, was auf dem Markt überhaupt angeboten werde, jede Nachfrage schaffe sich folglich ihr Angebot und der sogenannte Wirtschaftsplan würde also von den Konsumenten her aufgestellt und gesteuert. Daß das so wäre, ist selbst im Modellplatonismus reiner Märkte noch eine kaum beweisbare und gewagte Annahme, aber auf den realen Märkten der konkreten Wirklichkeit geht es selbst unter guten Wettbewerbsbedingungen doch deutlich anders zu und der vermeintliche technische Fortschritt, die Beeinflussung der Konsumentenwünsche durch Werbung und Marketing und nicht zuletzt das Profitmotiv spielen für die Zusammensetzung des konkreten Güterangebotes eine auch theoretisch keineswegs zu vernachlässigende Rolle. Aber hier geht es ja nicht vordringlich um eine Auseinandersetzung mit Röpkes ökonomischer Fachkompetenz. Weit interessanter sind aus politikwissenschaftlicher und kontingenztheoretischer Sicht Formulierungen wie die folgende, die Röpke seiner systematischen Erörterung der Wirtschaftsordnungen beigesellt: „Indessen steht fest, daß die abendländische Welt vor anderthalb Jahrhunderten – mit mehr oder weniger klarem Bewußtsein – die Marktwirtschaft zur dominierenden gemacht hat. Damit hat sie ihre Wahl zugunsten eines allgemeinen, d.h. an keine Geschichtsperiode notwendigerweise gebundenen Ordnungsprinzips getroffen. Das ist nicht nur kein Fehler, sondern historisch und sachlich das einzige Richtige und Natürliche gewesen“ (Röpke 1946, 40). Also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte offenkundig zumindestens „die abendländische Welt“ die „Wahl“ und sie hat sie zugunsten einer der drei idealtypisch von Röpke unterschiedenen Wirtschaftsordnungen getroffen – „mit mehr oder weniger klarem Bewußtsein“? Will Röpke damit sagen, sie hätte sich zu dieser Zeit, also der zunächst in England beginnenden, dann schnell auf andere Teile Westeuropas ausgreifenden „industriellen Revolution“ auch gegen Marktwirtschaft und zugunsten von „Eigenwirtschaft“ oder „Kommandowirtschaft“ entscheiden können? Das wäre jedenfalls eine kontingenztheoretisch sehr starke Betonung der bewußten Entscheidungsmöglichkeit zugunsten der einen und entgegen einer anderen Wirtschaftsordung, die mit der Vorstellung einer pfadabhängigen Entwicklung, in der politische Reformen, technisch-wissenschaftliche Entwicklungen und industrieller Aufschwung kulminieren, nicht ohne weiteres zusammen ginge. Nun leugnet weder die historische Erfahrung noch meine Theorie der politischen Gesellschaft, daß solche bewußten Wahlentscheidungen politisch möglich und durchsetzbar sind. Wer könnte das nach der Einführung der sowjetischen Planwirtschaft in Russland in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in den mehr oder weniger okkupierten Satellitenstaaten der Sowjetunion nach 1945, nach den nicht ganz identischen Erfahrungen in China und manchen anderen südostasiatischen Regimen und last not least angesichts des zeitweilig bei linken Intellektuellen in Westeuropa so populären kubanischen Experiments auch leugnen? Aber der entscheidende Unterschied aller dieser Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zur Entwicklung von industrieller Revolution, dominierender Marktwirtschaft und ,Kapitalismus‘ im 19.
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Jahrhundert ist, daß bestimmte politische Voraussetzungen gegeben sein mußten, die eine solche „Wahl“ ermöglichten und relativ kurzfristig effektiv durchzusetzen in der Lage waren. Überall war der plötzliche Umschwung der Wirtschaftsordnung das Ergebnis politischer Revolutionen und/oder diktatorischer Herrschaftsausübung. Eine „politische Gesellschaft“, das heißt eine Gesellschaft, in der nicht nur machtmäßig die Voraussetzungen für einen solchen Wechsel der Wirtschaftsordnung vorhanden sind, sondern in der auch das dafür notwendige Kontingenzbewußtsein zumindest bei den effektiv die Herrschaft Ausübenden vorhanden war, war aber im 19. Jahrhundert noch nicht verwirklicht (Greven 1999). Zwar hatte es in Zeiten des sogenannten „Merkantilismus“, worauf Röpke zurecht hinweist, erste Ansätze in dieser Richtung gegeben und prinzipiell dachten auch bereits die Aufklärer des 18. Jahrhunderts abstrakt über die Gestaltbarkeit der Gesellschaft nach (Asbach 2004). Aber bis zu den konkreten politischen Handlungsbedingungen der „politischen Gesellschaften“ des 20. Jahrhunderts mit ihren ungleich effektiveren Möglichkeiten der Ressourcenmobilisierung und -steuerung war es doch noch ein weiter Weg. Immerhin und unabhängig davon, was man von Röpkes Interpretation der Entstehung und Durchsetzung der Marktwirtschaft als dominierendem „Planprinzip“ der westlichen Industriegesellschaften hält, ist es für die Beurteilung des politischen Denkens nach 1945 in der konkreten durch die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland entstandenen Situation eine wichtige Voraussetzung, daß Röpke die „Wahl“ der Wirtschaftsordnung für eine politische offene Entscheidung hält. Allerdings lassen gerade auch die Formulierungen in dem letzten Zitat die Begrenzungen von Röpkes Kontingenzdenken erkennbar werden, denn dieses schließt die normative Möglichkeit, zwischen verschiedenen Optionen eine allgemein verbindliche und theoretisch unbestreitbar begründete Priorität herstellen zu können, gerade nicht aus. Es handelt sich bei Röpkes Denken in historischen und gesellschaftspolitischen Alternativen also um eine halbierte, insofern noch nicht vollständig reflexiv gewordene Kontingenz, denn der praktischen, nach der auch Anderes als das Bestehende möglich wäre, entspricht keine normative Kontingenz – nach der für die Beurteilung der zu treffenden Entscheidung keine verbindlich zwingenden normativen oder theoretisch-wissenschaftlichen Gründe anzugeben wären. Dementsprechend hält Röpke die Entscheidung für den Markt als dominierendes Planprinzip nicht nur „sachlich für das einzig Richtige“, sondern auch noch für das „Natürliche“. Er kommt mit dieser Formulierung jenem Theorem vom Markt als der ,natürlichen Wirtschaftsordnung‘ sehr nahe, das er ansonsten eher selbst kritisiert und theoretisch ablehnt. Die präferierte Marktwirtschaft findet also ihre reine Form in der – staatlich zu schaffenden und zu garantierenden – „Wettbewerbsordnung“ und der (Leistungs-)Wettbewerb ist theoretisch eigentlich das normativ fundamental präferierte Strukturprinzip, um dessen Erhaltung und Leistungsfähigkeit weit über den engen ökonomischen Rahmen hinaus sich in Röpkes Gesellschaftstheorie
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eigentlich alles dreht. Echter Wettbewerb beruht nicht nur auf dem „Leistungsprinzip“, er gewährleistet auch insgesamt bessere Leistung und Ergebnisse als jedes andere „Planprinzip“. Vor allem aber korrespondiert nur er in „differenzierten“ Gesellschaften mit individueller Freiheit – und Gerechtigkeit. Das Letztere muß man freilich mit einem gewissen Zögern feststellen, denn von „Gerechtigkeit“ ist bei Röpke auf seinen vielen hundert Seiten nur selten und beiläufig die Rede, etwa wenn er feststellt, daß es das „Leistungsprinzip“ sei, „das allein unseren Gerechtigkeitssinn befriedigt“ (Röpke 1946, 74). Ansonsten hält er es lieber mit seinem Kollegen Friedrich A. Hayek, der festgestellt hatte, distributive Gerechtigkeit, verstanden als eine „gerechtere und gleichmäßigere Güterverteilung“ lasse sich allein in einer „Planwirtschaft“ anstreben (Hayek o.J., 132) – und führe geradewegs zur totalitären Diktatur. Röpke seinerseits hält fest, daß jede Analyse des „sehr vagen und jedem Mißbrauch sich leihenden Wort ... der sozialen Gerechtigkeit ... zu dem Ergebnis führen (müsse, M.G.), daß sein wesentlicher Inhalt durch die Vorstellung einer bestimmten Art von gesellschaftlicher Gleichheit bestimmt wird“ (Röpke 1942, 356). Diese könne nur – stellt er unter Bezug auf L. Walras „Etudes d’économie sociale“ fest – „als ,égalité des conditions‘ bezeichnet und der notwendigen ‚inégalité des positions‘ entgegengestellt werden. Im Lichte dieses Ideals (sic!) erscheint es uns ebenso gerecht, daß die Startbedingungen der Wettläufer gleich sind (‚égalité des conditions‘, ‚kommutative Gerechtigkeit‘, ‚Startgerechtigkeit‘, ‚equal opportunity‘), wie daß sie nach ihren ungleichen Leistungen ungleich bewertet werden (‚inégalité des positions‘, ‚distributive Gerechtigkeit‘, ‚Leistungsgerechtigkeit‘ “ (Röpke 1942, 357). Damit ist für Röpke im Wesentlichen das Thema der „Gerechtigkeit“ erschöpft. Seine obige Feststellung, daß das Leistungsprinzip „allein unseren Gerechtigkeitssinn befriedigt“, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er hier nur – im Rahmen seines sonstigen Stils ungewöhnlicherweise – einen pluralis majestatis verwandt hat, oder ob es sich nicht vielmehr um den Versuch einer suggestiven Vereinnahmung handelt, die den Mangel an Argumentation verdekken soll. Wie die umfangreiche philosophische und gesellschaftstheoretische Diskussion der Gerechtigkeitsprinzipien seit der Antike und anhaltend in der Gegenwart zeigt, erschöpft sich das „Gerechtigkeitsgefühl“ eben keinesfalls in der Anerkennung des gewiß bedeutsamen Leistungsprinzips. Manche sind sogar mit guten Gründen der Auffassung, man sollte es in Fragen der Gerechtigkeit nicht bei Gefühlen und spontanen Intuitionen belassen (z.B. Ritsert 1997). Auch wenn also hier keine zureichende und überzeugende Diskussion vorliegt, so ist Röpkes „Ideal“ (s.o.) damit doch eindeutig bezeichnet und erweist sich als einigermaßen begrenzt, weil sich viele Fragen der „Gerechtigkeit“ eben nicht ohne Weiteres über die Anwendung der Leistungslogik bei gleichen „Startbedingungen“ beantworten lassen, weil es gerade an diesen gleichen oder mindestens fairen „Startbedingungen“ mangelt. Man muß, um Röpke gerecht zu werden, sehen, daß er sich des Problems der Hilfsbedürftigkeit mancher Gesellschaftsmitglieder durchaus bewußt ist;
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aber dem wäre nach seiner Auffassung nicht durch die historische Form der „Sozialpolitik“, schon gar nicht, wenn sie an dem zweifelhaften Ziel ,sozialer Gerechtigkeit‘ orientiert sei, sondern nur durch bedürfnisorientierte Fürsorge auf kommunaler Ebene zu begegnen und müßte, wo immer die Möglichkeit bestünde, wie man heute sagt, Hilfe zu Selbsthilfe, Hilfe zur Rückkehr aus der Hilfsbedürftigkeit sein. Die historische Form der Sozialpolitik freilich, die „Sozialpolitik des alten Stils“, wie sie in Deutschland mit Bismarcks ansonsten so gerühmten Sozialversicherungen begonnen wurde, dann aber zu einem allgemeinen Transfersystem ausgewuchert sei, findet Röpkes heftigste Kritik, weil sie als lediglich „symptomatische Behandlung dazu beigetragen (hat), das Leiden selbst zu verschlimmern“ (Röpke 1942, 351) – und dieses zentrale Leiden der modernen Gesellschaft sei nur durch eine weitgehende „Entproletarisierung von Arbeitern und Angestellten“ durch ihre „Verbäuerlichung und Verhandwerklichung“ durch „eine Politik, die die Arbeits- und Lebensweise des Industriearbeiters nach Möglichkeit derjenigen des Bauern und Handwerkers angleichen will“ (Röpke 1942, 344) zu kurieren. Dazu sei eine „entsprechende und wohldurchdachte Betriebsgrößenpolitik“ notwendig, „eine Politik, die gerade das Gegenteil jener den Großbetrieb begünstigenden Wirtschafts- und Sozialpolitik darstellen will“ (Röpke 1942, 349). Dieses „neue Gesicht der Sozialpolitik“ gegenüber der herkömmlichen, die die proletarische Existenzweise im Sinne Röpkes – sie schließt die Angestellten wie alle von unüberschaubaren Großstrukturen Abhängigen ein – hat also ein klares, über jegliche spezialistisch verstandene Sozialpolitik hinausgehendes Ziel: „Wirkliche Sozialpolitik ist also gleichbedeutend mit einer Politik des Abbaus des Proletariats“ (Röpke 1942, 353). Hier wird Röpkes eigentliches und radikal gedachtes gesellschaftspolitisches Reformprogramm sichtbar: die Dezentralisierung staatlicher und wirtschaftlicher Großstrukturen, die Verbäuerlichung und Verhandwerklichung der Lebensweise, die Umstellung sozialpolitischer Transfersysteme auf Eigentumsförderung, das Ziel einer „weitgehenden Diffusion des Eigentums“, zu dessen Erreichung die Politik vor dem „geeignete(n) Mittel“ einer „scharfen Erbschaftsbesteuerung“ nicht zurückschrecken dürfe und der damit zu erreichende „Ausgleich schroffer Besitzunterschiede“ (Röpke 1942, 356), sind nicht mit der Herbeiführung ,sozialer Gerechtigkeit‘ begründet, sondern sollen letztlich die „Krankheit, von der die Gesellschaft der abendländischen Länder seit über hundert Jahren im fortschreitendem Maße befallen ist“, durch Regression kurieren, nämlich die „Vermassung“ (Röpke 1942, 23). 1945 glaubt Röpke sogar, daß seine antimoderne, auf die Rückentwicklung der modernen Industriegesellschaft gerichtete Politik nicht nur das beste Mittel gegen Vermassung und einen neuen, politisch gefährlichen Kollektivismus sei, sondern daß sie auch den Bildern vom irdischen „Paradies“, also den subjektiven Präferenzen „dieser proletarisierten Deutschen, den Arbeitern, den Angestellten, den früheren Angehörigen der Mittelschichten“ entsprächen: „ein kleines Eigenheim mit Garten und Ziegenstall, ein ungestörtes Familienleben ohne
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Schulungskurse, Massenversammlungen, Umzüge und Sammelaktionen, Würde und Sinn der Arbeit, eine bescheidene, so doch selbständige Existenz, Zusammenhalt in der Familie, der Gemeinde, der Kirche, der engeren Heimat, ein Feierabend, an dem man ein gutes Buch lesen, die Bohnensaat prüfen, mit den Nachbarn über den Zaun hinweg die kleinen und großen Fragen des Tages besprechen oder ein wenig basteln oder Hausmusik machen kann, ohne durch das Radiogebrüll irgendeines neuen kollektivistischen Führers aufgeschreckt zu werden“ (Röpke 1945, 234). Man sollte nicht voreilig glauben, daß damit nicht doch die subjektiven Präferenzen eines großen Teiles der kriegsmüden Deutschen getroffen wurden, und in der Tat hat sich ja ein Teil der wirtschafts- und sozialpolitischen Programmatik der CDU-geführten Regierungen im Bund und in einigen Ländern nicht ohne Erfolg daran orientiert. Aber eben nur ein Teil, denn der Eigenheimförderung der baden-württembergischen Politik entsprach die ebenso konsequente Subventionierung von Daimler-Benz zum Weltkonzern. Röpke aber propagierte ursprünglich gewissermaßen nur die eine Hälfte der zukünftigen „Sozialen Marktwirtschaft“: angefangen von der bereits zitierten bewußt betriebenen „Betriebsgrößenpolitik“ mit ihrer bewußten Zerschlagung „bürokratischer Großstrukturen“ auch in der Privatwirtschaft, der wohnortnahen Ansiedlung dieser klein- und mittelständischen Produktionsbetriebe durch eine bewußte „Standortpolitik“ in den vorwiegend agrarisch strukturierten Regionen, des Rückbaus und der „Entstädterung“ der Großstädte bis hin zur noch geschilderten Durchsetzung von Dezentralisierung und Subsidiarität der Verwaltung und Regierung, der Auflösung des Zentralstaates zugunsten „autonomer Länder“ unter Preisgabe eines deutschen Nationalstaates bismarckscher Prägung sind diese Gedanken Röpkes Teil einer ganzheitlich rückwärtsgewandten quasi-organizistischen Gesellschaftskonzeption. Dieter Haselbach hat in dem bereits zitierten Abschnitt seiner Habilitationsschrift trefflich den in „Röpkes Theorie immanenten Gegensatz von Moderne und Antimoderne“ herausgearbeitet (Haselbach 1991, 178), der Röpkes ganze Theorie so widersprüchlich und seine praktischen Empfehlungen häufig so wirklichkeitsfremd erscheinen läßt. Haselbach kam es dabei darauf an, im Rahmen des Gesamtansatzes des „Ordoliberalismus“ das seit den späten zwanziger Jahren über alle Regimewechsel hinweg festgehaltene Motiv des „starken Staates“ herauszuarbeiten (Haselbach 1991, 178 und passim). Auch in den vorstehenden Passagen ist dieses Motiv natürlich erkennbar, wenn der Politik von Röpke eben keineswegs nur die beschränkte Rolle der Erhaltung der Wettbewerbsordnung zugemessen, sondern ihr die darüber weit hinausweisende radikale Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen, ja ganzer Lebensordungen zugetraut wird. Röpke kommt hier immanent der Idee einer umfassenden „Gesellschaftsplanung“, wie sie nur im Kollektivismus und letztlich mit diktatorischen Mitteln zu verwirklichen sei, aus der Sicht seiner normativen Prämissen und sonstigen politischen Zielsetzungen gefährlich nahe. Seine Vorstellungen von der histori-
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schen Kontingenz und offenbar bewußten Gestaltbarkeit sozialer Strukturen und Lebenswelten ähneln an vielen Stellen paradoxerweise denen Karl Mannheims, der sie allerdings durch eine bewußt von den Planungsmethoden der Sowjetunion lernende umfassende Gesellschaftsplanung (Greven 1997) verwirklicht sehen wollte – und deshalb ja gerade einer jener wesentlichen Antipoden von Hayeks Kritik wurde, die sich angeblich auch in der britischen Kriegsgesellschaft mit ihren Vorschlägen für die Nachkriegszeit auf dem „Weg zur Knechtschaft“ befänden (Hayek o.J., 96). Aber eine solche einseitige Interpretation bricht sich an Röpkes normativ mindestens gleichrangiger Staatskritik und seiner Kritik des Kollektivismus als das dem aktiven Staat zugehörige geistige Prinzip – dem normativen und politischen Hauptfeind Röpkes. Eine solche einseitige Kritik mußte denn auch Röpkes eindeutiges Plädoyer für Dezentralisierung und das Subsidiaritätsprinzip als Grundprinzip aller gesellschaftlichen Ordnung vernachlässigen. In seiner „Civitas Humana“ stellt Röpke aber dem zur „Ausbeutung, der abgrundtiefen Trennung zwischen Regierung und Regierten, (zur) zentralistischen Bürokratie (und) Staatsentfremdung“ führenden „Herrschaftsstaat“ die normativen Prinzipien von Dezentralisierung und Subsidiarität des „genössischen Staates“ entgegen (Röpke 1946, 178). Das „gesunde“, „legitime“ und „genössisch (freiheitliche)“ Gemeinwesen sei in „einer Stufenfolge so gegliedert“, „daß jeder am Staat teil hat durch seine Teilnahme an den Aufgaben des ihm zunächst liegenden Staatsgliedes, nur dann ist wahre Gemeinschaft im überschaubaren Kreise möglich, nur dann kann sich der einzelne wirklich mit dem Staat als dem seinigen und rechtmäßigen identifizieren, nur dann gedeihen Freiheit und Ordnung zugleich“ (Röpke 1946, 179). Bei „genössisch“ darf man ruhig das Vorbild der „eidgenössischen“ Schweiz mit ihrer kantonalen dezentralen Verfassung assoziieren, die Röpke mehrfach als Vorbild hinstellt. Das damit zu verwirklichende Grundprinzip greife noch über die geforderte Dezentralisierung, ja das „föderative Prinzip“ hinaus und werde „am besten mit einem Ausdruck der katholischen Soziallehre als das Prinzip der Subsidiarität bezeichnet“ (Röpke 1946, 179). In der Konsequenz dieser normativen Grundprinzipien seiner quasiorganizistischen Gesellschafts- und Politikvorstellung schlug Röpke in seiner „deutschen Frage“ den Verantwortlichen deshalb, wie eingangs gegen die These von Hans-Peter Schwarz bereits angeführt, seit der ersten Auflage 1945 ein Zurück hinter 1866, hinter das zentralisierte Bismarckreich und den Norddeutschen Bund vor. Es sei „ganz und gar unrichtig zu meinen, daß die deutschen Stammestraditionen keine Kraft mehr hätten. Alle unsere Informationen aus Bayern, Hannover, Westfalen, dem Rheinland und aus anderen deutschen Ländern beweisen das Gegenteil“ (Röpke 1945, 230). Daß viele, selbst solche, „die den preußischen Geist ebensowenig lieben wir wir selbst“, diese „politische Revolution Deutschlands für romantisch und altmodisch und daher für unpraktisch halten“, sei „geradezu tragisch“ (Röpke 1945, 230f). Röpke empfiehlt ihnen, sich an der „Entwicklung, die die österreichische Haltung gegenüber dem
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Reiche durchgemacht hat“, von den „Antipartikularisten“, die nach 1918 und mindestens bis 1938 „sehnlich den ‚Anschluß‘ wünschten und ihn dann in seiner wahren Gestalt kennengelernt haben“, und die „heute einmütig für ihre Selbständigkeit kämpfen“, zu orientieren (Röpke 1945, 231). Noch in der dritten Auflage seines Buches 1948 hält Röpke, ungeachtet seines Vorschlages zur Gründung eines „Westdeutschen Bundes“ (Röpke 1948, 333) an dieser realitätsfremden, allein aus seiner ideologischen Politikvorstellung erklärbaren Vision fest: „So wie die Autonomie Österreichs nach neun, würde diejenige der deutschen Staaten nach neun mal neun Jahren (1866-1947) als wiederauflebend betrachtet werden und wie im Falle Österreichs unterstellt werden, daß es mit diesen Staaten keinen völkerrechtlichen Kriegszustand gegeben hat, der durch einen Friedensvertrag zu beenden wäre“ (Röpke 1948, 333). Oder, „es wäre das Vernünftigste, wenn die Alliierten mit den einzelnen Staaten ihrer Zonen, die damit feierlich bestätigt würden, Verträge abschließen würden, durch die der Friedenszustand mit jedem dieser Staaten – Bayern, Württemberg, Baden, Rheinland, Hannover und allen anderen ... deklariert würde“ (Röpke 1948, 333). Olick spricht, vielleicht auch im Hinblick auf solche Passagen, von „the neoliberal Röpkes nostalgia for the aristocracy“ (Olick 2005, 175) – scheint aber den spezifischen historischen Hintergrund von Röpkes Vorliebe für die Kleinstaaterei nicht recht zu verstehen. Daß es außerdem gänzlich unpassend ist, das Prädikat „neoliberal“ in seinem heutigen Verständnis auf Röpke anzuwenden, dürfte deutlich geworden sein. Röpke gehört mit seinen antizentral- und antinationalstaatlichen Argumenten nach dem Kriegsende also zu jener beispielhaft bereits behandelten Gruppe von Autoren, die eine mehr oder minder radikale Version der Zerschlagung des einheitlichen Bundesstaates bismarckscher Prägung vorschlagen; anders als etwa Georg Laforet (1947) oder Walter Ferber (1946) orientiert er sich dabei nicht an dem katholisch-universalistischen Reichsgedanken, von dem bereits die Rede war. Ihm geht es mehr um die dargestellte gesellschaftsprägende Wirkung von Subsidiarität und Dezentralisierung. Bis in Einzelheiten gibt es hier Gemeinsamkeiten etwa mit einem ebenfalls sehr an schweizer Erfahrungen anknüpfenden Werk von Carl H. Mueller-Graaf. Wie Röpke sieht dieser in der „Siedlungsfrage“ den Schlüssel zu Herstellung ländlich-bäuerlicher Lebensformen in einem förderalistisch dezentralisierten politischen System (Müller-Graaf 1948, 228), wobei er vor Vorschlägen zu einem „radikalen Umsiedlungsvorgang“ nicht zurückschreckt, durch den „etwa 6000-7000 ... moderne Landstädte von 5000-15000 Einwohnern“ entstehen könnten, um „beim Neuaufbau die in jeder Hinsicht schädliche Ballung von Menschenmassen“ der weitgehend zerstörten „städtischen Zivilisation“ in Zukunft zu vermeiden (Müller-Graaf 1948, 228f). Es ist also völlig falsch, wenn Röpke heute regelmäßig auch als ein geistiger Vater des föderalistischen Bundestaates in Westdeutschland betrachtet wird, denn Röpke verwendet in den drei Auflagen seiner „deutschen Frage“ viel Mühe darauf, die „Autonomie der deutschen Staaten“, wie sie vor 1866 bestanden
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hat, als Voraussetzung „eines Neuaufbaus von unten nach oben“ zu deklarieren, „während es offensichtlich falsch wäre, vor der Festigkeit der Fundamente ein neues Reich zu schaffen und vorsorglich in seine Verfassung hineinzuschreiben, daß es föderativ sein sollte. ... Das Experiment ist 1919 in Weimar gemacht worden, und kein Vernünftiger wünscht seine Wiederholung“, denn „auf diese Weise würde sich ergeben, daß der Föderalismus nur trügerischer Schein ist und als Aushängeschild für einen neuen Zentralismus dient“ (Röpke 1948, 328f). Mit dieser Vorstellung über die ,Vernünftigen‘ hat sich Röpke freilich gegenüber den tatsächlichen Interessen in Herrenchiemsee und nachfolgend im Parlamentarischen Rat ebenso getäuscht, wie damit, daß eine Mehrheit der Deutschen seine antimodernistische, rückwärtsgewandte und an Idyllisierungen des Landlebens orientierte Gesellschaftspolitik goutieren würde (siehe Schildt/Sywottek 1993). Zwar war der ,föderalistische‘ Charakter der zukünftigen „Bundesrepublik“ durch die Frankfurter Dokumente der Alliierten nicht nur vorgegeben und in den großen Parteien und im Verfassungsgebungsprozeß als Prinzip weitgehend unstrittig, aber der Ausgangspunkt waren dabei nicht die traditionellen Länder, sondern die – mit der Ausnahme Bayerns und Hamburgs, das freilich seine aktuelle Gestalt dem nationalsozialistischen Großhamburggesetz von 1936 verdankt – erst durch die Besatzungsverwaltung gänzlich neu und unhistorisch zusammengefügten Gebietskörperschaften. Ebenso eindeutig war der Wille zu einem lediglich in Länder gegliederten „Bundesstaat“ nach dem Vorbild Weimars, wenn auch die CDU insgesamt für die Länder mehr Kompetenzen forderte als die SPD (Otto 1971, 102ff). Für Röpke hingegen wäre es mit der Konstituierung einer „Westdeutschen Konförderation“ lediglich „um ein Minimum an Zusammenhalt“ (Röpke 1948, 333) zwischen den völkerrechtlich wiederauferstandenen traditionellen deutschen Kleinstaaten gegangen, die im Einzelfall eine vollständige Abtrennung – etwa Schleswig-Holsteins zu Dänemark – keineswegs ausschloß. Wenn Wilhelm Röpke mit diesem recht eigenwilligen Synkretismus aus den verschiedensten ideenpolitischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts als eine Variante der vielfältigen Tradition sogenannter „Dritter Wege“ dargestellt wurde, so kann die dafür eigentlich bestimmende gleichzeitige Ablehnung von Sozialismus/Kommunismus und Kapitalismus für ihn nur in dem eingeschränkten Maße gelten gelassen werden, daß er sie nach seinen eigenen Maßstäben und begrifflichen Ordnungen beansprucht. Mit seiner uneingeschränkten Befürwortung von Privateigentum, Marktkonkurrenz und Wirtschaftsliberalismus reduziert sich sein Antikapitalismus aber letztlich auf die bloße Ablehnung wettbewerbsbeschränkender Monopolbildungen.
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Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal): Demokratischer Sozialismus in der Epoche der „hierarchischen Produktionsweise“ Richard Löwenthal, wie er hier im Weiteren angesichts seiner bedeutenden Rolle unter seinem Geburtsnamen in der westdeutschen Nachkriegssozialdemokratie und in den sechziger und siebziger Jahren auch in der Politikwissenschaft genannt werden soll, war mit den theoretischen und politischen Strömungen der Arbeiterbewegung auf das Engste vertraut; ein intimer Kenner nicht nur vieler europäischer Politiker aus der Zeit des illegalen Widerstandes von Sozialisten und Kommunisten, sondern auch der marxschen sowie der zeitgenössischen neo-marxistischen wie marxistisch-leninistischen Theorien. Über die marxsche Theorie des Krisenzyklus hatte er 1931 promoviert und auch sein hier in Rede stehendes Buch aus dem Jahr 1946 „Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung“ verrät in der beigegebenen Literaturübersicht detaillierte Kenntnisse insbesondere der damals neuesten, auf empirisch vergleichender Wirtschaftsforschung beruhenden Literatur zur ökonomischen Entwicklung der USA, des nationalsozialistischen Deutschland sowie der Sowjetunion. Bei einer Lebensgeschichte wie der Richard Löwenthals, mit ihrer kommunistischen Phase während der Weimarer Republik, dem Bruch mit dem marxistisch-leninistischen Parteikommunismus aus Anlaß von dessen in Moskau dekretierter „Sozialfaschismustheorie“ am Ende der Zwanziger Jahre, seiner zeitweilig leitenden Funktion in der abgespaltenen „Leninistischen Organisation“ Walter Loewenheims, danach seiner wichtigen Rolle beim Aufbau der Untergrund- und Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“, schließlich angesichts seines Lebens in der 1936 erzwungenen Emigration in Prag, London und Paris, stets weiterhin im Kontakt mit der sozialistischen Opposition gegen den Nationalsozialismus und zugleich sich als einer der bekanntesten politischen Journalisten Großbritanniens etablierend, fällt die hier gewählte Beschränkung auf die Darstellung und Analyse bloß eines – wenn auch bedeutenden – Buches besonders schwer. Meines Wissens existiert noch keine angemessene Biographie dieses aufregenden Lebens, das wegen seiner exemplarischen Bedeutung größere Beachtung durch die Historiker verdiente. „Nach der Katastrophe“, wie auch Richard Löwenthal seine Einleitung 1946 überschreibt, will er mit seinem Buch „den bewährten Kämpfern für die sozialistische Idee helfen, sich nach zwölf Jahren der Unterdrückung, der materiellen und geistigen Isolierung in einer Welt zurechtzufinden, die sich inzwischen weiterentwickelt hat und sie vor völlig neue Probleme stellt“ und zugleich jene ansprechen, die sich „inmitten der Trümmer einer zusammengebrochenen Welt, neu zu orientieren suchen“ (Löwenthal 1948, 5). Mit dieser explizit politischen Absicht und seiner doppelten Zielsetzung entsprechend diskutiert das Buch neben einem auch als Einführung zu lesenden Resumée der jüngsten Entwicklung im Lichte der marxschen Theorie im Wesentlichen drei Fragen,
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auf die die in seinen Augen notwendige Neuorientierung innerhalb der Fraktionen der Arbeiterbewegung eine Antwort finden mußte: wie stellt sich die objektive gesellschaftliche Entwicklung in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens und seit 1917 in der nichtkapitalistischen Sowjetunion im Lichte eines schöpferisch weiterentwickelten Marxismus dar? Welche Rolle haben die beiden großen Parteiströmungen der Arbeiterbewegung seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in den Krisenjahren des Kapitalismus und der Machtübernahme faschistischer Parteien in Westeuropa und in der Sowjetunion gespielt und worin lag ihr „Versagen“ begründet? Und was bedeutet die Antwort auf diese beiden Hauptfragen für die Zukunft der sozialistischen Bewegung in Westeuropa. Mit seinen Antworten in diesem Buch wird man aus heutiger Sicht Richard Löwenthal zu den bedeutenden theoretischen Begründern eines demokratischsozialistischen „Dritten Weges“ zwischen den liberal-demokratischen Demokratien einerseits und einer damals von ihm als „totalitäre Parteidiktatur“ analysierten Sowjetunion andererseits zählen müssen. Dabei ist es wichtig zu beachten, daß seine Verwendung des Begriffes „demokratischer Sozialismus“ aus der Lage und Perspektive der unmittelbaren Nachkriegszeit heraus wenig bis nichts mit der später seit dem Godesberger Programm der SPD weiterhin verwendeten gleichlautenden Bezeichnung für die besser als „sozialdemokratisch“ zu kennzeichnende Richtung der Sozialdemokratischen Partei zu tun hat. Zu der „Godesberg“ vorausgegangenen und auf dem Parteitag sanktionierten Wende schreibt Thomas Meyer zutreffend: „Godesberg war nicht einfach ein anderes Paradigma ... es war ein radikaler Bruch ... Die Sicherheit der bündigen Weltanschauung, die der Marxismus noch in seinen verwässerten Lesarten der Partei geliefert hatte, wurde ersatzlos kassiert“ (Meyer 1991, 14). Der „demokratische Sozialismus“, den Löwenthal nach Kriegsende begründet und propagiert, verstand sich demgegenüber zweifellos noch als innerhalb des marxistischen Paradigmas stehend, wie Löwenthal 1977 in einem offenherzigen Rückblick anläßlich der Neuauflage des Buches zugestand (Löwenthal 1977, LV) – wenn auch eines nicht mehr „orthodoxen“ Marxismus, der sich bereits damals scharf von einem Gesetzmäßigkeitsdenken abgrenzt, wie es spätestens für den Marxismus-Leninismus seit den zwanziger Jahren charakteristisch wurde. Dem setzt Löwenthal nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und Faschismus in Europa seine explizit auf politischen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen beruhende Auffassung von der Möglichkeit und Wünschbarkeit des demokratischen Sozialismus entgegen, die bereits auf die letztlich ethische Fundierung des späteren sozialdemokratischen Programms vorausweist. „Sozialdemokratisch“ ist Löwenthals Ansatz aus diesen Jahren aber nicht: mit seiner strikten Einforderung gesamtgesellschaftlicher Planung der Investitionen und der Einkommen, den damit verbundenen Forderungen nach Vergesellschaftung der Dispositionsgewalt auch des in Teilen weiterhin bestehenden Eigentums an Produktionsmitteln sowie seiner Hoffnung, letztlich könne der demokratische Sozialismus in einem Maße historisch die Knappheit
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von Gütern und Chancen beseitigen, daß es jedem Gesellschaftsmitglied möglich würde, im Sinne der Verheißung von Marx nur noch „nach seinem Bedürfnis“ tätig zu sein, greift er weit über den Horizont der systemimmanente wohlfahrtsstaatliche Gerechtigkeit anstrebenden Sozialdemokratie der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts hinaus. Allerdings ist nicht nur die weitere Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie ein Hinweis darauf, daß Löwenthals Idee eines „demokratisch-sozialistischen Europas“, das die „Leistungsfähigkeit sozialistischer Planung“ als „Kern der ‚Dritten Kraft‘ “ „zwischen den Kolossen“ der USA einerseits, dem sowjetischen Imperium andererseits (Löwenthal 1948, 262 ) unter Beweis stellen sollte, letztlich eine Utopie geblieben ist. Willy Brandt hat in seiner ihn persönlich sichtlich bewegenden Gedenkrede am Grab Richard Löwenthals festgehalten, daß und wie schnell Löwenthal „früh und entschieden Abschied“ von dieser Vorstellung genommen und statt dessen nun die Rolle Europas nur noch „als linker Flügel einer von den Vereinigten Staaten geführten Gegenfront“ gegen sowjetische Expansionsbestrebungen gesehen habe“ – „ein typischer Löwenthal“ wie Brandt liebevoll spöttisch eingedenk manch anderer intellektueller Volte in Löwenthals Leben hinzufügt (Brandt 1995, 14). Peter Glotz schildert ihn in seinen Erinnerungen in der ihm eigenen Direktheit nicht nur als „zart, klein, ein seit Jahrzehnten gebeugt gehender jüdischer Intellektueller ... ein blendender Journalist und faszinierender Professor“, sondern im gleichen Atemzug auch als „ein Bosnickel, ein schnell überkochender und dann laut zischender kleiner Kessel“ (Glotz 2005, 207). Die Überwindung und Ersetzung der kapitalistischen Produktionsweise wie die Vorstellung einer durch bewußte politische Planung zentral gesteuerten Gesellschaftsentwicklung zur sozialistischen Gemeinschaft, in der jeder nach seinem Bedürfnis bekommt, was dazu dienen kann, seine Anlagen zu entfalten, die Löwenthals Buch zugrundeliegt, ist – jedenfalls auf demokratische Weise – nirgendwo verwirklicht worden und vielleicht auch prinzipiell von unrealistischen Annahmen geprägt. Die im Lichte heutiger Erkenntnis problematischste Annahme ist dabei zugleich Löwenthals folgenreichste Revision der marxschen Theorie, die er unter ausdrücklicher Berufung nicht nur auf Rudolf Hilferding, sondern auch auf Lenins Schriften vollzieht. Seine politische und theoretische Bildung in kommunistischen Jugendverbänden wirkt nach und es zeichnet Löwenthal – jedenfalls in den Jahren unmittelbar nach 1945 – vor anderen sogenannten „Renegaten“ aus, daß er auch angesichts seiner eindeutigen politischen Abgrenzung gegenüber dem totalitär gewordenen Bolschewismus und Marxismus-Leninismus keineswegs das Kind mit dem Bade ausschüttet, sondern partiell Einsichten aus Hilferdings, Lenins und auch Luxemburgs Theorien zur Entwicklung des Monopolkapitalismus ausdrücklich weiter anerkennt. Diese Haltung teilt er erstaunlicher Weise mit seinem späteren Institutskollegen am OttoSuhr-Institut der Freien Universität Berlin, Otto Heinrich von der Gablentz, der zwar mit seinem Entwurf eines „Christlichen Sozialismus“ explizit „Über Marx
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hinaus“ will, sich dabei aber ebenso wie Löwenthal nicht nur auf „richtige“ Einsichten von Marx und Engels, sondern ausdrücklich auch von Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding und sogar Lenins bezieht (Gablentz 1946, 21 und passim). Während Marx trotz der seiner Meinung nach unaufhaltsamen Tendenz zur Zentralisierung und Monopolisierung privaten Kapitals an der These von der unvermeidbaren „Anarchie“ kapitalistischer Produktionsverhältnisse festhielt, deren Überwindung zugunsten einer rationalen Planung von Produktion und Distribution des „gesellschaftlichen Reichtums“ unabdingbare Voraussetzung des Sozialismus sei, geht Löwenthal davon aus, daß sich inzwischen Planung im großen Maßstab als eine der unhintergehbaren „Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft“ erwiesen habe (Löwenthal 1948, 7). Zur Planung gäbe es heute und in Zukunft keine Alternative mehr, „die Ersetzung der kapitalistischen Marktwirtschaft durch ein staatlich geplantes Wirtschaftssystem, die Marx vorausgesagt hatte, ist in unserer Zeit zur Tatsache geworden – aber unter Bedingungen, die in entscheidenden Punkten anders waren, als er vorausgesagt hatte“ (Löwenthal 1948, 69). Auch die kapitalische Welt habe den Übergang zur Planwirtschaft vollzogen, auch in ihr werde die „tatsächliche Einkommensverteilung nicht durch unveränderliche ökonomische Gesetze entschieden ..., sondern durch den politischen Kampf um den Einfluß auf die Wirtschaftspolitik der Regierung“ (Löwenthal 1948, 63). Löwenthal stellt diese am Beispiel der faschistischen und nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, aber auch des New Deal in den USA seit 1933 und der Nachkriegspolitik der Britischen Labour Party gewonnenen Einsichten aber bewußt semantisch in einen marxistischen Theoriekontext. Mit dem angesprochenen „unveränderliche(n) ökonomische(n) Gesetz“ Marx’ nimmt er Bezug auf dessen sogenannte ,Verelendungstheorie‘ und seine Beobachtungen zur historisch neuartigen Alternativlosigkeit der gesellschaftlichen Planung faßt er – für orthodoxe Marxisten gewiß bewußt provokativ formuliert – so zusammen: „Die Grundlage der Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung in unserer Zeit ist der Prozeß der Ablösung der kapitalistischen Produktionsweise durch eine neue: die hierarchische Produktionsweise. ... Heute sind in allen entwickelten Industrieländern die Beziehungen der organisierten Arbeitsteilung, der Kooperation, der Über- und Unterordnung entscheidend für den Gesamtzusammenhang des wirtschaftlichen Lebens. Die Marktbeziehungen von Konkurrenz, Kauf, Verkauf sind zu bloßen Teilerscheidungen reduziert“ (Löwenthal 1948, 215). Einerseits schließt Löwenthal mit der Verwendung des zentralen marxschen Terminus „Produktionsweise“ damit bewußt an die marxistische Tradition einer historischen Logik von Entwicklungsstufen an; andererseits hat er aber die für Marx theoretisch unauflösliche Bestimmung der „Produktionsweise“ durch die jeweiligen Eigentumsverhältnisse und durch den technischen Stand der Produktivkräfte völlig in den Hintergrund treten lassen. Demgegenüber fällt bei Löwenthal auf, daß die Produktionsweise dieser neuen Gesellschaftsformation als Folge der „Aufspaltung der Unternehmerfunktion“ (Löwenthal 1948, 42ff)
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wesentlich durch die Organisationsweise ihrer Dispositionsrechte bestimmt sein soll. Dabei bezieht er sich explizit auf Einsichten Joseph A. Schumpeters (siehe 1950, 231ff) und James Burnhams (1941) über die neue Machtstellung der „Manager“ vor allem in Aktiengesellschaften, hält aber im Unterschied zu beiden an der zentralen Rolle des Privateigentums zur Definition des kapitalistischen Charakters auch der neuen Produktionsweise fest. Während die Anteilseigner zu bloßen „Rentnern“ und die verbliebenen Kleinunternehmer zu nachgeordneten Ausführungsorganen der „Oligarchie des Monopolkapitals“ geworden seien, die letztlich die gesamte Planung der „Produktionsstruktur“ bestimmen würde und dabei allein noch von der gelingenden Arbeitsteilung oder Kooperation mit der Regierung abhängig sei, spiele also das Eigentum an den Produktionsmitteln heute nicht mehr die entscheidende Rolle für die Dispositionsgewalt (Löwenthal 1948, 42-52). Das sieht auf den ersten Blick sehr nach der in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Einfluß der DDR und ihr nahestehender politischer Gruppen erneut prominent gewordenen „Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ – kurz: „Stamokap“ – aus, in der „der Staat“ lediglich noch als Instrument des alles beherrschenden Monopolkapitals erscheint, aber bei Löwenthal kommt bei näherem Hinsehen schließlich der Politik im allgemeinen, dem Staat beziehungsweise der Regierungstätigkeit und dem jeweils offenen Ausgang des Kampfes um die politische Macht eine entscheidende Rolle zu. Im Verhältnis zum klassischen Marxismus und erst recht zum Marxismus-Leninismus spielt bei Löwenthal die Politik in der geschichtlichen Entwicklung der modernen Gesellschaften nun die entscheidende Rolle. Es klingt zwar auch weiterhin das marxsche Basis-Überbau-Theorem aus dem „Kommunistischen Manifest“ oder der berühmten „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ an, wenn Löwenthal davon ausgeht, erst mit der neuen „hierarchischen Produktionsweise“ und der zentralen Gesellschaftsplanung als ihrem bestimmenden Moment seien die gegenüber der Zeit des Marktliberalismus neuen „objektiven Bedingungen“ benannt, unter denen heute der „Kampf“ der organisierten Interessen und insbesondere der Fraktionen der Arbeiterbewegung um die Zukunft der Gesellschaft stattfände. Ähnlich wie bei Alfred Weber im gänzlich unmarxistischen Kontext beschränkten also zwar objektive Bedingungen die Handlungskontingenz der historischen Subjekte, doch ohne sie damit inhaltlich zu determinieren und der Wahlmöglichkeiten und damit auch Verantwortung zu berauben. Damit ist aber der entscheidende Schritt weg von der heilsverkündenden Geschichtsphilosophie zur politischen Theorie getan, in der Wissenschaft allein noch die Rolle zukommt, Handlungsbedingungen, Möglichkeiten wie Restriktionen zu ermitteln und zu beschreiben, aber nicht eine der vorhandenen Möglichkeiten ,wissenschaftlich‘ als einzig richtige auszugeben oder gar den weiteren Verlauf der Ereignisse als angeblich gesetzmäßig vorgegeben zu rechtfertigen. Heute, wo mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und im Zuge der sogenannten ,Globalisierung‘ bei vielen der Eindruck entsteht, die historische
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Entwicklung lasse nur noch regionale Modifikationen eines Modernisierungsprozesses zu, hat für die Jüngeren die Bezeichnung „Dritter Weg“ jegliche semantische Validität verloren. Der Begriff, dem im Übrigen wie ja allein schon der Vergleich Röpkes und Löwenthals zeigt, höchst unterschiedliche Inhalte und Programmatiken subsumiert werden konnten, gehört einer inzwischen vergangenen Epoche an, die durch die eine Zeitlang politisch realistische Alternative eines liberal-demokratisch kapitalistischen und eines irgendwie an dem sowjetischen Weg der nichtkapitalistischen Modernisierung orientierten Systems strukturiert war. Alle, die für sich den Topos „Dritter Weg“ reklamierten, was immer sie damit im Einzelnen anstrebten, mochten sich dieser Alternative nicht unterordnen. Wenn hingegen im Zuge der Programmdiskussion von ,New Labor‘ Ende der achtziger Jahre und über die Schriften von Antony Giddens auch darüber hinaus ausstrahlend nochmals der Topos des „Dritten Weges“ kurzzeitig von sozialdemokratischen Parteiführern propagandistisch in Anspruch genommen wurde und im Lager und im Nachklang der späten sechziger Jahre kurzzeitig Aufregung verursachte, so findet sich darin nur noch der schwache Abglanz einer Epoche systemtranszendierenden, letztlich revolutionären politischen Denkens wieder, dem aber in den entwickelten Modernitätszentren der Welt inzwischen keine entsprechende Massenbasis und damit politische Chance mehr entspricht (Greven 2002). Ohne daß Löwenthal selbst den Begriff der Kontingenz verwendet, wird bereits in den die „Verheißungen“ des Sozialismus und den wesentlichen Beitrag Karl Marx’ diskutierenden Anfangsteilen von Löwenthals Schrift sein genuin politischer und kontingenztheoretischer Ansatz deutlich; etwa wenn er Marx gegen den unter dem Einfluß Friedrich Engels entwickelten und unter der – über die Kommunistische Internationale auch internationalen – Herrschaft der bolschewistischen Partei Lenins und Stalins zur Parteidoktrin verkommenen „Wissenschaftlichen Sozialismus“ und die Behauptung in Schutz nimmt, „als habe Marx den Versuch gemacht, den Appell an den Willen zum Kampf für die sozialistische Idee durch den Glauben an die ‚wissenschaftlich bewiesene‘ Unvermeidlichkeit des Sozialismus zu ersetzen“ (Löwenthal 1948, 22). „Wissenschaftlich“ ließen sich aber nur „die Bedingungen aufzeigen, unter denen die Verwirklichung solcher Ziele möglich wird, und die Kräfte, von denen diese Verwirklichung abhängt. Aber diese Kräfte setzen sich durch das Handeln wollender Menschen nicht ohne ihr Zutun durch, und die Notwendigkeit, die die Geschichte kennt, ist nie die Unvermeidlichkeit eines bestimmten Ausgangs des Kampfes. ... Von vorne herein läßt sich der Ausgang eines solchen Kampfes nie voraussagen“ (Löwenthal 1948, 22). Alles hängt also vom „wollenden Handeln“, anders als im bis 1989 in der DDR offiziellen Lehrbuch des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ nach stalinschem Muster ab, wo sich das politische Handeln lediglich auf den taktisch optimalen Vollzug der – natürlich von der jeweiligen Parteiführung – wissenschaftlich erkannten Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten beschränkt (Autorenkollektiv 1988). Demgegenüber stehen nach
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Löwenthal die Subjekte und ihre Organisationen immer wieder vor Alternativen, haben auch im historisch großen Maßstab „die Wahl“, wie zum Beispiel die Bolschewiki in ihrer Entscheidung 1921, den „Sozialismus in einem Land“ trotz des Fehlens objektiver Voraussetzungen und eines zur Führung der Transformation in der Lage seienden Industrieproletariats mit diktatorischen Methoden herbei zu zwingen (Löwenthal 1948, 143). Diese Kontingenz des Handelns gilt selbstverständlich nicht nur für die Kräfte des Sozialismus, sondern auch für deren „Klassengegner“, ja selbst die Kräfte „des Monopolkapitals“ stehen unter den objektiv jeweils entwickelten und gegebenen „Bedingungen“ vor politischen Wahlentscheidungen und Alternativen. Keineswegs setzt sich auch unter kapitalistischen Bedingungen „das Monopolkapital“ mit seinem inhärenten Wunsch nach „imperialistischer Planung“ historisch-gesetzmäßig durch, denn „ob die Planung nach seinen Wünschen erfolgt, hängt vom Ausgang eines politischen Kampfes ab, den es nicht immer gewinnt“ (Löwenthal 1948, 114) – aber zum Beispiel in Deutschland 1933 letztlich gewonnen hat. Nach Löwenthals Urteil geschah dies allerdings auch damals „nicht aus eigener Kraft“, sondern nur wegen des „Versagens“ der Parteien der Arbeiterklasse einerseits, der Durchsetzung einer „totalitären Partei“ andererseits, die keineswegs als bloßes „Instrument des Kapitals“ verstanden werden durfte, sondern aus „eigener Kraft“ die Macht – auch gegenüber dem Monopolkapital – eroberte, freilich in den Zielen und Interessen dann größtenteils mit diesem übereinstimmte. Im Gegenzug zur offiziellen Komintern-Theorie des Faschismus, wie sie in der berühmten Erklärung Georgi Dimitroffs auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale vom 20. August 1935 zum Ausdruck kam, publizierte Löwenthal bereits 1935 eine eigenständige Theorie des Faschismus in der „Zeitschrift für Sozialismus“, in der besonders der terroristische Charakter und die Massenunterstützung der zu Macht gelangten faschistischen Parteien in Italien und Deutschland betont wird (Sering 1935). Auch in seinem nach der teuer erkämpften Niederlage des Nationalsozialismus erschienenen Buch hält er an diesem Ansatz fest, ja entwickelt ihn nun weiter zu einer explizit linken Variante der Totalitarismustheorie, in der die jeweilige Eigenständigkeit des politischen Charakters dieser Herrschaftsform in ihrer kapitalistischen und nichtkapitalistischen Variante betont wird. Erneut in Abgrenzung zur im Kommunismus aufrecht erhaltenen Faschismustheorie stellt er dort fest: „Wir haben die faschistische Bewegung und den faschistischen Staat an Hand des italienischen und deutschen Beispiels als politische Erscheinungen beschrieben, nicht als Produkte bloßer ökonomischer Entwicklung. Eine faschistische Bewegung kann nicht vom Monopolkapital nach Belieben hervorgerufen werden“ (Löwenthal 1948, 124) – sie wird aber nach Löwenthal „auf alle Fälle die Unterstützung des Monopolkapitals finden“ (Löwenthal 1948). Und direkt gegen die KominternFormel von 1935 gerichtet: „Das nationalsozialistische Regime in Deutschland als ‚Faschismus‘ zu bezeichnen und den Faschismus als die Herrschaft der aggressivsten und reaktionärsten Teile des Monopolkapitals zu definieren, ist da-
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her keine Erklärung seines Sieges und seiner zwölfjährigen Herrschaft – nicht einmal eine zureichende Beschreibung seiner tragenden Kräfte“ (Löwenthal 1948, 119). So wie also der objektive Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte im Zuge der bolschewistischen Machteroberung die Transformation zur sozialistischen Produktionsweise nicht determinierte, sondern nur in diktatorischer Form und mit terroristischen Mitteln „von oben“ ermöglichte, so determinierte auch die „Krise der kapitalistischen Weltökonomie“ am Ende der zwanziger Jahre nicht die Machteroberung der italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten, für die Löwenthal „von der politischen Seite“ her (Löwenthal 1948, 120) im Übrigen die gemeinsame Kennzeichnung als „Faschismus“ für gerechtfertigt hält. In allen drei Fällen hingen Machtergreifung und späterer „Erfolg“ also vordringlich von den politischen Faktoren ab. Der wichtigste gemeinsame Faktor war in beiden Fällen das „Einparteiensystem“, im faschistischen Fall auf der Basis „organisierter Massenbewegungen“ (Löwenthal 1948, 120), „mit Führerprinzip“ und „zentralistischem Aufbau der Partei nach militärischem Vorbild“ (Löwenthal 1948, 122), im Falle der Sowjetunion, nach Löwenthals Urteil „unvermeidlicher Weise“ nachdem Lenins „Wahl“ einmal getroffen war, den Sozialismus auch angesichts der ausgebliebenen Revolution in den kapitalistischen Zentren in einem Land aufzubauen, in dem die sozialstrukturellen und wirtschaftlichen Voraussetzungen eigentlich fehlten: „erst an diesem Punkt betraten die Bolschewiki völliges geschichtliches Neuland – mit dem bewußten Einsatz der Staatsmacht als Werkzeug der stetigen Transformation der Gesellschaft“ (Löwenthal 1948, 144) schufen sie nicht nur den „erste(n) Einparteienstaat in der Geschichte“ (Löwenthal 1948, 143), sondern hatten sich auch auf den „Weg einer permanenten Revolution von oben (begeben, M.G.), die die aktive Teilnahme der Massen verlangt, doch ihre freie Wahl zwischen Bejahung oder Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahmen ausschließt. Das Einparteiensystem ... ist das Werkzeug einer jahrzehntelangen Gewaltanstrengung, in der das Recht des einzelnen oder das Interesse der Gruppe nichts, der von oben gesetzte Gesamtzweck alles ist“ (Löwenthal 1948, 149). Und diese „Gewaltanstrengung“, für die Löwenthal hier sicherlich kaum zufällig eine Formel variiert, die 1945 jedem, der das Hitlersche Diktum ,Du bist nichts, dein Volk ist alles‘ noch im Ohr hatte, auffallen mußte, ging selbstverständlich nicht ohne terroristische Gewaltausübung vonstatten: nach seinem Urteil „haben die totalitären Herrschaftsmethoden, die massenhafte Deportation von verdächtigen und von als dem Staatszweck schädlich angesehenen Elementen zur Entstehung eines Millionenheeres von Zwangsarbeitern geführt, die von der politischen Polizei für ähnliche Aufgaben des Kanalbaus, Festungsbaus usw. eingesetzt werden wie die entsprechenden Opfer faschistischer Systeme“ (Löwenthal 1948, 156f). Entstanden sei eine „totalitäre Staatswirtschaft“ (Löwenthal 1948, 157), die zusammen mit dem Einparteiensystem und den von ihm gewählten Mitteln zur Transformation, nämlich Unterdrük-
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kung jeglicher „freier demokratischer Interessenvertretung“, dem „Einsatz von Partei und Gewerkschaften für immer neue Erziehungs- und Propagandakampagnen“ sowie schließlich durch das „rücksichtslose Vorgehen gegen ganze, nach der Revolution entstandene Schichten nicht nur aufgrund von Vergehen des einzelnen gegen das Gesetz, sondern aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer vom Standpunkt des Staates als schädlich betrachteten Schicht“ dem „bolschewistischen Staat seine totalitären Züge gegeben haben“ (Löwenthal 1948, 149). Walter Schlangen weist in einer der wenigen frühen vergleichenden Untersuchungen zum Totalitarismuskonzept zurecht auf die Besonderheit hin, daß Löwenthal seinen Totalitarismusbegriff im Unterschied zu vielen anderen mehr aus der Analyse der Sowjetunion als des Nationalsozialismus – bei weitgehender Ignoranz gegenüber dem italienischen Faschismus – entwickelt und folglich die Realgeschichte totalitärer Diktaturen auch zeitlich früher beginnen läßt (Schlangen 1972, 99). Kein Wunder, daß Löwenthals auch noch auf marxistischer Grundlage entwickelte Kritik der frühen totalitären Fehlentwicklung in der Sowjetunion bei den maßgeblichen Ideologen der SED die heftigste Kritik und Polemik hervorriefen. So dient in der vor allem zur politischen Schulung der Parteimitglieder der SED benutzten Schrift Fred Oelßners „Der Marxismus der Gegenwart und seine Kritiker“ Löwenthals Buch als Musterbeispiel für die „Kritiker“ und gipfelt in der denunziatorischen Behauptung, mit seiner Kritik an der Sowjetunion habe Löwenthal „glücklich den Anschluß an Adolf Hitler gefunden“ (Oelßner 1948, 136) – was dann nicht mehr verwundern kann, wenn einem zugleich Stalin durchgängig und penetrant unterwürfig als die zeitgenössische Inkarnation des „Marxismus der Gegenwart“ vorgeführt wird. Die Gründe für die totalitäre Entwicklung der Sowjetunion lagen also in der „politische(n) Natur der Kraft, die diese Aufgabenstellung (der Transformation, M.G.) bestimmt und aufgestellt hat“ (Löwenthal 1948, 149). Das für die „rücksichtslose“ Transformation und die dafür wiederum notwendige „Massenmobilisierung“ unabdingbare „Propagandamonopol im Lande erzwang so das Propagandamonopol in der Partei“ (Löwenthal 1948, 159), machte die ideologisch eigentlich propagierte „Arbeiterkontrolle“ unmöglich (Löwenthal 1948, 160) und schuf letztlich die persönliche Diktatur eines Einzelnen – darin wiederum mit den faschistischen Regimen in einem Element der Herrschaftsformen gleichziehend. „Der totalitäre Staatsaufbau der Sowjetunion, das Monopol der Partei, und letzten Endes der Parteiführung, und letzten Endes des einen führenden Mannes auf Einsatz aller Formen der Organisation und der Propaganda für seine Zwecke ist daher die entscheidende Grundlage für die zunehmende Verselbständigung der neuen priviligierten Oberschicht gegenüber der Masse der Arbeiter und Bauern“ (Löwenthal 1948, 161) – so sieht Löwenthal noch die neue „Oberschicht, deren Privilegien in zunehmendem Maße erblich werden“ (Löwenthal 1948, 165), aus der politischen Form der totalitären Einparteienherrschaft hervorwachsen. Es ist spätestens hier angezeigt, in einer Zwischenbemerkung auf die teils unsinnige Rezeption und Kritik hinzuweisen, die die sogenannte „Totalitaris-
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mustheorie“ in den späten sechziger und siebziger Jahren erfahren hat. Wenig überraschend war und blieb sie aus der Feder all jener Autoren, die die Grundprämisse des Marxismus-Lenisnismus von der historischen Fortschrittlichkeit und Überlegenheit des sowjetischen Gesellschaftsmodells teilten, welche Kritik sie daran im Einzelnen auch immer übten und wie apologetisch ihr Verhältnis zum „realen Sozialismus“ graduell blieb. Aus dieser, zeitweise überaus prominenten Sicht diente die vergleichende totalitarismustheoretische Deutung angeblich bloß als „Kampfmittel gegen die Linke in der Periode des Kalten Krieges“ (Kühnl 1979, 283), die „linke“ Gegenkritik diente aber vor allem dazu, über die unterstellte grundsätzliche Fortschrittlichkeit des sowjetischen Regimetypes jede vergleichende kritische Analyse ihrer inneren Herrschaftspraktiken und vermeintlichen „Erfolge“ bei der Schaffung der sozialistischen Persönlichkeit zu dethematisieren. Erstaunlich war aber zu Beginn der siebziger Jahre die zeitweilige Beteiligung ehrenwerter sozialdemokratischer und liberaler Autoren an der Denunziation der angeblich „falschen Gleichung rot = braun“ (Grebing 1973, 51ff). So weisen beispielsweise Kurt Lenk und Franz Neumann in ihrer Einleitung eines Readers zur Parteienforschung totalitarismustheoretische Ansätze unter anderem mit der Behauptung zurück: „in der Sowjetunion förderte die kommunistische Partei bei allem Terror unter Stalin ... die Emanzipation der Unterschichten“, was dann von Grebing zustimmend zitiert wird (Grebing 1973, 64). Hier wird der Unterschied zu Löwenthal und jenen linken Vertretern dieses Ansatzes deutlich, die bei aller Anerkennung der Industrialisierungs- und sonstigen Erfolge den auf die Versprechen der Aufklärung verweisenden Begriff „Emanzipation“ zu deren Kennzeichnung sicherlich nicht verwendet hätten. Die Rede ist also in dieser Art von Antikritik von einer „Gleichheit“, die sowieso im Rahmen der seriöseren Varianten dieser methodisch auf dem Vergleich basierenden Theoriefamilie etwa seit dem frühen Versuch des katholischen Antifaschisten Luigi Sturzo (1926) bis hin zu J. L. Talmons klassischem Werk (1961) ohne Behandlung auch der Unterschiede niemand jemals ernsthaft vertreten hatte. Die gängige Einordnung dieser Ansätze als „rechts“ verkannte und verleugnete damals die lange „linke“, das heißt wie im Falle Löwenthals neo-marxistische und demokratisch-sozialistische Tradition dieser Art des Denkens, die bis heute noch nicht gleichermaßen differenziert beschrieben und analysiert wurde. Walter Schlangen hat in einer abwägenden Weise dazu bereits Ende der sechziger Jahre wichtige Ansätze geleistet, die mit wissenschaftlich begründeter Kritik an der generellen Leistungsfähigkeit des Konzeptes keineswegs zurückhalten (Schlangen 1972, zusammenfassend 173ff) und auch kritisch auf die hier analysierte Schrift sowie die weitere Entwicklung des Totalitarismuskonzepts bei Löwenthal eingehen (Schlangen 1972, bes. 97-102). Angemessener, als alle Ansätze in einen Topf zu werfen, wäre es also wohl, im Fall des „Totalitarismus“ von einer „Theoriefamilie“ mit zahlreichen Strömungen und auch sich ideologisch untereinander teils heftig bekämpfenden
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Protagonisten zu sprechen, deren Gemeinsamkeit allenfalls darin zu finden ist, daß sie – oft auf dem Hintergrund der traditionellen Staatsformenlehre von Aristoteles und Montesquieu – im Vergleich von Gemeinsamkeiten und Differenzen von Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus auf dem grundsätzlich neuartigen und insofern modernen Charakter dieser Form totaler Mobilisierung und Beherrschung durch ein diktatorisches Regime beharren, wie es erstmals im Zwanzigsten Jahrhundert mit so schrecklichen Folgen für die davon betroffenen Menschen realisiert wurde. Alfons Söllner erinnert gegenüber der lange dominierenden politischen Einordnung der Vertreter der Totalitarismustheorie völlig zu recht an „den politischen Pluralismus, der das Totalitarismustheorem in den 30er Jahren auf den Weg gebracht hat“ (Söllner 1997, 17) und benennt sensibel als das seiner Meinung nach bisher vernachlässigte „offene Geheimnis der Totalitarismustheorie“ das nahezu allen Vertretern gemeinsame Erlebnis der Exilierung und ihren „Ursprung aus der physischen Todesdrohung und deren Umwandlung in Kritik“ (Söllner 1997, 18) – also das, was Karl Dietrich Bracher objektivierend als den Kern der „totalitären Erfahrung“ ausmachte (Bracher 1987). Helga Grebing ist also zuzustimmen, daß die meisten Varianten der Totalitarismuskonzeption „das liberal-demokratische Gegenmodell zugrunde“ legen (Grebing 1973, 66) und insofern einen polemischen Grundzug gegen rechtsextreme wie linksextreme Systemveränderung besitzen – wenn sie dann allerdings daraus schließt, daß deren Vertreter damit immer „objektiv einen Status quo verteidigen, mit dem sich kaum jemand mehr identifizieren will“ (Grebing 1973, 67), so verrät diese – im Übrigen auch Anfang der siebziger Jahre vermutlich empirisch falsche – Prämisse mehr über die eigenen Hintergrundannahmen, als der Autorin lieb sein konnte. Festzuhalten bleibt aber, daß es – wie das Beispiel Löwenthals zeigt – auch einen glaubwürdigen linken Antitotalitarismus geben konnte, dessen Denkvoraussetzung allerdings die Bereitschaft zur Kritik der marxistisch-leninistischen Theorieansprüche und der daraus folgenden sowjetischen Praxis war. Niemand kann in einem solchen Vergleich zum Beispiel die inhaltlichen Unterschiede in der jeweils absolut gesetzten machtgestützten Ideologie verkennen, die im Falle des bolschewistischen Marxismus-Leninismus scheinbar am Ziel der Emanzipation des Einzelmenschen, an der gesellschaftlichen und politischen Gleichheit und damit an wesentlichen Zielen der westlichen Aufklärungsprogrammatik festhalten, während sie sich in der faschistischen und nationalsozialistischen Variante an der Größe und dem Überleben von Nation, Volk oder Rasse orientieren. Aber wenn diese Differenz als ein Einwand gegen den Ansatz insgesamt vorgebracht wird, dann kann man ihm entgegenhalten, daß in der Herrschaftspraxis diese Inhaltlichkeit in beiden Fällen hinter dem „strukturell“ gleichen Absolutheitsanspruch des „Heilsversprechens“ (Furet 1996, 238) mit seinen zwangsläufigen terroristischen Implikationen zurücktrat. Auch wird eingewandt, der in gemeinsamer Freund-Feind-Logik propagierte „Kampf“ sei
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im ersten Fall „nur vorübergehend“ Mittel zum Zweck, während in allen rechten Varianten totalitären Denkens das sozialdarwinistische Prinzip des unvermeidlichen und politisch nicht zu beendenden Überlebenskampfes dauerhaft vorherrscht. Kaum eine seriöse Variante der Totalitarismustheorie leugnet diese und andere Unterschiede; im Gegenteil haben gerade die historischen Ansätze der vergleichenden Totalitarismusforschung solche Differenzen früh herausgearbeitet. Eine andere Frage ist es aber, welche Bedeutung man solchen ideologischen Genealogien und Zielsetzungen angesichts der konkreten Herrschaftspraktiken und Regimeformen und deren – mindestens zeitweise – kaum zu leugnenden Gemeinsamkeiten in der Wirkung zubilligt. Erst recht dürfte es den Millionen von Opfern schließlich egal gewesen sein, ob sie wegen ihrer Rasse, ihrer politischen Gegnerschaft oder wegen der entwicklungspolitischen ,Notwendigkeiten‘ der vordringlichen Entwicklung der industriellen Produktionsfaktoren gequält wurden und sterben mußten. Natürlich ist die systematische Ermordung von Millionen von Juden in den Vernichtungslagern mit dem Ziel der Ausrottung des europäischen Judentums ein einzigartiges Menschheitsverbrechen – aber fallen deshalb die bewußt in Kauf genommenen Millionen Opfer der sowjetischen ,Modernisierungspolitik‘ und der Ausbeutung im einzigartigen Lagersystem sowie die bewußte Ermordung tausender politisch Verfolgter moralisch weniger ins Gewicht? Es gab und gibt bis heute eine an moralische Verlogenheit grenzende Strategie, unter Berufung auf die „Einzigartigkeit“ der nationalsozialistischen Ausrottungungspolitik gegenüber den Juden die Thematisierung der Mordpraktiken der bolschewistischen Führung der Sowjetunion zu verhindern oder zu relativieren, die sich gelegentlich hinter der Kritik an der Totalitarismustheorie versteckt. Natürlich ist auch die Frage des unterschiedlichen Wirtschaftssystems mit den unterschiedlichen Formen des Eigentums von großer Bedeutung, aber auch hier stellt sich die Frage, ob nicht im direkten Vergleich des Verhältnisses von politischer Machtausübung und wirtschaftlicher Reproduktion auffällige Gemeinsamkeiten zu Tage treten, wie sie nicht nur bei Löwenthal sondern auch bei zahlreichen anderen Autoren seit dem Ende der zwanziger Jahre beobachtet und vergleichend in der These vom „Primat der Politik“ systematisiert wurden. Kurzum: erst der differenzierte und empirisch informierte Vergleich – der selbstredend und natürlich vor allem in Zeiten des Kalten Krieges nicht überall die Grundlage einer totalitarismustheoretischen Semantik bildete – kann am Ende abgewogene Urteile über jene Gemeinsamkeiten ermöglichen, die eine Subsumtion unter einen gemeinsamen Begriff zu rechtfertigen vermögen. Für Löwenthal neigte sich jedenfalls nach 1945 in seinem hier untersuchten Werk die Schale mit den Gemeinsamkeiten eindeutig zugunsten der Verwendung einer totalitarismustheoretischen Begrifflichkeit und Erklärung. Angesichts der angeblich objektiv und dauerhaft entwickelten „Bedingung“ des Übergangs zur „hierarchischen Produktionsweise“ und der damit alternativ-
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los gewordenen gesamtgesellschaftlichen Planung mußte also nach Löwenthals Einschätzung „nach der Katastrophe“ die „Wahl“ zwischen drei Wegen in die weitere Zukunft getroffen werden: dem „Weg der kapitalistischen Planung mit der Tendenz zum Faschismus und Krieg“, dem „Weg der bürokratischen Planung durch eine totalitäre Diktatur“ nach dem Muster der Sowjetunion oder schließlich dem „Weg des demokratischen Sozialismus“ (Löwenthal 1948, 261). „In einem demokratischen Lande, in dem die Wahl zwischen den Alternativen noch offensteht, hängt es von der Entscheidung des Volkes ab“ (Löwenthal 1948, 220), wie diese Zukunft aussieht. Die Frage war aber, ob angesichts der Situation des in vier Besatzungszonen und Berlin aufgeteilten Landes nach 1945 diese Entscheidungsmöglichkeit tatsächlich irgendwo gegeben war. Wie einleitend in diesem Buch festgestellt, muß man wohl eher davon ausgehen, daß in allen Besatzungszonen diese grundlegende Entscheidung über die Zukunft des Gesellschaftssystems der deutschen Bevölkerung vorerst abgenommen worden war. Es ist bezeichnend und unterscheidet Löwenthals Buch von allen anderen hier untersuchten Monographien, daß er sich – ganz im Einklang mit seiner grundlegenden durch den Marxismus geprägten Herangehensweise – an keiner Stelle spezifisch mit den konkreten politischen Bedingungen Deutschlands oder der vier Besatzungszonen auseinandersetzt; das entsprach nicht seinem „framing“ der Probleme, wie man vielleicht heute zu schreiben geneigt wäre. Einerseits hält er an der Tradition des „sozialistischen Internationalismus“ fest, wie er sich für ihn auch im Widerstand gegen den Faschismus als lebendig erwiesen hat; andererseits ist nach seinem Urteil der „typische Nationalstaat von heute, insbesondere der typische europäische Staat, ... für diesen Zweck zu klein und zu abhängig vom Außenhandel“ um, ähnlich wie auf dem „kontinentweiten Binnenmarkt der Vereinigten Staaten“, die anstehende Planung von Investitionen und Einkommen im „Großraum“ zu ermöglichen (Löwenthal 1948, 262f). Für ihn ging es innerhalb der Neuorientierung der europäischen Arbeiterbewegung um die Alternative ,demokratischer Sozialismus‘ oder ,totalitäre Diktatur‘ nach sowjetischem Muster, weil er eine kapitalismusimmanente liberale Gesellschaft und Ökonomie im Zeitalter der von ihm konstatierten „hierarchischen Produktionsweise“ kategorisch als denkmöglich ausschloß. Weil aber, wie bereits festgestellt, nach Löwenthal die kapitalistische Variante der Planung inhärent die unaufhaltsame Tendenz zur imperialistischen Großraumplanung und damit zum Krieg in sich trug, und weil er damals auch langfristig in der Sowjetunion keine Chance zur Überwindung des neu entstandenen Klassencharakters der totalitären Parteidiktatur sah, blieb wegen des Friedens und der individuellen Freiheit willen für ihn normativ und politisch nur der demokratische Sozialismus als gemeinsamer europäischer Weg in die Zukunft. Dieser Weg mußte aber „zwischen den Kolossen“ den monopolkapitalistischen USA und der totalitären Sowjetunion als die „europäische Mission des Sozialismus“ begriffen und verwirklicht werden, denn „die Vorstellung einer Entwicklung zum demokratischen Sozialismus ‚in einem einzelnen Lande‘ ist“, wie Löwenthal schreibt, „ei-
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ne wirklichkeitsfremde Abstraktion“ (Löwenthal 1948, 262). Dieses Europa „ist nicht der geographische oder historische Begriff ...: es ist das freie, das demokratische Europa“ (Löwenthal 1948, 266) mit „England als Kristallisationskern“ und der Möglichkeit, in der „Zusammenarbeit mit den freien Mitgliedern des britischen Commonwealth, mit den Kolonialreichen der westlichen europäischen Länder und mit denjenigen ehemaligen Kolonien, die heute im Begriff sind, mit dem Einverständnis fortschrittlicher westeuropäischer Regierungen ihre nationale Selbständigkeit zu erlangen ... (und) vom Nordkap bis zur Südspitze Afrikas und von Gibraltar bis Singapore einen geschlossenen Block von Territorien zu bilden, die weder amerikanischer noch russischer Herrschaft unterworfen sind“ (Löwenthal 1948, 267). Der Hinweis auf „England als Kristallisationskern“ ist nur durch den Hinweis auf Löwenthals enge Verbindung zur „Fabian Society“ während seines Exils und durch die Regierungspläne der neuen Labour-Regierung nach dem Sturz Churchills zu verstehen. In der Tat trat sie ja auch mit weitgehenden Verstaatlichungs- bzw. Sozialisierungsplänen an und verwirklichte anfangs manches davon in ihrer Gesetzgebung. Auch sein Lehrer aus früheren Tagen, Karl Mannheim, inzwischen einflußreich an der London School of Economics – auch er damals ein Vertreter des Totalitarismuskonzepts – sah das „Zeitalter der Planung“ gekommen und schlug sogar vor, dabei in einer „geplanten Demokratie“ teilweise von der Sowjetunion zu lernen (Mannheim 1970). Man sieht angesichts dieser historisch dann doch – jedenfalls nachträglich – als begrenzt anzusehenden Ansätze zur Systemtransformation, wie weit die politische Phantasie Löwenthals damals nicht nur geographisch ausgriff und aus heutiger Sicht wohl illusionär den Block des demokratischen Sozialismus als Verhinderung der tatsächlich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für lange Zeit entstandenen globalen System-Bipolarität konzipierte – ähnlich, wie das einige Jahre später die tatsächliche „Dritten Welt-Bewegung“ unter der maßgeblichen Führung nichteuropäischer Politiker wie Jawaharlal Nehru erneut mit nur begrenztem Erfolg versuchte. Löwenthals Vision des demokratischen Sozialismus bleibt von ihrem Anspruch her ein gesellschaftlicher Entwurf, der dem Projekt von Karl Marx und der ursprünglichen Arbeiterbewegung nach eigenem Verständnis treu bleibt, indem er, wie ursprünglich auch Marx, die objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung wissenschaftlich zu erfassen versucht. Das Ziel ist dabei „heute noch dasselbe wie vor hundert Jahren: die Abschaffung der Klassen und die Aufhebung der Lohnarbeit“ (Löwenthal 1948, 211) – was beides nach dem Urteil Löwenthals in der Sowjetunion nicht gelungen ist, wo sich im Gegenteil mit der neuen erblichen Oberschicht, wenn auch auf nichtkapitalistischer Basis, eine neue Klassengesellschaft herausbilde (Löwenthal 1948, 154) und „die Macht des russischen Vorgesetzten über seinen Untergebenen ... heute auf allen Gebieten weit größer als in demokratischen kapitalistischen Ländern“ sei (Löwenthal 1948, 155). Insofern sei „der Anspruch des Bol-
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schewismus, der legitime Erbe des Marxschen Gedankenguts zu sein, ... unhaltbar“ (Löwenthal 1948, 167) und wird allein vom demokratischen Sozialismus aufrechterhalten. Der Kerngedanke, der Löwenthal zu diesem Ergebnis führt ist die – natürlich auch zu seiner Zeit keineswegs neue – Erkenntnis, daß angesichts der für notwendig erachteten gesamtgesellschaftlichen Planung im Zeitalter der „hierarchischen Produktionsweise“ die ursprünglichen Ziele des Sozialismus nur durch „sozialistische Planung“ auf demokratischem Wege und mit demokratischen Mitteln erreicht werden könnten. „Im Zeitalter der hierarchischen Organisation der Produktion kann eine Gesellschaft nur sozialistisch sein, wenn und soweit sie demokratisch ist“ (Löwenthal 1948, 166), wie Löwenthal in zahlreichen Variationen in seinem Text nicht müde wird zu wiederholen. „Sozialismus, so können wir heute sagen, ist Planung für das Volk und durch das Volk“ (Löwenthal 1948, 177) – wie Thomas Jeffersons bekannte Formel zur Bestimmung der Demokratie entsprechend abgewandelt wird. Dabei ist es nun politisch wie politologisch interessant, was Löwenthal unter den ja bekanntlich für viele Deutungen offenen Begriffen „Demokratie“ und „demokratisch“ als essentiellem Bestandteil des „demokratischen Sozialismus“ versteht. Gegenüber bloßer juristischer Formverwandlung kommt es nach Löwenthal „auf die effektive Verfügung der Gesellschaft über die Verwendung der Produktionsmittel an“, die „in einer Planwirtschaft auch über Fabriken, die juristisch noch Eigentum von Kleinbesitzern sind“ vonstatten gehen könne (Löwenthal 1948, 177), welche ja, wie zitiert, bereits im Monopolkapitalismus sowieso schon der zentralen Planung durch die „Oligarchie des Monopolkapitals“ unterworfen wurden und ihre Unternehmerautonomie verloren hätten. Nur die Macht der „Oligarchie des Monopolkapitals“ müsse deshalb „durch Enteignung gebrochen werden“ (Löwenthal 1948, 178). Voraussetzung für „sozialistische Planung“ ist aber dann ihr staatlicher Charakter, „weil die Gesellschaft auf keine andere Art über die Produktionsmittel wirksam verfügen kann als mit Hilfe zentral geleiteter staatlicher Organe“, weshalb sich zwangsläufig der „demokratische“ Charakter der Planung an der Frage entscheiden muß, „wer denn über den Staat verfügt“ (Löwenthal 1948, 178). Es ist also keine vollständige Umwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln notwendig, weil das eigentliche Ziel, die effektive Durchsetzung „sozialistischer Planung“ auch gegen das gestreute Kleineigentum etwa der Aktienbesitzer ohne Weiteres möglich sei und weil die Enteignung darüber hinaus kein Selbstzweck ist: „Wo das Privateigentum der einzelnen Unternehmung nicht diesen (des Monopolkapitals, M.G.) Machtcharakter hat, da hat die sozialistische Staatsmacht kein Interesse daran, sich künstlich Schwierigkeiten zu bereiten“ (Löwenthal 1948, 179), schreibt Löwenthal und zeigt damit bereits deutlich an, daß der von ihm angestrebte demokratische Sozialismus gegenüber dem klassischen Marxismus den Charakter einer politischen Gesellschaft annimmt, in der es auf die demokratische Verfügungsmacht zur Erreichung der für gerecht erachteten Ziele,
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nicht aber auf eine bestimmte ökonomische Produktionsweise als angeblich logische Voraussetzung oder gar Selbstzweck ankommt. Diese demokratische Verfügungsmacht muß sich in der von Grund auf demokratischen Struktur der Gesellschaft und des Staates verwirklichen und in der Umsetzung der sozialistischen Ziele inhaltlich bestätigen. Alles spitzt sich damit auf die Frage zu, wie konkret organisatorisch eine sozialistische Planung „für das Volk und durch das Volk“ auf gesamtstaatlicher Ebene verwirklicht werden kann, denn hier tauchen ja dieselben Restriktionen und Probleme auf, die sich bereits bei der Verwirklichung der politischen Demokratie im territorialen Großstaat ergeben haben. „In welchem Sinne kann Planung demokratisch sein, kann Planung durch das Volk real sein“ fragt Löwenthal selbst (Löwenthal 1948, 181)? Bei genauerem Hinsehen fällt dann auch Löwenthals Übersetzung der emphatischen Formel ähnlich aus, wie in der repräsentativen Demokratie: die Komponente „durch das Volk“ kann nur auf dem Wege der Repräsentation erreicht werden, und dem Volk beziehungsweise seinen Repräsentanten auf allen Ebenen fällt neben der Funktion von deren Auswahl vor allem die öffentliche Kontrolle zu, während die Durchführung der Planung selbst ebenso wie die effektive Leitung der Betriebe und Behörden Experten und ihrem Fachwissen überlassen bleiben müssen. Lenins legendäre Köchin aus der Zeit der Utopien vor der tatsächlichen Revolution, die zeitweise die „Leitungstätigkeit“ so wie jedes andere Gesellschaftsmitglied hatte übernehmen können sollen, hat endgültig ausgedient. In Löwenthals realistischer Einschätzung liegt auch bereits Mitte der vierziger Jahre seine spätere scharfe Opposition gegen die Siebziger-Jahre-Formel einer „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ (Vilmar 1973) durch umfassende Partizipation zugrunde, die ihn schließlich zeitweise an die Seite konservativer Verteidiger der Ordinarienuniversität im ,Bund Freiheit der Wissenschaft‘ (Löwenthal 1971) führte. Nach Löwenthal muß die demokratisch beschlossene staatliche Gesamtplanung auf den einzelnen Stufen und Ebenen ihrer Umsetzung letztlich von zur Leitung befähigten Individuen verantwortet werden, denn die „Durchführung der Planung, die exekutiven Maßnahmen, die in jeder einzelnen Industrie, in jeder Region und letzten Endes in jedem Ort und jedem Betrieb getroffen werden müssen, können nicht im selben Sinne demokratisch sein“ (Löwenthal 1948, 183), sondern hier müsse „die Verantwortung für die initiative Anpassung der allgemeinen Richtlinien an die besonderen Verhältnisse einer Industrie oder eines Betriebes ... letzten Endes immer in einer verantwortlichen Person konzentriert sein“ (Löwenthal 1948, 183f). Diese Verantwortung könne nur angemessen wahrgenommen werden, wenn der Leiter oder die Leiterin einer Einrichtung „weder durch übermäßige Detailplanung von oben, noch durch die Notwendigkeit gelähmt ist, zu jedem Schritt die vorherige Zustimmung eines Komitees einzuholen“ (Löwenthal 1948, 184). Nach Löwenthal besteht die Antwort auf die obige Frage in der Entwicklung einer demokratisch-sozialistischen Konzeption des Pluralismus (dazu Eisfeld 1972, bes. 101ff), denn „Planung besteht gerade im Finden eines konkreten
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Ausgleichs zwischen den entgegengesetzten Teilinteressen der einzelnen Gruppen von Arbeitenden, die (auch im Sozialismus, M.G.) weiterbestehen“, woraus wiederum gefolgert wird, „daß Planung nicht demokratisch sein kann, wenn nicht die Freiheit der organisierten Vertretung und Propaganda verschiedener Standpunkte besteht – das heißt, die Freiheit der Parteibildung“ (Löwenthal 1948, 182). Mit kaum einem Gedanken entfernt Löwenthal sich nicht nur weiter von der Praxis und Theorie des „realen Sozialismus“ mit seinem diktatorischantipluralistischen „demokratischen Zentralismus“, sondern auch von der marxschen, letztlich noch vom Versöhnungsdenken der hegelschen Philosophie tangierten Idee einer kommunistischen Gesellschaft, die, weil jenseits des „Reichs der Notwendigkeit und Knappheit“ angesiedelt, ohne Interessengegensätze und deshalb auch ohne politische Vermittlungsstrukturen auskommen können sollte. Nach Löwenthal erweise sich der „totalitäre Charakter“ der in Sowjetrußland regierenden Kommunisten und ihrer internationalen Verbündeten vor allem darin, daß sie „in einem Punkt ... etwas prinzipiell Neues in die Arbeiterbewegung hineingetragen“ haben: in der dogmatischen Gleichsetzung der Politik der kommunistischen Partei mit den ‚wahren‘ Interessen der Arbeiterklasse, ihres Bewußtseins mit dem ‚wahren‘ Klassenbewußtsein“ (Löwenthal 1948, 243). Über die Frage, ob es sich dabei wirklich um etwas „prinzipiell Neues“ handle, wird man trefflich streiten können, denn bereits Marx und Engels hatten 1848 im „Manifest der Kommunistischen Partei“ keinen anderen Anspruch als die Bolschewisten erhoben, wenn sie proklamierten: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. ... Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen ... sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ (Marx/Engels 1972, 474). Die Frage der Neuigkeit also dahingestellt, geht es Löwenthal darum, in dieser „kommunistischen Bewußtseinsmetaphysik“ (Löwenthal 1948, 244) noch eine andere Seite dieses „totalitären Charakters“ aufzuzeigen, nämlich das für totalitäre Parteien typische Freund-Feind-Denken, das „nur bedingungslose Anhänger und Feinde“ kennt und durch das die „Kommunisten den ‚Marxismus‘ so weit verzerrten, bis er für sie die gleiche Funktion erfüllen konnte wie die Rassentheorie für die Nazis: Das An-dieWand-malen eines teuflischen Allfeindes, der nichts weiter ist als die Projektion des eigenen Willens zur Allmacht in die Außenwelt“ (Löwenthal 1948, 245). Daß es unter solchen Voraussetzungen prinzipiell auch nicht die geringsten Ansätze von politischem Pluralismus geben kann, trennt den MarxismusLeninismus bei aller gemeinsamen Herkunft aus der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung fundamental vom demokratischen Sozialismus. Aber auch der hat es mit dem normativen Pluralismus nicht einfach. Bis heute ist die normative Anerkennung und politische Gewährleistung von Pluralismus für demokratische Gesellschaften insgesamt ein Problem, das sich nur parodox und im widersprüchlichen Umgang mit den eigenen Prinzipien lösen
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läßt. Der gewährte und gewollte Pluralismus muß zugleich beschränkt werden, denn, entweder nimmt man logisch konsequent so wie etwa Hans Kelsen in seiner Demokratietheorie die Möglichkeit hin, daß die Demokratie mit demokratischen Mitteln, das heißt per Mehrheitsentscheid abgeschafft werden kann, oder man entscheidet sich wie im deutschen Grundgesetz in Art. 20 für die „wehrhafte Demokratie“ und gewährt den Feinden der Demokratie nur eingeschränkte politische Freiheitsrechte. Hans Kelsen hatte angesichts der bedrohlichen Situation am Ende der Weimarer Republik über die Demokratie geschrieben, „... daß sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer Brust nähren muß. Bleibt sie sich selbst treu, muß sie auch eine auf Veränderung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden“ (Kelsen 1967, 68). Löwenthal ist das Problem bewußt, das sich natürlich noch verdoppelt, wenn nicht nur die demokratische Form, sondern auch der sozialistische Inhalt gegen politische Veränderungen ein für alle Mal geschützt werden soll, und er schlägt die entgegengesetze Richtung zur politischen Auflösung des normativen Dilemmas ein. Deshalb können seiner Auffassung nach Demokratie und Parteienkampf in einer Planwirtschaft nicht „die genau gleichen Formen haben ... wie in der ungeplanten kapitalistischen Wirtschaft des 19. Jahrhunderts. Auf der einen Seite kann es nötig sein, Organisationen zu verbieten, die das Prinzip der Planung nicht nur propagandistisch in Frage stellen, sondern praktisch zu sabotieren suchen“ (Löwenthal 1982, 182), auf der anderen Seite entscheidet über den demokratischen Charakter, „daß Interessen überhaupt frei vertreten werden ... im Kampf um die öffentliche Meinung, und daß das (der?, M.G.) Kompromiß in solchem Kampf erzielt und nicht einfach von der Staatsführung diktiert wird“ (Löwenthal 1948, 183). Löwenthal geht in Anbetracht der realpolitischen Lage nach dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges sogar noch einen Schritt weiter, wenn er nicht nur im „antifaschistisch revolutionären Kampf“ dann eine Berechtigung erkennt, wenn „die Demokratie noch keine Zeit gehabt hat, sich zu stabilisieren“ und „reaktionäre Militärgruppen ... ihren Bestand von rechts“ bedrohen und wenn infolge dessen „die revolutionäre Diktatur von links ... als der einzig sichere Weg zum Sozialismus“ erscheint (Löwenthal 1948, 257). Löwenthal vollzieht hier im Lichte seiner normativen Prinzipien – die allerdings eine prinzipielle Gewaltfreiheit explizit nicht einschließen – eine politische Gratwanderung, wenn er anschließend feststellt: „Auch ein Sozialdemokrat kann in diesen Ländern nicht versprechen, der Sieg des Sozialismus lasse sich ohne gewaltsame Auseinandersetzung mit den Verteidigern der alten Ordnung sichern“ und deshalb stelle „die unmittelbare Lage in diesen Ländern ... daher Kommunisten und Sozialisten häufig vor gemeinsame Aufgaben“ (Löwenthal 1948, 258) und die „Zusammenarbeit“ erweise sich zeitweise „als praktische Notwendigkeit“ (Löwenthal 1948, 261). Eine solche Zusammenarbeit könne allerdings nur zeitweise und von demokratisch-sozialistischer Seite nur in dem Bewußtsein erfolgen, daß die von den Kommunisten in Volksfrontmanier propagierte „Verschmelzung beider Parteien auch in Zeiten, wo ihre Tagespolitik
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zusammenfällt, grundsätzlich unmöglich ist“, denn „die Kommunisten als Partei der totalitären Diktatur wollen etwas prinzipiell anderes als die Parteien des demokratischen Sozialismus“ (Löwenthal 1948, 260). Allein zur Abwehr eines erneuten Faschismus wäre also die Zusammenarbeit mit den Kommunisten zeitweise möglich und zur Abwehr einer konterrevolutionären Gefahr der Einsatz von Gewalt nicht ausgeschlossen. Ohne daß Löwenthal explizit darauf zu sprechen kommt, kann man an dem ganzen Duktus erkennen, daß in Deutschland keine Voraussetzung und Notwendigkeit für einen solchen „antifaschistisch revolutionären Kampf“ besteht, sondern daß im Gegenteil, so wie in anderen Teilen Ost- und Mitteleuropas auch in der Sowjetisch Besetzten Zone Deutschlands und Berlins, die Gefahr droht, daß die Kommunisten die „tatsächliche Alleinherrschaft“ errichten „und die Grundlagen eines neuen ökonomisch-sozialen Systems“ schaffen, „mit den Methoden, die der späteren russischen Entwicklung und der faschistischen Machtergreifung gemeinsam sind – den totalitären Methoden der planmäßigen Transformation der Gesellschaft mit Hilfe der diktatorischen Staatsmacht“ (Löwenthal 1948, 252). Ob auch gegen diese totalitäre Diktatur – unabhängig von etwaigen Erfolgsaussichten – moralisch der gewaltsame Widerstand in Analogie zum „antifaschistischen Kampf“ gerechtfertigt wäre, bleibt am Ende eine naheliegende, aber von Löwenthal in dieser Zeit nicht erörterte offene Frage.
Walter Dirks: Die Entscheidung für einen europäischen Sozialismus aus christlicher Verantwortung Als Walter Dirks sich nach dem Mai 1945 als politischer Publizist aus seiner „inneren Emigration“ in der Musikredaktion der Frankfurter Zeitung zurückmeldete, da war er zumindest in katholischen Kreisen als einer der führenden publizistischen Vertreter des Linkskatholizismus (Prümm 1984, 29) aus den letzten Jahren der Weimarer Republik kein Unbekannter. Allerdings mußte die Gemeinsamkeit mit dem Mitherausgeber der „Frankfurter Hefte“, Eugen Kogon, zunächst auf eben jene Kreise befremdlich wirken, war ihnen Kogon doch als in Österreich ebenso wie in Deutschland prominenter katholischer Publizist ebenfalls bekannt – allerdings als Repräsentant eines politisch wie theologisch sehr konservativen Katholizismus, der alles, was Walter Dirks in der von ihm in den letzten Jahren maßgeblich geprägten „Rhein-Mainischen Volkszeitung“ propagierte, als ein „Paktieren mit dem Übel“ verpönte, gegen das man zur Not die bewaffnete „Heimwehr“ (Kogon zit. in Prümm 1986, 114) einsetzen müsse, wie sie in Österreich anfangs der dreißiger Jahre gegen Links aufgerüstet wurde. Wenn Eugen Kogon nachträglich über sein Verhältnis zu Walter Dirks Ende der zwanziger Jahre schreibt: „Als ich bei der ‚Schöneren Zukunft‘ gearbeitet habe, war meine ganze Sehnsucht als Pazifist und als der Arbeiterschaft zuge-
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neigter Intellektueller bei der ‚Rhein-Mainischen Volkszeitung‘ gewesen. Ich stand zwar auf der konservativen Seite, aber mein ganzes Herz gehörte denen“ (Kogon 1997, 86) – dann muß er in jenen Jahren als Publizist ständig und sehr vehement die Stimme seines Herzens verleugnet haben. Allenfalls im generellen katholischen Bekenntnis, in der pazifistischen Orientierung lassen sich in den frühen Texten von Dirks und Kogon Überschneidungen finden. Wenn Kogon seine eigene Zuneigung zu der „Arbeiterschaft“ (Kogon 1997, 86) als dritte Gemeinsamkeit anführt, so hat er dabei ,vergessen‘, daß er selbst diese in einen autoritären Ständestaat nach Maßgabe seines akademischen Lehrers Othmar Spann ,integrieren‘ wollte, während sich Dirks an der marxschen Theorie des Kapitalismus und der sozialistischen Arbeiterbewegung orientierte, die es, wie zitiert, nach Kogons Auffassung enschieden zu bekämpfen galt. Michael Kogon, der Sohn und Herausgeber von Eugen Kogons Schriften hat in nichts beschönigender, aber sensibel liebevoller Weise die politisch-ideologische und praktische Entwicklung seines Vaters beschrieben und zurecht festgestellt, daß Kogon einerseits „kurze Zeit den Ausgleich zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus gesucht“ hat; aber andererseits, „als es darauf ankam, bewies er ‚christlichen Instinkt‘ “ (M. Kogon 1997, 13f) und wurde bereits 1934 – dies nun im Gegensatz zu Dirks – ein entschiedener Mann des aktiven Widerstandes, der dafür sieben Jahre Internierung im Konzentrationslager Buchenwald verbringen und überleben mußte. Karl Prümm hat in seiner doppelten Werkbiographie der Schriften von Dirks und Kogon vor 1933 verständnisvoll herausgearbeitet, welche theologischen und politischen Wandlungen Kogon vollziehen mußte (Prümm 1986, 12), um diese für die Nachkriegszeit so erfolgreiche und prägende Zusammenarbeit zu ermöglichen – während Dirks weitgehend und bis in die Semantik unverändert an sein Programm für „die Zweite Republik“ anküpfen konnte, das er bereits in den Jahren zwischen 1930 und der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 in Umrissen ausgearbeitet und in der „Rhein-Mainischen Volkszeitung“ veröffentlicht hatte (dazu Prümm 1984, Seiterich-Kreuzkamp 1986 und Bröckling 1993 – mit unterschiedlichen Akzenten). Daß Walter Dirks 1930 eine „Zweite Republik“ proklamierte – übrigens ohne großen Nachhall und erst recht ohne dafür bis 1933 politische Unterstützung zu finden, wie Karl Prümm schreibt, als „Antifaschistische Mission ohne Adressaten“ (Prümm 1982) – ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: erstens setzte diese Proklamation das Urteil voraus, daß die „erste“, daß die Weimarer Republik endgültig am Ende sei, was in den Augen Dirks’ schließlich durch den Rücktritt der letzten demokratischen Koalitionsregierung und den Beginn der „gegenrevolutionären Diktaturregierung“ Brünings (Rosenberg 1977, 207) bestätigt wurde, aber tiefere Ursachen als bloß das Versagen der parlamentarischen Parteien hatte. Zweitens aber wurde diese Einschätzung für Dirks nicht wie bei einem großen Teil der publizistischen Vertreter – darunter auch des katholischen Spektrums – zum Anlaß einer Abkehr von dem Ziel der demokratischen Republik, sondern vielmehr Voraus-
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setzung für die entschiedenere Ausarbeitung einer Konzeption sozialistischer Demokratie, die in der „Zweiten Republik“ auf der Basis des für Dirks grundlegenden Bündnisses von Arbeitern und Christen erst noch verwirklicht werden müßte. Dirks hat sich in diesen Jahren intensiv mit dem zeitgenössischen sozialkritischen und marxistischen Denken auseinandergesetzt, was in seinem eigenen Denken nicht ohne Folgen blieb. Seine Dissertation über Georg Lukács’ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ wurde kurz vor der Fertigstellung und Einreichung aus Anlaß einer Hausdurchsuchung und zeitweiligen Verhaftung im Frühjahr 1933 verbrannt, aber Ulrich Bröckling hat unter Verwendung anderer Texte von Dirks – nicht ganz ohne Spekulation – interessante Parallelen zwischen Lukàcs’ und Dirks’ vermutlicher Argumentation herausgefunden, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann (Bröckling 1993, 112ff, 116f, 135). Unter dem bereits 1930 verwandten Titel veröffentlichte Walter Dirks im März 1947 dann schließlich unverändert jene Aufsätze, die er seit Erscheinen der „Frankfurter Hefte“ im April 1946 in deren erstem Jahrgang publiziert hatte. Zuversichtlich schreibt er im Vorwort: „man wird hier noch besser als dort erkennen, daß sie Elemente eines Ganzen sind“ (Dirks 1947, 7) – einer Theorie des „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“, die Dirks weitgehend vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und als vergebliche Alternative zur ihr entworfen hatte. Wenn ihre Darstellung und Analyse gleichwohl hier ihren Platz findet, dann wegen der zeitgenössischen Bedeutung, die die Schriften Dirks’ in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende gefunden haben. Der „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ war als geistige und kulturelle Strömung in der Neugründung (West-)Deutschlands neben dem „demokratischen Sozialismus“ der marxistischen Arbeiterbewegung von erheblicher Relevanz für das politische Denken. Auch wenn es dabei eine auffällige Dominanz katholischer Christen gab, so blieb die Idee eines „christlichen Sozialismus“ keineswegs auf das katholische Milieu beschränkt und fand auch im protestantischen Norden vehemente Vertreter und ihre Schriften reißenden Absatz. Otto Heinrich von der Gablentz’ entsprechende Programmschrift „Über Marx hinaus“ war 1946 bereits in zweiter Auflage und in 20.000 Exemplaren verbreitet (Gablentz 1946). Die fast gleichzeitige Buchveröffentlichung von Dirks’ Aufsätzen zeigt ebenso wie der publizistische Erfolg von Richard Löwenthals Buch das ungeheure Interesse, das in jenen Jahren an solchen grundlegenden Gesellschafts- und Politikentwürfen bestand. Und immerhin erschienen die „Frankfurter Hefte“ – man kann das angesichts der Misere heutiger politischer und kultureller Zeitschriften nur noch staunend und resigniert zur Kenntnis nehmen – bis zur Währungsreform 1948 in einer Auflage von 50.000 bis zuletzt 70.000 Exemplaren; „im Februar 1947 sprach eine redaktionelle Mitteilung von 150.000 Voranmeldungen“ (Prümm 1986, 11), die man angesichts begrenzter Papierzuteilungen aber nicht erfüllen konnte. Dabei spielte es sicherlich eine Rolle, daß anders als vor 1933, auch in christlichen Kreisen die generelle Idee einer Bindung der privaten Wirt-
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schaft an die Aufgabe „der Bedarfsdeckung des Volkes“ – so das Ahlener Programm der CDU von 1947, in dem im Übrigen entgegen weitverbreiteten Vorurteilen der Begriff „christlicher Sozialismus“ fehlt (Uhl 1974, 90) – diskutiert wurde, daß die Idee einer Vergesellschaftung von „Schlüsselindustrien“ sowie die Vorstellungen gemeinwohlorientierter „Planung und Lenkung“ weiten Anklang fanden und sich als gesetzliche Möglichkeit in zahlreichen Länderverfassungen niederschlug (s. Rupp 2000, 5 und 53f) und daß selbst einige lokale Gründungsinitiativen der Christlichen Union sich auf die sozialistische Semantik einließen. Bernd Uhl geht in seiner parteinahen, gleichwohl in der Auseinandersetzung mit Dirks sehr differenzierten Darstellung so weit zu behaupten, „daß die Stellung zum Sozialismus und Marxismus in den zwei ersten Nachkriegsjahren das entscheidende Problem des politischen Katholizismus werden mußte“ (Uhl 1974, 55). Walter Dirks, der wegen seiner Rolle in der Frankfurter CDU in der politikwissenschaftlichen Literatur gelegentlich als Mitbegründer der CDU bezeichnet wird, ohne daß er dieser Partei je formal angehörte, hatte kurz vor seinem mit Eugen Kogon gemeinsamen Engagement der Einflußnahme auf den Kurs dieser neuen christlichen Partei in kleinem Kreis zunächst den Plan einer „Sozialistischen Einheitspartei“ ohne Erfolg zur Diskussion gestellt (Stankowski 1976, 74), nach Uhl wollte Dirks „eine Arbeiterpartei des ‚Marxismus der Frühschriften‘ “ (Uhl 1974, 93), woraus man schließen kann, daß er zu Parteien eher ein instrumentelles Verhältnis besaß, während er selbst sich an eher soziologisch bestimmten Strukturen und Bewegungen und ihren Bündnissen orientierte. Allerdings wäre es vorschnell, die in der CDU kurzzeitig vertretenen und in ihrer praktisch-politischen Bedeutung kompromißhaften (Adenauer 1965, 60) und schnell vergessenen „Leitsätze“ mit den weitreichenden theologisch wie gesellschaftstheoretisch begründeten Vorstellungen Walter Dirks’ gleichzusetzen. Bereits als der Wirtschaftsrat im Juni 1947 das erste Mal zusammentrat, zeigte sich, daß die „bürgerliche Mehrheit“ wenig von den früheren Proklamationen der CDU-Basis hielt und alle Forderungen von „SPD, KPD und Gewerkschaften, die alliierterseits vorhandene Bewirtschaftung zu einem System der Planung und Lenkung der gesamten Wirtschaft auszubauen“, ablehnte (Rupp 2000, 58). Maßgeblich war dabei der Kampf Konrad Adenauers gegen jegliche Verwendung sozialistischer Semantik, der er sein Konzept eines „machtverteilenden Prinzips“, das sich gleichermaßen gegen etatistischen Zentralismus wie wirtschaftlichen Monopolismus wendete, letztlich erfolgreich entgegensetzte (Adenauer 1965, 60). Bernd Uhl stellt fest, „daß die Devise „Christlicher Sozialismus“ praktisch mit dem Jahr 1947 „verschwunden ist“ und erklärt das nicht zuletzt mit der sich Geltung verschaffenden ideologischen Polarisierung durch den Kalten Krieg (Uhl 1975, 56). Walter Dirks’ nahezu gleichzeitige Feststellung, „drei große Parteien bekennen sich in ihren Programmen zum Sozialismus“ (Dirks 1947, 84), war insofern kaum formal korrekt, drückte also weniger realistische politische Urteilskraft als vielmehr politische Hoffnung aus, daß nunmehr alle wichtigen Kräfte den So-
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zialismus als das „Gesetz des Zeitalters“ (Dirks 1947, 119) anerkennten, daß insbesondere deren ,Sammlung‘ und ,Integration‘ für und in den Sozialismus „die politische Sendung der Christen“ sei (Dirks 1947, 41). Karl Prümm hatte bereits angesichts der frühen Schriften von Dirks konstatiert, was auch für seine Nachkriegsschriften gültig bleibt: „Ein Ethos programmatischer Anstrengung ist für ihn charakteristisch, ein Nach-Vorne-Denken in beinahe blochscher Manier, ein Beharren auf dem utopischen Moment, das sich jedoch der Gefahr einer ‚Flucht nach Vorwärts‘ bewußt ist“ (Prümm 1986, 72). In der Tat ging es Dirks um „ein Nach-Vorne-Denken“, wenn er in seiner für „Die Zweite Republik“ zentralen innerkatholischen Auseinandersetzung mit der „Abendland-Idee in ihrer traditionalistischen Form“ zu dem Ergebnis kam, darin offenbare sich „der Versuch, aus der bürgerlichen Welt durch eine Flucht nach rückwärts herauszukommen“ (Dirks 1947, 63). Auch Dirks sah die bürgerliche Gesellschaft wie die konservativen Abendland-Ideologen als am Ende und historisch überholt an. Der Begriff des „Bürgers“ sei historisch überholt und „mit jeder Phase der großen sozialen Umwälzung ... fragwürdiger geworden“; er sei vor allem für die Zukunft nicht mehr brauchbar „weil die Bürger als solche keine Bürgen des Sozialismus, keine originären Sozialisten sein können“ (Dirks 1947, 29). Die Union, also die angestrebte Partei könne also nicht „Bürger als solche“, sondern sie nur in ihrer Gestalt als Christen „sammeln“ (Dirks 1947, 41), denn als solche könnten sie nach der für Christen naheliegenden „Bekehrung“ zum Sozialismus „durchaus Mitträger“ (Dirks 1947, 30) der Bewegung werden. Die entscheidende Rolle aber müßten andere spielen: „die christlichen Arbeiter ... sie haben den Schlüssel in der Hand. Sie sind die Klammer. Sie sollten in der Union stark sein als Garantie gegen jede Verbürgerlichung“ (Dirks 1947, 41). Es liegt nahe, in Dirks entschiedener Frontstellung gegen Bürgertum und Bürgerlichkeit den entscheidenden ideologischen Grund dafür zu sehen, daß er sich zunehmend von der CDU und letztlich der politischkulturellen Gesamtentwicklung der Westzonen und späteren Bundesrepublik entfernte, die für ihn nachträglich nur als „Wiederherstellung der alten Welt“ (Dirks 1950, 942) als „Restauration“ eines „in seiner Grundstruktur bürgerlichen Europas“ (Dirks 1950, 953) wahrnehmbar blieb. Es wäre nun voreilig, Dirks in nachachtundsechziger Manier mit seiner zwischen partieller Kritik und vorwärtsgewandter Aneignung des AbendlandTopos in die eigene Verwerfung jeglicher „metaphysischer Sinngebung“ einzureihen oder ihm gar vorzuwerfen, mit der Bedienung „weltanschaulicher Komfortbedürfnisse ... vor allem die Abwehr konkreter Verantwortung“ zu verbinden (Schildt 1999, 150, 151) – und damit zugleich zu erkennen zu geben, daß man die religiöse oder anders begründete Sinnsuche anderer Menschen nicht ernst zu nehmen in der Lage ist. Wenn man wie Richard Faber in seiner so beeindruckenden wie obsessiven Kritik des Abendland-Konzepts undialektisch darin letztlich nur die reaktionäre, antikommunistische Ideologie erkennt (Faber 1979 passim), dann wird man es schwer haben, die teils positive Aufnahme die-
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ses Begriffs bei einem so untadeligen Demokraten und Sozialisten wie Dirks oder auch dem Demokraten Hans Peters zu verstehen. Man versteht sein Vorgehen demgegenüber nur, wenn man sich stets zwei Aspekte seiner Publikationen vor Augen hält: erstens wendet sich Dirks – gerade auch in seiner Auseinandersetzung mit der „Abendland-Idee“ – zunächst stets an ein katholisches Publikum, das es im Sinne heute weit verbreiteter Didaktik dort ,abzuholen‘ gelte, wo es nach der dezidierten Auffassung von Dirks durch die Amtskirche und die dominanten Strömungen des Katholizismus im falschen Traditionalismus festgehalten werde. Auch Richard Faber konzediert, daß „im zweiten Nachkrieg ... die Abendland-Ideologie größere öffentliche Erfolge als im ersten jemals“ erreichte (Faber 1979, 12) und müßte deshalb wenigstens aus politischen Gründen dieser Vorgehensweise aufgeschlossen gegenüberstehen – statt dessen ignoriert die sonst noch den kleinsten Verästelungen nachgehende Studie Dirks wie den Linkskatholizismus generell. Zweitens verbindet Dirks seine politischen Schriften zwar stets begründend mit dem aktiven Bekennen seines christlichen Glaubens, dies aber ohne die Voraussetzung missionarischen Denkens, daß nämlich die Übernahme der christlichen Prämissen Voraussetzung für die Anerkennung der politischen Entscheidung und Zusammenarbeit wäre, auf die es ihm in Zukunft ankommt. Insofern zielt dieses politische Denken über die Christen hinaus auf eine breitere Koalition, in der auch andere Begründungen für den gewollten Aufbau des Sozialismus akzeptiert werden. In dieser Koalition, die wie gleich noch gezeigt wird, vor allem mit soziologischen Kategorien begründet wird, könne dann durchaus an das „Kulturprogramm“ angeschlossen werden, das mit dem Begriff des „Abendlandes“ allenthalben propagiert werde, wenn dabei nicht nur eine rückwärtsgewandte, alles Vergangene glorifizierende und alles Neue bloß als „Abfall“ und „Auflösung“ verächtlich machende Kritik gemeint sei, die die ebenfalls vorhandene „‚fortschrittliche‘ Linie“ in der Geschichte des Abendlandes, zu der Dirks auch die Ideale der bürgerlichen Revolution und den Wert und die Würde der Einzelpersönlichkeit rechnet, offenkundig partiell auch „die Rolle der Naturwissenschaften und der Technik“ (Dirks 1947, 50f), ignoriere. Auch im Umgang mit Tradition und Geschichte komme es also auf Entscheidung und „Scheidung“ (Dirks 1947, 49) dessen an, was in der derzeitigen „Krise“ zum „Durchbruch nach einer neuen Lebensordnung“ beitragen könne: „in echten Existenzkrisen liegt die Lösung nicht in der Bewahrung, sondern in der Wandlung“ (Dirks 1947, 51f). Dirks’ argumentativer Umgang mit der Abendland-Traditon erinnert von ferne an Walter Benjamins Methode der „rettenden Kritik“ im Umgang mit der Kulturgeschichte in seinem „Passagen-Werk“, wonach die „Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens“ sei: „Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem unabgeschlossenen machen“ (Benjamin 1983, 589). „Aber ein geschichtliches Recht, das nur das
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Recht des Gewordenen kennt, ist romantisches Denken“ (Dirks 1947, 56) In diesem Sinne muß der Umgang mit der „Abendland-Tradition“ selektiv und im Bewußtsein der unerfüllten Verheißungen sich an den Notwendigkeiten der Zukunft orientieren, denn „sie enthält die halbe Wahrheit, nicht die ganze“ (Dirks 1947, 56). Anknüpfen könne diese „rettende Kritik“ an die Erfahrung der „Gefährdung des abendländischen Menschentums ... Bedroht, fast schon verloren sind nicht etwa nur Ideengebilde, Bildungsvorstellungen, Ideale, das ‚abendländische Menschentum‘, sondern geradezu ‚wir selbst‘: unsere ererbte, bewährte, im Reichtum und in den Schmerzen vieler Jahrhunderte gefestigte Art zu leben, zu fühlen, zu beten, zu werten, zu wollen, zu leiden, zu arbeiten, zu sein, schließlich unsere nackte leibliche Existenz“ (Dirks 1947, 51). Die ganze Wahrheit aber ergibt sich für Dirks aus dem nunmehr geltenden „Gesetz der Epoche“ (Dirks 1947, 41), oder „... des Zeitalters“ (Dirks 1947, 119), nachdem die Rettung des Bewahrenswerten aus der Tradition nur noch durch zukunftsgewandte „Politik“ zu erreichen sei, die „hilft ... der Epoche zu sich selbst zu kommen“ (Dirks 1947, 42). Im kritischen Umgang mit dem katholischen Abendland-Mythos wird Dirks’ eigentümliches Geschichtsverständnis deutlich, in dem sich kontingenzorientiertes Entscheidungsdenken mit theologischer und geschichtsphilosophischer Spekulation mischen – auch hier wäre es interessant, den Parallelen zu Walter Benjamin weiter nachzugehen. Dirks hält dem Abendland-Mythos zugute, daß es überhaupt „geschichtliches Denken“ sei und stellt dies den „Rationalisten und Idealisten, die von einer absolut gesetzten und abstrakten Vernünftigkeit aus die Welt formen wollen“ entgegen (Dirks 1947, 56). Diese Kritik trifft auch das innerkatholische Naturrechtsdenken. Aber bei aller Bindung an die Vergangenheit könne der Mensch „den richtigen, den rettenden Schritt (nicht, M.G.) tun, wenn er ihn nicht an seiner Zukunft orientiert“ (Dirks 1947, 56) Die Zukunft habe man aber nur als „Entwurf, also vorweggenommen, aus der dunklen Fülle der Möglichkeiten gegriffen, nur gedacht, gefühlt und gewollt, wenn auch im guten Fall nicht willkürlich, sondern am letzten Ziel orientiert“ (Dirks 1947, 57). Man sieht an diesen bewußt ausführlichen Zitaten, wie hier Widersprüchliches auch in einem sprachlichen Pathos zusammengezwungen wird: einerseits verläuft aus christlicher Glaubensüberzeugung „der Weg des Menschen vom Ursprung zum Ziel, nicht nur in einem transzendenten Sinn“ (Dirks 1947, 56); geschichtsphilosophische Hintergrundüberzeugungen lassen die wiederholt von Dirks gewählten Formulierungen vom „Gesetz der Epoche“ oder „der Epoche, die zu sich selbst kommen müsse“ anklingen – wozu aber schließlich „aktive Politik“ ihr verhelfen müsse, also der Eingriff des handelnden Menschen, was jede Gesetzesautomatik ausschließe. Der Mensch aber „hat“ seine „Zukunft“ nur als „Entwurf“, der sich allenfalls je geschichtlich an dem „Ziel“ innerweltlich zu orientieren vermag und die „Entscheidung ... nicht ohne Unsicherheit und Risiko“ des Einzelnen wie der „menschlichen Gemeinschaften“ abverlangt,
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die freilich „nicht aus Zellen, sondern aus Personen bestehen, die nicht ‚wachsen‘, sondern ‚sich entscheiden‘ “ – wie er sich gegenüber tradionalistischorganizistischem Gemeinschaftsdenken abgrenzt (Dirks 1947, 57). Karl Prümm, der im Detail dem Bildungsgang des jungen Dirks nachgegangen ist, stellt zu Dirks’ eigentümlichen Synkretismus aus personalistischer Theologie und existenzialistischer Philosophie fest: „Alles ist abgestellt auf die Kategorie ‚Entscheidung‘, einer der Schlüsselbegriffe in der Publizistik von Walter Dirks überhaupt ... Als sichtbare Konsequenz der Rezeption von Heidegger und Jaspers gewinnen Politikbegriff und Religionsverständnis gleichermaßen einen radikal existentiellen Zuschnitt“ (Prümm 1986, 72f). Dirks verspiegelt in seinen Formulierungen ständig die persönliche glaubensbasierte Heilsgewißheit des individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens seiner eigenen personalistischen Theologie mit der existentialistisch und individualistisch rein innerweltlich formulierten Entscheidungsbedürftigkeit und Verantwortung religiöser, sozialer und politischer Fragen. Theologisch beruft er selbst sich mit seiner Entscheidung für den Sozialismus umstandslos auf das Liebesgebot des Neuen Testaments als dem „Grundgesetz der menschlichen Gemeinschaft“, aus dem das „Diktat der Liebespflicht“ folge (zit. nach Prümm 1986, 78). „Die christliche Linke hat mit dem Weltbeglückungstraum der Fernstenliebe nichts zu tun. Ihr Antrieb ist nicht die Menschenliebe, sondern die Nächstenliebe“, grenzt Dirks seine Position gegenüber dem abstrakten Universalismus des säkularen Sozialismus ab, sie tritt im „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ in der „neuen Gestalt der politischen Nächstenliebe, der Politik aus Liebe auf; sie entspringt dort, wo erkannt wird, daß die Not des Nächsten in der Unordnung der menschlichen Institutionen begründet ist“ (Dirks 1947, 94). Dirks’ wiederholt dafür herangezogene biblische Referenz und offenkundig auch persönliches Leitbild ist die Gestalt vom ,barmherzigen Samariter‘ (Lk 10, 25-37). Dabei dient das eigene religiöse Bekenntnis nicht als allgemeinverbindliche Begründung, wird aber als ein „Angebot“ verstanden, das sich wie im Falle des Proletariats gerade an jene richtet, die angesichts ihrer materiellen Lage aus verständlichen Gründen und eigenem Unverschulden sich seit dem 19. Jahrhundert von dieser „Heilsbotschaft“ ausgeschlossen fühlen mußten und deshalb auf das schlechte Surrogat der historisch-materialistischen Geschichtsmetaphysik des – so Dirks Marx verteidigend (Bröckling 1993, 112ff) – nachmarxschen „marxistischen Dogmatismus“ verwiesen wurden. Für die Nichtchristen bietet Dirks als Begründung für die Entscheidung für den Sozialismus eine eigene Geschichtsdeutung an, die aus seiner Krisendiagnose und seiner Faschismustheorie vom Anfang der dreißiger Jahre gespeist wird. Die Details sind für seine Position nach 1945 über das hier Gesagte hinaus nicht wichtig, aber Ulrich Bröckling stellt zurecht fest: „Dirks entwirft eine originäre Faschismustheorie, die den Vergleich mit anderen zeitgenössischen, d.h. bis 1933 formulierten, nicht zu scheuen braucht und die zumindest im Bereich des deutschen Katholizismus keine Entsprechung findet“ (Bröckling 1993, 122).
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Hier ist zunächst entscheidend, daß er in der gedanklichen Parallelführung des individuellen religiösen Bekenntnisses wie der politischen Entscheidung für den Sozialismus keinesfalls zurückhaltend und nach katholisch-orthodoxer Auffassung sicherlich eine Blasphemie begehend argumentiert; beides verlangt gleichermaßen den existenziellen „Sprung“ (Dirks 1947, 133), wer sich für den Sozialismus „entscheide“, überschreite ein für alle Mal den „Rubikon“ (Dirks 1947, 86): „Wer geistig von ... der eingeschränkten Produktionsfreiheit“ des bürgerlichen Sozialstaates zur „mit Freiheit durchsetzten Wirtschaftsplanung“ des Sozialismus „übertritt, hat eine ‚Bekehrung‘ hinter sich, keine religiöse, sondern eine politische“ (Dirks 1947, 135). Für diesen existentiellen „Sprung“, diese „politische Bekehrung“, die eben nicht notwendig auch die religiöse voraussetzt, wirbt Dirks mit seinem ganzen publizistischen Werk seit 1930 und so auch in seinen Beiträgen aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Dirks konnte selbst als guter Heidegger-Kenner dessen 1937-38 geschriebene, aber erstmals 1989 veröffentlichten „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ nicht kennen, aber es entsprach demselben existentialistischen Lebensgefühl, wenn es dort hieß: „Der Sprung, das gewagteste im Vorgehen des anfänglichen Denkens, läßt und wirft alles Geläufige hinter sich und erwartet nichts unmittelbar vom Seienden ...“ (Heidegger 1989, 227). Ulrich Bröckling hat in seiner entgegen dem Titel sich hauptsächlich auf Walter Dirks konzentrierenden Dissertation die Marx-Rezeption von Dirks minutiös hinsichtlich Übernahme und Abgrenzung herausgearbeitet, aber die oben gebrauchte Qualifizierung zurückgewiesen: „Synkretismus liegt ihm fern“ (Bröckling 1993, 119). Das kommt auf den Bezugspunkt an: sicherlich wird man Dirks als bekennendem Christen und studiertem – wenn auch nicht geprüftem – Theologen zubilligen können, daß er letztlich seine Theologie rein theologisch zu begründen und zu vertreten in der Lage war, eine katholische Theologie freilich, die sich allein schon mit ihrem „theologischen Dezisionismus“ (so Bröckling 1993, 88, explizit die Kennzeichnung von Prümm 1986, 73 übernehmend) aus der Perspektive der Amtskirche mehr als des Synkretismus schuldig machte. Ich halte aber diese aus der Religionssoziologie übernommene Kennzeichnung vor allem für Dirks’ politische Konzeption „des Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ für höchst angemessen, deren Charakteristik gerade aus der unauflöslichen Verbindung theologischer und gesellschaftspolitischer Begründungsfiguren resultiert – und sich damit etwa von einem säkularistischen Begriff des „demokratischen Sozialismus“ à la Löwenthal unterscheidet, ohne daß damit in der Praxis ihre Koalition ausgeschlossen würde. Zu diesem Sozialismus sollen sich also Christen wie Nichtchristen bekennen, indem sie erkennen, daß er nach dem Scheitern des ungeplanten liberalen Kapitalismus, der notwendig im Monopolkapitalismus und nahezu zwangsläufig in der Krise auch im Faschismus enden müsse, ohne Alternative sei (Dirks 1947, 113) – und eben deshalb, wie bereits zitiert, „das Gesetz der Zeit“. Mit der real existierenden Alternative des von der Sowjetunion aufgezeigten, von
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den kommunistischen Parteien Europas übernommenen Modells setzt sich Dirks hingegen erstaunlich wenig auseinander, aber aus dem Wenigen wird klar, warum er darin keine Modellalternative erkennt. Seine Abgrenzung ist entschieden, entspricht aber in ihrer Sachlichkeit nicht dem zeitgemäß rhetorisch aufgeladenen Antikommunismus. Der „Geist der Demokratie, die Freiheit, die Gerechtigkeit“ seien als „Grundlagen unserer neuen staatlichen Existenz ... von höchster Bedeutung“ – aber sie verdienten als das „Selbstverständliche“ offenkundig kaum nähere Begründung (Dirks 1947, 24) und dienen allein zur Abgrenzung des angestrebten Sozialismus von Kommunismus und Faschismus. Letzterer komme aus moralischen Gründen sowieso nicht in Frage, die KPD aber hätte erst noch „durch die Tat zu erweisen, daß sie der Diktatur ein für allemal abgeschworen hat“ (Dirks 1947, 38). Dann wäre es aber nach Dirks „ein großer, ja entscheidender Gewinn, wenn diese Tradition, von ihren terroristischen Schlacken gereinigt, nicht in taktischer Anpassung, sondern in ehrlicher Bereitschaft in eine Koalition eingebracht würde“ (Dirks 1947, 39); aber es gelte vorher, „den Kommunisten die Bedingung ihrer Mitwirkung zu sagen: diese Bedingung ist der Sozialismus, dessen Wesen jeden Totalitarismus ausschließt“ (Dirks 1947, 132). Man erkennt, daß Dirks’ kurzzeitige Initiative zur Gründung einer „sozialistischen Einheitspartei“ keineswegs eine Eintagsfliege gewesen ist, daß er, wie so viele seiner Generation, trotz der klaren Ablehnung der kommunistischen Praxis an der Fiktion einer wiedervereinigten Arbeiterpartei festgehalten hat, deren Voraussetzung freilich nach damaligen Bedingungen die Selbstpreisgabe der kommunistischen Identität gewesen wäre. Wo sie ihrerseits, wie in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR dieses Ziel verfolgte und gewaltsam realisierte, war dies in den vierziger und fünfziger Jahren nur um den Preis der demokratischen und freiheitlichen Werte und Prinzipien der Sozialisten möglich. Jedenfalls für die Periode, in der die sowjetische Führung noch ihren Herrschaftsanspruch in den nationalen kommunistischen Parteien West- und Mitteleuropas aufrechterhalten konnte und den weltanschaulichen Monopolanspruch des Marxismus-Leninismus erfolgreich durchsetzte, war wohl die Einschätzung Löwenthals realistischer als die von Dirks, wonach sich demokratischer Sozialismus und Kommunismus ,wie Feuer und Wasser‘ voneinander unterschieden. Die freiheitliche „Demokratie“ war für Dirks also das „Selbstverständliche“, das keiner weiteren Begründung bedürfe, aber nur indirekt macht Dirks deutlich, was er darunter versteht, nämlich vordringlich lediglich eine freiheitliche Methode von „Spielregeln ... zur Ermittlung eines politischen Inhalts der Demokratie, um die Ermittlung einer Staatsidee. Bisher ist keine andere Lösung sichtbar geworden, die uns diesen Dienst leisten könnte, die deutschen Kräfte und Ideen ‚richtig‘ zu verbinden – vor allem die Kluft zwischen ‚Marxismus‘ und ‚Christentum‘ zu schließen, eine neue Klassenaufspaltung zu verhindern und aus beiden Geschichtsmächten eine produktive Lösung zu gewinnen“ (Dirks 1947, 132). Dirks hat also einen relativ formalen Begriff von „Demokra-
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tie“, mit deren Hilfe vor allem eine „Staatsidee“ ermittelt und die Gesellschaft „integriert“ werden sollte, um ihre erneute „Klassenaufspaltung“ zu verhindern. Auch für seine Erläuterung von „Integration“ greift Dirks wiederum – für alle christlich gebildeten Leser unübersehbar – auf theologische Analogien zur Kirche als corpus christi zurück: nicht die formale „Verfassung“, sondern „die Arbeiter und Katholiken“ stellten „den wahren politischen Leib des Staates“ der Weimarer Republik dar, von denen man 1930 freilich vergeblich die Rettung erwartet hätte (Dirks 1947, 20). Nach 1945 entscheide sich erneut das Schicksal der Zukunft an der Frage der „Integration“. Er erläutert „den wichtigen politischen Begriff der ‚Integration‘ “ als „die ‚Einkörperung in ein Ganzes‘ “, auf die es ankomme und ohne die die „Demokratie“ als lediglich formale Institution der Willensbildung sowenig wie die „Verfassung“ in der Weimarer Republik „die Freiheit und Würde der Person unter den Bedingungen der arbeitsteiligen Großwirtschaft“ als „Sinn und Ziel des Sozialismus“ gewährleisten könne (Dirks 1947, 112). In diesem Sinne müsse man „in der sozialistischen Entscheidung einen geschichtlichen Integrations-Vorgang“ sehen (Dirks 1947, 118), bei dem es vor allem darauf ankomme, die bisher in der bürgerlichen Phase der Demokratie materiell ausgeschlossenen Arbeiter an den Segnungen des Fortschritts von Technik und Wissenschaft teilhaben zu lassen. Im Unterschied zur „traditionalistischen katholischen Abendland-Tradition“, aber, wie ich gezeigt habe, auch zur rückwärtsgewandten antimodernen Orientierung Röpkes, will Dirks also den Sozialismus als moderne Gesellschaftsform ohne Preisgabe der modernen Strukturen verwirklicht sehen. Alle Nostalgie, in welchem Gewand auch immer, blieb ihm dabei fremd. Es wird aber auch deutlich, daß der Sozialismus als „das Gesetz des Zeitalters“ (Dirks 1947, 119) zu dieser „Staatsidee“ nur auf dem Weg eines sozialen Bündnisses und einer freiheitlichen Willensbildung gelangen kann, also im Ergebnis nicht determiniert ist – auch das, ebenso wie die Rechristianisierung der proletarisierten und religionsentfremdeten Arbeiter, „eine Möglichkeit, nicht mehr“ (Dirks 1947, 35). Für diese „Koalition der sozialen Gruppen“ der „Arbeiter und Christen“ als „Träger“ und „‚Realisationsfaktoren‘ “ (Dirks 1947, 29) muß es um „die planmäßige und demokratische Organisation der Wirtschaft (und das heißt ja Sozialismus)“ gehen, sonst komme „das Ganze nicht in Ordnung“ (Dirks 1947, 30), „nämlich zum Funktionieren und zur Gerechtigkeit“ (Dirks 1947, 113). Der Sozialismus könne nur bestehen, wenn „Bodenschätze ... Produktionsmittel und ... Arbeitskraft planmäßig organisiert“ würden und dadurch „noch moderner werden“ (Dirks 1947, 27). Das „Gemeinsame aller Sozialismen und Sozialisten“ sei von „eindeutiger Bestimmtheit: der Plan und die Demokratie“ (Dirks 1947, 116), die aber gehörten „in die Hand demokratischer Eliten“ (Dirks 1947, 112). Es gehe dabei im Gegensatz zur „kapitalistischen Anarchie“ (Dirks 1947, 11) weniger um die Details der allen Sozialisten gemeinsamen Vorstellung einer „Vergesellschaftung von Produktionsmitteln ... gleichviel ob total oder nur zentral ... ob
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ihr Träger der Staat, in der ‚Arbeiterklasse‘, im ‚Volk‘ oder in der ‚Gesellschaft‘ gesucht“ werde (Dirks 1947, 121f), sondern der Kern des „Bekenntnisses zum Wort Sozialismus“ liege in „einer vom Gemeinwohl her gesteuerten Wirtschaft“ (Dirks 1947, 126), zu deren Charakterisierung Dirks auch den Begriff „GemeinPlan-Wirtschaft“ verwendet (Dirks 1947, 132). Der allein mit dem „personalistischen Sozialismus“ (Dirks 1947, 127), dem es, wie zitiert, primär um die „Freiheit und Würde der Person“ geht, vereinbare Sinn von „Sozialismus“ sei nicht „Etatismus“ oder „Verstaatlichung“, denn damit würde ja den Freiheitsbeschränkungen der Person durch die Großstrukturen der modernen Gesellschaft wie der „Wirtschaftsverflechtung, der GroßIndustrie, der Großstädte“ (Dirks 1947, 11) nur eine Weitere hinzugefügt. Vielmehr leite sich „Sozialismus“, so Dirks in ethymologischer Begründung für den von ihm favorisierten „Personalismus“ doch von „socius“ ab, was Dirks mit „Genosse“ übersetzt (Dirks 1947, 107). „Genossenschaftlich zu wirtschaften, nicht im Sinne gewisser so benannter vorkapitalistischer Organisationsformen, sondern in den unaufhebbaren Bedingungen der modernen arbeitsteiligen Großwirtschaft, in der Welt der Fabriken, – es wäre nicht übel und träfe ziemlich genau das was wir erstreben. In dem Wort ‚Genosse‘ steckt ja sowohl die Bindung an das gemeinsame Ganze als auch der Anspruch und die Würde des einzelnen“ (Dirks 1947, 108), deshalb läge es nahe, unter „Sozialismus ... das System des Genossenschaftlichen zu verstehen“ (Dirks 1947, 108), „in Wahrheit heißt ja aber sozialisieren geradezu vergenossenschaften, vergesellschaften; der Staat steckt nur als eines der Organe der Gesellschaft drin“ (Dirks 1947, 109). Nähere Auskünfte über die spezifischen Organisationsweisen oder gar Einzelschritte zur Realisierung und Umsetzung finden sich bei Dirks nicht, weil der Schwerpunkt seiner Argumentation auf der Begründung und Illustrierung des sozialen Bündnisses von Arbeitern und Christen liegt. Die Parteien spielen dabei nur als organisationspolitische Repräsentanten sozialer Gruppen und Bewegungen eine Rolle – und wenn Dirks etwas sophistisch ausführlich die Frage erörtert, ob nach der Einführung des Sozialismus die sozialistische Partei noch „links“ genannt zu werden verdiente, so können wir das hier durchaus übergehen. Politikwissenschaftlich interessant ist freilich noch Dirks Staatsverständnis, über dessen wohl reflektierte theologische wie theoretische Qualität man angesichts des laxen sprachlichen Ausdrucks, wie er in dem letzten Zitat zum Ausdruck kommt, keinen falschen Eindruck gewinnen sollte. Anders als in vielen Ansätzen des traditionellen Katholizismus gehört für Dirks der Staat nicht wie die Familie und die Kirche zu den „dauernden Gemeinschaften von ursprünglicher Geltung“ (Dirks 1947, 142), theologisch formuliert also als von göttlicher Stiftung, sondern der Staat ist „künstlich“ und Menschenwerk und ist deshalb, wie alles Irdische, neben der ihm funktional zugehörigen „Hoheit“ und „Macht“ auch „in der menschlichen Endlichkeit und Geschichte, also mühsam und unrein, mit Trieb und Bosheit durchsetzt“ (Dirks 1947, 147). „Der Staat ist
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nicht ewig und nicht ideal, er ist nicht ‚natural‘ und nicht ‚sakral‘, also weder ein Naturwesen noch göttliche Stiftung, sondern ein Notgebilde zwischen Notdurft und Notwendigkeit. ... Er hat den Doppelcharakter der menschlichen Existenz, er ist den Trieben und Interessen preisgegeben und der sittlichen und religiösen Verantwortung anvertraut“ (Dirks 1947, 148). Wiederum hat mit dem Hinweis auf die „sittliche Verantwortung“ Dirks beiläufig sein „Koalitionsangebot“ an die Nichtchristen mitformuliert, denn für ihn gilt in seinem christlichen Personalismus uneingeschränkt: „Verantwortete Politik ist Politik vor dem Angesicht Gottes“ (Dirks 1947, 157). Soweit die theologische reservatio mentalis, die Dirks davor bewahrt, in irgend einer menschlichen Schöpfung Vollkommenheit oder Absolutheit anzuerkennen. Vor diesem theologischen Hintergrund allerdings wird der Staat von ihm in geradezu an Hobbes erinnernder Manier als funktionale Notwendigkeit begründet, derer man zur „Ordnung des Gesetzes“ aber auch zur „Einheit“ bedürfe: der Staat „erschöpft sich nicht in der Einheit, aber er gipfelt in ihr. Ja er wäre gar nicht da, wenn nicht gerade ein Ort der Einheit notwendig wäre“ (Dirks 1947, 144). Dirks ist sichtlich bemüht, sich von der Staatsmetaphysik des 19. Jahrhunderts, den Staat von „Bindung“ und „älteren Autoritäten“ zu lösen – aber man wird bezweifeln können, wie weit ihm das gelingt. Der Staat „bildet sich völlig neu überall dort, wo eine einheitliche Entscheidung existenzwichtig wird“, wo es „um so etwas wie einen ‚Rahmen‘, eine einheitliche Form und Abgrenzung von Handlungen, die an sich nicht einheitlich zu sein brauchen (Eheschließung, Arbeit)“ geht (Dirks 1947, 144). Während diese Formulierungen noch auf seine Funktion zur Gewährleistung der „Ordnung des Gesetzes“ als Rechtsstaat bezogen bleiben, geht es Dirks aber um mehr – und man muß bei der Lektüre dieser Passagen unvermeidlich nicht nur an den schon erwähnten Hobbes, sondern auch an Carl Schmitt denken, der in der katholischen Publizistik der Weimarer Zeit eigentlich zu den Antipoden von Dirks gehörte, mit dem Dirks aber den „Dezisionismus“, von dem bereits die Rede war, teilt (Bröckling 1993, 167). Bei Dirks heißt es über den Staat, der nicht nur Ordnung gewährleistet, indem er das Recht wahrt, sondern der auch „ ‚handelt‘, sich entscheidet“ und bei dem gerade darin sichtbar wird, „wie wesentlich, ja grundlegend für ihn die Einheitsform ist: die Kriegserklärung, die ihrer Natur nach nur einheitlich geschehen oder unterlassen werden kann, ist ein besonders bezeichnendes Beispiel für diese Wesensbestimmung des Staates, die im Begriff der ‚Souveränität‘ gefaßt wird: Ort und gleichsam ‚Subjekt‘ einheitlicher Entscheidung zu sein“ (Dirks 1947, 145). Dirks muß beim Schreiben dieser Zeilen selbst bewußt gewesen sein, in wessen geistige Nachbarschaft er sich damit begeben hat, wenn er in der einzigen Klammer seines Buches – allerdings ohne den Namen Carl Schmitts zu erwähnen – hinzufügt: „(Es braucht wohl nicht eigens ausgeführt zu werden, daß diese Erkenntnis nichts mit einem ‚Dezisionismus‘ theoretischer oder praktischfaschistischer Prägung zu tun hat, dem die ‚reine‘, unabgeleitete und nicht normierte Entscheidung das Kennzeichen des politischen Handelns ist: hier ist von
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einer Entscheidung die Rede, die ‚richtig‘ sein soll und kann, und die alles andere als autonom ist)“ (Dirks 1947, 145f). Wenn Dirks hier angesichts seines eigenen Dezisionismus um so starke Abgrenzung bemüht war, dann wohl, weil er das zeitgenössische Verdikt unreflektiert teilte, daß in der Politik so etwas wie ein „demokratischer Dezisionismus“ (Greven 2000) unmöglich sei. Ich würde ihn aber, in einer Zeit, in der die letzte Gewißheit über die „richtige“ Entscheidung in der weltanschaulich pluralen und interessenmäßig differenzierten Gesellschaft stets umstritten bleiben muß, gerade in politischer Hinsicht für einen seiner hervorragenden Vertreter ansehen. Indem Dirks sein persönliches credo eben nicht missionarisch zur Bedingung des angestrebten Bündnisses für den Sozialismus macht, vollzieht er faktisch auch normativ die Anerkennung des Pluralismus, der für die moderne politische Gesellschaft alternativlos geworden ist, solange sie nicht totalitäre Züge annimmt. Trotzdem bleibt sein so sehr an Carl Schmitt erinnerndes Staatsverständnis in seiner Schrift ein unvermittelter Exkurs, dessen Begründung mit der funktionalen Notwendigkeit der existenzwichtigen einheitlichen Entscheidung zum Krieg angesichts von Dirks’ ansonsten glaubwürdig vertretenem Pazifismus (Prümm 1984, 80ff) unerklärlich bleibt. Dieses Unverständnis wächst, wenn man zugleich von Dirks erfährt, daß dieser souveräne Staat „zwischen Notdurft und Notwendigkeit“ nicht mehr in der gewohnten Form zu retten sei: „Wir proklamieren das Ende des souveränen Nationalstaates. Wir können es umso mehr, als wir es sind, dieses Ende: nur müssen wir es auch wollen, um aus der Not der Stunde wahrhaft eine Tugend zu machen“ (Dirks 1947, 25) schreibt Dirks zu Beginn seines Buches etwas rätselhaft in Modus und logischem Duktus. Einmal mehr changiert seine Aussage zwischen konstativem Urteil eines Sachverhalts und performativer Proklamation. An die Stelle der europäischen Nationalstaaten soll jedenfalls die „europäische Konförderation“ (Dirks 1947, 25), die „Konförderation der europäischen Völker“ (Dirks 1947, 26) treten. Auch hier findet sich wieder der positive Bezug auf das „abendländische Erbe“, zu dem „die Unterscheidung der Vöker“ gehöre und das sich nicht, wie in den USA im „Schmelztiegel“, sondern als „gegliederte Fülle“ realisieren müsse (Dirks 1947, 26). Gerade angesichts des lebenslangen pazifistischen Engagements von Dirks fällt auf, daß die Europa-Idee hier nicht friedenspolitisch, sondern mit der Notwendigkeit des Sozialismus, der nationalstaatsübergreifenden Planung begründet wird (Dirks 1947, 27f). Auch für ihn gilt wie für Löwenthal Willy Brandts bereits zitiertes Urteil, daß er mit der sozialistischen Europa-Idee einer Utopie anhing, die schnell durch die faktischen Entwicklungen als solche entlarvt wurde. Wie die Debatte um den zunächst nicht verabschiedeten Vertrag für eine Europäische Verfassung und die Einleitung des jetzigen Entwurfs fast sechzig Jahre später zeigen, hat sich erstaunlicherweise der Bezug auf das abendländische Erbe als historisch persistenter erwiesen als die Idee eines europaweiten Sozialismus – „aus christlicher Verantwortung“ oder wie auch immer begründet.
V. Die Sowjetunion als Vorbild
Vorbemerkung zum Verständnis marxistisch-leninistischer Politik und Taktik Mensch Auf den ersten Blick mag es angesichts der reichen publizistischen Tradition und massenhaften Unterstützung des marxistisch-leninistischen Weges zum Kommunismus nach dem Vorbild der Sowjetunion in den Jahren bis 1933 erstaunen, daß sich, anders als für alle anderen politisch-programmatisch vertretenen Ansätze zur Erneuerung der Politik in Deutschland, kaum selbständige größere Texte individueller Autoren aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren nachweisen lassen, die eine revolutionäre Politik der sofortigen Umwälzung – zumindest in der sowjetisch besetzten Zone – propagieren und in einiger Detailliertheit befürworten. Die Erwartung der finalen Zuspitzung der Krise des imperialistischen Systems und der Zusammenbruch von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Klassenherrschaft, danach eine „Diktatur des Proletariats“ als Voraussetzung zur Transformation der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft nach dem Vorbild der Sowjetunion, die die KPD noch bis zum Januar 1933 in Deutschland ganz offen propagiert hatte, waren nun durch Formeln ersetzt, die seit den Beschlüssen des VII. Weltkongresses der Komintern im Juli und August 1935 ein breites „antifaschistisches Bündnis aller demokratischen Kräfte“ forderten. Die exilierte Führung der KPD vollzog diese abrupte Wendung, die aus den mehrere Jahre besonders in Deutschland als Hauptfeinden und „Sozialfaschisten“ bekämpften Sozialdemokraten plötzlich zusammen mit allen „demokratisch-antifaschistischen“ Gruppen und Organisationen Verbündete machte, im Oktober 1935 auf ihrer sogenannten „Brüsseler Konferenz“ nach, die in Wirklichkeit als 13. Parteitag der KPD in der Sowjetunion stattfand. Aus der Sicht der Komintern wie der KPD war allerdings intern zu jedem Zeitpunkt nicht zweifelhaft, daß es sich hinter den Kulissen des populären „Blocks“ oder der „Einheitsfront“ stets darum handeln müsse, durch offene oder verdeckte Parteiarbeit unbedingt den Führungsanspruch der kommunistischen Partei durchzusetzen und neben den taktischen Aufgaben des „Bündnisses“ das langfristig konstant bleibende Ziel einer „Diktatur des Proletariats“ in Gestalt der Alleinherrschaft der kommunistischen Partei anzustreben. Allenfalls die Wahrung der Interessen der Sowjetunion konnte seit den zwanziger Jahren in der Komintern als Ziel denselben Rang beanspruchen und führte im Konfliktfall zur Durchsetzung der von Stalin unbedingt beanspruchten nicht
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Die Sowjetunion als Vorbild
nur politischen sondern auch ,wissenschaftlichen‘ Führungsrolle. Der französische Philosoph und ausgewiesene Marxkenner Georges Labica hat in einem der wenigen nicht selbst vom ideologischen Klassenkampf bestimmten Versuche, den Marxismus-Leninismus immanent mit philosophischen Mitteln zu analysieren, unter Hinweis auf Stalins weiter unten noch angesprochenen „Kurzen Lehrgang“ von 1938 von der Verwirklichung des „alten platonischen Traum des Philosophenkönigs oder des Königs als Philosophen, anders gesagt: die Verschmelzung der Philosophie mit dem Staat“ geschrieben (Labica 1986, 51). Sieht man sich heute, wo die Dokumente des Parteiarchivs der SED offenliegen und man nicht mehr auf die tendenziöse und den politischen Zielen der SED untergeordnete Parteigeschichtsschreibung der SED angewiesen ist, an, wie zügig und zielstrebig die „Gruppe Ulbricht“, protegiert und gegenüber allen anderen politischen Kräften privilegiert von der sowjetischen Militäradministration, ab Mai 1945 unter dem Deckmantel der Formeln des VII. Weltkongresses den Weg zur Einparteiendiktatur beschritt, die sie bei Gründung der DDR faktisch bereits vollendete hatte, so kann für sie an den von Anfang an für die sowjetisch besetzte Zone bestehenden Zielen kaum ein Zweifel bestehen. Bereits im August 1946 Ulbricht „had urged the Sovjets to begin the process of building a government on the basis of a draft constitution“, was zunächst noch „had provoked a storm of controversy on Sovjet diplomatic circles over whether the SED proposal conformed to the Potsdam decisions“ (Naimark 1995, 56). Aber während die ostdeutschen Kommunisten auf eine schnelle Verwirklichung ihrer Ziele zur Errichtung einer Parteidiktatur drängten, war die Situation aus Moskauer Sicht komplizierter, weil hier die revolutionären gesellschaftspolitischen Zielsetzungen mit den nationalen Sicherheits- und Großmachtinteressen abgeglichen werden mußten. David Pike hat in seiner glänzenden Analyse der Jahre 1945-49 in der sowjetisch besetzten Zone, die weit über die im Zentrum stehende Kulturpolitik hinaus für die Strategie und Politik der Kommunisten aufschlußreich ist, einleitend gezeigt, wie die Politik in den Anfangsjahren zwischen dem Interesse an einer auf Ostdeutschland beschränkten sofortigen Systemtransformation einerseits und der Chance auf eine in ganz Deutschland populäre KPD oder zeitweise SED Einfluß zu gewinnen und damit die Westmächte zurückzudrängen, hin und her schwankt (Pike 1992, 3ff). Einerseits hatte, wie bereits zitiert, Stalin auch in den Konferenzen der Alliierten zuletzt keinen Zweifel mehr daran gelassen, daß die jeweilige Besatzungsmacht das Recht haben würde, ihrem jeweils beherrschten Gebiet auch ihr jeweiliges Politik- und Gesellschaftsmodell aufzuzwingen. Dieses Ziel bestand politisch in der Realisierung der „Diktatur des Proletariats“ in Form der faktischen Parteidiktatur der „führenden Partei der Arbeiterklasse“; sozialökonomisch in der Transformation einer auf Privateigentum an Produktionsmitteln bestehenden kapitalistischen Marktwirtschaft in eine an das sowjetische Wirtschaftssystem angelehnte – und dieses langfristig unterstützende –, auf sogenanntem „gesellschaftlichem Eigentum“ beruhende Zentralplanwirtschaft und
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schließlich ideologisch-kulturell in der antipluralistischen Durchsetzung der Alleingeltung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung in allen Lebensbereichen der Gesellschaft. Gemäß dem leninschen und bolschewistischen Vorbild war die zentralistisch nach Maßgabe des „demokratischen Zentralismus“ geführte revolutionäre Parteiorganisation, wie sie die KPD bereits Anfang der zwanziger Jahre mit der Übernahme der vom II. Komintern-Kongreß 1920 beschlossenen „21 Bedingungen“ anerkannt und in die Praxis übersetzt hatte, die entscheidende Voraussetzung und das wirksamste Machtmittel, um auf diesem Weg zur Macht zu kommen und sie anschließend zu behaupten; andererseits war auch ein machtpolitisch neutralisiertes Gesamtdeutschland mit nur mittelfristiger Perspektive für eine gesellschaftschaftpolitische Transformation außenpolitisch eine attraktive Option. Längere Zeit wurde diese Frage in Moskau offen gehalten, was innerhalb der „Gruppe Ulbricht“ auch Irritationen auslöste. Will man die anfänglichen öffentlichen Erklärungen aus dem Umkreis der „Gruppe Ulbricht“ oder der Sowjetischen Militäradministration politisch richtig deuten, so muß man einerseits das auf Lenin zurückgehende Verständnis revolutionärer Politik mit ihrer Unterscheidung von Politik und Taktik berücksichtigen, die es den revolutionären Kadern auferlegte, ihre politische Kommunikation an der momentanen taktischen Konstellation der von der Parteiführung vorgegebenen Richtlinien auszurichten. Das ist der entscheidende Grund, warum es den in anderen politischen Strömungen und Bewegungen normalen Typus des sich in Büchern und Broschüren niederschlagenden individuellen politischen Denkens von überzeugten Parteikommunisten kaum gibt. Man darf auch nicht vergessen, daß angesichts der Unvorhersehbarkeit taktischer Umorientierungen der Parteilinie durch ihre jeweiligen Führung individuelles Denken und Publizieren für überzeugte Parteianhänger weniger mit den üblichen Vorteilen, denn mit Risiken behaftet war. Welches Ausmaß letztere annehmen konnten, dürfte spätestens nach 1945 sehr schnell jedem Mitglied der KPD vor Augen gestanden haben. Andererseits war die in den Augen der revolutionären sowjetisch geschulten Kommunisten der „Gruppe Ulbricht“ entscheidende Voraussetzung in Form der disziplinierten kommunistischen Partei im Mai 1945 in Deutschland aber nicht gesichert. Außerdem kam es vor allem aus der Sicht der Sowjetischen Militäradministration kurzfristig darauf an, die eingesetzten lokalen Verwaltungen auf kommunaler Ebene durch „zuverlässige“ Leute zu besetzen, das heißt, im Sinne der Parteidisziplin kommunistische Kader an zentralen Stellen der Versorgungs- und Staatsadministration zu plazieren. Deren Aufbau durch eine strikte Kaderpolitik wurde aus der Sicht der in der Sowjetunion unter der Anleitung der Abteilung internationale Information des ZK der KPdSU(B) auf die Machtübernahme in der sowjetischen Besatzungszone vorbereiteten deutschen Kommunisten für eine Übergangszeit die entscheidende Voraussetzung dafür, in dem breiten „antifaschistisch-demokratischen Bündnis“ intern die Vormacht und längerfristig die alleinige Macht im politischen System zu übernehmen.
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„Ulbricht proved an excellent student of Stalin’s dictum ‚Cadres are everything‘ “ (Naimark 1995, 42). Wie die inzwischen offengelegten Dokumente und ihre Analyse durch den ostdeutschen Historiker Gerhard Keiderling eindrucksvoll bestätigen, spielte die „Gruppe Ulbricht“ dabei in der politisch besonders bedeutsamen Region Berlin eine entscheidende Rolle auf dem längerfristigen Weg zur alleinigen Machteroberung – nicht nur der Partei, sondern auch Walter Ulbrichts selbst (Keiderling 1997, bes. 57-70). Bei Eike Wolgast wird aus den Kaderakten der KPdSU(B) 1946 zu Ulbricht zitiert: „Leitet faktisch die gesamte organisatorische und administrative Arbeit des Apparates des Zentralsekretariats der SED. Hält die Verbindung mit den sowjetischen Besatzungsorganen aufrecht“ (Wolgast 2001, 28) – dies, obwohl eigentlich Wilhelm Pieck der Parteivorsitzende war. Wie bereits deren Mitglied Wolfgang Leonhard in seinem zuerst 1955 erschienenen und schnell zum „Klassiker“ gewordenen Erlebnisbericht eindrucksvoll dargestellt hatte, sahen sich Ulbricht und seine Genossen vor die Schwierigkeit gestellt, die in Moskau festgelegte taktische Linie gegenüber den sich allenthalben zur aktiven politischen Arbeit zurückmeldenden deutschen Kommunisten durchzusetzen. Leonhard schrieb über Ulbrichts ihm zunächst unverständliches Verhalten bei dem ersten Zusammentreffen mit im Lande gebliebenen Kommunisten: „Als es um das Verhalten der Genossen ging, wurde Ulbricht lebendig. ... Er stellte Fragen, zwar nicht wie bei einem Polizeiverhör, aber doch keineswegs in einem Ton, den ich von einem Emigranten erwartet hätte, der nach zwölf Jahren die überlebenden Genossen wiedertrifft, die jahrelang unter dem Hitler-Terror gelebt hatten. Als er dann schließlich die jetzige politische ‚Linie‘ darlegte, tat er es in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, in einer Art, die jeden Zweifel darüber ausschloß, daß er und nicht die Berliner Kommunisten, die unter so schweren Bedingungen illegal gearbeitet hatten, die Politik der Partei bestimmte“ (Leonhard 1969, 359). Jene waren teils nur unzureichend über die Beschlüsse der VII. Weltkonferenz und des Parteivorstandes im Exil informiert, vor allem aber hatten sie in den Konzentrationslagern und in den zahlreichen informellen Untergrundgruppen politische Erfahrungen gesammelt, aus denen sie spontan eine eigene Legitimität des politischen Handelns vor Ort ableiteten und die sich in Berlin (Keiderling 1997, 36ff) und darüber hinaus im ganzen Land in der Bildung zahlreicher lokaler Aktionskomitees niederschlug. Dabei gab es naturgemäß eine große Vielfalt organisatorischer Vorstellungen, ideologischer Ziele und praktisch politischer Ansätze, die von der rein verwaltungsmäßigen Restauration von öffentlichen Versorgungsund Sicherheitskräften über die Wahl von Bürgermeistern oder Dezernenten bis zur Bildung von „Räten“ nach den Vorbildern am Ende des ersten Weltkrieges und in den Augen mancher Altkommunisten vermeintlich auch der Sowjetunion reichten (Niethammer u.a. 1976). Aus der Sicht Ulbrichts und der sowjetischen Militäradministration war damit das leninsche Prinzip einer im Sinne des „demokratischen Zentralismus“
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strikt hierarchisch und zentral geführten revolutionären Kampfpartei gefährdet, wie sie Lenin bereits zu Beginn des Jahrhunderts entworfen hatte, um den Bedingungen des zugleich legalen und illegalen Kampfes gerecht zu werden. „Je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird ... umso fester muß diese Organisation sein ... eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen“ (Lenin 1958, 53). Der Moskauer Parteiführung und Ulbricht wird aber neben diesem allgemeinen Grundsatz leninistischer Parteitheorie noch viel mehr die Ähnlichkeit der auf sie zukommenden Situation mit jener der Bolschewiki nach der formalen Machteroberung im Kopf herumgegangen sein, als Lenin angesichts der avantgardistischen Minderheitsposition, aus der heraus die Bolschewiki die Macht ausüben mußten, gegen jede Form des „linken Radikalismus“ oder „Demokratismus“ forderte, „die strengste Zentralisation und eine eiserne Disziplin zu schaffen“ (Lenin 1958, 603). Die Parteiführung in Moskau hatte bereits am 17. Februar 1945 für den Beginn der Besatzungszeit beschlossen: „Sofortiger Aufbau einer Parteiorganisation von oben nach unten“ (zit. nach Keiderling 1997, 73), für sie besaß die Durchsetzung der disziplinierten Parteiorganisation oberste Priorität für die Durchsetzung ihrer langfristigen Politik. Ulbricht sah sich also vor ein kompliziertes Vermittlungsproblem nach innen und außen gestellt. Erstens war auf der vorübergehend noch geltenden Linie von 1935 eine antifaschistische „Einheitsfront“ zu bilden, was vor allem gegenüber jenen Altkommunisten schwer zu vermitteln war, die im Sinne der Parteilinie von vor 1933 nun an eine direkte und offene Machtübernahme der kommunistischen Kader unter dem Schutz und mit der Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration glaubten. Zweitens war die kommunistische Partei selbst im Sinne der leninschen Prinzipien zunächst von allen „sektiererischen“ Kräften freizuhalten beziehungsweise zu säubern; „sektiererisch“ sind nach der offziellen Terminologie des Marxismus-Leninismus aber per Definition letztlich alle Kräfte, die sich der Parteiführung nicht diszipliniert unterwerfen. Nachdem er sich gerade zwei Wochen über die Situation der Kommunisten vor Ort informiert hatte, schrieb Ulbricht am 17. Mai 1945 an den Parteivorsitzenden Pieck: „Wir müssen uns Rechenschaft legen darüber, daß die Mehrheit unserer Genossen sektiererisch eingestellt ist und daß möglichst bald die Zusammensetzung der Partei geändert werden muß. ... Wir haben energisch den Kampf gegen die falschen Auffassungen in den Reihen unserer Genossen geführt, aber immer wieder tauchen neue Genossen auf, die mit den alten Fehlern von vorne beginnen. Dabei muß man sehen, daß mancher ehrliche Antifaschist objektiv provokatorisch auftritt“ (zit. nach Keiderling 1997, 64). Nach Keiderling erweis sich wenigstens in Berlin die „Auflösung der ‚Antifa-Komitees‘ ... als langwierig. ... Während die von Kommunisten geführten Ausschüsse sich meist in ihr Schicksal fügten, widersetzten sich sozialdemokratische und bürgerliche Kreise dem Verbot“ (Keiderling 1997, 65). Dabei kam es drittens im Lichte der
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späteren Geschichte der Gründung der kommunistisch dominierten SED zu der paradoxen Situation, daß führende Sozialdemokraten noch im Juni 1945 auf einer vom ZK der KPD einberufenen öffentlichen Versammlung verschiedener Parteiangehöriger die sofortige Gründung einer Einheitspartei der Arbeiterklasse befürworteten, während Ulbricht gemäß den Moskauer Beschlüssen über die Wiederzulassung von Parteien vorläufig lediglich „einen Block aus der KPD, der SPD, der Zentrumspartei and anderen antifaschistisch-demokratischen Parteien“ proklamierte und „die ihm unangenehme Debatte“ über ein organisatorisches Zusammengehen von mehrheitlich Sozialdemokraten und Kommunisten schleunigst beendete (Keiderling 1997, 82f). Den Schritt zur Vereinigung mit der Sozialdemokratie konnte es in dieser Logik erst geben, wenn durch die vorangegangene Kaderorganisation der KPD deren Dominanz in der vereinigten Partei als von vorne herein gesichert erschien und die kommunistische Organisationspraxis des „demokratischen Zentralismus“ durchsetzbar wurde. Gegenüber diesen in der Geschichte der KPD ja auch vor 1945 keineswegs geheim gebliebenen Organisationsprinzipien und politischen Zielen der KPD konnte es bestenfalls politische Fahrlässigkeit und Naivität sein, wenn der für die spätere Vereinigung maßgebliche sozialdemokratische Führer Otto Grotewohl auf der sogenannten „Sechziger-Konferenz“ aus je 30 Vertretern der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei im Dezember 1945 ausführte: in der Verfassung der zu bildenden Einheitspartei der Arbeiterklasse „soll die Partei auf dem Prinzip des demokratischen Bestimmungsrechts der Mitglieder und der freien Wahl der Parteileitungen beruhen“ (Grotewohl 1959, 10f) und wenn er – inzwischen zu einem der beiden Vorsitzenden der SED avanciert – angesichts der anstehenden Wahlen in der sowjetisch besetzten Zone im Juni 1946 gegen die Kritik der westlichen Sozialdemokraten höhnte: „Auch die höchst merkwürdige Argumentation Dr. Schumachers, wonach die Wahl nur demokratisch sei, wenn in der sowjetischen Besatzungszone die nicht mehr bestehende Sozialdemokratische Partei wieder zugelassen würde, ändert daran nichts. Es dürfte doch sicher auch nicht der Aufmerksamkeit Dr. Schumachers entgangen sein, daß die Sozialdemokratische Partei der östlichen Zone sich durch einstimmige Beschlüsse ihrer Mitglieder mit der Kommunistischen Partei vereinigt hat“ (Grotewohl 1959, 43). Hier kann man nun nicht mehr von Fahrlässigkeit sprechen: mit seiner bizarren Logik und der Geschichtsklitterung – „einstimmige Beschlüsse“ – hatte er tatsächlich bereits unmittelbar nach der Gründung der SED den Rubikon zur Rechtfertigung des Monopolanspruchs der SED überschritten. Noch ein Jahr vorher hatte er anläßlich der Wiederzulassung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone die „Vereinigungsfreiheit und die Freiheit der politischen Betätigung“ als „das politische Werkzeug“ für den „Aufbau einer antifaschistischen demokratischen Republik“ beschrieben (Grotewohl 1948, 14). Die Vereinigung zur SED war so faktisch zugleich das Verbot einer eigenständigen sozialdemokratischen Partei in der sowjetisch besetzten Zone.
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Die aus der Perspektive manches einfachen Parteimitgliedes in sich widersprüchliche und unverständliche Vorgehensweise Ulbrichts und seiner Genossen kann man nur als konsequente Taktik im Umgang mit den momentan gegebenen politischen Verhältnissen und Handlungsmöglichkeiten begreifen, wenn man die unter Berufung auf Lenin und seine Schriften zur Parteiorganisation und revolutionären Politik entwickelte Theorie und Praxis des MarxismusLeninismus in der seit den dreißiger Jahren geltenden Interpretation durch Stalin versteht. Während Ulbricht 1945 nach außen hin zum Erstaunen mancher deklarierte, daß es vorerst in der sowjetisch besetzten Zone weiterhin kapitalistische Verhältnisse geben werde, stellte Anton Ackermann gleichzeitig auf dem ersten Parteitag der KPD für den internen Gebrauch klar, was von den allgemeinen öffentlichen Erklärungen zum breiten demokratischen Bündnis zu halten sei und woran sich die KPD-Führung gebunden fühle: „Ohne die Lehren von Marx und Engels, Lenin und Stalin würden wir im Dunkeln tappen. Unsere Bewegung wäre hilflos wie ein Blinder, und das schaffende Volk würde immer wieder eine leichte Beute der monopolkapitalistischen Hyänen werden“ (zit. nach Lange 1955, 14). Der 1938 vom Zentralkomitee der KPdSU(B) gebilligte „Kurzer Lehrgang“ zur „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ wurde 1945 sofort im Dietz Verlag in Berlin in deutscher Übersetzung in Massenauflage aufgelegt. Pike hat detailliert beschrieben, wie diese ganz untaktische Propagierung der Diktatur des Proletariats nach bolschewistischem Vorbild aus taktischen Gründen vorerst in der breiteren Öffentlichkeit zurückgehalten und zunächst nur in der nach und nach immer konsequenter werdenden obligatorischen Schulung der Parteimitglieder neben den Schriften der „Klassiker des Marxismus-Leninismus“ maßgeblich zugrunde gelegt wurde; anstelle des intern selbstverständlichen, aber in der demokratischen Öffentlichkeit und vor allem bei den Sozialdemokraten auf Widerstände stoßenden Begriffs Marxismus-Leninismus wurde von der Parteiführung der Begriff „konsequenter Marxismus“ verwendet (Pike 1992, 38ff). In der bis heute lesenswerten und durch nachträgliche Forschungen kaum überholten oder gar übertroffenen Studie Max G. Langes über „Wissenschaft im totalitären Staat“ schreibt dieser, daß 1948 bereits 80.000 Parteimitlieder, im Wesentlichen auch unter Zugrundelegung dieser Schrift, durch die Partei geschult worden seien (Lange 1955, 262). In der Einleitung dieses offizell ,dem großen Lehrer Stalin‘ zugeschriebenen Dokuments heißt es: „Das Studium der heroischen Geschichte der bolschewistischen Partei wappnet uns mit der Kenntnis der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und des politischen Kampfes, mit der Kenntnis der Triebkräfte der Revolution. Das Studium der Geschichte der KPdSU(B) stärkt die Zuversicht in den endgültigen Sieg des großen Werkes der Partei Lenins-Stalins, in den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt“ (KPdSU 1951, 6). Angesichts dieser Gleichsetzung der Entwicklung der Sowjetunion mit den „Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung“ überhaupt war es nicht verwunderlich, wenn beispielsweise das späte-
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re ZK-Mitglied der SED Alfred Kurella „das junge, seiner Kraft und Verantwortung bewußte junge Europa in Gestalt Rußlands“ erkannte, das siegreich in den Kampf mit dem „alten“ imperialistischen Europa eingegriffen hatte und nun die Zukunft der Menschheit bestimmen würde (Kurella 1948, 235). Von der „glorreichen Sowjetunion lernen“ hieß damals und noch lange „siegen lernen“. Wenn auch 1956 der Name Stalins aus der Klassikerliste verschwand, so hat sich doch bis 1989 grundsätzlich an den theoretischen und politischen Grundüberzeugungen des Marxismus-Leninismus kaum etwas geändert. So liest man in dem – zeitweise auch in Westdeutschland weitverbreiteten – „Philosophischen Wörterbuch“ von Georg Klaus und Manfred Buhr zum Stichwort „Politik“ unter anderem nach einem einleitenden Leninzitat: „Politik (griech-lat) – ‚das ist der Kampf zwischen den Klassen‘ ... Die Politik der historisch überlebten Klassen – in unserer Epoche die Politik der imperialistischen Bourgeoisie – wirkt gegen den gesellschaftlichen Fortschritt. Die Politik der von der marxistisch-leninistischen Partei geführten Arbeiterklasse ist im Unterschied zur Politik aller bisherigen Klassen eine Politik zur eigenen Befreiung und zugleich zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung, Krisen und Kriegen und zur Gestaltung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft. Sie ist schöpferische Anwendung der im Marxismus-Leninismus gegebenen theoretischen und methodologischen Grundlagen und ist die einzige wissenschaftliche und zugleich parteiliche Politik“ (Klaus/Buhr 1971, 855f). Ein Politikverständnis, daß die „Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und des politischen Kampfes“ ebenso wie ihr endgültiges Ziel „wissenschaftlich“ zu kennen glaubt, hat konsequenterweise eine andere als kontingenztheoretische Auffassung von Politik. Max G. Lange stellt über den Stalinismus des Marxismus-Leninismus im Unterschied zur Lehre und Methodologie von Marx zutreffend fest: „Die stalinistischen Schriften lassen eine Überbetonung der teleologischen Sicht erkennen. Die Verhältnisse werden in Hinsicht auf die zu verwirklichenden politischen Ziele betrachtet, wobei nicht die funktionalen Zusamenhänge, sondern die Mittel zur Realisierung der Ziele im Vordergrund stehen“ (Lange 1955, 14). Letztlich handelt es sich dabei um eine Variante der (Sozial-)Technokratie. Weg, Inhalt und Ziel sind grundsätzlich erkannt, allenfalls handelt es sich neben der Wahl der angemessenen Mittel noch um taktische Fragen in der jeweiligen Situation. Mit dem Marxismus-Leninismus als „allgemeingültiger Lehre“ ausgerüstet, geht es „um die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Politik“ (Autorenkollektiv 1988, 9), wie es in der letzten Auflage des in der DDR für alle Studierenden obligatorischen Lehrbuchs „Wissenschaftlicher Sozialismus“ heißt; allerdings ist es in der von Labica wie zitiert als „Philosophenkönigtum“ benannten Auffassung nicht die Wissenschaft im Sinne einer ausdifferenzierten selbständigen Institution selbst, sondern die Partei, die, weil sie monopolistisch über die Auslegung und gegebenenfalls „schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus“ verfügt, auch als oberste wissenschaftliche Instanz fungiert; die Partei, das bedeutet in der Praxis angesichts
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ihres inneren Aufbaus gemäß dem „demokratischen Zentralismus“, die Parteiführung, letztlich also dessen, der in ihr das Sagen hat. Hier berührt sich die innerparteiliche Frage der Herrschaftsausübung mit der allgemeinpolitischen; immer geht es darum, wer in letzter Instanz und mit welcher Legitimität die wissenschaftliche Weltanschauung in der Praxis auslegt. Iring Fetscher hat in seiner Kritik des Festhaltens kommunistischer Parteien am Konzept der „Diktatur des Proletariats“ immer wieder darauf hingewiesen, daß spätestens seit Lenins Umdeutung des marxschen Begriffs, der stets noch von einer „Mehrheitsdiktatur“ ausgegangen war, so daß nur die „Minderheit“ der endgültig zu besiegenden Bourgeoisieklasse wegen der drohenden Gefahr einer Konterrevolution diktatorisch unterdrückt werden sollte, der Diktaturbegriff mindestens zeitweise auch Diktatur über die Mehrheit, über die Arbeiterklasse, über die Partei durch eine kleine Gruppe oder sogar einen Einzelnen bedeuten konnte. Anders als durch diesen „technizistisch verkürzten Diktaturbegriff, den Marx kaum akzeptiert haben dürfte“ (Fetscher 1985, 300), war die Herrschaft der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution ja auch nicht zu rechtfertigen. In dieser bereits zu Zeiten Lenins vollzogenen Wendung zur offenen Legitimierung der Minderheitsdiktatur liegt auch die wissenschaftliche Begründung, diese Praxis nicht als „stalinistisch“, sondern als „bolschewistisch“ zu charakterisieren – könnte doch ansonsten der in der Sache historisch falsche Eindruck erweckt werden, die gewaltbereite Minderheitsdiktatur und ihre durch keine Gesetzlichkeit begrenzte terroristische Praxis gegen einzelne und Gruppen sei erst eine unter Stalin auftretende ,Deformation‘ des Leninismus gewesen. Hermann Kuhn schreibt deshalb in seiner Untersuchung der Erinnerungsliteratur ehemaliger Kommunisten zu recht: „Mit der Wahl der Begrifflichkeit für die gesellschaftliche Ordnung der Sowjetunion ist in der Regel auch die Auffassung des Autors darüber erkennbar, wie weit die Kritik an der geschichtlichen Entwicklung des Landes zurückgehen muß“ (Kuhn 1990, 50). Das als „Personenkult“ oberflächlich beschriebene und zeitweise kritisierte Phänomen in kommunistischen Einparteienstaaten ist in Wirklichkeit angesichts des strikt hierarchischen Organisationsprinzips und der fehlenden Differenzierung von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Entscheidung strukturell angelegt und in seiner Entstehung und Reproduktion nicht zufällig, sondern wahrscheinlich. Wie es im genannten Lehrbuch heißt: „Nur eine zentralisierte wissenschaftliche Führung vermag den einheitlichen Willen der Bewegung zum Ausdruck zu bringen“ (Autorenkollektiv 1988, 75); für „marxistisch-leninistische Parteien ist der Kampf um die Einheit und Reinheit ihrer Reihen charakteristisch“ (Autorenkollektiv 1988, 72). Diese „Einheit und Reinheit“ ist im Zweifel am ehesten in einer Person verkörpert, die über die notwendige Machtkonzentration in ihren Händen verfügen kann. Nach 1945 kann man im Publikationswesen schnell die herausragende Stellung Walter Ulbrichts im inneren Machtgefüge allein schon an der Tatsache ablesen, daß die Zahl seiner mehr als 35 selbständig publizierten Broschüren die aller anderen Funktionäre übersteigt.
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Ein besonders prägnantes Beispiel für diese bis an die religiöse Verklärung einer Person reichende Rechtfertigung persönlicher Herrschaft an der Spitze der kommunistischen Weltbewegung findet sich auch in dem Buch Alexander Abuschs „Stalin und die Schicksalsfragen der deutschen Nation“ von 1949. Sein eigentliches Ziel ist die Rechtfertigung der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Hintergrund der These, daß es spätestens nach dem Tode Roosevelts allein Stalin gewesen sei, der die deutsche Einheit und politische Selbstbestimmung nach der Niederschlagung der Hitlerdikatur habe bewahren und wieder errichten wollen, daß es anfänglich vor allem die Quertreibereien Churchills und dann die gegen die Sowjetunion gerichtete kriegstreiberische Politik Trumans gewesen seien, die dies verhindert und dafür gesorgt hätten, „daß die Westzonen sich zusehends wieder in ein Eldorado der Trustherren, der Junker, der früheren Aktivisten und Propagandisten der Nazis verwandelten“ (Abusch 1949, 131), während die westdeutsche Regierung unter Adenauer begonnen habe, Deutschland als Kolonie an die imperialistischen Mächte auszuliefern“ (Abusch 1949, 148). Um dies zu zeigen, ist er sich für keine Geschichtsklitterung bis hin zu der aberwitzigen Behauptung zu schade, „daß die tatsächliche Blockade gegen die Westberliner von den amerikanischen Befehlshabern des Kalten Krieges und ihren deutschen Handlangern durchgeführt wurde“ (Abusch 1949, 149). Das soll hier nicht weiter interessieren und zeigt nur, welche Art der Propaganda in einem politischen System wie dem der DDR bereits wieder möglich geworden war, in dem die Bevölkerung durch strikte Zensur von der eigenen Urteilsbildung über Tatsachen abgehalten wird. Im Zusammenhang der Analyse des marxistisch-leninistischen Politikverständnisses ist das Buch allerdings ein deutlicher Beleg dafür, daß aus der dargelegten inneren Logik einer als ,wissenschaftlich‘ ausgegebenen politischen Weltanschauung heraus nicht nur jegliche Pluralität unterdrückt, sondern auch eine Instanz gefunden werden muß, die mit ihren Verlautbarungen in jeder Lage als die letzte und unanfechtbare ,Verkörperung‘ dieser ,wissenschaftlichen Wahrheit‘ gelten kann. Das klingt dann bei Abusch – hier nur beispielhaft für viele ähnliche Zeugnisse, die sich neben dem Bezug auf Stalin natürlich auch für Lenin, Hitler, Mao usw. finden lassen: „In Stalin wurde sichtbar, wie der wahre Führer für das eigene Volk und zugleich für alle (!) friedliebenden Völker zu handeln versteht ... der große marxistische Erzieher, der seine Politik auf weitblickende wissenschaftliche Voraussetzungen gründet ... das gewählte Haupt der marxistisch-leninistischen Partei der (!) Arbeiterklasse, der beste, autoritativste, einflußreichste, erfahrenste Leiter ihres führenden (!) Kollektivs. Ein solcher Führer ist in vollendetstem Sinne – um Goethes Wort zu variieren – ein Kollektivwesen (!), das den Namen Stalin trägt: die genialste Verkörperung des Wollens und der hohen Ziele der geschichtlich aufsteigenden Arbeiterklasse“ (Abusch 1949, 12f, hervorg. von M.G.). Dieser knappe Exkurs erschien mir aus zwei Gründen wichtig: zum einen macht er, wie bereits festgestellt, verständlich, warum aus den Reihen der kom-
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munistischen Parteien wenig individuelles Gedanken- und Schriftgut erwächst und warum es aus der Binnenperspektive überzeugter Kommunisten nicht attraktiv, sondern riskant ist, mit einer individuellen Veröffentlichung auf die Öffentlichkeit oder die Ziele und den Kurs der Partei Einfluß nehmen zu wollen. Typisch für die kommunistische Literatur sind deshalb einerseits ,Autorenkollektive‘ und andererseits neben offiziellen Parteidokumenten die herausgehobene Rolle der Reden und Beiträge des jeweiligen Parteiführers, wie zum Beispiel Walter Ulbrichts Darstellung der Niederlage der Arbeiterbewegung 1933 und der gewissermaßen ,offiziösen‘ Charakterisierung des „Wesens des deutschen Imperialismus“, wie der Nationalsozialismus unter Bezug auf Lenins Schrift über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ von ihm 1945 bezeichnet wird (Ulbricht 1946, 90). Bezeichnend und auf die spätere „Vergangenheitspolitik“ der herrschenden SED-Diktatur vorausweisend ist dabei, daß von Ulbricht weder Antisemitismus noch die Juden als die wesentlichen Opfer der Ausrottungspolitik genannt werden: „Die Bestialität und Verfaultheit des deutschen Imperialismus“ fand vielmehr vor allem „ihren Ausdruck in der Vernichtungswut, mit der fremde Länder zerstört wurden, wie in der kaltblütigen Zerstörung der deutschen Heimat, in der Ausrottung anderer Völker und in der Vernichtung der fortschrittlichen Kräfte im eigenen Volk. Vernichtung der Menschen in Marterhöhlen und Gaswagen, durch Lustmorde und in Gasöfen, das charakterisiert den verfaulenden deutschen Imperialismus“ (Ulbricht 1946, 90). Noch in der letztlich nur scheinbaren Anspielung auf den Zivilisationsbruch des Ausrottungsversuchs an den Juden dominiert bei genauerem Hinsehen die schlechte Abstraktion von „Marterhöhlen“ bis „Gasöfen“ und wird der marxistisch-leninistischen Logik des Kampfes zwischen „verfaulendem Imperialismus“ und „fortschrittlichen Kräften“ untergeordnet – kein Zweifel bleibt, wer mit den Letzteren als die eigentlichen Opfer insinuiert sind. Dokumente wie Ulbrichts Schrift werden in dem genannten Lehrbuch neben den „Klassikern“ als wesentliche „wissenschaftliche Quellen“ bezeichnet; sie sind es in einem autoritativen Sinne – aber es ist zweifelhaft, ob sie überhaupt als Zeugnisse individueller Autorenschaft gelesen werden können, weil anzunehmen ist, daß hinter den Kulissen viele an den Reden und Texten der Parteifunktionäre mitgearbeitet haben. Zum zweiten aber bedeutet dieses Wissen über Rolle, Funktion und Entstehungsbedingungen von Literatur aus den Reihen der kommunistischen Bewegung, daß auch im Falle individueller Autorenschaft eine spezifische heuristische Herangehensweise an die Texte angezeigt ist. Angesichts des von der Partei als Zensor kontrollierten Buchmarktes ist es häufig schon allein die Tatsache einer Veröffentlichung, der Bedeutung zukommt. Dasselbe gilt beispielsweise für die Wahl des Verlages – Partei- oder Staatsverlag oder sonstige Publikation –, für Ort und Zeit der Veröffentlichung sowie die Höhe der Auflage. Nur auf dem Hintergrund dieser Strukturbedingungen und der von der Partei ihren Mitgliedern auch als Autoren strikt abge-
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forderten Parteidisziplin können die veröffentlichten Texte als individuelle Äußerungen ihrer Verfasser gelesen und verstanden werden.
Alexander Abusch: Der deutsche „Irrweg“ als Folge sozialdemokratischen Verrats Mensch Man darf davon ausgehen, daß bei dem 1918 der KPD beigetretenen zeitweiligen Chefredakteur der „Roten Fahne“, Alexander Abusch, Pike rechnet ihn zu den „top-communists“ (Pike 1992, 343), der während seines Exils in Frankreich und später Mexiko weiterhin in führender Stellung an der Publikation kommunistischer Zeitschriften beteiligt war, alle zuvor angesprochenen Bedingungen und Einschränkungen der individuellen Autorenschaft galten. Lange rechnet Abusch 1955 zu den „prominenten Intellektuellen“ der SED (Lange 1955, 11). In Pikes ausführlicher Darstellung des Kulturbundes kann man Abuschs führende Stellung, aber auch seine jede taktische Wendung mitmachende Loyalität zur Sowjetunion nachlesen: „Abusch thus turned any criticism of the Sovjet Union, or of ‚sovjetization‘ inside the Sovjet zone, into an attack upon local democracy with fascistic overtones; and vice versa, objections to political developments in the Sovjet zone were seen as a immediate condemnation of the Sovjet Union that no German had the right to engage in“ (Pike 1992, 324). 1956 wurde er Mitglied des Zentralkomitees, lange Jahre war er Kultusminister und danach als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates für ein Jahrzehnt in der DDR für Kultur und Erziehung zuständig. 1982 starb er als Ehrenvorsitzender des Kulturbundes der DDR. Jeffrey Herf macht in seiner großen Studie über die „NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland“ allerdings auf einen Aspekt der Biographie Abuschs aufmerksam, in dem das häufig tragische Schicksal von Kommunisten jüdischer Herkunft aufscheint. „Alexander Abusch war einer dieser stark assimilierten deutsch-jüdischen Kommunisten“ (Herf 1998, 78) und geriet als solcher in der ersten großen SED-Säuberungswelle im Zuge der sogenannten „Field-Affäre“ (Herf 1998, 139ff) in das Fadenkreuz der Parteispitze und der späteren Stasi. Ihm wurde vorgehalten, im mexikanischen Exil zusammen mit Paul Merker, Leo Bauer und anderen geheime Verbindungen mit dem Leiter des Unitarian Service Committees Noel H. Field zum Schaden und Nachteil der Sowjetunion unterhalten zu haben. Die ideologische Komponente der einsetzenden Verfolgungen liefen unter dem – schon bei den Nationalsozialisten – verwendeten Etikett „Kosmopolitismus“; hinzu traten die Vorwürfe des „Zionismus“ und – vor allem im Fall Merker – „Trotzkismus“. „Der Wahnsinn dieses paranoiden Konstrukts hatte Methode und zwar eine, die ein bezeichnendes Licht auf die offizielle Erinnerung an die NS-Vergangenheit in Ostdeutschland wirft“, schreibt Herf, weil sie „erstens, die Verbindung zwischen Kosmopolitismus, Il-
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loyalität, Spionage und Judentum hervorgehoben“ hat. „Die ZPKK (Zentrale Parteikontrollkommission, M.G.) befragte die Beschuldigten auch ausführlich über Kontakte, die sie während des Krieges zu Juden gehabt hatten. Zweitens wurde ihnen vorgeworfen, daß sie den Geist der Anti-Hitler-Koalition ernst genommen, das heißt im Bündnis mit dem Westen mehr gesehen hatten, als ein Zweckbündnis mit dem Klassenfeind“ (Herf 1998, 140) – ein Vorwurf, der im Fall Abusch absolut ungerechtfertigt war. Der „antijüdische“ Charakter dieser parallel zur ähnlichen Kampagnen überall im sowjetischen Herrschaftsbereich ablaufenden „Säuberungen“ (Herf 1998, 149) ist offenkundig. Herf faßt seine umfangreichen Recherchen zu Abuschs Verhalten in dem Urteil zusammen: „Es läßt sich nicht feststellen, welche Mischung aus Überzeugung, Angst und Opportunismus Abusch veranlaßt haben mag, diesen unglückseligen Text zu verfassen; er belegt auf jeden Fall seine Entschlossenheit, in die Reihen der kommunistischen Elite zurückzukehren“ (Herf 1998, 201). Herf bezieht sich dabei auf spätere Veröffentlichungen aus der Zeit von Abuschs Verfehmung – für ein Gesamturteil der politischen Ansichten von Abusch erscheint mir aber maßgeblich zu sein, daß seine Elogen auf Stalin und den Marxismus-Leninismus bereits vor den Säuberungen von 1950 verfaßt und publiziert wurden. Bei Herf kann man auf der Grundlage seiner umfangreichen Quellenstudien nachlesen, wie Abusch in dieser lebensbedrohenden Lage buchstäblich alles unternimmt, um nach seiner Suspendierung von allen Ämtern in der Partei 1950 erneut Fuß zu fassen und aufzusteigen: Verpflichtung als Stasi-Spitzel, der in den nächsten 6 Jahren umfangreiche Berichte über seine ehemaligen Freunde und Genossen ablieferte, deren persönlichen Verkehr er meidet, Selbstbezichtigungen, während er sich mit persönlichen Briefen bei Ulbricht andiente. Seine frühe Prominenz über den engeren Kreis der Parteiführung hinaus verdankt er in den unmittelbaren Nachkriegsjahren seinem Buch „Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte“, das, wie bereits in der Einleitung vermerkt, nach 1945 in der sowjetisch besetzten Zone in zahlreichen Auflagen erschien und nach den Angaben bei Cobet bis 1951 in deutscher Sprache immerhin in 130.000 Exemplaren Verbreitung fand; es wurde außerdem in zahlreiche Sprachen übersetzt (Cobet 1985, Kat.nr. 1). Eine solche Verbreitung konnte das Buch nur erreichen, wenn und insofern es in politischer und taktischer Hinsicht mit der Linie der Parteiführung übereinstimmte – der Abusch nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1946 im Übrigen mindestens 1948-50 bereits selbst schon einmal angehörte. Manchmal sind es nur sehr kleine Indizien, die im Falle von Abusch die zuvor theoretisch hergeleitete Rolle der Parteidisziplin belegen, die dann aber dafür sprechen, hermeneutisch auch an weniger offenkundigen Stellen den Text vor dem Hintergrund der damals aktuell geltenden Version des MarxismusLeninismus zu interpretieren. Ein untrügliches Indiz ist die geschichtsklitternde Ersetzung der Rolle Trotzkis durch die Stalins an der Seite Lenins in der ersten Phase der bolschewistischen Revolution und Machtergreifung in Rußland. Wäh-
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rend es für die objektive Geschichtsschreibung selbst undogmatischer Marxisten auch im Nachhinein außer Frage steht, daß die erste Phase der Revolution zunächst praktisch maßgeblich von Lenin und Trotzki bestimmt wurde, schreibt Abusch, sich der stalinistischen Retusche im offiziösen Bild der russischen Revolution nach Trotzkis Verbannung aus der bolschewistischen Partei anpassend, wie beiläufig über „die Haltung des jungen Sowjetstaates ... der unter der Führung Lenins und Stalins das imperialistische Diktat der Generale Ludendorff und Hoffmann in Brest-Litowsk akzeptierte“ (Abusch 1948, 227) – dabei die Rolle Trotzkis, der die sowjetische Verhandlungsführung hatte und auch noch in den folgenden Jahren des „Kriegskommunismus“ neben Lenin eine entscheidende Rolle spielte, gänzlich verschweigend; konsequent heißt es deshalb zum Beispiel in dem Beitrag des ehemals der Gruppe „Neu-Beginnen“ angehörenden Marxisten und späteren Professors für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin Ossip K. Flechtheim in der Einleitung seiner Beiträge zur Geschichte des Bolschewismus, daß dieser „zu Beginn unter Trotzki und Lenin“ und erst „in den zwanziger Jahren unter Lenin und Stalin“ seine „revolutionären Ziele verfolgte“ (Flechtheim 1967, 12). Wie man nicht nur im Falle Trotzkis sehen kann, war die Politik des Totschweigens und nachträglichen Retuschierens auch amtlicher Dokumente und Fotos nicht selten noch die harmlosere Seite einer mörderischen Praxis physischer Vernichtung, wie sie unter Stalin in den dreißiger Jahren auch ehemalig führenden Bolschewisten widerfuhr. Vom Aufbau und Anspruch her läßt sich Abuschs Buch mit den bereits behandelten Schriften Alfred Webers und Friedrich Meineckes vergleichen. Auch hier wird in den quantitativ überwiegenden Teilen eine deutsche ,Sonderwegsgeschichte‘ seit Beginn des 16. Jahrhunderts erzählt, in der ,die üblichen Verdächtigen‘ von Luther über Friedrich den Großen bis zu Bismarck und Wilhelm II. ihre schließlich zu Hitlers „Bestialität“ führenden Rollen in einem Drehbuch von schlichter Schwarzweißmalerei zugeteilt bekommen; da bleibt von Luther nur das Bild des „größten geistigen Führers der deutschen Gegenrevolution für Jahrhunderte“ (Abusch 1948, 23), von Nietzsche nur der „verbrecherische Wahnwitz seiner Theorie“ (Abusch 1948, 161) übrig. Preußen, als dem „Staat der Junker“, wird vor allem sein nach Osten, gegen Polen und Rußland gerichteter Expansionsdrang – in diesem Fall jedenfalls bis zur Zeit Bismarcks zurecht –, sein rücksichtloses innerdeutsches Hegemoniestreben und sein vor allem auch nach innen, schließlich gegen die Arbeiterbewegung gerichteter Militarismus zugerechnet. Ein gutes Beispiel für Abuschs ambivalenzfreie Geschichtsschreibung ist auch sein Umgang mit dem im Rahmen des Spätabsolutismus durchaus bemerkenswerten „Allgemeinen Landrecht“ Preußens von 1794, das etwa Thomas Ellwein in seiner großen Studie über die Entstehung der modernen Staatlichkeit als „in vieler Hinsicht modern“ bewertet (Ellwein 1993, 106), während es im Urteil Abuschs lediglich der Festigung der Königs- und Junkergewalt diente (Abusch 1948, 50).
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Allerdings gibt es in dieser für einen überzeugten Marxisten erstaunlich undialektischen Geschichtsbetrachtung – Sigrid Meuschel bezeichnet sie als Abuschs „dualistische Konstruktion“ (Meuschel 1992, 65) – auch den bis zum Aufbau des späteren „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates“ stets der Herrschaft opponierenden, aber unterliegenden Widerpart einer sich als „gute“ Nationaltradition anbietenden Vorgeschichte des ,realen Sozialismus‘: sie reicht praktisch-politisch von Thomas Münzer über die Arbeiterbewegung bis zur KPD (und später SED) und als geistige Strömung von Lessing über Marx und Engels bis zu Lenin und dem Marxismus-Leninismus der Gegenwart. Undialektische Schwarzweißmalerei ist diese Art volkspädagogischer Geschichtsschreibung deshalb, weil sie die gesamte Vorgeschichte nach der in der Gegenwart dominierenden klassenkämpferischen Politikbestimmung rückwirkend in Freund und Feind, moralisch gut oder verwerflich dichotomisiert, weil es zwar den (Klassen-)Kampf von Reaktion und Fortschritt zwischen den beiden Strömungen, aber niemals die Dialektik innerhalb der jeweiligen Seiten oder gar eine Vermittlung zwischen ihnen gibt. Für alle, die aus der Reihe tanzen, steht ,theoretisch‘ dann nur die Kategorie des Verrats zur Verfügung, dessen Eindeutigkeit als „Klassenverrat“ einerseits Voraussetzung aller Menschen bürgerlicher Herkunft ist, die im Lager des Fortschritts mitmachen wollen. Umgekehrt steht mindestens seit 1917 innerhalb der Arbeiterbewegung auch rückwirkend die Verratskategorie für alles zur Verfügung, was von dem parteioffiziell – und sei es nachträglich – als einzig richtig erkanntem Weg zu Revolution und Machtergreifung abweicht; die beiden dabei am meisten in denunziatorischer Absicht verwendeten Adjektive sind „sektiererisch“ für jegliche Form der innerparteiliche Opposition und „opportunistisch“ für den antirevolutionären „Revisionismus“ der Sozialdemokratie. Auf die Gemeinsamkeiten des Freund-Feind-Denkens des MarxismusLeninismus und von Carl Schmitts notorisch einseitiger Bestimmung des Begriffs des Politischen ist in der Literatur bereits oft zurecht hingewiesen worden; diese partielle Übereinstimmung erstreckt sich auch auf das Verständnis der Diktatur des Proletariats, die nach Lenins eigenen Worten als „eine Macht, die durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie erobert wurde und behauptet wird, eine Macht (ist, M.G.), die an keinerlei Gesetz gebunden ist“ (zit. nach Fetscher 1985, 301), sondern durch die Vollstreckung eines in der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus erkannten Geschichtszieles gerechtfertigt wird. Carl Schmitt hatte nach seiner Lektüre der innermarxistischen Auseiandersetzung zwischen Lenin, Radek und Kautsky um die Legitimität der Dikatur der Bolschewiki nicht ohne Berechtigung festgestellt, mit dieser Rechtfertigung sei der ursprünglich rechtswissenschaftliche Begriff der Diktatur „ebenfalls eine geschichtsphilosophische Kategorie geworden“ (Schmitt 1978, XVII). Die Schrift von Abusch bietet in ihrer inneren Logik, ihrem Politik- und Geschichtsverständnis und in ihrer teilweise nur als taktische Verbrämung zu
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verstehenden Sprache insgesamt ein Musterbeispiel für die Praxis marxistischleninistischer Weltanschauung. Aus dieser Perspektive war seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Spaltung der und die Konkurrenz innerhalb der Arbeiterbewegung zwischen dem sozialdemokratischen und den an den Bolschewiki Lenins orientierten Kommunisten das entscheidende Hindernis einer revolutionären Machtergreifung außerhalb Russlands – wobei allerdings, wie bereits früher angemerkt, aus der marxistisch-leninistischen Sicht eine (Wieder-)Vereinigung nur unter offener oder mindestens interner Führung des kommunistischen Flügels und um den Preis der endgültigen Anerkennung des Marxismus-Leninismus als einzige wissenschaftliche Weltanschauung wünschbar erschien. Dies war schon die Logik der antifaschistischen Bündnisse und ,Volksfront‘ bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, dies blieb zunächst die aus Moskau gesteuerte taktische Linie in all jenen nunmehr dem direkten sowjetischen Einfluß unterworfenen Gebieten mit der vieleicht einzigen Ausnahme Jugoslawiens, in dem Titos Partisanen- und Widerstandsbewegung eine national orientierte Machtbasis unabhängig vom Einmarsch der Sowjetarmee erringen konnte. Für die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands hieß es vorübergehend, neben dem straffen Kaderaufbau der KPD in den zahlenmäßig größeren sozialdemokratischen Kreisen für die Vereinigungsperspektive zu werben und dabei mehr oder weniger offen den bisherigen Kurs des sozialdemokratischen Flügels der Arbeiterbewegung zu diskreditieren, um die zu schaffende Einheitspartei auf den Kurs der offenen Machtergreifung nach sowjetischem Muster vorzubereiten. Abusch bedient sich für diese Taktik offen der Semantik des Verrats nach dem bereits seit der Weimarer Republik populären kommunistischen Motto „Wer hat uns verraten – die Sozialdemokraten!“. Politiktheoretisch ist der Verrat über den damit verbundenen moralischen Vorwurf hinaus interessant, weil ihm eine handlungstheoretische Perspektive der Kontingenz unterliegt: Verraten kann nur, wer sich auch anders hätte entscheiden, wer anders hätte handeln können. Stellte die oben angedeutete Oppositionsgeschichte des aufklärerischen Denkens von Lessing bis Marx, der Abusch die ersten zweihundert Seiten seines Buches widmet und die hier weitgehend vernachlässigt werden kann, aus einer leninistischen Machtperspektive noch keine realpolitische Handlungsoption dar, so änderte sich dieses mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung in Deutschland seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Nun wuchs hier aus der nachträglichen Sicht der Kommunisten eine auch machtpolitisch reale politische Kraft heran, der man in bestimmten Situationen abfordern konnte, daß sie ihrer proklamierten revolutionären Zielsetzung gemäß handelt. Wo dies nicht geschieht, ist der Verratsvorwurf aus kommunistischer Sicht angebracht. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob und inwieweit es die deutsche Arbeiterbewegung vor und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges tatsächlich verdient, immanent allein an dieser revolutionären Zielsetzung gemessen zu werden, die sich aus der marxistisch-leninistischen Lesart der Schriften von Marx und En-
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gels ergibt; die schon ältere Formel „Negative Integration und revolutionärer Attentismus“ von Dieter Groh beschreibt ihre Situation, insbesondere wenn man die Gewerkschaftsbewegung einbezieht, doch wesentlich differenzierter und zugleich angemessener (Groh 1973). Aber nach der Erfahrung mit der gespaltenen und zuletzt wehrlosen Arbeiterbewegung angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung und jetzt in der Situation des zusammengebrochenen Nationalsozialismus und mit der Sowjetarmee in Teilen des Landes als Schutzherrn mochte es auch in weiten Teilen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft aussichtsreich erscheinen, an den revolutionären Weg zu erinnern und mindestens die Führung der Sozialdemokratie für die Niederlage von 1933 verantwortlich zu machen. Dies ist das Argumentationsziel des zweiten, auf die Politik der Zukunft gerichteten Teils von Abuschs Buch. Unter der Überschrift „Wege, die nicht zu Hitler führen mußten“ stellt Abusch fest: „Das deutsche Volk hatte sich in den siebzig Jahren, die dem Machtantritt Hitlers vorangingen, in der deutschen Arbeiterbewegung die Kraft geformt, die zur Überwindung und Ausmerzung des reaktionären Erbes der deutschen Geschichte berufen schien“ und die „die Arbeiterpartei zur einzigen wesentlichen demokratischen Kraft“ machte (Abusch 1948, 204). Dieses historische Potential zur sozialistischen Überwindung der kapitalistischen, später imperialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gelangte durch „Abirren auf falsche Pfade und schließlich ... unter Hitlers Gewalt“ (Abusch 1948, 204), schreibt Abusch noch einigermaßen dunkel, um dann schon ziemlich im Klartext fortzufahren: „Verrätereien einzelner Personen gibt es in der Geschichte aller Völker wie Sand am Meer, – hier wurde die einst am besten organisierte Arbeiterbewegung einem Feind ausgeliefert, wie sie ihn noch nie gekannt. Es war Verrat an einer geschichtlichen Aufgabe, der auch verhängnisvoll für die ganze Nation und für die Menschheit wurde. Die Quelle dieses Verrats lag in den lassalleanischen Ideen, die das spätere Eindringen der imperialistischen Ideologie in die deutsche Arbeiterklasse vorbereitet hatten. Der überragende Einfluß ihres rechten opportunistischen Flügels drängte die deutsche Arbeiterbewegung immer wieder von den Wegen ab ...“ (Abusch 1948, 205). Diese insinuierenden Formulierungen sind an Infamie kaum zu übertreffen: beginnend mit Lasalle war der Verrat opportunistischer Sozialdemokraten erst für das Eindringen der imperialistischen Ideologie und dann sogar für ihre Auslieferung an Hitlers Schergen verantwortlich. Auf den folgendes Seiten bleibt es nicht bei solchen abstrakten Behauptungen. Unter Berufung auf Marx- und Engels-Zitate in ihren damals nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Briefwechseln und mit einem sinnwidrig aus dem Zusammenhang herausinterpretierten Zitat Lasalles aus dessen Brief vom 8. Juni 1863 an Bismarck wird zunächst Lassalle als der erste in der Reihe sozialdemokratischer Verräter am einzig für richtig gehaltenen revolutionären Kurs dargestellt, indem aus Lassalles taktischen Gedankenspielen mit einer „sozialen Monarchie“ schließlich eine „Ideologie des Lassalleanismus“ (Abusch 1948, 208) konstruiert wird. Shlomo Naa-
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man schreibt dazu zusammenfassend in seiner packenden Lassalle-Biographie: „Lasalle erwartet keinerlei gutwilliges Zusammengehen mit Bismarck in der Frage des Volkskönigtums ... Lassalles Verbeugungen vor dem König sind der Versuch, gegen Bismarcks gefährliche Experimente Rückendeckung zu finden“ (Naaman 1970, 728), und außerdem: „sicherlich sollte die Taktik der sozialen Monarchie dem alten Ziel dienen: der Einführung des demokratischen Stimmrechts zum Zweck politischer und sozialer Revolution“ (Naaman 1970, 724). Selbstverständlich kann man auch im Nachhinein die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 kritisieren; bei Abusch dient freilich die Behauptung der „Schuld“ der „Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie“, das „Gelöbnis“ der internationalen Arbeiterbewegung zu Frieden und Versöhnung auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Basel 1912 „gebrochen zu haben“ (Abusch 1948, 218) einerseits dazu, vor allem Philipp Scheidemann und Gustav Noske (Abusch 1948, 222f) und dann später Friedrich Ebert (Abusch 1948, 226) als aktiv Mitwirkende der „imperialistischen Kriegspolitik“ zu denunzieren, andererseits vor allem Karl Liebknecht als „Held und Opfer“, als „zu seiner Zeit kühnste(n) und konsequenteste(n) demokratische(n) Kämpfer gegen die Mächte des Bösen“ – dies aus der Feder eines historischen Materialisten ...– zu stilisieren (Abusch 1948, 219), der unterstützt allein von der „ungewöhnliche(n) Frau Rosa Luxemburg“ sowie einer kleinen Gruppe um „Clara Zetkin, Franz Mehring und Wilhelm Pieck“ (Abusch 1948, 223) nicht vom einzig als richtig angesehenen Kurs abwich – nämlich den Ausbruch des imperialistischen Krieges zugleich als den Auftakt zur revolutionären Machteroberung nach dem Modell Lenins zu begreifen. Ganz bewußt werden „Ebert und Scheidemann“, die in der Phase des Zusammenbruchs der Hohenzollernherrschaft am 3. Oktober 1918 angeblich in die erste parlamentarische Regierung des Deutschen Reiches unter Max von Baden eingetreten waren als „kaiserliche Staatssekretäre“ bezeichnet; es war in Wirklichkeit neben Philipp Scheidemann übrigens Gustav Bauer. Aber gerade diese beiden prominenten Sozialdemokraten, die in der Realpolitik des für die späteren kommunistischen Revolutionsmythen so wichtigen 9. November die entscheidenden Rollen spielten – Ebert übernahm als Führer der Mehrheitssozialdemokraten an diesem Tag von Max von Baden, der eigenmächtig die Abdankung des noch zögernden Kaiser Wilhelm II. verkündet hatte, die Amtsgeschäfte der Reichsregierung, und Philipp Scheidemann rief am Nachmittag vom Fenster des Reichstagsgebäudes vor einer riesigen Menschenmenge die „deutsche Republik“ aus (Trotnow 1980, 254) –, werden von Abusch dem Arbeiterführer Karl Liebknecht offenkundig bewußt kontrastierend gegenüber gestellt, der „im Frühjahr 1918 in der Zuchthauszelle darum gerungen (hatte, M.G.), die Haltung des jungen Sowjetstaates zu verstehen“ (Abusch 1948, 226f) und der am 9. November dem Beispiel der Bolschewiki zumindest dadurch zu folgen versuchte, daß er sofort dazu aufrief, die Revolution über ihr parlamentarischdemokratisches Stadium vom selben Tag hinauszutreiben, also im Sinne von
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Marx und später Trotzki die „Revolution in Permanenz“ (Münster 1973, 46) zu halten. Während Scheidemanns Ausrufung der Republik auch dazu dienen sollte, die aufgeregten Massen zu beruhigen und ihnen eine demokratische Republik auf parlamentarischer Grundlage auf dem Hintergrund einer von einer Nationalversammlung zu schaffenden neuen Verfassung zu versprechen, beschwor Karl Liebknecht wenig später vom Balkon des zwischenzeitlich gestürmten Hohenzollernschlosses die Menge „... nicht zu glauben, daß unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen“ (zit. nach Trotnow 1980, 256). Zwar wird von Liebknecht in diesem Moment die „Diktatur des Proletariats“ nicht direkt angesprochen, aber die Anlehnung an die revolutionäre, die bürgerliche Demokratie in Richtung einer proletarischen Klassenherrschaft überschreitende Zielrichtung ist unüberhörbar. Die Semantik weist im Übrigen voraus auf die Situation nach 1945, nur daß es nunmehr um die neue Ordnung des „Arbeiter- und Bauernstaates“ gehen wird. Der Versuch seines ihm in vieler Hinsicht völlig zurecht sehr wohlgewogenen Biographen Helmut Trotnow, Liebknecht gegen die lückenlose Vereinahmung durch die offizielle parteikommunistische Geschichtsschreibung in Schutz zu nehmen, scheint mir allerdings nur in dem Sinne gerechtfertigt, daß Liebknecht, in dessen politischem Wirken zeitlebens idealistische und humanistische Antriebe dominierten, keineswegs mit der späteren unterdrückerischen und auf brutaler Gewaltausübung beruhenden Minderheitenherrschaft der Bolschewiki in Verbindung gebracht werden kann – nicht zuletzt wegen seiner frühzeitigen brutalen Ermordung durch reaktionäre Freikorpsoffiziere im Januar 1919. Aber angesichts seiner auch von Trotnow wiedergegeben Forderung, „die gesamte legislative, exekutive und richterliche Gewalt in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte zu legen“ (Trotnow 1980, 266), schießt dessen als Verteidigung gemeinte Behauptung, seine politische „Vorstellungswelt“ habe nichts mit der der Bolschewiki gemein (Trotnow 1980, 275), deutlich am Ziel vorbei. Abusch jedenfalls begeht zum Zweck der kontrastierenden Denunziation von Ebert und Scheidemann diese völlige Vereinnahmung und konstruiert eine lückenlose Genealogie von den „Märtyrern“ Liebknecht und Luxemburg hin zu dem amtierenden Parteiführer der Kommunisten in der Zeit des Widerstandes gegen Hitler und der ersten Nachkriegszeit, Wilhelm Pieck. Nachdem also bei Abusch mit der absoluten politischen und moralischen Gegenüberstellung der führenden Mehrheitssozialdemokraten und der Gründer der KPD die Rollen einmal verteilt sind, kann nun von ihm die Geschichte der Weimarer Republik in wenigen Strichen bis zur Machtübernahme Hitlers gezeichnet werden. „Die Sozialdemokratische Partei hatte (1918, M.G.) ... die historische Gelegenheit, sich in Theorie und Praxis zu erneuern und die demokratische Revolution zu Ende zu führen ... es kam auf die Tat an“ (Abusch 1948, 230). Was Abusch damit meinte, hatte er kurz zuvor teilweise aufgezählt: „Im Zeitalter des Hochkapitalismus war die wirtschaftliche Sicherung einer
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deutschen Demokratie nur durch Maßnahmen zu erreichen, die über das Jahr 1789 hinausgingen und nicht eine einfache Kopie demokratischer Revolutionen der früheren Jahrhunderte sein konnten“ (Abusch 1948, 229), sondern der bereits zitierten Forderung Karl Liebknechts und dem Vorbild der Bolschewiki nacheiferten. „Kraft ihres ‚historischen Rechtes‘ “, so Abusch unter Berufung auf den geschichtsteleologisch legitimierenden Auftrag zur mindestens zeitweiligen Diktatur der Arbeiterbewegung, mußte sie mit ihren „ersten Taten“ „die völlige Zerschlagung der preußischen Militär- und Staatsmaschine“ bewirken, sowie „vor allem die durch vier Jahrhunderte bewahrten sozialen Grundlagen des Junkertums vernichten“ und schließlich „die Herren der Trusts und der Großbanken – die Interessenten des aggressiven deutschen Imperialismus, durch Besitz und Familie verfilzt mit dem Adel – ... wirtschaftlich“ entmachten (Abusch 1948, 228). Abusch kann mit einigem Recht darauf hinweisen, daß diese drei praktischen Maßnahmen auch der allgemeinen sozialistischen Programmatik der Mehrheitssozialdemokratie entsprachen; aber seine wie selbstverständlichen Unterstellungen, diese Ziele seien im Winter 1918-19 auf direktem revolutionären Weg erstens durch Übergabe der Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte zu erreichen gewesen und diese hätten sich zweitens – wären Liebknecht und Luxemburg nicht ermordet worden – der Führung der in den letzten Tagen des Dezember 1918 neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands gefügt und drittens schließlich wäre auf diesem Wege die im Innern wie von außen extrem gefährdete gesellschaftliche Ordnung zu stabilisieren und zugleich ihre umgehende Transformation in eine sozialistische Gesellschaft zu erreichen gewesen, sind gelinde gesagt historisch völlig unplausibel. Sie dienen im Text auch nur dazu, schließlich die Sozialdemokratie an den Pranger zu stellen: „Der Kampf dieser Partei erhielt seine besondere Schärfe und auch seine Irrtümer dadurch, daß die Sozialdemokratische Partei zwar im April 1919 auf riesigen Plakaten verkünden ließ: ‚Der Sozialismus marschiert‘, aber im wirklichen Leben die bürgerliche Demokratie zu einem Schirm und Schild der allmächtigen Junker und der Trustherren werden ließ“ (Abusch 1948, 231f). Vorgehalten werden den Sozialdemokraten auf dem Weg in die endgültige Niederlage noch ihre Zustimmung zum Notverordnungsparagraphen 48 der Weimarer Reichsverfassung, das Scheitern der letzten parlamentarischen Regierung 1930 (Abusch 1948, 237) und die Unterstützung Hindenburgs in der Wahl des Reichspräsidenten 1932 – der Gegenkandidat hieß damals Adolf Hitler (Abusch 1948, 238) –, um schließlich festzustellen: „So fiel die Sozialdemokratie kampflos in die Ketten Hitlers. Geführt von Irrtum und Verrat blieb sie selbst hinter der demokratischen Partei der kleinen Bürger zurück, die 1849 noch in letzter Stunde zu kämpfen verstanden hatte“ (Abusch 1948, 241). Es geht hier keineswegs darum, den politischen Kurs der Weimarer Sozialdemokratie im Einzelnen zu rechtfertigen; auch sie trägt, denkt man etwa an den direkten Anlaß des Scheiterns der letzten parlamentarischen Regierung un-
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ter dem Sozialdemokraten Hermann Müller im März 1930, die dann zum Notverordnungsregime Brünings führte, ihr gehöriges Maß an politischer Verantwortung für das Scheitern der Weimarer Demokratie. Zu dieser Entscheidung schreibt Karl Dietrich Bracher in seiner noch immer bestechenden Studie zum Machtverfall in der Weimarer Republik: Die „Folge war eine völlige Selbstausschaltung der stärksten demokratischen Partei und mit ihr des Reichstages ... Der (innerparteiliche, M.G.) Sieg der interessenpolitischen und ideologischmarxistischen Prinzipien über den kompromißfähigen Realismus bedeutete auf der politischen Ebene ein parteistrategisches Versagen, eine schwere Niederlage, von der sich die SPD nicht mehr erholen sollte“ (Bracher 1971, 270). Man kann auch selbstverständlich darüber nachsinnen, ob ein entschlossener, unter anderem auf die Polizeikräfte des von den Sozialdemokraten regierten Landes Preußen gestützter Kampf gegen die immer gewaltsamer und vielfach illegal agierenden Kampfgruppen Hitlers und die NSDAP insgesamt oder gar ein „Generalstreik der Arbeiter und seine Unterstützung durch die sozialdemokratisch geführten Polizeitruppen“, wie Abusch meint (Abusch 1948, 240), eine entscheidende Wende hätten bewirken können. Dies alles sind nachträglich legitime Gedankenspiele, die alternative Szenarios ausleuchten, die auch innerhalb der Sozialdemokratie, etwa von dem nach Schweden emigrierten Gewerkschafter und späteren bekannten Soziologen Fritz Croner in seiner Autobiographie angestellt werden. Er nennt in seiner gerade in diesen durch politische Selbstkritik und Nachdenklichkeit erschütternden Passagen den bereits angesprochenen sozialdemokratischen „Verzicht auf die politische Macht im März 1930“ – den er als Berater der Reichstagsfraktion aus nächster Nähe erlebte – „das eklatanteste Beispiel“ einer „‚unpolitischen Politik‘ der deutschen Sozialdemokratie ... einer Politik des besten Willens, der edelsten Absichten und des richtigen Zieles – aber auch der falschen Taktik, der nichtexistierenden Strategie, der unrichtigen Mittel und der mangelnden Überlegenheit“ (Croner 1968, 286). Zum Abschluß des Kapitels stellt er fest: „Wir hielten uns ‚im Rahmen der Legalität‘. Wir waren im Grunde einig, daß wir nicht die Verantwortung für ein Blutvergießen auf uns nehmen wollten. Tatsächlich haben wir mit unserer unentschlossenen und im Verhältnis zur Situation, in der wir lebten, unpolitischen Haltung die Verantwortung für das größte Blutvergießen auf uns genommen, dem die Menschheit bisher ausgesetzt gewesen ist“ (Croner 1968, 304f). Solche ehrliche sozialdemokratische Selbstkritik mag im ersten Augenblick der Darstellung von Abusch recht geben, aber allein schon die Tatsache, daß sich von einer kommunistischen Selbstkritik bei ihm auch nicht die geringste Spur zeigt, macht ihn unglaubwürdig – denn zu der hätte nun wahrlich Anlaß bestanden. Welcher Zeitgenosse konnte damals und kann heute noch bezweifeln, daß und wie die KPD – zum guten Teil aus Moskau von der Komintern gesteuert und deren Interessen und Ideologien umsetzend – zur Destablisierung der Weimarer Republik beigetragen hat. Schon die erste Wahl Hindenburgs 1925 zum Reichspräsidenten gegen den von allen anderen demokratischen Par-
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teien unterstützten Reichskanzler Marx wurde nur aufgrund der eigensinnig aussichtslosen Kandidatur des kommunistischen Kandidaten Thälmann möglich, stellt Croner, die damalige Erbitterung im demokratischen Lager erinnernd, fest (Croner 1968, 256). In Folge traten die Kommunisten gleichermaßen wie die aufkommenden Nazis als unerbittliche Feinde der Republik auf, jederzeit bereit, ihre Krisen zu verschärfen und vor allem die Konflikte gewaltsam auf der Straße auszutragen. Es ist der blanke Hohn auf jede an den Tatsachen orientierte Geschichtsschreibung, wenn Abuschs Darstellung des Endes der Weimarer Republik den Eindruck erweckt, „mehr als durch eigene Kraft siegte das braune Verhängnis durch die Gespaltenheit und das tatenlose Abwarten seiner Gegner“ (Abusch 1948, 240f), ohne auch nur in einem Nebensatz zu erwähnen, daß seit dem verhängnisvollen Beschluß der Komintern vom Sommer 1928 Sozialdemokraten und sozialdemokratische Gewerkschaften unter dem unsinnigen Begriff „Sozialfaschisten“ zu den „Hauptfeinden“ der Arbeiterklasse deklariert worden waren. Die deutsche kommunistische Partei setzte diesen Kurs – nicht ohne vereinzelten internen Widerstand durch sogenannte „Sektierer“ – mindestens bis weit ins Jahr 1932 bedingungslos durch, etwa dadurch, daß sie zusammen mit nationalsozialistischen Betriebskampfgruppen gegen die sozialdemokratischen Gewerkschaften kämpfte und noch im November 1932 im letzten Streik in der Weimarer Republik bei der Berliner Straßenbahn zusammen mit den Nationalsozialisten wiederum gegen die Gewerkschaften antrat. Die Sozialdemokraten hatten als angegriffene und verleumdete „Sozialfaschisten“ also guten Anlaß, Nationalsozialisten und Kommunisten gleichermaßen als Bedrohung der von ihr gewollten demokratischen Republik anzusehen – und wenn überhaupt der vereinte Widerstand der „Arbeiterbewegung“ Hitlers Machtergreifung hätte verhindern können, dann trug sicherlich die Kommunistische Partei Deutschlands zu ihrer andauernden Spaltung einen maßgeblichen Anteil an Verantwortung. Nachdem Abusch seitenlang die führenden Sozialdemokraten für ihren „Irrtum und Verrat“ (Abusch 1948, 241) gegeißelt hat, kommt bei ihm die Rolle der KPD zum Schluß nur ganz beiläufig und höchst verklausuliert zur Sprache. „Die Kommunistische Partei erkannte die drohende Gefahr“ heißt es, wiederum den vermeintlichen Kontrast zur SPD insinuierend, „und appellierte gegen sie ständig an die Selbsttätigkeit des Volkes“ (Abusch 1948, 242). Mit dieser Formel wird die aberwitzige Destabilisierungspolitik der außerparlamentarischen militanten Massenmobilisierung insbesondere der Arbeitslosen kaschiert, die allzu oft auch gegen die organisierten Gewerkschaften, gegen tarifliche Sozialpolitik und institutionalisierte Mitwirkung der Betriebsräte gerichtet war und Schulter an Schulter mit den braunen Kämpfern der Nazis erfolgte. „Doch auch diese Partei zog in ihrem Kampf gegen den deutschen Imperialismus und seine nazistischen Kampfverbände zu wenig die Lehren aus der Geschichte des eigenen Volkes seit 1848 und 1918, die die Zu-Ende-Führung der demokratischen Revolution und das Bündnis aller Antinaziparteien zur Rettung der demokratischen Republik geboten. Dieses Bündnis, das kein Aufgeben, aber
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ein Zurückstellen ihrer sozialistischen Ziele bedeutete, war spätestens Ende 1930 notwendig. ... Ob ein frühzeitigerer Übergang der Kommunisten zu einer unmißverständlichen Politik des weitestgespannten, demokratischen Bündnisses die ehemaligen Führer der Sozialdemokratie hätte bewegen können, endlich und gemeinsam Front gegen die Nazigefahr zu machen, ist nach der ganzen Politik von Wels, Noske, Severing und Stampfer seit 1918 schwer zu bejahen“ (Abusch 1948, 242). So endet auch diese knappe Passage letztlich noch mit einem gegen die SPD gewendeten Gedanken, ohne daß mit einem Wort explizit von der „Sozialfaschismus“-Strategie die Rede ist und erst recht nicht davon, daß die taktische Wendung zur Volksfrontpolitik erst 1935 auf Weisung der Komintern vollzogen wurde. Für die Marxisten-Leninisten ist das Bündnis „aller Antinaziparteien“ allein aus der Defensive und dem Widerstand heraus und vorübergehend gerechtfertigt, die „Rettung der demokratischen Republik“ selbstverständlich nur Etappenziel und die Bündnispartner haben sich damit abzufinden, daß zu gegebenem Zeitpunkt ihre Rolle ausgespielt ist, wenn es gilt, die alleinige Macht der Arbeiterklasse beziehungsweise der sie anführenden Partei in Form der „Diktatur des Proletariats“ durchzusetzen. An diesem Ziel hielt die KPD auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit explizit fest; der in diesem Zusammenhang viel, aber häufig ungenau zitierte Aufsatz des Mitglieds des Zentralkomitees der KPD Anton Ackermann in Heft 1 der „Einheit. Monatsschrift zur Vorbereitung der Sozialistischen Einheitspartei“ läßt keinerlei Zweifel daran, „daß es ohne die Aufrichtung der ganzen Macht der Arbeiterklasse keinen Aufbau des Sozialismus geben“ könne (Ackermann 1946, 31). Deswegen gilt für ihn und die KPD auch 1945: „Das Programm einer Arbeiterpartei, das die grundlegende Forderung der proletarischen Diktatur nicht enthält und sich auf allgemein-demokratische Forderungen, wie allgemeines Wahlrecht usw. beschränkt, ist kein proletarisch-sozialistisches Programm, sondern bleibt im Rahmen der bürgerlichen Welt“ (Ackermann 1946, 25). Was der Artikel demgegenüber allein unter Verwendung von vielerlei Marx-, Engelsund Lenin-Zitaten zu rechtfertigen versucht ist, daß entgegen deren Erwartung „unter ganz spezifischen Voraussetzungen ... ein bürgerlich-kapitalistisches Land ohne den Gewaltapparat des Militarismus und der Staatsbürokratie ... auf relativ friedlichem Weg“ dahin gelangen könne (Ackermann 1946, 29) – eine Botschaft, die im besiegten und ohne eigene Machtmittel dastehenden besetzten Deutschland plausibel erschien und in Zeiten des kommunistischen Werbens um die „Einheitspartei“ sicherlich auch in einigen sozialdemokratischen Kreisen auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Eine Bestätigung dieser Beurteilung der wahren Absichten, die sich hinter der von Ulbricht und seiner „Gruppe“ zunächst propagierten anti-faschistisch demokratischen Volksfrontpolitik verbargen, findet sich in einer ebenfalls weit verbreiteten und zu Schulungen benutzten Veröffentlichung des für die Propagierung des Marxismus-Leninismus und die schließliche Durchsetzung seines Monopols an den Universitäten besonders einflußreichen Ökonomen und ZK-Mitgliedes Fred Oelßner. Nach ihm ver-
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dankt sich die Möglichkeit zum „friedlichen“ Übergang zum Sozialismus ausschließlich dem Schutz und der Anwesenheit der sowjetischen Besatzungsarmee in Deutschland und einigen mittel- und osteuropäischen Ländern, aber seiner Auffassung nach sei es grundsätzlich falsch, daraus auf einen besonderen „nationalen“ Weg zu schließen; insbesondere verbarg „sich hinter der Auffassung von dem besonderen friedlichen Weg ... auch oft die Auffassung, die Arbeiterklasse dieser Länder könne ohne Klassenkampf und ohne Diktatur des Proletariats zum Sozialismus gelangen. Und diese Auffassung ist falsch und gefährlich“ (Oelßner 1948, 175). Der Leser oder die Leserin mag über diese relativ ausführlichen Überlegungen zum Ende der Weimarer Republik in einem Buch über das politische Denken nach 1945 momentan erstaunt sein. Aber Abusch schreibt ja nicht „Geschichte“ um ihrer selbst oder des wissenschaftlichen Wahrheitstrebens willen, sondern um in der machtpolitisch innen- wie außenpolitisch unklaren Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit sozialdemokratische Mitglieder und Funktionäre auf die (Wieder-)Gewinnung der „Einheit der Arbeiterklasse“ zu den zunächst nicht offen gelegten Bedingungen der Kommunisten hin zu orientieren. Es handelt sich auch im Sinne „strategischer Kommunikation“ um ein extrem politisches Buch, das nur scheinbar um Aufklärung über die Vergangenheit bemüht ist. In Wirklichkeit geht es um die „geschichtspolitische“ Besetzung des Terrains, auf dem später die SED ihren Umwandlungsprozeß zur Einparteienherrschaft legitimiert. Sigrid Meuschel konzediert dem Buch von Abusch zwar einerseits und offenkundig positiv wertend, ein „veritables Werk des Antifaschismus“ zu sein und stellt es zu meinem Erstaunen in eine Reihe mit den historischen Arbeiten Leonhard Kriegers, Hans Kohns, Fritz Sterns und Helmut Plessners; das kann aber schon deswegen nicht überzeugen, weil sie zugleich und zurecht festhält, daß „Abuschs Analyse, wie sich nicht zuletzt in ihren Schlußfolgerungen zeigte, ganz im Sinne der KPD zuallererst eine politische Kampfschrift“ gewesen sei (Meuschel 1992, 66). Man hat den Eindruck, daß in diesem positiv gemeinten Urteil Meuschels unaufgeklärt der „Antifaschismus“ als „ein deutscher Mythos“ nachwirkt, wie ihn Antonia Grunenberg nicht nur für die DDR kritisch analysiert hat. „Antifaschismus“ war in „der SBZ und der späteren DDR ... nicht nur Staatsdoktrin und nicht nur ein ‚von oben‘ oktroyiertes und nur widerwillig aufgenommenes politisches System ... der AntiFaschismus kommunistischer Prägung in seiner besonderen Verbindung mit Besatzungsherrschaft und bürokratischem Sozialismus traf auf spezifisch deutsche Vorbedingungen: auf das Schuldgefühl wegen der Mittäterschaft im Nationalsozialismus und ein weitverbreitetes Bewußtsein von der Notwendigkeit eines Neuanfangs“ (Grunenberg 1993, 131) und konnte so zur Herrschaftslegitimierung instrumentalisiert werden und beitragen, deren es auch unter der totalitären Diktatur bedarf, wie Grunenberg ebenda unter Berufung auf Hannah Arendt zurecht festhält. Wie die bisherige Analyse des Buchs von Abusch auf dem Hintergrund der marxistisch-leninistischen Doktrin demonstriert hat, er-
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gibt sich dessen Charakter als politische Kampfschrift und strategische Kommunikation, der es im Zweifel nicht auf wissenschaftliche Wahrheitsorientierung ankommt, keineswegs nur aus den politischen Schlußfolgerungen, sondern die auch von Meuschel beobachtete „dualistische Konstruktion“ ist direkter Ausfluß der leninschen Version des Historischen Materialismus, in der alle „Politik“, auch die der Vergangenheit, aus der taktischen Bestimmung des gegenwärtigen Klassenkampfs und nächsten Schrittes zur Machteroberung rekonstruiert und festgelegt wird. Angesichts der prinzipiellen Übereinstimmung der Ziele von Abuschs historischer Rekonstruktion und dem das Buch beschließendem Ausblick auf die bisher „versäumte“ historische Aufgabe, „die demokratische Revolution zu Ende zu führen“ (Abusch 1948, 252 und passim), mit den von der KPD festgelegten Zielen, wie sie beispielsweise auch in dem bereits zitierten Artikel Anton Ackermanns zu Ausdruck kamen, braucht man darüber hier kaum noch viele Worte zu verlieren. In der Auffassung der Kommunisten und Abuschs handelt es sich dabei um den „Vollzug einer historischen Notwendigkeit“ (Abusch 1948, 268). Diese Formel ist abschließend noch einmal geeignet, auf die dem Marxismus-Leninismus eigene und politiktheoretisch unklare Gleichzeitigkeit von Kontingenz und Notwendigkeit zurück zu kommen, die bereits angesprochen wurde. Die „Wege, die nicht zu Hitler führen mußten“ – und die angeblich im Wesentlichen der Politik der KPD entsprochen hätten – waren ebenso wie der nicht notwendige „Verrat“ der sozialdemokratischen Arbeiterführer bereits Hinweise auf die handlungstheoretische Ebene des marxistisch-leninistischen Politikbegriffs. Bis zur endgültigen Erringung der Klassenherrschaft des Proletariats und während dessen Transformationsdiktatur zum endgültigen Kommunismus ist nach Lenins Bestimmung alle Politik „Kampf“, der von seiten der Arbeiterklasse ursprünglich von ihrer politischen Partei, dann nach 1917 von ihren politischen Parteien angeführt wird, die wiederum mit „ihrer marxistischen Erkenntnis“ (Abusch 1948, 270), später vor allem unter Stalin auf seiten der Kommunisten ihrer „marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ über eine allgemeingültige Theorie der gesetzmäßigen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer revolutionären Transformation in Sozialismus und Kommunismus verfügen. Daß Politik „Kampf um die Macht“ sei, ist keineswegs ein spezifischer Gedanke des Marxismus beziehungsweise Leninismus, sondern wird, um das vielleicht prominenteste Beispiel zu wählen, auch von Max Weber behauptet, der sogar nicht zögert, als das für sie „entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit“ (Weber 1958, 540) hervorzuheben und der dem „Kampf“ in seiner „soziologischen Kategorienlehre“ sogar einen eigenen Paragraphen widmet (Weber 1972, 20f). Das Wesen des Kampfes ist aber die Ungewißheit seines Ausganges, über den jeweils die besonderen Umstände, Machtressourcen und nicht zuletzt die kluge Taktik der Kampfparteien entscheidet. Was die marxistische beziehungsweise marxistisch-leninistische Lehre von der Webers und der ganzen sogenannten „realistischen“ Tradition der Politikwis-
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senschaft unterscheidet, ist nicht diese kontingenztheoretische Perspektive auf das Element des Kampfes und der Machtauseinandersetzung in der konkreten politischen Handlungsebene, sondern die geschichtsphilosophische Relativierung der Handlungskontingenz auf der Ebene der zum Historischen Materialismus verdinglichten Annahmen über die gesetzmäßige Notwendigkeit des endgültigen Ausganges dieser Kämpfe. Dazu trägt bei, was man in Analogie zum methodologischen Individualismus Webers den theoretischen Kollektivismus des Marxismus beziehungsweise Marxismus-Leninismus nennen könnte: nicht Individuen und durch sie gebildete Organisationen, sondern „Klassen“ und der „Klassenkampf“ sind neben den ökonomischen Logiken der Produktivkraftentwicklung jene Faktoren, die für die unterstellte „Notwendigkeit“ der Entwicklung der Klassenkämpfe und ihres endgültigen Ausgangs sorgen. Im offenkundigen Widerspruch zur historischen Bedeutung des „subjektiven Faktors“ in Gestalt politisch einflußreicher und teilweise diktatorisch bestimmender Einzelindividuen in der Geschichte der kommunistischen Parteien und Regime, dient der hier nur in knapper Skizze umrissene methodische Kollektivismus in Verbindung mit einem für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typischen positivistischen Gesetzmäßigkeitsdenken dazu, auch im Falle von Niederlagen wie der von 1918 oder 1933, die Hoffnung auf den endgültigen Sieg des eigenen Machtstrebens „wissenschaftlich“ zu fundieren. Diese Hoffnung haben nach 1945 in der sowjetisch besetzten Zone immerhin so viele Menschen geteilt, daß es in kurzer Frist zur Errichtung einer den ideologischen Vorgaben entsprechenden „Diktatur des Proletariats“ in Gestalt einer faktischen Einparteiendiktatur ausreichte. Die Absicherung für den Machterwerb und – wie sich nicht nur 1953 zeigte – Machterhalt durch die Militärmacht der Sowjetunion war dafür einerseits Erfolgsbedingung und Voraussetzung, aber andererseits nicht hinreichend. Um dem schließlich etablierten Regime den Ruch der Fremdherrschaft zu nehmen, war die Überzeugung von dessen Legitimität, mit Max Weber gesagt, im mindestens ausreichenden Sinne einer „dumpfen Gewöhnung“ (Weber 1972, 122) unabdingbar. Wieweit dazu apologetische Schriften, die wie Abusch noch zu Zeiten Stalins die Sowjetunion als „Land der sozialistischen Demokratie im Osten“ (Abusch 1948, 249) oder „Land der sozialistischen Menschenrechte“ (Abusch 1948, 259) priesen und dem gesellschaftlichen Aufbau in der sowjetisch besetzten Zone mehr oder weniger offen als Vorbild empfahlen, tatsächlich beitrugen, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Daß dies aber in der Absicht von Alexander Abusch lag, ist mehr als offenkundig,
VI. Freiheit im Planstaat
Ernst Niekisch: Vom bürgerlichen Individuum zum „planvoll organisierten Ordnungszustand des Kollektivs“ Mensch An der Beurteilung Ernst Niekischs scheiden sich traditionell die Geister. Unbestritten ist seine Rolle als vehementer Feind der liberal-demokratischen Weimarer Republik; aber schon, daß er sie, 1919 in die SPD und zeitweilig in die USPD eingetreten, im Zuge der scheiternden Revolution nach dem Ende des Kaiserreichs als Vorsitzender des Zentralrates der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte und Mitglied der Räteregierung anfangs im Bündnis mit Kommunisten und revolutionären Kräften „von links“, dann nach Absolvierung einer zweijährigen Festungshaft für einige Jahre in intensiver Zusammenarbeit mit dem nationalistisch orientierten „Hofgeismarer Kreis“ der Jungsozialisten, nach dem Ausschluß aus der SPD 1926 im weiteren Verlauf aber schließlich auch in der engen Zusammenarbeit und mit Unterstützung der Reichswehrführung und des Freikorps „Bund Oberland“ „von rechts“, das heißt mit einem völkisch aufgeladenen Nationalismus und gegen „Versailles“ gerichteten Revisionismus bekämpfte, weckte bei vielen Zweifel an seiner politischen Position und persönlichen Glaubwürdigkeit. Viele wiederum, die ihm – aus ganz verschiedenen Lagern – gerade Letztere zugute halten, beziehen sich dabei auf seinen frühen mutigen und bis zur Inhaftierung 1937 auch nach dem 30. Januar 1933 anhaltenden publizistischen und später illegalen Kampf gegen Hitler und die nationalsozialistische Herrschaft. Seine Schrift von 1932 „Hitler ein deutsches Verhängnis“ legt davon Zeugnis ab – aber auch hier bleibt das Bild ambivalent: wie Hans Schwab-Felisch schreibt, finden sich darin Passagen, „die ihn scheinbar in die Nähe des Mannes rücken, dem sein ganzer Haß und sein ganzer Kampf gegolten hat“ (Schwab-Felisch 1974, 12). Armin Mohler erinnert daran, daß er den „Zeitgenossen“ – vor allem in den Kreisen der rechten AntiWeimarianer – damals „als unglücklicher Rivale Hitlers erscheinen“ mußte (Mohler 1980, 9). Als er schließlich nach seiner Befreiung 1945 sich auf die ostdeutsche Seite schlägt und hier im Bündnis mit der SED an der Umwandlung und Sowjetisierung politisch und publizistisch teilzunehmen bereit ist, sind wiederum diejenigen unter seinen ehemaligen Freunden und Anhängern bestürzt, die gerade in der auf Freiheit und intellektuelle Unabhängigkeit des Urteils gerichteten Tendenz seiner ganzen politischen Biographie ihn wahrhaft zu erken-
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nen glaubten; sie fühlten sich wiederum durch die Art und Weise bestätigt, wie Niekisch als Professor an der Berliner Universität und als Publizist anfangs der fünfziger Jahre ruppig kaltgestellt wurde, als die SED ihre Parteidiktatur auch im intellektuellen Leben gefestigt hatte und nicht mehr auf solche selbständigen Intellektuellen als Bündnisgenossen angewiesen war. Schließlich wird Niekisch in den fünfziger Jahren bis hin zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof „zum Fall“ (Drexel 1964), weil ihm die westdeutsche Bundesregierung wegen seines zeitweiligen Engagements an der Seite der SED die Anerkennung als Widerständler und Opfer des Nationalsozialismus verweigerte. Diese spannende und an plötzlichen politischen Wendungen reiche Biographie, die Niekisch in seiner Autobiographie nicht ohne Selbstbeweihräucherung und nachträgliche Korrektur – etwa seiner teilweise an Rassismus grenzenden Herrenvolksideologie und seines ostkolonialistischen Großraumdenkens (Sauermann 1980, passim) – geschildert hat, ist hier aber nicht Gegenstand der Betrachtung (Niekisch 1974). Eigentlich hätte man ja erwarten dürfen, daß nach solch einer geschichtlichen Erfahrung der brutalen und manifesten Unterdrückung der individuellen Freiheiten wie des insgesamt freiheitlichen Charakters des politischen Regimes die Freiheit einen hohen Rang in den hier untersuchten Veröffentlichungen einnehmen sollte. Das ist merkwürdiger Weise manifest über die beiden in diesem Abschnitt diskutierten Veröffentlichungen hinaus aber kaum der Fall. Lag es daran, daß „Freiheit“ nach dem Sieg über den Nationalsozialismus so selbstverständlich war und für die Zukunft gesichert erschien – das mag man kaum annehmen. Oder lag es daran, daß zwar der Nationalsozialismus besiegt, aber das Land besetzt und unter Fremdherrschaft politisch „unfrei“ war? Es ist ja eine politisch wie theoretisch komplexe Situation, durch Fremdherrschaft von der Diktatur erlöst und zur Freiheit „befreit“ zu werden; außerdem muß zwischen der individuellen und der Freiheit der politischen Selbstbestimmung der besiegten Deutschen unterschieden werden. Auch wenn aus der jeweiligen politischen Perspektive die Zukunft der Freiheit gesichert erschien, so mußte sie doch politisch institutionell und rechtlich erst noch konstituiert werden, in der Formulierung Wolfgang Fachs ging es darum, „Freiheit zu regieren“ (Fach 2003, 15, hervorg. i.O.), also „den Menschen frei und die Freiheit sicher zu machen“; die Lösung dieses Problems „verbindet Differenzierung mit Dosierung: es existieren unterschiedliche Freiheiten, von denen einige größer sein dürfen, andere eingeschränkt werden müssen, damit am Ende stabile Verhältnisse herauskommen“ (Fach 2003, 7). Vor allem aber gab es eben nicht nur die „liberale“, in sich schon pluralistische und teils widersprüchliche Tradition, mit der sich Fach in seinem Buch teilweise recht kritisch beschäftigt hat, sondern auch noch die großen Alternativen jenes Freiheitsverständnisses, das sich unter dem Einfluß des theoretischen Denkens, das die Geschichte der Arbeiterbewegung begleitete und teilweise auch formte, nun als „sozialistische“ Idee der Freiheit politisch zur Geltung brachte. So standen sich nach 1945 „bürgerlich liberale“ und „soziali-
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stische“ Freiheit, und keineswegs nur entlang der Scheidelinie zwischen Ost und West, teilweise polemisch gegenüber. Während beide immanent ihren universalistischen Anspruch behaupteten, wähnte sich Letztere selbst als Vollendung und ,Aufhebung‘ der ihrer Meinung nach prinzipiell unvollkommen bleibenden „bürgerlich liberalen“ Freiheit. Das ist auch die Position Niekischs, der bei aller Unorthodoxie seines theoretischen und politischen Denkens doch diese entscheidende Prämisse des auf Marx und Engels zurückgehenden Epochen- und Klassenkampfdenkens übernimmt. Interessant ist nun, daß sich über die beiden in diesem Abschnitt vorgestellten Schriften hinaus nach 1945 das Freiheitsproblem für viele politische Denker jeglicher politischer Richtung unter der selbstverständlichen Prämisse stellt, daß das zukünftige politische System in starkem Maße durch den planenden Eingriff der Politik oder des Staates in die Reproduktion und Entwicklung der wirtschaftlichen und insgesamt gesellschaftlichen Verhältnisse gekennzeichnet sein würde, daß man, um es in den damals einflußreichen Worten Karl Mannheims zu sagen, unwiderruflich „im Zeitalter der Planung“ (Mannheim 1970) angekommen sei. Ernst Niekisch hatte bereits 1931 in seiner Zeitschrift „Widerstand“ das 20. Jahrhundert „als Epoche der kollektiven Planungen angesehen“ (Schüddekopf 1973, 261) und konnte daran anknüpfen, als er versuchte, an die Politik der SED Anschluß zu finden und ihr beitrat. Obwohl es hier nicht darum gehen kann, Kontinuitätslinien in der komplexen politischen Biographie Niekischs zu ermitteln, soll wenigstens knapp darauf hingewiesen werden, daß der von Niekisch während der Weimarer Republik, spätestens seit 1926 verfolgte „national-bolschewistische Kurs“ ein Zusammengehen mit der sowjetischen Schutzmacht auch nach 1945 nahelegte. Schüddekopf benennt als „entscheidende(n) Gesichtspunkt der Nationalrevolutionäre: sie wollten Zeittendenzen, die Marxismus und Kommunismus bisher vertreten hatten, aufgreifen und im Interesse der Nation verwenden“ (Schüddekopf 1973, 264). Die von Niekisch begründete und maßgeblich ideologisch geprägte „Widerstandsbewegung“ innerhalb des nationalbolschewistischen Spektrums „richtete sich vor allem, als negativer Protest, gegen die Tendenz der Republik, sich in Westeuropa einzurichten. Ihr positives Ziel war, daß sich Deutschland für den Osten entscheide“ (Schüddekopf 1973, 370), dies allerdings nicht im Sinne des kommunistischen Internationalismus oder gar in der Übernahme des Marxismus-Leninismus, sondern vor allem in außenpolitischer Orientierung als vermeintlich einzigem Weg, Deutschland wieder Weltgeltung als Nation zu erkämpfen. „Der Weg heißt Klassenkampf, das Ziel ist die Nation“ (Schüddekopf 1973, 375). Ideologisch teilte Niekisch mit dem Marxismus-Leninismus freilich die absolute Verwerfung der liberalen bürgerlichen Gesellschaft und Demokratie und die taktische Orientierung an der Arbeiterklasse, ohne deren Mobilisierung die bis 1933 ständig geforderte revolutionäre Systemveränderung nicht erfolgen könne; damit wollt er erreichen: „den totalen Staat, die Planwirtschaft, das russische Bündnis, den antirömischen Effekt, die Abwehr gegen den We-
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sten, gegen das Abendland, den unbedingten Kriegerstaat, die Armut, das Großhungern“ (Schüddekopf 1973, 372) – also alles in allem die Tilgung der ,Schmach von Versailles‘ im Äußeren und die Überwindung der pluralistischen Gesellschaft zugunsten einer kriegerischen, durch Männerbünde oder ,Orden‘ elitär geführten nordischen Gemeinschaft. Aber mußte solch ein glühender deutscher Nationalist sich 1945 angesichts des Verlustes der Souveränität und der Besetzung durch fremde Mächte nicht gegen diese stellen, statt sich auf ihre Seite zu schlagen? Das im Verhältnis zu seinen früheren Positionen scheinbar widersprüchliche Verhalten klärt sich auf, wenn man am Beginn des zweiten Bandes seiner Memoiren liest, wie Niekisch – der stets in geradezu hegelianischer Manier die große weltgeschichtliche Einordnung pflegte – die neue Lage einschätzte. „Bereits im Jahre 1945 war mir vollkommen bewußt, daß es von nun an eine echte deutsche Politik nicht mehr geben werde. Den deutschen Westen, den die drei westlichen Siegermächte besetzten, sah ich unrettbar den Tendenzen der Weltreaktion verfallen. Aber auch dem deutschen Osten gab ich keine große Hoffnung. Ich sah, auch hier war die Zeit deutscher Entschlüsse, deutscher Planungen, deutscher Selbstbestimmung vorbei. Eine Zukunft schien für mich nur noch die allgemeine Sache des russisch-asiatischen Ostens selbst zu haben. Hier gab es, auch wenn man alles verloren glaubte, noch ein Letztes zu tun, auch wenn es das Schwerste war: Da ich von dem Gedanken durchdrungen war, das deutsch-europäische Kulturgut müsse in den bolschewistischen Osten hinübergerettet werden, sah ich ... eine dringende Notwendigkeit darin, zuvörderst ein gesamtdeutsches Kulturbewußtsein lebendig zu halten“ (Niekisch 1974, Bd. 2, 26). War also einem deutschen Nationalismus durch die vollständige Niederlage Deutschlands im Sinne von Hegels Gedanken über die ,Geschichte als Weltgericht‘ politisch die Grundlage entzogen, so blieb doch als Kontinuität der „anti-römische“ Affekt. Das versteht man nur, wenn man Niekischs geschichtsphilosophische Spekulation kennt, nach der die USA in der Moderne jenen Universalismus repräsentieren, gegen den sich die deutschen Germanen wie weiland gegen das antike Rom in ihrer partikularistischen Eigenständigkeit zu behaupten hatten (Niekisch 1946, 5f). In der unmittelbaren Nachkriegszeit, befreit aus achtjähriger Haft und gesundheitlich schwer geschädigt, entfaltet Niekisch wiederum ein breites Spektrum politischer und publizistischer Tätigkeit. 1946 erscheint im neugegründeten Aufbau-Verlag zunächst seine Schrift „Deutsche Daseinsverfehlung“; sie ist durch die sowjetische Zensur um ihr Schlußkapitel gekürzt, weil dieses dem sowjetischen Zensuroffizier mit der Behauptung, Deutschland habe als selbständiger Staat zu existieren aufgehört und sei „nur noch ein geographischer Begriff“, allzu defätistisch erschien, wie Niekisch in seiner Autobiographie berichtet (Niekisch 1974, 58). Solchermaßen auf Linie gebracht erfährt sie noch im selben Jahr bereits eine zweite Auflage. 1948 erscheint ebendort ein zur selbständigen Publikation ausgearbeiteter Vortrag „Zum Problem der Freiheit“, der
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ursprünglich 1947 in der Berliner Gruppe des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ gehalten wurde und in dem Niekisch nun die Gelegenheit findet, auch seine politischen Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Hier soll weniger die in der ersten Schrift wie bei so vielen anderen ähnlichen Publikationen auch erfolgende genealogische Konstruktion der „geschichtliche(n) Bahn ...und ihre(r) Logik“ (Niekisch 1946, 4), die nach seiner Meinung zu Hitler führten, sondern vielmehr die bereits in der ersten Schrift angedeutete, dann im zweiten Text ausgebreitete Theorie der Freiheit und endgültigen Befreiung durch Planung im Zentrum stehen. Diese post-, nein, wie sich zeigen wird, im Theoretischen zumindest strikt anti-bürgerliche Freiheitstheorie entwickelt Niekisch auf dem Hintergrund des im Vergleich zur anglo-amerikanischen und französischen bürgerlichen Revolution herausgearbeiteten preußischen Sonderwegs beziehungsweise des „preußisch durchtränkten Pangermanismus“ (Niekisch 1946, 83). Seit dem Bündnis mit dem Bund Oberland war, wie Schüttekopf zeigt, Niekisch selbst bis 1933 bereit, dieses ideologische Konstrukt als eine Quelle seiner nationalbolschewistischen Programmatik einzuverleiben – aber dann hatte, spätestens mit Hitlers und Hindenburgs Inszenierung des „Tags von Potsdam“, die „Verbrecherorganisation“ der NSDAP unter der Führung ihres „in die Politik verschlagene(n) ‚Schinderhannes‘ “ (Niekisch 1946, 83) diese Traditionslinie mißbraucht und endgültig verschlissen. Aber noch in seiner Kritik von Preußens Rolle in der deutschen Entwicklung nach 1945 erkennt man einige Motive aus Niekischs Programmatik von vor 1933 kaum verschlüsselt wieder. Diese Entwicklung war in den Augen Niekischs „nicht eigentlich ein unvorhergesehenes Ereignis oder ein geschichtlicher ‚Fehltritt‘; es war eine Endstufe“ (Niekisch 1946, 83). Eine „Endstufe“ nämlich jener Entwicklung, die unter Preußens Friedrich II. ihren Anfang nahm und zum Prinzip der preußisch dominierten Politik in Deutschland wurde. Orientiert zunächst am Vorbild Ludwig XIV. und im „antiliberalen Gegensatz“ zu England entwickelte sich die preußenspezifische Vorstellung von „Realpolitik“: „Die folgenschwerste dieser Konsequenzen war wohl die, daß nicht eigentlich gegen die liberale Idee eine gleich überzeugende und überwältigende andere Idee entwickelt, sondern mit dem Glauben an die Kraft der Idee überhaupt gebrochen und keck das Bekenntnis zur nackten und bloßen Gewalt, zum Schwert, verkündet wurde“ (Niekisch 1946, 20). Was Niekisch also an Preußen bewundert, ist die antiliberale, anti-westliche Sonderentwicklung und der rücksichtslose Machtwille; was ihm fehlt, sind Ideale oder ,geistige Prinzipien‘, ohne die es geschichtlich zwangsläufig zur „Daseinsverfehlung“ einer reinen Machtpolitik ohne Ziele kommen müsse. Bis in die Wortwahl zieht Niekisch die Parallele zwischen Friedrich II. und Hitler, wenn er schreibt: „Wie eine Bestie überfiel dann schließlich auch der junge Friedrich Österreich; er wollte Schlesien als Beute an sich reißen, wie ein Raubtier nach einem guten Bissen schnappt“ (Niekisch 1946, 21). Und: „der Erfolg ist der einzige Richter, vor dem die Gewalt sich
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beugt; nichts hängt davon ab, ob etwas wahr, gut oder gerecht ist, alles davon, ob es Erfolg bringt und Erfolg hat“ (Niekisch 1946, 22f). So wird Friedrich II., der Autor des „Antimachiavell“ als zynischer Machiavellist und zugleich als Modell Hitlers entlarvt. Eine solche Kritik ist auf den ersten Blick ziemlich überraschend, weil, wie Jürgen Rühle in seinem von Sympathie getragenen einfühlsamen Porträt Niekischs gezeigt hat, zumindest in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren Niekisch selbst einen rücksichtslos „realpolitischen“ Machtdiskurs gepflegt hat, in dem Moral nur als demagogisches Instrument zur Mobilisierung von Unterstützung, aber nicht selbst als Begründung der Politik dienen konnte. Er zitiert Niekisch – leider ohne exakte Quellenangabe – folgendermaßen: „‚Moralische Politik‘ ist ein Widerspruch in sich. Es gibt zwar eine politisierende Moral, die aber für jedes Volk, dessen Geschick davon bestimmt wird, ein Unglück ist; niemand erkennt deren Unhaltbarkeit klarer als der Politiker. So erfordert seine Situation: daß er die Ehrfurcht vor dem Moralischen stärke, daß er selbst als moralisch gelte – anders würde sich sein Einfluß verflüchtigen –, daß er aber amoralisch – nicht unmoralisch – handele, d.h. nur aus Beweggründen, die außerhalb des Moralischen liegen“ (Rühle 1963, 202f). Die Perspektive von Niekischs Kritik am „Antimachiavell“ ist also nicht moralisch begründet und hat erst recht nichts zu tun mit einer Identifikation mit den von Ludwig XIV. und seinen Nachfolgern in Frankreich und Preußen bekämpften Vertretern des bürgerlichen Liberalismus. Dessen Freiheitsidee reduzierte sich nach Niekischs bewußt verkürzender Sicht auf die Behauptung: „Der Gentleman hatte sich gegen die Staatsgewalt die Unantastbarkeit seiner Privatmachtsphäre, das ungebundene Verfügungsrecht über sein Eigentum erkämpft“ (Niekisch 1946, 25). Zu ihm gehöre institutionell der Parlamentarismus, der „seinem Wesen und seinem Ursprung nach mehr eine liberale als eine demokratische Einrichtung“ sei, nämlich „eine Ausgleichsstelle, auf deren Boden sich Interessengegensätze von verwandtem Stärkegrad schiedlich und friedlich vertragen“ (Niekisch 1946, 27). Man muß Semantik und Ton der Liberalismus- und Parlamentarismuskritik, etwa Carl Schmitts (Schmitt 1923), genau in Erinnerung haben, um in den Begriffen wie „Ausgleichstelle“, in der Insinuierung, der Parlamentarismus diene allein der Interessenpolitik, und selbst noch in dem Hinweis, es gehe in ihm stets „schiedlich und friedlich“ zu, die klassischen Topoi der antiliberalen Parlamentarismus- und Demokratiekritik wiederzuerkennen, in deren Gebrauch sich nicht nur in der Weimarer Republik linke und rechte Positionen zusammenfanden oder zumindest überlappten. Diesem Zerrbild des Liberalismus wird von Niekisch historisch der aus Frankreich stammende „Demokratismus“ gegenübergestellt; auch in dieser Bezeichnung ist die verächtlichmachende Absicht erkennbar. Der wolle „alle auf gleichen Fuß bringen“ (Niekisch 1946, 26) und sei „die Gesinnung mäßiger und kleiner Privateigentümer, begrenzter Individuen“; die für sie proklamierte „Gleichheit des Rechts läuft zuletzt doch auf die Wahrung des schlechthin allen Bürgern gemeinsamen
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bürgerlichen Grundinteresses hinaus ... dessen treuhänderische Vertretung in die Hand eines einzigen Sachwalters gegeben werden kann, der als Cäsar oder Tyrann nach der Gesamtmacht strebt“ (Niekisch 1946, 27). So ist auf nur drei Seiten en passant die in der Kapitelüberschrift als „legitimistische Donquichotterie“ (Niekisch 1946, 25) bezeichnete bürgerliche Freiheits- und Demokratievorstellung in manipulativer Ausnutzung einiger kritischer Teilwahrheiten im Ganzen denunziert und im Fortgang der historischen „Logik“, die in dieser Veröffentlichung über Bismarck und Wilhelm II. direkt zu Hitler führt, mindestens implizit gezeigt, daß es auf dem Boden einer liberaldemokratischen Republik keine ausreichenden Abwehrkräfte gegen die Machtübernahme eines „Diktators oder Tyrannen“ gäbe. Was im Vergleich zu Abuschs Rekonstruktion auffällt ist freilich die Tatsache, daß Niekischs Kritik an Lasalle (Niekisch 1946, 50) und der späteren Sozialdemokratie (Niekisch 1946, 74f) eher beiläufig und mild daherkommt und die Zeit nach 1918 überhaupt ausklammert. In seiner Schrift „Zum Problem der Freiheit“ geht es Niekisch nun darum, einerseits zu zeigen, daß es in der Geschichte ausgerechnet der bürgerliche Freiheitsgedanke ist, den man für die jüngste „Entfesselung des Chaos“ (Niekisch 1948, 15) verantwortlich machen muß, und daß es einzig schließlich „der faschistische Diktator ist“, der „als der freieste Mann seiner Zeit“ (Niekisch 1948, 21) das ihr zugrundeliegende „Individualitätsprinzip“ (Niekisch 1948, 14) verwirklicht. Dem auf dem Gedanken individueller Freiheit aufgebauten bürgerlichen Liberalismus ginge es – hier denkt Niekisch ganz in der Tradition von Marx’ und Engels’ Kritik des bloß partikularen Gehalts bürgerlicher „Sonderfreiheiten“ (Niekisch 1948, 20) – lediglich um „Wirtschaftsfreiheit“ und „Gedankenfreiheit“; Letztere sei „der Inbegriff der formalen Verhaltungsweise, mit der man praktisch in Wirtschaft und Gesellschaft seine Erfolge sucht“ (Niekisch 1948, 17). Woran sich Niekischs eigentliche Kritik über die übliche marxistische Kritik am unterstellten bürgerlichen Klassencharakter der Freiheit hinaus entzündet, zeigt aber, daß es ihm selbst nicht um eine Kritik der politischen Ökonomie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geht, sondern daß sie im Ansatz wie Argumentationsziel politisch begründet ist. Nach Niekisch kennzeichnet die „bürgerliche Gesellschaft“, die im wesentlichen von ihm in groben marxistischen Strichen auf die bekannte Weise bezeichnet ist, „daß ihr ein eigentliches Ordnungsprinzip überhaupt nicht zugrunde liegt“ (Niekisch 1948, 14). Noch die „ständische Gesellschaft hatte ihren Ordo gehabt, und eben ihm war unter dem Zeichen der Freiheitsidee aufgekündigt worden“ (Niekisch 1948, 14f). Die auf dem Individualitätsprinzip beruhende „bürgerlich verstandene Freiheit setzt kontinuierlichen Ordnungszerfall voraus, sie ist, wie die Radioaktivität Energie, die im Ablauf eines Zerfallsprozesses freigesetzt wird. Lebt die individuelle Freiheit vom Ordnungsverzehr, dann schwindet das Gesellschaftliche dahin. Die Unordnung der reinen Natur- und Triebhaftigkeit, das Gesellschaft aufhebende Chaos, das Unmenschlich-Bestialische, brechen herein. Das laissez-faire, laissez aller war kein Ordnungsprinzip, sondern der selbstberuhigende
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Trost, daß es der Sinn und die Logik, die in der Welt steckten, zu eigentlichem Chaos gar nicht erst kommen lassen“ (Niekisch 1948, 15). Es ist also nach Niekischs eigenwilliger Lesart – in der freilich viele bekannte Topoi konservativer und reaktionärer Modernekritik mitschwingen – vor allem die unterstellte Unfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, eine auf ,echter‘ Gemeinschaft und Kollektivität beruhende stabile „Ordnung“ zu garantieren, weshalb „die Geschichte der bürgerlichen Entwicklung eine Geschichte permanenter Revolutionen“ und der „Anarchismus ... die unvermeidliche Konsequenz der bürgerlichen Freiheitsidee sei“ (Niekisch 1948, 15f). Ohne solche „Ordnung“ aber könne nach der bekannten Lesart konservativer Theorien ein Volk auch keine geschichtliche Rolle spielen oder langfristig seine Existenz sichern, müsse also der „Daseinsverfehlung“ anheimfallen (dazu Lenk 1989, 139-169). Um nun aber sein oben bereits angesprochenes Argumentationsziel anzupeilen, wonach bürgerliche Freiheit logisch unvermeidlich zur Diktatur und Tyrannei führt, ist Niekisch bereit, auch offenkundige Gedankensprünge und Widersprüche logischer Art hinzunehmen. Die eben noch wegen ihrer angeblichen, auf dem Individualismus beruhenden Zersetzungslogik zur Ordnungsstiftung unfähige bürgerliche Gesellschaft ist als Partei im Klassenkampf und zur Unterdrückung der Massen wiederum jederzeit bereit und in der Lage, genau diesen Subjektcharakter einer „kollektiv gebundene(n) Gemeinschaft“ anzunehmen. Ihre Freiheit, so Niekisch, „wird beschränkt, ja aufgehoben, sobald sie sich gegen den Bestand der bürgerlichen Ordnung kehrt; diese Ordnung ist in ihrer Selbstbehauptung so unerbittlich, wie es nur irgendeine kollektiv gebundene Gemeinschaft zu sein vermag“ (Niekisch 1948, 18). Diese Selbstbehauptung richtet sich selbstredend gegen die Massen, „die, weil sie es zu finanzieren haben, unterhalb des bürgerlichen Niveaus bleiben müssen“ (Niekisch 1948, 18); wo sie aufbegehren und den vorgegebenen universellen Charakter der bürgerlichen Freiheitsversprechen auch für sich einklagen und damit die „bürgerlichen Privilegien“ bedrohen, erweist sich erst der wahre Charakter der bürgerlichen Freiheitsidee als „Sonderfreiheit“ die „den Lärm nicht wert (ist), der nun um sie erhoben wird, und zwar um so weniger, als sie seit etlichen Jahrzehnten den menschlichen Fortschritt im allgemeinen bösartig und hartnäckig hintertreibt“ (Niekisch 1948, 20). Und nun folgt eine schlechte hegelianische Volte, die man ungeachtet ihrer rhetorisch dialektischen Konstruktion und bemühten Mimikry Niekischs nicht den großen Vorbildern Hegel und Marx anrechnen sollte: „Aber hier“, schließt Niekisch unvermittelt an den zuletzt zitierten Satz an, „entsteht eine wahrhaft paradoxe Lage. Das Prinzip der individuellen Freiheit ist an seinem letzten Punkt angelangt. Ein Individuum hat alle Fesseln abgeworfen. Es konnte jedoch nur geschehen, während die übrigen Individuen alle Freiheit verloren ... Für die Freiheit, mit der sich das auserlesene Individuum austobt, haben alle übrigen Individuen die Kosten zu tragen. ... Der faschistische Diktator ist der freieste Mann seiner Zeit. Er steht jenseits aller Beschränkung, zu jeder Willkür
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ist er befugt, er ist im Rahmen seines Staates und Volkes allmächtig. Aber so total frei er ist, so total unfrei ist sein Volk, das er beherrscht. Er rafft alle Freiheit so ausschließlich an sich, daß für keinen Bürger mehr etwas davon übrigbleibt ... der fessellosen Freiheit des einen steht die totale Unfreiheit der übrigen Menschheit gegenüber. Das ist der dialektische Umschlag: daß im Namen des Freiheitsprinzips die Menschheit aufs äußerste versklavt wird“ (Niekisch 1948, 20f). Man kann aus dieser Passage förmlich herauslesen, wie Niekisch in dem Bestreben, auch stilistisch den großen Vorbildern nachzueifern, von seinen eigenen Worten überwältigt inhaltlich mitgerissen wird, wie er von der immerhin noch irgend empirisch rückgekoppelten Konstellation Diktator-Volk gleich zur Sache der Menschheit übergeht, die angeblich dem Diktator untersteht. Bemerkenswert an dieser pseudohistorischen Konstruktion ist weiterhin, daß sie um der Reinheit der ,Dialektik‘ willen die These von der Einmann- oder Alleinherrschaft Hitlers impliziert und damit die ansonsten realistischere politiksoziologische Sicht auf die Klassen- oder Massenbasis der nationalsozialistischen Herrschaft preisgibt. Unter dem kontingenztheoretischen Gesichtspunkt ist noch einmal festzuhalten, daß Niekisch hier – auch hier im Widerspruch zu seiner anderswo vertretenen Logik des Klassen- und Völkerkampfes mit ungewissem Ausgang – 1948 bemüht ist, die nationalsozialistische Herrschaft als notwendige Folge des individualistischen Freiheitsprinzips und bürgerlichen Privateigentums darzustellen, wie „die Losreißung des Individuums aus dem großen Zusammenhang (dem mittelalterlichen Ordo, M.G.), der stürmische Vormarsch des Individuums in die Unabhängigkeit radikaler Isolierung unvermeidlich mit sich brachte, daß er auch alle Verantwortlichkeit für gemeinschaftliche Notwendigkeiten von sich abschüttelte. In dem Maße, in dem es auf dem Wege der Freiheit voranschritt, entfernte es sich aus dem Bereich aller Kollektivität“ (Niekisch 1948, 21f). In diesen implizit wertenden Formulierungen zeichnen sich ex negativo bereits die positiven Konturen der anschließend propagierten kollektiven neuen Freiheitsidee ab. Deren Erkenntnis blieb historisch freilich der „Arbeiterschaft“ vorbehalten, die „diese Konsequenz des individuellen Freiheitsprinzips schon früh gefühlt“ hat und deren „Freiheitskampf“ sich angeblich „gegen den liberalen, individualistischen Bürger“ richtete (Niekisch 1948, 24). Man sieht auch hier die nur auf den ersten Blick marxistische Konstruktion des Klassenkampfes, dem es bei Niekisch nicht wie bei Marx auf dem Weg über die klassenlose Gesellschaft letztlich um die „Rückkehr zur Persönlichkeit“ für alle Individuen geht (Kolakowski 1977, 469), sondern um die Verwirklichung einer herrschaftlich straff organisierten Volksgemeinschaft, die sich im welthistorischen Überlebenskampf zu behaupten weiß. Jürgen Rühle faßt diese weit über jede realpolitische Zielsetzung hinausweisenden Visionen von Niekischs politischer Konzeption so zusammen: „Stellt man den nationalen Aufbruch in den Mittelpunkt der Politik, so bedarf es einer Gesellschaftsordnung, die alle Kräfte diesem Zweck dienstbar macht. Es gilt, gewissermaßen im Stechschritt durchs Leben
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zu gehen. Es gilt, alle Ansprüche des Individuums, alle Anfechtungen der Zivilisation, alle Anwandlungen der Humanität hinwegzuwischen. Nicht Freiheit, sondern Ordnung, nicht prometheischer Trotz, sondern Gehorsam, nicht Glück, sondern Zucht, nicht Wohlergehen, sondern die Askese des Feldlagers tut not ... ‚Sparta – Potsdam – Moskau‘ wählte Niekisch zur Losung“ (Rühle 1963, 205f). Was ihn an der bolschewistischen Revolution und Machtbehauptung faszinierte, war nicht im Sinne des Marxismus ihr klassenmäßiger Gehalt, sondern die Kraft der gerade durch eine kleine Elite erreichten gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung und die unter der Diktatur vermeintlich gestiftete Ordnung. Was die „proletarische Freiheit“ radikal von der bürgerlichen unterscheidet, ist die Idee der Organisation und der Planung. „Gerade die Vereinzelung treibt den Proletarier in den Ruin. Sein Freiheitskampf beginnt damit, daß er sich organisiert, sich selbst an Regeln, Normen, Statuten bindet. ... Erst der Arbeiter begriff die innere Konsequenz der Humanitätsidee, daß sie nämlich jedem, der Mensch sein will, die Pflicht auferlegt, allen anderen darin Beistand zu leisten, auch ebenfalls Mensch werden zu können“ (Niekisch 1948, 24). Mit der „Humanitätsidee“ taucht im Werk von Niekisch nach 1945 ein neuer Topos auf, der in seinem universalistischen Gehalt ,römischen‘ Zuschnitts bis 1933 sicherlich noch seinem Verdikt unterfallen wäre, der ihn aber an die Aufhebungs- und Verallgemeinerungslogik des Marxismus und Marxismus-Leninismus seiner Zeit, wie sie sich auch im Werk von Abusch zeigte, anschlußfähig machte. Auch bei dem obigen Zitat glaubt man eine Anlehnung an den kategorischen Imperativ Kants und seine Pflichtenethik zu vernehmen, dem Niekisch 1946 noch vorgeworfen hatte: „das Kategorische des sittlichen Imperativs schaltet wie auf dem Kasernenhof jede Widerrede aus“ und in dessen „Rigorismus“ er damals kritisch den „preußische(n) Kern“ ausmachte (Niekisch 1946, 41f). Aber bei genauem Hinsehen handelt es sich bei der „Humanitätsidee“ nicht um ein aus der Vernunft abgeleitetes allgemeines Sittengesetz, sondern um das geschichtsphilosophisch abgeleitete teleologische Prinzip, stets so zu handeln, „als ob von seinem Handeln oder von seiner Untätigkeit die Wendung des Schicksals der Welt abhinge“, wie es der junge revolutionäre Georg Lukács 1919 in seiner Version des ,kategorischen Imperativs‘ formulierte (Lukács 1975, 50). „Will die Masse menschlich existieren, kann sie es nur noch tun, indem sie sich gegen das bürgerliche Freiheitsprinzip schützt. ... Die Befreiung der Massen vollzieht sich, indem dem freien bürgerlichen Individuum Boden abgerungen wird. Sie ist ein solidarischer und die ganze Masse umfassender Akt. ... Es handelt sich um ein umfassendes organisatorisches Werk, diese über die ganze Masse sich erstreckende Hebung des leiblichen und geistigen Standards zu erreichen ..., daß in dem Augenblick, in dem die Humanisierung der Masse als Aufgabe ergriffen wird, die Stunde der Planidee geschlagen hat“ (Niekisch 1948, 25). Ganz wie in den ungleich prominenteren Schriften Karl Mannheims oder Joseph A. Schumpeters aus denselben Jahren und der späteren Technokratie-
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These Helmut Schelskys, die freilich in Hans Freyers „Herrschaft und Planung“ (Freyer 1933) schon ihren Vorläufer besitzt, geht auch Niekisch von der ,Wertneutralität‘ des ,technischen Prinzips‘ aus: „Der Planmechanismus, die gesellschaftstechnische Konstruktion, ist, wie jede technische Apparatur, wertneutral; sie kann zum Guten wie zum Bösen dienen ... der Gesellschaftsorganismus wird rationalen, streng zweckmäßigen Gesichtspunkten unterworfen. ... Die Planung ist angewandte Gesellschaftstechnik“ (Niekisch 1948, 26) und angesichts ihrer vermeintlichen Wertneutralität kann „ihre hochkapitalistische Spielart von antihumanistischen, ihre sozialistische von humanistischen Tendenzen bestimmt“ werden (Niekisch 1948, 27). Letztere sah Niekisch nach 1945 jedenfalls zeitweise und partiell durch die Politik der SED annähernd verwirklicht, die aber gewissermaßen nur die auf sozialpolitische Besserstellung der Massen reduzierte Version seiner der gesamgesellschaftlichen Mobilisierung dienenden Planutopie repräsentierte, hingegen in ihrer kleinbürgerlich-proletaroiden Lebensweise und ihrem geistigen Horizont kaum noch jenem „heldische(n) Mensch“ entsprach, von dem Niekisch früher behauptet hatte, nur er könne „Deutschland befreien“ (Rühle 1963, 206). Diese weitgesteckten geschichtsteleologischen Spekulationen sind in der Schrift von 1948 nur noch in Spurenelementen vorhanden und es ist schwer zu entscheiden, ob es sich hier hier um einen Akt der politischen Anpassung oder um Resignation handelte. Jedenfalls fügen sich die nunmehr gefundenen Formulierungen über die „umsichtige Daseinsorganisation und weitausschauende Lebensfürsorge“ durch zentrale Gesellschaftsplanung auch und gerade wegen ihres anti-individualistischen Duktus nahtlos in die Politik und Programmatik der SED ein: „Das Volk, sein Grund und Boden, die Schätze der Natur werden als eine Einheit gedacht. ... Die technische Ausrüstung und Organisation wird ... auf den Höchststand gebracht werden. Es geschieht nach einem Plan, der Fehlleistungen, Energieverschwendung auf ein Mindestmaß begrenzt und das Höchstmaß an Effekt erzielt. Die Produktion wird auf den Bedarf der Masse ausgerichtet. Der Absatz und die Verteilung sind organisiert, um jeden Bedarf zu decken. Die menschliche Arbeitskraft wird fürsorglich betreut. ... Die technische Apparatur bleibt in der Kontrolle der Verwaltung der Gesamtheit; keine undisziplinierte Sondermacht vermag das Allgemeinwohl und Allgemeininteresse zu schädigen. ... Der Plan ist Richtschnur für die Gesamtheit wie für den einzelnen. Er ist das Lebensgesetz des Ganzen“ und garantiert so die angestrebte „umsichtige Daseinsorganisation und weitausschauende Lebensfürsorge“ (Niekisch 1948, 35). Es wäre bloße Besserwisserei des Nachgeborenen, nun voller Häme auf die bekannten tatsächlichen Effekte der Umsetzung dieses Progamms in der diktatorischen Einparteienherrschaft der Geschichte der DDR hinzuweisen; viele und aus ganz unterschiedlichen Lagern haben damals aus der Not und Erfahrung der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der Erinnerung an individuelle Not und das wachsende Elend – schließlich unter den Bedingungen der ,freien Marktwirtschaft‘ – in den letzten Jahren der Weimarer Republik den Glauben
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Niekischs auch und gerade wegen ihres anti-individualistischen Duktus geteilt und insofern anfangs auch der Programmatik der SED geglaubt. Auch im Westen war die Hoffnung auf eine von Parteienhader und Gruppenegoismen konfliktfreie Versorgungsgesellschaft anfangs weit verbreitet, aber die Mehrheiten in den westlichen Gewerkschaften und der SPD unterschieden sich in ihrer Gesellschaftsvorstellung eher dadurch, daß sie gesellschaftlichen Pluralismus und individuelle Freiheit betonten. Wie aber dies mit der bei Niekisch propagierten Versorgungsplanung eines als „Einheit“ gedachten Volkes, in der der „Plan ... Richtschnur ... für den Einzelnen“ ist, zusammengehen könnten, hat schließlich bis heute noch keiner gefunden – aber dieses normative Problem hatte Niekisch aufgrund seines extremen Haß’ auf jeglichen politisch wirksamen bürgerlichen Individualismus ja gerade nicht. In der entstehenden „sozialistischen Planordnung ist die bürgerliche Freiheitsidee ein Archaismus“, demgegenüber ist die „proletarische Freiheit“ „Vorstufe der neuen Freiheitsidee“ und als solche „keineswegs grundsätzlich der ‚Tod jeder Individualität‘ “ (Niekisch 1948, 37); so versucht Niekisch der ja auch hier bereits angemerkten Kritik an seinem Kollektivismus zu begegnen. Die Art der Verteidigung, die dabei herauskommt, verwirft freilich mit den negativen Freiheiten „von etwas“ (Berlin 1969) gerade den liberalen Grundgedanken, daß das Individuum bei allem Recht zur und Notwendigkeit der Beteiligung an der Gesellschaft und Politik nicht ausschließlich in dieser aufgehen dürfe, um seine Individualität nicht zu verlieren. Demgegenüber sieht Niekisch den „Sinn der Individualität ... darin, das Kollektive auf eine besondere und gesteigerte Weise zu repräsentieren. Richtig verstandene Individualität formt sich nicht auf dem Weg der Losreißung von der Gemeinschaft. ... Die Individualität schafft sich Freiheit, indem sie für die Vervollkommnung der Gemeinschaft wirkt, und sie erhält sich Freiheit, solange sie sich in ständigem Wagnis und unausgesetzter Leistung für das Wohl der Gemeinschaft behauptet. Das Individuelle gehört hiermit zu den Weisen, in denen der planvoll organisierte Ordnungszustand der Kollektive zur Reife und Vollendung gelangt“ (Niekisch 1948, 37f). Ein solcher Versuch, die Differenz zwischen dem Individuum als je eigenständiger und unwiederholbarer Existenz und der Gemeinschaft oder dem Kollektiv vollständig und mit dem normativen Hintersinn begrifflich zu vermitteln, daß eine Rechtsposition des Einzelnen gegen das Kollektiv praktisch undenkbar wird, kam den politischen Bedürfnissen der SED-Führung beim Aufbau der Einparteiendiktatur sicherlich sehr entgegen. Niekisch nutzt ihn zugleich, um in der damals aktuellen Kampagne der kommunistischen Parteien gegen den französischen Existentialismus Sartres, an der sich auch Georg Lukács mit Veröffentlichungen in der sowjetisch besetzten Zone (in: Lukács 1951) unrühmlich beteiligte (Greven 1994, 123ff), einen Seitenhieb unterzubringen. Danach mußte Sartres Existenzialanalyse wie auch sein damals gespieltes Theaterstück „Die Eingeschlossenen von Altona“ wie die normative Apologie des berühmten Satzes „Die Hölle, das sind die anderen“ erscheinen und als aktueller politischer
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Antagonismus zum Kollektivismus der kommunistischen Parteien verstanden werden. Während Niekisch immerhin noch formulierte, die Umsetzung der gesamtgesellschaftlichen Planung solle die „Mitarbeit, die Mitverantwortung und Mitbestimmung aller gewährleisten“ (Niekisch 1948, 35), hatte die Gruppe Ulbricht längst mit der innerparteilichen Durchsetzung des „demokratischen Zentralismus“ in der SED begonnen – den sie unter den eingetretenen KPDKadern klandestin sowieso niemals außer Kraft gesetzt hatte –, der solche Beteiligung einforderte und zugleich zur politisch folgenlosen Partizipation verurteilte. Man könnte mit Rühle, Schwab-Felisch und anderen dazu neigen, die Situation des alten und zunehmend erblindeten Niekisch nach seiner Abservierung durch die SED als „tragisch“ zu empfinden; er selbst tendiert dazu, sich als Verfolgter unter drei Regimen darzustellen. Was dabei zögern läßt, sind die unübersehbaren und in den letzten Jahren lediglich abgeschwächten, aber nicht überwundenen Affinitäten und Gemeinsamkeiten mit jenen totalen und totalitären Konzepten von Politik, die er zeitlebens und vergeblich bekämpfte; so als hätte ihn am Ende lediglich politischer Mißerfolg davor bewahrt, ihnen praktisch gleich zu werden. Am Ende entsteht nach seinem Tod ein makabrer Konflikt zwischen dem von Armin Mohler als „Apologeten der Niekisch-Orthodoxie“ (Mohler 1980, 9) verspotteten Freundeskreis der ehemaligen Kampfgenossen wie Joseph Drexel, in dessen „Festschrift“ der Kampf des Widerstandskreises seit 1926 als alleiniger Widerstand gegen Hitler schamlos umgedeutet wird, ohne den gleichzeitigen Kampf gegen die Weimarer Republik und ihre liberaldemokratische Verfassung überhaupt noch zu erwähnen (Gesichtskreis 1956, 213), und Mohler und Sauermann, die mit größerem Recht, aber politisch zweifelhaften Motiven, Niekisch als „unbekannten Propheten“ „nationalistischer Revolutionäre in allen Teilen der Welt ... unter roten oder – seit dem der Islam sich neuerlich als Sprengsatz erweist – grünen Fahnen“ (Sauermann 1980, 160f) gegen die Versuche, „Niekisch zu einem harmlosen linken Sozialdemokraten und Humanisten zu stilisieren“ (Mohler 1980, 9), zu propagieren versuchen. Faszinierend und letztlich unbegreiflich bleibt an dieser Biographie zu sehen, wie ein in geistigen Dingen stets auf seine Unabhängigkeit pochender Intellektueller zugleich einen lebenslang Kampf für politische Ziele führt, die die objektiven Bedingungen dieser Unabhängigkeit in Zukunft zerstören müßten. Bedenkt man allerdings, was Niekisch über den Diktator als das einzig freie Individuum im totalitären System schrieb, so böte sich eine logisch denkbare Auflösung des scheinbaren Widerspruchs an: der Intellektuelle, der sich – zumindest unbewußt – selbst an die Spitze der total mobilisierten Gesellschaft phantasiert.
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Helmut Schelsky: Freiheit als „Summe aufbauender Kräfte“ einer „sozialen Planwirtschaft“ Daß Helmut Schelsky angesichts seiner steilen Karriere im nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1933 und 1945 bereits seit etwa 1950 wieder zu den einflußreichsten Sozialwissenschaftlern und „Strippenziehern“ bei Berufungen gehörte, daß später sein Einfluß sogar so weit reichte, daß er bei der Gründung der Universität Bielefeld der Soziologie eine in Deutschland einmalige Sonderstellung verschaffte, ja selbst, daß er sich in den siebziger Jahren gegen diese Disziplin als „Anti-Soziologe“ (Schelsky 1981b) publizistisch in Stellung brachte, hat im großen Kreis seiner ehemaligen Schüler der dort von vielen gepflegten Hagiographie (Kob/Messelken 1987) keinen Abbruch getan. Hier wird auch die Zeit als Aktivist des Nationalsozialismus, die Schelsky selbst mit der zweifelhaften Formulierung „Anhänger mit sehr subjektiver Deutung seiner Inhalte“ zugleich einbekennt wie bemäntelt (Schelsky 1981a, 9), als „idealistischverblasen“, „naiv“ und deshalb angeblich „in die Aufbruchstimmung jener Zeit mit ihrer moralischen Verachtung des arglos-biederen und – besonders in der Wahrnehmung der idealistisch Hochgesinnten – tief korrupten Parteiensystems“ passend verklärt (Messelken 1987, 8f). Schelsky, Mitglied der SA und des NSDStB seit 1932 und jahrelang dessen überregionaler Schulungsleiter und Propagandist, der zeitweise auch als Lektor im Amt Rosenberg arbeitet (Schäfer 1997, 649), schreibt zum Beispiel als solchermaßen „idealistisch Hochgesinnter“ in Schulungsheften des NSDStB Sätze wie die folgenden: „Wahrer Sozialismus ist es, Leute, die für das Volk ihre Leistung nicht erfüllen oder es gar schädigen, auszuschalten oder sie sogar zu vernichten. Eine sozialistische Tat ist so z.B. die Unfruchtbarmachung von unheilbar erblich belasteten Menschen oder die Erziehung einer Presse, die ihre Aufgaben nicht erfüllt, durch Zensur“ (Schelsky 1934, zit. nach Schäfer 1997, 650). Und selbst Messelkens formal korrekter Behauptung, daß sich bis 1945 nirgendwo in Schelskys Schriften „eine Stelle findet, die eine antisemitische Äußerung enthält“, was nach Messelkens weiterer Formulierung offenkundig allein schon eine belobigenswerte Leistung darstellt (Messelken 1987, 10), steht immerhin das Zeugnis Theodor Litts entgegen, nach dem Schelsky in dessen Seminar 1933 in SA-Uniform sich „rassistischantisemitisch geäußert und ... auch an gewaltsamen Aktionen im Frühjahr 1933 in Leipzig teilgenommen“ habe (Schäfer 1997, 653). Was angesichts solcher Biographien unter ansonsten keineswegs nur freundschaftlichen Umgang miteinander pflegenden aus dem Exil zurückgekehrten Fachvertretern wie Theodor W. Adorno einerseits, René König andererseits, einhellig Unbehagen und Kritik hervorrief, nämlich „das Wiedereindringen zahlloser erwiesener Nationalsozialisten in den akademischen Lehrbetrieb“ (König 1980, 189), wird im Kreise seiner Schüler als Verdienst im Aufbau des Faches gefeiert, der tatsächlich als beträchtlich angesehen werden muß. Heinz Sahner hat sogar Schelskys Spitzenstellung auf einem „Zentralitätsindex“
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der westdeutschen Soziologie ermittelt (Sahner 1982, 93). Für König steht aus zeitgenössischer Beobachtung fest, daß für dieses Wiedereindringen ehemaliger Nationalsozialisten „weitgehend Helmut Schelsky verantwortlich“ gewesen sei – was ihn selbst freilich keineswegs am persönlichen Umgang und an der Zusammenarbeit mit ihm gehindert hat (König 1980, 189). Schelsky behauptet sogar, „daß es René König war, der mich in die internationalen Gremien des Faches eingeführt und in ihnen ‚protegiert‘ hat, wohl nicht zuletzt aus der Überzeugung, daß trotz meiner Herkunft aus der ‚Leipziger Schule‘ und meiner jugendlichen Vergangenheit im Dritten Reich – die zwischen uns in vielen Zusammenkünften, z.B. in Paris, rückhaltlos offen erörtert wurden – ich doch wohl ein Bundesgenosse in der Durchsetzung der von ihm vertretenen analytisch-empirischen Soziologie sei“ (Schelsky 1981b, 46). Wenn demgegenüber Gerhard Schäfer, der in seinen Arbeiten zu Schelsky einerseits unbestreitbare Fakten aus dessen Biographie zusammengetragen und auch nahezu als Einziger den hier zum Untersuchungsgegenstand werdenden Schriften aus der unmittelbaren Nachkriegszeit Beachtung geschenkt hat, schließlich zu dem wertenden Schluß kommt, daß „die offene Apologie des Faschismus und der ihn stützenden Intelligenzgruppen ... ein Hauptanliegen des Soziologen Schelsky (auch nach 1945, M.G.) gewesen sei“ (Schäfer 1988, 159), so scheint dieses dem gegenüber Schelsky jederzeit distanziert bleibenden König in seinen langjährigen Kontakten nicht aufgefallen zu sein. Plausibler aber ist, daß Schäfers Text auf dem Hintergrund einer an bestimmte DDR-Propaganga erinnernden Annahme über die „Restauration“ eines „westdeutschen Imperialismus“ von vorne herein eine denunziatorische Intention verwirklicht, die ausschließt, daß Wissenschaftler mit einer Sozialisation und Karriere wie Schelsky ihre Positionen jemals revidieren könnten. So schreibt Georg Aßmann in einer 1965 an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigten Dissertation über „Helmut Schelsky – ein Apologet des westdeutschen Imperialismus“ Schäfer bereits die Melodie vor, die dieser dann nur noch mit zusätzlichen Motiven ausmalt. Bei Aßmann stehen nur wenige Sätze über die Schrift von 1946, in denen es vordringlich darum geht, Schelskys Kritik an der politisch mobilisierten „Masse“ als Angst vor der organisierten Arbeiterbewegung zu entschlüsseln; da dafür jeder direkte Hinweis im Text fehlt, liest sich die ,materialistische‘ Beweisführung über Schelskys Hauptmotiv von Aßmanns Machwerk so: „Sicher ahnt er die große Kraft einer einheitlichen Arbeiterpartei, die die ganze Klasse und die mit ihr verbündeten Schichten in den Prozeß der gesellschaftlichen Umgestaltung führt ...“ (Aßmann 1965, 148) – so wie in der DDR, möchte man hinzufügen. Will man sich überhaupt ein moralisches Urteil erlauben – was hier nicht beabsichtigt ist –, so dürfte man meines Erachtens nicht übersehen, daß Schelsky in der Phase seines offenen politischen Engagements, aus der die inkriminierten Texte und Verhaltensweisen stammen, noch keine 25 Jahre alt war und in welcher Zeit sie erfolgten. Auch ehemalige Nationalsozialisten haben ein
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Recht auf Revision ihrer Ansichten, ein „Recht auf Irrtum“, wie es bei Eugen Kogon hieß. Richtig ist demgegenüber die Feststellung Schäfers, daß die Veröffentlichungen Schelskys aus der unmittelbaren Nachkriegszeit mehr als dessen philosophische Dissertation über Fichte und dessen Habilitationsschrift über Hobbes „die Startbasis für Schelskys Wiederaufstieg als Soziologe im Anschluß an seine Berufung an die Hamburger ,Akademie für Gemeinwirtschaft (1.11. 1948)‘ “ bildeten (Schäfer 1988, 160). Umso interessanter dürfte es sein zu sehen, wie diese „soziologische“ Perspektive Schelskys sich in ihnen ausprägt, wenn man bedenkt, daß der Untertitel seiner Habilitationsschrift von 1941 über Thomas Hobbes in offenkundig gewollter Zweideutigkeit „Eine politische Lehre“ lautete (Schelsky 1981a), sich damit gleichermaßen auf die Intention der Schrift von Hobbbes wie von Schelsky selbst bezog. Wie schon seine philosophische Dissertation „Theorie der Gemeinschaft, nach Fichtes ‚Naturrecht‘ von 1796“ so verfolgte auch diese Schrift – anders als Deichsel nachträglich hineinlesen möchte – weniger die „Suche nach dem Sozialen“ als „Wechselwirkung“ (Deichsel 1988, 179), als vielmehr die Begründung einer „politischen Lehre“ der Gemeinschaft, die auf absoluter Herrschaft und Souveränität beruht. Schon an Fichtes noch von der Aufklärung und französischen Revolution beeinflußten Lehre von der Gemeinschaft hatte er in seiner Dissertation bemängelt, daß sie „auf dem freien Wollen des Bewußtseins“ beruhe und deshalb zu individualistisch die gesellschaftlichen Verhältnisse lediglich als Rechtsverhältnisse begreifen könne (Schelsky 1935, 89). Bernhard Willms, auf dessen Hobbes-Verständnis sich Schelsky nach 1945 mit seinem Diktum beruft, er würde nunmehr sein Hobbes-Buch ganz anders, nämlich als „einen entschiedenen Anti-Hobbes verfassen“ (Schelsky 1981a, 9), stellt fest, was Schelsky vor 1945 an Fichtes Philosophie gestört haben muß: „Ein politisch revolutionärer Freiheitsbegriff ist die Mitte, aus der Fichtes ganzes Denken zu begreifen ist“, und dieser Freiheitsbegriff der Frühschriften sei Kerngehalt der „bürgerlich-revolutionären Politiktheorie“ (Willms 1973, 9). Diese aber in Richtung einer an der Vorrangigkeit substanzieller Gemeinschaft orientierten politischen Theorie zu überwinden, gelingt Schelsky – immanent, von seinen Intentionen her betrachtet – paradoxer Weise erst in seiner Habilitationsschrift zu Hobbes; paradoxerweise, weil Hobbes seine Staatstheorie naturrechtlich ebenfalls auf der „zentralen Voraussetzung“ aufbaut, „daß jeder Mensch der Eigentümer seiner selbst ist“ (Münkler 1993, 28), also wie Fichte bei dem Individuum seinen Ausgangspunkt nimmt. Dieser Ausgangspunkt bleibt, wie Karl Hahn zurecht feststellt, in Fichtes „Grundlage des Naturrechts“ von 1796/97 systematisch und normativ auch das Argumentationsziel, „so daß Fichtes Theorie der von Hobbes und Hegel in unüberbrückbarer Gegensätzlichkeit gegenübersteht. Fichte setzt nie wie Hobbes und Hegel das politische Prinzip absolut“, so daß „der Staat bei Fichte nie verabsolutiert werden“ könne (Hahn 1969, 4). Was aber nach seiner Fichte-Kritik Hobbes für Schelsky so offenkundig attraktiv werden läßt, ist nicht nur, wie er im Vorwort 1941 feststellt,
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die „wenn auch geheime Verwandtschaft in der unbedingt politischen Daseinsbegründung dieses Denkers mit der Lebenshaltung der Gegenwart“ – offenkundig auch seiner eigenen – (Schelsky 1981a, 14), sondern auch, daß dessen politische Lehre gerade darin ihren politischen Charakter erweist, daß sie nicht bei der Freiheit des Individuums ihr Ziel hat, in der Lesart Schelskys recht eigentlich noch nicht einmal ihren logischen und genetischen Ausgangspunkt, weil auch „die Einheit der politischen Willensbildung eine Schöpfung der politischen Tat und damit der Herrschaft ist“ (Schelsky 1981a, 425). Vehement wendet sich Schelsky damals gegen die Auffassung und entsprechende HobbesInterpretationen, „Hobbes habe den Individualismus zur Grundlage des Staates gemacht, indem er den Staat auf der Zustimmung der einzelnen Bürger aufbaue“ (Schelsky 1981a, 433). Ihm geht es darum, jegliche „demokratische“ Interpretation von Hobbes zu widerlegen; während zum Beispiel Bernhard Willms betont: „Bei aller Entschiedenheit, mit der Hobbes dann den ‚Leviathan‘ als eindeutiges Herrschaftsgebilde ausbaute, muß doch stets gesehen werden, daß er seine Entstehung – ‚generatio‘ – den freien einzelnen verdankt und daß er auch in seinem Bestehen auf den einzelnen beruht, die zusammen diesen politischen Körper legitimieren, tragen und ausmachen“ (Willms 1987, 152). Schelsky akzentuiert genau entgegengesetzt: „Von den Theoretikern der späteren demokratischen Staatslehren unterscheidet sich Hobbes dadurch, daß seiner Lehre noch das sichere Wissen um das Wesen und die Bedeutung der Macht zugrunde liegt, das jenen dann fehlt; im Gegensatz zu diesen Demokraten steht am Anfang seiner Staatslehre noch der Satz von der Herrschaftsunterscheidung, die grundsätzliche These, daß ‚die Lehre von der Gewalt eines Staates über seine Bürger beinahe ganz von der Erkenntnis des Unterschiedes abhängt, der zwischen den Herrschenden und den Beherrschten besteht‘ (De Civ. VI,1)“ (Schelsky 1981a, 388). Deshalb geht es Schelsky darum, den Herrschaftsvertrag soweit irgend logisch möglich von der Symmetrie und Freiwilligkeit eigentlichen Vertragsdenkens zu unterscheiden. So betont er durch Hervorhebung im Original eigens: „Der Bürger kann seine Entäußerung des Rechts auf Gewaltanwendung in bezug auf seine Mitbürger als Vertrag auffassen und diesen Verzicht an die Forderung der Gegenseitigkeit binden“ (Schelsky 1981a, 360), das Gleiche aber gelte – so betont Schelsky in vielen Wendungen – nicht für das Verhältnis des Bürgers zum „Leviathan“, denn, wie bereits zitiert, die „Einheit der Willensbildung“ sei bereits als dessen „Tat“ aufzufassen, denn „nur wenn die Zusammenfassung durch den herrschaftlichen Willen gegeben ist, besteht ein Volk im Gegensatz zur Menge“ (Schelsky 1981a, 434). Was dann „der Souverän im Rahmen dieser Normalität der Herrschaft für zweckmäßig erachtet und für seine Pflicht hält, entscheidet seine eigene Überlegung. Diese Art der Machtausübung tritt dem Bürger als der Wille des Herrschers entgegen“ (Schelskys 1981a, 391). Dieser ,Willensnatur der Herrschaft‘ „... ist es aber gerade gleichgültig, ob die fremde Vernunft, die durchaus im Gesetz oder Befehl enthalten ist, die Vernunft des Bürgers überzeugt und dadurch zum Handeln leitet; die Macht, die
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Handlungsenergie, die in diesem Gesetz oder Befehl auftaucht, setzt sich an die Stelle der vernünftigen Überlegung des Bürgers, genauer gesagt: diese Macht wird in seiner Überlegung über alle anderen Motive hinaus gewichtig und zwingt ihn, vielleicht gegen ursprünglichere Überlegungen, dem Befehl oder dem Gesetz zu gehorchen“ (Schelsky 1981a, 393). Nach Schelsky bildet daher den „Kernsatz des Hobbeschen Denkens; der Herrscher hat kraft seiner Herrschaftsmacht eine konkrete Ordnung des Lebens zu schaffen, die teils aus der Lebendigkeit der Untertanen, teils aus seiner Zucht erwächst“ und so notfalls eine „mit Gewalt erzwungene Gesamtlebenshaltung“ in der Gesellschaft durchzusetzen (Schelsky 1981a, 386). Man wird gerade auch angesichts des reklamierten performativen Charakters dieser ,politischen Lehre‘, die Schelsky lange vor Quentin Skinner’s „revolution in political thought ... by giving a priority to politics over thought“ und durch die Veränderung der Interpretationsperspektive „from the vita contemplativa to the vita activa“ (Palonen 2003, 94) aus der Hobbes-Lektüre herauspräpariert, Formulierungen wie die vorstehenden nicht von ihrem unausgesprochenen aber evidenten Bezug zur konkreten Wirklichkeit der zur Zeit der Niederschrift herrschenden Führerdiktatur lösen können. Schelsky grenzt seine darin zum Ausdruck gebrachte Affirmation dabei interessanter Weise neben jeglichem „demokratischen“ Rechtfertigungsversuch der Souveränität auch von einer völkischen Lesart ab. Bei Schelsky, und nach seiner Interpretation auch bei Hobbes, handelt es sich um einen rein „etatistische(n) Begriff des Volkes“ (Schelsky 1981a, 434), der von jeglichen, sei es anthropologischen oder ethnologisch-rassistischen, essentialistischen Konnotationen frei ist und in dem sich wahrscheinlich viel mehr der Einfluß Hans Freyers als der Arnold Gehlens niederschlägt, der beispielsweise 1926 in seiner rechtshegelianischen Staatsphilosophie geschrieben hatte: „Das Gebilde des Volkes ist, wie jedes Gebilde aus Menschen, Werk eines Führers. So ist Führertum diejenige Kraft, die eigentlich den Staat schafft“ (Freyer 1926, 111). Hier wie dort wird der kontingente, allein aus Tathandlung, Machteroberung und Führertum resultierende Charakter staatlicher Ordnung betont; in der Hobbes-Forschung hat sich das angesichts von Hobbes’ zusammenfassender Empfehlung in der Schlußpassage des „Leviathan“, sich um des zu erreichenden Schutzes Willen jeder de facto bestehenden Herrschaft zu unterwerfen, ja sie anzuerkennen (Hobbes 1996, 589ff), in der sogenannten „Engagement-Kontroverse“ (Metzger 1991, 131ff) niedergeschlagen; bei Freyer Mitte der zwanziger Jahre noch im Gewand einer idealistischen Geistphilosophie in der Tradition Hegels als der „Weg des Staates zum Geist“ und als das „zeitlose Bildungsgesetz der Form“, das sich in einer „Verfassung“ verwirkliche (Freyer 1926, 185). Diese Art der idealistischen Philosophie hat Schelsky – parallel zu der Entwicklung Gehlens – in seiner Hobbes-Schrift inzwischen hinter sich gelassen und durch die durch Eduard Baumgarten vermittelte und in Leipzig bei Freyer und Gehlen in den dreißiger Jahren intensivierte Rezeption John Deweys und des US-amerikanischen Pragmatismus ersetzt. Das mag auf den ersten
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Blick angesichts des (sozial-)demokratischen und reformerischen Gehalts etwa der Schriften Deweys erstaunen, aber was den unter ganz anderen Bedingungen und vor allem mit anderer Zielsetzung entwickelten Pragmatismus Deweys für Schelsky so anschlußfähig machte, hat Hans Joas in seiner brillianten Darstellung der „Geschichte eines Mißverständnisses“ (Joas 1992) neben diesem selbst vielleicht etwas zu wenig betont: ich will es der Kürze halber die den beiden ansonsten so verschiedenen Theorien gemeinsamen kontingenztheoretischen Grundlagen nennen. Hier wie dort wird das Paradigma der Subjekt-ObjektPhilosophie und einer damit verbundenden Wahrheits- und Wissenschaftstheorie zugunsten einer sich erst an der Handlung bewährenden Sinndeutung konkreter Situationen abgelöst. Dabei ist, wie Thomas Noetzel zurecht feststellt, der „Nützlichkeitsbegriff“ des Pragmatismus nicht utilitaristisch auf Optimierung des Eigennutzens von Individuen festgelegt – was ihn ja für eine „faschistische Ideologie der Tat“ (Joas 19992, 129f) erst attraktiv macht –, aber die Orientierung an der Intention der jeweiligen Handlung „schlicht unhintergehbare Voraussetzung, um Handlungen ... überhaupt verstehen zu können“ (Noetzel 2002, 162). Das gilt auch für die Reflexion von Handlungen, also deren „Erkenntnis“ in Form einer Handlungswissenschaft selbst. Es geht beim Pragmatismus also um eine ohne vorausgehende feststehende Wahrheit oder Norm rein „instrumentalistische Konzeption des Handelns und des Wissens“ (Joas 1992, 127), die Joas auch mit einer eigenen deutschen Vorgeschichte (Heidegger, Scheler) versehen hat, bei der es bei dem Freyer-Schüler Schelsky nahegelegen hätte, auch diesen zu zitieren. Schließlich hatte Schelsky in Freyers prominenter „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“ von 1930 sicherlich nicht Sätze wie die folgenden überlesen: „nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht soziologisch etwas“ (Freyer 1930, 305) und: „Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis“ (Freyer 1930, 307), in denen Freyer formelhaft seine aktivistische Wirklichkeitswissenschaft zusammenfaßt, die neben der Rezeption Deweys als eine der wesentlichen Inspirationen von Schelskys ,politischer Lehre‘ aufgefaßt werden muß, die ihrerseits Hobbes’ Theorie vor allem als „politische Tat, die sich ganz bestimmte, persönliche Gegner vornimmt“ (Schelsky 1981a, 427) interpretiert. So entsteht das titelgebende „Mißverständnis“, von dem Joas in Gestalt der deutschen Pragmatismus-Rezeption am Beispiel Schelskys handelt, einerseits dadurch, daß dessen Hobbes-Buch „vollständig von John Deweys Anthropologie und auch dessen Hobbes-Studie geprägt ist“, aber nicht dessen intersubjektive und politisch auf Demokratie zielende Orientierung sucht, sondern „als Philosophie der Handlung ... in die Begeisterung für Entscheidung, Tat und Macht, die die nationalsozialistischen Intellektuellen charakterisierte“ geriet; Deweys Demokratieideal „wurde im Sinne der Volksgemeinschafts-Ideologie umgedeutet und auf altgermanische Gemeinsamkeiten zurückgeführt“ (Joas 1992, 133). Joas verweist mit einem Satz auch bereits auf Schelskys Schrift von 1946, in der er – in dieser Hinsicht in Kontinuität – „den Pragmatismus vor al-
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lem dazu benutzte, das angelsächsische Freiheitsgefühl gegen ein französisches Verständnis von Republik und Demokratie auszuspielen“ (Joas 1992, 138). Diese Kritik am angeblich französischen Demokratiemodell, näherhin an einer auf den Einfluß Rousseaus zurückgeführten Vorstellung, nach der „die Volkssouveränität zum einzigen politischen Gehalt dieser Freiheit“ (Schelsky 1946, 23) geworden sei, steht auch im Zentrum der einzigen kritischen Beachtung, die Schelskys Schrift aus dem Kreis der etablierten politischen Theorieund Ideengeschichtsschreibung bisher gefunden hat. Für Kurt Lenk ist in seiner großen Studie über den ,Deutschen Konservatismus‘ Schelskys Schrift „Das Freiheitswollen der Völker und die Idee des Planstaates“ „beispielhaft für Demokratieverständnis und Totalitarismustheorie in der Nachkriegszeit“ (Lenk 1989, 197); Schelskys zentrale These laute „Plebiszitäre Demokratie bedeutet den Weg in die Knechtschaft“ (Lenk 1989, 198); die „affirmative Funktion für den Nachkriegskonservatismus“ Schelskys zeige sich in der Erklärung von „Faschismus und Nationalsozialismus ... als Konsequenz einer Überwältigung des Staates durch die Gesellschaft“, weshalb es nunmehr gelte, die „zentrale Ordnungsfunktion des Staates ... wieder herzustellen“ (Lenk 1989, 200); Schelskys „Option für das angelsächsische Demokratiemodell erklärt sich aus der Frontstellung gegen den totalitären Einparteienstaat. Nicht nur werden darunter das Regime der Nationalsozialisten und die kommunistischen Parteidiktaturen zusammengefaßt (rot = braun), sondern es erfolgt auch eine Ahnensuche nach gemeinsamen Stammvätern der beiden totalitären Regime“ und dafür „fungiert Rousseau als Sündenbock“ und „Urheber totalitärer Gleichmacherei im Namen des Fortschritts und ... Stammvater des modernen Nationalismus“ (Lenk 1989, 201). Man kann nicht bestreiten, daß Lenk damit einen Strang der Argumentation Schelskys vielleicht zugespitzt aber angemessen wiedergibt. Was aber erstaunt, ist, daß er zu glauben scheint, mit dieser Wiedergabe und Zusammenfasung allein sei schon die Kritik geleistet, die er durch seinen ganzen Duktus suggeriert. Es mag angehen, Schelskys Position als „konservativ“ zu etikettieren – aber kritisch wird diese Etikettierung nur von jenem empfunden und nachvollzogen werden können, der sich bewußt oder unbewußt auf die wertende Position Lenks stellt. Die implizit wertende Darstellung Lenks erweist sich in Wahrheit als eine politisch-positionelle Perspektive, die sich auf Übereinstimmung mit ihren Lesern verläßt; wo diese fehlt, kann der gewünschte Effekt nicht eintreten. Stellt man zum Beispiel im Lichte alles dessen, was bisher hier schon zum Vergleich der totalitären Regime gesagt wurde, an Lenks Text die einfache Rückfrage: was ist falsch an der Gleichung „rot = braun“, so erhält man nicht dort selbst, sondern allenfalls in dem Schlußabschnitt über Schelsky den Ansatz einer Begründung: falsch ist offenkundig nach Lenk die „konsequente Ausklammerung aller sozialen und ökonomischen Randbedingungen bei der Entstehung faschistischer Bewegungen und Herrschaftsformen“ (Lenk 1989, 204) – ein Vorwurf den man zwar gegen Schelskys Text erheben mag, der aber wie gezeigt
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nicht die maßgeblichen totalitarismustheoretischen Texte jener Zeit von Löwenthal bis Röpke zu treffen vermag. Nun behandelt Schelsky ja in seiner Schrift über „das Freiheitswollen der Völker“ – ein Thema, dem nach der Erfahrung nationalsozialistischer Diktatur und unter den aktuellen Bedingungen der Besatzungsherrschaft kaum Relevanz und Aktualität abgesprochen werden kann – nicht nur kritisch die französische, sondern in gleicher Ausführlichkeit normativ positiv die angelsächsischamerikanische Tradition, der man ihren freiheitlichen Gehalt in der Geschichte des politischen Denkens und der Verfassungspraxis von dem Habeas-CorpusGesetz über die Bill of Rights bis zur ersten (sic!) relevanten Erklärung der allgemeinen Menschenrechte auf dem ,neuen‘ Kontinent kaum wird absprechen können (Holmes 1994); ich stimme Lenk zu, daß sein Motiv war, eher damit als mit dem französischen Weg „den Nachkriegsdeutschen eine vorbildliche Tradition aufzuzeigen“ (Lenk 1989, 198). Aber alles was Lenk zu diesem zugegebenermaßen idealtypisierend zugespitzten Vergleich einfällt, faßt er in folgendem Satz zusammen: „Die von Schelsky vorgenommene Stilisierung einer rein pragmatischen angelsächsischen Demokratie und die ihr entsprechende Verteufelung der aus Aufklärung und Rousseau hergeleiteten Fehlform demokratischer Rationalität gehört bis heute zu den konstanten Mustern konservativer Argumentation“ (Lenk 1989, 199). Auch hier soll die Feststellung bereits das politisch-normative Urteil sein. Gab es etwa die „Aufklärung“ nur und zuerst in Frankreich, gehören Hobbes, Locke, Hume und die anderen schottischen Philosophen etwa nicht dazu, waren bei ihnen Vernunftglaube und Rationalismus etwa weniger bedeutsam als auf dem Kontinent? Oder man sehe sich etwa das breite Spektrum frühliberaler Semantik an, das es neben England auch in Frankreich, Deutschland und Italien gab, wie Jörn Leonhard in seiner großartigen vergleichenen Studie nachgewiesen hat (Leonhard 2001). Geht es in den unterschwelligen Wertungen Lenks ähnlich wie bei der bereits angesprochen Kritik der Totalitarismustheorie Grebings nicht eigentlich um einen ganz anderen Gegensatz, nämlich um die Bewertung der französischen Revolution und ihrer Traditionsbildung, um nicht zu sagen Mythologisierung in der intellektuellen und politischen Geschichte der Arbeiterbewegung? Geht es nicht um die anhaltende Skepsis, wenn nicht Kritik gegenüber der liberalen Tradition der Aufklärung wegen ihrer genetisch-logischen Verbindung mit dem Kapitalismus? Stephen Holmes beginnt seine große Kritik des Antiliberalismus mit dem Satz: „Die Verachtung des ‚Liberalismus‘ ist keine bloß vorübergehende Modeerscheinung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sondern spätestens seit der französischen Revolution ein immer wiederkehrendes Merkmal der westlichen politischen Kultur“ (Holmes 1995, 7) – gerade auch in Deutschland, muß man wohl hinzufügen. Wird nicht mit der einseitigen Stilisierung Rousseaus zum Erzvater der Volkssouveränitätsidee und modernen Demokratie letztlich ein mit dem Marxismus amalgamiertes Versöhnungsdenken als alleinige historische Frucht dieses in sich so komplexen wie widersprüchlichen, individuellen wie gesellschaftlich-politischen, europaweiten Mobilisierungsprozesses des
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17. und 18. Jahrhunderts behauptet, in dem sich heute selten noch offen ausgesprochene Revolutionshoffnungen mit der Sehnsucht verbunden haben, durch die Überwindung des Kapitalismus zugleich jene Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat, notwendiger Kooperation und Herrschaftsfreiheit und was dergleichen Widersprüche die Modernisierung noch hervorgebracht hat, zu erreichen? Die fast seit Erscheinen der Schriften Rousseaus geführte Debatte um den politischen Gehalt seines Werkes, die angesichts der Vielfältigkeit seiner Schriften, der verzweifelten Kompliziertheit seiner Biographie und Persönlichkeit, der teilweisen Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen nicht nur zwischen seinen eher theoretischen Schriften und seinen Romanen, sondern auch innerhalb seines zweifellos theoretisch epochalen „Contrat Social“ – von dem auch noch verschiedene Fassungen existieren – kann hier keineswegs auch nur angedeutet, geschweige denn in den Grundzügen umrissen werden (Brandt/Herb 2000). Was aber nicht angeht, ist, daß man so tut, als sei eine Interpretation, die auf die im Werk Rousseaus auch vorhandenen systematisch antiliberalen, antipluralistischen und damit nach den Erfahrungen und Begriffen des 20. Jahrhunderts totalitären Züge hinweist, allein mit dem Hinweis auf ihre „konservative“ Intention, bereits erledigt. Mag man das bekannte Werk Jakob L. Talmons wegen seiner einseitigen Zuspitzung oder der gerade in dem Abschnitt über Rousseau einleitenden Psychologisierung (Talmon 1961, 34f) auch kritisieren, so wird man nicht darum herumkommen, daß er den kollektivistischen Antiindividualismus in Rousseaus politischer Philosophie ebenso zurecht hervorhebt, wie das antipluralistische und antiliberale Homogenitätsideal seiner ,wahren Republik‘ als einzig legitimer Staatsordnung (Talmon 1961, 38). Wenn Iring Fetscher, Rousseau sicherlich im Ganzen gewogen, und ihn gegen Einwände wie die Talmons als ,Demokraten‘ verteidigend, immer wieder betont, schließlich seien nach Rousseaus Konstruktion „alle Gesetzesvorschläge von Einzelnen der freien Abstimmung durch das Volk zu unterbreiten“ (Fetscher 1960, 142), also allein durch die – mehrheitliche – Zustimmung des Volkes könnten sie Legitimität und Gesetzeskraft erhalten, so kann er doch nicht umhin, einzuräumen, daß Rousseau in diesem Votum nur unter contrafaktisch idealisierten Bedingungen die Äußerung der volonté générale anerkannte. Diese Voraussetzung aber, die bereits vollzogene allgemeine „Verwandlung des Naturmenschen in den moralischen“ (Fetscher 1960, 117), wodurch jenes „être moral et collectif“, das Fetscher auch als „moralisch-metaphysische Wesenheit“ (Fetscher 1960, 113) bezeichnet, erst entstünde, das unfehlbar die volonté générale zum Ausdruck brächte, war empirisch bereits im 18. Jahrhundert selbst in den Kleinstaaten, an die Rousseau mit seiner ,wahren Republik‘ dachte unwahrscheinlich; Fetscher behauptet deswegen, daß der Begriff für Rousseau lediglich „normativen Charakter“ besessen habe (Fetscher 1960, 120) – das mag dahin gestellt bleiben. Tatsache ist aber, daß dann im praktisch-politischen Leben der tatsächlichen Willensbildung irgendjemand vorhanden sein muß, der den auf die Gesetzge-
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bung bezogenen konkreten Inhalt der volonté générale zu ermitteln in der Lage ist, wofür Rousseau im „Contrat Social“ bekanntlich die Figur des weisen Gesetzgebers vorsieht (Rousseau 1971, 45ff), den Fetscher wiederum als eine „überragende Persönlichkeit“ charakterisiert, „die zugleich so tugendhaft sein muß, daß sie ihre (uneigennützige) Einsicht in den Dienst der Gerechtigkeit und des Volkes statt in den einträglichen Dienst der Reichen und Mächtigen stellt“ (Fetscher 1960, 137). In interessanter Analogie zu zeitgenössischen Argumentationen der normativen Demokratietheorie, nach denen die demokratische Willensbildung des Volkes zunächst eines institutionellen oder diskursiven „preference laundrings“ (Goodin 1989) bedürfe, um gemeinwohlfähig zu werden, spricht Fetscher angesichts der gedanklichen Konstruktionen Rousseaus von einem „Additions- und Reinigungsprozesses“ (Fetscher 1960, 122) bei der Ermittlung der volonté générale. Wie sehr Fetschers Verteidigung Rousseaus darauf angelegt ist, ihn beziehungsweise die Figur des législateurs allein gegen den Vorwurf der „Erziehungsdiktatur“ in Schutz zu nehmen, dabei aber zugleich die antiliberalen Züge ungewollt zu betonen, zeigt auch ein Zitat aus Fetschers späterer kleiner Einführung in die „Demokratie“: „Sobald die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr das Gemeinwohl will, sobald die Nation in mehrere, untereinander gegensätzliche Gruppen oder Klassen gespalten ist, die sich politisch zu Parteien zusammenschließen, ist nach Rousseau die Chance der Demokratie vertan“ (Fetscher 1970, 28) – also unter den Bedingungen moderner Gesellschaften eigentlich immer. Fetscher faßt seine wohl abgewogene Rousseau-Interpretation mit Urteilen wie den folgenden zusammen: „Die Rousseausche Republik ist, was wir heute eine Demokratie ohne jede liberale Korrektur nennen würden. Sie opfert bewußt die Freiheitsspielräume der Einzelnen dem Interesse der Gleichheit als der Vorbedingung der Freiheit aller auf“ (Fetscher 1960, 138) und nennt die durch „Vergesellschaftung allen Eigentums“ hergestellte „Homogenität ... jene Voraussetzungen ..., an deren Existenz Rousseau die Möglichkeit einer republikanischen Ordnung band ... Wenn man die konstruktivistischen Elemente bei Rousseau eliminiert, kommt man zum rein konservativen Denken, wenn man sie steigert, zum sozialistischen. Als ‚Gegner‘ aber erscheint in jedem Falle die genuin liberale Theorie. Rousseau war gewiß nicht totalitär, aber mindestens ebensowenig liberal“ (Fetscher 1960, 261). Kann man angesichts dieser eindeutig antiliberalen, antipluralistischen, kollektivistischen und hinsichtlich der praktisch-politischen Feststellung des „Gemeinwohls“ in Gestalt der volonté générale durch selbsternannte législateurs in der Philosophie Rousseaus 1945 und nach den Erfahrungen mit den plebiszitär legitimierten Diktaturen des 20. Jahrhunderts Schelsky allein schon dafür kritisieren, daß er demgegenüber den liberalen, individualistischen und auch pragmatischen Teil der demokratischen Tradition der Aufklärung der Bevölkerung Deutschlands politisch anempfiehlt?
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Die Frage so zu stellen, heißt meines Erachtens, sie zu verneinen. Die Kritik im Stile Talmons mag einseitig genannt werden, aber politisch verständlich und gerechtfertigt ist sie nach der ,toalitären Erfahrung‘ im Sinne Brachers allemal. Es sollte dabei nochmals berücksichtigt werden, daß es hier weder im Falle von Hobbes, noch Rousseaus allein um eine akademisch-systematische Stellungnahme geht, sondern in erster Linie um die Rekonstruktion und das Verständnis der Texte Schelskys, wenn er diese Autoren zu bestimmten Zeitpunkten behandelt. Was er damit im jeweiligen politischen Kontext zu akzentuieren versuchte, welche politische Konzeption von ihm darin aufscheint, ist hier der eigentliche Gegenstand; diesem Verständnis hat sich eine Intepretation wie die Lenks von vorne herein verschlossen – wie berechtigt ihre Klassifizierung des Textes als „konservativ“ von einem bestimmten Standpunkt aus auch immer erscheinen mag. Man wird nun im ersten Schritt sagen müssen, daß die die Schrift von 1946 einleitende Gegenüberstellung der französischen und anglo-amerikanischen Tradition ganz offenkundig dazu dient, klassische Argumente der liberalen individualistischen Position stark zu machen. Auch wenn dies kontrastierend mit der französischen Tradition geschieht und dieser dabei sicherlich partiell Unrecht geschieht, so war der eigentliche Anlaß für diesen Vergleich Schelskys ja gar nicht das bisherige Ergebnis dieses Vergleichs selbst, sondern die Frage nach der Zukunft der individuellen Freiheit. Werkgeschichtlich und biographisch mag es nun sehr interessant erscheinen, daß Schelsky 1945 mit dieser Akzentsetzung zugunsten individueller Freiheit doch eine gegenüber seinen früheren, in der Hobbes-Schrift kulminierenden Positionen deutlich andere politische Perspektive eröffnet; aber die Untersuchung von Kontinuität und Diskontinuität des politischen Denkens Schelskys steht ja hier nicht im Mittelpunkt, sondern der Versuch, die Veröffentlichungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit als Antworten des politischen Denkens auf die Erfahrung der Situation zu rekonstruieren und vor allem auch den zukunftsgerichteten Gehalt darin aufzuspüren. Schelsky beginnt den dritten Teil seiner kleinen Schrift, der nach den historisch vergleichenden Abschnitten recht eigentlich erst zur politischen Antwort auf die ausgelobte Preisfrage „Die verfassungsmäßige Sicherung staatsbürgerlicher Freiheiten in Vergangenheit und Gegenwart“ kommt, mit folgenden Sätzen: „Die Frage nach der gegenwärtigen Sicherung staatsbürgerlicher Freiheitsrechte gliedert sich in die Unterfragen, welche Freiheiten zur Zeit zu sichern sind und gegen wen oder was diese Sicherung nötig ist“ (Schelsky 1946, 71). Schon diese Problemexposition verrät nach der Unterscheidung Isaiah Berlins den eindeutigen Akzent auf die „liberties“ oder auch „negativen Freiheiten“ (Berlin 1969); hier soll nicht im Gebrauch der „positiven“ Freiheit gemeinsam eine Republik gegründet werden, wie dies vor allem in den Schriften Hannah Arendts neo-republikanisch zum eigentlichen normativen Gehalt des Politischen erklärt wurde (Arendt 1963), sondern hier geht es um die Bewahrung und
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Garantie individueller Freiheiten gegenüber oder in einer bereits bestehenden Herrschaftssituation, die dadurch vielleicht gemildert, aber keineswegs abgeschafft werden soll. Wenn diese an Max Weber erinnernde „realistische“ Sicht der Dauer und Notwendigkeit von Herrschaft bereits die Etikettierung als „konservativ“ rechtfertigt, dann ist bereits in der Art der Problemstellung Schelskys Ansatz allerdings konservativ und liberal, also liberal-konservativ. Auf den zweiten Blick freilich zeigt sich, daß – die Kontinuität staatlicher Herrschaft vorausgesetzt – Schelsky keineswegs ausschließlich „liberal“ die negativen Freiheiten der Individuen zu verteidigen beabsichtigt. Dazu hat bereits seine historische Genealogie des „Freiheitswollens der Völker“ vorbereitend den Grund gelegt, indem sie zwar in dem von Lenk dargestellten Gegensatz der französischen und der anglo-amerikanischen Tradition sich eindeutig auf die Seite der Letzteren geschlagen hat, aber darüber hinaus den Blick auf ein „eigentümlich deutsches Freiheitsstreben“ (Schelsky 1946, 31ff) gerichtet hatte – von dem bei Lenk mit keinem Wort die Rede ist. Nach Schelsky hat es im Programm der Reformen des Freiherrn vom Stein und seiner Mitarbeiter „einen Ansatz gegeben, das Wesen der staatsbürgerlichen Freiheit auch im deutschen Raum in der freien Selbsttätigkeit des Bürgers im Staate zu verwirklichen“ (Schelsky 1946, 32). Wiederum kann es hier nicht darum gehen, ob und inwieweit Schelsky ein angemessenes Gesamtbild dieser nicht zuletzt aus der preußischen Niederlage resultierenden Reformbewegung von Stein und seinen an der Wiederaufrichtung Preußens interessierten Helfern zeichnet, wie es etwa Reinhard Koselleck in seiner zurecht gerühmten Habilitationsschrift versucht hat (Koselleck 1989). Für Schelsky geht es darum, auf diese deutsche „Erfahrung“ zurückzugreifen, um 1945 politisch einen ganz spezifischen „Erwartungshorizont“ zu öffnen (Koselleck 1979b). Laut Schelskys Rekonstruktion haben sich die damaligen Reformen in Preußen negativ gegen „das ertötende Zwangsgetriebe des staatlichen Zentralismus“ (Schelsky 1946, 32) gerichtet, und hatten positiv „das Werk der Umwandlung des Staates in Einrichtungen freibürgerlicher Selbsttätigkeit“ zum Ziel (Schelsky 1946, 33). Der Weg dahin führte über den spezifischen „Bildungs- und Erziehungsgedanke(n)“ (Schelsky 1946, 33), wie er sich etwa in der Gründung der Berliner Universität oder in den Schriften von Fichte bis Schleiermacher niedergeschlagen habe. Schelsky scheint an den Reformideen politisch zu faszinieren, daß es sich bei dem angestrebten „Gemeinwesen“ um ein „Gebäude von selbstverantwortlichen Körperschaften, aus dem Volkswillen und dem Leistungsgedanken hervorgegangen, nicht nur diskutierend, sondern in beratender Kollegialität die Verantwortung für die Verwaltungsmaßnahmen selbst übernehmend“ (Schelsky 1946, 34) handeln sollte; für dieses übernimmt Schelsky bezeichnender Weise Oswald Spenglers anachronistische Bezeichung als „deutsches Rätesystem“ aus dessen „Politischen Schriften“ (Spengler 1934, 64), um dann festzustellen: „Ein mit dem ganzen unbürokratischen Optimismus Steins aufgebautes demokratisches Gemeinwesen wäre wahrscheinlich die einzige Staatsform gewesen, die mit den
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Auswüchsen des Hochkapitalismus von vorneherein im Sinne einer sozialen Planwirtschaft hätte fertig werden können. Gerade in der Beurteilung der Wirtschaft hat Stein stets einen Ausgleich zwischen Wirtschaftsfreiheit und staatlicher Wirtschaftsleistung erstrebt, der wie so viele Züge seines Werkes durchaus neuzeitliches Wesen verrät“ (Schelsky 1946, 34). Hier sind nur in der vermeintlich bloß historischen Rückschau die entscheidenden Gedanken und Begriffe eingeführt, die Schelsky 1946 politisch benutzt: „soziale Planwirtschaft“ – wohlgemerkt: nicht „soziale Marktwirtschaft“ – die später gegenwartsbezogen zur „sozialistischen Planwirtschaft“ mutiert und den „Ausgleich“ zwischen „Wirtschaftsfreiheit“ und „staatlicher Wirtschaftslenkung“ auf dem Hintergrund eines „dezentralen“ Systems körperschaftlicher Mitwirkung und Selbstverwaltung leisten soll. Schelskys Vorstellung von „Freiheit“ wird auf dem Hintergrund der bereits angesprochenen Rousseaukritik negativ auf eine Weise abgegrenzt, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit Niekischs Kritik bloß „bürgerlicher Freiheit“ aufweist, auch wenn hier die Kritik des Individualismus nicht so polemisch hervor- und die kapitalismuskritische Dimension ganz zurücktritt. Die Garantie der „Freiheit“ allein über die „Verfassung“ erreichen zu wollen, könne „in Wirklichkeit diese Freiheit nicht erzeugen“, sondern erlaube nur, „dem Freiheitsgefühl des Einzelnen Zugeständnisse in der Gewährung persönlicher Freiheitsrechte, also der ‚Menschenrechte‘ “ zu machen, „ohne sich als die bürgerfremde Eigenkörperschaft, als die abstrakte Staatsperson aufzugeben“, wie man am Beispiel des „legitimistische(n) Staat(es) der Heiligen Allianz“ habe sehen können (Schelsky 1946, 35). Schelsky hingegen sucht nach einer Argumentation, die auf eine politisch-organisatorische Verbindung von Individuum und Staatsordnung gerichtet ist, nicht aber „Freiheit“ lediglich als gewährten Spielraum der Privatinitiative eines ansonsten unabhängigen ,Leviathan‘ versteht. Man kann hier zwar Akzentverschiebungen zur Hobbes-Schrift erkennen, sollte die nachfolgende Passage allerdings trotz einiger Anklänge auch nicht als ,republikanisch‘ mißverstehen. Viel eher sind hier noch die Nachklänge korporatistischer Ideen und der Einfluß Othmar Spanns zu erkennen, mit dessen Gedankengut sich Schelsky während seiner Schulungsarbeit für den NSDStB intensiv auseinandersetzte; gemeinsam ist beiden das, was man in neuerer Diktion eine „kommunitaristische“ Position genannt hat, die sich aus dem Gegensatz zum „Liberalismus“ speist. Bei Schelsky liest sich diese kommunitaristische Position als Rekonstruktion der Steinschen Reformen so: Die „Freiheit des Einzelmenschen“ bedeutet zunächst: „persönlich frei, der Früchte seiner Arbeit sicher und im Besitz der Rechte des Bürgers sollte ein jeder sein“ (Schelsky 1946, 34). Zur Erreichung dieses Ziels habe man damals „alle staatlichen und wirtschaftlichen Bindungen“ aufgehoben, „die nur dem Nutzen Einzelner dienen, jedes die Gemeintätigkeit beschränkende Vorrecht, aber auch keinen Deut mehr“ (Schelsky 1946, 34). Der lapidare Nachsatz ist bezeichnend, schließt jede Verwechslung mit einer liberalen Position aus und macht deutlich, worauf die „Freisetzung“ hier zielt,
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nämlich auf „Gemeintätigkeit“ in dem bereits zitierten „Gebäude von selbstverantwortlichen Körperschaften“. „Dieser maßvollen Befreiung zur Eigenverantwortung des Bürgers, dieser Errichtung von Körperschaften der Selbsttätigkeit auf allen Lebensgebieten liegt die Einsicht zugrunde, daß die staatsbürgerliche Freiheit des Einzelnen kein bloßes Freisein von Schranken ist, sondern selbst eine Summe aufbauender Kräfte, die man nicht als angeboren voraussetzen kann, sondern die erst in Erfahrungen erworben werden“ (Schelsky 1946, 34f); hier also die Abgrenzung gegen einen „negativen Freiheitsbegriff“ mit naturrechtlicher Begründung, wie er für den bürgerlichen Kontraktualismus konstitutiv ist (Kersting 1994) – aber auch die Nähe zu einem Republikanismus, dem die Aufnahme liberaler Rechte des Individuums zwar politisch selbstverständlich ist, begründungslogisch aber nicht immer einfach gelingen will (Richter 2004, bes. 21ff). Nicht um des Bürgers „Freiheit durch eine allgemeine Gesetzgebung oder Verfassung“ – nochmals: der stilisierte „französische“ Weg – zu gründen, sondern „aus der Erkenntnis, daß die staatsbürgerliche Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe, ist die preußische Städteordnung hervorgegangen; dieser für die Hauptfrage unserer Untersuchung entscheidende Gedanke der bürgerlichen Freiheit ... hat sich gegenüber der zentralistischen und abstrakten Auffassung verfassungsmäßiger Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheiten nicht seiner Bedeutung gemäß durchsetzen können“ (Schelsky 1946, 35). Dieser „für unsere Hauptfrage entscheidende Gedanke der bürgerlichen Freiheit“ – lautet umgesetzt in die politische Situation von 1945 also, daß es nach der Erfahrung totalitärer Herrschaft unter der nationalsozialistischen Diktatur zwar auch auf die verfassungsrechtliche Absicherung der individuellen Grundrechte ankomme, daß aber hinsichtlich des zukünftigen Staatsaufbaus und seiner legitimatorischen Begründung der normative Ausgangspunkt woanders, nämlich in der verschütteten und bisher nicht zum Zuge gekommenen eigenständigen deutschen Freiheitstradition gesucht werden müsse. Der zweite Teil von Schelskys Schrift gilt aber vorab dem Versuch zu zeigen, wie die entgegengesetzte, sich der „französischen Erbschaft“ (Schelsky 1946, 58) verdankende, ,zentralistische und abstrakte Auffassung der verfassungsmäßigen Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheit‘, von der im vorletzten Zitat die Rede war, erst das ganze 19. Jahrhundert fehlleitete und dann nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges auf der Basis der immer noch dieser Tradition verpflichteten Weimarer Verfassung direkt und zwangsläufig den „Totalitätsanspruch der sich selbst organisierenden Gesellschaft“ (Schelsky 1946, 51) in Gestalt „totalitärer Politik“ einer „totale(n) Partei“ (Schelsky 1946, 49) verwirklichte. Wer die Texte Carl Schmitts über die Krise der Weimarer Republik, seine beißende Kritik des Parlamentarismus (Schmitt 1923), der „zum Staat gewordenen Gesellschaft“, die die „bisher stets vorausgesetzte Unterscheidung von Staat und Gesellschaft“ zugunsten einer „Selbstorganisation der Gesellschaft“ aufgehoben habe (Schmitt 1988a, 151), kennt, die Schmitt dann in der Formel
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des totalen Staats „aus Schwäche“ dem „starken totalen Staat“ gegenüberstellt, der noch „Freund und Feind“ im Innern wie nach außen unterscheiden könne (Schmitt 1988b, 187), der wird in diesen Abschnitten Schelskys wenig mehr als eine ans Plagiat grenzende Paraphrase des schmittschen Gedankengangs erkennen. Die sich am Detail festmachende Kritik Schelskys an Schmitt (z.B. Schelsky 1946, 55, Fn. 1) wirkt demgegenüber geradezu wie ein Ablenkungsmanöver oder eine Schutzvorkehrung; vielleicht mit der Ausnahme von Schelskys partieller Zurückweisung von dessen Kritik an der englischen Pluralismustheorie Harold Laskis, die Schelsky in seine Vorstellung eines „Gebäudes von selbstverantwortlichen Körperschaften“ (s.o.) zu integrieren versucht (Schelsky 1946, 55, Fn. 1). Den Einzelheiten soll hier nicht nachgegangen werden, zumal die schmittsche Theorie über die Gesellschaft, die sich vermittels ihrer Parteien und Interessenorganisationen den ,Staat zur Beute‘ mache, hinlänglich bekannt sein dürfte. Schelsky fügt dem nach 1945 nur den Gedanken hinzu, daß, wenn in diesem allgemeinen Beutezug einmal eine „totale Partei“ mit „absolutem Weltanschauungsanspruch“ zum Zuge komme, sie vor dem „Terror“ so wenig zurückschrecken würde, wie es der seinem Urteil nach ebenso „absolutistische Vernunftanspruch“ in der französischen Revolution getan habe. Vor allem aber habe deren Traditionsbildung den Einzelnen aus allen „Bindungen“ gelöst und seine Freiheitsrechte gegen den Staat legitimiert, wodurch erst jene anonyme „Masse“ isolierter Individuen entstanden sei, die von den Organisationen „der“ Gesellschaft gegen den staatlichen Herrschaftsanspruch mobilisiert werden konnten. „Man beginnt, die Verwirklichung der bürgerlichen Freiheiten in der Verpflanzung der Daseinsanliegen der Gesellschaft auf den Staat zu sehen, ja dessen Macht möglichst ausschließlich für die Ziele der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Die politischen Freiheiten werden jetzt als Grundlage der bürgerlichen Freiheiten betrachtet, verdrängen allmählich deren Rechte und führen schließlich, in der Eroberung der Staatsmacht für ihre Zwecke, zur Vernichtung der in der Gesellschaft zum Staate errungenen Freiheiten selbst“ (Schelsky 1946, 37f). So ist am Ende in dieser Scheinlogik ausgerechnet die französische Menschenrechtserklärung Ausgangspunkt der späteren totalitären Herrschaft, weshalb Schelsky aus seiner Sicht konsequent in dem Abschnitt über den „Wandel“ des „Rechtsgehalts der staatsbürgerlichen Freiheiten“ den in der unmittelbaren Nachkriegszeit doch recht provozierenden Gedanken formulieren kann, „der Streit um die Grundrechte“ habe sich „zum abseitigen Schauplatz gelegentlicher Machtkämpfe, die aus wesentlich andersgearteten politischen Antrieben entsprangen“, gewandelt; wenn er sich dabei mit einem Teilzitat auf die Autorität Theodor Heuss’ zu berufen versucht, so kann das nur unter Verdrehung der wirklichen politischen Haltung von Heuss gelingen, die dieser in Sachen Grund- und Menschenrechte einnimmt, und dessen Zitat in einem vollständig anderen Zusammenhang steht (Heuss 1966b, 122). Für Schelsky aber steht – im Jahr der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, von der Schelsky in anderem Zusammenhang durchaus Kenntnis nimmt (Schelsky
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1946, 70) – fest: „Die Menschenrechte haben ihr Gewicht in der sich auf die Zukunft richtenden Seele und Lebendigkeit der Menschen verloren; indem die Forderung nach ihrer verfassungsmäßigen Sicherung nur noch gelehrte Gedanken in Bewegung bringt, fehlt es schon an der letzten Grundlage der Rechtsgültigkeit dieser Erklärung“ (Schelsky 1946, 62). Nun darf man aus diesen hier in einem bestimmten Zusammenhang zitierten Sätzen nicht einfach auf eine grundsätzliche Antiposition Schelskys gegenüber individuellen Grundrechten schließen; allerdings werden sie in seiner Konzeption allein auf einen eher technischen „Rechtsvorbehalt“ reduziert und können nicht mehr die Rolle des tragenden normativen Prinzips der Verfassungskonstruktion bilden: „in der Gesamtsicherung oder vielmehr Herstellung der Freiheiten des Staatsbürgers wird diese Verfassungsmaßnahme (die Beachtung der Grundrechte als „Rechtsvorbehalt“, M.G.) jedoch lediglich den eigentümlichen rechtsgestaltenden Sonderfall neben den Gesamtplanungsbereichen des Staates überhaupt ausmachen, in denen allen sein inneres Gesetz, für das Glück und die Wohlfahrt des Staatsbürgers zu sorgen, ständig zum Ausdruck kommen muß, soll von einer Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheiten gesprochen werden können“ (Schelsky 1946, 80). Sein Mißtrauen gegenüber den Grundund Menschenrechten richtet sich an dieser Stelle also auf die dahinter stehende verfassungspolitische Konzeption einer naturrechtlich begründeten Verfassungs- und Staatstheorie, die seiner im Schlußteil der Schrift vorgestellten – heute würde man sagen – ,kommunitaristischen‘ Vision des „sozialistischen Planstaates“ diametral widerspricht; Letzterem aber gehört historisch nach Schelskys affirmativer Darstellung alternativlos die Zukunft. Er habe die „Aufgabe der totalen Daseinsfürsorge“ längst übernommen (Schelsky 1946, 81), um, wie zitiert, „für das Glück und die Wohlfahrt des Staatsbürgers zu sorgen“. Hier wird also der individuelle ,pursuit of happiness‘ des liberalen Kontraktualismus umgedreht in das Glücksversprechen einer gesamtstaatlichen Daseinsvorsorge, die „den persönlichen Freiheitsbereich des Einzelnen selbst plant und die Fürsorge dafür unternimmt“ (Schelsky 1946, 80). „Die Vereinbarkeit von Planstaat und persönlicher Freiheit kann diesem Denken schon darum nicht in eine grundsätzliche Fraglichkeit geraten“, schreibt Schelsky zustimmend, „weil die Aufgabe dieses Staates gerade darin gesehen wird, jene ‚Art zu leben‘ herzustellen, auf die das Glück- und Freiheitsstreben des Menschen abzielt. Die Freiheit ist eben keine angeborene Eigenschaft, die nur durch Gewaltanwendung verloren werden kann, sondern sie ist das höchste der Güter, die der Mensch sich zu schaffen hat, wozu er der staatlichen Herrschaft in hohem Maße bedarf ... (sie ist, M.G.) politische Schöpfung, Ergebnis einer Zucht, Staatswerk selbst; und der Staat, der diese Rechte und Tätigkeiten, die der Mensch als seine Freiheit empfindet, nicht zu schaffen und zu erhalten weiß, ist nicht wert, Staat zu heißen“ (Schelsky 1946, 79). Schelskys normative Kritik an der dargestellten Entwicklung zur „totalen Daseinsfürsorge“ bleibt 1946 – denkt man anachronistisch von seiner späteren
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Sozialstaatskritik am Modell des „betreuten Menschen“ her – aus. Bedenken werden von ihm allein und ausschließlich funktionsimmanent entwickelt und beschränken sich auf die „Aufweisung eigentümlicher Fehlleistungsmöglichkeiten planstaatlichen Handelns ... deren Wertmesser ihre erwiesene Unzweckmäßigkeit wäre“ (Schelsky 1946, 80). „Unzweckmäßigkeit“ und nichts anderes ist der Maßstab einer Kritik, die sich hier als unpolitisch ausgibt, aber sich – bedenkt man Schelskys hoch entwickeltes und in der Hobbes-Studie unter nachlesbaren Beweis gestelltes Bewußtsein über den politischen und performativen Charakter seines veröffentlichten Denkens – über die politischen Wirkungen des Geschriebenen keine Illusionen gemacht haben dürfte. Der scheinbar wertungslose Duktus dieses Textes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit dürfte insofern auch deutliches Zeugnis von der Phase der persönlichen politischen Neuorientierung, seinem „Bruch mit dem Modell Faschismus nach 1945“ ablegen, die ihm sogar sein ansonsten so penetrant um den Nachweis der Kontinuität bemühter Kritiker konzidieren muß (Schäfer 1997, 660). Die „Unzweckmäßigkeit“ der 1946 als unvermeidlich affirmierten „totalen Daseinsvorsorge“ unter staatlicher Herrschaft ergibt sich nun aus der Perspektive der am Beispiel der Steinschen Reformen nachgewiesenen deutschen Tradition; Gefahr droht von dem „bürokratischen Getriebe“ bei Überschreitung dessen, was der Soziologe Schelsky das „Gesetz der Zwangsgrenze“ nennt und so beschreibt: „Die Zwangsgrenze bürokratischer Einheitsverwaltung liegt in ihrer Zweckmäßigkeit begründet“, sie ist an dem Punkt erreicht, „an dem staatliche Maßnahmen und staatliche Aufsicht mehr Mühe und Kräfteverbrauch beanspruchen, als der Nutzen für die Bürger ausmacht“ (Schelsky 1946, 81). Gegen das „bürokratische Getriebe“ und die damit drohende Überschreitung der „Zwangsgrenze“– man würde heute vielleicht sagen: des „Grenznutzens“ – schlägt Schelsky im Geiste Steins „eine möglichst große Verteilung und Aufgliederung der Macht, die deren Wirksamkeit nicht entscheidend gefährdet“ vor, in der er „die höchste Zweckmäßigkeit planstaatlichen Handelns“ verwirklicht sieht (Schelsky 1946, 82). Und nun in einer geradezu dialektischen Volte, die an den entsprechenden Gedankengang Niekischs aus dem vorangegangenen Kapitel erinnert: „Unter diesem Gesichtspunkt ist die Freiheit der Einzelperson die eigentlich zweckvollste Leistung des Planstaates“ (Schelsky 1946, 82). Schelsky geht sogar noch weiter, indem er ungeachtet und unter Beibehaltung des „totalen“ Charakters staatliche Daseinsvorsorge nunmehr in den „Einrichtungen zur Aufgliederung der Massen“ die „Organisation der Lücken“ für „die Bereiche der persönlichen Freiheit und der Hoheit des einzelmenschlichen Gewissens zu schaffen“ vorschlägt, „aus deren Tätigkeit in den Planstaat seine eigentliche Lebendigkeit als Gewinn zurückfließen wird. In diesem Sinne gehört der freie Persönlichkeitsbereich genau so zu den dem Planstaat aufgegebenen Leistungen wie die freie Rechtssprechung oder die freie Wissenschaft“ (Schelsky 1946, 82). Man verkennt gravierend den jeglichem normativen Freiheitspathos abholden Charakter dieser beiden letzten Zitate, wenn man ihre funktionalistischen einleiten-
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den Formeln („Unter diesem Gesichtspunkt“, „In diesem Sinne“) und die damit aus dem Gesamtkontext der Argumentation stammenden Einschränkungen überliest; für die individuelle Freiheit, das Gewissen ebenso wie für die „freie Rechtssprechung“ und die „freie Wissenschaft“ bleiben hier nur jene gesamtstaatlich geplanten „Lücken“ übrig, die sich für die Planung und Realisierung der „totalen Daseinsfürsorge staatlicher Herrschaft“ als funktional erweisen. Hier nun nimmt Schelsky ganz am Schluß John Deweys Gedanken wieder auf, die bereits in seinem Hobbes-Buch, freilich in spezifischer Verdrehung, eine so bedeutende Rolle gespielt haben. Attraktiv erscheint Schelsky nun die Idee einer „Planung ohne Dogma“, wie er den angeblichen „Kern eines freiheitlichen demokratischen Planstaates“ bei Dewey zusammenfaßt. Dessen aus der sozialreformerischen Erneuererbewegung stammender pragmatischer „demokratischer Experimentalismus“ mit dem „Ideal einer frei und befreienden Lebensform in Gemeinschaft“ (Kettner 1998, 56) geht nun allerdings mit der typisch deutschen herrschaftssoziologischen Theorie eines Planstaates niemals zusammen, von der sich Schelsky jedenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch keineswegs abgelöst hatte. Wiederum bringt deshalb Schelskys Pragmatismus-Rezeption diesen um seinen eigentlichen politischen Gehalt. Schelskys im Grunde an Orwells oder Huxleys Dystopien erinnernde Vision einer vom „sozialistischen Planstaat“ zum Zweck der „totalen Daseinsvorsorge“ vollständig beherrschten und in den Griff genommenen Gesellschaft, in die die Freiheitsrechte und -wünsche der Individuen letztlich nur funktionalistisch eingepaßt werden, entwirft er ohne ausführlichere Begründung auf dem Hintergrund der evolutions- oder modernisierungstheoretischen Prämisse, daß im Zeitalter des „Hochkapitalismus“, von dem bereits einmal die Rede war, neben dem gesellschaftlichen Liberalismus auch die ökonomische Marktkoordination ausgedient habe und im scheinbar als unabwendbar betrachteten ,Zeitalter der Planung‘ durch eine von Schelsky nur in Umrissen im Sinne der deutschen Tradition institutionell angedeutete tiefgestaffelte und dezentrale „Gesamtplanung“ allenfalls in ihren schädlichsten Auswirkungen begrenzt werden könne. Allein darin habe die nationalsozialistische Version, die ansonsten den Vorgaben des Zeitalter der Planung offenkundig entsprach, „ihre Aufgabe nicht erfüllt“ (Schelsky 1946, 80) . Der Unterschied zu den angesprochenen, ja als Kritik gemeinten und nicht mißzuverstehenden Dystopien liegt in Schelskys gegenüber der Hobbes-Schrift neuer ,soziologischer‘ Methode, mit der diese Entwicklung in diesen Passagen des Textes als unhintergehbare Tatsache lediglich ,positiv‘ dargestellt werden. Von der oben zitierten eingreifenden Epistemologie der Freyerschen „Wirklichkeitswissenschaft“ findet sich in dieser Schrift nichts mehr – eher schon finden sich frühe Anklänge an die spätere These vom „technokratischen Staat“ (Schelsky 1965). Schelsky kann man nicht vorhalten, er würde die von ihm geschilderte Entwicklung normativ propagieren; seine implizite Stellungnahme dazu gleicht eher einer resignativen oder skeptischen Hinnahme, die allenfalls hier
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und da Korrekturen zur Bewahrung individueller Freiheit für möglich hält. Darin kommt eine kontingenzfreie Zeitdiagnose der Situation nach 1945 zum Ausdruck, die sowohl angesichts der auch aus damaliger Sicht unklaren Zukunftsaussichten wie der ja auch hier dargestellten breitgefächerten „Erwartungshorizonte“ im Sinne Kosellecks erstaunen muß. Man fragt sich beim Lesen unvermeidlich, wieviel an impliziter Affirmation als bewußte politische Haltung darin versteckt ist, ohne direkt sprachlich zum Ausdruck gebracht zu werden. Schelskys bekanntes und nachhaltiges persönliches Engagement als Berater der SPD und der Gewerkschaftsbewegung, die Anerkennung, die er dort bis weit in die sechziger Jahre hinein genoß, nicht zuletzt die schnelle Wiederberufung des vormaligen Nationalsozialisten 1948 ausgerechnet an die gewerkschaftliche „Akademie für Gemeinwirtschaft“ sprechen dafür, daß es zwischen den in den traditionalistischen Flügeln der Organisationen der Arbeiterbewegung vorhandenen Sozialismusvorstellungen und Schelskys weitgehend affirmativer Vision eines „sozialistischen Planstaates“ der „totalen Daseinsfürsorge“ zeitweilig inhaltliche Korrespondenzen gegeben haben muß. Ergänzend soll hier mit wenigen Strichen auf eine Serie von Artikeln eingegangen werden, die Schelsky in dieser Phase persönlich-politischer Um- und Neuorientierung in der in Karlsruhe erscheinenden Zeitschrift „Volk und Zeit. Monatszeitschrift für Demokratie und Sozialismus“ veröffentlicht hat. Gemessen an dem Buch von 1946 zeigen diese Artikel, obwohl im Duktus des sachlichen Abwägens wissenschaftlicher Argumente geschrieben, implizit und explizit überwiegend eine deutliche politische Stellungnahme Schelskys zugunsten von Demokratie und Sozialismus; die Texte nehmen teil an einer innersozialistischen beziehungsweise innersozialdemokratischen Neuorientierungsdebatte. Allerdings kündigt sich in ihnen eine Skepsis gegenüber beiden Konzepten als ideologischen Leitvorstellungen an, in denen sich die Haltung des späteren AntiIdeologen bereits abzeichnet. Widersprüche zu dem oben zusammgefaßten Buch werden manifest, so, wenn Schelsky zwar die Versuche, die Grund- und Menschenrechte in den Länderverfassungen zu verankern, kritisiert, dies aber nicht mit Gründen wie in dem Hobbes-Buch oder dem von 1946, sondern nunmehr unter Berufung auf die neue völkerrechtliche Entwicklung: „Erklärung und Sicherung der menschlichen Grundrechte ist mit dem Bestand und dem Wirken der UN der Souveränität der Einzelstaaten tatsächlich bereits entrückt“, demgegenüber könne „ein Akt der Menschenrechtserklärungen im Stile von 1789 durch verfassungsgebende Versammlungen von Kleinstaaten nur als Aufführung eines historischen Schauspiels, als eine Komödie der Fiktionen erscheinen“ (Schelsky 1946a, 5). Positiv und detailliert schildert Schelsky in diesem Artikel die Entwicklung eines nicht mehr völkerrechtlichen, sondern supranationalen universellen neuen Rechtszustandes und verweist auf die „Überwachung und Wiederherstellungsgewalt der UN“ (Schelsky 1946a, 5) – vielleicht etwas zu optimistisch und voreilig, wie man aus heutiger Sicht sagen könnte; seine anklingende Kritik an der deutschen Länderverfassungsgebung ist also
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nicht prinzipieller Natur. Sein sowieso in sich nicht ganz stimmiges Argument gegen die Bekräftigung von universalen Rechten in nationalen oder regionalen Verfassungen dient ihm aber auch dazu, auf die in Deutschland als besetztem Land überhaupt fehlenden Voraussetzungen zur eigenständigen Verfassungsgebung zu verweisen. Die Berufung auf die UN hätte aus seiner Sicht den Vorzug gegenüber Länderverfassungen gehabt, die, wie es nun geschehe, „im Grunde die staatsrechtliche Form seien, die sich deutsche Länder geben, um damit die Grundlage ihrer Zusammenarbeit mit den sie kontrollierenden Vereinigten Staaten von Amerika festzulegen und zu bekunden“ (Schelsky 1946a, 5). In anderen Beiträgen gibt Schelsky einen „Überblick ohne jede Stellungnahme“ (Schelsky 1946b, 242) über internationales Schrifttum zur Entwicklung der sozialistischen Idee, in dem freilich die Stimmen von ehemaligen Sozialisten und Renegaten auffällig dominieren und sich seine eigene Distanz gegenüber herkömmlichem, insbesondere „wissenschaftlichem“ Sozialismus klar abzeichnet. Ein anderer Beitrag setzt sich ausführlich mit dem Militarismusverständnis des „Befreiungsgesetzes“ der US-amerikanischen Besatzungsmacht auseinander und richtet sich vor allem dagegen, ehemalige Soldaten, aber wohl – unausgesprochen auch Mitglieder von NS-Organisationen – von der notwendigen Aufbauarbeit unter Berufung auf Artikel 8 dieses Gesetzes auszuschließen. Das Argument ist pragmatisch – wiederum spielt John Dewey als Referenzautor eine große Rolle – und sagt im Kern, man könne die Menschen für die Demokratie nur durch Mitarbeit gewinnen, „die Ideale der Demokratie kann man sich nicht schenken lassen“, es gelte gerade an die „unbarmherzige Realistik“ und den „Wirklichkeitsfanatismus“ positiv anzuknüpfen, die die durch die Goebbelsche Propaganda ermüdete und durch die Kriegserfahrung ernüchterte Jugend besäßen (Schelsky 1947a, 180). Unterschwellig und nicht frei von zeitbezogener Apologie werden in diesem Text soldatischer Heroismus und sozialistische Aufbauarbeit parallelisiert und als moralisch-funktionale Äquivalente dargestellt; außerdem kündigt sich der Topos der „skeptischen Generation“ an, den Schelsky in den fünfziger Jahren populär machen wird. Politisch und politikwissenschaftlich ist freilich ein Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Der Pfahlbau“ interessant, in dem sich Schelsky 1947 anläßlich der Rezeption von Schumpeters Demokratietheorie mit der Frage beschäftigt: „Kann die deutsche Demokratie funktionieren?“ (Schelsky 1947b). „Der Pfahlbau“ steht sinnbildlich für ein Gebäude auf unsicherem Untergrund – aber auch in feindlicher Umgebung. Das für die politikwissenschaftliche Demokratietheorie so einflußreich gewordene 22. Kapitel von Schumpeters Buch mit der Defintion der Demokratie als einer bloßen „Methode“ zur konkurrenzbasierten Auswahl der auf Zeit regierenden politischen Elite (Schumpeter 1950) übergeht Schelsky interessanter Weise dabei vollständig; für die institutionellen Bedingungen des Wahlverfahrens und des Regierungsystems im engeren Sinne zeigt er kein Interesse. Referiert werden vielmehr ausführlich fünf „Vorbedingungen der Demokratie“, die Schelsky aus dem Schlußabschnitt des Werkes herauspräpariert
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hat. Neben einem gewissen Wohlstand und einem geregelten Wirtschaftsleben, seien die Vorbedingungen vor allem „soziologische“ : „1. Eine demokratische Elite ... 2. Einschränkung des Bereiches der Politisierung ... 3. Ein hochwertiges Beamtentum ... 4. Treue zu den Strukturprinzipien der bestehenden Gesellschaft“ (Schelsky 1947b, 338f). Nachfolgend werden diese vier Bedingungen diskutiert und mit der „empirischen“ Lage in Deutschland abgeglichen – das Ergebnis ist eine „düstere Prognose“ (Schelsky 1947b, 342). Hinsichtlich der Elite habe bereits die Weimarer Republik versagt, in der „eine Elitenwirklichkeit in jeder Form bekämpft wurde“, weshalb „die politische Führung der Parteienpolitik ohne den Rückhalt eines elitären Menschenreservoirs“ auskommen mußte; dann sei durch „Unterordnung und Gleichschaltung“ seit 1933, den „Krieg“ und die „Entnazisierung“ in „dreimaliger sozialer Umwandlung (1918, 1933, 1945)“ „die allgemeine Führungsschicht des deutschen Volkes weiterhin zerstört worden“, so daß nunmehr eine der vier entscheidenden „soziologischen“ Bedingungen der Demokratie nicht erfüllt sei (Schelsky 1947b, 338). Wiederum nutzt Schelsky diese allgemeine und nur in ihrer Pauschalität ganz von der Hand zu weisende Überlegung zu einem Seitenhieb auf das alliierte „Entnazifizierungsgesetz“, das als „das Grundgesetz unserer neuen demokratischen Staatlichkeit anzusehen“ sei (Schelsky 1947b, 338). Dieses und mit ihm die Alliierten gingen davon aus, daß die neue Führungsschicht und Elite sich in erster Linie aus dem Kreise der „Antifaschisten“ zu rekrutieren habe. Dieser „Kreis“ könne aber nicht „jene soziale Schicht, auf die nach Schumpeter sich eine demokratische Führungsauslese stützen muß“, bilden, „denn die Antifaschisten sind gar keine soziale Schicht, sondern selbst schon eine politische Elitenbildung, die sich auf keine einheitliche Schicht stützt. Ihre Strukturprinzipien sind der politische Kampf und die politische Gesinnung gewesen ... solche Kreise sind in sich abgeschlossen, von Natur ohne die Fähigkeit zu assimilieren“ (Schelsky 1947b, 339). Die Entnazifizierung schaffe aber eine „Diffamierungslinie“ (Schelsky 1947b, 339), spalte insofern – willkürlich, mindestens unnötig, wie Schelsky insinuiert – das Volk und verhindere so kurzfristig die Elitenbildung, zu der „wahrscheinlich Generationen“ gehören: „Und in dieser Einsicht liegt die ganze Fraglichkeit unserer Bemühungen um die deutsche Demokratie beschlossen“, wie Schelsky sein negatives Urteil zu der ersten Vorbedingung zusammenfaßt. Nicht besser stehe es um die zweite Voraussetzung, denn eine „totale Politisierung“ drohe von allen politischen Parteien in Deutschland, die dem Willen der (westlichen) Alliierten zur Schaffung von „Autonomie der öffentlichen Institutionen“ als eines „Ferment(s) des demokratischen Lebens“ und „jene(r) heilsamen Durchbrechung des Monopols der Politik, das bei uns nach wie vor die Parteien für sich beanspruchen“ „einhellig“ entgegenarbeiteten (Schelsky 1947b, 340); als Beispiele nennt Schelsky pauschal die Presse und den Rundfunk. Die dritte Bedingung, ein „hochwertiges Beamtentum“, ist in den Augen Schelskys doppelt gefährdet: einerseits durch abnehmendes Amtsethos und
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Parteipolitisierung, andererseits durch das dadurch allenfalls mitbedingte, allgemeine antibürokratische Ressentiment, wie es sich vor allem bei den Kommunisten fände. „Die Grundfrage der Demokratie ist nicht, wie weit die Aufgaben und die Rechte der Verwaltung gehen, sondern ob eine gute oder schlechte Verwaltung vorhanden ist. Eine gute .... ist die Voraussetzung jedes Funktionierens demokratischer Methoden“ – davon könne aber heute in Deutschland gar keine Rede sein (Schelsky 1947b, 340). Schelsky erinnert hier selbst an die oben schon behandelte große Tradition einer aufgeklärten Bürokratie der preußischen Reformära, aber man erkennt auch das Webersche Modell der Arbeitsteilung zwischen Politik und Verwaltung wieder, in das sich bei Schelsky ein unübersehbares Ressentiment gegen die demokratisch unvermeidbare Rolle der Parteien mischt. Was das vierte Kriterium anbelangt, so darf man es nicht nur vordergründig mit der heute von Beamten und Politikern geforderten Treue zur „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ des Grundgesetzes gleichsetzen. Schelsky sieht hinter dem einhelligen Postulat nach Demokratie 1947 „bereits den Schatten einer grundsätzlichen Uneinigkeit in den Zielen einer deutschen Gesellschaftsordnung ... auf Grund der weltpolitischen Spannung“ und der „Auseinanderentwicklung sowohl der realen Gesellschaftsstruktur wie der politischen Grundanschauungen zwischen der Ost- und Westhälfte Deutschlands“ (Schelsky 1947b, 341). Für Schelsky ist der tieferliegende Grund der, „daß es in Deutschland eine Gesellschaftsordnung im positiven Sinne überhaupt nicht mehr gibt, der man die Treue halten könnte ... Es geht längst nicht mehr um die Schaffung einer sozialistischen oder bürgerlichen Gesellschaftsordnung, sondern um die Rettung der letzten gesellschaftlichen Ordnungselemente überhaupt“ (Schelsky 1947b, 341). Welche sollten das aber sein? War es in der Hobbes-Schrift noch eindeutig und vordringlich der „Staat“ gewesen, so kündigt sich hier Schelskys spätere Rechtsund Institutionentheorie an, die als die eigentliche theoretische Hinterlassenschaft des ,Soziologen‘ Helmut Schelsky gelten darf (Krawietz 1978). „Da die moderne Chaotisierung der Gesellschaft“ , zu der wie Schelsky schreibt die „Parteienfrontierung“ noch beiträgt, „vor allem in ihrer Vermassung besteht, käme es auf eine Aufgliederung der Massen in demokratische Institutionen an“ (Schelsky 1947b, 341) die, wie man sieht, nicht den demokratischen Parteien und Interessenverbänden selbst zugetraut wird. Für mich steht außer Frage, daß Schelskys politisches Denken ebenso wie sein theoretisches Fundament sich im Untersuchungszeitraum in einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß befand, dessen Dimensionen hier nicht nachgegangen werden kann, weil er weit über den Untersuchungszeitraum und die Nachkriegsschriften hinausreicht. Sie repräsentieren – gerade auch in ihrer Widersprüchlichkeit – eine unabgeschlossene Suchbewegung. Zeitdiagnostisch geht Schelsky bei der Niederschrift des Buches von 1946 noch selbstverständlich von einer Zukunft aus, in der der Staat „totale Daseinsvorsorge“ zu betreiben hat; insofern besteht keine Kontingenz für ihn. Seine Positionierung dazu ist ambivalent: einerseits bedarf es angesichts der „Vermassung“ der starken „Inte-
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gration“ durch „Institutionen“, andererseits richtet sich seine Argumentation nach der Erfahrung des Nationalsozialismus dagegen, daß diese „Integration“ allein politisch-herrschaftlich durch den „Leviathan“ beziehungsweise dessen „Führung“ vollzogen werden könnte und sollte. Das ursprünglich eher an ständische Gliederung der Gesellschaft gemahnende Prinzip der Dezentralisierung wandelt sich unter dem Eindruck der Rezeption vor allem anglo-amerikanischer Anthropologie und Soziologie mehr und mehr in Richtung einer funktionalen Ausdifferenzierung von Lebenssphären im Sinne Webers und die gegenüber der drohenden „totalen Daseinsfürsorge“ defensive Orientierung nimmt ,altliberale‘ Züge an. Damit ist Schelsky bereits auf dem politisch-gesellschaftlichen Plafond der späteren bundesrepublikanischen Gesellschaft angekommen, bevor diese recht eigentlich zu existieren beginnt.
VII. Epilog: Nichtkontingente Demokratie
„Demokratie ist die Forderung des Tages – auf, laßt uns Demokraten werden!“ Otto Feger beobachtete in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit einem ähnlichen Argwohn wie die bereits im ersten Kapitel zitierte Hannah Arendt „die Eilfertigkeit, mit der diese Erkenntnis vorgetragen wird“ (Feger 1946, 97); er vermutet, darin trage „die Erziehung zur Charakterlosigkeit, zur Heuchelei und Feigheit, die wir in den letzten zwölf Jahren genossen haben, wo man die Fahne nach dem häufig wechselnden Wind hing, wo das freie Manneswort nur dann tapfer geäußert werden durfte, wenn der Herr Ortsgruppenleiter es billigte ... ihre bitteren Früchte“ (Feger 1946, 98). Heute stehe an Stelle des abgedankten Repräsentanten der Nazidiktatur der Besatzungsoffizier mit seiner Forderung nach „re-education“ – und die traditionelle Obrigkeitshörigkeit weiter Bevölkerungskreise habe sich als konstant erwiesen. „Zu den vielen Dingen, die bisher teils aus Opportunismus, teils aus Überzeugung verbrannt wurden und die heute jeder anzubeten bereit ist, gehört auch die Demokratie. Sie ist Bestandteil des politischen Programms der Engländer, der Franzosen, vor allem der Amerikaner, und infolgedessen für uns Mode geworden. Viele, von denen man es nicht geahnt hatte, sind nun aus der Zeit heraus bemüht, sich dieser Mode anzupassen und mit den noch wenig passenden Kleidungsstücken auf den Markt zu gehen“ (Feger 1946, 98). Wie sich bereits gezeigt hat, schrieb Feger dies nicht als Antidemokrat, sondern aus Besorgnis um ihre ernsthafte und wahrhaftige Unterstützung. In der Tat war es ja die große Frage nicht nur der unmittelbaren Nachkriegszeit, welcher Anteil der Bevölkerung mit welchem Wissen und welchem Engagement sich ehrlichen Herzens für die neue Demokratie einzusetzen bereit war. Wie sollte man solches Engagement von rückfallträchtigem Opportunismus oder bloßem Karrieredenken unterscheiden, für die diese Zeit ja angesichts der – relativen – Auswechslung und den kriegsopferbedingten Ausfällen der überkommenen Funktionseliten in vielen gesellschaftlichen Bereichen und der Politik neuartige Chancen bot? Auf solche Fragen konnten die zahlreichen Umfragen der Alliierten auch keine letzte Antwort bieten, zumal die Daten eher Anlaß zur Skepsis boten. Vor diese Fragen sahen sich nicht nur die Besatzungsoffiziere gestellt, wenn sie bald nach der absoluten Niederlage daran gingen und
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gehen mußten, auf allen Ebenen der Verwaltung, des Pressewesens und bald schon auch der Politik, Deutsche einzubeziehen und ihnen Ämter und Aufgaben zu übertragen. Nicht für alle Positionen standen schließlich als glaubwürdig eingeschätzte Remigranten oder Mitglieder und Sympathisanten des Widerstandes zur Verfügung. Das allgemeine Mißtrauen gegenüber der sicherlich hier und dort auftretenden Heuchelei in Sachen Demokratie war weit verbreitet: „Fraglos ist heute in Deutschland niemand mehr, der sich offen zu seinen schlechten Instinkten bekennt oder offen der scheußlichsten aller Vergangenheiten nachtrauert. Aber wie steht es damit im geheimen?“ (Reger 1947, 22); Josef Radermacher befürchtet gar, daß den schweigenden Opportunisten von vor 1945, heute, wenn sie vermeintlich für die Demokratie das „Maul aufreißen ... die gebratenen Tauben da hineinfliegen“ (Radermacher 1946, 109). Dieses gerade bei demokratisch orientierten Intellektuellen verbreitete Mißtrauen mag einen Grund dafür abgegeben haben, daß moralische Gewissenserforschung, daß Fragen der Sittlichkeit und traditionellen Werte, ob unter Berufung auf Religion, die Tradition des Abendlandes oder den Humanismus von Aufklärung und Goethezeit in den Publikationen der Intellektuellen den oft beobachteten, allzuoft nachträglich bespöttelten zentralen Platz beanspruchten. Wo Moralisierung das politische Denken gänzlich zu ersetzen suchte, war gewiß auch nachträgliche Kritik angebracht. Aber aus der Zeit und ihrer Ungewißheit über die Zukunft heraus gesehen, war dieser Rückgriff auf Ethik und Moral als Richtlinien der Politik sehr verständlich. In Situationen der als nahezu absolut empfundenen Entscheidungs- und Handlungskontingenz erwiesen sie sich als das naheliegende ,Geländer‘, an dem man sich in die Zukunft zu hangeln gedachte. Selbst in der heutigen ,post-modernen‘ Situation stellt sich ja die Frage, welche Orientierungen Politik denn sonst aus sich selbst heraus zu formulieren in der Lage wäre, wenn sie dabei nicht auf das traditionell überkommene Repertoire ethischer und moralischer Vorstellungen zurückgreifen könnte. Der – freilich philosophisch und politisch – bedeutsame Unterschied besteht jedoch in den politischen Gesellschaften unserer Tage (Greven 1999) vor allem darin, daß ihre praktischpolitische Ingeltungsetzung und Verteidigung ohne die früheren Begründungsgewißheiten auskommen muß (Rorty 1988), die ehemals den Philosophen und Predigern der Religionen in weiten Kreisen der Bevölkerung kraft Autorität und Tradition abgenommen wurden. Dadurch ist eine vermeintliche Gewißheitsbasis abhanden gekommen, die nur durch die ständige gesellschaftliche und kulturelle praktisch-diskursive Bestätigung der historisch in einer bestimmten Tradition mühsam erkämpften, nun aber als kulturelle Tradition überkommener Ethik- und Moralvorstellungen funktional teilweise ersetzt werden kann, ohne doch jemals hinter den nicht mehr hintergehbaren Pluralismus im Einzelfall zurückkehren zu können, der sich auch in den hier beispielhaft untersuchten Nachkriegsveröffentlichungen Ausdruck verschafft hat. Die politische Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit kann als ein sicherlich begrenztes und aus-
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schnitthaftes Spiegelbild solch einer politischen Gesellschaft, die sich nach dem vollständigen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur und unter den objektiven Bedingungen von Fremdherrschaft, einsetzendem Kalten Krieg und noch lange anhaltender materieller Not über die kontingenten Bedingungen ihrer Zukunft zu verständigen suchte, begriffen werden. Jeder Rückgriff auf überkommene philosophische oder religiöse Moralpostulate wurde dabei zu einem politischen Argument, das sich in der schnell pluralisierten Öffentlichkeit behaupten mußte; dort entschied keine noch so gelehrt reklamierte allgemein philosophische oder theologische Begründung, sondern allein die Resonanz und Zustimmung der Mitbürger; dabei mochten für solche Resonanz sogar Mißverständnisse verantwortlich sein. Paradoxerweise stellt sich bei solcher Betrachtung heraus, daß die fremdbestimmte Auflage der Alliierten, die deutsche politische und gesellschaftliche Zukunft auf jeden Fall in Gestalt der Demokratie zu denken, in einem zentralen politischen Punkt die mögliche Kontingenzwahrnehmung autoritativ begrenzte. Für den ehemaligen Reichsarbeitsminister und neuen Regierungspräsidenten von Würzburg Adam Stegerwald stellt sich nur die „Alternative“ für die „gegenwärtige Generation und insbesondere die deutsche Jugend ... ob sie diesen Weg freiwillig mitgehen oder ob sie sich ihm mit innerem Widerspruch entgegenstemmen wollen oder ob eine abwartende Haltung das Gebot der Stunde sei“ (Stegerwald 1946, 19); darin vermag man keine Handlungs-, sondern allenfalls eine gewissensbezogene Restkontingenz zu erkennen. Franz W. Jerusalem antwortet auf die eingangs seiner kleinen Schrift über die Demokratie gestellte Frage nach ihrem Wesen zum Beispiel: „In erster Linie ist Demokratie eine der Friedensbedingungen, die uns von den Kriegsgegnern auferlegt ist“ (Jerusalem 1947, 5). Zwar geschieht dies bei Jerusalem, der nachfolgend durchaus für einige Vorzüge der Demokratie als Staatsform wirbt, zunächst nur aus gewissermaßen ,didaktischen‘ Gründen; aber indem er solchermaßen zeigt, wo er die Leser und Leserinnen seiner Schrift glaubt abholen zu müssen, verrät er doch zugleich vieles über die damals weit verbreiteten Anschauungen über die geschichtliche und politische Offenheit der sogenannten „Stunde Null“. Wenn Jerusalem gegen Ende seiner Schrift dann allerdings festhält: „Demokratie ist – ganz abgesehen von dem Willen der Sieger – unser Schicksal, ob wir wollen oder nicht“ (Jerusalem 1947, 38), so scheint er sich selbst einmal mehr auf das vermeintliche „Schicksal“ als Kontingenzreduktionsformel für die Zukunft zu berufen und damit sein Plädoyer für die Demokratie in das normative Zwielicht vermeintlicher Alternativlosigkeit zu rücken. Ein solches Zwielicht werfen aber auch einige andere Gedanken Jerusalems auf, so beispielsweise, daß er ein dem Vorbild des „germanischen Volksstaates“ folgendes „Wahlrecht repräsentativen Charakters“, nach dem „das Wahlrecht zum Parlament lediglich in die Hand des Mannes gelegt würde, der es für die Gesamtheit der Familienangehörigen, also auch für die Frau, auszuüben hätte“, für denkbar hält, da es angeblich „der Idee der Demokratie nicht widersprechen“ würde, sondern allein der „formalen
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Gleichheitsidee ... die mit der Demokratie an sich nichts zu tun hat“ (Jerusalem 1947, 12). Gertrud Bäumer verweist auch auf andere Stimmen, die offenkundig unmittelbar nach dem Krieg das Frauenwahlrecht in Frage stellten und hält dessen entschiedene Verteidigung explizit für notwendig (Bäumer 1946, 28ff). Spricht aus Jerusalems Darstellung Skepsis gegenüber der Demokratie, so ist die Schrift des Freiburger Historikers Gerd Tellenbach geradezu von einem tiefen Pessimismus über ihre momentanen Aussichten und von Mißtrauen gegenüber Parteien und freien Wahlen durchzogen; demgegenüber finden sich vage Ideen der politischen Zukunft als „freigegliederter Körper“ (Tellenbach 1947, 56) – was immer sich sonst hinter dieser organologischen Vorstellung verbergen sollte. Wie Jerusalem allerdings auf die Idee kommt, daß die „formale Gleichheitsidee“ nicht zum definitionsgemäßen Kernbestand moderner Demokratie gehörte, hingegen ein durchaus von der sozialistischen Tradition abgegrenzter „Kollektivismus“ (Jerusalem 1947, 9), bleibt sein Geheimnis. Für ihn war und ist offenkundig „jene(r) radikale Individualismus, der sich in der Spätzeit der hellenistischen Stadtstaaten zum Unheil des Gemeinwesens durchsetzte, als Widerspruch zu Demokratie“ zu begreifen (Jerusalem 1947, 18) und die Hauptgefahr für die Zukunft. Der kontingente „Erwartungshorizont“ der Zukunft blieb also in der unmittelbaren Nachkriegszeit – zumindest semantisch – auf „Demokratie“ beschränkt, was freilich, wie nicht nur das Beispiel Jerusalems zeigt, noch mancherlei Spielraum für politische Phantasie offen ließ. Alles mögliche an gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwürfen war in der unmittelbaren Nachkriegszeit denkbar und angesichts der begrenzten Beurteilungsmöglichkeiten der Zeitgenossen mehr oder weniger gleich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich zu realisieren. Allein deren demokratische Qualität konnte nicht, durfte nicht in Frage stehen. Nicht zuletzt die alliierte Zensur würde dafür gegebenenfalls Sorge tragen – aber man darf vermuten, daß angesichts der klaren Signale, die die Alliierten in den Deklarationen über die Entnazifizierung und demokratische Umerziehung gaben, das meiste antizipiert wurde und daher von einer Zensur antidemokratischer Manuskripte kaum Gebrauch gemacht werden mußte. Solchermaßen war das Kontingenzspektrum auf Variationen der Demokratie selbst begrenzt. Eine Ausnahme ist bei Müller-Armack, dem späteren langjährigen Staatssekretär Ludwig Erhardts im Wirtschaftsministerium, angedeutet, wenn er zusammen mit den anderen Weltanschauungen auch die „Demokratie“ zu jenem „gefährlichen Vorgang einer säkularisierten Idolbildung“ (Müller-Armack 1949, 306) zu rechnen scheint, in dem „alle äußeren Einrichtungen einer säkularisierten Kultur, mögen sie nun totalitär oder demokratisch sein, versagten“ (Müller-Armarck 1949, 316). Immerhin im Jahr der Verabschiedung des Grundgesetzes lautet seine Diagnose: „Die politische Umerziehung der Besiegten wird zutiefst in Frage gestellt, seit die Labilität der demokratischen Formen in ihren Traditionsländern allgemein zu Bewußtsein kommt“ (Müller-Armack 1949, 305); keinen Zweifel könne es mehr
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darüber geben, „daß die liberale Konzeption einer gewaltfreien Ordnung vor der Geschichte versagt hat“ (Müller-Armack 1949, 306). Heute „dürfte es ein ernstes Anliegen unserer Gegenwart sein, einer echten Humanisierung des Politischen durch die Einschaltung der geistig-wissenschaftlichen ratio in unsere politische Gestaltung zu dienen“ (Müller-Armack 1949, 313), denn „eine humane Form der Politik werden wir allerdings nur erreichen können, wenn wir diese Aufgabe einer Szientifizierung der Politik als unabdingbares Anliegen begreifen“ (MüllerArmack 1949, 313) – deshalb sei „die Forderung einer Szientifizierung der Politik“ das Gebot der Stunde (Müller-Armack 1949, 312). Damit werden bereits Ansätze der Technokratiethese von Helmut Schelsky (Schelsky 1961) vorweggenommen – der freilich hinsichtlich des Obsoletwerdens der Demokratie dann noch etwas deutlicher wurde. Vielleicht ist die Wahrnehmung und Antizipation dieser Situation einer der Gründe dafür, daß sich in der hier untersuchten politischen Nachkriegsliteratur zwar allenthalben Ausführungen zur Demokratie finden, daß sie aber selbst nur ganz vereinzelt im Zentrum politischen Denkens steht. Im Titel von selbständigen Veröffentlichungen taucht sie zwar öfter auf, aber wenn, dann oft gleich unter Hinweis auf ihre „Problematik“ (Peters 1948) oder gar ihre „Gefahren“ (Zbinden 1948). Solche Vorbehalte schlagen sich auch in der Forderung nach einer „im tiefsten Sinne aristokratischen Demokratie“ nieder (Götz 1946, 30), oder in der Vorstellung, in der „wahren Demokratie“ sei „Parteipolitik als Politik der Wahrnehmung von Gruppeninteressen ... eine Verirrung, und man sollte sich keinem Zweifel darüber hingeben, daß es sich hierbei nicht um die Übertreibung und Entartung eines an sich gesunden Prinzips, sondern einfach um die Anwendung eines unter allen Umständen falschen Prinzips gehandelt hat“ (Walker 1947, 61). Diese aus dem Gedankenkreis des Freigeldtheoretikers Silvio Gesell argumentierende Schrift, will als Ergebnis einer radikalen Dezentralisierung und Demokratisierung schließlich erreichen, daß in autonomen Gruppen der „Haufen“ durch die „Besten“ regiert werde – hinter dem anarchistischen Anspruch lugt ein elitäres Programm hervor. Demgegen propagiert Horst Ebinger die „Radikale Demokratie“ nach dem Vorbild der USA und – ausgerechnet! – den Ideen Henry Fords; dessen „fortschrittlichste und produktivste“ Methoden sollten mit deutschem Sozialstaat, Genossenschaftsdenken und umfassender Planung zusammengebracht werden (Ebinger 1947). Für den Kölner Rechtsprofessor Ernst von Hippel lief das „Wesen der Demokratie“ geradewegs auf den „demokratischen Weltstaat“ hinaus (Hippel 1947). So schwankten die schwächeren unter den zahlreichen Vorschlägen und Entwürfen einigermaßen orientierungslos zwischen ablehnender Skepsis und Utopie hin und her – auch dies Ausdruck einer Situation, in der weder eine gefestigte politische Kultur, noch theoretische Standards dem Einzelnen Halt versprachen Gewiß hat sich gezeigt, daß bei Richard Löwenthal in Form des „demokratischen Sozialismus“ in antitotalitärer Konfrontation mit dem Bolschewismus
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eine ausgearbeitete Version gesellschaftlicher Demokratie vorliegt – aber die Hauptsache ist ihm dabei doch die Verwirklichung des Sozialismus (Sering 1948). Ähnliches galt für Otto Fegers radikaldemokratischen Vorschlag für ein autonomes Alemannien, der dabei sogar bereit war, die universalistischen Aspekte der demokratischen Bürgerrolle gegenüber ethnischen Zugehörigkeitskriterien zurückzustellen (Feger 1946). Auf Alfred Webers zurückhaltende und den Demokratiebegriff zunächst semantisch umgehende Praxis wurde aufmerksam gemacht (Weber 1946) und auch bei Friedrich Meinecke, Karl Jaspers oder Wilhelm Röpke stand die Demokratie nicht im Vordergrund. Weit verbreitet ist in der Nachkriegszeit bereits die anti-rousseauistische Skepsis gegenüber einer zu rationalistischen beziehungsweise ungezügelten „Volkssouveränität“ (Schelsky 1946, Peters 1947), oder einer politisch-immanenten, auf die Französische Revolution zurückgehenden Propagierung der Menschenrechte: „Zur wahren Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aber wird der Mensch erst dann zurückfinden, wenn er darauf verzichten wird, sie aus eigener Kraft im Diesseits zu verwirklichen“, schreibt Hans Zehrer, ehemaliger spiritus rex des Tat-Kreises und eines auch nach 1945 noch verwendungsfähigen „neuen Nationalismus“ (Breuer 1993, 180ff) und späterer Chefredakteur im Springer-Verlag (Zehrer 1949, 50). Solche Argumentation verbindet sich mit anti-totalitären Überlegungen, die im aufkeimenden Kalten Krieg eine neue strategische Funktion übernehmen konnten. Über den Etikettenschwindel, der im Rahmen des Marxismus-Leninismus mit den Begriffen der „Volksdemokratie“ (Abusch 1947) oder der „wahren Demokratie“ (Ulbricht 1946) betrieben wurde, braucht man auch kein weiteres Wort mehr zu verlieren. Arthur Baumgarten, der spätere langjährige Präsident der „Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften ‚Walter Ulbricht‘ “, fügt dem noch den vielversprechenden Neologismus „uneingeschränkte Demokratie“ hinzu (Baumgarten 1946, 19), in der die „Gesellschaft ... zu einer solidarischen Arbeitsgemeinschaft geworden“ (Baumgarten 1946, 18) sein werde, die „es dem Volk ermöglicht, sich nach wissenschaftlichen Prinzipien selbst zu regieren“ (Baumgarten 1946, 5). Unnötig, die „wissenschaftlichen Grundlagen“ dieser Zukunft weiter zu zitieren. Auch hier darf man aber bei der Beurteilung dieser Beobachtungen nicht anachronistische Erwartungen hegen, denn das Gebiet einer „Demokratietheorie“ als eigenes empirisches und normatives Teilgebiet der Politikwissenschaft hat es damals international so wenig wie eine etablierte Politikwissenschaft in Deuschland gegeben; Bücher zur Demokratie waren auch auf internationaler Ebene nur vereinzelt vorzufinden. In der Philosophie galt die Demokratie überhaupt nicht als relevanter Gegenstand. Als Dolf Sternberger im Auftrag der Library of Congress im März 1950 einen Bericht über den „Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre in der Bundesrepublik Deutschland“ ablieferte, kamen darin weder „Politikwissenschaft“ als Disziplin noch „Demokratie“ als Forschungsgegenstand direkt vor. Als Teil der „Soziologie“ wird die „politische Soziologie“ als ein Desiderat hervorgehoben, für die „in Deutsch-
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land ein Plan oder ein Etat für kontinuierliche empirische Studien“ noch nicht existiere (Sternberger 1950, 35). Als einziger Beitrag dazu wird ein unveröffentlichter Vortrag von Theodor Eschenburg vom Dezember 1949 angeführt, der angeblich die „fortschreitende Zersetzung des Parlamentarismus wie der parteipolitisch neutralen Staatselemente“ konstatierte und behauptete, die „klassische Gewaltenteilung“ sei „praktisch durch den Parteienabsolutismus aufgehoben“ worden (Sternberger 1950, 36). Unter „Sozialphilosophie“ werden die Schriften Alfred Webers und Karl Jaspers sowie der „katholischen Sozialphilosophie“ Oswald Nell-Breunings unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt einer Kritik der Vermassung kurz thematisiert und das Werk des zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus der Türkei nach Deutschland zurückgekehrten Alexander Rüstow besonders herausgestellt (Sternberger 1950, 11-16). Mit anderen Worten: selbst von dem späteren Lehrstuhlinhaber für die Wissenschaft von der Politik in Heidelberg Dolf Sternberger wird die aus heutiger Sicht defizitäre Thematisierung des Politischen damals noch nicht so empfunden oder als Teil der „Sozialwissenschaften“ thematisiert. Wie ich hoffentlich bis hierhin demonstriert habe, war die Diskussion und Literatur zur Politik aber doch nicht ganz so defizitär, wie von Sternberger dargestellt. Sternbergers Darstellung von 1950 ist umso erstaunlicher, als er in einer seiner als Broschüre gedruckten „politischen Radio-Reden“ im Süddeutschen Rundfunk, genau am 10. Juli 1946, noch recht emphatisch geforderte hatte, es müsse „die Politik auf die Hochschule – als eine Wissenschaft, eine Wissenschaft mit einer großen Tradition übrigens. Nur dann, wenn die Politik unter die Wissenschaften aufgenommen wird, ist die Politisierung der Wissenschaft wahrhaft zu verhüten“ (Sternberger 1947, 44). In diesen frühen Beiträgen scheint Sternbergers später ausgearbeitete politische Theorie erst in Umrissen auf, so wenn er schreibt, „daß das wirkliche menschliche Leben sich in der Mitte zwischen jener allgemeinen Freiheit und dem Gesetz des Staates abspielt, und daß es in der Demokratie auf die Sitte, auf die Bildung der freien Sitten, auf den Umgang des Menschen mit dem Menschen ankommen wird“ (Sternberger 1947, 24). Für Sternberger ist, wie er durch Kursivdruck betonend aus seiner Schrift hervorhebt, „die Anstandslehre, die Lehre und Übung des Betragens von Mensch zu Mensch, der Anfangsgrund der Politik“ (Sternberger 1947, 44). Die staatlichen Verfahren und Institutionen haben nur diesen Zweck, nämlich die Ausbildung und Förderung der „freien Sitten“ und des Umgangs der Bürger miteinander in Freiheit zu fördern und ermöglichen. Deshalb gilt, daß „Politik in Wahrheit heißt die Lehre und die Praxis des menschlichen Gebarens und Betragens ... für die Staaten wie für die einzelnen Menschen. Und daß wir alle fortwährend Politik machen, ob wir es nun merken oder nicht“ (Sternberger 1947, 79). In der Demokratie gehe es normativ „nicht um die Souveränität des Nationalstaates, sondern um die Souveränität des Menschen, der menschlichen Praxis“ (Sternberger 1947, 29). Aber die daraus resultierenden Freiheiten des Individuums dürften nicht in „Willkür“ auf individueller wie auf der Ebene des Gemeinwesens enden, der li-
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berale Grundsatz des vierten Absatzes der Menschenrechtserklärung von 1789 – „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was anderen nicht schadet!“ – reiche daher nicht aus, „um Freiheit und Willkür zu unterscheiden“, denn er führe allein zum Prinzip der „Nicht-Intervention“ (Sternberger 1947, 33f). Die Demokratie als „Freiheitsherrschaft“ beruhe aber auf dem auf Alexander Hamilton zurückgehenden Grundsatz amerikanischen Verfassungsdenkens „Government must have an active principle“ (Sternberger 1947, 41), könne sich also nicht bloß auf die liberale Garantie der ,liberties‘, der „negativen Freiheiten“ (Berlin 1969) beschränken. Das „Wesen“ solcher zur aktiven „Freiheitsherrschaft“ gebrachten „Politik unter freien und duldsamen, daher auch zur Selbstbeschränkung bereiten Menschen, – das Wesen solcher Politik ist die Bereitschaft zum Kompromiß, zum aufrichtigen Kompromiß“ (Sternberger 1947, 43). Die ,Aufrichtigkeit‘ deutet auf eine epistemische Grundlegung dieser normativen Politikauffassung hin, bei der sich Sternberger auf die Philosophie Karl Jaspers’ beruft, wenn er schreibt: „Demokratie ist nicht Eigensinn Aller oder Eigensinn verschiedener Gruppen und Formationen, sondern Gemeinsinn Aller, Diskussion, Verhandlung, Vertrag der Gruppen und Formationen. Innerhalb der Diskussion ist Wahrheit – wie Karl Jaspers sagt – das, ‚was uns verbindet‘, Meinung aber, was uns trennt. Meinungsfreiheit kann daher nur unter dem Gesetz der Wahrheit, unter der Pflicht zur Wahrhaftigkeit ihren Sinn erfüllen“ (Sternberger 1947, 25). Diese Formulierungen können als Vorlauf der später von Jürgen Habermas ausgearbeiteten deliberativen Demokratietheorie gelesen werden, in der zwar die ursprünglichen Hoffnungen auf eine ,Diskurstheorie der Wahrheit‘ begraben wurden – aber der Anspruch auf epistemische Grundlegung der „rationalen Ergebnisse“ politischen Entscheidens und der Rechtsetzung nicht (Habermas 1992, 499 und passim). Der Kompromiß als zentrales Konzept demokratischer Politik, eine diesem förderliche gesetzliche institutionelle Ordnung sowie eine sich in einem darauf bezogenen individuellen Anstand und Umgang äußernde politische Kultur, bilden 1947 für Sternberger die Voraussetzung und den normativen Kern der kommenden Republik. Bei Julius Ebbinghaus findet sich dafür die kurze Formel: „die Fähigkeit in Einigkeit miteinander uneinig zu sein“ (Ebbinghaus 1946, 38) sei das, was bisher der deutschen Politik gefehlt habe, aber den Kern einer freiheitlichen Republik ausmache. Auch bei ihm besteht das Vertrauen in die epistemischen Grundlagen der Konsensbildung, die sich vom „Gesinnungsdünkel“ dadurch unterscheide, daß sie eine „Überzeugung, deren Gegenstand (sie) für böse und schändlich halte ... mit Gründen widerlege“ (Ebbinghaus 1946, 34f). Beiden geht es also um das rechte Maß von Pluralismus und einen Basiskonsens, der die Prinzipien, Spielregeln und Institutionen umfaßt, die den demokratischen Umgang mit Uneinigkeit dauerhaft garantieren. Während Sternberger dabei aber eher auf die republikanische Tradition gemeinsamer Sitten, auf Erziehung und auf „Anstand“ als Grundlagen guter Politik setzt (Sternberger 1947, 93), vertrauen die beiden in der Tradition Kants stehenden Ebbinghaus
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und Habermas mehr auf die Vernunft, die es ermöglichen soll, zwischen guten und schlechten Gründen zu unterscheiden. Für alle drei sind damit aber auch ihre ,Feinde‘ so definiert, wie Sternberger sie 1947 ausmacht: „Wenn aber der Kompromiß herrschen soll, so kann man mit den Feinden des Kompromisses, mit den ‚Kompromißlosen‘ oder Fanatikern, keinen Kompromiß zulassen. ... Kein gleiches Recht also für die Feinde des gleichen Rechtes!“ (Sternberger 1947, 43), ruft Sternberger bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit die „streitbare“ beziehungsweise „abwehrbereite Demokratie“ der späteren Bundesrepublik aus – ohne doch schon über die abstrakten Formeln hinaus politisch konkreter zu werden. Wie sehr Sternberger die „freien Sitten“, wie sehr „Anstand und Umgang“ unter- und miteinander der Bürger in der Demokratie als das eigentliche Fundament der anzustrebenden institutionellen Ordnung am Herzen lagen, demonstriert bereits der anekdotische Anfang des Artikels „Herrschaft der Freiheit“, den er als Mitherausgeber im 7. Heft der Zeitschrift „Die Wandlung“ um die Jahreswende 1945-46 veröffentlichte; er bildet später die Grundlage einiger der Radio-Reden. Ein Junge sei von einem Behördengang weinend und gescholten nach Hause gekommen, weil er im Gespräch mit dem Beamten die Hände nicht aus den Taschen genommen hätte; er habe sich auf Befragen durch den Vater mit dem Satz gerechtfertigt, „bei der Hitlerjugend seien sie immer angepfiffen worden, die Hände aus den Taschen zu tun, und nun habe er geglaubt, das wenigstens höre jetzt doch auf, – jetzt, da die Freiheit angebrochen sei“. Sternberger, dem es bei seiner Erzählung wichtig ist, darauf hinzuweisen, der rügende Polizeibeamte sei „einer jener altansässigen, schnurrbärtigen und wohlwollenden Demokraten gewesen, von denen noch einige übrig geblieben sind“, dazu: „Die Geschichte enthält das ganze Problem der Freiheit mit samt all seinen Verwirrungen und Verkehrungen“ (Sternberger 1945/46, 556). ,Freiheit‘ sei eben kein abstraktes Negativum, könne sich nicht nur im Protest gegen Autorität äußern, wie der befreite Hitlerjunge mißverständlich annahm, sondern könne nur aus den erworbenen „Sitten“ des respektvollen und toleranten „Umgangs“ einer Gemeinschaft freier Bürger und Bürgerinnen resultieren, die sich der institutionellen Grundlagen und Grenzen ihrer gemeinsamen Freiheit jederzeit bewußt und diese zu verteidigen bereit seien. Für diese politisch-kulturelle Verankerung der zunächst nur abstrakten Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie in den Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen ihrer Bürger und Bürgerinnen wird er später den Begriff der „Staatsfreundschaft“ prägen, in dem „Verfassungspatriotismus“ mit Bezug auf die Institutionen und Solidarität mit den Mitbürgern zusammengedacht werden können (Sternberger 1975). Dem schon in der Weimarer Republik renommierten Staatsrechtslehrer Richard Thoma genügt die Verankerung dieses Basiskonsenses in der politischen Kultur nicht, sondern er betont in seiner Schrift zur „gebundenen Demokratie“ stärker die rechtliche Doppelung von Herrschafts- und Freiheitsordnung (Thoma 1948, 17); erstere billige der durch Mehrheitsentscheid legitimierten
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Regierung die Herrschaftsgewalt zu, denn auch die Demokratie sei „gleich allen anderen Arten von Staatsherrschaft, eine Herrschaft von wenigen, eine Oligarchie“ (Thoma 1948, 5f), letztere aber garantiere durch einen auch von den Herrschenden zu respektierenden „verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog“ die unantastbaren Freiräume der Individuen oder Körperschaften, wie etwa der Kirchen (Thoma 1948, 16). Der Akzent liegt also anders als bei dem in aristotelisch-republikanischer Tradition denkenden Sternberger auf der Betonung des Herrschaftscharakters und der Herrschaftsausübung einer Minderheit auch in der Demokratie. Einig sind sie sich zwar in der Befürwortung eines Mehrheitswahlrechts, aber während es Sternberger dabei in einer von Antiparteienressentiment nicht ganz freien Argumentation um den „Nutzen der Personenwahl durch Mehrheitsentscheidung“ der Wähler geht (Sternberger 1947, 69), steht für Thoma das Zweiparteiensystem und die Verhinderung der verderblichen Wirkung von „Splitterparteien“ im Vordergrund und ihm „scheint nichts wünschenswerter, als daß sich in einer Nation zwei Großparteien bilden, von denen immer die eine oder die andere mit absoluter Mehrheit aus den Wahlen hervorgeht“ (Thoma 1948, 18f). Sternbergers lebenslanges Engagement für ein personenzentriertes Mehrheitswahlrecht, das bereits mit der Gründung der „Deutsche Wählergesellschaft e.V.“ im Sommer 1947 begann, kulminierte in den Reden, die im März 1949 in der Paulskirche in Frankfurt als letzter vergeblicher Versuch, auf den Verfassungsgebungsprozeß Einfluß zu nehmen, neben Sternberger u.a. vom hessischen Ministerpräsidenten Kurt Geiler und Gustav Dahrendorf gehalten wurden (Deutsche Wählergesellschaft 1949); vorangegangen waren Broschüren zur Werbung für das Mehrheitswahlrecht, in denen sich neben Sternberger auch beispielsweise Maurice Duverger äußerte (Deutsche Wählergesellschaft 1947). Der Streit um das Wahlrecht sollte bis in die Zeiten der ersten Großen Koalition andauern. Wenn Thoma sich mit dieser Argumentation wesentlich auch gegen Koalitionsregierungen unter Beteiligung dritter kleiner Parteien wendet und sich dabei auf das englische Vorbild beruft (Thoma 1948, 20), so bedient er sich dabei eines klassischen, aber nichts desto trotz sachlich falschen Topos des deutschen politischen Denkens über das Regierungsmodell Großbritanniens, das keineswegs stets als alternierendes Zweiparteiensystem fungiert hatte (Alemann 1973, 54ff). Von Alemann weist allerdings auf den darin zum Ausdruck kommenden Gesinnungswandel hin, da Thoma vor 1933 noch zu den Verteidigern „des pluralistischen Parteienparlamentarismus“, also eines „Mehrparteiensystems“ und sogar von „Koalitionsregierungen“ gehört habe (Alemann 1973, 119f); allerdings so scharf war dieser Wechsel nicht, weil – wie von Alemann ebenda zeigt – Thoma auch schon vor 1933 auf dieselben Gefahren von Mehrparteiensystemen hingewiesen hatte und man seine Verteidigung des Weimarer Status quo diesbezüglich allenfalls halbherzig nennen kann. Der Vergleich von Sternberger und Thoma ist noch in einem weiteren Punkt interessant: hatte Ersterer den Kompromiß geradezu zum tragenden Prinzip demokratischer Praxis erklärt,
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sieht Thoma den zu erwartenden „Zwang zum Kompromiß“ als eine von „zwei bedenklichen Eigenschaften“, die „aber dem demokratischen Parteienstaat wesensgemäß und unvermeidbar eigentümlich“ seien, an; das andere Übel erkennt er im Übrigen in der „Neigung zum inkonsequenten Richtungswechsel“ (Thoma 1948, 21). „Richtungsschwankungen und mehr noch die Notwendigkeit gütlich ausgehandelter Kompromisse, sie sind es, welche dem demokratischen Parteienstaat seine Feinde erwecken“ (Thoma 1948, 23). Es ist auffällig und wiederum eine bezeichnende Differenz zu Sternberger, daß Thoma sich ausführlich und über mehrere Seiten über diese „Feinde“ der Demokratie – vom Bolschewismus über den Rassenfanatismus bis hin zu den „Kreisen der berufenen Hüter veredelter und vertiefter ästhetischer, geisteswissenschaftlicher und gesellschaftlicher Kultur“, die in der Demokratie nur das „Absinken des Kulturniveaus“ erkennen könnten (Thoma 1948, 23-27) – ausläßt, ohne aber dem Gedanken eines Parteienverbots oder gar dem der Verwirkung von Grundrechten explizit näher zu treten. Wahrscheinlich sah er darin ebenso wie in „verfassungsrechtlichen Unantastbarkeiten“ oder Ewigkeitsgarantien „nur sogenannte juristische Zwirnsfäden ..., die zerreißbar sind und die unweigerlich zerrissen werden, wenn ein entschiedener und beharrlicher Mehrheitswille an ihnen zerrt“ (Thoma 1948, 39). So bleibt seine Zustimmung dazu, in die neue deutsche „Verfassungsurkunde eine Hemmung gegen das Recht auf Selbstmord“ einzufügen (Thoma 1948, 40) auch reichlich gewunden und opak formuliert und stellt keineswegs, wie Hermann Jahrreiß in der Festschrift für Thoma nahelegt, eine Zustimmung zur „wehrhaften Demokratie“ (Jahrreiß 1950, 88f) insgesamt dar. So treffen sich am Ende zwar Thomas relativistischer Herrschaftsrealismus und Sternbergers republikanisches Bürgerethos in der Erkenntnis, daß die Fortexistenz der Demokratie allein durch die ausreichende Unterstützung demokratischer Bürger und Bürgerinnen gewährleistet sein kann, aber Thoma verweigert sich mit den bekannten rechtspositivistischen Argumenten von vor 1933, wie sie von ihm und Georg Anschütz im maßgeblichen Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung vertreten worden waren, auch nach der Erfahrung der nationalsozialistischen Machtergreifung weiterhin diesen Elementen eines „verfassungspolitischen ... Ordnungsliberalismus“ (Kriele 1994, 338) einer „abwehrbereiten Demokratie“. Nach Kriele kommt in dieser Einstellung das unpolitische Versagen des deutschen Liberalismus zum Ausdruck; diese „deutschen Liberalen hatten einen moralischen, aber keinen politischen Willen. Sie setzten auf die Gesinnung, nicht auf Institutionen ... und letztlich auf die Philosophie vom Recht des Stärkeren“ (Kriele 1994, 339). Und in der Tat kulminiert Thomas Argumentation für die Demokratie auch 1948 in der Berufung auf eine solche grundlegende „Gesinnung“. Für ihn gibt es im Lager der „Freunde“ nur drei Rechtfertigungen der Demokratie, erstens aus dem „Nutzen“ im Sinne des Utilitarismus eines Jeremy Bentham, zweitens aus der Resignation, die die Demokratie im Sinne des
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berüchtigten Churchill-Zitats bloß als das geringste der Übel unter den unvermeidbaren Herrschaftsformen ansieht, und drittens aus „philantrophischem Idealismus“ (Thoma 1948, 28f). „Wir heutigen, denen die demokratische Wirklichkeit vor Augen steht, können nur lächeln über jene althergebrachten, von angelsächsischen Autoren und Rednern gelegentlich noch immer wiederholten Argumentationen, eine demokratische Gesetzgebung sei notwendig für alle Bürger so gerecht und wohlwollend wie möglich ...“ formuliert Thoma gegenüber solchen vernunftgegründeten Demokratiekonzeptionen an der Grenze von Realismus und Ressentiment. Was er dem entgegenstellt, wird aber auch nur wenige überzeugt haben: „... in Sachen der Freiheit und in Sachen der Gleichheit bedarf es, wenn Demokratie gerechtfertigt werden soll, eines hinzutretenden seelischen Antriebes, in dessen Dienst dann erst die Ratio den Weg zum Ziele erleuchten kann“ (Thoma 1948, 30). Diesen „seelischen“, auch als „irrational“ bezeichneten Antrieb glaubt Thoma 1948 zu erkennen; es „ist der zum Individualegoismus den Gegenpol setzende, aus dem Hordeninstinkt der Urzeit emporgewachsene, auf den Stamm, das Volk, ja die Menschheit sich ausdehnende Altruismus, der in seiner höchsten Sublimierung die ganze Humanitas mit einem Gefühl der universellen Brüderlichkeit umfaßt“ (Thoma 1948, 31). Man kann da nur staunen, wie unvermittelt doch ein eben noch realistischer Herrschaftsrelativismus wieder einmal in ein performatives Menschheits- und Brüderlichkeitspathos umschlägt, dem noch dazu eine phylogenetische Entwicklungsbasis unterlegt wird. Es heißt nicht dem Zynismus huldigen, sondern nur bei Thomas realistischer Ausgangsbasis zu verharren, wenn man zu fragen wagt, wo denn in den Hunderten von gewaltsamen Konflikten seitdem, wo beispielsweise im heutigen Irak, im Sudan und wo in dem Überlebenskampf Israels gegenüber exterminatorischen Bewegungen in seiner näheren und weiteren Nachbarschaft sich jener „Altruismus“ oder jene „universelle Brüderlichkeit“ jemals wirksam gezeigt hätte, um auch nur das Schlimmste zu verhindern – das doch auch in Zukunft wahrscheinlich alltäglich weiter geschieht. 1948 gedachte man vielerorts in Feierstunden der 100. Wiederkehr der gescheiterten Revolution, die das deutsche Bürgertum zur Verwirklichung deutscher Einheit in einem freiheitlichen Verfassungstaat damals im demokratischen Geiste der Paulskirchenversammlung versucht hatte. Mehr als an allem anderen war der Versuch an der damaligen europäischen Großmacht Preußen gescheitert. Während Carlo Schmid in seiner Festrede den halbierten bürgerlichen Klassencharakter dieses Revolutionsversuches herausstellte, um mit Bezug auf die aktuelle Lage in Deutschland dann festzuhalten: „Das Proletariat war nicht zahlreich genug“, um 1848 bereits „ ‚seine‘ Revolution zu machen, war es nicht organisiert genug. ... So mußte es sich besiegen lassen und das Warten lernen. Es hat inzwischen manchen Schritt vorwärts gemacht. Aber im Grunde wartet es noch heute“ (Schmid 1948, 19), gedachte Theodor Heuss, nicht nur der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, sondern schon bald lagerübergreifend als „Papa Heuss“ der weithin geschätzte, nicht mehr der Parteipo-
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litik zugeordnete Repräsentant des neu sich herausbildenden gesellschaftlichen und politischen Establishments Westdeutschlands der „48er“ als jener mutigen Männer und Vorkämpfer des freiheitlichen Verfassungsstaates, den zu verwirklichen heute wenigstens im westlichen Teil des besiegten Vaterlandes mit Hilfe der Alliierten gelingen könne und müßte (Heuss 1948). Während der Sozialdemokrat also mit unverhohlenem Pathos die sozialistische Vollendung der stets bisher nur „bürgerlich“ halbierten Revolution forderte und an den „revolutionären Geist“ seiner Genossen mindestens ebenso wie an ihre „Geduld“ appellierte (Schmid 1948, 21), sah der Repräsentant des liberalen Bürgertums in dem Verfassungsentwurf von 1848 bereits das Ziel vor Augen, das nunmehr – „Preussen ist nicht mehr“ – nur noch ins Werk gesetzt werden müßte (Heuss 1948, 166). Solchermaßen scheint auf den ersten Blick im sich verfestigenden westdeutschen politischen System wenigstens rhetorisch und aus der Sicht der Beteiligten noch länger die Kontingenz des neuen Status quo vorhanden zu bleiben, die erst in dessen revolutionärer Umwälzung durch eine sozialistische demokratische Revolution überwunden sein würde. War diese wahrgenommene Kontingenz der einen Seite Anlaß zu großen Befürchtungen, so der anderen zu einer gegen die wahrgenommene „Restauration“ noch einige Zeit wachgehaltenen Hoffnung. Aus der rückwärtsblickenden Perspektive der Nachgeborenen will es allerdings paradoxerweise so scheinen, als hätte gerade die Verwirklichung eines anderen, nämlich „realen Sozialismus“ in der Ostzone und späteren DDR maßgeblich dazu beigetragen, daß diese Kontingenz des westlichen Status quo nur scheinbar bestand.
Personenregister
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Abendroth, Wolfgang 18f, 24 Abusch, Alexander 30, 219, 221-235, 246, 278 Ackermann, Anton 216, 232, 234 Adenauer, Konrad 20, 78, 101, 108, 133, 160, 199, 219 Adorno, Theodor W. 28, 65, 89ff, 250 Alemann, Ulrich von 282 Aly, Götz 42 Aquin, Thomas von 46, 136, 138f Arendt, Hannah 28, 40, 42, 68f, 74, 76f, 104, 115, 147, 233, 260, 273 Aristoteles 188 Arnold, Karl 133 Aron, Raymond 75f Asbach, Olaf 171 Assmann, Aleida 9, 32, 55 Aßmann, Georg 251 Augstein, Rudolf 72 Augustin 46
Berlin, Isaiah 143, 248, 260, 280 Beyerhaus, Gisbert 51 Beyme, Klaus von 61, 75 Bismarck 14, 18, 76, 80, 82, 101, 107, 150ff, 173, 223, 226, 243 Bleek, Wilhelm 10 Böckler, Hans 133 Borst, Arno 168 Bracher, Karl Dietrich 188, 230, 260 Brandt, Reinhard 258 Brandt, Willy 180, 209 Breuer, Stefan 278 Bröckling, Ulrich 197f, 203f, 208 Brüning, Heinrich 51, 197, 230 Brunkhorst, Hauke 43 Brünneck, Alexander von 24 Brunner, Otto 49 Bubner, Rüdiger 14 Buchman, Frank 132, 133, 134 Buhr, Manfred 217 Burckhardt, Jakob 55, 56, 57, 83 Burnham, James 182
Baden, Max von 150, 227 Baerns, Barbara 29 Bänsch, Dieter 119 Barnouw, Dagmar 21, 63, 79 Bauer, Gustav 227 Bauer, Leo 221 Bauman, Zygmunt 90 Bäumer, Gertrud 87ff, 276 Baumgarten, Arthur 278 Baumgarten, Eduard 254 Beck, Ulrich 45 Becker, Berndt 112, 123 Benedict, Ruth 61 Benjamin, Walter 49, 201f Bentham, Jeremy 283 Berg, Nicolas 51ff
Chruschtschow, Nikita 68 Churchill, Winston 24, 191, 219, 284 Clay, Lucius D. 132 Cobet, Christoph 9, 30, 113, 222 Croner, Fritz 230f Dahrendorf, Gustav 282 Dallmayr, Fred R. 117 Degkwitz, Rudolf 37 Deichsel, Alexander 252 Demm, Eberhard 39, 44f Deuerlein, Ernst 105, 108f
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Deutsch, Helene 86 Dewey, John 254f, 267, 269 Dietrich, Hermann Robert 107 Dimitroff, Georgi 184 Dirks, Walter 89, 196-209 Djilas, Milovan 23 Doberer, Kurt Karl 107 Drexel, Joseph E. 238, 249 Driesch, Hans 46, 86 Dubiel, Helmut 74 Duverger, Maurice 282 Ebbinghaus, Julius 63, 99, 280f Eberan, Barbro 32, 40 Ebert, Friedrich 228 Ebinger, Horst 277 Ehard, Hans 133 Eisfeld, Rainer 119 Ellwein, Thomas 112, 223 Elster, Jon 22, 71 Engels, Friedrich 181, 183, 194, 216, 224, 226, 232, 239, 243 Erhardt, Ludwig 276 Ermath, Fritz 26 Eschenburg, Theodor 18, 104, 279 Ewald, Hans-Gerd 29 Eynern, Gert von 45 Faber, Richard 117, 200f Fach, Wolfgang 238 Feger, Otto 35, 107, 110, 145-158, 273, 278 Fehrenbach, Konstantin 150 Ferber, Walter 106, 138, 176 Fetscher , Iring 218, 224, 258 Fichte, Johann Gottlieb 252, 261 Field, Noel H. 221 Flanagan, Claire 29 Flechtheim, Ossip K. 223 Fleischer, Helmut 42 Ford, Henry 277 Förster, Jürgen 23 Frank, Karl B. 23 Frantz, Constantin 138, 141 Frei, Norbert 74, 98 Freud, Sigmund 80, 82, 85 Freyer, Hans 247, 254, 255, 267 Friedlaender, Ernst 16 Friedrich II. 149, 223, 241f Friedrich, Jörg 74
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Friesenhahn, Ernst 112 Fulbrook, Mary 54f, 79, 93, 113 Furet, François 188 Gablentz, Otto Heinrich von der 9, 106, 154, 180f, 198 Gehlen, Arnold 254 Geiler, Kurt 282 Gerhardt, Uta 19ff, 26, 49 Gesell, Silvio 277 Giddens, Anthony 183 Glotz, Peter 180 Gneisenau, August Graf Neidhardt von 59 Gobineau, Josef Arthur Graf von 162 Goebbels, Josef 114, 269 Goethe, Johann Wolfgang von 52, 60, 80, 219 Goodin, Robert E. 259 Götz, Richard 277 Grafton, Anthony 8 Grass, Günther 62 Grebing, Helga 161, 187f, 257 Greiner, Bernd 106 Greven, Michael Th. 12, 62, 76, 78, 158, 171, 183, 209, 248, 274 Groener, Wilhelm 52 Groh, Dieter 226 Grossmann, Atina 104 Grotewohl, Otto 215 Gründler, Gerhardt E. 69, 74 Grunenberg, Antonia 233 Gumplowicz, Ludwig 136 Häberle, Peter 111 Habermas, Jürgen 61f, 64, 280f Hagen, Paul 23 Hahn, Karl 252 Halévy, Elie 163 Hamilton, Alexander 280 Haselbach, Dieter 160, 166, 174 Hay, Gerhard 29 Hayek, Friedrich A. 163, 166, 172, 175 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 40, 113, 240, 244, 254 Heidegger, Martin 65, 203f, 255 Heinemann, Gustay 133 Henke, Klaus-Dietmar 26 Herb, Karlfriedrich 258 Herder, Johann Gottfried 59 Herf, Jeffrey 221
288 Herz, John H. 97 Heuss, Theodor 18f, 87, 264, 284f Heydte, Friedrich August von der 109 Hilferding, Rudolf 180f Hindenburg, Paul von 51ff, 229f, 241 Hippel, Ernst von 277 Hitler, Adolf 43, 48, 51ff, 80f, 84ff, 97f, 101, 114, 149, 151, 186, 219, 223, 226, 228ff, 237, 241, 243, 245 Hobbes, Thomas 10, 208, 252ff, 260, 262 Hoffmann, Arnd 52 Hoffmann, Max 223 Holmes, Stephen 257 Horkheimer, Max 89ff Höß, Rudolf 93 Howard, Peter 133 Humboldt, Wilhelm von 59 Hundt, Josef 103 Husserl, Edmund 136 Huxley, Aldous 267 Jackson, Robert 71 Jahrreiß, Hermann 283 Janowitz, Morris 29 Jarausch, Konrad 21 Jaspers, Karl 31, 33, 39, 55, 70f, 73, 113f, 164f, 203, 278ff Jefferson, Thomas 192 Jerusalem, Franz W. 130, 154, 156, 275 Joas, Hans 255f Kant, Immanuel 46, 64, 66, 72, 75, 118, 246, 280 Kaunders, Anthony D. 28 Kautsky, Karl 224 Keiderling, Gerhard 213f Kelsen, Hans 94, 100, 144, 195 Kersting, Wolfgang 263 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 138, 141 Kielmansegg, Peter Graf 18, 24, 50, 125 Kirsch, Guy 169 Kirsch, Jan Holger 27 Klaus, Georg 217 Klöckler, Jürgen 145, 152f, 155 Kob, Janpeter 250 Koebner, Thomas 108 Kogon, Eugen 9, 21f, 30, 55, 88-102, 154, 196, 199, 252 Kogon, Michael 197
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Köhler, Horst 27 Kohn, Hans 233 Kolakowski, Leszek 245 König, Pierre 145 König, René 43, 250f Koselleck, Reinhard 14, 51, 261, 268 Kramer, F.A. 159 Kramer, F.A. 35, 51, 110, 138 Krautkrämer, Elmar 145 Krawietz, Werner 271 Kreisky, Eva 87 Krieger, Leonhard 233 Kuhn, Hermann 218 Kühnl, Reinhard 187 Kurella, Alfred 217 Laak, Dirk van 62 Labica, Georges 211, 217 Lach, Donald F. 103 Laforet, Georg 135-144, 176 Langbein, Hermann 115 Lange, Max G. 216f, 221 Lasalle, Ferdinand 226, 243 Laski, Harold 264 Laurien, Ingrid 29 Le Bon, Gustave 43 Leibniz, Gottfried Wilhelm 51 Lenin, Wladimir I. 180f, 183, 185, 193, 212, 214, 216, 218ff, 222ff, 232, 234 Lenk, Kurt 244, 256, 260f Leo XIII . 138 Leonhard, Jörn 257 Leonhard, Wolfgang 213 Lersch, Philipp 31 Lessing, Gotthold Ephraim 224f Liebknecht, Karl 229 Lipgens, Walter 108 Lipps, Theodor 136 Litt, Theodor 250 Loewenheim, Walter 178 Loewenstein, Karl 10 Longerich, Peter 67 Löwenthal, Richard 154, 178-196, 198, 204f, 209, 257, 277 Ludendorff, Erich 223 Ludwig XIV. 241f Lukács, Georg 198, 246, 248 Luther, Martin 223 Luxemburg, Rosa 180f, 227ff
Helmut Schelsky: Freiheit als „Summe aufbauender Kräfte“
Machiavelli, Nicolo 50, 54, 113 Maier, Reinhold 133 Makropoulos, Michael 15 Manikowsky, Armin von 69, 74 Mann, Thomas 23, 26, 43 Mannheim, Karl 78, 175, 191, 239, 246 Mao 219 Marx, Karl 180f, 191, 194, 203, 216f, 224ff, 228, 232, 239, 243f Marx, Wilhelm 231 Mayntz, Renate 167 Mehring, Franz 227 Meinecke, Friedrich 30, 32, 49-61, 85, 109, 113f, 162, 223, 278 Meineke, Stefan 59 Merker, Paul 221 Merritt, Anna 26, 119 Messelken, Karlheinz 250 Metternich, C.W. Fürst von 149 Metzger, Hans-Dieter 254 Meuschel, Sigrid 224, 233f Meusel, Alfred 105 Meyer, Thomas 15, 179 Mitscherlich, Alexander 28, 41, 48f Mohler, Armin 237, 249 Mohr, Arno 10 Moltke, Helmut James Graf von 113 Montesquieu, Charles Baron de 10, 188 Morgenthau, Henry 108 Morin, Edgar 147 Mowat, R.C. 133 Mueller-Graaf, Carl H. 107, 176 Mühlhauser, Regina 104 Müller, Gebhardt 133 Müller, Hermann 230 Müller, Jan-Werner 62 Müller-Armack, Alfred 60, 276f Münkler, Herfried 252 Münster, Arno 228 Münzer, Thomas 224 Naaman, Shlomo 227 Naimark, Norman M. 104, 211, 213 Napoleon 149 Naumann, Friedrich 52, 57, 59, 87 Nawiasky, Hans 107 Nehru, Jawaharlal 191 Nell-Breuning, Oswald 138, 279 Neumann, Franz 187 Niekisch, Ernst 237-249, 262
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Niethammer, Lutz 213 Nietzsche, Friedrich 223 Nizer, Louis 103 Noack, Ulrich 34 Noetzel, Thomas 255 Noske, Gustav 227, 232 Oelßner, Fred 186, 232 Oertzen, Peter von 121 Offe, Claus 154 Olick, Jeffrey K. 29, 32, 50, 53ff, 61f, 67, 93, 106, 113, 162, 176 Orwell, Georg 267 Ottmann, Henning 11, 138 Otto, Volker 177 Pakenham, Lord 132 Palonen, Kari 45, 254 Papen, Franz von 51 Pershing, John J. 134 Peter, Hans 107, 109, 111-135, 153, 201, 277f Pieck, Wilhelm 213f, 227f Pieper, Heidrun 75 Pike, David 211, 216, 221 Pius XI. 138 Plessner, Helmut 233 Pois, Robert A. 52, 59 Popper, Karl 92 Portella, Javier 133 Prümm, Karl 196ff, 200, 203f, 209 Rabinbach, Anson 61, 63, 65, 79, 113 Radbruch, Gustav 66 Radek, Karl 224 Radermacher, Josef 274 Radkau, Joachim 57, 75 Rambaldo, Hartmut 29 Rawls, John 143 Reger, Erik 49, 274 Reichel, Peter 74 Richter, Emanuel 263 Ritsert, Jürgen 172 Ritter, Gerhard 109 Roon, Gerd van 113 Roosevelt, Franklin D. 24, 219 Röpke, Wilhelm 12, 31, 35, 55, 105, 107, 109, 113f, 152, 155, 159-177, 183, 206, 257, 278
290 Rorty, Richard 274 Rosenberg, Alfred 250 Rosenberg, Arthur 197 Rotteck, Karl von 150 Rousseau, Jean-Jacques 260 Ruck, Michael 42 Rühle, Jürgen 242, 245ff Rupp, Hans Karl 199 Rüstow, Alexander 279 Sahner, Heinz 250, 251 Sandel, Michael J. 143 Sartre, Jean Paul 248 Sauermann, Uwe 238, 249 Sautermeister, Gert 108 Schäfer, Gerhard 250ff, 266 Scharpf, Fritz W. 167 Scheidemann, Philipp 227f Scheler, Max 161, 255 Schelsky, Helmut von 247, 250-272, 277f Schildt, Axel 31, 40, 67, 119, 177, 200 Schiller, Theo 158 Schlangen, Walter 186f Schleiermacher, Friedrich 261 Schmid, Carlo 108, 127, 284f Schmitt, Carl 208f, 224, 242, 263 Schmucker, Josef 46 Schneider, Sigrid 108 Scholem, Gershom 41 Schottlaender, Felix 80-88 Schröder, Heinz 27 Schüddekopf, Otto-Ernst 239, 241 Schulze, Winfried 32, 35, 50f Schumacher, Kurt 105, 215 Schuman, Robert 133 Schumpeter, Joseph A. 182, 247, 269 Schwab-Felisch, Hans 237, 249 Schwan, Alexander 75 Schwarz, Alexander 11f, 34 Schwarz, Hans-Peter 146, 159 Seiterich-Kreuzkamp, Thomas 197 Severing, Carl 232 Siegrist, Hannes 21 Skinner, Quentin 254 Smend, Rudolf 120f, 129 Söllner, Alfons 188 Spann, Othmar 94f, 197, 262 Speier 21 Spengler, Oswald 84, 261
Freiheit im Planstaat
Stalin, Josef 23, 183, 186, 210f, 216f, 219, 222f, 234f Stampfer, Friedrich 232 Stankowski, Martin 199 Stegerwald, Adam 157, 275 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom 59, 261 Stern, Fritz 233 Sternberger, Dolf 9, 30, 78, 279f, 283 Stolper, Gustay 18, 21f, 26 Sturzo, Luigi 187 Sutor, Bernd 75 Sywottek, Arnold 177 Talmon, Jakob L. 187, 258, 260 Tauber, Kurt P. 106 Tellenbach, Gerd 35, 276 Thälmann, Ernst 231 Thoma, Richard 281ff Tillich, Paul 54 Tito, Josef B. 225 Topitsch, Ernst 144 Treitschke, Heinrich von 40 Trotnow, Helmut 227 Trotzki, Leo D. 222f, 228 Truman, Harry S. 134, 219 Uhl, Bernd 199 Ulbricht, Walter 211ff, 220, 222, 232, 249, 278 Vaillant, Jérôme 29 Vilmar, Fritz 193 Virally, Michel 108 Walker, Karl 277 Walras, Léon 172 Walzer, Michael 144 Weber, Alfred 39-49, 55, 60, 62, 78, 80, 115, 162, 182223, 278f Weber, Marianne 39 Weber, Max 13, 15, 31, 45ff, 65, 75ff, 101, 136, 140, 234f, 261, 272 Wedl, Kurt 106 Weihnacht, Paul-Ludwig 145 Weiß, Janda 93 Weizsäcker, Richard von 27 Welcker, Karl Theodor 150
Helmut Schelsky: Freiheit als „Summe aufbauender Kräfte“
Welles, Sumner 74, 108 Wels, Otto 232 Wilbrandt, Robert 16 Wilhelm II. 223, 227, 243 Willms, Bernhard 252f Wirth, Günther 123, 150 Wolgast, Eike 32, 213 Woltereck, Richard 46
Wroblewsky, Vincent van 64 Zbinden, Hans 130, 277 Zehrer, Hans 278 Zetkin, Clara 227 Zündel, Ernst 28
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Quellen
Mensch
(Hier werden die tatsächlich benutzten und im Text zitierten Ausgaben und Auflagen aufgeführt, häufig bewußt die zuletzt erschienene, oft gegenüber der ersten erweiterte und ergänzte Auflage; wenn aus Aufsatzsammlungen oder gesammelten Werken o.ä. zitiert wird, werden diese angeführt; soweit inhaltlich von Belang, wird im Text selbst auf die zum Untersuchungszeitraum gehörende Erstauflage verwiesen.) Abendroth, Wolfgang (2006a), Die Haftung des Reiches, Preussens, der Mark Brandenburg und der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts für Verbindlichkeiten, die vor der Kapitulation vom 8. 5. 1945 entstanden sind, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hannover, 471-488 Ders. (2006b), Die zweite Hamburger Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer vom 14.-16. 4. 1948, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hannover, 531-535 Ders. (2006c), Die Frage nach dem deutschen Staat von heute, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hannover, 537-539 Abusch, Alexander (1947), Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, 3. Auflage Berlin Ders. (1949), Stalin und die Schicksalsfragen der deutschen Nation, Berlin Ackermann, Anton (1946), Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?, in: Einheit. Monatsschrift zur Vorbereitung der Sozialistischen Einheitspartei, Heft 1, 22-32 Bäumer, Gertrud (1946), Der neue Weg der deutschen Frau, Stuttgart Baumgarten, Arthur (1946), Die Entwicklung der Ideen der Demokratie und des Rechtsstaates in der Neuzeit, Stuttgart Degkwitz, Rudolf (1946), Das alte und das neue Deutschland, Hamburg Deutsche Wählergesellschaft e.V. (1947) (Hrsg.), Der Wähler. Die Hauptperson der Demokratie, Heidelberg Dies. (1949) (Hrsg.), Das Wählen und das Regieren. Das Problem der parlamentarischen Demokratie, Darmstadt Dietrich, Hermann Robert (1947), Auf der Suche nach Deutschland. Probleme zur geistigen, politischen und wirtschaftlichen Erneuerung Deutschlands, Stuttgart Dirks, Walter (1947), Die Zweite Republik, Frankfurt am Main Ders. (1950), Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, V. Jg., 9, 942-954 Doberer, Kurt Karl (1947), Die Vereinigten Staaten von Deutschland, München Ebbinghaus, Julius (1946), Zu Deutschlands Schicksalswende, Frankfurt am Main Ebinger, Horst (1947), Radikale Demokratie, Berlin Ermath, Fritz (1947), Volk und Staat, Karlsruhe Feger, Otto (1946), Schwäbisch-Alemannische Demokratie. Aufruf und Programm, Konstanz Ferber, Walter (1946), Der Föderalismus, Augsburg. Friedlaender, Ernst (1947), Das Wesen des Friedens, Hamburg Gablentz, Otto Heinrich v.d (1946), Über Marx hinaus, Berlin Ders. (1948), Die Tragik des Preussentums, München Ders. (1949), Geschichtliche Verantwortung. Zum christlichen Verständnis der deutschen Geschichte, Stuttgart Götz, Richard (1946), Adelsbewußtsein, Stuttgart Grotewohl, Otto (1948), Im Kampf um Deutschland. Reden und Aufsätze, Berlin Ders. (1959), Im Kampf um die einige deutsche demokratische Republik. Reden und Aufsätze, Bd. 1, Berlin
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