Politischer Extremismus und Parteien [1 ed.] 9783428525966, 9783428125968

Der hier vorgelegte Band, hervorgegangen aus einem Promotionskolleg, gibt in 24 Aufsätzen einen Überblick zum Thema &quo

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Politischer Extremismus und Parteien [1 ed.]
 9783428525966, 9783428125968

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 92

Politischer Extremismus und Parteien Herausgegeben von

Eckhard Jesse und Hans-Peter Niedermeier

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ECKHARD JESSE / HANS-PETER NIEDERMEIER (Hrsg.)

Politischer Extremismus und Parteien

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 92

Politischer Extremismus und Parteien Herausgegeben von

Eckhard Jesse und Hans-Peter Niedermeier

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-12596-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 1. April 2002 begann das von der Hanns-Seidel-Stiftung geförderte Promotionskolleg „Politischer Extremismus und Parteien“ mit fünf Stipendiaten. Bis zum 1. Oktober 2004 wurden weitere Stipendiaten aufgenommen (insgesamt 24). Der Leiter des Promotionskollegs seitens der Stiftung war Prof. Dr. Hans-Peter Niedermeier, der wissenschaftliche Leiter Prof. Dr. Eckhard Jesse von der TU Chemnitz. Es ist den Herausgebern ein großes Bedürfnis, mit diesem Band Arbeitsergebnisse – hervorgegangen aus den Doktorandentreffen – der Öffentlichkeit zu präsentieren. Bis jetzt sind mehr als drei Viertel der Studien erfolgreich abgeschlossen worden. Unser großer Dank gilt der Gesellschaft für Deutschlandforschung, die diese Publikation in ihre Schriftenreihe aufgenommen hat. Chemnitz und München, im April 2007

Eckhard Jesse und Hans-Peter Niedermeier

Inhaltsverzeichnis Eckhard Jesse Politischer Extremismus und Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Böhm Vom Rassismus zum Ethnopluralismus. Kontinuität und Wandel im Denken von Alain de Benoist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alexander Dassen Alter Wein in neuen Schläuchen. Die nach wie vor symbiotische Beziehung von Linkspartei.PDS und den Ostdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lars Flemming Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“. Das NPDVerbotsverfahren 2001 bis 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralf Grünke Die Partei der Republikaner im Wandel der Zeit. Eine extremistische Partei?

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Sophie Guggenberger Direkte Demokratie und politischer Extremismus. Das Beispiel der Schweiz 107 Henning Hansen „Radau“-Nationalismus in der frühen Bundesrepublik. Die Sozialistische Reichspartei im Lichte alliierter Geheimdienstberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Florian Hartleb Populismus und Charisma. Zur elektoralen Erfolgs- und Mißerfolgsformel anhand zweier Beispiele in der bundesdeutschen Parteiendemokratie . . . . . . . . 147 Jana Kausch Die Dritte Hochschulreform und die daraus resultierende Verantwortung der FDJ. Das Beispiel der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt . . . . . . . . . . . 169 Frank König Rückkehr der Vergangenheit. Die Debatte um das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg als Beispiel von Geschichtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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Verena Küstner Linker Terror und rechte Gesinnung im Diskurs der Mitte. Wahrnehmung linker und rechter Extremismen im parlamentarischen Diskurs des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Anita Maaß Kommunaler Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung“ und „NSGleichschaltung“. Das Dresdner Stadtverordnetenkollegium in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Stefan Mayer Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei. Die Mitgliederentwicklung der Deutschen Volksunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Andreas Morgenstern Extremismus und Radikalismus. Eine Analyse der Parteien DKP, DVU, PDS und Die Republikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Tim Peters Antifaschismus und Sozialismus statt Demokratie und Marktwirtschaft. Extremistische Ansätze in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik der Linkspartei.PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Jörg Pfeifer Die Illusion von der Reformierbarkeit der DDR. Der „Berliner“ und der „Dresdner Weg“ der Opposition in der friedlichen Revolution 1989/90 . . . . . . 321 Sebastian Prinz Kontinuität und Wandel einer postkommunistischen Partei. Die programmatische Entwicklung der PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Heike Schmidt Negative Bevölkerungsentwicklung. Familienpolitik in der DDR . . . . . . . . . . . 363 Thomas Schubert Antikapitalismus gleich Extremismus? Die wirtschaftspolitische Programmatik der PDS in den sächsischen Landtagswahlkämpfen 1990 bis 2004 . . . . . . . 385 Solveig Simowitsch Sozialdemokratischer Verräter oder politischer Selbsttäuscher? Der Konvertit Carl Moltmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

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Olav Teichert „Mit APO immer, gegen Sowjets nimmer“. Über die Beziehungen zwischen der SED-W und der APO in West-Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Tom Thieme Durchmischung von Rechts- und Linksextremismus. Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Johannes Urban Die Bekämpfung des Internationalen Islamistischen Terrorismus. Der Fall Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Kirstin Wappler Grenzen der Politisierung im Schulalltag des SED-Staates. Katholisches Eichsfeld und protestantisches Erzgebirge im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Kristin Wesemann Kommunistin, Journalistin, Terroristin. Zur politischen Biographie von Ulrike Marie Meinhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535

Politischer Extremismus und Parteien Von Eckhard Jesse Das Themengebiet „Politischer Extremismus und Parteien“ ist vielgestaltig. Parteien sind für den demokratischen Verfassungsstaat unentbehrlich. Sie rekrutieren wesentlich das politische Personal, bündeln unterschiedliche Interessen und nehmen so eine Integrationsfunktion wahr. Der politische Extremismus hingegen übt durch die Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates eine desintegrierende Funktion aus. Er kann das demokratische Parteiengefüge mannigfach gefährden. Parteien sind Zusammenschlüsse von Personen, die gleichgerichtete politische Ziele verfolgen. Das Parteiengesetz von 1967 definiert den Begriff der Partei in § 2, Absatz 1 wie folgt: „Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Mitglieder einer Partei können nur natürliche Personen sein.“ Parteien unterscheiden sich dadurch, daß sie Einfluß auf die politische Willensbildung des Landes zu nehmen versuchen, von Gruppierungen, die nur im kommunalen Bereich agieren („Wählergemeinschaften“ oder „Rathausparteien“) und von Interessenverbänden sowie von Bürgerinitiativen, die jeweils keine direkte politische Verantwortung anstreben. Mit dem Prinzip der Einzelmitgliedschaft soll der Unterwanderung durch eine mitgliederstarke Vereinigung ein Riegel vorgeschoben werden. Die moderne Demokratie ist eine Parteiendemokratie. Wer die Parteien abschaffen will, sucht damit auch den demokratischen Verfassungsstaat zu beseitigen. Mit Extremismus ist jene politische Richtung gemeint, die die Werte der freiheitlichen Demokratie ablehnt. Alle Formen des politischen Extremismus zeichnen sich durch die direkte oder indirekte Ablehnung des politischen Pluralismus aus. Zu seinen Strukturmerkmalen gehören ferner die Identitätstheorie der Demokratie, Freund-Feind-Stereotypen, ein hohes Maß an ideologischem Dogmatismus und in der Regel ein starkes Bedürfnis, andere zu missionieren, oft auch der Glaube an Verschwörungen. Für manche Autoren ist Radikalismus ein Phä-

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nomen zwischen Extremismus und Demokratie. Aus der Existenz solcher Grauzonen läßt sich allerdings keineswegs schlußfolgern, der Begriff des Extremismus sei obsolet. Bei Parteien wie der PDS (im linken Spektrum) oder den „Republikanern“ (im rechten Spektrum) ist die Frage nach der extremistischen Einordnung nicht leicht zu beantworten. Wer von den Zielen ausgeht, unterscheidet zwischen dem Extremismus von links und dem Extremismus von rechts. Linksextremisten berufen sich – in unterschiedlicher Anknüpfung und Ableitung – auf kommunistische Lehren, die – jedenfalls in der Theorie – das Gleichheitsdogma verabsolutieren; der Extremismus von rechts hingegen ist durch antiegalitäre Grundpositionen gekennzeichnet. Religiöse Formen des Extremismus entziehen sich der gängigen LinksRechts-Dichotomie. Sie propagieren die Einheit von Religion und Staat, sagen dem weltanschaulich neutralen Staat den Kampf an. Die bekannteste Variante dieser Form des Extremismus ist der islamistische Fundamentalismus. Es existiert ein breites Spektrum des Rechts- und des Linksextremismus mit höchst unterschiedlichen Spielarten. Jeder Neonationalsozialist ist ein Rechtsextremist, nicht jeder Rechtsextremist jedoch ein Neonationalsozialist. Jeder Marxist-Leninist ist ein Linksextremist, nicht jeder Linksextremist ein Marxist-Leninist. Jeder islamistische Terrorist ist ein extremistischer Fundamentalist, nicht jeder extremistische Fundamentalist ein islamistischer Terrorist. Die Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Strömungen sind oft prinzipieller Natur, nicht bloß taktischer. Das gilt nicht nur für den Streit zwischen Rechts- und Linksextremisten, sondern auch für das eigene „Lager“. Trotzkisten lehnen etwa die Positionen der DKP strikt ab. Selbst sie bilden keine Einheit, wie eine Vielzahl von trotzkistischen Strömungen zeigt. Der hohe Grad des Dogmatismus führt bei dem Kampf um die „reine Lehre“ zu Absplitterungen. Manche Vermengungen irritieren. So bekennt sich die bizarre Gruppe der „Anti-Deutschen“, obwohl links-extremistisch orientiert, zu Israel und zur harten NahostPolitik des US-Präsidenten George W. Bush. Auf der anderen Seite ist die aggressive rechtsextremistische NPD strikt antikapitalistisch ausgerichtet, weniger antikommunistisch. Terrorismus stellt eine spezifische Form des politischen Extremismus dar. Durch die systematische Anwendung von politisch motivierter Gewalt, z. B. auf ausgewählte Repräsentanten des „Systems“ oder auf völlig Unbeteiligte, soll die „herrschende Schicht“ verunsichert und die „ausgebeutete Klasse“ bzw. die „unterdrückte Ethnie“ mobilisiert werden – z. B. dadurch, daß der Staat demoralisiert wird oder mit seinen Abwehrmechanismen überreagiert und Schwäche zeigt. Es gibt u. a. rechtsextremistischen, linksextremistischen, ethnischen und religiösen Terrorismus. Parteien können auch selber extremistisch sein. Der parteipolitische Extremismus ist kein Widerspruch in sich, da extremistische Kräfte die politische Wil-

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lensbildung beeinflussen wollen. Nach dem Grundgesetz darf nur das Bundesverfassungsgericht eine Partei verbieten („Parteienprivileg“). Eine Partei (lat. pars = Teil), die andere Parteien aus dem politischen Willensbildungsprozeß ausschalten will, erfüllt die Voraussetzungen für ein Verbot, jedenfalls dann, wenn sie aggressiv-kämpferisch vorgeht. Allerdings wird das Bundesverfassungsgericht lediglich auf Antrag tätig, sei es der Bundesregierung, des Bundestages oder des Bundesrates. Selbst Anhänger einer streitbaren Demokratiekonzeption widerstreiten nicht folgender Aussage: Die Existenz extremistischer Parteien ist Ausweis einer offenen Gesellschaft. Nicht alles, was antidemokratisch ist, darf, kann und muß verboten werden. Die streitbare Demokratie fährt gut damit, argumentativ delegitimierenden Tendenzen entgegenzutreten, etwa der paradoxen Formulierung vom „Extremismus der Mitte“. Wie diese knappe Auflistung zeigt, bietet ein Promotionskolleg zum Thema „Politischer Extremismus und Parteien“ vielfältige Anknüpfungspunkte. So sind zahlreiche Arbeiten angefertigt worden, die in das Zentrum zielen, etwa Studien zur Geschichte der (verbotenen) SRP, zum gescheiterten Verbotsverfahren gegen die NPD, zur Einordnung der SEW oder zur DVU. Auch zu Parteien, die, extremismustheoretisch gesehen, in einer Grauzone angesiedelt sind, wurde geforscht. Davon zeugen zahlreiche Studien zur PDS (unter einer höchst unterschiedlichen Fragestellung: etwa zum Antifaschismusbegriff der Partei oder zu ihrer Programmatik) wie zur Partei der „Republikaner“. Abhandlungen zu Intellektuellen wie Alain de Benoist und Ulrike Meinhof fanden ebenfalls Berücksichtigung. Daß die Arbeiten über einen aktuellen Bezug verfügen, zeigt etwa die Studie zum hiesigen Bekämpfungsansatz gegenüber dem terroristischen Islamismus. Der Schwerpunkt liegt zwar auf der Bundesrepublik Deutschland, aber Arbeiten über den Extremismus in der Schweiz und über den anders gefärbten parteipolitischen Extremismus in Ostmitteleuropa zeigen die Abkehr von nationaler Nabelschau. Es war ein Anliegen des Promotionskollegs, die oft vernachlässigte vergleichende Sichtweise zu stärken. So kommen etwa die folgenden Aspekte zur Sprache: Vergleich des Populismus der PDS mit dem Populismus der „Schill-Partei“, vergleichende Diskursanalyse (Terrorismus der siebziger Jahren mit der Fremdenfeindlichkeit der neunziger Jahre), Vergleich der institutionalisierten „Erinnerungslandschaften“ im vereinigten Deutschland, Vergleich zwischen radikalen und extremistischen Parteien, Vergleich zwischen der Arbeit rechter und linker Extremisten im Dresdner Stadtverordnetenkollegium. Ein solches Promotionskolleg war nicht dazu gedacht, einer spezifischen wissenschaftlichen Position das Wort zu reden. Auch teilen keinesfalls alle Doktoranden die extremismustheoretische Einschätzung des Verfassers. Die Legitimität unterschiedlicher Ansätze schlägt sich in diesem Sammelwerk nieder. Es stellt eine Art „Kostprobe“ dar und soll auf die zum Teil bereits vorliegenden Bücher neugierig machen. Wie die folgende Übersicht verdeutlicht, überschreiten einige der Beiträge das vorgegebene Themenfeld. Das gilt für fünf Texte

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zur DDR. Gleichwohl wurde diese Erweiterung als sinnvoll angesehen: zum einen deshalb, weil die DDR ein Staat mit einem „Extremismus an der Macht“ war (ob nun autoritär oder totalitär ausgerichtet), zum andern deshalb, weil die DDR-Zeit in mannigfacher Weise auf die Gegenwart zurückwirkt. So wird der Lebenslauf von sozialdemokratischen „Konvertiten“ analysiert, die Rolle der Freien Deutschen Jugend bei der Dritten Hochschulreform, die Familienpolitik der SED, die staatliche Haltung gegenüber evangelischen und katholischen Christen sowie die friedliche Revolution (unter der Fragestellung nach einem spezifischen „Berliner Weg“ und einem „Dresdner Weg“). Michael Böhm reflektiert über Wandel und Kontinuität im Denken des französischen Philosophen Alain de Benoist. Der 1943 geborene Rechtsintellektuelle gehörte im Jahre 1968 zu den Gründungsmitgliedern des Diskussionsklubs Groupement de recherche pour les études de la civilisation européene (G.R.E.C.E.) und gilt heute als der geistige Kopf der Nouvelle Droite in Frankreich. Ausgehend von der Vorgeschichte des G.R.E.C.E., analysiert der Autor unter Einbeziehung biographischer und mentalitätsgeschichtlicher Aspekte die konstituierenden Faktoren des Denkens von Alain de Benoist. Dessen mitunter konträre doktrinäre Positionen führt er dabei auf ein- und dieselbe denkerische Grundintention zurück: die antiutilitaristisch-ästhetische Weltvision Friedrich Nietzsches. Zudem untersucht der Beitrag, ob das Denken von Alain de Benoist in all seinen Phasen als extremistisch angesehen werden kann. Alexander Dassen geht in seiner Analyse der west- und ostdeutschen Gesellschaft der Frage nach, ob zwischen den Orientierungen vieler Ostdeutscher und der Ideologie der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) eine starke Kongruenz existiert. Er untersucht, weshalb es die PDS bisher nicht vermocht hat, sich im gesamtdeutschen Parteiensystem zu etablieren – jedenfalls vor dem Zusammenschluß mit der WASG. Lediglich in Ostdeutschland kann sie im großen Stil Wähler mobilisieren. Sie hat dort Umfragen zufolge ein anderes und wesentlich besseres Image als im Westen, gilt vielfach als demokratisch anerkannt. Damit verbunden ist u. a. die Frage nach einer ostdeutschen Identität und einem ostdeutschen Separatempfinden, dem spezifischen Staatsverständnis und dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit in Ostdeutschland. Die qualitative Analyse wird durch Ergebnisse der empirischen Sozialforschung ergänzt. Lars Flemming untersucht Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Verbotsverfahrens gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD): von der durch Hektik und Aktionismus geprägten Verbotsdiskussion des Jahres 2000 über die Pannenserie bei der Antragstellung und das Scheitern der Verbotsstreiter vor Gericht bis hin zu den Auswirkungen des Verfahrens auf die streitbare Demokratie und die NPD. Seine Studie prüft, ob es politisch zweckmäßig war, diese Partie verbieten zu wollen. Der Autor vertritt die These, daß das Verfahren von Anfang an verfahren war und die Verbotsbefürworter mit ihrer Blamage

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vor dem Bundesverfassungsgericht der streitbaren Demokratie schwer geschadet haben. Entgegen der verbreiteten Meinung sieht er keinen Zusammenhang zwischen dem Verfahrensausgang und dem Wahlerfolg der NPD in Sachsen. Tatsächlich hat das Verbotsverfahren der extremistischen Partei schwer zugesetzt. Flemming plädiert für eine politische Auseinandersetzung, nicht für ein Verbot. Ralf Grünke widmet sich der Problematik, inwieweit die häufig vorgenommene Einstufung der Partei Die Republikaner (REP) als extremistisch gerechtfertigt ist. Eben diese Klärung fördert nicht nur die zielsichere Handhabe des Extremismusbegriffs. Sie schafft auch die Voraussetzung für eine wertrationale Zweck-Mittel-Analyse des Umgangs etablierter Volksparteien mit den REP. Die von deutlichen strategischen und programmatischen Veränderungen geprägte Entwicklung der REP verlangt eine differenzierte Einstufung als mal mehr und mal minder extremistisch. Die Untersuchung berücksichtigt drei Aspekte, die für eine mögliche Kennzeichnung der REP als extremistisch zweckdienlich sind: Sie überprüft die Programmtexte der Partei auf extremistische Inhalte, beleuchtet das Verhältnis der REP zu extremistischen Personenkreisen sowie Organisationen und setzt sich mit Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeiten über die REP auseinander. Sophie Guggenberger geht anhand der Schweiz der Leitfrage nach, ob die direkte Demokratie den Erfolg extremistischer Parteien und Gruppierungen fördert oder schwächt, ob sich ein eher stimulierender oder ein moderierender Wirkungszusammenhang zwischen direkter Demokratie und politischem Extremismus in der Schweizer Demokratie ausmachen läßt. Als Beispiel greift sie die Schweizerische Volkspartei und deren Vorsitzenden heraus, den konservativen Populisten Christoph Blocher. Ihr Befund: Direktdemokratische Teilhabeund Mitwirkungsmöglichkeiten entziehen dem politischen Extremismus teilweise seinen Nährboden. Vor allem begegnen sie Sachdifferenzen, indem sie diese öffentlich austragen und zu einer Entscheidung führen. Das Feld bleibt nicht den extremistischen Akteuren überlassen. Mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland sollte dieser Zusammenhang von Partizipation und Systemintegration nicht aus den Augen verloren werden. Henning Hansen beschäftigt sich mit dem Verhältnis der alliierten Besatzungsmächte gegenüber der Sozialistischen Reichspartei (SRP). Diese rechtsextremistische Organisation wurde bekanntlich im Oktober 1952 als erste Partei in der Bundesrepublik durch das Bundesverfassungsgericht verboten. Anhand bisher unerschlossener Aktenbestände aus alliierten Archiven läßt sich zeigen, wie die Besatzungsmächte das Auftreten der SRP bewerteten, welche Maßnahmen sie gegen die Partei ergriffen und welche sie von der Bundesregierung erwarteten. Vor dem Hintergrund, daß die Bundesrepublik Deutschland kein souveränes Land war und das Ausland mit Argusaugen die Aktivitäten der Partei beobachtete, besaßen die Einschätzungen der Alliierten erhebliches Gewicht und be-

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stimmten daher das Schicksal der SRP entscheidend mit. Die Rolle der Besatzungsmächte ist in diesem Zusammenhang oft unterschätzt worden. Florian Hartleb will mit seinem Beitrag belegen, daß Populismus und Charisma zwei Seiten derselben Medaille sind und wesentlich Erfolg und Mißerfolg neuartiger Parteien in den modernen westeuropäischen Demokratien erklären. Populistische Merkmale spielten innerhalb etablierter Parteien eine Rolle. Populismus kennzeichnet die anti-elitäre, gegen das Establishment gerichtete Haltung. Die Abhängigkeit vom Charisma ist bei Außenseiterparteien weitaus höher als bei herkömmlichen Wettbewerbern. Eine vergleichende Anwendung auf zwei Fallbeispiele in der Bundesrepublik, Ronald Schill und Gregor Gysi, zeigt Gemeinsamkeiten und gravierende Unterschiede gleichermaßen auf. Das Personencharisma allein kann wohl kaum dauerhaft und verläßlich für eine elektorale Erfolgsgeschichte verantwortlich zeichnen. Es hat nur dann eine wichtige Bedeutung, wenn die Gefolgschaft an ihren Anführer und seine Fähigkeiten glaubt. Jana Kausch erörtert die Bedeutung der Dritten Hochschulreform in der DDR und die mit ihr einhergehenden Veränderungen auf dem Hochschulsektor sowie die Rolle der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bei deren Umsetzung zwischen 1967 und 1969 – vom Inkrafttreten der Novellierung bis zum Beschluß ihrer Weiterführung. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt. Nachdem zunächst die Wege zur Reform an der Bildungsstätte und die Novellierungen im Bereich Sektion, Studium, Organisationsstruktur und Forschung beschrieben wurden, erfolgt die Untersuchung der Funktion der FDJ. Hier stehen besonders die Einflußmöglichkeiten auf die Studenten, deren Reaktion sowie die Frage, ob es dem Verband gelungen ist, den ihr von der Parteiführung zuerkannten und zu erfüllenden Auftrag, die Studenten zu Sozialisten zu erziehen, im Mittelpunkt der Analyse. Frank König zeigt am Beispiel des Umgangs mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, wie historische Orte immer mehr ins Zentrum der bundesdeutschen Geschichtspolitik rücken. Geschichte bekommt als Identitätsstifter einen größeren Stellen- und Streitwert. Bestand bis in die neunziger Jahre hinein kein großes Interesse, sich mit den NS-Bauten auseinanderzusetzen, so erfuhr der Aufbau des Dokumentationszentrums – durch die allgemeine Entwicklung der Erinnerungskultur und den Beginn eines Engagements des Bundes für Gedenkstätten begünstigt – eine ungeahnte Unterstützung. Die Beschäftigung mit den Täterorten dürfte in Zukunft eine besondere Herausforderung bleiben. Das Reichsparteitagsgelände Nürnberg ist nur ein Beispiel für die institutionalisierte Erinnerungslandschaft zur NS-Vergangenheit. Auch für die DDR gibt es eine solche, z. B. die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Verena Küstner interessiert die Wahrnehmung des „Extremismus“ in der politischen „Mitte“. In einer Diskursanalyse untersucht sie die stenographischen Protokolle des Deutschen Bundestages über den Linksterrorismus der Roten Armee

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Fraktion (RAF) in den 1970er Jahren und die Fremdenfeindlichkeit zu Beginn der 1990er Jahre. In Anlehnung an Michel Foucaults diskursive Konstruktion gesellschaftlichen Wissens betrachtet sie die Wahrnehmung und Benennung von Extremismen in den Debatten. Hier wird primär ein antidemokratischer Gegenpol entfaltet, der der Demokratie auch zur Eigendefinition und Binnenintegration dient. Extremismus fungiert als Kontrastmittel für bestehende Normen. Auch in den weiteren Analysefeldern ist erkennbar, daß „Extremismus“ in der parlamentarischen Praxis wegen seines Aufmerksamkeitspotentials gerne parteipolitisch genutzt wird. „Der“ Extremismus bleibt – trotz aller Ab-, Aus- und Eingrenzungsversuche – Teil der demokratischen Realität. Anita Maaß stellt die Frage nach der Form der politisch-parlamentarischen Kultur auf kommunaler Ebene in der Weimarer Republik in den Mittelpunkt. In ihrer qualitativ angelegten Politikstilanalyse überprüft sie hierbei, ob die lokale Politik als „Schule der Demokratie“ fungierte. Chronologisch analysiert sie anhand der Sitzungen des Dresdner Stadtverordnetenkollegiums 1918–1933 die politischen Inhalte und die Politikstile der einzelnen Fraktionen. Dadurch vermittelt sie das politische Werteverständnis der Zeit. Die Polarisierung in ein sozialistisches und bürgerliches Lager in der politischen Kultur des Stadtparlaments sowie die Grabenkämpfe innerhalb des sozialistischen Lagers erwiesen sich als destruktiv. Den staatstragenden Parteien gelang es nicht, dem Eindruck der kommunalen „Chaospolitik“ entgegenzutreten. Am Ende siegten die demokratiefeindlichen Kräfte mittels demokratischer Mittel gleichsam auf demokratischem Wege. Stefan Mayer geht der Frage nach, ob Gerhard Frey mit seinem Projekt der Deutschen Volksunion (DVU) überhaupt eine politische Vision verfolgt. Von ihrer Gründung 1987 an avancierte die DVU unter ihrem Vorsitzenden, dem Geschäftsmann und Verleger Gerhard Frey, zur mitgliederstärksten und bei Wahlen zeitweilig erfolgreichsten rechtsextremistischen Partei der letzten Jahre. Allerdings sind der DVU trotz ihrer parlamentarischen Präsenz politische Gestaltungserfolge weitgehend versagt geblieben. Frey und seine DVU stehen in zuvor nicht gekanntem Ausmaß für die Kommerzialisierung der Parteipolitik. Muß die DVU nicht als organisatorisches Zentrum eines überwiegend unpolitischen und gewinnorientierten Netzwerks betrachtet werden? Entspricht sie dem Leitbild des Parteiengesetzes? Ist die DVU eine politische Partei im Sinne des Art. 21 GG? Einen aufschlußreichen Hinweis zur Beantwortung dieser Fragen liefert der Blick auf die organisatorischen Besonderheiten der DVU. Andreas Morgenstern bietet einen Fragenkatalog zur Unterscheidung zwischen radikalen und extremistischen Parteien an. Hierfür nimmt er eine Analyse anhand dreier Kriterien vor: ideologische Basis, innere Struktur und öffentliches Auftreten. Die grundlegende These des Autors: Während sich extremistische Gruppierungen gegen die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung

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stellen und somit als verfassungsfeindlich gelten müssen, erstreben radikale Parteien eine Deformierung des demokratischen Verfassungsstaates. Die Untersuchung bezieht sich auf vier Parteien: DVU, REP, PDS und Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Der Autor kommt zu dem Schluß, daß den Charakter der Parteien des linken und rechten Randes jenseits programmatischer Unterschiede vor allem ihr jeweiliges Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat bestimmt. Während REP und PDS dem radikalen Spektrum zugeordnet werden, erscheinen DVU und DKP als extremistische Organisationen. Tim Peters untersucht extremistische Tendenzen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Linkspartei/PDS und stellt dabei insbesondere die Instrumentalisierung des Kampfes gegen Rechtsextremismus dar. Er zeigt am Beispiel der Haltung dieser Partei zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit das Bestreben der Postkommunisten auf, den pluralistischen und antiextremistischen Kern des Grundgesetzes durch eine rein antifaschistische Demokratie zu ersetzen, die nicht genehmen politischen Meinungen schlicht mit Verboten begegnet. Die ehemalige Staatspartei setzt auf die Bildung eines „historischen Blocks“, um die „kulturelle Hegemonie“ der Sozialen Marktwirtschaft, welche sie pauschal als „Neoliberalismus“ verunglimpft, zu brechen und durch eine sozialistische Ordnung zu ersetzen. Insoweit ist ihr Programm – ungeachtet aller Lippenbekenntnisse – als prinzipiell unvereinbar mit dem Grundgesetz zu beurteilen. Jörg Pfeifer trägt mit einer Gegenüberstellung des „Berliner“ und des „Dresdner Weges“ zur Differenzierung der oppositionellen Kräfte in der DDR bei. Die zentrale und regionale Entwicklung im Zeitrahmen der friedlichen Revolution 1989/90 steht im Vordergrund. Die These von der Verschiedenheit der Wege wird bestätigt: In Dresden begann viel früher ein Dialog zwischen Oppositionellen und den Vertretern der SED. Hier bekannten sich die Widerständigen alsbald zur westlichen Demokratie. Eine Positionierung im Sinne eines „dritten Weges“, die für viele Berliner Oppositionelle als Alternative galt, fand weitgehend Ablehnung. Die Protagonisten drängten in bestehende politische Institutionen, lehnten einen Runden Tisch ab. Auf Etablierung eines solchen Gremiums setzten die Akteure in Berlin. Sie ließen sich, nicht zuletzt aufgrund der beachtlichen Drohpotentiale des Staates, auf das Reformimage der kommunistischen Kräfte ein. Sebastian Prinz untersucht die Entwicklung der Programmatik der PDS von 1990 an. Nach einer jahrelangen Debatte gab sich die PDS 2003 ein neues Programm. Damit kam eine intensive und kontrovers geführte innerparteiliche Diskussion zu einem vorläufigen Abschluß. Im Verlauf der Debatte entstanden Programmentwürfe sowie weitere programmatische Papiere diverser PDS-Gliederungen, Politiker, Plattformen und Arbeitsgemeinschaften. Programmatik beeinflußt die Entwicklung der Partei, ihre praktische Politik und ihre Verortung in der Bundesrepublik. Der Autor untersucht unter anderem folgende Fra-

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gen: Was ist für die PDS Sozialismus und Demokratie? Wie steht die Partei zu Marktwirtschaft und Privateigentum? Welchen Stellenwert haben für die PDS die Mitarbeit in Parlamenten und außerparlamentarische Aktivitäten? Wie entwickelt sich die Diskussion um Opposition und Regierungsbeteiligung? Distanziert sich die PDS von politisch motivierter Gewalt, steht sie auf dem Boden des Grundgesetzes? Heike Schmidt arbeitet anhand von Akten aus dem Bundesarchiv die Familienpolitik der SED bis 1989 heraus. Entscheidend ist dabei stets die an staatliche Ziele geknüpfte Bedeutung, welche die staatstragende Partei der Familie zugestand: Bis in die Mitte der 1960er Jahre gab es keine separate Familienpolitik. Es ging vielmehr darum, durch gesellschaftliche Unterstützungsleistungen die Einbindung der Frauen in den Beruf zu ermöglichen. Erst im Zuge der Verabschiedung des Familiengesetzbuches 1965 verlegte die Partei den Schwerpunkt zunehmend auf die Förderung der Familien mit mehreren Kindern. Diese Kehrtwende kam nicht von ungefähr. Grundlage der Ausrichtung der Frauenpolitik auf die Familie, die ab den 1970er Jahren in eine Bevölkerungspolitik mündete, war eine negative Bevölkerungsbilanz. Der Beitrag analysiert die Initiierung und Durchsetzung der verordneten Frauenpolitik der SED durch die Massenorganisation der Frauen und die Gewerkschaften in der Gesellschaft der DDR. Thomas Schubert analysiert das Auftreten der sächsischen PDS in den Landtagswahlkämpfen im Zeitraum von 1990 bis 2004. Im Vordergrund steht die Wirtschaftspolitik. Anhand der Wahlkämpfe der Partei zeigt die Studie zum einen die Entwicklung der wirtschaftspolitischen Konzeptionen auf, zum anderen fragt sie nach dem Demokratieverständnis der Postkommunisten. Die ehemalige Staatspartei PDS erscheint dabei als facettenreiche, unstetige und stark von Wandlungsprozessen durchzogene politische Kraft. Ihr fehlt nach wie vor eine geschlossene wirtschaftspolitische Konzeption. Besonderes Augenmerk gilt der Haltung der sächsischen PDS zum demokratischen Verfassungsstaat vor dem Hintergrund ihrer zentralen ökonomischen Ordnungsvorstellungen. Durch ihren – mitunter vehementen – Antikapitalismus steht die Partei nach wie vor im Konflikt mit demokratischen, vor allem freiheitlichen Prinzipien. Solveig Simowitsch verdeutlicht am Beispiel des mecklenburgischen SPD-, später SED-Landesvorsitzenden und Landtagspräsidenten Carl Moltmann, wie aus einem regional bedeutenden Sozialdemokraten eine Schlüsselfigur der Zwangsvereinigung von SPD und KPD 1946 zur SED wurde. Verriet Moltmann bewußt die Ideale der Sozialdemokratie, oder überschätzte er die eigene Rolle innerhalb der SPD in der kurzen Phase zwischen der Wiedergründung 1945 und der Etablierung der Einheitspartei 1946? Anhand seiner Biographie – der Herkunft im Deutschen Kaiserreich, den politischen Anfängen in der Weimarer Republik, dem Verbot der Tätigkeit im Nationalsozialismus und der politischen

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„Umkehrung“ in der SBZ/DDR – werden die Motive für den Wechsel von einem demokratischen Politiker zu einem SED-„Aushängeschild“ herausgearbeitet. Carl Moltmann steht stellvertretend für eine Gruppe von Sozialdemokraten, die in der SBZ und den ersten Jahren der DDR in der Einheitspartei scheiterten. Olav Teichert geht in seiner Arbeit auf die Entstehung, Entwicklung und Organisation der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) und deren Steuerung durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein. Die von Ost-Berlin kontrollierte SEW stellte für die SED eine wichtige Option dar, um auf das Geschehen im Westteil der Stadt Einfluß zu nehmen. Besonderes Augenmerk galt der Studentenbewegung in den 1960er Jahren. Die SEW, stigmatisiert als „Mauerpartei“, bemühte sich frühzeitig und beharrlich um die Gunst der aufbegehrenden Jugend. Es gelang ihr, zu einem festen, wenn auch nicht unumstrittenen Bestandteil der außerparlamentarischen Opposition zu werden und ihre Stellung dort zu behaupten – trotz zum Teil erheblicher Auseinandersetzungen. Damit konnten die Westberliner Kommunisten ihre Isolation durchbrechen und zu einem zumindest tolerierten Akteur in West-Berlin avancieren. Ihr Ziel, bei Wahlen die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, erreichte die SEW dagegen nie. Tom Thieme setzt sich mit den Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen des Extremismus in Ostmitteleuropa auseinander. Zentrale Fragestellung ist, ob sich aus der linkstotalitären Vergangenheit und den transformationsbedingten Ursachen Besonderheiten für antidemokratische Kräfte im postkommunistischen Raum ergeben. Im Mittelpunkt der Studie steht ein Typologisierungsmodell, mit dem versucht wird, extremistische Parteien und Bewegungen als rechts-, links- oder rechts-linksextrem durchmischt einzuordnen. Dafür werden sie zum einen auf ihren historischen Bezug, zum anderen auf ihre aktuellen politischen Inhalte überprüft. Wie die Ergebnisse zeigen, ist die zweidimensionale Unterscheidung von rechts- und linksextrem in Osteuropa nur begrenzt anwendbar. Von den 14 untersuchten extremistischen Vereinigungen sind nur fünf nach den Kriterien des Rechts- bzw. Linksextremismus einzuordnen. Bei neun Parteien hingegen ist ihre Demokratiefeindschaft durch rechts- wie durch linksextreme Merkmale gekennzeichnet. Johannes Urban gewichtet die Stärken und Schwächen des deutschen Vorgehens gegen den Internationalen Islamistischen Terrorismus im Zeitraum von September 2001 bis zum September 2005. Mit Hilfe eines „Ziele-StrategienModells“, das auf dem Instrumentarium der Zweck-Mittel-Analyse beruht, wird der Bekämpfungsansatz der Bundesrepublik Deutschland charakterisiert und evaluiert. Der Autor belegt, mittels welcher Strategien welche Ziele erreicht werden sollten – und welche Mittel dabei zum Einsatz kamen. Inwieweit das Vorgehen dabei zweckmäßig war, zeigt das Verhältnis staatlicher Maßnahmen zu spezifischen Gefahrenmerkmalen des Internationalen Islamistischen Terroris-

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mus. Ausgehend vom so identifizierten Handlungsbedarf, gibt der Beitrag für die Zielkategorie der Ursachen und Triebkräfte, für die der dringlichste Handlungsbedarf besteht, Empfehlungen, wie der deutsche Bekämpfungsansatz mit Augenmaß operativ und organisatorisch optimiert werden könnte. Kirstin Wappler betrachtet den Umgang von Christen mit dem SED-Schulsystem in zwei schwach säkularisierten Gebieten: dem katholischen Eichsfeld und dem protestantischen Erzgebirge. Die Machthaber sahen in den Kirchen den größten Feind bei der geplanten Überstülpung ihrer Ideologie. Das Bildungswesen diente als wichtigstes Instrument zur Politisierung. Gegen christliches Bekenntnis im Schulalltag gingen die Herrschenden repressiv vor. Wie der Beitrag zeigt, konnten christliche Lehrer, Schüler und Eltern dennoch über die gesamte Zeit der Diktatur Einfluß geltend machen. Im Eichsfeld gelang dies stärker, da es sich einerseits um ein geschlossenes soziales Milieu handelte und die SED das Gebiet andererseits bei der Machtetablierung als nachrangig betrachtete. Im Erzgebirge, einem Zentrum der Diktaturdurchsetzung, mußte die Kirche in den ersten Jahrzehnten herbe Rückschläge verkraften. Unter den erleichterten politischen Bedingungen der achtziger Jahre erlebte sie aber einen Aufschwung, der sich auch im Schulalltag niederschlug. Kristin Wesemann widmet sich dem politischen Werdegang der Publizistin und Terroristin Ulrike Meinhof. Die Studie beschreibt, wie die früh zur Kommunistin Erzogene ihren Extremismus, gesteuert von der DDR, auszuleben begann und zunehmend offenbarte. Meinhofs Entwicklung ist die Geschichte einer Radikalisierung des politischen Denkens und eines Ausstiegs aus der Gesellschaft: von der früh politisierten Ziehtochter der Hochschullehrerin Renate Riemeck zur Studentin, die den Protest gegen die Atombewaffnung organisiert, von der Journalistin, deren Kolumnen das linke Magazin konkret druckt, zur Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion im Untergrund. Die Konstante des Lebens lieferte ihr die Überzeugung, daß allein die Kommunisten aus dem Widerstand gegen Hitler – wie in der DDR – legitimierte und legitime Machthaber seien. Meinhof erscheint nicht als getriebene Moralistin, gelitten unter bundesdeutscher Gegenwart und nationalsozialistischer Vergangenheit. Sie hat ihre Worte ebenso bewußt gewählt wie später ihre Waffen. Die Dissertationen Ralf Grünkes und Verena Küstners sind von Roland Sturm (Erlangen), die Heike Schmidts und Solveig Simowitschs von Werner Müller (Rostock) betreut worden. Olav Teicherts Studie nahm sich Eike Hennig (Kassel) an. Um die anderen Dissertationen hat sich der Verfasser gekümmert.

Vom Rassismus zum Ethnopluralismus Kontinuität und Wandel im Denken von Alain de Benoist Von Michael Böhm

1. Einleitung Der Weg eines Diamanten in die Auslagen des Juweliers führt bekanntlich über Abbau, Reinigung, Schliff und Politur – am Ende hat er äußerlich nichts mehr gemein mit der tristen Fördermasse aus der Mine. Jedoch unterscheidet sich der funkelnde Edelstein materiell nur wenig von seinem Vorgänger. Ähnlich scheint es sich mit dem politischen Denken von Alain de Benoist, dem Mitbegründer des Groupement de récherches et d’études pour la civilisation européene (GRECE) und Maître-Penseur der Nouvelle Droite in Frankreich zu verhalten. Auch hier weist die intellektuelle Biographie Wandlungen auf, werden die Doktrinen bestimmten Amputationen unterzogen; doch deutet viel darauf hin, daß sich deren Kern keineswegs verändert und die eigentliche Grundintention immer dieselbe bleibt. In der Tat nahm Alain de Benoist im Verlaufe seiner mittlerweile über vier Jahrzehnte währenden publizistischen Tätigkeit die verschiedensten doktrinären Positionen ein. Als das wahrscheinlich frappierendste Beispiel in dieser Hinsicht gilt dabei der Übergang von einstmals klar rassistischen Argumentationen1 zum Standpunkt eines „differentialistischen Antirassismus“2, den er ungefähr ab Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts vollzog. Wandel des Denkens oder intellektuelle Kontinuität? Daran entzünden sich bis heute leidenschaftliche Debatten. Um das Bild des Diamanten noch einmal zu bemühen: Worin besteht der Kern der denkerischen Substanz Alain de Benoists, und unter welchen Umständen bildete er sich heraus? Nicht zuletzt gibt die Frage des politisch-ideologischen Standortes von Alain de Benoist Rätsel auf. Kann man ihn, der sich auf solch unterschiedliche Denker wie Jean Jacques Rousseau, Antonio Gramsci, Konrad Lorenz oder auch Claude-Levi 1 Fabrice Laroche (Alain de Benoist), „Qu’est-ce que le nationalisme? – Fascicule de méthode doctrinale“, zitiert in: Joseph Algazy, L’extrême-droite en France (1965 à 1984), Paris 1989, S. 249. 2 Vgl. Alain de Benoist, „Contre tous les racismes“ in: Éléments, Nummer 33 (1974), S. 13.

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Strauss gleichermaßen bezog, tatsächlich als einen rechtsextremistischen Intellektuellen bezeichnen, so wie das vor allem in Deutschland sehr oft der Fall ist? Der folgende Beitrag unterzieht diese Fragen einer eingehenden Prüfung. In einem ersten Schritt werden die Geschichte des GRECE sowie biographische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte des Lebens von Alain de Benoist beleuchtet, in einem zweiten die denkerische Grundintentionen des Autors herausgefiltert und in einem dritten die politisch-ideologischen Standorte seiner Doktrinen analysiert.

2. Der GRECE, der Algerienkrieg, die trentes glorieuses und Alain de Benoist Bei der Frage von Wandel und Kontinuität im Denken von Alain de Benoist dürfte ein Verweis auf den GRECE in die richtige Richtung weisen. Denn in diesem ersten Diskussionsklub der Nouvelle Droite verdichteten sich die Doktrinen de Benoists zu einer mehr oder weniger kohärenten Weltanschauung.3 Wer sich dem GRECE widmet, hat die Gelegenheit, mit einer vorschnellen und wenig reflektierten Interpretation aufzuräumen, die auch hierzulande kursiert: Seine Gründung im Jahre 1968 war keinesfalls eine Reaktion auf „den Aktivismus der Neuen Linken vor und nach dem Mai 1968“.4 Sie war oberflächlich betrachtet viel eher eine Antwort auf die „fortschreitende Schwächung des französischen Nationalismus seit 1958“.5 In diesem Jahr kam es als eine der ersten Maßnahmen der neugebildeten Regierung de Gaulle in der Algerienpolitik zum Verbot von Jeune Nation, der wohl größten rechtsextremen Gruppierung in Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 1961 mußten die Droitistes als entschiedene Anhänger einer Algérie française mit dem gescheiterten „Putsch der Generäle“ in Algier und ein Jahr darauf mit der algerischen Unabhängigkeit weitere Niederlagen hinnehmen. Später sollte sich die „nationale Kandidatur“ von Jean-Louis Tixier-Vigancourt bei den Präsidentschaftswahlen 1965 für die französische Rechte als Flop erweisen und auch der Rassemblement européen pour la Liberté (REL), in dem einige der Gründungsmitglieder des GRECE vorher ihre politische Heimat hatten, konnte bei den Legislativwahlen 1967 nur ein enttäuschendes Ergebnis für sich verbuchen, so daß es nahe lag, nach neuen Wegen der politischen Betätigung zu suchen.

3 Vgl. Anne-Marie Duranton-Crabol, Visages de la Nouvelle Droite – le G.R.E.C.E. et son histoire, Paris 1988, S. 69. 4 Michael Minkenberg, Die „neue radikale Rechte im Vergleich – USA, Frankreich, Deutschland, Wiesbaden 1998, S. 150; Armin Pfahl-Traughber, „Konservative Revolution“ und Neue Rechte, Opladen 1998, S. 135. 5 Pierre-André Taguieff, Sur la Nouvelle Droite – Jalons d’une analyse critique, Paris 1994, S. 10.

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Die vom GRECE favorisierte „metapolitische“ Strategie, der Versuch, vermittels einer „Neuen Schule“ der Rechten kulturelle Hegemonie zu erlangen, um so irgendwann die politische Macht übernehmen zu können, wird dabei ohne den Blick auf die eigentümliche Situation der französischen Rechten kaum verständlich. Denn diese unterschied sich seit den Tagen der Französischen Revolution gravierend von der anderer rechter Strömungen auf dem europäischen Kontinent. Als ein in der Revolution geborenes Prinzip war der Nationalismus ursprünglich eine Angelegenheit der Linken; und kraft seines objektiven, das heißt auf rein verfassungsmäßiger Zugehörigkeit basierenden Anspruches blieb er das in Frankreich auch – im Unterschied zu anderen Staaten auf dem europäischen Kontinent, wo er im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Domäne der Rechten avancierte. Unter diesen Umständen verband sich in fataler Weise das politische Schicksal der französischen Rechten mit den nationalistischen Impulsen der Republik: Nur wenn diese abflauten, konnten sie an politischen Einfluß gewinnen. Eine solche Situation trat während des Algerienkrieges ein. Zu Beginn der sechziger Jahre begannen die Franzosen die Trikolore auch in Nordafrika einzuholen, was der seit 1945 nahezu bedeutungslosen Rechten einen Aufschwung verschaffte: Sie ergriff Partei für Algérie française, es kam zu einer regelrechten Welle von Neugründungen rechter Organisationen, wovon die Organisation Armée Secrète (OAS) wahrscheinlich die bekannteste gewesen ist. Diesem Aufschwung war jedoch nur kurze Dauer beschieden, da im eigentlichen Gegenspieler der Droitistes, Charles de Gaulle, ein solches nationalistisches Pathos zusammenströmte, welches das nationalistische Defizit schnell behob. Die angestrebte „Metapolitik“ des GRECE suchte diese Logik zu unterbinden: Bevor man wiederum Gefahr lief, mit einer Kandidatur bei Wahlen oder gar einem Coup de Force die politischen Kräfte zu verschleißen, sollte nun erst die conquête des ésprits, die „Eroberung der Geister“, in Angriff genommen werden. Das Urteil, wonach das intellektuelle Abenteuer der Nouvelle Droite seine Wurzeln im Algerienkrieg habe,6 erweist sich zwar als das treffendere, doch trifft es nicht ganz den Punkt, da so der Eindruck entsteht, die ersten „GRECEisten“, als ehemalige radikale Parteigänger einer Algérie française, hätten sich nur gegen die Politik von Charles de Gaulle gewandt. Tatsächlich verbirgt sich hinter ihrem Engagement eine weitaus tiefere Aversion: Sie bezeichnet einen Reflex auf jenen gewaltigen Strukturwandel, den die französische Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unternahm. Frankreich war trotz zweier Modernisierungswellen im 19. Jahrhundert noch weit bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend das geblieben, was es über Jahrhunderte gewesen war: ein traditionelles Bauernland, mit entsprechenden Sitten und Mentalitäten. Diese stark agrikulturell geprägte Gesellschaft begann sich jedoch 6

Vgl. Duranton-Crabol (FN 3), S. 241.

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im Zuge der trentes glorieuses, der „dreißig glorreichen Jahre“ forcierter Industrialisierung, relativ schnell aufzulösen, wobei die Periode der größten sozialen Veränderungen mit dem Zerfall des Kolonialreiches am Anfang der sechziger Jahre begann.7 Ab diesem Zeitpunkt häuften sich die Erscheinungen von Landflucht, und in den Städten wuchs die Zahl der Industriearbeiterschaft um ein Vielfaches. Die Konflikte, die diese Entwicklungen heraufbeschworen, waren beträchtlich, da für die ehemaligen Bauern der Umzug in die Großstadt nicht etwa bedeutete, die tradierten Sichtweisen ebenso schnell aufzugeben. Im Gegenteil: Gerade die bäuerlichen Moralgebote, die, am Gemeinwohl orientiert, das Streben nach Reichtum und Handel eher ablehnten,8 stießen sich an den pragmatischen, individualistischen und hedonistischen Perspektiven der sich herausbildenden Industriegesellschaft. Doch auch unter den citadins hinterließ die forcierte Industrialisierung Irritationen: Das französische Bürgertum, als eigenständige in sich geschlossene Größe noch weit bis in die dreißiger Jahre präsent, mußte mit einem Male erkennen, daß sein kulturelles Kapital mitunter nutzlos wurde, so daß sich bei nicht wenigen Angehörigen dieser Schicht soziale Deklassierungserscheinungen bemerkbar machten, die bis zum völligen Identitätsverlust gehen konnten.9 Verstärkt wurde diese soziale Nivellierung durch zwei weitere Elemente: Zum einem durch die mit dem Ende der kolonialen Epoche anschwellenden Immigrationsströme; zum anderen durch eine sich rasant ausbreitende Massenkultur, die ihrerseits die Klassengrenzen transzendierten. De Gaulles Aufgabe Algeriens bedeutete gleichsam einen ersten Kulminationspunkt dieser Entwicklungen, da die Ressourcen, die bislang in die französische Kolonie flossen, nun für die Industrialisierung des Landes nutzbar gemacht werden sollten. Ein zweiter war im Jahr 1968 erreicht, als die von de Gaulle betriebene Modernisierung in den Soixanthuitards ihre ungeliebten Katalysatoren fand. Daß die Nouvelle Droite keine Antwort auf die Achtundsechziger war, sondern vielmehr beide Strömungen jeweils zwei unterschiedliche Reaktionen auf ein und dasselbe Phänomen, nämlich den Strukturwandel der französischen Gesellschaft darstellten, dürfte folgende Äußerung von Maurice Rollet unterstreichen. Das Gründungsmitglied des GRECE schrieb mit Blick auf die „Kinder des Mai 1968“ dreißig Jahre später: „Angesichts diesen Schlamms war unser Ansatz, unsere Überlegung, unser Engagement sehr unterschiedlich von der Meute der Schreihälse und der erregten Spinner, welche die Straße besetzten und nur nach

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Vgl. Ernst Weisenfeld, Geschichte Frankreichs seit 1945, München 1997, S. 193. André Teissier du Cros, Réconciliation des Français avec la technique, in: JeanDaniel Reynaud/Yves Grafmeyer (Hrsg.), Français, qui êtes-vous? Des essais et des chiffres, Paris 1981, S. 175. 9 André Armengaud, Années 1950–1980, in: Fernand Braudel/Ernst Labrousse (Hrsg.), Histoire économique et sociale de la France, Paris 1982, S. 1528. 8

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einer Welt der Freuden und der grenzenlosen Vergnügungen strebten, eine zügellose, anarchische Welt, eine nihilistische Welt – es ist verboten zu verbieten [. . .] Dieser hedonistischen und nihilistischen Konzeption setzten wir einen anderen Weltblick (vue de monde) entgegen: heroisch und in den schweren Gesetzen des Lebens geschmiedet, gelebt als ein beständiger Kampf.“10 Wie man zu einer solchen Sichtweise gelangen konnte, läßt sich am Lebensweg von Alain de Benoist verfolgen. Im Jahre 1943 in Tours geboren, gehört er jener Schicht an, die durch die sozioökonomischen Veränderungen jener Zeit besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde: dem Bürgertum. Daß in dieser Konstellation schon der antibürgerliche Gestus de Benoists angelegt ist, dürfte sehr wahrscheinlich sein, um so mehr, als sich Schule und Universität in ihrer republikanisch-zentralistischen Orientierung zu jener Zeit noch strikt dem Problem der kulturellen Diversität verweigerten. Überdies stellten der grassierende Neuhumanismus sowie die Erziehung zu einem Bewußtsein nationaler Grandeur angesichts der fortschreitenden Modernisierung des Landes und des unaufhaltsamen Zerfalls des Kolonialreiches geradewegs antiquierte Lehrmethoden dar, so daß auch hier der Weg zu mentaler Entfremdung und Desintegration geebnet schien. Die frühen philosophischen Bildungserlebnisse de Benoists lassen sich dabei auf die gesellschaftliche Situation beziehen: Er las Friedrich Nietzsche, der in seinen Schriften die Kritik am nivellierenden Charakter des Christentums zu einer generellen Kulturkritik verdichtete; er las aber auch Charles Maurras, der die christliche Religion ebenfalls aus ästhetischen Gründen verdammte und im Gegensatz dazu das Lob des antiken Paganismus beschwor. Die genannten Einflüsse haben entsprechende Prädispositionen herausgebildet und intellektuelle Bewältigungsstrategien angeboten; allerdings entbehrten diese noch jedweder politischen Relevanz, da es dem vornehmlich an künstlerischen Dingen interessierten de Benoist fernlag, sich in irgendeiner Form politisch zu betätigen und er viel lieber Versuche in der Malerei unternahm.11 Das änderte sich, als er, wie so viele Angehörige seiner Generation, durch die tragischen Entwicklungen in der Algerienfrage zu einem politischen Engagement geführt wurde. Seine Entscheidung, in diesem Konflikt die Algérie-française-Partisanen zu unterstützen, ist dabei wohl weniger als Votum für den Fortbestand der kolonialen Vormundschaft in Nordafrika zu verstehen; sie läßt sich mit Blick auf die damalige mentale Situation der französischen Gesellschaft wiederum nachvollziehen: Denn der von de Gaulle gegen alle militärische Logik betriebene Rückzug aus der Kolonie sowie das herzlose repatriement der über 900.000 französi-

10 Maurice Rollet, Nous étions douze, in: Le mai 68 de la Nouvelle Droite, Paris 1998, S. 137 f. (Hervorhebung im Original). 11 Interview mit Alain de Benoist am 8. November 2004 in Paris.

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schen Siedler (pieds noirs) widersprachen klar der bäuerlichen Anschauung, die dem Erhalt des Territoriums oberste Priorität beimaß.12 Gemäß der politischen Situation jener Zeit wurde Alain de Benoist damit an die Seite der französischen Rechten gedrängt. Im Zuge ihres Aufbruchs durchlief er das antirepublikanisch-nationalistische Milieu Frankreichs und betätigte sich darin als Journalist. De Benoist war in diesen Kreisen geradezu eine Ausnahmeerscheinung: Er zeigte ein intensives Interesse an philosophischen Problemen und Fragestellungen und ließ mit den Jahren mehr und mehr das Profil eines Intellektuellen der Rechten erkennen. Der GRECE, der sich maßgeblich auf seine Initiative hin konstituierte, stellte zwar einen radikalen Bruch mit den bisherigen politischen Aktivitäten dar; dessenungeachtet steht sein intellektuelles Klima in der Kontinuität jener Atmosphäre, die bei den „antirepublikanischen Nationalisten“ vorherrschend war. Denn auch sie hegten im Grunde dieselben Phobien gegen den sich in der Gesellschaft vollziehenden Strukturwandel. Diejenigen, die sich im Laufe der Zeit im GRECE engagieren sollten, kultivierten ihrerseits den modernisierungsfeindlichen Gestus und begegneten insbesondere der sich weiter entfaltenden Konsumgesellschaft mit harscher Kritik.13

3. Der tragische Grund Dieser modernisierungsfeindliche Impetus tritt bereits in de Benoists frühen Schriften aus der Endphase der Algérie-française-Agitation zu Beginn der sechziger Jahre zu Tage. In dieser Zeit versuchte de Benoist das Engagement der „antirepublikanischen Nationalisten“ zu theoretisieren. In einem mit Pour une éthique nationaliste überschriebenen Artikel aus dem Jahre 1962 begriff de Benoist das Leben „als Kampf“, als frei von allen utilitaristischen Überlegungen und gestand ihm „einen Wert an sich“ zu.14 Dieser Artikel zeigt deutlich, daß die Lektüre der Werke Nietzsches bei Alain de Benoist tiefe Spuren hinterlassen hatte: Im Verständnis des Lebens als „Kampf“ spiegelt sich jene tragische Grundhaltung wider, die das Dasein eher als Aufgabe und Last, denn als Vergnügen und Quell fortgesetzter Freude auffaßt. Bekanntlich entwickelte Nietzsche seine tragische Weltauslegung in Betrachtung der klassischen griechischen Tragödie, in der er zwei sich widerstrebende göttliche Prinzipien erkannte: das Apollonische und das Dyonisische. Apollon, der formende und Harmonie schaffende Gott, steht Dionysos, dem fremden Gott des Irrationalen, gegenüber. Diese beiden ursprünglichen Kräfte des Griechentums sind laut Nietzsche in der 12

Reynaud/Grafmeyer (FN 8), S. 175. Interview mit Alain de Benoist am 8. November 2004 in Paris. 14 Fabrice Laroche (Alain de Benoist), Pour une éthique nationaliste, in: Cahiers universitaires, Nr. 11 (1962), S. 24. 13

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klassischen griechischen Tragödie verschmolzen. Jedoch wurde nach Nietzsche das damit verbundene „volle“ Lebensgefühl durch die sokratische Aufklärung verdrängt. Es sei ein, wie Nietzsche sagt, „theoretischer Mensch“ erschienen, der die Welt mit Hilfe der Wissenschaft entzaubert und „vernünftig“ und „zweckmäßig“ umgestaltet habe. Es sei somit zum Primat des Apollonischen gekommen, mit anderen Worten, zu dem Wahn, all das, was ist und geschieht auf exzessive Weise in Denkvorgängen durchdringen zu wollen. Die aus dem Widerstreit zwischen Apollonischem und Dyonisischem resultierende tragische Grunderfahrung wurde bei Nietzsche nun zum Ausgangspunkt seiner eigenen Vision einer neuen Welterfahrung, die im Zeichen des Dionysos-Mythos steht.15 In dieser Konzeption gelange, so Nietzsche, das „volle Lebensgefühl“ wieder zu seinem Recht. Eine solche Lesart entbehrt jedoch aller (moralisch) abgeleiteten Vernunfts- oder Nützlichkeitserwägungen. Bei Nietzsche ist der Vorgang des Lebens nicht teleologisch überhöht, sondern als solcher tragisch, da er sich „im Zerstören erfüllt“.16 In der klassischen griechischen Tragödie gewinnt für Nietzsche dieser tragische Grundkonflikt in der Figur des Prometheus Gestalt. Tragischer Heroismus – darunter sollten es in den Augen de Benoists auch die Nationalisten nicht tun. Nicht nur, daß dieses Prinzip deren kriegerische Sentiments in philosophische Formen goß; darüber hinaus kam das antiutilitaristische Element auch jener tellurischen Bauernmentalität entgegen, die gemessen an den tatsächlichen Entwicklungen in der Algerienfrage nunmehr als ein Anachronismus dastand. Konsequenterweise setzte Alain de Benoist in Pour une éthique nationaliste zu einer Verteidigung der heroischen Existenz an: „Die Linken machen sich über alles lustig, was eine heroische Qualität vermuten läßt. Sie verwechseln dies mit einem vagen karrikaturesken Paternalismus, einer faden Mischung altmodisch guter Gefühle, klein und kleinlich. Im Gegensatz dazu stehen die Nationalisten, die den Heroismus einfach bewundern, nach ihm streben, ihn berühren wollen.“17 Mit dieser Rhetorik hatte de Benoist die OAS vor Augen gehabt, die eine Selbstbestimmung in der algerischen Frage ablehnte und auch nach der Unabhängigkeit ihren Bombenterror fortsetzte. Jedoch ist dies nicht nur als Rechtfertigung für die Militanz der Algérie-française-Partisanen zu verstehen; es gibt einen tieferliegenden Zusammenhang: Wie man weiß, war Nietzsche von der Unentbehrlichkeit kämpferischer und kriegerischer Aktionen überzeugt. Doch begriff er diese in erster Linie als Mittel zum Zweck der Kultur. Von den römischen Gladiatorenkämpfen bis zu den wissenschaftlich motivierten Entdeckungsreisen handelt es sich bei ihm um „Surrogate“ des Krieges18. Für die Erneuerung der als dekadent gegeißelten Kultur sah Nietz15

Wiebrecht Ries, Nietzsche zur Einführung, Hamburg 1990, S. 25. Ebd. 17 Laroche (FN 14), S. 24. 18 Giorgio Colli/Mazzimo Montinari (Hrsg.), Zur Genealogie der Moral, Nietzsches Werke – Kritische Studienausgabe, Bd. V, München 1999, S. 311. 16

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sche eine abermalige Synthese von Appolinischem und Dionysischem als Voraussetzung an. Diese bedarf jedoch des „prometheischen Heroen“ als Verkörperung und damit des Willens zu selbstlosem Kampf und Opfer. Nur so vermag nach Nietzsche der künstlerische Genius der décadence der Moderne entgegenzuwirken: mit der schöpferischen Gewalt des tragischen Individuums und seiner ästhetischen Welt als Ganzheitlichkeit und innerer Wertgeschlossenheit.19 De Benoist, der selbst über starke künstlerische Neigungen verfügte, war sich dieser Argumentation durchaus bewußt und hatte insofern guten Grund, sich im Text ausdrücklich zu einer „Suche nach einer Ästhetik“ zu bekennen: „Wie hat man denn nicht gesehen, daß, wenn Maurice Bardèche von den ,Haufen der verlorenen Soldaten‘ spricht, ,die sich in der Finsternis der Ungerechtigkeit und des Hasses wiedererkennen‘, daß, wenn Robert Brasillach [. . .] diese nationalistischen Kongresse beschreibt, diese grandiosen Manifestationen des Enthusiasmus einer Nation; wie hat man denn nicht gesehen, daß diese Sätze inspiriert waren, nicht durch einen literarischen Romantizismus, [. . .] sondern daß sich dies aus einem wunderbaren, absolut ästhetischen Sinn herleitete. Ästhetik eines Volkes, Ästhetik eines Glaubens.“20 Natürlich war die Feier des kämpfenden Heroen zuerst dem als Verrat empfundenen Rückzug de Gaulles aus Algerien geschuldet. Doch gingen die Reflexionen von Alain de Benoist bei weitem darüber hinaus, trug sein antiutilitaristisches Denken bereits in dieser Phase das unverkennbare Signum eines ästhetischen Protests. Indessen war es de Benoist mit seinem Aufruf, nach einer Ästhetik zu suchen, die der heroischen Existenz entspricht, durchaus ernst. Sprach er schon in Pour une éthique nationaliste davon, daß sich der Glaube nicht anders als durch die Ethik aufrichten kann,21 forderte er gar ein Jahr später in einem weiteren Schlüsseltext jener Zeit, eine neue Moral zu begründen.22 Über die Wege, dahin zu gelangen, schwieg er sich aus; doch dürfte es keinen Zweifel daran geben, wessen Parolen er aufgriff: Es war der Aufruf zur „Umwertung aller Werte“, den Friedrich Nietzsche nicht müde wurde zu wiederholen. Da de Benoist die modernisierungsfeindliche Atmosphäre der „nationalistischen“ Bewegung bzw. des späteren GRECE niemals verließ, konnte die tragische Weltsicht sowie der damit verbundene Appell nach einer „Umwertung der Werte“ in seinem Denken überdauern. Zwar verflüchtigte sich mit den Jahren die ungestüme, kämpferische Rhetorik aus seinen Texten, doch das Lob des antiutilitaristischen Heroen wurde darin zu einer Konstante, und der ästhetische Protest nahm immer mehr den Charakter einer grundsätzlichen Kulturkritik an 19

Ebd., S. 334. Laroche (FN 14), S. 28. 21 Ebd. 22 Fabrice Laroche (Alain de Benoist), „Qu’est-ce qu’ un militant Europe-Action“, Paris 1963, S. 47 f. 20

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der modernen Gesellschaft an. So wandte sich Alain de Benoist noch in einem seiner letzten Grundlagentexte, dem Manifeste de la Nouvelle Droite aus dem Jahre 2000, gegen den Materialismus und die geistige Armut der modernen Welt und hielt ihren utilitaristischen und deontologischen Moralvorstellungen jene tragische Vision entgegen, die er in den Tagen des Algerienkrieges das erste Mal formulierte: „Gegen die moralische Ordnung, die soziale und moralische Normen vermengt, ist es nötig, die Pluralität der Formen des sozialen Lebens aufrechtzuerhalten und zu unterstützen, die Ordnung und ihre Aufhebung, Apollon und Dionysos, zusammen zu denken. Man wird den Relativismus und den Nihilismus des ,letzten Menschen‘ (Nietzsche) die sich heute vor dem Hintergrund des praktischen Materialismus entschleiern, erst dann hinter sich lassen können, indem man den Sinn wiederherstellt, das heißt, daß man die Rückkehr zu den geteilten Werten unternimmt, die konkrete Gewißheiten in sich tragen und von selbstbewußten Gemeinschaften erfahren und verteidigt werden.“23 Die antiutilitaristisch-ästhetische Weltsicht de Benoists existiert dabei keineswegs losgelöst von anderen Betrachtungen; sie findet im Laufe seines intellektuellen Lebens zu entsprechenden Medien. Ein solches ist das Thema der Rasse, das vor dem Hintergrund der forcierten Immigration in Frankreich für die „antirepublikanischen Nationalisten“ in den sechziger Jahren zu neuer Bedeutung gelangte. Ein Text de Benoists aus dieser Zeit ergeht sich geradezu in der Beschwörung einer „europäischen Psychologie“, deren erstes Merkmal eben jener „Begriff des Tragischen“ sei, wodurch sich ein „klares Bewußtsein für das universelle Werden“, „Sinn für Ehre und Würde“, „einzig nonutilitaristische Züge“ sowie die „generelle Macht zur Abstraktion“ ergeben würden.24 Diese Imaginationen eines „weißen Prometheus“25 hatten freilich zur Konsequenz, daß etwa farbige Völker diese Kriterien nicht aufweisen, und tatsächlich redete de Benoist in diesen Jahren auch der geläufigen Theorie das Wort, wonach die schwarze Bevölkerung im Bereich der „abstrakten Intelligenz“ gravierende Defizite gegenüber der weißen habe.26 Überlegungen wie diese waren freilich nicht unumstritten; jedoch gereichten sie de Benoist dazu, der „europäischen Rasse“ eine – nicht „absolute“, aber „relative“ – „Überlegenheit“ zu attestieren und im „biologischen Fakt“ das entscheidende Moment der Geschichtsphilosophie zu erkennen.27 So heißt es beispielsweise in einem Text aus dem Jahre

23 Alain de Benoist/Charles Champetier, Manifeste de la Nouvelle Droite, in: Manifeste pour une renaissance européenne, A la découverte du GRECE son histoire, ses idées, son organisation, Paris 2000, S. 56. 24 Algazy (FN 1), S. 249. 25 Lorenzo Papini, Radici del pensiero, La riflessione politica di Alain de Benoist, Pisa 1995, S. 22. 26 Fabrice Laroche (Alain de Benoist)/Gilles Fournier, Vérité pour l’Afrique du Sud, in: Cahiers Trimestrielle d’„Europe Action“, Paris 1965, S. 101–103. 27 Algazy (FN 1), S. 249.

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1966: „Man kann nicht gleichzeitig den wissenschaftlichen Fakt der Erbschaft und den der organischen Einheit des Menschen behaupten, ohne die psychologische Erbschaft (Beständigkeit der Psychismen) anzuerkennen. Die rassischen Faktoren sind statistisch erblich, jede Rasse verfügt über ihre eigene Psychologie. Alle Psychologie ist Schöpferin der Werte.“28 Über die genauen Motive dieser rassebiologischen Argumentationen läßt sich nur spekulieren. Daß sie ihre Ursache nur in simpler, ökonomisch bedingter Xenophobie haben, ist mit Blick auf die waghalsige Verbindung von tragischem Lebensgefühl und abstrakter Intelligenz allerdings wenig wahrscheinlich. Warum hätte es dann solch exzentrischer Kompilationen bedurft? Vielmehr steht zu vermuten, de Benoist erschien der Immigrant zu diesem Zeitpunkt als sozial und kulturell deklassierte Erscheinung, als schnöder Mammonist, der in der sich entfaltenden Konsumgesellschaft nach all dem strebte, was er, der noch im agrikulturellen Horizont aufwuchs, ablehnte. So gesehen, wäre der Rassismus wiederum Ausdruck eines ästhetischen Protestes. Eindeutig sind jedoch die Konsequenzen, die Alain de Benoist aus seinen Betrachtungen zog. So skizzierte de Benoist die Perspektiven einer „biologistischen Politik“ in „planetarem“ Rahmen, die auf systematische Rassentrennung zielt und den Kontakt mit anderen „rassischen Gruppen“ sowie jedwede „Kreuzung“ unterbinden soll. Ziel einer solchen sei, „mit den unterschiedlichen rassischen Gruppen der Welt eine friedliche und liberale Politik der Koexistenz zu organisieren, die jedem erlaubt, im Rahmen des Möglichen seine Fähigkeiten und Gaben zu verwirklichen“.29 Ob diese Überlegungen wirklich vom hehren Gedanken der Völkerverständigung inspiriert waren, läßt sich rückblickend weder ausschließen noch bestätigen, die Direktiven waren jedoch klar: Sie, die Völker und allen voran die weißen sollen sich von genetischen Fremdeinflüssen befreien und andere Ethnien möglichst auf großer Distanz halten. Daß Alain de Benoist ein Verfechter „rassistischer Haßideologie“ sei,30 läßt sich allerdings nicht mehr behaupten, zieht man eine Ausgabe von Éléments aus dem Jahre 1974 heran. Dort verurteilte er in einem Gespräch „ohne Ausnahme alle Rassismen“, was seiner Meinung nach auch diejenigen beträfe, „die sich hinter der Maske eines schicklichen Antirassismus verstecken“. Rassismus, so de Benoist, beginne vielmehr dort, „wo man eine Angehörigkeit an das Absolute konstruiert“31; insofern müsse ein guter Antirassist alle interindividuellen und intergruppalen Unterschiede respektieren können. Dieser auch als „diffe28

Ebd. Ebd., S. 253. 30 Richard Herzinger/Hannes Stein, Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler – Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 114. 31 De Benoist (FN 2), S. 22. 29

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rentialistischer Antirassismus“ (Pierre-André Taguieff) titulierte Ansatz schließt naturgemäß den Gedanken „überlegener Rassen“ aus; und so wurde bei de Benoist aus der 1966 deklarierten „relativen Überlegenheit der weißen Rasse“ acht Jahre später die „relative Überlegenheit aller Rassen“: „Es ist offensichtlich, daß ein Individuum, welches im Sinne einer Kultur geboren wird – was auch immer dies für eine sei – in bezug auf den, der sie nur von außen wahrnimmt, begünstigt ist; begünstigt darin, sie zu verstehen und sich darin zu integrieren. [. . .] Man kann folglich sagen, jede Rasse ist bei der ,Ins-Werk-Setzung‘ ihrer eigenen Äußerungen den anderen überlegen.“32 In der Tat findet sich ab ungefähr dem Jahre 1974 in den Schriften de Benoists nichts mehr von einer Rhetorik, die den europäischen Menschen als einzig konzeptionell denkend und somit kulturschöpfend preist. Seitdem traten bei ihm verstärkt kulturrelativistische Argumentationen in den Vordergrund. Nach dieser Logik sind Rassen zunächst „verschieden“ und aus diesem Grunde „ungleich“. De Benoist wurde dazu von den Überlegungen des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss inspiriert. Lévi-Strauss, der im Jahre 1952 in seinem Vortrag Race et histoire vor der UNESCO die These von der Relativität der Kulturen vertrat, warnte schon früh vor möglichen Gefahren, die mit einem als „progressiv“ apostrophierten, „multikulturalistischen“ Konzept verbunden seien. Denn wenn die Menschen, so Lévi-Strauss, es im Namen von Gleichheit und Brüderlichkeit ablehnten, kulturelle Differenzen geltend zu machen, riskierten sie stark, auf den „verarmenden Weg einer weltweit homogenen Zivilisation“ zu gelangen.33 Daß de Benoist diese Ansichten gleichsam in nuce übernahm, geht beispielsweise aus einem Artikel über verschiedene Lebensräume und Mentalitätstypen von 1972 hervor. „Unser a-kulturelles Vorurteil“, heißt es dort, „macht uns glauben, die Unterschiede zwischen den Völkern sind nichts als oberflächlich. Aus diesem Grund berauben wir uns einer Bereicherung.“ „Der Reichtum der Welt“, statuierte de Benoist, „ist ihre Mannigfaltigkeit“.34 Die konsequente Integration der kulturrelativistischen Position in den rassischen Diskurs stellte dabei keineswegs den einzigen Wandel im Denken von Alain de Benoist dar. Ebenso wandte er sich fortan gegen jede Art rassebiologischer Argumentationen. Anstelle dieser traten nunmehr Auffassungen von Wissenschaftlern wie Helmut Plessner und vor allem Arnold Gehlen. Diese auch als „philosophische Anthropologie“ bezeichnete Schule ging von der Überlegung aus, der Mensch sei aufgrund seiner organischen Unspezialisiertheit ein „Mängelwesen“, und ihn zeichne daher eine „Weltoffenheit“ aus, was bedeutet, daß er beständig arbeiten und sich die Muster seines objektiven Weltbezuges selber

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Ebd., S. 23. Claude Lévi-Strauss, Race et histoire, UNESCO 1952, S. 22. Alain de Benoist, La dimension cachée, in: Vue de Droite, Paris 1979, S. 163.

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konstruieren müsse.35 Die „Weltoffenheit“ bestehe aber gleichsam als eine „grenzenlose“36, was mithin nicht nur die Einbindung des Menschen in einen kulturellen, sprachlichen und kommunikativen Kontext anbelangt, sondern ebenso die historische Veränderlichkeit seiner biologischen Seite nahelegt. Die Konsequenz dieser Argumentation mündet in eine Sichtweise, die den Menschen als kulturelles und geschichtliches Wesen begreift und seiner „biologischen Dimension“ den Status der Unabänderlichkeit nimmt. Den Kernaussagen der „philosophischen Anthroplogie“ entsprechend, avancierte der Mensch bei Alain de Benoist nunmehr zum „Schöpfer seiner selbst“37, der „untrennbar von seiner Kultur“, das heißt seinem „räumlichen Milieu“ und seiner zeitlich „konturierten Erbschaft“38, existiere. Diese Lesart sollte ihrerseits zu einer Konstanten im Denken von Alain de Benoist werden; auch sie findet sich im Jahre 2000 im Manifeste de la Nouvelle Droite wieder: „Der Mensch ist natürlicherweise weder gut noch schlecht, doch ist er fähig, das eine oder das andere zu sein. Er ist hierin ein offenes und gefährdetes Wesen, immer empfänglich, sich selbst zu überwinden oder sich zu degradieren. [. . .] Die biologischen Differenzen sind ihrerseits nur in bezug auf die kulturellen und sozialen Gegebenheiten signifikant.“39 Der kulturelle Relativismus sowie die Transformation des Rassebegriffes zu einer „prärassisch-anthropologischen“ Definition, bewirkten jedoch im Grunde keinerlei Veränderung in de Benoists Haltung zur Immigrationsfrage. Einwanderung lehnt Alain de Benoist bis heute ab. Allerdings sieht er sich ab der Mitte der siebziger Jahre zunehmend auf der Seite der Immigranten, die im Interesse der Bewahrung ihrer Kultur von einer Einwanderung in die westliche Hemisphäre absehen oder in ihre Heimat zurückkehren sollten. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist sein ethnopluralistisches Konzept, das er zu Beginn der achtziger Jahre entwickelte. Kernbestand dieser Konzeption ist das „Volk“, das sich durch seine ethnische Zugehörigkeit charakterisiert. Das ethnisch definierte Volk verfügt demnach über konkrete, „organisch“ gewachsene Wertvorstellungen, die de Benoist als Recht der Völker (le droit des peuples) herausstellt und die es unter allen Umständen zu wahren gilt. „Ein Volk“ schrieb er beispielsweise in seinem 1986 erschienenen Buch Europe, Tiers monde même combat, „ist keine vorübergehende Summe von Individuen; keine zufällige Aggregation.

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Christian Thies, Gehlen zur Einführung, Hamburg 2000, S. 55. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1997, S. 39. 37 Robert de Herte (Alain de Benoist), „Des exemples, plutôt que des leçons“, in: Elements 13 (1975/76), S. 2. 38 Alain de Benoist, Fondements nominalistes d’une attitude devant la vie, zitiert in: Julien Brunn (Hrsg.), La Nouvelle Droite – Le dossier du „procès“, Paris 1979, S. 143. 39 De Benoist/Champetier (FN 23), S. 38. 36

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Es ist die Zusammenkunft der Erben einer gegebenen Kultur, und jener, die freiwillig gewählt haben, sich mit dieser zu verbinden, das heißt all derer, die auf der Basis dieser Angehörigkeit oder dieses gemeinsamen Willens übereingekommen sind, eine Geschichte fortzuführen und sich ein gemeinsames Schicksal zu geben.“40 Die Konsequenzen einer solchen Sichtweise liegen allerdings auf der Hand: Wenn es eine konkrete ethnische Vielfalt geben soll, so kann es keine abstrakte menschliche Kultur geben. Es verwundert daher kaum, daß Alain de Benoist am Anfang der achtziger Jahre auch gegen das zu polemisieren begann, was ihm als vollkommenster Ausdruck des Letzteren erscheint: der Vorstellung von Rechtsgrundsätzen, die für alle Menschen verbindlich sind – der Idee der Menschenrechte. In unzähligen Reprisen geißelt er diese bis heute als eine Ideologie, „die unter der Maske der Toleranz und der Großzügigkeit zur Vernichtung der Völker und Kulturen führt“.41 De Benoists Aversion gegenüber den Menschenrechten ist tiefsitzend. Sie hat ihren Ursprung ebenfalls in der Phobie gegenüber jeder Tendenz zu Nivellierung, ein Phänomen, das insbesondere Charles Maurras in seinen Schriften immer wieder in direkter Verbindung mit dem republikanischen Universalismus brachte. Der verblüffende Übergang de Benoists von einstmals klar rassistischen Positionen zu einem kulturellen Relativismus im Sinne Claude Lévi-Strauss’ hat vor allem auf der Linken die Überzeugung genährt, hierbei handele es sich nur um eine Verdeckungsstrategie, die rassistische Argumentationen salonfähig machen solle. Dem ließe sich entgegenhalten, daß das Bedürfnis der Menschen, sich von anderen abzugrenzen und zu unterscheiden, ein Grundproblem ihrer Existenz darstellt. Die Frage: „Wer bin ich?“ läßt sich offenkundig nur in bezug auf den Anderen klären. Sich seiner Identität bewußt zu sein, heißt sich vom Anderen zu unterscheiden und auch – sich abzugrenzen. Mithin gäbe es schon ein gewichtiges Argument, das dafür spricht, daß die bei Alain de Benoist zu konstatierende Transformation von „Rassismus“ zu kulturellem Relativismus in den siebziger Jahren keineswegs alten Wein in neue Schläuche gießt, sondern tatsächlich die Übernahme kulturrelativistischer Positionen bedeutet. Ein zweites stellt der Verweis auf die tragische Weltsicht de Benoists dar. Wie bereits angemerkt, ist diese in seinem Denken nicht nur beständig, sondern bezeichnet das entscheidende Element in seinem rassistischen Diskurs sowie für dessen Zustandekommen überhaupt. Wie ferner deutlich wurde, ist der mit dem tragischen Lebensgefühl verbundene antiutilitaristische Protest immer Ausdruck eines ästhetischen Protests. Daß sich in Benoists Passion für die Vielfalt der Kul40

Alain de Benoist, Europe, Tiers monde même combat, Paris 1986, S. 213 f. Ders./Guillaume Faye, „Droits de l’homme: le piège“, in: Éléments 37 (1981), S. 3; vgl. auch Alain de Benoist, Au-delà des droits de l’homme – pour defendre des libertés, Paris 2004. 41

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turen ein wirkliches ästhetisches Empfinden manifestiert, bedarf angesichts dessen wohl keines weiteren Beweises mehr. Der Logik dieser Argumentation entsprechend dürfte es insofern kaum zu bezweifeln sein, daß gleichsam die andere Seite des Tragischen, die protestation ésthetique, das entscheidende Motiv bei der Transformation von „Rassismus“ zu kulturellem Relativismus gewesen ist, genauso wie der Antiutilitarismus selber, Jahre zuvor, zum Rassismus geführt hat. Die tragische Weltsicht de Benoists äußert sich jedoch nicht nur im ethnopluralistischen Konzept oder der Ablehnung der Menschenrechte. Letztere sind lediglich ein Ausdruck des als utilitaristisch und dadurch unästhetisch gescholtenen modernen Weltverständnisses. De Benoist übte kontinuierlich Kritik am politischen Liberalismus und wandte sich entschieden gegen dessen philosophische Grundannahme von der Gleichheit aller Menschen. Das letzte Glied in dieser Kette von Aversionen bildet die stete Feindschaft gegenüber dem „Judenchristentum“ (judéo-christianisme), dem de Benoist vorwirft, der eigentliche Wegbereiter des Egalitarismus gewesen zu sein. Den Überlegungen liegt dabei ein- und dasselbe Argument zugrunde, das seinerseits die antiutilitaristisch-ästhetische Dimension des Denkens von Alain de Benoist hervorhebt: Es besteht im Verweis auf den Individualismus der christlichen Gleichheitslehre ein Prinzip, das, so de Benoist, in einer seiner säkularisierten Formen, dem Liberalismus, genuin ökonomische Züge bekomme und hierdurch zur schleichenden Zerstörung kultureller Mannigfaltigkeit führe.42 So formulierte Alain de Benoist bereits im Jahre 1979 ein vorweggenommenes Credo seines intellektuellen Lebens, in dem er sich auch heute noch erkennt43: „In meinen Augen ist der Feind nicht die Linke oder der Kommunismus oder die Subversion. Jedoch diese egalitäre Ideologie, deren religiöse oder säkularisierte, metaphysische oder vorgegebene ,wissenschaftliche‘ Formulierungen seit zweitausend Jahren nicht aufgehört haben zu blühen und wovon die Ideen von 1789 nichts als eine Etappe waren und die aktuelle Subversion und der Kommunismus nichts als unvermeidliche Auswüchse sind. [. . .] Die prinzipielle Bedrohung heute, welche ist sie? Sie ist das fortschreitende Verschwinden der Verschiedenheit der Welt. Das Nivellieren der Personen, die Reduktion aller Kulturen auf eine globale Zivilisation, die immer mehr auf dem gebaut ist, was es überall gibt.“44

42 Vgl. ders., Die entscheidenden Jahre – Zur Erkennung des Hauptfeindes, Tübingen 1982. 43 Vgl. ders., Préface à la nouvelle édition de Vue de Droite, Paris 2002, S. 7. 44 De Benoist (FN 35), S. 16 (Hervorhebung im Original).

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4. Die Rechts-Links-Topographie und das Problem des Extremismus Aufgrund ihres kontinuierlichen Antiegalitarismus ist die tragische Vision de Benoists dabei als Ausdruck eines „rechten Denkens“ anzusehen. Denn Ungleichheit als das Grundprinzip der menschlichen Natur, ja des Lebens schlechthin, das ist die Maxime all derer, die seit dem Jahre 1789 unter der Bezeichnung „Rechte“ firmieren.45 Nach einer geläufigen Untersuchung von Uwe Backes wäre der Antiegalitarismus de Benoists aber somit zugleich auch Beweis für extremistisches Denken, da in der Vielfalt der Extremismen die Begriffe „rechts“ und „links“ ihre fundamentale topographische Bedeutung gewahrt hätten.46 Insofern kommt man an der Frage nicht vorbei: Ist das Denken von Alain de Benoist rechtsextrem? Eine Antwort hierauf setzt voraus, zunächst einmal zu klären, was unter politischem Extremismus zu verstehen ist. Hierbei gelangt man zum Schluß, daß „Extremismus“ in der Sozialwissenschaft gemeinhin als „Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat“47 gilt. So sahen Seymour Martin Lipset und Earl Raab die Substanz des Extremismusbegriffes vor allem durch die Frage nach der jeweiligen Form der politischen Verfahrensregeln (procedures) betroffen: „In diesem Sinne bedeutet Extremismus ein Überschreiten von Grenzen normativer Prozeduren, die den demokratischen politischen Prozeß bestimmen“.48 Nun hat Alain de Benoist seine Haltung zur Demokratie 1986 in einem Buch ausführlich dargelegt. Zwar ließ er dort an der „liberalen Demokratie“ kein gutes Haar; allerdings bedeutet dies nicht, daß er den Gedanken der Demokratie von Grund auf verwarf. Im Gegenteil: Alain de Benoist votierte vehement für eine „organische Demokratie“, in der Staatsbürgerschaft, Freiheit, Volkssouveränität und Gleichberechtigung genauso die Grundfesten der Herrschaft des Volkes bilden wie in der liberalen Tradition.49 Nur: Bei de Benoist ist die Freiheit nicht Ausdruck „egalitären Individualismus“, sondern rührt von einer Gebundenheit her; sie gründet auf einer Volkszugehörigkeit, sie versteht sich als Anteilnahme.50 Alain de Benoist orientierte sein Demokratieverständnis an der aus der klassischen Antike überlieferten Form: In der griechischen Polis äußerte sich die Herrschaft des Volkes durch Personen, die aufgrund ihres gleichen Sta45 Vgl. Noberto Bobbio, Rechts und Links – Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 76 ff. 46 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 264. 47 Ebd., S. 87. 48 Seymour Martin Lipset/Earl Raab, The politics of unreason. Right-wing extremism in America, 1790–1977, Chicago/London 1978, S. 5. 49 Alain de Benoist, Demokratie. Das Problem, Zürich/Paris 1986, S. 118. 50 Ebd., S. 119.

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tus als Bürger ihre Rechte wahrnahmen und souverän die Gesetze erließen. Dieser politischen Form war der Gedanke an die fundamentale Gleichheit aller Menschen fremd: An Unfreie, Metöken und Frauen wurden die Bürgerrechte nicht verliehen. Das herrschaftsberufene Volk hat bei de Benoist zwar gleiche Rechte, jedoch besitzt diese nicht jeder.51 Die Formen der demokratischen Mitbestimmungen in der „organischen Demokratie“ erschöpfen sich nach de Benoist dabei nicht nur im allgemeinen Wahlrecht oder dem Plebiszit. Sie umfassen genauso die verstärkte Partzipation in Gemeinderäten und Berufsverbänden, die Entfaltung von Volksinitiativen und -begehren wie die Entwicklung von qualitativen Formen zur Artikulation des gesellschaftlichen Konsenses. Obwohl also, so ist zu konstatieren, der Egalitarismus in dieser Konzeption der Demokratie keinen Platz hat, gibt es darin augenscheinlich „normative Prozeduren“, so daß es nach der Definition von Raab und Lipset problematisch wäre, Alain de Benoist des Extremismus zu bezichtigten. Freilich: Der Begriff „Demokratie“ kann verschiedene Bedeutungen haben. Selbst die totalitär-kommunistischen Regime in Ost- und Mitteleuropa verstanden sich als eine solche, und in Nordkorea oder Kuba wird diese Auffassung ebenso geteilt. Wenn Demokratie also nicht gleich Demokratie ist und wenn sich aus diesem Grund deren Antithese, der Extremismus nur schwerlich bestimmen läßt, muß es folglich einen Kern geben, der ein Gemeinwesen als wirklich „demokratisch“ charakterisiert. Ein solcher existiert bei Lipset und Raab durchaus und wurde von ihnen mit „Pluralismus“ umschrieben: „Pluralismus bezeichnet eine Gesellschaft, die danach trachtet, das unabhängige Nebeneinander verschiedenartiger politischer Einheiten, ethnischer Gruppierungen und Ideen zu erhalten und zu fördern. Präziser ausgedrückt, Pluralismus meint die Art einer gesellschaftlichen Struktur, die ein solches System des Nebeneinander stärkt.“52 Lipset und Raab sehen diese Struktur vor allem im Liberalismus gewahrt;53 jedoch geht aus ihren Ausführungen keineswegs hervor, daß sie diese nur in ihm gewahrt sehen. Akzeptiert man diese Logik, stünde der Egalitarismus als Leitmotiv der liberalen Demokratie zur Diskussion: Denn wenn, so ließe sich folgern, der Liberalismus nicht das einzige pluralistische System ist, dürfte der Egalitarismus als dessen philosophische Vorbedingung nicht die einzige Grundvoraussetzung für den Pluralismus sein. In der Tat: Von Egalitarismus als der Bedingung des Pluralismus ist bei Lipset und Raab nicht die Rede. Wer sich des Umstands vergegenwärtigt, daß beide Ideenformationen, der Liberalismus und die Doktrinen von Alain de Benoist, für den Erhalt von Pluralismus sind,

51 52 53

Ebd., S. 123. Lipset/Raab (FN 48), S. 5. Ebd.

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kommt nicht umhin, den „extremistischen Kelch“ an Alain de Benoist vorbeigehen zu sehen. In einem anderen Licht erscheint das Problem, hält man sich an die Begriffsbestimmung des Rechtsphilosophen und ehemaligen Bundesinnenministers Werner Maihofer für „Extremismus“. Maihofer sah in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht extremistische Bestrebungen insbesondere gegen den Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtet: „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind danach mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politische Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“54 Der demokratische „Kern“ macht sich in dieser Definition an den in der Verfassung konkretisierten Menschenrechten fest. Mit Blick auf de Benoists Position in dieser Frage dürfte erneut Anlaß bestehen, ihn als Extremisten zu charakterisieren. Allerdings würde eine tiefere Beschäftigung mit seinen Schriften die Erkenntnis zur Folge haben, daß er sich zu vielen ihrer grundgesetzlichen Konkretisierungen entweder gar nicht geäußert oder aber deren Gültigkeit nicht infrage gestellt hatte. Alain de Benoist würde man kaum nachsagen können, er spräche der Persönlichkeit das Recht auf Leben und freie Entfaltung ab oder fühle sich dem Gedanken der Volkssouveränität nicht verpflichtet; auch liegt es keineswegs auf der Hand, daß es in seiner Gesellschaftskonzeption nicht die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder unabhängige Gerichte gäbe. Mit einiger Phantasie wäre es vorstellbar, daß diese mehrere Parteien und eine verfassungsmäßige Opposition hat, die alle die gleichen Chancen besitzen. Auch wenn de Benoists Haltung gegenüber den Menschenrechten im Widerspruch zu jenen Gepflogenheiten zu stehen scheint, die gemeinhin mit dem „zivilisatorischen Fortschritt“ assoziiert werden, erscheint es fragwürdig, sie dahingehend zu interpretieren, er teile nicht jene „universelle Philanthropie“, die nach Backes in der liberalen Tradition zum Ethos fundamentaler Menschengleichheit und so zu den Menschenrechtserklärungen führte.55 Welchen Standpunkt man zu den Schriften de Benoists auch einnehmen mag: Es findet sich in ihnen nicht eine Zeile, die in irgendeiner Form misanthropisch inspiriert ist, „Toleranz“ und „Offenheit“ verdammt oder gar zu absolutistischer 54 Werner Maihofer, Politische Kriminalität, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 14, Mannheim/Wien/Zürich 1975, S. 365–369, hier 367 (Hervorhebungen im Original), zitiert nach: Backes (FN 46), S. 88. 55 Vgl. Backes (FN 46), S. 97.

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Willkürherrschaft aufruft. Vielmehr wird man einräumen müssen, daß sich bei ihm mit der Sorge um den Erhalt der verschiedensten Völker und Kulturen ebenfalls ein zutiefst philanthropisches Denken ausdrückt – nur eben, daß dessen Konsequenzen andere sind als in der liberalen Tradition. Überhaupt ist de Benoists Vorbehalt in der Frage der Menschenrechte kein Einzelfall. Mittlerweile mehren sich die Stimmen, welche die These von der Universalität der Menschenrechte aus verschiedensten Gründen kritisieren, wenn nicht gar ablehnen. Die Argumente sind dabei nicht nur kulturrelativistischer Natur, sie rühren mittlerweile auch von rechtstheoretischen und ökonomisch-ökologischen Erwägungen her. All diese Kritiker, so ist zu betonen, befinden sich durchaus im Einklang mit den Prinzipien von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, die ihrerseits als Menschenrechte verbürgt sind. Wenn also die Opposition gegenüber den Menschenrechten wie im Falle de Benoists nur auf der doktrinären Ebene verbleibt, wäre es unangebracht, darin den Tatbestand des politischen Extremismus sehen zu wollen. Wie Uwe Backes in seiner normativen Rahmentheorie des Extremismus aufzeigte, lassen sich Extremismen nicht nur auf phänomenologischer Ebene, sondern auch strukturell eingrenzen.56 Die Strukturen der Doktrinen, nicht das Phänomen an sich, bilden nach Backes die Grundlage einer definitio ex positivo des politischen Extremismus. Demnach zeichnen sich extremistische Doktrinen durch offensive und defensive Absolutheitsansprüche sowie ihren dogmatischen Charakter aus, vertreten einerseits einen radikalen Utopismus, andererseits einen kategorischen Utopieverzicht; verfallen darüber hinaus in Freund-Feind Stereotype, bedienen sich ferner Verschwörungstheorien und „atmen“ nicht zuletzt den unverwechselbaren Hauch von Fanatismus und Aktivismus.57 Weisen also, so ist zu fragen, de Benoists Texte derartige Strukturmerkmale auf? Wer vor allem auf die Schriften aus den sechziger Jahren Bezug nimmt, scheint in der Tat Beispiele für Extremismus zu finden: Denn einiges, was Alain de Benoist vor allem im Umfeld der „antirepublikanischen Nationalisten“ zu Papier brachte, kann keinesfalls für sich beanspruchen, nur eine relative Beurteilung der Wirklichkeit darzustellen, unvoreingenommen oder gar wissenschaftlich überprüfbar zu sein. Schon allein die Behauptung, das hervorstechendste Kriterium der „europäischen Psychologie“ sei jener Begriff des Tragischen,58 enthüllt eindeutig einen Absolutheitsanspruch; sein dogmatischer Grundansatz ist ebenso nicht zu übersehen, da sich ein derartiges Axiom nicht einmal ansatzweise empirisch nachweisen lassen könnte. Auch verrät ein Text wie Qu’est-ce qu’un militant?, daß de Benoist zumindest zeitweise Neigung zu Verschwörungstheorien verspürt haben muß, bezichtigte er doch darin die als 56 57 58

Ebd., S. 97. Ebd., S. 316 ff. Vgl. Laroche (FN 22), S. 47; Algazy (FN 1), S. 249.

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régime titulierte V. Französische Republik willentlich, gesellschaftliche Mißstände zu verursachen oder die weiße Rasse durch Canossa-Komplexe zu schwächen.59 Ein (wenngleich schwach ausgeprägter) „rassischer“ Utopismus gehörte ebenfalls zu den argumentativen Mustern de Benoists. Seinen Ideen, die verschiedenen Rassen systematisch zu trennen und eine eugenische Politik im planetaren Rahmen zu betreiben,60 könnte das Etikett „extremistisch“ zugeschrieben werden. Und was den aktionistischen Gestus der frühen Elaborate de Benoists betrifft, so ergehen sich gerade diese sehr oft in einem militanten Pathos. Auch das erklärte Freund-Feind-Schema – nach dem Motto „wir“ gegen „sie“ – läßt sich in einigen Artikeln de Benoists aus den sechziger Jahren ausmachen. Obwohl dies bei Alain de Benoist keineswegs in jene Paranoia mündet, die solcherart Schrifttum gewöhnlich anhaftet, ist doch unübersehbar, daß etwa bestimmte Kritiken gegenüber dem régime oder dem Christentum den Rahmen des Objektiven weit übersteigen und insofern nichts anderes sind als Feindbestimmungen. Für das Genannte dürfte folgende These ausreichen: Einige Texte von Alain de Benoist aus den sechziger Jahren erfüllen, zwar nicht gemäß ihrer Phänomenologie, so doch ihrer Struktur nach, den „Tatbestand“ des Extremismus. Eine weitere Analyse unter diesem Aspekt führt jedoch zum Ergebnis, daß sich in dieser Frage ab ungefähr dem Beginn der siebziger Jahre ein entscheidender Wandel abzeichnet. Dieser kam nicht von ungefähr, sondern war sichtbarer Ausdruck der mit der Gründung des GRECE verbundenen Bestrebung, den doktrinären Korpus wissenschaftlich zu untermauern. Nicht nur, daß in diesem Zusammenhang fanatische und verschwörungstheoretische Argumentationen oder die Freund-Feind-Rhetorik unterblieben, auch wurde das, was vorher in den Texten de Benoists eindeutig absoluten und dogmatischen Charakter hatte, unter Berufung auf empirische Untersuchungen bloß als eine mögliche Interpretation hingestellt. Diese Veränderung des argumentativen Schemas läßt sich an zahllosen Beispielen ablesen: So erscheint etwa die noch am Anfang der siebziger Jahre vertretene These, wissenschaftlicher Fortschritt manifestiere sich ausschließlich in der weißen Rasse, nicht mehr als unverrückbares Axiom, sondern als diskussionswürdige Überlegung.61 Ebenso erhebt der Ansatz des „differentialistischen Antirassismus“ keinen Anspruch auf Objektivität, sondern drückt eine persönliche Meinung aus. Bezeichnend sind Formulierungen wie diese: „Nach meiner Meinung muß sich die Kritik des Rassismus auf einem doppelten Niveau vollziehen [. . .]“ etc.62 Auch utopistische Gehalte waren ab dem Beginn der siebziger Jahre nicht mehr in den Schriften de Benoists zu 59 60 61 62

Vgl. Algazy (FN 1), S. 250. Ebd., S. 252. Alain de Benoist, Les Vikings en Amérique, in: Vue de Droite 1979, S. 68–77. Vgl. de Benoist (FN 2), S. 13–40.

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finden. Was sich vorher unter solche subsumieren ließ – beispielsweise seine Vorschläge zur Lösung der Immigrationsfrage –, nahm nun immer mehr den Charakter von Empfehlungen an.63 Hier zu argumentieren, mit diesem kategorischen Utopieverzicht betrachte de Benoist jeden Versuch der Verwirklichung von gesellschaftlicher Harmonie von vornherein als unmöglich, oder er teile die Auffassung eines bellum omnium contras omnes, der sich nur durch einen starken Staat verhindern ließe,64 erscheint gleichwohl verfehlt. „Gesellschaftliche Harmonie“ ist geradezu der Inbegriff dessen, was de Benoist dem vorchristlichen, noch auf heidnischer Basis beruhenden Europa andichtet. Aber auch der umgekehrte Schluß, de Benoists bekanntes Faible für das Heidentum, verstehe sich als eine „rückwärtsgewandte“ oder gar „konservative“ Utopie, wäre unangebracht. Im Rekurs de Benoists auf den Paganismus, so muß man wohl eher sagen, kommt eine Vorliebe für einen Mythos zum Ausdruck, der jeder politischen Relevanz entbehrt. Alles in allem weisen die Texte de Benoists seit Beginn der siebziger Jahre die Strukturmerkmale extremistischer Doktrinen nicht mehr auf. Seit diesem Zeitpunkt ist aus dem Rechtsextremisten Alain de Benoist ein rechter Intellektueller geworden.

5. Zusammenfassung Entgegen der geläufigen Meinung „folgte“ das intellektuelle Abenteuer der Nouvelle Droite und insbesondere das von Alain de Benoist nicht der Studentenbewegung von 1968; auch stellt es keineswegs nur eine Reaktion auf die Niederlagen der französischen Rechten seit dem Ende des Algerienkriegs dar. Vielmehr versteht es sich als ein Reflex auf jenen gewaltigen sozioökonomischen Wandel, den Frankreich im Zuge seiner Transformation von einer Agrargesellschaft zu einer modernen Industrienation erlebte. In diesem Spannungsfeld entwickelte Alain de Benoist, der durch seine soziale Herkunft und frühe philosophische Bildungserlebnisse für die Nivellierungserscheinungen der Modernisierung sensibilisiert wurde, seine antiutilitaristisch-ästhetische Weltsicht, die wie ein roter Faden seine Doktrinen durchzieht. Während beispielsweise der antiutilitaristische Aspekt zentrales Element seiner rassistischen Spekulationen ist, die vor allem im Umfeld der antirepublikanischen Nationalisten in der Mitte der sechziger Jahre entstanden, inspiriert der Ästhetizismus die Vorstellung eines „differentialistischen Antirassismus“ seit den siebziger Jahren. Beides deutet auf dieselbe denkerische Grundintention: die tragische Vision Friedrich Nietzsches, die im krassen Widerspruch zum modernen Weltverständnis steht. De Benoists antiutilitaristisch-ästhetische Vision mündet in die Kritik des politischen Liberalismus, der Menschenrechte, des Christentums, und als dem entscheidenden 63 64

Vgl. de Benoist (FN 40), S. 215. Backes (FN 46), S. 303.

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Moment hierbei, in die Ablehnung des Egalitarismus, was zunächst auf extremistische Doktrinen schließen läßt. Extremismus wird als Antithese zur Demokratie auf pluralistischer Basis verstanden. Indessen gibt es durchaus eine solche Konzeption in de Benoists Vorstellungswelt. Diese steht nicht auf egalitärer Grundlage, sondern orientiert sich an der aus der Antike überlieferten Form. Da der Egalitarismus in der Definition des Extremismus keine Rolle spielt, erscheint es insofern nicht gerechtfertigt, de Benoist als Extremisten zu charakterisieren. Auch seine Opposition gegenüber den Menschenrechten kann nicht als Beweis für ein extremistisches Phänomen herangezogen werden. Nicht nur, daß sich de Benoist im Einklang mit den Prinzipien von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit befindet, auch verweist seine alternative Konzeption eines „Rechts der Völker“ oder der permanente Appell, die kulturelle Mannigfaltigkeit zu erhalten, auf ein zutiefst philanthropisches Ethos, das zu alternativen Konsequenzen gelangt. Allerdings finden sich in einigen Texten de Benoists aus den sechziger Jahren Positionen, die als extremistisch bezeichnet werden können. Unter diese lassen sich jedoch Strukturen und nicht Phänomene subsumieren; sie verlieren sich mit Beginn der siebziger Jahre im Zuge des wissenschaftlichen Projekts des GRECE. Seither ist Alain de Benoist als ein Intellektueller der Rechten zu betrachten.

Alter Wein in neuen Schläuchen Die nach wie vor symbiotische Beziehung von Linkspartei.PDS und den Ostdeutschen Von Alexander Dassen

1. Einleitung Die Entwicklungen des letzten Jahres im bundesdeutschen Parteiensystem insbesondere am linken Rand des Parteienspektrums in Ost- wie Westdeutschland nährten anfangs den Verdacht, die PDS sei aus ihrem Regionaldasein zu einer bundesdeutschen Partei herangereift. Die Wahlergebnisse und die Repräsentanz der „neuen“ Linkspartei mit insgesamt 54 Sitzen im 16. Deutschen Bundestag1 deuten bei oberflächlicher Betrachtung darauf hin. War vor dem Auftreten der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG) die Zustimmung der Wähler für die PDS zwischen Ost- und Westdeutschen nahezu diametral verschieden, so näherte sich zumindest das Wahlverhalten in Ost und West 2005 mit Blick auf die Linkspartei.PDS an. Dies ist in erster Linie dem großen Zuspruch für die Linkspartei.PDS (ehemals PDS) im Westen Deutschlands geschuldet. Der Schluß, die PDS hätte sich nun gesamtdeutsch etablieren können, hält einer näheren Betrachtung jedoch nicht stand. Die Fusion von WASG und PDS zu einer neuen Partei ist eine mittelfristige Planung zweier ungleicher Partner. Erste Differenzen offenbarte bereits die Namensgebung. Die Westlinken der WASG wollten anscheinend unter keinen Umständen unter dem Ostlabel „PDS“ antreten. Im Osten hingegen wurde bei der PDS stark gegen die Namensänderung opponiert, allerdings ohne Erfolg. Zuletzt einigte man sich auf der außerordentlichen Tagung des 9. Parteitages am 17. Juli 2005 in Berlin darauf, das Kürzel PDS nicht komplett aus dem Namen der noch zu gründenden Partei zu streichen. Der Parteivorsitzende Lothar Bisky sieht den weiteren Verlauf dieser Fusion als offen an: „Klar ist: Noch steht der Beweis dafür aus, daß in Deutschland etwas gleichberechtigt zusammenwachsen kann, was in der Geschichte und in Ost und West unterschiedliche Wurzeln hat, was unterschiedli-

1 Alle Angaben zu den Wahlergebnissen der Bundestagswahl 2005 sind dem amtlichen Endergebnis des Bundeswahlleiters entnommen, in: www.bundeswahlleiter.de.

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che Milieus repräsentiert und anspricht.“2 Ein Unwohlsein gab und gibt es offensichtlich auf beiden Seiten, wie es das WASG-Vorstandsmitglied Klaus Ernst aus Schweinfurt formulierte: „Natürlich gibt es Ängste. Ich sage euch, bei uns gibt es noch viele, die haben vor euch Angst. Aber deshalb müßt ihr doch nicht Angst vor uns haben! Da ist es doch gerade ein Zeichen der Zeit oder muß es ein Zeichen der Zeit sein, diese Angst zu überwinden und sich diesem Neuen zuzuwenden.“3 Eine genaue Begutachtung der Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2005 läßt den Schluß zu, daß in Deutschland in Ost und West unterschiedlich gewählt wird. In den alten Bundesländern (mit Berlin West) erhielt die Linkspartei nicht einmal 5 Prozent (Ergebnis 4,9 Prozent) der Stimmen. Mit einem solchen bundesweiten Ergebnis wäre sie nicht im Bundestag vertreten. Anders sieht es im Osten (mit Berlin Ost) aus: hier kommt die Linke.PDS im Schnitt auf 25,3 Prozent der Stimmen. Bundesweit konnte die Linke.PDS somit das mit Abstand beste Ergebnis in der Geschichte der Partei seit 1990 erzielen. 8,7 Prozent gaben ihre Zweitstimme für die Linke.PDS ab. Die neue Entwicklung spiegelt nichts anderes als das Ergebnis einer Kooperation der ostdeutschen PDS mit einem westdeutschen Pendant im Parteienspektrum wider. Ohne die WASG hätte die PDS nie eine derartige Zustimmung erfahren. Warum das so ist, soll im folgenden geklärt werden. Wegen der ausstehenden Fusion der beiden Parteien WASG und PDS kann die ursprüngliche PDS als eigenständige Partei mit starker Ostverankerung und Ost-Mitglied- und Wählerschaft zur Analyse herangezogen werden. Der Zuspruch im Westen resultierte bislang lediglich aus der vorübergehenden, noch nicht in einer Parteienfusion mündenden Zusammenarbeit mit der WASG und wurde somit nicht von der PDS selber generiert. Sollte es der PDS gelungen sein, die für Links-Parteien relevante Konfliktlinie Arbeit-Kapital zu besetzen, wären demnach mehr Ostdeutsche „Sozialisten“ als Westdeutsche. Oder gelang es der PDS, über ihr Stammwähler- und Mitgliederpotential (die sogenannte ehemalige DDR-Dienstelite) hinaus, sich als Partei zu profilieren, die spezielle regionale Besonderheiten bedient? Wenn ja, was sind die regionalen Einstellungen und Befindlichkeiten in Ostdeutschland? Gibt es gegebenenfalls eine OstWest Konfliktlinie? Die Wahlentscheidungen zugunsten der PDS sind hierbei nicht ausschließlich von Belang. Das Image der PDS differiert nach wie vor stark in Ost- und Westdeutschland, wobei die Wahrnehmung der PDS in Ostdeutschland wesentlich 2 Rede von Lothar Bisky auf der außerordentlichen Tagung des 9. Parteitages der PDS am 17. Juli 2005 in Berlin, in: www.sozialisten.de (Stand: 24. September 2005). 3 Rede von Klaus Ernst (WASG) auf der außerordentlichen Tagung des 9. Parteitages der PDS am 17. Juni 2005 in Berlin, in: www.sozialisten.de (Stand: 24. September 2005).

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positiver ist. Es hielten im Jahr 1999 54 Prozent der Ostdeutschen die PDS für eine normale demokratische Partei (15 Prozent im Westen), Zweifel daran haben lediglich 32 Prozent (West 70 Prozent); im Bekanntenkreis haben 71 Prozent der Ostdeutschen jemanden, der die PDS gut findet, im Westen lediglich 20 Prozent.4 Auch heute noch bescheinigt eine Mehrheit in Ostdeutschland der PDS, daß sie „die Anliegen und Sorgen der Bevölkerung verstehen“.5 Dies korreliert mit dem Zuspruch für die PDS bei den Wahlen in Ostdeutschland und ist deswegen erstaunlich, weil zu vermuten gewesen wäre, daß nach dem Untergang der totalitären und heruntergewirtschafteten DDR auch die ehemalige Staatspartei SED keine Existenzgrundlage mehr gehabt hätte. Daß dem nicht so war, hat folgende Gründe: • Das Milieu der ehemaligen SED-Elite hat nach wir vor eine starke Bindung an die PDS, jedoch aus durchaus unterschiedlichen Gründen. Für die einen dient die PDS als sozialistische Wärmestube, für die anderen als Vehikel, um sich im neuen politischen System zu etablieren und als Realpolitiker die Marktwirtschaft zu modifizieren. • Die PDS artikuliert direkt die Interessen der Ostdeutschen, die sich aufgrund der ökonomischen Misere in den neuen Bundesländern als Verlierer der Wiedervereinigung betrachten. • Zwischen den Orientierungen vieler im Osten und der durch die maßgeblich von den Reformern geprägte Ideologie der PDS besteht eine starke Kongruenz. Insbesondere der letzte Aspekt könnte ein wichtiger Grund für die starke Verankerung der PDS (ohne WASG) im Osten sein, nachdem sowohl durch einen gravierenden Mitgliederschwund zur Zeit der „Wende“ 1989/90 als auch durch das schlechte Wahlergebnis bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 ihr Fortbestand ungesichert schien. Folgende Unterpunkte bilden drei weitere Untersuchungsfelder, die in den Sozialwissenschaften weitgehend als zentrale Merkmale der politischen Kulturbzw. Werteforschung erhoben und ausgewertet werden:

4 Vgl. Renate Köcher, Chancen und Grenzen der PDS, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Dezember 1999. 5 Vgl. dies., Mit Verständnis statt Konzepten. Die Renaissance der PDS als Protestbewegung, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. August 2004. „Bei welcher Partei haben Sie den Eindruck, daß sie die Anliegen und Sorgen der Bevölkerung verstehen?“ Zustimmung in Ostdeutschland zur PDS 30 Prozent, gefolgt von der CDU mit 13 Prozent, SPD 8 Prozent, Bündnis90/Die Grünen 8 Prozent, FDP 8 Prozent. Lediglich „bei keiner Partei“ (34 Prozent) ist die Zustimmung höher. Im Westen attestieren dies gerade 6 Prozent der Befragten der PDS.

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• Ostdeutsche Identität und Separatempfinden Sollte es tatsächlich ein Distinktionsbedürfnis zwischen Ost- und Westdeutschen geben, kann dann überhaupt von einer einheitlichen Nation gesprochen werden? Sollte ein ostdeutsches Separatempfinden vorhanden sein, wäre dies ein wichtiger Hinweis auf eine innerdeutsche Konfliktlinie. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, ob es sich um einen Cleavage handelt oder nur um normale regionale Unterschiede. • Demokratieverständnis Unterstützung von Demokratie ist eine komplexe Größe, die sich auf die „Idee“ der Demokratie und ihrer Einzelelemente wie deren realistische Ausprägungen eines bestimmten demokratischen Systems bezieht. Die Zustimmung zum Prinzip der Demokratie dürfte überall sehr hoch sein. Entscheidend ist, was die Bevölkerung für Vorstellungen über Demokratie hat und welche Anforderungen sie an das politische System richtet. Es ist also von nachhaltiger Bedeutung, ob liberale Grundrechte, pluralistischer Parteienwettbewerb und Rechtsstaat für wichtig gehalten werden.6 Weitere zentrale Indikatoren für die Vorstellungen, was das politische System zu leisten hat, sind die Maximen zu Freiheit und Gleichheit. Beides sind grundlegende Werte, die eng mit der Entstehung und Entwicklung der Demokratie verbunden waren und somit ebenfalls als demokratietheoretische Grundwerte bezeichnet werden können. Allerdings stehen sich beide Werte nicht konfliktfrei gegenüber. • Werte und Wertewandel in den neuen Bundesländern „Unter Werten werden gesellschaftlich bedeutsame Grundüberzeugungen von Gruppen verstanden, die relativ dauerhaft und von hohem Allgemeinheitsgrad sind und Konzeptionen des (politisch) Wünschenswerten zum Ausdruck bringen.“7 Bei einem Wertewandel vollzieht sich eine Veränderung der Wertehierarchien in einer Gesellschaft. Die Diskussion darüber wird in den Sozialwissenschaften geführt, seit Ronald Inglehart dieses Phänomen mit einem umfangreichen theoretischen Rahmen versehen hat. Trotz seiner umstrittenen Thesen insbesondere zur Meßbarkeit des Wertebestands und des Wertewandels einer Gesellschaft ist heute die Werteforschung ein wichtiger Zweig in den Sozialwissenschaften.

6 Vgl. Oskar W. Gabriel, Politische Orientierungen und Verhaltensweisen, in: Max Kaase u. a. (Hrsg.), Politisches System. Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern, Opladen 1996, S. 231–320, hier S. 270. 7 Richard Stöss, Die Position der PDS im deutschen Parteiensystem, in: FriedrichEbert-Stiftung (Hrsg.), Befunde über die PDS. Dokumentation der Tagung vom 5. Dezember 1996 in Potsdam, Potsdam 1997, S. 43.

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Ingleharts Studie „The silent revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics“8 markiert den Beginn der Wertewandel-Diskussion, in der er einen umfassenden Wertewandel auf vielen Lebensfeldern aufdeckt und eine Theorie liefert, die einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis von gesellschaftlichen Werten bezeichnet.9 Seine Forschung und Theorie lösten Streit darüber aus, ob und wie der Wertebestand und Wertewandel einer Gesellschaft überhaupt meßbar sei. Sein Index ist in der Sozialwissenschaft das am weitesten verbreitete Instrument zur Messung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen.10 Die beiden zentralen Begriffe Ingleharts sind die des Materialismus und Postmaterialismus. In diesem bipolaren Wertesystem stehen sich gegenüber: • Materielle Grundbedürfnisse: Zu ihnen gehören wirtschaftliche Stabilität, Wirtschaftswachstum, Preisstabilität sowie ferner Ruhe und Ordnung in Staat und Gesellschaft. • Soziale und Selbstverwirklichungsbedürfnisse: Hierzu zählen geistige, schöpferische ästhetische und kontemplative Bedürfnisse, Bedürfnisse wie Zugehörigkeitsgefühl, Bedürfnisse nach Mitsprache in Staat und Gesellschaft, Meinungsfreiheit, weniger Anonymität, aber auch ideelle Werte wie Natur- oder Denkmalschutz.11 Wie das optimale Werteinventar12 aussieht, welche Werte unter die beiden Kategorien Postmaterialismus oder Materialismus subsumierbar sind, darüber herrscht keine Einigkeit. Eine Vereinheitlichung der Methoden zur Ermittlung von Werten scheint derzeit nicht in Sicht. Von einer etablierten Wissenschaft kann bei der Wertewandelforschung noch nicht die Rede sein. Studien belegen inzwischen deren Sinn im großen und ganzen; Ingleharts Skalen und Kategorien finden bis heute in der Sozialforschung Anwendung.13 8 Vgl. Ronald Inglehart, The silent revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977. 9 Vgl. Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, München 1993, S. 156. 10 Vgl. Kai Arzheimer/Markus Klein, Gesellschaftspolitische Wertorientierungen und Staatszielvorstellungen im Ost-West-Vergleich, in: Jürgen Falter/Oscar W. Gabriel/ Hans Rattinger (Hrsg.), Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen der Ostund Westdeutschen im Vergleich, Opladen 2000, S. 363–402, hier S. 379. 11 Vgl. Greiffenhagen/Greiffenhagen (FN 9), S. 156. 12 Vgl. Helmut Klages, Die gegenwärtige Situation der Wert- und Wertewandelforschung – Probleme und Perspektiven, in: Ders./Hans-Jürgen Hippler/Willi Herber (Hrsg.), Werte und Wertewandel. Ergebnisse und Methoden einer Forschungstradition, Frankfurt a. M. 1992, S. 5–39, hier S. 30 f. 13 Vgl. Olaf Winkel, Wertewandel und Politikwandel. Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 52–53/96, S. 13–25, hier S. 15.

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Postmaterielle Werte sind die Ziele der „neuen Linken“, die sich im Zuge der 68er Bewegung nur im Westen ausbilden konnte (Betonung der Selbst- und Mitbestimmung sowie anderer immaterieller Güter wie Kontemplation, Umwelt, Feminismus etc.). Die Staatsideologie der untergegangenen DDR war nicht mit den postmaterialistischen Zielen der neuen Linken vereinbar. Ihr vorrangiges Ziel war die „Befreiung der Arbeiterklasse“ und Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse. Arbeit (im Kollektiv/der Brigade/der LPG etc.) und Konsum waren beispielsweise in der DDR-Propaganda wichtige materialistische Werte.14 Voraussetzung für die Herausbildung postmaterialistischer Werte ist darüber hinaus nach Inglehart ein materieller Überfluß oder zumindest eine gute Versorgung mit materiellen Gütern. In der DDR war dies zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens gegeben. Zudem hat die wirtschaftliche Entwicklung seit der Wende gemessen am westdeutschen Wohlstand den Ostdeutschen keinen befriedigenden Lebensstandard gebracht.15 In der Programmatik der PDS werden Werte postuliert, die sich teilweise den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Kategorien zuordnen lassen. Die Frage, mit welchen Forderungen sie in Ostdeutschland am deutlichsten wahrgenommen wird, ist entscheidend dafür, ob sie im dortigen Wertegefüge verankert ist oder als Weltanschauungspartei oder Milieupartei nur Nischen besetzt. Als Datenbasis dienen Datensätze von verschiedenen Demoskopie- bzw. Sozialforschungsinstituten. Insbesondere werden Items des Instituts für Demoskopie Allensbach die „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) verwandt. Dabei werden, wenn es nicht darum geht Entwicklungen aufzuzeigen, die jeweils aktuellsten Werte herangezogen.

2. Identität und Separatempfinden In den neuen Bundesländern machte sich nach der nicht sonderlich erfolgreichen Angleichung der Lebensverhältnisse eine Resignation breit, die sich in einem starken Distinktionsbedürfnis äußerte. Es hatte sich innerhalb weniger Jahre nach der Wende herausgebildet, woran die SED vierzig Jahre erfolglos gearbeitet hatte: eine ostdeutsche, maßgeblich durch gleichen Erfahrungshorizont und gleiche Vergangenheit geprägte Identität. Diese ist deutlich nachweisbar, auch wenn durchaus unterschiedliche Identitäten auszumachen sind. Die Prioritätenliste weist zuerst eine Zugehörigkeit zu Ostdeutschland (67 Prozent) auf, danach zu Stadt/Region (61 Prozent) und zur Bundesland-Zugehörigkeit (53 Prozent). Die Bundesrepublik folgt an letzter Stelle (39 Prozent).16 14

Vgl. Arzheimer/Klein (FN 10), S. 380. Vgl. ebd., S. 380. 16 Vgl. u. a. Sozialreport des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums 2005/ Pressematerial, in: www.sfz.ev.de (Stand: 25. Oktober 2005). 15

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Ebenso fühlt sich nur eine Minderheit als „richtige Bundesbürger“17. Der Grund für diese Identitäten liegt in dem Gefühl der Deklassierung.18 Diese Deklassierung wird unterschiedlich begründet. Die einen sehen sich beispielsweise als Verlierer auf dem Arbeitsmarkt, die anderen mußten gegebenenfalls eine prestigeträchtige Position in der Gesellschaft (z. B. als Wissenschaftler) oder im Arbeitsleben gegen Arbeitslosigkeit, Vorruhestand oder eine weniger angesehene Stellung eintauschen. Deutschland stellt sich heute noch aufgrund unterschiedlicher Erfahrungshorizonte als eine gespaltene Kulturnation dar: Durch die gemeinsame Geschichte vor 1945 sind Merkmale wie Sprache, Kultur, Sitten und Abstammung gleich; sie wurden jedoch in den Jahren der Trennung modifiziert. Die PDS greift diese ostdeutsche Identität auf, wohlwissend, daß sie als einzige originäre „Ost-Partei“ mit einem geringen Anteil von „Westimporten“ durchaus gut in der Lage ist, die Stimmungen vor Ort einzufangen und ideologisch zu bedienen. Sie geriert sich nach wie vor programmatisch als Ostpartei, nachdem die Westausdehnung bis zur Kooperation mit der WASG gescheitert war. Die PDS sieht in ostdeutschen Wählern (neben der ehemaligen SED-Dienstelite) weiterhin ihre wichtigste Klientel. Dafür spricht einiges, was u. a. in Parteidokumenten niedergelegt ist: Das PDS-Programm von 1993 befaßte sich bereits mit den ostdeutschen Problemen („Den kalten Krieg beenden“). Sowohl die mangelnde Identität als auch konkrete Forderungen nach einer ökonomischen Besserstellung der Ostdeutschen wurden dort berücksichtigt. Noch im Wahlprogramm der PDS zur Bundestagswahl 2002 firmieren die neuen Bundesländer als „Deutschlands Rand“, die einen neuen Aufbruch benötigten. Spezifische Forderungen, die nur Ostdeutsche betreffen wie z. B. zum Rentenüberleitungsgesetz, werden speziell von der PDS artikuliert. Auch DDR-Unrecht wie die Enteignung von Land, euphemistisch „Bodenreform“ genannt, solle nicht revidiert werden.19 Die Bilanz, die die PDS im Auftrag der Ostdeutschen zieht, ist eindeutig negativ.20 Unterschwellig, im orthodoxen Lager sogar offen, wird dafür – so wie inzwischen in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung – das neue Wirtschaftssystem als Grund herangezogen. Diese Forderungen, ostdeutsche Biographien, Lebensleistungen und -erfahrungen anzuerkennen, korreliert mit der Stimmung in den neuen Bundesländern. Es wird bisweilen von „den Ostdeutschen“ gesprochen21, also eine ost17

Vgl. ebd. Vgl. Rainer Geißler, Neue Strukturen der sozialen Ungleichheit im vereinten Deutschland, in: Robert Hettlage/Karl Lenz (Hrsg.), Deutschland nach der Wende. Eine Bilanz, München 1995, S. 119–141, hier S. 132 f. 19 Vgl. Rostocker Manifest vom Wahlparteitag der PDS in Rostock am 05. April 1998, zit. nach www.pds-online.de (Stand: 1. Juni 1999). 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. u. a „Wir haben der Ausgrenzung der PDS und vieler Ostdeutscher in den ersten Jahren nach 1990 widerstanden und unsere Partei in die Gesellschaft hinein ge18

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deutsche Identität konstatiert und auf die Qualitäten der „neuen“ Bundesbürger hingewiesen, die im Vereinigungsprozeß zu wenig gewürdigt worden seien. Sogar die „gefühlte“ Westdominanz wird programmatisch von der PDS als eine Quelle der Unzufriedenheit aufgenommen.22 Somit kann die PDS durchaus als Ostpartei wahrgenommen werden, auch wenn sie versucht, in ihrer Ideologie ein neues Sozialismusverständnis zu schärfen.

3. Demokratie- und Staatsverständnis a) Demokratie Bereits zu DDR-Zeiten gab es in der Bevölkerung eine starke Westorientierung. Dies läßt darauf schließen, daß die meisten DDR-Bürger 1989 auch die liberale Demokratie der Bundesrepublik wollten. Es ließ sich schon früh nachweisen, daß die Demokratie eine hohe Zustimmung in den neuen Bundesländern erfahren hatte. Dies ist bis heute so. Etwas widersprüchlich dazu mutet eine ebenfalls hohe Zustimmung zum Prinzip des Sozialismus an. Dieser hatte von Anfang an im Osten eine höhere Zustimmung als im Westen.23 Da die Demokratie in den neuen Bundesländern Priorität hat, und lediglich die Idee des Sozialismus, nicht jedoch der „real existierende Sozialismus“ in seiner Ausprägung der DDR goutiert wird, kann daraus bestenfalls auf einen Gefühlssozialismus geschlossen werden. Markante Unterschiede lassen sich jedoch bei der Bürgerbeteiligung (Partizipation) und der sozialen Sicherheit feststellen. So waren im Jahr 2004 mehr Ost- als Westdeutsche der Auffassung, daß der Staat für Auskommen bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter für ein gutes Einkommen zu sorgen hat.24 Die differierenden Gerechtigkeitsvorstellungen schlagen sich auch in der Zustimmung zu anderen Fragen nieder: In Ostdeutschland ist man eher der Auffassung, daß sich das Einkommen nicht allein nach der Leistung des einzelnen richten sollte, sondern daß jeder das bekommt, was er und seine Familie für

öffnet. Wir waren Partnerinnen und Partner in den sozialen und politischen Kämpfen der Kalikumpel von Bischofferode und anderer ostdeutscher Belegschaften.“, Parteiprogramm von 2003, S. 36. 22 Vgl. u. a. Rostocker Manifest. 23 „Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“. Diesem Item stimmten im Jahr 2000 77,4 Prozent der Ostdeutschen zu, im Westen waren es nur 51 Prozent. In den beiden ALLBUS-Erhebungen von 2002 und 2004 fehlt dieses Item. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß sich an der hohen Zustimmung im Osten Deutschlands nichts geändert hat. ALLBUS Codebook 2000, S. 83. 24 „Der Staat muß dafür sorgen, daß man auch bei Krankheit/Not/Arbeitslosigkeit ein gutes Auskommen hat“, 55,6 Prozent Zustimmung Ost (stimme voll zu), 40,7 Prozent Zustimmung West (stimme voll zu), in: ALLBUS Codebook 2004, S. 94.

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ein anständiges Leben braucht.25 Auch gibt es dort weniger Zustimmung dafür, daß Rangunterschiede zwischen den Menschen akzeptabel sind, weil sich in ihnen ausdrückt, was man aus den Chancen, die sich jemandem geboten haben, gemacht hat.26 Darüber hinaus findet man die sozialen Unterschiede in Deutschland im Osten ungerechter als im Westen.27 Bei der Frage nach der Intensität der zu erbringenden Sozialleistungen geben Ostdeutsche in höherem Maß an, daß die Sozialleistungen ausgeweitet werden sollten,28 Kürzungen bei den Sozialleistungen hingegen wollen 23,4 Prozent der Westdeutschen; lediglich 7,7 Prozent der Ostdeutschen halten diese für in der Zukunft notwendig.29 In Ostdeutschland herrscht eine Vorstellung von staatlicher Fürsorge vor, wie sie zwar nicht zur Gänze, aber eher einem sozialistischen Sozialstaatsmodell entspricht.30 Abweichende Vorstellungen von Demokratie als abstraktem Staatsmodell gibt es in Ostdeutschland demnach nur im Bereich staatlichen Engagements, ansonsten sind die Vorstellungen von Demokratie bezogen auf liberale Bürgerrechte identisch. Im Bereich der Zustimmung zur Demokratie der Bundesrepublik und ihrem Funktionieren sieht es jedoch anders aus. Hier zeigt sich überwiegend eine Ablehnung der bundesdeutschen Demokratie. Auch auf dem Gebiet des Funktionierens („Wie gut oder schlecht funktioniert unser politisches System heute?“) gibt es ebenfalls nur eine wesentlich geringere Zustimmung zum System der Bundesrepublik als in den alten Bundesländern. Aktuelle Werte bestätigen die Entwicklung der Einstellungen zur Demokratie der Bundesrepublik. Inzwischen glauben nur 32 Prozent der Ostdeutschen, daß die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, die beste Staatsform ist (West 75 Prozent). Ebenfalls 25 Zustimmung Ost: 51,6 Prozent (19,9 Prozent stimme voll zu; 36,2 Prozent stimme eher zu), Zustimmung West 47,4 Prozent, in: ALLBUS Codebook 2000, S. 114. 26 „Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat“. 40,7 Prozent Zustimmung Ost (stimme voll zu; stimme eher zu), 59,9 Prozent Zustimmung West (stimme voll zu; stimme eher zu), in: ALLBUS Codebook 2004, S. 107. 27 „Ich finde die sozialen Unterschiede in unserem Land im großen und ganzen gerecht“. 15,6 Prozent Zustimmung Ost (stimme voll zu; stimme eher zu). 35,2 Prozent Zustimmung West (stimme voll zu; stimme eher zu), in: ALLBUS Codebook 2004, S. 108. 28 „Wie ist Ihre Meinung: Sollten die Sozialleistungen in Zukunft gekürzt werden oder sollte es so bleiben, wie es ist, oder sollte man die Sozialleistungen ausweiten?“ 41,8 Prozent Zustimmung Ost („sollten ausgeweitet werden“), 17,2 Prozent Zustimmung West, in: ALLBUS Codebook 2004, S. 109. 29 „Sollte gekürzt werden“. 10,4 Prozent Zustimmung Ost, 26,1 Prozent Zustimmung West. Sollte so bleiben wie bisher. Ost 47,8 Prozent, West 56,7 Prozent, vgl. ALLBUS Codebook 2004, S. 109. 30 Edeltraud Roller, Sozialpolitische Orientierungen nach der deutschen Vereinigung, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997, S. 115–146, hier S. 117.

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meinen fast ein Drittel der Ostdeutschen (30 Prozent), es gäbe noch andere Staatsformen, die besser seien als die Demokratie der Bundesrepublik (Westen 7 Prozent). Damit halten sich positive wie negative Einschätzungen im Osten die Waage. Auch die Unentschiedenen, also diejenigen, die sich offensichtlich über ihre Position zur Demokratie westdeutscher Prägung nicht im Klaren sind, schlagen mit 38 Prozent zu Buche (West 18 Prozent).31 Obwohl die Ostdeutschen die Demokratie als Ordnungsprinzip wollen, sind dort mehr mit der Demokratie der Bundesrepublik nicht einverstanden. Eine Mehrheit weiß nicht, was sie von ihr halten soll. Das Funktionieren (Performanz) der Demokratie wird im Osten negativer bewertet als im Westen. Im Jahr 2002 waren wesentlich mehr Ostdeutsche mit der Demokratie der Bundesrepublik unzufrieden als Westdeutsche. Auf die Frage: „Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht?“ antworteten 45,8 Prozent der Befragten mit einer negativen Einschätzung, im Westen waren es lediglich 20,6 Prozent.32 Das bedeutet nicht, daß das System der Bundesrepublik auf totale Ablehnung stößt. Anders als bei den Westdeutschen befinden sich viele nur in dem Bereich der leichten Ablehnung („etwas unzufrieden“, 25,1 Prozent) bzw. der leichten Zustimmung („etwas zufrieden“, 30,8 Prozent).33 Eine überwiegende Mehrheit der Bürger in den neuen Ländern unterstützte und unterstützt demnach nicht die Demokratie der Bundesrepublik. Die Funktionalität des politischen Systems wird ebenfalls weitgehend negativ bewertet. Das bedeutet jedoch noch keine Instabilität des politischen Systems; es entsteht lediglich ein Anpassungsdruck an das von den neuen Bundesbürgern präferierte sozialstaatliche Modell. Es besteht keine antidemokratische Stimmung, lediglich offenbar der Wunsch nach Modifizierung des politischen Systems. In der PDS gibt es unterschiedliche Strömungen mit unterschiedlichen Demokratie- und Staatsvorstellungen. Auch wenn vielfach klare Zuordnungen nicht möglich sind, ist die Einteilung in „Reformer“ und „Orthodoxe“ bei der Dar31 „Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?“ Beste Staatsform: 32 Prozent Zustimmung Ost (West 75 Prozent); Gibt andere, die besser sind: 30 Prozent Zustimmung Ost (West 7 Prozent); Unentschieden/Keine Angabe: 38 Prozent Ost (West 18 Prozent); Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von Juni/Juli 2001; Elisabeth Noelle-Neumann, Der Wolf im Schafspelz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juli 2001. 32 „Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht?“ Sehr zufrieden: 2 Prozent Zustimmung Ost (West 6,8 Prozent); Ziemlich zufrieden: 20,2 Prozent Zustimmung Ost (West 40,9 Prozent); Etwas zufrieden: 32,2 Prozent Zustimmung Ost (West 23,9 Prozent); Ziemlich unzufrieden: 24,9 Prozent Zustimmung Ost (West 16,8 Prozent); Sehr unzufrieden: 6,8 Prozent Zustimmung Ost (West 2,8 Prozent). Vgl. ALLBUS Codebook 2002, S. 78. 33 Vgl. ALLBUS Codebook 2000, S. 146.

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stellung dieser komplexen und bisweilen unausgereiften Demokratie- und Staatsvorstellungen durchaus hilfreich. Zentrales Merkmal der Ideologie der PDS ist der Antikapitalismus. Dieser gilt als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den Lagern.34 Da der Begriff Antikapitalismus als Ordnungsbegriff wenig hilfreich ist, bedient sich die PDS einer Ordnungsbegriffssynthese aus „Sozialismus“ und „Demokratie“ als Pendant zum Kapitalismus. „Sozialismus“ zielt hierbei primär auf die Verteilung von erwirtschafteten Gütern ab, „Demokratie“ auf die Neuorganisation von politischen wie auch Entscheidungsprozessen im Wirtschaftsleben. Der in sich widersprüchliche Terminus „demokratischer Sozialismus“ wird somit als Synthese inhaltlich neu besetzt. Mit einem klaren Bekenntnis zu den „politischen Freiheitsrechten“35 wollen die Reformer das Profil der PDS als das einer Bürgerrechtspartei schärfen und damit insbesondere bei Westlinken positive Affekte hervorrufen. Dabei gehen die Forderungen sogar über das hinaus, was gesellschaftlicher Konsens ist: Die Unberührtheit der Privatsphäre (die man durch den „großen Lauschangriff“ unterminiert sieht) gehöre ebenso zu diesen Rechten wie das uneingeschränkte Asylrecht.36 Dies dürfte jedoch kaum konsensfähig sein in der weitgehend älteren, im Osten sozialisierten sozialistischen Basis, deren Priorität nicht bei den liberalen Bürgerrechten liegt. Bei den Orthodoxen hingegen bedeuten „Freiheitsrechte“ etwas anderes: Hier geht es in erster Linie um die Befreiung vom Joch der Lohnarbeit, von der Befreiung von allen ökonomischen Unabwägbarkeiten wie Arbeitslosigkeit oder Krankheitsfall. Dem Primat der sozialen Absicherung werden die anderen Menschenrechte bisweilen untergeordnet, zumindest aber auf eine Stufe gestellt. Daß dies in der Realität nur unter großem Zwang zu gewährleisten ist, wird in diesem Flügel der PDS ignoriert.37 b) Politische Partizipation und plebiszitäre Orientierungen Da der Zusammenbruch der DDR maßgeblich durch die starke politische Mobilisierung der Bevölkerung zustandekam, ist eine Beschäftigung mit der tat34 „Wir wollen, daß diese [kapitalistischen] gesellschaftlichen Strukturen zurückgedrängt und schließlich überwunden werden, damit die Menschheit einen Ausweg aus dieser zerstörerischen Entwicklungslogik findet. In diesem Sinne sind wir konsequent antikapitalistisch.“ Parteiprogramm von 2003, S. 2. 35 „Uns eint der unumkehrbare Bruch mit der Mißachtung von Demokratie und politischen Freiheitsrechten, wie sie in und von nicht wenigen linken Parteien, darunter der SED, praktiziert worden ist.“ Parteiprogramm von 2003, S. 1. 36 Petra Pau, Plädoyer für eine moderne Bürgerrechtspartei, in: DISPUT 3/01, S. 23 f., hier S. 23. 37 Vgl. Programmkommentar von 1996, S. 36.

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sächlichen Partizipation und der Partizipationsneigung in den neuen Bundesländern für die Analyse des Transitionsprozesses in Ostdeutschland von großer Bedeutung.38 Bei der tatsächlichen Partizipationsneigung wird die prinzipielle Bereitschaft zur politischen Partizipation abgefragt, bei der tatsächlichen Partizipation die tatsächliche politische Partizipation gemessen. In einer Langzeitanalyse wurde ermittelt, daß die partizipativen Neigungen in Ostdeutschland höher sind als im Westen; diese Differenz blieb über Jahre stabil.39 Im Jahr 2000 gab es zu Fragen nach der Partizipationsneigung höhere Zustimmung als im Westen.40 Bei der tatsächlichen Partizipation treten jedoch viele Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West auf. Die Partizipationsmuster in den alten und neuen Bundesländern sind demnach weitgehend gleich. Im Jahr 2004 war die Bekundung, an Demonstrationen teilgenommen zu haben, in Ost und West ähnlich. Ebenso verhielt es sich mit der Teilnahme an politischen Versammlungen.41 Eine Umgewöhnung, die neuen Partizipationsformen der Demokratie zu nutzen, hat es anders als nach 1945 im Westen nach 1989 im Osten offensichtlich nicht gegeben. Die PDS hat in ihrer Ideologie einen Schwerpunkt bei der Umgestaltung von Entscheidungs- und Willensbildungsprozessen im politischen wie im ökonomischen Bereich. Zentrales Anliegen der PDS ist die Stärkung des direkten Einflusses des Volkes (respektive der Arbeiterklasse bei den Orthodoxen) im Wirtschaftsleben wie in der Politik. So sollen die Sperrklauseln (beispielsweise die Fünf-Prozent-Hürde) beseitigt,42 die direkte Bürgerbeteiligung, Selbstverwaltung und öffentliche Kontrolle gestärkt,43 das Mindestalter für Wahlen und Volksentscheide auf 16 Jahre herabgesetzt („Wir wollen, daß das aktive und 38 Oscar W. Gabriel, Politische Orientierungen und Verhaltensweisen, in: Max Kaase u. a. (Hrsg.), Politisches System, Opladen 1996, S. 231–307, hier S. 282. 39 Vgl. Markus Klein, Was bleibt von der friedlichen Revolution? Plebiszitäre Orientierungen im vereinigten Deutschland, in: Heiner Meulemann (Hrsg.), Werte und nationale Identität im vereinigten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung, Opladen 1998, S. 155–176. 40 „Es wurde ein Vorschlag gemacht, die Bevölkerung in wichtigen Fragen direkt abstimmen zu lassen, das heißt, Volksabstimmungen durchzuführen. Finden Sie, das wäre gut für unsere Demokratie, würde sie das stärken, oder wäre das nicht gut, hätte das keinen guten Einfluß auf unsere Demokratie“. Zustimmung Ost: 82 Prozent, Zustimmung West 65 Prozent, Ablehnung Ost 6 Prozent, Ablehnung West 17 Prozent. Elisabeth Noelle-Neumann, Der populistische Weg nach links. Die PDS nutzt das Bedürfnis nach plebiszitären Elementen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. November 2000. 41 Vgl. ALLBUS Codebook 2004, S. 491 f. 42 Vgl. Parteiprogramm von 1993, S. 10. 43 „Die PDS unterstützt Forderungen, die repräsentative Demokratie mit wirksamen Formen direkter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden, Landkreisen und Ländern zu verbinden. Auf Bundesebene und im Rahmen der Europäischen Union sollte es Volksentscheide mit niedrigen Einstiegsquoren geben. Die PDS engagiert sich für die Einführung einer umfassenden Volksgesetzgebung sowie für Runde Tische und regionale Wirtschafts- und Sozialräte. Demokratie wird zuerst in den Kommunen erfahren.“ Parteiprogramm von 2003, S. 16.

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passive Wahlrecht auf 16 Jahre herabgesetzt wird“44) und die Petitionsrechte der Bürger gegenüber den Parlamenten ausgeweitet werden. Die Forderung, die Sperrklausel aufzugeben, ist möglicherweise weniger einem anderen Politikverständnis, als pragmatischen Gründen geschuldet: Bisher ist es ihr in ihrer Geschichte vor der Zusammenarbeit mit der WASG erst einmal gelungen, bei bundesweiten Wahlen mehr als fünf Prozent der Stimmen zu erlangen (1998) und somit nicht als Gruppe, sondern als Fraktion dem 16. Deutschen Bundestag anzugehören. Die PDS spricht sich auch für die Implementierung von Plebisziten auf Bundesebene aus. Die Forderungen nach Plebisziten werden häufig mit dem Hinweis auf die Mündigkeit der Bürger begründet, selbst über ihr politisches Schicksal entscheiden zu können. Dies soll in Form einer „dreistufigen Volksgesetzgebung“ (1. Volksinitiative, 2. Volksbegehren, 3. Volksentscheid) geschehen.45 Für eine Partei, die bislang mit Ausnahme der neuen Bundesländer nur über wenig bis gar keine Repräsentanz in den Parlamenten verfügt, sind Plebiszite eine Möglichkeit, auch außerhalb des parlamentarischen Prozesses Einfluß auszuüben. Das Machtkalkül könnte bei dieser Vorstellung von Entscheidungsprozessen ebenfalls eine größere Rolle spielen als der Kerngedanke einer größeren Bürgerbeteiligung. Die Herabsetzung des Mindestalters bei Wahlen auf 16 Jahre würde die Anzahl der Wähler um eine Gruppe erweitern, bei der die PDS naturgemäß positiver wahrgenommen wird, da Jugendliche mit sozialromantisch-egalitären Vorstellungen eher Wahlentscheidungen zugunsten linker Parteien treffen. Die Petitionsrechte der Bürger sollen durch mehrere Beauftragte (Bürger-, Datenschutz-, Behinderten- und Ausländerbeauftragte) gewährleistet werden. Diese Beauftragten würden für Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse sorgen. Die Strategie der PDS basiert auf einer Zweigleisigkeit von außerparlamentarischer Opposition und der Arbeit in den Parlamenten. Zum einen deshalb, weil sich Teile der PDS immer noch in Opposition zum politischen Systeme sehen und die Präsenz in den Parlamenten eine Anerkennung der politischen Verhältnisse bedeute, zum anderen deshalb, weil man wegen der untergeordneten Bedeutung der PDS auf Bundesebene und in den alten Ländern die Präsenz der PDS stärken möchte. Frühestes Beispiel für die Zusammenarbeit mit anderen Linken waren die „Komitees für Gerechtigkeit“, die lediglich öffentlichkeitsmobilisierende Wirkung hatten. Zweites außerparlamentarisches Projekt der PDS war die Erfurter Erklärung (1997), bei der die PDS als Initiatorin nicht offen in Erscheinung trat. Eine ebenfalls öffentlich wirksame Maßnahme sollte das Projekt „Forum 44

Parteiprogramm von 2003, S. 16. Entwurf eines Gesetzes über die Annahme einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes, Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode, Drucksache 12/6570 vom 12. Januar 1994, S. 40. 45

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2000plus“ sein, bei dem u. a. Vertreter des „Großkapitals“ eingeladen waren, über aktuelle Themen zu diskutieren. Dies scheiterte jedoch.46 In der innerparteilichen Auseinandersetzung hat sich in Abgrenzung zu undurchsichtigen Entscheidungsprozessen der SED eine Diskussionskultur entwikkelt, in der jedes einzelne Parteimitglied prinzipiell die Möglichkeit hat, in der Mitgliederzeitschrift „Disput“ seine Meinung zu veröffentlichen. Aber auch im Internet oder in Publikationen (beispielsweise der Rosa-Luxemburg-Stiftung) kursieren Thesen, Gegenthesen, Darstellungen, Gegendarstellungen, die für einen bisweilen unübersichtlichen innerparteilichen Willensbildungsprozeß sorgen. Somit wird mit Verweis auf die Vergangenheit eine basisdemokratische Diskussionskultur gepflegt, die vielen Mitgliedern aus SED-Zeiten unbekannt war. c) Freiheit und Gleichheit Wichtiger Indikator für die Leistungsfähigkeit des politischen Systems ist die Frage nach der Relation von Freiheit und Gleichheit. Diese beiden Werte können als demokratische Grundwerte bezeichnet werden, die eng mit Entstehung und Entwicklung der Demokratie zusammenhängen. Freiheit wird jedoch unterschiedlich interpretiert. Freiheit kann einerseits Befreiung von den Risiken, die das Leben bietet (Arbeitsplatzverlust oder Krankheit), oder andererseits individuelle politische Freiheitsrechte bedeuten. Auch bei dem Wert Gleichheit gibt es zwei unterschiedliche Interpretationsstränge: Der eine sieht die Gleichheit der Ergebnisse vor, der andere Chancengleichheit. Gleichheit der Ergebnisse setzt ein Maß an staatlicher Umverteilung voraus, das sämtliche Einkommen und Vermögenswerte nivelliert. Bei der Chancengleichheit geht es nur um die Bereitstellung von Ressourcen, die von den Menschen selber genutzt werden (z. B. staatlichen Universitäten). Die beiden Werte stehen in einem Ausschließlichkeitsverhältnis, wenn staatlicher Zwang die Gleichheit auf Kosten der Freiheit herstellt. In einem utopischen Freiheits- Gleichheitsverständnis, das auf den Losungen der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) basiert, sind die beiden Werte nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis angeordnet, da die Herstellung von Gleichheit freiwillig durch einen solidarischen Menschentypus und Volkskörper gewährleistet wird. Mißt man in Deutschland das erste und realitätsnahe Freiheits- und Gleichheitsverständnis, werden also die beiden Werte in ein Ausschließlichkeitsver-

46 Vgl. Wolfram Adolphi, Die steckengebliebene Öffnung, Das Schicksal des „Forum 2000plus!“ der PDS, in: Utopie kreativ 150/2003, S. 298–307.

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hältnis gestellt, dann gibt es in Ostdeutschland eine eindeutige Präferenz für die Gleichheit auf Kosten der Freiheit. Im Jahr 2006 wollten 59 Prozent der Befragten in Ostdeutschland die Gleichheit der Freiheit vorziehen, umgekehrt waren es nur 31 Prozent.47 Das Recht auf Arbeit sei wichtiger als die Menschenrechte. Wirklich frei sei nur derjenige, der auch Geld habe.48 Die Auseinandersetzung um die Präferenz von Freiheit und Gleichheit ist in der PDS eine ungelöste programmatische Frage. Nach wie vor ist unklar, in welchem Verhältnis selbstverantwortliches Handeln einerseits und staatlicher Zwang andererseits stehen. Daß die Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit ein „bis heute ungelöstes Problem“49 sei, ist in der PDS weitgehend unumstritten. Was jedoch Priorität haben sollte, und was unter Freiheit und Gleichheit zu verstehen ist (Chancen- oder Ergebnisgleichheit), darüber gibt es Uneinigkeiten zwischen den Lagern. Bei den Reformern sind die individuellen Freiheitsrechte fundamental und werden immer mit dem Sozialismus in Verbindung gebracht. Diese sind bei den Reformern inzwischen integrale Bestandteile der sozialistischen Ideologie geworden. Der persönlichen Freiheit werden andere Werte nachgeordnet, die wünschenswert, nicht jedoch derart fundamental sind wie die Gleichheitswerte: das Recht auf Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Gleichheit ist nicht um den Preis der individuellen Freiheitsbeschränkung herzustellen. Der Staat kann lediglich eine Gleichheit der Chancen garantieren. Bei den Reformern haben die Artikel des Grundgesetzes, in denen die sozialen Werte niedergelegt sind, einen gleich hohen Stellenwert wie die Artikel zu den Freiheitswerten. Sollte Eigentum nicht zum Allgemeinwohl verwendet werden, so werden flügelübergreifend Enteignungen als geeignete Maßnahmen und hinnehmbare Freiheitseinschränkung gesehen. Grundvoraussetzung für ein Nebeneinander von Gleichheit und Freiheit ist die „gesellschaftliche Höherentwicklung“ (Lothar Bisky), also die Herausbildung eines solidarischen Menschentypus. Dieser Faktor spielt eine erhebliche Rolle beim Freiheits- und Gleichheitsverständnis der Reformer. Für sie ist der Mensch offenbar mündig und mit solidarischen Dispositionen ausgestattet, die jedoch ausgebildet werden müssen. Das kann nicht unter Zwang erfolgen. Hier liegt der essentielle Unterschied zu den Orthodoxen, bei denen Freiheit die Befreiung vom Joch des Kapitalismus meint. Die nach 1989 gewonnenen Freiheiten seien in erster Linie Freiheiten für die Mächtigen, die mittels des Kapitals nun die Freiheiten derer, die ausschließlich ihre Arbeitskraft besitzen, ein-

47 Dialogfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach „Was hat Priorität“, unveröffentlichtes Material des IfD. 48 Vgl. Freiheit klingt nach Ellenbogen, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Juli 2001, S. 12. 49 Lothar Bisky, Freiheit oder Sozialismus?, hrsg. von der Grundsatzkommission der PDS, Berlin 1995, S. 40.

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schränken.50 Hier ist, wie bereits erläutert, das Recht auf Arbeit und soziale Sicherung vorrangig vor den Freiheitsrechten, deren Einschränkung auf dem Weg zu einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft hinzunehmen ist.

4. Demokratischer Sozialismus oder Dritter Weg? Zusammengefaßt können die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung so interpretiert werden, daß in Ostdeutschland ein Demokratieideal existiert, das an den „dritten Weg“ zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus erinnert. Dieses Modell ist allerdings nicht totalitär geprägt, sondern hat das Wesen einer zentralistischen Umverteilungs- und Leistungsdemokratie. Der dritte Weg bedeutet in der PDS, speziell in der Reformerfraktion, daß von der Marktwirtschaft wie vom Sozialismus sowohl von dessen theoretischem Gerüst als auch von dem „ersten Sozialismusversuch“ jeweils das Bewahrenswerte übernommen und zu einer höheren Daseinsform vereinigt werden soll. Den westlichen Demokratien werden Errungenschaften bei den demokratischen Mitbestimmungsrechten und der Marktwirtschaft (Kapitalismus) bei der wirtschaftlichen Effizienz zugebilligt. Das Positive des Sozialismus sei die Beseitigung von Arbeitslosigkeit, weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur gewesen.51 Die Vorstellungen über den demokratischen Sozialismus, die konkret jedoch nur im Reformerlager formuliert und umfangreich dokumentiert wurden (z. B. im Programmkommentar), erinnern an eine staatlich gelenkte Wirtschaft mit dem Charakter einer Räterepublik, in der die liberalen Bürgerrechte jedoch eine hohe Priorität haben. Durch staatliche Subventionierung soll der soziale (Gesundheit, Bildung, Betreuung, Umweltschutz) und kulturelle Bereich gestärkt werden. Die beiden Vorstellungen sind also kongruent. Die Ostdeutschen wollten die DDR nicht, haben sich aber an das, was nachträglich positiv wahrgenommen wird, durchaus gewöhnt. Die PDS distanziert sich in ihrer Programmatik deutlich von dem zentralistischen Dirigismus der SED und vermischt den Sozialismus mit marktwirtschaftlichen Elementen, was durchaus den Nerv in der ostdeutschen Bevölkerung zu treffen scheint. Ohne diese Präferenzen wäre es der PDS kaum gelungen, sich als Partei der Ostdeutschen zu profilieren. Die konkrete Interessenartikulation allein hätte nicht ausgereicht.

50 Vgl. u. a. Eberhard Czichon/Heinz Marohn, Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf, Köln 1999, S. 227. 51 Vgl. Parteiprogramm von 1993, S. 6.

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5. Werte In den 1960er Jahren kam es in der gesamten westlichen Welt und somit auch in der Bundesrepublik zu einer vermehrten Abkehr von teilweise seit Jahrhunderten unangefochtenen Wertevorstellungen. Traditionsbrüche manifestierten sich unter anderem in einer Abwendung von sogenannten bürgerlichen Tugenden. Daraus entstand ein Generationenkonflikt, der Ende der 1960er Jahre in Studentenprotesten und in den 1970er Jahren in neuen sozialen Bewegungen mündete. Die Grünen, die sich Anfang der 1980er Jahre gründeten, artikulierten diese neuen Werte im Parteiensystem. Die Generationenkluft als wichtiger Indikator für Veränderungen im Wertesystem schwächte sich erst Ende der 1990er Jahre ab. Die DDR basierte seinerzeit auf einem ganz anderen Wertefundament. Dieses war von dem egalitären Anspruch des Marxismus-Leninismus wie auch einem starken Etatismus geprägt.52 Zwar war der SED die Bildung eines neuen Menschentyps nicht geglückt, dennoch hatten in der ostdeutschen Bevölkerung einige durch die Staatsdoktrin vermittelten Werte die Jahre der „Wende“ überdauert. Der Sozialismus, eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde, ist eines dieser Beispiele. Dabei schien der Wertekanon in Ostdeutschland während der „Wende“ nicht gravierend von dem der Westdeutschen abzuweichen. Wahrscheinlich gab es durch die Vereinigungseuphorie eine hohe Zustimmung in der ehemaligen DDR zu Wirtschaftswachstum und Leistungsprinzip, eine klare Vorrangstellung der Marktwirtschaft gegenüber planwirtschaftlichen Elementen. Die Präferenz für weniger staatliche Daseinsvorsorge vermittelte seinerzeit nicht das Bild, die sozialistischen Werte besäßen in der ostdeutschen Gesellschaft Priorität. Mit der Ernüchterung über die ökonomischen Entwicklungen in Ostdeutschland veränderten sich diese Einstellungen allerdings rapide. Bereits 1992 erfreute sich die Marktwirtschaft nicht mehr einer solch immensen Zustimmung wie zwei Jahre zuvor, und die Präferenz für staatliche Daseinsvorsorge nahm zu.53 Gemäß der Mangel- und Situationshypothese, derer sich Ronald Inglehart bedient, müßten in Ostdeutschland stärkere materialistische Werte als in Westdeutschland ausgebildet sein. Zum einen mangelt es in Ostdeutschland vielfach an den Dingen, die eine zufriedenstellende Existenz ermöglichen, zum anderen gab es in der DDR keinen Wertewandel wie im Westen. Des weiteren rangierten im SED-Staat Werte wie Arbeit und Konsum an vorderster Stelle.

52 Vgl. Ralf Rytlewski, Ein neues Deutschland? Merkmale, Differenzierungen und Wandlungen in der politischen Kultur der DDR, in: Landeszentrale für Politische Bildung Baden Württemberg (Hrsg.), Politische Kultur in der DDR, Stuttgart 1989, S. 11– 28. 53 Vgl. Arzheimer/Klein (FN 10), S. 50 f.

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Tatsächlich belegt die empirische Forschung, daß es einen wesentlich höheren Anteil von Postmaterialisten in Westdeutschland als in Ostdeutschland gibt. Die Zahl der Materialisten ist in Ostdeutschland etwas höher als im Westen. Allerdings gibt es hier eine Wertemelange, die einen eindeutigen Befund erschwert, da die Zustimmung zu mehr Bürgerbeteiligung bei gleichzeitiger geringer Wichtigkeit von freier Meinungsäußerung ein inkonsistentes Bild abgibt.54 Auch in der Ideologie der PDS lassen sich Bereiche ausmachen, die man durchaus unter die Kategorien Materialismus und Postmaterialismus subsumieren kann. Es ist offenkundig, daß sich bei den jüngeren, zumeist dem Reformerlager zugehörigen Parteimitgliedern postmaterialistische Wertorientierungen ausgebildet haben. In der Mitgliedschaft stellen die ehemaligen und lebensälteren Mitglieder allerdings eine Mehrheit. Insofern kann nicht von einer Durchdringung der PDS durch eine postmaterialistische Masse gesprochen werden. Die Konfliktlinie innerhalb der PDS verläuft nicht nur zwischen Orthodoxen und Reformern, sondern auch zwischen ost- und westdeutschen Linken, wie eine PDS-eigene Mitgliederbefragung belegt. Damals wurde unter anderem nach dem Verhältnis von West- und Ostmitgliedern der PDS geforscht:

Bewertung des Ost-West-Verhältnisses in der PDS durch ihre Mitglieder in Ost und West (in Prozent)

Ost

West

Zwischen „Ost“- und „West“-PDS gibt es zu viele Mißverständnisse und Konflikte In der West-PDS dominieren zu viele ideologische Wirrköpfe

79

73

75

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Die Zukunft der PDS liegt im Westen Die PDS sollte „Ostpartei“ bleiben, im Westen hat sie keine Chance

29 17

60 5

Quelle: Michael Chrapa/Dietmar Wittich, Die Mitgliedschaft, der große Lümmel. Studie zur Mitgliederbefragung 2000 der PDS, Berlin 2001, S. 17.

Dieser innerparteiliche Konflikt ist offenbar maßgeblich durch die jeweiligen unterschiedlichen Wertesysteme geprägt. Die Umverteilung ökonomischer Ressourcen steht bei der Ideologie der PDS im Vordergrund. Andere Werte wie Ökologie, Feminismus, Antifaschismus spielen zwar eine Rolle, entfalten aber nur eine geringe Außenwirkung. Der im Jahr 2000 beim Parteitag in Münster gemachte Versuch, diese Werte stärker in den Vordergrund zu stellen und somit mehr Westlinke aufzufangen, mißlang und scheiterte an der Verschiedenheit der linken Milieus von Ost- und Westdeutschland. Die Mehrheit der Mitglieder hat

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Vgl. ALLBUS Codebook 2002, S. 81.

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offenkundig eine starke Affinität zu den Themenfeldern Arbeit, soziale Sicherheit und Ostdeutschland.55

6. Fazit Eine innerdeutsche Konfliktlinie ist klar nachweisbar. Im Laufe der Zeit hat sowohl die Mehrheit der Ostdeutschen als auch die PDS eine Ostidentität ausgebildet. Grund dafür war die ursprüngliche politische Isolation der Partei, die schlechte wirtschaftliche Lage der neuen Bundesländer sowie die wahrgenommene kulturelle, wirtschaftliche und soziale „Kolonialisierung“ durch die Westdeutschen. Das Gefühl, man sitze in einem Boot, verstärkte die Affinitäten zwischen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung und der PDS. Generalkritik an der DDR und den damit verbundenen Biographien läßt man nicht gelten, ob es sich nun um direkte Verstrickungen mit dem Staatsapparat handelt (wie vielfach bei PDS-Repräsentanten) oder um unpolitische Nischenexistenzen in der Diktatur. Es wird auf Erfahrungen und Fähigkeiten verwiesen, die sich über vierzig Jahre ausgebildet hätten. Die PDS wird offensichtlich als die Partei wahrgenommen, die der Entwertung ostdeutscher Biographien energisch entgegensteuert. Ebenso diente sich die PDS mit der Forderung nach Zuwendungen sowie mit konkreten Hilfsangeboten wie Bürgerberatungen vor Ort zusätzlich in Ostdeutschland als Selbsthilfeverein an. Es gibt bei dem Staatsverständnis der Ostdeutschen und dem der PDS starke Überschneidungen. Sowohl die PDS (zumindest die Reformer) als auch die Ostdeutschen bekennen sich zur Demokratie. Zentrale Merkmale einer liberalen 55 Der These folgend, daß die PDS das Vakuum besetzen könne, das die beiden Linksparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen durch ihren Regierungspragmatismus hinterlassen haben versuchte man, Themen ehemaliger Westlinker aufzunehmen, um diese an die PDS zu binden. Diskutiert werden sollte in erster Linie die Rolle der PDS als einzige verbliebene pazifistische Partei, nachdem sich sogar die Grünen mit ihrer Zustimmung sowohl der Parteibasis als auch der Bundestagsfraktion zu den Kampfeinsätzen im Kosovo in den Augen von Fundamentalpazifisten von ihrer pazifistischen Position entfernt hatten. Es ging beim Leitantrag des Vorstands darum, UN-mandatierte Militäreinsatze nicht von vornherein abzulehnen, sondern in Einzelfällen eine mögliche Beteiligung deutscher Truppen zu prüfen. Die Debatte über diese marginale Einschränkung der pazifistischen Position der PDS überschattete seinerzeit alle anderen Diskussionen des Parteitags. Die PDS wollte ursprünglich über die Strategien nach zwei Jahren rot-grüner Bundesregierungsbeteiligung diskutieren. Es wurden auch tatsächlich Beschlüsse gefaßt, von denen allerdings nach Münster außerhalb der PDS niemand mehr Notiz nahm. Im Bereich „Themenkomplex Ökologie“ beschlossen die Delegierten einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie, Maßnahmen für den Tierschutz (z. B. Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz), die Förderung vegetarischer Ernährungsweisen. Des weiteren wurde über Feminismus beraten. Diese Diskussion mündete nicht in konkreten Wünschen der Delegierten an die Politik; lediglich die Teilnahme am Weltfrauentag 2000 wurde beschlossen. Im Vordergrund dieses Parteitags standen sowohl für die Delegierten als auch für die Öffentlichkeit die Auseinandersetzungen um UN-mandatierte Einsätze der Bundeswehr.

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Demokratie wie beispielsweise Meinungs- und Pressefreiheit werden anerkannt. Die Staatsvorstellungen der Orthodoxen in der PDS sind in Ostdeutschland nicht mehrheitsfähig, da sie eine totale staatliche Lenkung der Wirtschaft vorsehen und somit eine Gleichheit der Ergebnisse produzieren. Die Vorstellung, was der Staat in dieser Demokratie zu leisten hat, ist beim ostdeutschen Bevölkerungsdurchschnitt und der offiziellen Parteilinie der PDS relativ kongruent. Die Abwehr sämtlicher Risiken des einzelnen durch die Gemeinschaft, noch aus der DDR bekannt, ist ein Hauptmerkmal dieses Staatsverständnisses. Liberale Bürgerrechte werden von der PDS inzwischen als Hauptwesensmerkmale der Demokratie anerkannt und haben in Ostdeutschland auch einen hohen Stellenwert. Die Verhältnisse, wie sie in der DDR geherrscht haben, möchte weder die Mehrheit bei der PDS noch die Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern zurück. Die PDS entspricht den Partizipationsneigungen im Osten, indem sie sich für mehr Bürgerbeteiligung stark macht. Sie glaubt an die Mündigkeit des Volkes, das zumindest im Bereich des politischen Wissens diesem Glauben nicht gerecht wird. Es könnten sowohl pragmatische Gründe (Machtsicherung wegen schwindenden Verlusts parlamentarischer Mehrheiten) als auch die Stimmung in Ostdeutschland für die Befürwortung von Plebisziten durch die PDS sein. Offiziell ist dies ein wichtiger Bestandteil ihres Demokratieverständnisses. Dies gilt auch für die Forderungen nach Stärkung der Kommunen, wo die Bürgerbeteiligung unproblematisch zu gewährleisten ist. Die PDS stellt die liberalen Bürgerrechte auf eine Stufe mit den sozialen Rechten und vermittelt damit ein in Ostdeutschland verbreitetes Freiheitsverständnis. Die Freiheitsprinzipien werden anerkannt und als essentiell betrachtet. Das Freiheitsverständnis der Orthodoxen in der PDS korreliert hingegen nicht mit dem der Ostdeutschen. In klarer Abgrenzung zum Freiheitsverständnis der SED bedeutet in Ostdeutschland Freiheit in erster Linie die Akzeptanz liberaler Freiheitswerte, Gleichheit keine Nivellierung der Ergebnisse. Es handelt sich also in beiden Fällen (PDS und Ostdeutschland) um Vorstellungen, die einem utopischen Freiheitsideal entsprechen, das auf einem solidarischen Menschentypus basiert. Bei der PDS und in Ostdeutschland haben sich die Werte noch nicht in Richtung Postmaterialismus verschoben. Die Wertehierarchie der PDS ist maßgeblich durch die der DDR geprägt (Arbeit, Konsum und soziale Absicherung). Es rangieren beispielsweise Erwerbsarbeit und soziale Sicherung eindeutig an vorderster Stelle bei der PDS-Ideologie wie in Ostdeutschland. Die PDS ist eine disziplinierte Partei und hat nichts gemein mit den Grünen Anfang der achtziger Jahre, die die heterogene Generation der Postmaterialisten in sich vereinigen konnte. Eine hierarchiearme und undogmatische Partei wie die Grünen von ihrer Gründungsphase an bis Anfang der 90er Jahre hätte in Ostdeutschland

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keine Existenzgrundlage. Hemmend für eine Westausdehnung der PDS ist eine postmaterialistisch geprägte Gesellschaft wie die Welt der Westdeutschen. Selbst unter den Linken aus der westdeutschen postmaterialistischen Gesellschaft konnte sich die PDS, die sich vornehmlich mit strikten Sozialismuskonzeptionen hervortut, bislang keine solide Basis verschaffen. Ob dies der PDS mit der WASG (oder einer Fusion mit ihr) nachhaltig gelingen kann, darf bezweifelt werden.

Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“ Das NPD-Verbotsverfahren 2001 bis 2003 Von Lars Flemming

1. Einleitung Parteiverbote gehören zu den schärfsten Mitteln der Konzeption der streitbaren Demokratie. Nach Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes darf das Bundesverfassungsgericht Parteien verbieten, wenn diese die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen suchen. Um Mißbräuchen vorzubeugen, haben die Karlsruher Richter in ihrem KPD-Verbotsurteil von 1956 die Anforderungen an ein Parteiverbot präzisiert. Demnach muß der zu verbietenden Partei eine „aktiv kämpferische, aggressive Haltung“ gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nachgewiesen werden.1 Bereits 1952 verbot das Bundesverfassungsgericht die Sozialistische Reichspartei.2 Beide Male stellte die Bundesregierung die Anträge, in beiden Fällen ging es darum, die junge Demokratie – auch im Lichte der Weimarer Erfahrung – vor ihren Feinden zu schützen und das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland zu wahren. 1994 scheiterten die Verbotsanträge der Bundesregierung gegen die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei und des Bundeslandes Hamburg gegen die Nationale Liste jeweils am fehlenden Parteienstatus der Gruppierungen.3 Beide Organisationen wurden anschließend durch die zuständigen Innenministerien nach dem Vereinsgesetz verboten. Das dritte Verbotsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik – gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands – endete am 18. März 2003, noch bevor es richtig begonnen hatte. Zur Prüfung der Frage, ob es sich bei der NPD um eine verfassungsfeindliche Partei handelt, kam es nicht. Schuld ist der Dilettantismus der Antragsteller, der in der von Symbolik und Aktionismus geprägten Sommerdebatte des Jahres 2000 seinen Ausgang nahm und über die V-Mann-Affäre zum Scheitern des Verfahrens führte. Der von Bundeskanzler 1 2 3

Vgl. BVerfGE 5, 85–393. Vgl. BVerfGE 2, 1–97; vgl. den Beitrag von Henning Hansen in diesem Band. Vgl. BVerfGE 91, 276–294 (FAP) und BVerfGE 91, 262–275 (NL).

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Gerhard Schröder propagierte „Aufstand der Anständigen“ mutierte zum „Aufstand der Unfähigen“. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben vor dem Bundesverfassungsgericht nicht nur verloren, sie haben sich ob ihres übereilten, stümperhaften Vorgehens bis auf die Knochen blamiert und der streitbaren Demokratie einen Bärendienst erwiesen. Einerseits hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß die ohnehin schon hohen Anforderungen an ein Parteiverbot verschärft und die Politik mit dem Verfahren einer zum damaligen Zeitpunkt isolierten, politisch bedeutungslosen Partei zu medialer Aufmerksamkeit verholfen, andererseits haben die Karlsruher Richter der Partei keinesfalls Verfassungskonformität attestiert. Zudem offenbarten die Pannen im Verbotsverfahren: Die NPD ist staatlicherseits besser kontrolliert als angenommen und stärker unterwandert als der Partei lieb sein kann. Heute ist das Verbot der Partei kein Thema mehr, obwohl die NPD nach wie vor verfassungsfeindliche Positionen vertritt und inzwischen sogar den Einzug in ein Landesparlament geschafft hat. Umso erstaunlicher ist, daß die Aufarbeitung des Verbotsverfahrens bisher eher stiefmütterlich betrieben wurde, zumal der kuriose Verlauf des Verfahrens dazu allen Anlaß gab. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Leitfrage des Beitrags: War es sinnvoll, die NPD verbieten zu wollen, war es politisch zweckmäßig? Nach einer kurzen Bewertung der Entwicklung der Partei bis Mitte der neunziger Jahre (Kapitel 2) werden in Kapitel 3 die wichtigsten Entwicklungslinien der Sommer- und Herbstdebatte des Jahres 2000 bis zum Stellen der Verbotsanträge nachgezeichnet. Wie kam das NPD-Verbot auf die politische Agenda? Welche Haltungen nahmen Politik, Publizistik und Politikwissenschaft in der Debatte ein? Welche Argumente führten Befürworter und Gegner eines Verbots ins Feld? Was war letztlich ausschlaggebend für das Stellen der Verbotsanträge? Kapitel 4 behandelt das Scheitern des Verfahrens: Wie konnte es zu der folgeschweren Pannenserie kommen? Wer trägt die Verantwortung? Gab es einen Ausweg aus dem Verbotsdilemma? Kapitel 5 geht auf die Entwicklung nach dem Verfahren ein: Welche Folgen hat der Verfahrensausgang? Konnte die NPD vom Ausgang des Verfahrens profitieren? Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Scheitern des Verbotsverfahrens und dem Erfolg der NPD bei den sächsischen Landtagswahlen 2004? Kapitel 6 beantwortet die Leitfrage und wagt eine Prognose, ob sich die NPD dauerhaft in der deutschen Parteienlandschaft etablieren kann.

2. Entwicklung der NPD bis zum Jahre 2000 Die Geschichte der NPD ist mehr oder weniger die Geschichte eines Mißerfolges. 1964 als rechtsextremistische Sammlungspartei unter Federführung der Deutschen Reichspartei gegründet, gelang ihr in der zweiten Hälfte der sechzi-

Vom „Aufstand der Anständigen‘‘ zum „Aufstand der Unfähigen‘‘

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ger Jahre eine Reihe von aufsehenerregenden Wahlerfolgen.4 Begünstigt durch die innenpolitische Situation (Studentenbewegung, Große Koalition, Wirtschaftskrise) avancierte die Partei kurzzeitig zur viertstärksten politischen Kraft in der Bundesrepublik, zog in sieben Länderparlamente ein. Ihr bestes Ergebnis erzielten die Nationaldemokraten mit einem Stimmenanteil von 9,8 Prozent bei den baden-württembergischen Landtagswahlen 1968. Organisatorisch erfuhr die Partei enormen Aufwind; die Mitgliederzahlen stiegen bis 1969 auf ca. 30.000. In der Bundesrepublik entfachte eine rege Debatte über Gefährlichkeit und Umgang mit der NPD, in deren Zuge eine Verbotsdiskussion in Gang kam. Nach langem Zögern verzichtete die Bundesregierung auf einen Verbotsantrag gegen die NPD, ließ aber durchblicken, eventuell später davon Gebrauch zu machen. Tatsächlich wäre ein NPD-Verbot in den sechziger Jahren politisch vielleicht nötig, rechtlich aber kaum möglich gewesen. Die leere Verbotsdrohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Mit dem Stigma der Verfassungsfeindlichkeit behaftet, scheiterte die NPD bei der Bundestagswahl 1969 mit 4,3 Prozent der Stimmen knapp an der Fünfprozenthürde. Der 28. September 1969 bildete den Wendepunkt in der NPD-Geschichte. Dem schnellen Aufstieg der Partei folgte ein jäher Absturz. Die NPD verschwand aus allen Landtagen, spielte von da an als Wahlpartei keine Rolle mehr. Gebeutelt von permanenter Finanznot und innerparteilichen Richtungskämpfen vegetierte sie am rechten Rand des Parteienspektrums vor sich hin. Selbst im „rechten Lager“, wo sie mit den Republikanern und der DVU „übermächtige“ Konkurrenz bekam, war die NPD isoliert. Die Mitgliederzahlen sanken bis 1995 auf 2.800. Erst unter der Führung ihres Parteivorsitzenden Udo Voigt gelang ihr von 1996 an die organisatorische Konsolidierung. Damit einher ging die Radikalisierung der Partei.5 Gab sich die NPD bis 1990 noch eher deutsch-national, schlug sie unter Günter Deckert (1990 bis 1995) einen national-revolutionären und später unter Voigt einen antikapitalistisch-revolutionären Kurs ein, propagiert einen „nationalen Sozialismus“, macht aus ihrer verfassungsfeindlichen Gesinnung keinen Hehl. Seit 1997 basiert das strategische Konzept der Partei auf drei Säulen: der „Schlacht6 um die Straße“, der „Schlacht um die Köpfe“ und der „Schlacht um die Wähler.“ Mit ihrem „Drei-Säulen-Konzept“ erschloß die NPD Personal des rechtsextremistischen Spektrums. Dabei profitierte sie von den 4 Zur Geschichte der NPD vgl. Uwe Hoffmann, Die NPD. Entwicklung, Ideologie und Struktur, Frankfurt a. M. 1999; ferner Lars Flemming, Das NPD-Verbotsverfahren. Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“, Baden-Baden 2005, S. 46–96. 5 Zahlreiche Belege für die Verfassungsfeindlichkeit der NPD finden sich u. a. in den Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern sowie in der parteieigenen Jubiläumsschrift; vgl. Holger Apfel (Hrsg.), Alles Große steht im Sturm. 35 Jahre NPD – 30 Jahre JN – Geschichte einer jungen Partei, Stuttgart 1999. 6 Synonym für „Schlacht“ verwendet die NPD den Begriff „Kampf“.

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Verboten rechtsextremistischer Organisationen in den neunziger Jahren. Die Mitgliederzahlen stiegen bis zum Jahre 2000 auf 6.500. Auf Wahlebene war der NPD allerdings kein Erfolg beschieden. Die Nationaldemokraten tauchten nur sporadisch aus der politischen Versenkung auf, partizipierten gelegentlich von der staatlichen Parteienfinanzierung (bei Landtagswahlen erreichten sie 1998 in Mecklenburg-Vorpommern 1,1 Prozent, 1999 in Sachsen 1,4 Prozent, 2000 in Schleswig-Holstein 1,0 Prozent der Stimmen) und machten durch zahlreiche Öffentlichkeitsaktionen (z. B. Aufmärsche anläßlich der Wehrmachtsausstellung) auf sich aufmerksam. Gesellschaftlich blieb die NPD geächtet. Gleichwohl trugen die öffentlichen Auftritte und die offene Agitation ihrer verfassungsfeindlichen, antisemitischen, antiamerikanischen und antikapitalistischen Gesinnung wesentlich zur Entfachung der Sommer- und Herbstdebatte des Jahres 2000 bei.

3. Verbotsdebatte im Jahre 2000 Es war das Werk der Politik, die NPD wie das Parteiverbot im Jahre 2000 aus ihrem Schattendasein hervorzuholen. Die der NPD zuteilgewordene Aufmerksamkeit stand in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrer politischen Bedeutung. Was den Nationaldemokraten über Jahre nicht gelang, vollbrachten eifernde Politiker binnen weniger Tage: eine politisch einflußlose Partei in den Fokus des öffentlichen Interesses zu rücken. Bereits in den ersten Monaten des Jahres 2000 hatte eine Reihe von Anschlägen – teils mit erwiesenem, teils mit vermutetem fremdenfeindlichen Hintergrund – für Negativschlagzeilen gesorgt; allerdings richtete erst der Düsseldorfer Sprengstoffanschlag vom 27. Juli 2000 auf eine aus Rußland stammende Gruppe jüdischer Immigranten den Fokus der Öffentlichkeit auf den Rechtsextremismus im allgemeinen und die NPD im besonderen. Obwohl der Anschlag bis heute nicht aufgeklärt ist, schloß die Politik vorschnell auf fremdenfeindliche Motive. Die Pioniere des NPD-Verbotsverfahrens, Günther Beckstein (CSU) und Jürgen Trittin (Grüne), lösten mit ihrem Vorstoß, die NPD verbieten zu wollen, eine Verbotsdiskussion aus, die in der Geschichte der Bundesrepublik ihresgleichen sucht.7 Die Verbotsdiskussion entfaltete eine ungeahnte Eigendynamik, wurde zum Selbstläufer, zum Musterbeispiel eines politischen Sommertheaters. Beflügelt von Umfrageergebnissen, wonach sich zwei Drittel der Bundesbürger für ein Verbot der NPD aussprachen,8 wollte sich kein Politiker Nachlässigkeit im Kampf gegen den Rechtsextremismus vorwerfen lassen. Die Zahl der Verbotsbefürworter wuchs stetig und ging quer durch die politischen und gesellschaft7 8

Flemming (FN 4), S. 97–145. Vgl. Focus vom 14. August 2000.

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lichen Richtungen.9 Statt Besonnenheit und Sorgfalt zu üben, ergingen sich die verantwortlichen Politiker in hektischem Aktionismus. Der zunächst in der Diskussion zurückhaltende Bundeskanzler sprang, nachdem sich die Stimmung pro Verbot gewendet hatte, am 19. August auf den Verbotszug auf und setzte sich an dessen Spitze: Ein Verbot sei „ein Stück politischer Hygiene“. Gerhard Schröder befürwortete einen gemeinsamen Verbotsantrag von Bundestag und Bundesrat. Von einem gemeinsamen Antrag, so seine Botschaft, würde die entsprechende Signalwirkung ausgehen, dem sich auch das Bundesverfassungsgericht nicht verschließen könne.10 Eine Vorentscheidung für ein Verbot war gefallen. Die Welle der öffentlichen Empörung schwappte noch einmal hoch, als in der Nacht zum 3. Oktober 2000 ein Brandanschlag auf eine Düsseldorfer Synagoge verübt wurde. Bundeskanzler Schröder, Bundesinnenminister Otto Schily und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) eilten zum Tatort, schließlich galt es, ein Zeichen zu setzen. Der Kanzler zeigte sich in seinem Vorhaben, die NPD zu verbieten, bekräftigt: „Es muß klar sein, daß rechtsradikale Strukturen, in deren Schutz solche hinterhältigen Anschläge geschehen können, keine Chance haben, in Deutschland weiter bestehen zu können.“ Als Konsequenz rief Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ auf.11 Später sollten sich zwei Islamisten als Täter herausstellen – ein 19jähriger Marokkaner und ein 20jähriger Palästinenser. Insgesamt gaben die Parteien in der Verbotsdiskussion ein recht unterschiedliches Bild ab. Lediglich PDS und FDP vertraten im Laufe der gesamten Debatte einheitliche Positionen. Während die Postkommunisten, ganz in ihrer antifaschistischen Tradition, ein Verbot befürworteten, lehnten die Liberalen, ihrem Verfassungsverständnis nachkommend, ein solches ab. Die SPD, zunächst in der Verbotsfrage gespalten, avancierte zur stärksten Befürworterin eines Gangs nach Karlsruhe. Zwei Faktoren gaben den Ausschlag für den Wandel: erstens die Befürchtung, im Kampf um die innere Sicherheit und gegen den Rechtsextremismus gegenüber der Union ins Hintertreffen zu gelangen; zweitens das entschlossene Auftreten des Kanzlers nach dem Düsseldorfer Brandanschlag vom 2. Oktober. Schröders „Aufstand der Anständigen“ zwang auch die Grünen zu einem Kurswechsel. Nicht zuletzt aufgrund der eigenen Erfahrungsgeschichte und ihrer liberalen Traditionen lehnten sie anfänglich – bis auf Trittin – ein Verbot ab, mußten sich aber bald, unter dem Zwang der Regierungsverantwortung, zu 9 Zu ihnen gehörten Bundesaußenminister Joseph („Joschka“) Fischer, Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sowie Vertreter von Gewerkschaften und Interessenverbänden, wie ÖTV-Chef Herbert Mai und vor allem der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. 10 Vgl. Bild am Sonntag vom 20. August 2000. 11 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Oktober 2000.

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einem Verbot durchringen. Besonders bei den Grünen bleibt der Verdacht bestehen, daß die Skepsis gegenüber einem Parteiverbot größer war als es ihr Abstimmungsverhalten im Bundestag spiegelt. Die Unionsparteien konnten sich bis zum Schluß zu keiner einheitlichen Position durchringen. Während die CSU auf ein Verbot drängte, gab es in der CDU zahlreiche Verbotsgegner (Diepgen, Koch, Merz, Müller). In der Absicht, den Fraktionsfrieden zu wahren, enthielten sich die CDU/CSU-Abgeordneten bei der Abstimmung im Bundestag mit der wenig überzeugenden Begründung, das Stellen des Verbotsantrags sei Aufgabe der Exekutive. Im Gegensatz zur allgemeinen Debatte wurde die Verbotsdiskussion in der Politikwissenschaft weit sachlicher und emotionsloser geführt. Allerdings vermochte es die Politikwissenschaft nicht, die Entscheidungsfindung der politischen Akteure zu beeinflussen. Bestanden an der Rechtmäßigkeit eines NPDVerbots – die Kontroverse über die grundsätzliche Problematik von Parteiverboten in der freiheitlichen Demokratie ausgespart – kaum Zweifel, war seine politische Zweckmäßigkeit umstritten, wenngleich auch hier die Skepsis überwog.12 Die Argumentationsmuster glichen denen der Politik, obschon mit unterschiedlicher Akzentuierung.13 Neben der prinzipiellen Ablehnung der Demokratieschutzkonzeption des Grundgesetzes14 und dem Verweis auf die Wirkungslosigkeit von Parteiverboten15 führten die Antragsgegner vor allem praktische Gründe ins Feld: Ein Verbot gegen eine gesellschaftlich geächtete und politisch bedeutungslose Partei sei ein Zeichen von Alarmismus und Hilflosigkeit, beseitige nicht die fremdenfeindliche Gewalt, könne sie statt dessen provozieren. Auch stelle es anderen rechtsextremistischen Parteien einen „Persilschein“ aus. „Die offene Gesellschaft muß sich damit abfinden, daß ein Bodensatz an rechtem (und linkem) gewalttätigem Extremismus ebenso Kennzeichen einer freiheitlichen Ordnung ist wie Kriminalität.“16 Die Antragsbefürworter argumentierten vor allem mit der Signalwirkung eines Verbots17 und der „Pflicht zur Gegenwehr“ im Interesse der Demokratie.18 Der Staat müsse, wolle er im 12 Vgl. Eckhard Jesse, Soll die Nationaldemokratische Partei verboten werden? Der Parteiverbotsantrag war unzweckmäßig, ein Parteiverbot ist rechtmäßig, in: Politische Vierteljahresschrift 42 (2001), S. 683–697. 13 Einige Beiträge zur Verbotsdiskussion finden sich bei Claus Leggewie/Horst Meier (Hrsg.), Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?, Frankfurt a. M. 2002. 14 Vgl. exemplarisch Horst Meier, „Ob eine konkrete Gefahr besteht, ist belanglos“. Kritik der Verbotsanträge gegen die NPD, in: Leviathan 29 (2001), S. 439–468. 15 Vgl. Hans Mommsen, Die stumpfe Waffe. Parteiverbote in der Weimarer Republik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 2000. 16 Eckhard Jesse, NPD-Verbot rechtmäßig, aber nicht zweckmäßig, in: Focus vom 21. August 2000, S. 54. 17 Vgl. Rudolf Wassermann, Aktivierung der wehrhaften Demokratie – Zum Antrag auf NPD-Verbot, in: Neue Juristische Wochenschrift 53 (2000), S. 3760–3762; ebenso Annelie Buntenbach/Bernhard Wagner, Warum wir trotzdem für ein Verbot sind, in: Leggewie/Meier (FN 13), S. 132–136.

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Kampf gegen den Rechtextremismus glaubhaft bleiben und es nicht nur bei einem „Aufstand der Anständigen“ bewenden lassen, auch von der Möglichkeit eines Verbots Gebrauch machen.19 Eine Schlüsselrolle in der Sommerdebatte nahmen die Medien ein. Über Tage und Wochen bestimmten fremdenfeindliche Gewalt, Rechtextremismus und die NPD das öffentliche Meinungsbild. Stand die Publizistik selbst einem NPDVerbot überwiegend skeptisch gegenüber, nutzten die verantwortlichen Politiker das Forum ausgiebig, um sich im Kampf gegen den Rechtsextremismus zu ereifern. Der „Fall Sebnitz“ lieferte den Beweis, daß auch die Presse nicht frei von Hysterie war, oftmals Sachlichkeit und Zurückhaltung vermissen ließ. In der von Hektik, Symbolik und Aktionismus geprägten Sommerdebatte 2000 siegten die Verbotsbefürworter. Die Empörung über die Gewalt mündete (vor-)schnell in die Forderung eines NPD-Verbots. Jeden Anlaß wahrnehmend, ereiferte sich die Politik, Entschlossenheit im Kampf gegen den Rechtsextremismus an den Tag zu legen. Hektik und Aktionismus ersetzten Besonnenheit und Sorgfalt. Nicht die Suche nach der wirksamsten Bekämpfung der – fremdenfeindlichen – Gewalt stand auf der Tagesordnung, sondern der Wettbewerb um die rigorosesten Maßnahmen gegen „rechts“. Spätestens mit dem Auftritt des Kanzlers im Oktober 2000 war der Verbotszug nicht mehr aufzuhalten. In Anbetracht ihres selbst auferlegten Erwartungs- und Handlungsdrucks wäre ein Verbotsverzicht, sei es aus rechtlichen, sei es aus praktischen Gründen, als Niederlage der Politik, als Resignation vor „den Rechten“ empfunden worden. Angetrieben von den Protagonisten des Verfahrens, Bundesinnenminister Otto Schily und seinem bayerischen Amtskollegen Günther Beckstein, warteten die Verbotsstreiter gleich mit drei Verbotsanträgen beim Bundesverfassungsgericht auf.20 Alle drei antragsberechtigten Verfassungsorgane, Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag, ließen mehr oder weniger fundierte Anträge verfassen. So hatte beispielsweise der Antrag der Bundesregierung Eile als Schwerpunkt, weniger Qualität, schließlich mußte er am Abend des 30. Januar 2001 (am Tag von Hitlers Machtantritt) in Karlsruhe eingehen. Symbolpolitik stand wiederholt obenan. Mit dem Stellen der Verbotsanträge verschwand das Interesse am Kampf gegen den Rechtsextremismus21 ebenso schnell wie es gekommen war. Der 18 Vgl. Karl-Dietrich Bracher, Pflicht zur Gegenwehr. Ein Verbot der NPD tut not, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Oktober 2000. 19 Vgl. Ernst Benda, Augen auf und durch, in: ebd. 20 Zum Inhalt der Verbotsanträge und zu den Stellungnahmen der NPD vgl. Flemming (FN 4), S. 146–175. 21 Inzwischen hatte sich der „Kampf gegen den Rechtsextremismus“ auf die Formel „gegen rechts“ reduziert. Sie gelangte zu breiter gesellschaftlicher Zustimmung (z. B. „Rock gegen rechts“, „Netz gegen rechts“).

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„Aufstand der Anständigen“ erschöpfte sich im Gang nach Karlsruhe und verlief fortan im Sande. Symbolik und Aktionismus prägten die gesamte Debatte. Weder die eigentlichen Ursachen der fremdenfeindlichen Gewalt noch die tatsächliche Verflechtung der NPD mit dem gewalttätigen rechtsextremistischen subkulturellen Milieu fanden in der Verbotsdiskussion ausreichend Berücksichtigung. Unterstützt von einer größtmöglichen Phalanx (Anträge dreier Verfassungsorgane), sollte mit dem schärfsten Mittel der streitbaren Demokratie (Parteiverbot) schnellstmöglich (zwischen Becksteins Vorschlag und dem Kabinettsbeschluß der Bundesregierung zum Stellen des Antrags lagen gerade drei Monate) ein Zeichen gegen die fremdenfeindliche Gewalt gesetzt, dem Rechtsextremismus ein entscheidender Schlag versetzt werden.

4. Scheitern des Verfahrens Das Jahr 2001 verlief ruhig. Vom Rechtsextremismus war kaum noch die Rede, auch nicht von der NPD. Lediglich mit der Verpflichtung des ehemaligen RAF-Terroristen Horst Mahler zum Prozeßbevollmächtigten der NPD sorgte die Partei für Aufsehen. Ansonsten übte sie Zurückhaltung, gefiel sich in der Opferrolle. Daß ausgerechnet ein ehemaliger Linksextremist wie Horst Mahler die rechtsextreme NPD vor Gericht vertrat, ist eine Groteske des Verfahrens, eine andere sind seine im Namen der NPD verfaßten Stellungnahmen.22 Wer sie liest, gewinnt den Eindruck, Mahler war lediglich an der Verbreitung seiner obskuren Verschwörungstheorien interessiert, nicht aber an einer erfolgreichen Verteidigung der NPD. Mit Beginn des Jahres 2002 kam Bewegung in das Verfahren. Diese war heftig und hatte zudem noch eine unerwartete Richtung. Am 22. Januar 2002 setzte das Bundesverfassungsgericht völlig überraschend die für Februar anberaumten Termine zur mündlichen Verhandlung ab, da zunächst „prozessuale und materielle Rechtsfragen“ zu klären seien. Ein Abteilungsleiter des Bundesinnenministeriums hatte die Karlsruher Richter telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, „daß eine der zur mündlichen Verhandlung geladenen Anhörungspersonen eine Aussagegenehmigung eines Landesamtes für Verfassungsschutz vorlegen werde.“23 Bei der Person, deren Äußerungen in den Verbotsanträgen mehrfach als Beleg für die Verfassungswidrigkeit der NPD aufgeführt werden, handelte es sich um Wolfgang Frenz. Frenz, Gründungsmitglied der NPD und bis 1998 im Bundesvorstand, fungierte von 1977 bis 1999 als stellvertretender Vorsitzender 22 Die Stellungnahmen der NPD zu den Verbotsanträgen sowie sämtliche einschlägigen Dokumente des Verfahrens sind einzusehen unter www.extremismus.com (Stand: 30. April 2006). 23 Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 6/2002 vom 22. Januar 2002.

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des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen. Er galt als einer der führenden Köpfe der Partei.24 Die Verfassungsschutzbehörden hatten bereits 1959 Kontakt zu Frenz aufgenommen, von 1962 bis 1995 diente er dem Landesamt Nordrhein-Westfalen als Informant. Der Fall Frenz brachte eine Lawine ins Rollen, an deren Anfang die Aussetzung und an deren Ende das Scheitern des Verfahrens stand. Die folgenden Wochen offenbarten das ganze Dilemma. Zwischen den zuständigen Ministerien und Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern grassier(t)en erhebliche Abstimmungsdefizite. Kein Landesinnenministerium kannte die Informanten des anderen, kein Landesinnenministerium gab – selbst in der Erarbeitungsphase der Anträge – freiwillig zureichende Auskünfte über seine Quellen. So sollen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen auf einer Länder-Fachkonferenz im Herbst 2000 zwar Bedenken hinsichtlich der Verwendung von Frenz in den Verbotsanträgen geäußert haben, konnten sich aber nicht durchsetzen, da sie Frenz’ Informantentätigkeit verschwiegen.25 Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, vermochte die Landesämter lediglich dazu bewegen, die Anzahl ihrer Informanten mittels einer Strichliste zu offenbaren.26 Erschwerend kamen peinliche Arbeitspannen innerhalb der Ministerien hinzu. Nach Aussage des nordrhein-westfälischen Innenministers Fritz Behrens (SPD) war das Bundesamt für Verfassungsschutz von 1996 an über die Spitzeltätigkeit von Frenz informiert. Im August 2001 wies das Landesamt für Verfassungsschutz in Düsseldorf das Bundesinnenministerium nochmals darauf hin.27 Nur versäumte es der zuständige Leiter der BMI-Abteilung für innere Sicherheit, Werner Müller, die Informationen weiterzuleiten. Der Leiter der BMI-Abteilung Verfassung, Klaus-Dieter Schnapauff, war es, der nach einem neuerlichen Hinweis aus Düsseldorf am 16. Januar 2002 den Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch telefonisch davon unterrichtete, daß eine zur Anhörung geladene Person eine Aussagegenehmigung eines Landesverfassungsschutzamtes vorlegen werde. Jentsch bat daraufhin Schnapauff zwei Tage später um eine schriftliche Information: erfolglos. Die Vertreter der Länder erhielten erst auf einer Fachtagung zur V-Mann-Problematik am 19. Januar 2002 in Berlin Kenntnis vom Fall Frenz, nicht aber über die jüngsten Kontakte zwischen Karlsruhe und Berlin. Der Arbeitskreis vereinbarte daraufhin, dem Bundesverfassungsgericht die Spit24 Er sorgte 1998 mit seinem antisemitischen Buch „Über den Verlust der Väterlichkeit oder Das Jahrhundert der Juden“ für Aufsehen. Zu seiner Zeit als Informant des Bundesamtes für Verfassungsschutz vgl. Wolfgang Frenz, Die Schlapphutaffäre. Als VMann auf NPD-Führungsebene, Solingen 2002. 25 Vgl. Der Spiegel vom 28. Januar 2002, S. 22–28, hier S. 26. 26 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2002. 27 Vgl. Die Welt vom 24. Januar 2002; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2002.

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zeltätigkeit von Frenz erst mit Beginn der mündlichen Verhandlung zu eröffnen. Nachdem am 21. Januar ein neuerlicher Versuch von Jentsch um eine schriftliche Auskunft scheiterte, setzten die Karlsruher Richter einstimmig das Verfahren einen Tag später zur allgemeinen Überraschung aus.28 Die peinlichen Pannen lösten eine Welle der Entrüstungen und Beschuldigungen aus.29 Ins Kreuzfeuer der Anschuldigungen geriet Bundesinnenminister Schily. Besonders für seine Aussagen im Innenausschuß, er habe sowohl von Frenz als auch von der vom Bundesverfassungsgericht angeforderten Stellungnahme erst am 22. Januar, nach der Aussetzung des Verfahrens, erfahren, erntete er harsche Kritik. Zugleich bedauerte Schily, daß sich die Karlsruher Richter nicht persönlich mit ihm in Verbindung gesetzt hatten. Rücktrittsforderungen, allen voran seitens der Union, wurden laut. Schily entschuldigte sich in einer aktuellen Stunde des Bundestages bei den Richtern in Karlsruhe, wies zugleich den Ländern Mitschuld an den Pannen zu. Er unterschied zwischen „politischer“ und „persönlicher“ Verantwortung. Erstere übernehme er, letztere gab er den zuständigen Abteilungsleitern und Staatssekretär Claus Henning Schapper. Konsequenzen in Form von Rücktritten und Entlassungen schloß er aus, es blieb bei einer Rüge für die Gescholtenen.30 Die Aufregung um den Fall Frenz, der in allen drei Verbotsanträgen als Beleg für die Verfassungsfeindlichkeit der NPD herangezogen wird, hatte sich noch nicht gelegt, da tauchte nach einer Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums am 25. Januar mit Udo Holtmann ein weiterer V-Mann auf, diesmal des Bundesamtes für Verfassungsschutz.31 Holtmann, in den Anträgen von Bundestag und Bundesrat zitiert, gehörte von 1977 an dem Bundesvorstand der NPD an, stand 1995, nach Deckerts Abgang, kurzzeitig der Bundespartei kommissarisch vor, war von 1993 bis zu seiner Enttarnung Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen. Seine Spitzeltätigkeit begann 1978, offenbar mit Wissen des damaligen NPD-Bundesvorsitzenden Martin Mußgnug. Mit der Aufdeckung Holtmanns kam das BMI offenbar dessen Selbstenttarnung in Karlsruhe zuvor, ersparte den Antragstellern damit eine noch größere Blamage vor Gericht und verhinderte einen Propagandaerfolg der Nationaldemokraten.32 Die folgenden Wochen brachten ein obskures, sich wiederholendes Schauspiel: Kaum hatten die verantwortlichen Politiker glaubhaft zu machen ver28

Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2002. „Aufstand der Unfähigen“ (Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2002), „Düpierung“ Karlsruhes (Die Welt vom 24. Januar 2002), „Riesenmurks“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Januar 2002) und „Blamiert bis auf die Knochen“ (Der Spiegel vom 28. Januar 2002) titelte die Presse. 30 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Januar 2002; Die Welt vom 24. und 25. Januar 2002. 31 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 26. Januar 2002. 32 Vgl. Der Spiegel vom 4. Februar 2002, S. 32 f. 29

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sucht, es gebe keine weiteren V-Männer im Verfahren, trat der nächste Spitzel zutage. Bereits im Juli 2000 und im Mai 2001 waren mit Carsten Szczepanski und Tino Brandt – immerhin stellvertretender Vorsitzender der NPD-Thüringen – zwei V-Männer des brandenburgischen und thüringischen Verfassungsschutzes aufgeflogen. Nach Frenz und Holtmann wurden noch bekannt die Informantentätigkeiten von Mike Layer (arbeitete von 1996 bis 1997 für den Verfassungsschutz Baden-Württemberg; ist im Antrag der Bundesregierung als Beleg für die Gewalttätigkeit der NPD aufgeführt), Mathias Meier (arbeitete von 1998 bis 2000 für das Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfasser der Mitgliederzeitschrift „Der Kamerad“, wird in den Anträgen nicht zitiert), Michael Grube (bis 1999 in der NPD, arbeitete kurzzeitig für den Verfassungsschutz MecklenburgVorpommern, spielt in den Anträgen keine Rolle) und Thomas Dienel (bis 1992 in der NPD, von 1996 bis 1997 für das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz tätig, kommt in den Anträgen nicht vor). Die Pannenserie führte zu ersten Erosionserscheinungen in der „Front der Anständigen“. Es entfachte ein heftiger innenpolitischer Streit um die Schuldfrage an den Versäumnissen und das weitere Vorgehen im Verfahren, wobei Peinlichkeiten – wie der Verweis Ludwig Stieglers auf die „historische Schuld“ von Union und FDP am Aufstieg Hitlers – nicht ausblieben.33 Während die Sozialdemokraten trotz der Mängel fest auf der Notwendigkeit eines Verbots und der Beweiskraft der Anträge beharrten, mehrten sich in den Reihen der Grünen die Rufe nach einer Reform der Verfassungsschutzorgane. Die Liberalen sahen sich in ihrer Ablehnung der Verbotsanträge bestätigt, die Union zeigte sich uneins und schwankte zwischen Fortführung des Verfahrens (Beckstein, Bosbach) und Rückzug der Anträge (Müller, Merz).34 Die Antragsteller gerieten zunehmend in die Defensive. Nicht mehr die Verfassungsfeindlichkeit der NPD, sondern die zweifelhafte Methodik der Staates stand im Mittelpunkt des Verfahrens, warf eine Reihe prozeßrelevanter Fragen auf: Wie stark ist die NPD vom Verfassungsschutz unterwandert? Welche Rolle spielen die V-Männer in der Partei, wie groß ist ihr Einfluß? Wirkten sie als agents provocateurs? Können angesichts des Unterwanderungsgrades der NPD die in den Verbotsanträgen aufgestellten Vorwürfe eindeutig der Partei zugerechnet werden? Inwieweit erlangten die Antragsteller durch nachrichtendienstliche Mittel Kenntnisse über die Prozeßstrategie der Antragsgegnerin? Wie gewinnt der Verfassungsschutz seine Informationen über die Partei? Ist das Verbotsverfahren durch die V-Mann-Problematik gefährdet? Wer glaubte, die Antragsteller hätten aus ihren Fehlern bei der Erarbeitung der Anträge gelernt, sah sich enttäuscht. Auch bei der Aufklärung der V-MannPannen ging Aktionismus vor Sorgfalt; dem Bundesverfassungsgericht wurde 33 34

Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Februar 2002. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. bis 19. Februar.

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die Wahrheit scheibchenweise serviert. Ganze drei Anläufe benötigten die Antragsteller, um die Karlsruher Richter – noch nicht einmal ausreichend – über ihre Quellen schriftlich zu informieren.35 Die erste schriftliche Stellungnahme zur V-Mann-Affäre vom 8. Februar 2002 war bereits Tage später überholt, als die Prozeßbevollmächtigten in ihrem Nachtrag vom 14. Februar die Existenz vier weiterer V-Leute der Länderbehörden im Antrag des Bundesrates einräumen mußten, von denen allerdings nur einer zum Zeitpunkt der zitierten Äußerungen als solcher aktiv war. Zugleich versicherten die Antragsteller, dem Bundesverfassungsgericht nun alle Kontakte zwischen den Verfassungsschutzbehörden und den zur Verhandlung geladenen Auskunftspersonen der NPD offenbart zu haben. Auch diese Zusage erwies sich schnell als hinfällig: Es stellte sich heraus, daß der bayerische Verfassungsschutz am 11. April 2001 (kurz nach Einreichen der Verbotsanträge!) erfolglos versucht hatte, das später als Zeuge nach Karlsruhe geladene NPD-Bundesvorstandsmitglied Jürgen Distler als V-Mann zu werben.36 Das Bundesverfassungsgericht setzte daraufhin einen Erörterungstermin zur „V-Mann-Problematik“ für den 8. Oktober 2002 an und forderte die Antragsteller auf, bis zum 31. Juli schriftlich aufzuklären, „ob und welche Personen aus dem jetzigen oder einem früheren Vorstand des Bundesoder der Landesverbände der NPD seit 1996 mit staatlichen Stellen kooperiert haben oder noch kooperieren. Auch sofern andere, für das Gesamtbild der NPD wesentliche Personen mit staatlichen Stellen zusammengearbeitet haben, sollte dies dargelegt werden, gleichermaßen sonstige Einflußnahmen auf das Gesamtbild der NPD. [. . .] Soweit die Antragsteller sich aus zwingenden Geheimschutzbelangen oder anderen Gründen gehindert sehen, diese Auskünfte zu erteilen, wird um Mitteilung der Gründe gebeten.“37 Die Antragsteller standen vor einem Dilemma. Vor die Wahl gestellt, zur Rettung des Prozesses in Karlsruhe alle Quellen vorbehaltlos zu offenbaren und im Gegenzug dazu die Arbeit des Verfassungsschutzes nachhaltig zu schädigen oder zum Schutz der Informanten und geheimdienstlichen Methoden weitere Auskünfte zu verweigern und notfalls ein Scheitern des Verfahrens in Kauf zu nehmen, verfielen sie nach langwierigen Diskussionen auf den Kompromiß eines „In-camera-Verfahrens“. In ihrer Stellungnahme vom 26. Juli 2002 schlugen sie dem Gericht vor, es könne alle gewünschten Auskünfte erhalten, sofern diese der Öffentlichkeit und der NPD verschlossen blieben. Im Zeitraum von 1997 bis 2002 habe es auf Bund- und Länderebene der Partei durchschnittlich 200 und als Folge der Fluktuation insgesamt etwa 560 Vorstandsmitglieder gegeben. Der Anteil der V-Leute in diesen Gremien lag dabei – so das Ergebnis 35 Vgl. Schriftsätze der Prozeßbevollmächtigten zur „V-Mann-Affäre“ vom 8. und 14. Februar sowie vom 26. Juli 2002; zu finden unter www.extremismus.com (Stand: 30. April 2006). 36 Vgl. Die Welt vom 3. und 4. März 2002. 37 Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 51/2002 vom 7. Mai 2002.

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dreier Stichproben (4. April 1997, 31. Juli 2001, 17. April 2002) – jeweils unter 15 Prozent. Der Staat habe folglich keinerlei steuernden Einfluß auf die NPD und deren Gesamtbild ausgeübt, keiner der V-Leute sei in die Partei eingeschleust worden. Mit einer Ausnahme stammen alle in den Anträgen aufgeführten V-Mann-Äußerungen aus einer Zeit, in der diese nicht für den Verfassungsschutz arbeiteten.38 Der mündliche Erörterungstermin am 8. Oktober 2002 vor dem Bundesverfassungsgericht brachte substantiell nicht Neues. Die Antragsteller suchten glaubhaft zu machen, die NPD sei keinesfalls staatlich gesteuert und alle gegen die Partei vorgebrachten Vorwürfe – auch die durch V-Männer belegten – seien „Fleisch vom Fleische der NPD“.39 Die Antragsgegner bestritten dies, bekräftigten ihren Vorwurf, der Staat habe durch die V-Leute Kenntnis über die Prozeßstrategie der Partei erlangt, und beantragten daher die Einstellung des Verfahrens.40 Die Einstellung des Verfahrens am 18. März 2003 überraschte nicht. Bereits die Anberaumung eines Termins zur „Verkündung einer Entscheidung“41 ließ diesen Ausgang vermuten. Ohnehin schwanden die Chancen der Antragsteller mit zunehmender Prozeßdauer. Nach dem Ausscheiden von Jutta Limbach im März 2002 aus dem Zweiten Senat genügten bereits zwei Richterstimmen, um das Verfahren am Quorum von zwei Dritteln der Senatsmitglieder scheitern zu lassen. Im Juni 2003 wären die Verbotschancen durch das Ausscheiden des Richters Bertold Sommer weiter gesunken.42 Die Richter betonten, daß es sich bei ihrem Beschluß um eine Prozeß- und keine Sachentscheidung handelt. Zugleich machten sie keinen Hehl daraus, daß der Zweite Senat in der Sache tief gespalten war. Drei der sieben Richter (der Vorsitzende Winfried Hassemer, Lerke Osterloh und Siegfried Broß)43 sahen in der staatlichen Beobachtung der NPD durch V-Leute in den Bundes- und Landesvorständen unmittelbar vor dem Verbotsverfahren und während des Verfah38 Vgl. Schriftsatz der Prozeßbevollmächtigten zur „V-Mann-Affäre“ vom 26. Juli 2002; zu finden unter www.extremismus.com (Stand: 30. April 2006). 39 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Oktober 2002. 40 Vgl. persönliche Erklärung Horst Mahlers im NPD-Prozeß vom 17. Oktober 2002; zu finden unter www.extremismus.com (Stand: 30. April 2006). 41 Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 15/2003 vom 26. Februar 2003. 42 Nach § 15 Absatz 4 BVerfGG bedarf in einem Parteiverbotsverfahren eine dem Antragsgegner nachteilige Entscheidung der qualifizierten Mehrheit von zwei Dritteln der Richterstimmen. Stimmberechtigt sind allerdings nur die Richter des achtköpfigen Senats, die ihm seit Verfahrensbeginn angehören. 43 Die Spaltung verlief nicht entlang einer parteipolitischen Linie. Broß wurde von der Union vorgeschlagen, Hassemer und Osterloh von der SPD. Auf Seiten der Senatsmehrheit wurden Sommer von der SPD, Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff von der Union vorgeschlagen.

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rens ein nicht behebbares Verfahrenshindernis, das mit dem Rechtsstaatprinzip nicht vereinbar ist. Staatliche Einflußnahme auf Willensbildung und Tätigkeit der Partei seien unvermeidbar gewesen. Hierfür reiche die bloße Präsenz der Verbindungsmänner in den entsprechenden Gremien aus. Ein Parteiverbotsverfahren verlange „ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit“. Von einer „Staatsfreiheit“ der Antragsgegnerin könne aber keine Rede sein.44 Ein rechtsstaatliches Verfahren vermag nur gewährleistet werden, „wenn auch die zur Antragstellung berechtigten Verfassungsorgane die ihnen zugewiesene Verfahrensverantwortung erkennen und wahrnehmen. Es ist zunächst die Pflicht der Antragsteller, durch sorgfältige Vorbereitung ihrer Anträge die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung eines Verbotsverfahrens zu schaffen. Deshalb müssen die staatlichen Stellen rechtzeitig vor dem Eingang des Verbotsantrags beim Bundesverfassungsgericht – spätestens mit der öffentlichen Bekanntmachung der Absicht, einen Antrag zu stellen – ihre Quellen in den Vorständen einer politischen Partei ,abgeschaltet‘ haben; sie dürfen nach diesem Zeitpunkt keine die ,Abschaltung‘ umgehende Nachsorge betreiben, die mit weiterer Informationsgewinnung verbunden sein kann, und müssen eingeschleuste V-Leute zurückgezogen haben.“45 Für die Senatsmehrheit war dagegen eine staatliche Steuerung der NPD „nicht ansatzweise“ erkennbar, ein Verfahrenshindernis bestehe daher nicht, das Verfahren sei im Sinne der „Justizgewährpflicht“ fortzusetzen. Die vier Richter Bertold Sommer, Hans-Joachim Jentsch, Udo Di Fabio und Rudolf Mellinghoff vertraten darüber hinaus die Auffassung, das Bundesverfassungsgericht müsse alle vorgesehenen Mittel, einschließlich der sich auf nachrichtendienstliche Ermittlungen stützenden, zur Sachaufklärung nutzen. Auch entbinde die Anhängigkeit eines Parteiverbotsverfahrens die staatlichen Stellen nicht von ihrer Verpflichtung, gegen verfassungswidrige Organisationen zu ermitteln und vorzugehen.46

5. Entwicklung nach dem Verfahren Die Reaktionen auf den Beschluß Karlsruhes waren heftig, aber kurz. Der beginnende, alles überlagernde Irak-Krieg ließ das Verbotsverfahren bereits nach zwei Tagen von der politischen Agenda verschwinden. Der Bundesinnenminister zeigte sich erbost über den Ausgang des Verfahrens, warf den Richtern indirekt Befangenheit vor. Die Argumentation der Senatsminderheit sei „abwegig“, „unrichtig“ und „verfehlt“, sie entfalte zudem faktisch eine Sperrwirkung für zukünftige Parteiverbote. Von einem neuen Verbotsantrag sehe er daher ab. 44 45 46

Vgl. BVerfG, 2 BvB 1/01 vom 18. März 2003, Absatz 64–116. Ebd., Absatz 87. Vgl. ebd., Absatz 117–154.

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Fraglich sei, ob es auf Grundlage der Karlsruher Maßstäbe überhaupt möglich gewesen wäre, die NSDAP zu verbieten. Schilys engster Mitstreiter im Verbotsverfahren, Beckstein, äußerte sich ähnlich. Das Parteiverbot, „schärfstes Mittel der streitbaren Demokratie“, sei durch die Karlsruher Entscheidung verstumpft. Die FDP sah sich in ihrer Verbotsskepsis bestätigt und sprach von einem „justizpolitischen Desaster“, Union, PDS und vor allem die Grünen forderten eine Reform der Verfassungsschutzorgane.47 Die NPD setzte im Prozeß auf eine Doppelstrategie: vor Gericht für maximales Aufsehen sorgen und ein Verbot mit allen juristischen Mitteln verhindern, außerhalb des Gerichtssaals jegliche Negativschlagzeilen vermeiden und möglichst seriös erscheinen. Für Aufsehen und innerparteilichen Streit sorgte das Engagement Horst Mahlers als Prozeßbevollmächtigten der NPD neben HansGünter Eisenecker.48 Mahler nutzte das Verfahren als Forum für seine obskuren antisemitischen, antiimperialistischen und antiamerikanischen Verschwörungstheorien, warf in seinen Prozeßschriften den Antragstellern ihrerseits verfassungsfeindliches Verhalten vor.49 Unmittelbar nach dem Verfahren verließ er die Partei mit der Begründung, sie sei „am System ausgerichtet“, „unzeitgemäß“ und, wie das System selbst, zum Untergang bestimmt.50 Abgesehen von der Rettung ihrer Existenz konnte die Partei vom Ausgang des Verbotsverfahrens wenig profitieren. Zwar ist ihr Bekanntheitsgrad gestiegen, aber ansonsten sah die Bilanz aus Sicht der Partei wenig berauschend aus. Finanziell machte das Verbotsverfahren der Partei schwer zu schaffen. Die VMann-Affäre erzeugte innerparteilich große Unruhe, die Mitgliederzahlen gingen nach Bekanntwerden der Spitzelgerüchte von 6.500 (2001) auf 6.100 (2002) zurück.51 Die NPD blieb selbst im rechtsextremen Lager isoliert. Auch ist der sensationelle Wahlerfolg der NPD in Sachsen nicht mit dem Scheitern der Verbotsanträge zu begründen. Der Zusammenhang ist ein vordergründiger: Ein Verbot der NPD hätte ihre Kandidatur verhindert. Die NPD erreichte ihren Stimmenanteil von 9,2 Prozent nicht, weil sie mit dem gescheiterten Verbotsverfahren warb – im Wahlkampf war davon mit keinem Wort die

47 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt und Frankfurter Rundschau vom 19. März 2003. 48 Vgl. „Wanderer zwischen Extremen“, in: Focus vom 18. Juni 2001, S. 82–86; zu Horst Mahler vgl. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt: Horst Mahler, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, BadenBaden 2001, S. 183–199; Steffen Kailitz, Rechte Leute von links, in: Mut. Forum für Kultur, Politik und Geschichte (2003), Nr. 429, S. 52–56. 49 Vgl. Stellungnahmen der NPD im Verbotsverfahren, zu finden unter www.extre mismus.com (Stand: 30. April 2006). 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht des Bundes 2003, Berlin 2004, S. 56.

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Rede. Mit Parolen wie „Schnauze voll? Wahltag ist Zahltag“ und „Sozialabbau, Rentenklau, Korruption – Nicht mit uns“ nutzte die Partei die Anti-Hartz-IVStimmung zur Gewinnung von Protestwählern. Neben der Frustration über die Sozialreformen begünstigten weitere Umstände ihren Erfolg: Bereits das Landtagswahlergebnis im Saarland vom 5. September 2004 hatte die NPD mit einem Stimmenanteil von 4,0 Prozent in die Nähe der Fünfprozenthürde gebracht; die bis dahin in Sachsen alleinregierende CDU mußte – nicht zuletzt aufgrund der wankelmütigen Haltung von Ministerpräsident Georg Milbradt zu den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung – erdrutschartige Verluste in Höhe von 15,8 Prozentpunkten hinnehmen und mit der SPD eine „Koalition der Verlierer“ eingehen; die PDS, ebenfalls die Anti-Hartz-IV-Stimmung anheizend, hatte mit vier Wochen vor der Wahl aufkommenden Stasi-Spitzelgerüchten um ihren Spitzenkandidaten Peter Porsch zu kämpfen, was der NPD weiteres Protestwählerpotential zuführte; Republikaner und DVU traten in Sachsen nicht zur Wahl an – der DVU gelang im Gegenzug mit einem Stimmenanteil von 6,1 Prozent der Wiedereinzug in den Brandenburger Landtag. Das NPD-Ergebnis im Saarland und Sachsen wäre weitaus ernüchternder ausgefallen, wenn beide Wahlen nicht auf dem Höhepunkt der Protestwelle gegen Hartz IV stattgefunden hätten. So gelang der NPD ein Erfolg, der ihren organisatorischen Niedergang aufhielt und ihre Isolation im „rechten Lager“ – zumindest vorerst – aufbrach. Wie ein Blick auf die Wahlstatistik zeigt, konnte die NPD in Sachsen besonders bei den Jungwählern beträchtliche Stimmenzuwächse verbuchen. In der Wählergruppe der 18- bis 24jährigen erlangte sie 16,0, bei den Männern dieser Altersgruppe gar 20,0 Prozent der Stimmen. Bei den 25- bis 34jährigen waren es 13,9, bei den 35- bis 45jährigen immerhin 11,7 Prozent.52 Ihre parlamentarische Präsenz in Sachsen53 brachte der NPD bisher einige öffentlichkeitswirksame Schlagzeilen ein, sei es durch das dilettantische Verhalten von Parlamentariern anderer Parteien, sei es durch verbale Entgleisungen von NPD-Abgeordneten. Der Einzug der Nationaldemokraten in den Dresdner Landtag stellte die Politik – allen voran die sächsische – vor eine neue Herausforderung. Wie sich schon bald zeigen sollte, war sie damit weithin überfordert. Das peinliche Szenario bei der Wahl Georg Milbradts zum Ministerpräsidenten54 oder die Reden von NPD-Abgeordneten anläßlich der Gedenktage an die Bombardierung Dresdens lieferten den Beleg.

52 Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Wahlen im Freistaat Sachsen 2004 – Sächsischer Landtag. Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik, Kamenz 2004, S. 27. 53 Zur NPD in Sachsen vgl. Henrik Steglich, Die NPD in Sachsen. Organisatorische Voraussetzungen ihres Wahlerfolgs 2004, Dresden 2005. Speziell zur NPD-Landtagsfraktion vgl. ebd., S. 123–134. 54 Bei der Wahl Milbradts votierten 14 Parlamentarier für den NPD-Ministerpräsidentenkandidaten Uwe Leichsenring – zwei mehr, als die NPD Abgeordnete hatte.

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Indes läßt die NPD auch außerhalb des Parlaments an ihrer verfassungsfeindlichen Haltung keinen Zweifel. Ihre Zurückhaltung aus dem Verbotsverfahren hat sie aufgegeben. Voigt nimmt kein Blatt vor den Mund. In einem Interview mit der Jungen Freiheit unmittelbar nach der sächsischen Landtagswahl erklärte er die „Abwicklung“ der Bundesrepublik sowie die Integration der nationalsozialistischen Strömung zum Ziel seiner Partei.55 Er erweiterte das strategische Konzept der Nationaldemokraten um eine vierte Säule, den „Kampf um den organisierten Willen“, und kündigte vollmundig den „Einzug in den Reichstag“ an.56 Allerdings blieb die Partei bei den Landtagswahlen 2005 wie bei der Bundestagswahl hinter ihren Zielen zurück.57 In Schleswig-Holstein erreichte sie lediglich 1,9 Prozent der Stimmen, in Nordrhein-Westfalen gar nur 0,9 Prozent. Immerhin gelang der NPD bei der Bundestagswahl mit einem Stimmenanteil von 1,6 Prozent die Vervierfachung ihres Wahlergebnisses von 2002 – und damit das beste Ergebnis seit 1969. Vor allem in den neuen Bundesländern erzielte sie Achtungserfolge: 3,6 Prozent im Durchschnitt, 3,7 in Thüringen, 3,5 in Mecklenburg-Vorpommern, 4,8 in Sachsen. Daß die NPD innerparteilich keinesfalls so gefestigt ist, wie es in der Öffentlichkeit den Anschein hat, zeigten die Querelen in der sächsischen Landtagsfraktion. So verließen drei der zwölf NPD-Abgeordneten Ende 2005 die Fraktion. Offenbar bestehen in der Partei erhebliche Differenzen in Programm-, Strategie- und Personalfragen. Die Aussteiger – allesamt aus Sachsen stammend – beklagten den autoritären Führungsstil der Fraktionsspitze um den „Westimport“ Holger Apfel, die aggressive Agitation sowie die ideologische Fokussierung auf den Nationalsozialismus.58 Die NPD-Führung reagierte empört auf die Austrittswelle. Voigt sprach von „charakterlosem Verrat an der Partei“.59 Zugleich sind die Nationaldemokraten bemüht, Einigkeit zu demonstrieren. Das Parteiorgan Deutsche Stimme60 versucht gar, in ganzseitigen Darstellungen der Anhängerschaft glaubhaft zu machen, der sächsische NPD-Landesverband gehe gestärkt aus dem „Austrittskonflikt“ hervor. Zur Untermauerung bedient sich das Blatt bewährter Feindbilder: des „Systems“ und des Verfassungsschutzes.61

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Vgl. Junge Freiheit vom 23. September 2004. Vgl. Deutsche Stimme 11/2004. 57 Zum Abschneiden der NPD bei den Wahlen 2005 vgl. Eckhard Jesse, Das Auf und Ab der NPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament“, B 42/2005, S. 31–38, hier vor allem S. 33–36. 58 Vgl. Sächsische Zeitung vom 19. Dezember 2005; Die Welt vom 31. Dezember 2005 und 1. Januar 2006. 59 Udo Voigt, Vorsicht 2006: Der Feind schläft nicht!, in: Deutsche Stimme 1/2006. 60 Zur „Deutschen Stimme“ vgl. Florian Hartleb, Zeitschriftenporträt: Deutsche Stimme, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 17, Baden-Baden 2005, S. 183–199. 61 Vgl. Deutsche Stimme 2/2006. 56

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6. Schlußbetrachtung Das Stellen der Verbotsanträge gegen die NPD war politisch nicht zweckmäßig. Es lag in der Verantwortung aller an der Verbotsdiskussion Beteiligten, insbesondere der politischen Akteure, diese Frage hinreichend zu prüfen. Sie sind ihrer Aufgabe nicht nachgekommen. Zwar hatten die Verbotsgegner die durchschlagenderen Argumente, konnten sich aber aufgrund der Emotionalität der Debatte gegen die Antragsbefürworter nicht durchsetzen. Der Vorwurf von Verbotsstreitern, die Verbotsgegner unterschätzten die Gefahr des Rechtsextremismus und der Gewalt, belegt den Mangel an Sachlichkeit in der Diskussion. Wer ein Verbot der NPD ablehnt, verharmlost keinesfalls automatisch den Rechtsextremismus und das Gewaltproblem. Schon gar nicht ist er ein Anwalt der NPD. Er trägt vielmehr dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, denn das Verbot einer – zum damaligen Zeitpunkt – politisch einflußlosen, isolierten und gesellschaftlich geächteten Partei, der noch nicht einmal ein Zusammenhang mit den die Verbotsdiskussion auslösenden Schandtaten nachgewiesen werden konnte, ist nicht sinnvoll. Es beseitigt weder rechtsextremistisches Gedankengut noch fremdenfeindliche Gewalt. Dagegen wiegen die Nachteile einer Illegalisierung der NPD schwer: weitere Radikalisierung der NPD-Anhängerschaft, Gefahr der Provozierung von Gewalt, „Persilschein“ für die anderen rechtsextremistischen Parteien. Das Hauptargument der Antragsbefürworter, die Signalwirkung eines NPDVerbots, ist zugleich ihr schwächstes. Das Parteiverbot, schärfstes Mittel der streitbaren Demokratie, dient als ultima ratio dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Wer es für Symbolpolitik gebrauchen will, muß nicht nur sein Verfassungsverständnis befragen; er spricht gleichsam der über fünfzig Jahre hinweg gefestigten bundesdeutschen Demokratie das Vertrauen ab, sich einer Kleinstpartei mit politischen Mitteln erwehren zu können. Die Existenz extremistischer Kräfte ist ein normaler Auswuchs der Demokratie, kein spezifisch deutsches Problem. Daher verfängt auch der Verweis nicht, die Bundesrepublik müsse um ihres Ansehens im Ausland willen die NPD verbieten. Aufgabe der Politik, der Presse wie der Wissenschaft ist vielmehr, die Ursachen extremistischen Gedankengutes und fremdenfeindlicher Gewalt zu analysieren und zu bekämpfen. Verbote helfen da nicht weiter. Dieser Aspekt ist in der Verbotsdiskussion viel zu kurz gekommen. Den meisten Politikern ging es in der Debatte nicht in erster Linie um die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gewalt. Primär war ihnen daran gelegen, die Welle der öffentlichen Entrüstung zur Erhöhung der Wählergunst zu nutzen. Die Forderung eines NPD-Verbots stellte sich als bloße Effekthascherei heraus. Spätestens mit dem Einreichen der Verbotsanträge war der Kampf gegen den Rechtsextremismus – inzwischen reduziert auf die Formel „gegen rechts“ – beendet.

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Der Verlauf des NPD-Verbotsverfahrens ist die Geschichte der Paradoxien. Was der Politik im Jahre 2000 zum Verhängnis wurde, rettete sie im März 2003: das verzerrte Medien- und Öffentlichkeitsinteresse. Im Sommer und Herbst 2000 fixierte sich alles auf die NPD-Verbotsdebatte. Das Ende des Verfahrens ging dagegen vor dem Hintergrund des Irak-Krieges völlig unter. Für die Antragsteller war dies, trotz ihrer Niederlage, ein Glücksfall: Weitere Peinlichkeiten vor Gericht ob ihrer umstrittenen Ermittlungspraktiken blieben ihnen ebenso erspart wie ein nachhaltiges Presseecho. Dabei barg ihr Scheitern in Karlsruhe Potential für einen politischen Skandal. Nicht mehr die Verflechtung der NPD mit der gewalttätigen rechtsextremistischen Szene, sondern die des Staates mit der Partei stand im Mittelpunkt des Verfahrens. Die Antragsteller wurden Opfer ihres Dilettantismus. Daß ihr Versuch, die Karlsruher Richter mit der Wucht dreier Verbotsanträge für ihre Symbolpolitik zu instrumentalisieren, scheiterte, ist ein Sieg des Rechtsstaats. Die entscheidenden Fehler passierten in der hitzigen Sommerdebatte 2000. Bereits mit der Einsetzung der Bund-Länder-Kommission im August 2000, spätestens mit dem Auftritt des Kanzlers war der Verbotszug nicht mehr aufzuhalten. In Anbetracht ihres selbst auferlegten Erwartungs- und Handlungsdrucks wäre ein Verbotsverzicht, sei es aus rechtlichen oder praktischen Gründen, als Niederlage der Politik, als Resignation vor „den Rechten“ empfunden worden. Weder Zweck- noch Rechtmäßigkeit eines Verbots wurden ausreichend geprüft. Ersteres war Aufgabe aller politisch Beteiligten, letzteres oblag vorrangig den Exekutivorganen. Ihnen, den Innenministerien von Bund und Ländern, lastet die Hauptschuld am Verbotsdilemma an. Nur sie konnten ausreichend Kenntnis von der Unterwanderung der NPD und der daraus resultierenden problematischen Beweislage haben. Daß sie, statt mäßigend auf die Verbotsdiskussion einzuwirken, diese gar noch vorantrieben, ist makaber. Anmaßend ist dagegen die Strategie der Antragsteller, das Bundesverfassungsgericht nur nebenbei, scheibchenweise und unzureichend über ihre Beobachtungsmethoden informieren zu wollen. Ein Verbot ist ein gravierender Eingriff in die Parteifreiheit; er verlangt daher ein Höchstmaß an Transparenz. Diese unterminierten die Antragsteller durch ihre V-Leute wie durch ihren Vorschlag eines In-camera-Verfahrens. Selbst eine vollständige Enttarnung der V-Leute – das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung klargemacht – konnte das Verfahren nicht retten. Folglich laufen alle Annahmen fehl, Verbotsanträge ohne V-Mann-Belege wären erfolgreich gewesen. Das Verfahren scheiterte primär an der Präsenz der V-Leute in den Vorständen der NPD, nicht an der in den Anträgen. Hierin liegt die eigentliche Crux. Der Staat hätte aus Gründen der Rechtmäßigkeit entweder auf Spitzel in den NPD-Führungsebenen oder auf das Stellen der Anträge verzichten müssen. Bereits ein Auslassen einschlägiger Parteiideologen, wie Frenz und Holtmann, in den Anträgen hätte den Staat in Erklärungsnöte gebracht und die V-Mann-Aktivitäten offenbart. Ein noch peinlicheres Szenario

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wäre die Enttarnung der Spitzel durch die NPD vor Gericht gewesen. Daher ziel(t)en Vorschläge nach überarbeiteten Anträgen gleichfalls ins Leere. Dann kann der Staat seine Ermittler der Partei gleich nennen. Verlierer des Verfahrens ist die streitbare Demokratie. Ihr ohnehin lädiertes Ansehen hat ob der Stümperei der Verfassungsschützer weiteren Schaden genommen. Durch die Karlsruher Entscheidung ist sie ihres schärfsten Mittels, des Parteiverbots, zwar nicht beraubt, die Anforderungen an seinen Gebrauch sind jedoch wesentlich verschärft worden. Staatliche Beobachtung schließt ein Parteiverbotsverfahren auch zukünftig nicht aus, erschwert es aber. Vorverlagerung und Abwehrbereitschaft, neben der Wertgebundenheit die tragenden Säulen der bundesrepublikanischen Demokratieschutzkonzeption, stehen somit in einem latenten Spannungsverhältnis. Die Lehren aus dem Verfahren: 1. Ein Verbotsantrag gegen eine politisch isolierte, bedeutungslose Partei verbietet sich aus Gründen der Zweckmäßigkeit, gegen eine vom Staat auf Führungsebene stark unterwanderte Partei aus Gründen der Rechtmäßigkeit. 2. Die Verfassungsschutzorgane von Bund und Ländern bedürfen dringender Reformen hinsichtlich Anzahl, Struktur, Aufgabenteilung und Absprache. 3. Eine Verlagerung des Kampfes gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen auf die politische Ebene ist gefragter denn je. Die überfällige Reform des Verfassungsschutzes ist bisher ausgeblieben. Offensichtlich ist den Verbotsstreitern der Erhalt der Behördenstrukturen wichtiger als ein Verbot der NPD. Angesichts des Wahlerfolges der NPD bei den sächsischen Landtagswahlen wäre die Forderung eines NPD-Verbots zu diesem Zeitpunkt zwar nicht zweckmäßiger, wohl aber nachvollziehbarer gewesen als im Jahre 2000. Nur: Die Verbotsbefürworter haben sich zweier Mittel selbst beraubt: dem des Verbots (durch die erhöhten Anforderungen) und dem der Verbotsdrohung (ohne realistische Verbotschancen wirkungslos). Gerade die NPDVerbotsdiskussion Ende der sechziger Jahre hat gezeigt, daß die Drohung oft wirksamer ist als das Verbot selbst, nicht aber demokratisch. Die NPD wird – vor allem in den neuen Bundesländern – den einen oder anderen Achtungserfolg verzeichnen, sich aber nicht in den Länderparlamenten etablieren können. Erstens verfügt die NPD nach wie vor lediglich über ein marginales Stammwählerreservoir – allenfalls in der Sächsischen Schweiz und in Vorpommern bestehen Ansätze gesellschaftlicher Verwurzelung. Zweitens ist der Pakt mit der DVU ein reines, in erster Linie vom Erfolg zusammengehaltenes Zweckbündnis. Freys Haltung zur NPD ist bezeichnend. Während er in Zeiten, in denen die NPD dahinvegetierte, Distanz zu ihr wahrte, ging er nach der sächsischen Landtagswahl bereitwillig auf Voigts Offerte ein, unterwarf sich der ehemaligen Konkurrentin beinah. In den Reihen der Nationaldemokraten dürfte Freys Zick-Zack-Kurs nicht auf vorbehaltlose Resonanz stoßen. Darüber hinaus ist Voigts Strategie eine Gratwanderung, sein Bündniskonzept ein spannungsge-

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ladenes: auf der einen Seite Kräfte des neonationalsozialistischen Spektrums, auf der anderen Seiten die in diesen Kreisen als „Systempartei“ verrufene DVU. Erstere zufrieden zustellen, verlangt von der NPD eine aggressive, verfassungsfeindliche Agitation; um Protestwählerpotential abzuschöpfen und damit den Pakt mit der DVU nicht zu gefährden, muß sie – wie im sächsischen Wahlkampf – „Kreide fressen“. Bei der Bekämpfung des politischen Extremismus helfen weder Gleichgültigkeit noch Hysterie weiter. Vielmehr ist eine nüchterne Auseinandersetzung geboten. Eine solche fehlte im Jahre 2000. Die Diskussion um ein NPD-Verbot hat gezeigt: Der politische Extremismus verlangt Wachsamkeit; zuviel Aufmerksamkeit nutzt ihm allerdings eher. Es bleibt die Hoffnung, die Politik trägt dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit künftig mehr Rechnung, denn trotz des NPD-Erfolges in Sachsen deutet nichts auf eine Gefahr für die zweite deutsche Demokratie. Daher dürfte ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD unterbleiben. Das wäre gut so!

Die Partei der Republikaner im Wandel der Zeit Eine extremistische Partei? Von Ralf Grünke

1. Einleitung In der Nacht zum 27. November 2005 erliegt Franz Schönhuber im Alter von 82 Jahren einer Lungenembolie. Nur acht Wochen vorher hatte er sich bei einer Nachwahl im Wahlkreis 160 (Dresden I) als Ersatz für die verstorbene NPDBundestagskandidatin und frühere sächsische REP-Landesvorsitzende Kerstin Lorenz dem Wählervotum gestellt. Vor diesem Hintergrund beschert der Tod ihres bekanntesten Bundesvorsitzenden den schon in Vergessenheit geratenen Republikanern (REP) flächendeckend Erwähnung in den deutschen Medien. Nahezu einhellig ordnen Meldungen die REP dem Rechtsextremismus zu. Die Partei gilt häufig als extremistisch. Diesen Vorwurf sucht sie mit Abgrenzungsbeschlüssen gegenüber NPD und DVU sowie Beteuerungen der Zugehörigkeit zum demokratischen Spektrum zu begegnen. Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit die Einstufung der REP als extremistisch gerechtfertigt ist. Berücksichtigt wird dabei die Entwicklung der Partei seit ihrer Gründung. Einer Bestimmung des Extremismusbegriffs folgt, jeweils getrennt nach Amtsperioden der für die Ausrichtung der Partei prägenden Vorsitzenden (Franz Handlos, Franz Schönhuber, Rolf Schlierer), die Untersuchung dreier Aspekte, die für eine mögliche Kennzeichnung der REP als extremistisch zweckdienlich sind. Erstens gilt es, die Programmtexte der Republikaner auf extremistische Inhalte zu überprüfen. Zweitens läßt das Verhältnis der REP mit extremistischen Personenkreisen und Organisationen, insbesondere mit rechtsextremistischen Parteien wie der NPD oder DVU, Rückschlüsse auf die Nähe der REP zum Extremismus zu. Drittens leistet die Einbeziehung der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten einen Beitrag zur Einordnung der REP in das politische Spektrum.

2. Extremismusbegriff Hinderlich für die Vergleichbarkeit der Ergebnisse dieses Beitrags mit denen themenverwandter Arbeiten ist das uneinheitliche Verständnis des Begriffs Ex-

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tremismus. In der wissenschaftlichen Diskussion herrscht ein heilloses Durcheinander unterschiedlicher Definitionen. Mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß der demokratische Verfassungsstaat und die sich durch ihn geschützt wissende freiheitlich-demokratische Grundordnung als „Widerpart des politischen Extremismus“1 zu gelten haben. Einzelne Autoren befürchten, die begriffliche Gegensätzlichkeit des Extremismus zum demokratischen Verfassungsstaat genüge nicht zur Schaffung einer nutzbaren Definition. Gero Neugebauer argumentiert gar, „daß das Extremismuskonzept wegen seiner Eindimensionalität und seiner Fixierung auf den demokratischen Rechtsstaat der Komplexität der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kaum gerecht wird“.2 Allerdings sind wissenschaftliche Modelle und Termini grundsätzlich höchstens dazu geeignet, den jeweiligen Untersuchungsgegenstand wirklichkeitsnah abzubilden. Sie erheben nicht den Anspruch, jeden Winkel der Wahrnehmungsrealität vollständig zu erfassen. Insofern hängt Neugebauer einem Wissenschaftsideal an, welches sich weigert, das Kind beim Namen zu nennen, um ja nicht die facettenreiche Persönlichkeit von Kindern durch schlichte Namensnennung zu verschleiern. In der Praxis verschließt man sich so dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, der um die komparative Kategorisierung gesellschaftlicher Phänomene nicht umhin kommt. Für Uwe Backes und Eckhard Jesse sind bei der Entscheidung über die Anwendbarkeit des Extremismusbegriffs auf einen Untersuchungsgegenstand in der Regel zwei Merkmalklassen zu berücksichtigen: „1. Die Klasse der Merkmale, die ein politisches Phänomen als ,extremistisch‘ ausweisen – sie gelten für ,rechte‘ und ,linke‘ Ausprägungen gleichermaßen. 2. Die Klasse der Merkmale, die ein extremistisches Phänomen als rechts- oder linksgerichtet definieren.“3 Der Vorwurf des Linksextremismus wird gegenüber den REP nicht erhoben, insofern erübrigt sich die Suche nach Merkmalen der zweiten Klasse. Merkmale der ersten werden in der Literatur rege diskutiert. Harald Bergsdorf beispielsweise nennt folgende drei Charakteristika des Extremismus: den kategorischen Wahrheitsanspruch, die durch Feindbilder bestimmte vehemente Ablehnung abweichender Interessen, Werteannahmen und Lebensformen sowie die mangelnde Akzeptanz des demokratischen Pluralismus.4 Bergsdorfs Definition erschöpft 1 Eckhard Jesse, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Politischer Extremismus in Deutschland und Europa, München 1993, S. 11. 2 Gero Neugebauer, Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz., Bonn 2000, S. 13. 3 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 58. 4 Vgl. Harald Bergsdorf, Extremismusbegriff im Praxistest: PDS und REP im Vergleich, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 14, Baden-Baden 2002, S. 62.

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sich nicht in einer simplen Verneinung des demokratischen Verfassungsstaates, sondern gründet sich auf aktiv formulierte Kennzeichen und kommt dem von Backes geforderten Zugang zum Extremismusbegriff entgegen. Dieser kritisiert Definitionsansätze, die lediglich in einer Negativierung unverzichtbarer Bestandteile der demokratischen Verfassungsordnung bestünden. So würde kein scharfes Bild eines tatsächlichen Phänomens sichtbar.5 Stattdessen entwickelt Backes als definitio ex positivo6 einen Indizienkatalog mit folgenden Elementen7: (1) Absolutheitsansprüche: Der Extremismus beanspruche, ideologische Grundannahmen auf objektiv wahre und unangreifbare Erkenntnisse über das Wesen der Welt stützen zu können.8 Über die Subjektivität der Werte und den daraus resultierenden Wertepluralismus setze sich der Extremismus hinweg und reklamiere für sich einen privilegierten Zugang zur Wahrheitserkenntnis, teils in Form einer offensiven Verkündigung, teils defensiv als vorausgesetzte Generalperspektive.9 (2) Dogmatismus: Der Dogmatismus verknüpfe „axiomatische Setzungen“10 zu einem geschlossenen System, welches sich durch Immunität gegenüber empirischer Überprüfbarkeit auszeichne. Dabei spiele es keine Rolle, inwieweit einzelne ideologische Annahmen verifizierbare Einsichten verkörperten; entscheidend sei die Haltung der dogmatischen Verhärtung.11 (3) Utopismus und kategorischer Utopie-Verzicht: Der Extremismus beabsichtige, an der institutionellen Kanalisierung des Verfassungsstaates vorbei „Veränderungen zu blockieren oder aber sie in Richtung auf ein bestimmtes Fernziel zu beschleunigen“.12 (4) Freund-Feind-Stereotype: Wenn eigene axiomatische Setzungen als absolut und unbedingt wahr gälten, müßten Abweichungen folglich als absolut und unbedingt falsch angesehen werden. Dies führe zu einer Lagerbildung, bei der sich der Extremismus von irregeführten, einer falschen Lehre anhängenden Feinden umgeben sähe.13 5 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten – Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 87. 6 Vgl. ebd., S. 103–105. 7 Backes’ Indizienkatalog variiert bezüglich einzelner Punkte in diversen Publikationen; vgl. Uwe Backes/Patrick Moreau, Die extreme Rechte in Deutschland: Geschichte – gegenwärtige Gefahren – Ursachen – Gegenmaßnahmen, München 1993, S. 10. 8 Vgl. Backes (FN 5), S. 298. 9 Vgl. ebd., S. 299. 10 Ebd., S. 301. 11 Vgl. ebd., S. 301 f. 12 Ebd., S. 302. 13 Vgl. ebd., S. 305.

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(5) Verschwörungstheorien: Unfähig, „die Realität in ihrer Komplexität wahrzunehmen“14, flüchte sich der Extremismus in Konspirationstheorien, die das eigene Weltbild oft völlig bestimmten. Solche Theorien gingen häufig davon aus, daß eine kleine Gruppe von Machtinhabern oder Medienmachern Menschen bewußt für eigene Zwecke manipuliere, mißbrauche oder von der Wahrheitsfindung abhalte. Da Extremisten sich dieser Manipulation jedoch zu entziehen glaubten, entstünde ein „Gefühl intellektueller Überlegenheit“15 sowie ein gestärktes Sendungsbewußtsein. (6) Fanatismus und Aktivismus: Von Fanatismus sei die Rede, „wenn jemand von einer bestimmten Sache ,besessen‘ ist, sich leidenschaftlich dafür einsetzt, ihr ein derartiges Gewicht beimißt, daß vieles andere liegenbleibt, der Betreffende alle verfügbare Energie für etwas aufbietet, ,Kosten und Mühen‘ nicht scheut, sein Ziel unbeirrbar verfolgt, ohne Kompromisse mit sich selbst oder anderen zu schließen; ein hohes Maß emotionaler Teilhabe investiert und in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich ist“.16 Dies führe meist zu einem zügellosen Aktivismus, da aus Sicht des Extremisten die eigenen Exklusiverkenntnisse dringend in Aktion umgesetzt werden müßten. Dieser Ansatz von Backes überzeugt durch seine Handhabbarkeit sowie inhaltlich umfassende Ausrichtung und erscheint für die Fragestellung dieses Beitrags zweckdienlich. Daher dienen die genannten Kriterien für die Prüfung von Programmaussagen der REP auf extremistische Inhalte.

3. Parteivorsitz Franz Handlos (1983–1985) Das „Grundsatzprogramm der Republikaner“17 wird auf dem ersten Bundeskongreß der Partei am 26. November 1983 in München verabschiedet und kommt als synkretistisches Sammelsurium politischer Strömungen und Forderungen daher. In den 50 Textseiten finden sich Forderungen nach erweiterten direktdemokratischen Verfassungselementen (wie sie auch von den Grünen erhoben werden), ein eindeutig konservatives Familienbild sowie eine betont soziale, wenn nicht gar sozialdemokratische Behinderten- und Seniorenpolitik. Nach dem Programm von 1983 zu urteilen, befinden sich die REP während ihrer Gründungsphase auf der Suche, keinesfalls auf einem extremistischen Weg. Absolutheitsansprüche sucht man im Gründungsprogramm ebenso vergebens wie Dogmatismus. Eindeutige Wertebekenntnisse, beispielsweise im Bereich der Familienförderung, lehnen sich sprachlich an Formulierungen des Grundgeset14

Ebd., S. 306. Ebd., S. 309. 16 Ebd. 17 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Parteiprogramm, verabschiedet auf dem Bundeskongreß am 26. November 1983 in München. 15

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zes an und dringen nie in den Definitionsrahmen des Dogmatismus ein. Zwar sehen sich die REP aufgrund ihrer restriktiven Abtreibungspolitik in Opposition zu allen anderen Parteien, reklamieren hierbei allerdings keinen privilegierten Zugang zur Wahrheitserkenntnis, sondern lediglich mehr Mut zu politischer Konsequenz. Die programmatische Schwerpunktlegung auf die deutsche Wiedervereinigung ist mit dem Gründungsmoment der REP zu erklären, der als Reaktion auf den Milliardenkredit an die DDR gesehen werden muß. Dabei wird die Wiedervereinigung als dringende, aber geduldige Zukunftsperspektive formuliert, nicht als aggressiver, fanatischer Kampfruf. Dogmatischer Nationalismus kann daraus nicht abgeleitet werden. Im Gegenteil beklagen die REP den „nationalstaatlichen Egoismus“, welcher der europäischen Einigung im Wege stünde. Die Ziele der neugegründeten Partei werden so artikuliert, daß eine Einschätzung als bestenfalls hehr und schlimmstenfalls realitätsfern gerechtfertigt ist (wie dies in Grundsatzprogrammen von Parteien nicht selten der Fall ist). Es heißt, die REP wollten „insbesondere der jungen Generation in einer Zeit der Angst Geborgenheit, Lebenssinn, Mitmenschlichkeit und Solidarität geben“. Auch erhofft sich die Partei eine Direktwahl des Bundespräsidenten ohne Wahlkampf. An keiner Stelle deutet das Programm den Marsch am Verfassungsstaat vorbei zur Umsetzung träumerischer Ideal- und Wunschvorstellungen an; das extremistische Merkmal des Utopismus und kategorischen Utopie-Verzichts läßt sich nicht identifizieren. Die REP gebärden sich in ihrem Münchener Programm derart distanziert und mißgünstig gegenüber etablierten Parteien, der Staatsverwaltung, den Medien sowie Ausländern, daß zumindest teilweise von Feindbildern gesprochen werden kann. Die etablierten Parteien teilten „die staatlichen Ämter unter ihren Anhängern“ auf und handelten „damit nur gleichsam noch als Stellenvermittler für öffentliche Pfründe“. Es sei nicht hinnehmbar, daß eine „elitäre Minderheit“ aus Medienmachern und Kulturgestaltenden „sich gegenseitig Aufträge und Preise zuspielt und ihre Geschmacksrichtung der Bevölkerung als kulturelle Leitlinie aufoktroyiert“. Die „Ausländerfrage“ sei längst zum „Ausländerproblem“ geworden – „eines der folgenschwersten Probleme für unsere Gesellschaft“. Während spätere Programme an die schon 1983 artikulierten Vorbehalte anknüpfen (insbesondere an die xenophoben Ansätze), sind hier noch keine Freund-FeindStereotype im Sinne einer von axiomatischen Setzungen ausgehenden Lagerbildung erkennbar. Verschwörungstheorien tauchen im Programmtext nicht auf. Insgesamt ergibt sich das Bild eines ideologisch uneinheitlichen Programms mit starker Neigung zu einem rechtskonservativen Profil, aber ohne Extremismusbehaftung. Eine Nähe zu rechtsextremistischen Organisationen oder Parteien läßt sich unter der Führung von Handlos kaum beobachten. Im Grundsatzprogramm nehmen die REP Stellung gegenüber Extremisten: „Wir werden kämpferisch diese Republik verteidigen und werden es nicht zulassen, daß dieses Land in die

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Hände von Extremisten fällt.“ Wenige Autoren vermuten jedoch, es seien einige Anhänger der NPD am Gründungskongreß der REP anwesend gewesen.18 Eine aktive Einladung an Vertreter der NPD oder ähnlich extremistische Gruppierungen wird dem Tagungspräsidium nicht unterstellt. Geworben hatten die Parteigründer vielmehr um die Gunst enttäuschter Unionsanhänger (insbesondere des Wehrpolitischen Arbeitskreises der CSU) sowie der Konservativen Aktion, der Bayernpartei (BP), der Aktionsgemeinschaft Vierte Partei, der Bürgerpartei, des Deutschlandrates und der Vertriebenenverbände.19 Mehrheitlich stimmen die Autoren wissenschaftlicher Veröffentlichungen darin überein, daß die REP vor dem ersten Führungswechsel nicht als extremistische Partei zu verstehen sind. Armin Pfahl-Traughber stuft sie in besagter Phase weder als „Zusammenschluß von rechtsextremen Kräften“20 noch als rechtsextreme „Sammelpartei im engeren Sinne“21 ein.22 Übereinstimmend erläutert Steffen Kailitz, bei den REP handele es sich „nicht um eine genuin rechtsextremistische Partei“. Handlos habe „eine bundesweit organisierte Partei [. . .], die sich programmatisch kaum von der CSU unterscheiden sollte“23, angestrebt. Georg Paul Hefty sieht in den REP unter Handlos „lediglich eine kleinbürgerliche Partei rechts der CSU und CDU“24, Katharina Behrend eine „AntiStrauß-Partei mit dem Bestreben, unzufriedene Konservativ-Nationale auch über die CSU hinaus anzusprechen“25. Eckhard Jesse bescheinigt den REP vor der 18 Vgl. Richard Stöss, Die „Republikaner“: woher sie kommen; was sie wollen; wer sie wählt; was zu tun ist, 2. Aufl., Köln 1990, S. 20; Eckhard Fascher, Modernisierter Rechtsextremismus: Ein Vergleich der Parteigründungsprozesse der NPD und der Republikaner in den sechziger und achtziger Jahren, Berlin 1994, S. 104. 19 Ebd. – Die stärkste der erwähnten Kleinparteien, die separatistische Bayernpartei, lehnte laut ihrem heutigen Landesgeschäftsführer Hans Eberle jegliche Zusammenarbeit mit den REP ab; vgl. Hans Eberle, Telefonat mit dem Autor vom 24. Mai 2005. 20 Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus. Eine kritische Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung, Bonn 1993, S. 33. 21 Ebd. 22 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Bernd Neubacher, NPD, DVU-Liste D, Die Republikaner. Ein Vergleich ihrer Ziele, Organisationen und Wirkungsfelder, Köln 1996, S. 61; Britta Obszerninks, Nachbarn am rechten Rand: Republikaner und Freiheitliche Partei Österreichs im Vergleich. – eine handlungsorientierte Analyse, München 1999, S. 40; Stephan Thomczyk, Der dritte Etablierungsversuch der Republikaner nach 1994, Konstanz 2001, S. 184; Carmen Everts, Politischer Extremismus: Theorie und Analyse am Beispiel der Parteien REP und PDS, Berlin 2000, S. 204 f. 23 Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004, S. 48. 24 Georg Paul Hefty, Fünfzig Jahre Lufthoheit über den Stammtischen, in: HannsSeidel-Stiftung e. V. (Hrsg.), Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU – 1945–1995, München 1995, S. 405; vgl. Pfahl-Traughber (FN 20), S. 33; vgl. ders., Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München 2000, S. 31. 25 Katharina Behrend, NPD – REP: Die Rolle nationalistischer Bewegungen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel von NPD und Republikanern im historischen Vergleich, Regensburg 1996, S. 119.

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durch Schönhuber betriebenen Radikalisierung eine „konservative Linie“26. Eckhard Fascher hingegen betrachtet zwar die REP unter Handlos vorrangig als „Anti-CSU-Partei“27, meint aber im Hinblick auf den Gründungskongreß im November 1983, der „ideologische Kern des beschlossenen Parteiprogramms und der Parteitagsreden unterschied sich nicht von dem anderer rechtsextremer Parteien“.28 Richard Stöss will im Muster des Wechsels von Handlos und REPMitbegründer Ekkehard Voigt von der CSU zu den REP („weil sie ihre politischen Anliegen in den Herkunftsparteien nicht hinreichend verwirklichen konnten“29) eine gewisse Parallelität zur Konvertierung zu rechtsextremen Parteien erkennen. Andreas Albes meint gar, die REP hätten „an der Grenze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“30 operiert. Die REP unter Handlos sind nicht als extremistische, sondern als rechtskonservative Kraft mit nicht zuzuordnenden programmatischen Farbtupfern zu betrachten. Einen unmittelbaren Bezug zum Extremismus herzustellen würde unangemessen phantasiebeflügelte Bemühungen oder dem allgemeinen Sprachverständnis politischer Ordnungsbegriffe fremde Maßstäbe voraussetzen.

4. Parteivorsitz Franz Schönhuber (1985–1994) Franz Schönhubers Parteivorsitz beeinflußt die programmatische Meinungsbildung der REP gravierend. Am 16. Juni 1985 wird nicht nur Schönhuber im Rahmen eines Bundesparteitages in Siegburg unangefochten zum Bundesvorsitzenden gewählt, die Delegierten verabschieden auch das Siegburger Manifest, welches auf wenigen Seiten die Standpunkte der Partei als eine Art Kurzprogramm formuliert.31 Absolutheitsansprüche erscheinen darin nicht, selbst wenn die REP hervorheben, sie ließen sich – wohl im Gegensatz zu anderen Parteien – „nicht in eine ideologische Zwangsjacke stecken“. Das Manifest bedient sich gängiger Formulierungen rechtsextremistischer Propaganda, spricht bereits in der Präambel von „Überfremdung“, „nationaler Interessenwahrung“ und dem „Ausverkauf deutscher Interessen“. Sprachlich unterscheidet sich das

26 Eckhard Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., Baden-Baden 1997, S. 182. 27 Fascher (FN 18), S. 106. 28 Ebd., S. 105 (Hervorhebung durch den Autor). 29 Richard Stöss, Ideologie und Strategie des Rechtsextremismus, in: Schubarth/ ders. (FN 2), S. 111; vgl. ebd., S. 121. 30 Andreas Albes, Die Behandlung der Republikaner in der Presse, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 10. 31 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Siegburger Manifest, verabschiedet auf dem Bundesparteitag am 16. Juni 1985 in Siegburg.

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Manifest kaum von damaligen Programmtexten der NPD.32 Bestimmte axiomatische Annahmen wollten die REP „weder aus opportunistischen noch populistischen Erwägungen in Frage“33 stellen. Eine Neigung zum Dogmatismus wird deutlich sichtbar. Die Programmautoren betonen, daß auch Fernziele wie die Wiedervereinigung „im Einklang mit Grundgesetz und höchster Rechtsprechung“ anzustreben seien, von Utopismus und kategorischem Utopie-Verzicht kann folglich keine Rede sein. Inwieweit die REP das Grundgesetz tatsächlich als beständigen Handlungsrahmen betrachten, ist angesichts der Aussage fraglich, Deutschland sei derzeit keine „normale Nation“ und befände sich innenwie außenpolitisch „dauernd in einem Ausnahmezustand“. Die Vorbehalte gegenüber Staatsverwaltung und Ausländern werden aus dem Gründungsprogramm übernommen, ohne sie zu Freund-Feind-Stereotypen zu verhärten. Das beschriebene Drohszenario, in dem die Vereinten Nationen und Siegermächte die deutsche „Fremdbestimmung“ verwalten, mit Waffengewalt die deutsche Souveränität verhindern und die deutsche Geschichte kriminalisieren, berechtigt zum Vorwurf von Verschwörungstheorien. Die Leidenschaft, mit der die REP die Forderung nach der deutschen Wiedervereinigung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Milliardenkredit an die DDR als Anstoß der Parteigründung erheben, grenzt an Fanatismus. Die Verabschiedung des Manifests muß als wesentlicher Schritt der Partei hin zum Extremismus verstanden werden. Sprachliche Anleihen aus der rechtsextremistischen Rhetorik sind vermutlich bewußt gewählt, um so neben ideologisch eher ungebundenen Protestwählern das rechtsextremistische Potential anzusprechen. Wie schon das Siegburger Manifest führt das Bremerhavener Programm aus dem Jahr 198734 weg von Handlos’ programmatischer Gründungsintention. Die Absolutheitsansprüche der REP treten immer offener zutage. Der gültigen Geschichtsschreibung sprechen sie die Objektivität ab, erheben aber selbst exklusiv Anspruch auf die Erkenntnisfähigkeit hinsichtlich geschichtlicher Ereignisse. Zeitgeschichtliche Berichte in den Medien sollten sich „an den Fakten orientieren und nicht an nachträglichen Interpretationen aus heutiger Sicht“. Insgesamt herrsche eine Verwahrlosung der geistigen und politischen Kultur, von der sich die REP ausnehmen. Die dogmatische Verteidigung der deutschen Volksgemeinschaft und deren Lebensraum erscheint mehrfach im Programm. Als Dogmatismus mag ebenfalls die spezifische Rollenzuteilung der Frau gewertet werden. Aufgabe der Frau sei es, „durch Wärme und Hingabe ein Klima der Geborgenheit zu schaffen, in welchem Familie und Kinder gedeihen können“. Berufstätige Mütter litten „oft an dieser Mehrfachbelastung und Selbstüberfor32 Verantwortlich für die gedruckte Fassung des Manifests zeichnet Harald Neubauer, selbst ehemaliger NPD-Funktionär. 33 Die Republikaner (FN 31). 34 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Parteiprogramm, verabschiedet auf dem Bundesparteitag im Mai 1987 in Bremerhaven.

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derung“. Das Hauptanliegen ihres Programms sehen die REP in einer „nationalen Selbstbesinnung und geistig-moralischen Erneuerung“, was durch eine „Versachlichung von Erziehung, Bildung und Information“ erreicht werden soll. Ein gesetzlich geregelter Weg zur Umsetzung ist kaum angedeutet; artikuliert werden Appelle und Utopismus. Die xenophobe Grundhaltung der Vorgängertexte setzt sich im Bremerhavener Programm fort. Die REP setzten sich „für das Lebensrecht und die Menschenrechte aller Deutschen im Sinne des Grundgesetzes“ ein, als unterschiede die deutsche Verfassung in Fragen von Lebensrecht und Menschenrechten nach Deutschen und Ausländern. Freund-Feind-Stereotypen kommen ebenfalls zum Vorschein, als stereotypes Feindbild fungieren die Siegermächte. Detailfreudig ausgebreitet sind in diesem Zusammenhang die bereits im Vorgängertext angeklungenen Verschwörungstheorien. Die Deutschen in der Bundesrepublik wie in der DDR würden systematisch einer „gegenläufige[n] Umerziehung“ unterzogen: „Die Kriegspropaganda der Siegermächte ist in unsere Geschichtsbücher eingegangen, und ihre Übertreibungen und Fälschungen müssen von der Jugend weitgehend geglaubt werden, da eine objektive Geschichtsschreibung immer noch nicht in vollem Umfang ermöglicht wird.“ Während die europäische Einigung sowie die deutsche Wiedervereinigung im Gründungsprogramm als langfristige Ziele definiert werden, kommen aus dem Drängen der REP im Jahr 1987, die Umsetzung des Wiedervereinigungsprozesses „ohne Aufschub in Angriff nehmen“, Fanatismus und Aktivismus zum Ausdruck. Mit der Verabschiedung des Bremerhavener Programms sind die REP mit beiden Beinen im Extremismus angekommen. Die Autoren beteuern einerseits ihre Grundgesetztreue, machen andererseits aber an vielen Stellen keinen Hehl aus ihrer extremistischen Gesinnung. Das Rosenheimer Programm von 199035 spielt für die weitere programmatische Entwicklung der REP eine wichtige Rolle. Zum einen stellt es das Ende der bisherig zu beobachtenden sprachlichen Radikalisierung dar, zum anderen dient es als Gerüst für die nächsten beiden Programmentwürfe aus den Jahren 1993 und 1996, welche lediglich einzelne Kapitel des Textes von 1990 novellieren. Während das gesamte Land mittels Infiltration und Medienmanipulation von der „feindlichen Kriegspropaganda“ getäuscht werde, beanspruchen die REP für sich die Fähigkeit, verläßliche Wahrheiten zu erkennen und zu fördern. Das Extremismuskriterium der Absolutheitsansprüche ist erfüllt. Auch fordern die REP eine „ideologiefreie und leistungsfähige Schule und Hochschule“, behalten sich aber anscheinend das Recht vor, Ideologiefreiheit zu definieren. Schüler müßten zur „geschichtlichen Wahrheitsfindung“ geführt werden. Die dogmatischen Glaubenssätze der REP „Unser Programm heißt Deutschland“ und „Wir bekennen uns zu Deutschland“ suggeriert eine willenseinheitliche 35 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Parteiprogramm, verabschiedet auf dem Bundesparteitag am 13./14. Januar 1990 in Rosenheim.

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Volks- und Schicksalsgemeinschaft, deren Existenz im Kern bedroht sei. Es gelte, „Deutschland wiederherzustellen“. Zerstört sei allerdings nur die „äußere Gestalt Deutschlands“, denn der mystische Volkeswille, Deutschland selbst eben, sei „nicht zu vernichten“. Wiederholt erscheint im Programm der Begriff Bekenntnis bzw. bekennen – axiomatische Voraussetzungen bestimmen den Dogmatismus des Textes. Die REP sehen sich dazu befähigt, Ereignisse und Umstände zu deuten sowie allgemeingültig zu interpretieren: „Wir Republikaner deklarieren das Ende der Nachkriegszeit.“ Den „beiden Hegemonialmächten USA und UdSSR“ stellen sie sich entgegen und fordern ein neutralistisches Großdeutschland. Utopische Fernziele formulieren die REP als unmittelbar nächste Handlungsschritte, nur teilweise auf eine verfassungsrechtliche Gangart achtend. Als vorrangiges Feind-Stereotyp treten erneut die Alliierten in den Vordergrund, welche „hinter dem Schild freundschaftlicher Patenschaft ein teils offenes, teils verdecktes Besatzungsrecht“ ausübten. Die „Altparteien“ seien darin behilflich, „der feindlichen Kriegspropaganda mit den Mitteln der Umerziehung und Erziehung, Infiltration und Medien“ Vorschub zu leisten. Verschwörungstheorien werden klar sichtbar. In die still vereinbarte Riege der Verschwörung reiht sich aus Sicht der REP neben den Kriegsfeinden und etablierten Parteien auch der Verfassungsschutz ein, der „zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht“ werde. Schließlich förderten die Medien die Verschwörung gegen die nationale Sache im allgemeinen und die REP im besonderen zum Zwecke „einseitiger, ideologischer Beeinflussung“. Als Feindbild dienen die Ausländer, von denen fast ausschließlich im Zusammenhang mit ausländischen Straftätern sowie Möglichkeiten der Ausweisung und Rückführung gesprochen wird. Im Vergleich zum Gründungsprogramm der REP von 1983 ist die starke Betonung der Nation zu einem fanatischen Nationalismus verkommen. Die Wiedervereinigung und der nationale Gedanke überschatten nahezu alle anderen Programmpunkte. Im Anhang findet sich eine Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937 mit dem Hinweis: „Die Deutsche Frage bleibt bis zu einem Friedensvertrag offen!“ Trotz einiger sprachlicher Glättungen, kann das REP-Programm von 1990 eindeutig als extremistisch gewertet werden. Das 1993 in Augsburg verabschiedete Programm36 basiert auf dem Text von 1990 und bietet lediglich Ergänzungen sowie wenige Korrekturen. Es fehlt die 1990 noch vorhandene Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937. Vorangestellt ist dem neuen Programm ein Vorwort des Historikers Hellmut Diwald, der wie folgt auf Johann Gottfried Herder Bezug nimmt: „Völker sind Gedanken Gottes!“ Diwald ergänzt: „Wir sollten Gott weder leugnen noch mißachten.“ So bleibt der Dogmatismus der REP hinsichtlich der Nation im Programm erhalten, das „Lebensrecht des deutschen Volkes“ sei weiterhin bedroht. Selbst wenn das erste Ka36 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Parteiprogramm, verabschiedet auf dem Bundesparteitag am 26./27 Juni 1993 in Augsburg.

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pitel die Beteuerung der Loyalität zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ ausführlicher begründet, alle Kennzeichen des Extremismus finden sich auch im neuen Programmtext. Zunehmend zum Feindbild wird die Europäische Gemeinschaft. Die REP kritisieren den „bürgerfernen EG-Absolutismus“, die Maastrichter Verträge werden als „Staatsstreich von oben“ abgelehnt. Schärfer wird der Ton gegenüber Ausländern. Die „Masseneinwanderung nach Deutschland“ habe eine „Aushöhlung und schleichende Änderung unserer Verfassung“ zur Folge. Straffrei in Deutschland lebende Ausländer müßten fortan „störende national-religiöse Verhaltensweisen“ unterlassen und die „hier geltenden Normen und Verhaltensmuster“ übernehmen. Belastend sei zudem der „ungebremste Asylmißbrauch“. Als Umweltschutzmaßnahme im Programmteil „Umwelt und Energie“ wird das Ende der „Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland“ gefordert. Die REP wenden sich gegen „die Überfremdung der deutschen Sprache und Kultur“ und bedauern die „geistige babylonische Gefangenschaft der Deutschen“ sowie die „Stigmatisierung und Kriminalisierung der gesamten deutschen Geschichte“. Deutschland sei zwar nun „ein souveräner Staat“, die deutsche Einheit aber noch nicht vollendet, da „Ostdeutschland bei der Wiedervereinigung ausgeklammert“ worden sei. Siegermächte und internationale Organisationen hätten nicht aufgehört, Deutschland zu instrumentalisieren und zu diskriminieren. Die REP halten an ihren Verschwörungstheorien fest und haben unverändert eine gegnerische Feindesfront vor Augen. Die Kanzel werde „zur politischen Propaganda und einseitigen Wahlbeeinflussung der Gläubigen mißbraucht“, die „marxistisch indoktrinierte kulturelle Revolution seit 1968“ führe zu „Bildungsschwund“ und ideologischer Festlegung. Unverändert bewegen sich die REP mit ihrem Augsburger Programm im Bereich des Extremismus. Eine glaubwürdige Abgrenzung gegenüber extremistischen Parteien wie NPD und DVU mochte den REP unter Schönhuber nicht gelingen. Anlaß für die Streitereien zwischen Handlos und seinem Amtsnachfolger als Parteivorsitzender waren die Bemühungen Schönhubers, die REP nach rechts zu lenken und frühere Aktivisten von NPD und anderen rechtsextremistischen Organisationen einzubinden. Besonders strittig war die Rolle des ehemaligen NPD-Mitglieds und Mitarbeiters Gerhard Freys Harald Neubauer. Dieser steigt bei den REP 1985 zum Generalsekretär und 1988 zum bayerischen Landesvorsitzenden auf. Durch das Bekanntwerden der NPD-Vergangenheit Neubauers und weiterer REP-Funktionäre gerät die Partei zunehmend unter Handlungsdruck. Um sich nicht länger Vorwürfen der Extremismusbehaftung ausgesetzt zu wissen, verabschiedet der REP-Bundesparteitag am 8. Juli 1990 den Ruhstorfer Beschluß, welcher ehemaligen Mitgliedern von NPD, DVU und anderen extremistischen Gruppierungen den Zugang zu Funktionärspositionen bei den REP versperrt. Der Beschluß gilt allerdings nicht rückwirkend, so daß ehemalige NPD- und DVU-Mitglieder weiterhin ihre Mandate behalten und Funktionen ausüben können. Der Perspektive einer Vertretung im Landtag von Schleswig-Holstein zum

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Trotz lehnen es die REP im Jahr 1993 ab, drei der DVU abtrünnigen Abgeordneten aufzunehmen.37 Inwieweit diese Entscheidung der REP-Parteiführung im Sinne einer ernsthaft verstandenen Abgrenzung gegenüber rechtsextremen Personen und Gruppen zu werten ist oder eher als Versuch, das Verhältnis zu politisch Verbündeten nicht zu gefährden, ist im Nachhinein schwer zu klären. Am 26. August 1994 erscheint eine gemeinsame Presseerklärung von Schönhuber und dem DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey, in welcher sie Übereinstimmungen bei der Ausländerpolitik formulieren und ankündigen, bei Wahlen zukünftig nicht mehr miteinander konkurrieren zu wollen. Daran scheitert schließlich Schönhubers Karriere bei den REP. Die Parteiführung ist mehrheitlich nicht bereit, die Annäherung an die DVU mitzutragen. Das Urteil der Wissenschaft über die REP unter Schönhuber ist nahezu einstimmig. Jesse erläutert, Schönhuber habe nach der Amtsübernahme Reizthemen aufgegriffen, sei akzentuiert populistisch aufgetreten und habe so eine Radikalisierung der Partei zu verantworten.38 Schönhuber habe ein „radikalerer Rechtskurs“39 vorgeschwebt als Handlos, erklärt Kailitz. Personell sowie programmatisch habe eindeutig Schönhuber die REP dem rechtsextremistischen Einfluß geöffnet, bestätigt Carmen Everts.40 Katharina Behrend meint, die REP hätten sich unter Schönhuber allmählich auf den Weg der geistigen Nachfolge der NPD gemacht.41 Unter dem Einfluß Schönhubers habe sich die Partei von einer rechtskonservativen zu einer „rechtsradikalen, populistischen Partei“42 gewandelt, attestiert Bernd Neubacher. Den Vorwurf an die REP, sie seien rechtsextrem, sieht Neubacher als gerechtfertigt an.43 Armin Pfahl-Traughber kommt im Jahr 1993 zu dem Ergebnis, alle Ideologieelemente des Rechtsextremismus fänden sich „im Parteiprogramm, den Äußerungen der wichtigsten Parteifunktionäre und der Parteipresse“44 wieder, wenn auch in „zugegeben verbal entschärfter Form“.45 Später stellt Pfahl-Traughber fest, Schönhuber habe nach seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden die REP als „modernisierte rechtsextremistische Partei mit populistischem Charakter“46 geformt und aus anderen rechtsextremistischen Orga37 Uwe Danker, Rechtsextreme im Schleswig-Holsteinischen Landesparlament – Erfahrungen, Gefahren und Perspektiven, in: Landeszentrale für Politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.), Dem Rechtsextremismus begegnen, Kiel 1995, S. 110. 38 Vgl. Jesse (FN 26), S. 182. 39 Kailitz (FN 23), S. 48; vgl. Thomczyk (FN 22), S. 184. 40 Everts (FN 22), S. 204 f. 41 Vgl. Behrend (FN 25), S. 119. 42 Neubacher (FN 22), S. 61. 43 Vgl. ebd., S. 77. 44 Pfahl-Traughber (FN 24), S. 53 f. 45 Ebd., S. 53. 46 Armin Pfahl-Traughber, Der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945: Zur Entwicklung auf den Handlungsfeldern „Aktion“ – „Gewalt“ – „Kultur“ – „Politik“, in: Schubarth/Stöss (FN 2), S. 89.

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nisationen stammende Personen in führende REP-Parteiämter eingeführt. Die moderateren Formulierungen in den Parteiprogrammen von 1990 und 1993 im Vergleich zum Programmtext von 1987 hält Pfahl-Traughber für eine rein „verbale Revision“47, nicht für einen Richtungswechsel der Partei. Kailitz bestätigt, trotz „moderatem Ton“48 und „Kreide im Mund“49 seien rechtsextremistische Argumentationsgänge unter Schönhuber eindeutig identifizierbar, was gleichermaßen für das Programm aus dem Jahr 1993 gelte. Unzweifelhaft stellt sich die Lage nach Meinung von Richard Stöss dar. Er betrachtet die REP als „eine rechtsextreme Partei, die eindeutig verfassungswidrige Ziele verfolgt“. Die REP unterschieden sich „nach Programmatik und Ziel schließlich kaum von DVU und NPD“.50 Der mehrheitlichen Einstufung der REP als extremistisch entziehen sich wenige Autoren. Zu keiner eindeutigen sprachlichen Festlegung bei der REP wollen sich Eike Hennig, Manfred Kieserling und Rolf Kirchner verpflichten lassen. Ihnen zufolge verweist der Aufstieg der Partei „auf Gebiete der politischen Landkarte, die ideologisch und sozial-räumlich nicht gefestigt demokratisch sind“.51 Eckhard Fascher etikettiert die REP nicht einfach nur als extremistisch, sondern rückt die Partei in die Nähe des Nationalsozialismus. Zwar wiesen die REP im Gegensatz zur NPD keine „aus dem Nationalsozialismus abgeleitete Ideologie“52 auf, zeigten aber u. a. bei der Wirtschaftspolitik und dem Familienbild „deutliche Parallelen zu den Nationalsozialisten“.53 Schönhuber führt die REP heraus aus dem konservativen Spektrum und dem Rechtsextremismus zu. Zwar wäre es unangebracht, den REP für den erwähnten Zeitraum eine ähnlich stark ausgeprägte Extremismusbehaftung zuzuschreiben wie der NPD oder der DVU. Die hier angeführten Beobachtungen rechtfertigen aber die Klassifizierung der REP als extremistisch unter der Führung Schönhubers.

5. Parteivorsitz Rolf Schlierer (seit 1994) Wie schon der Augsburger Text aus dem Jahr 1993 stellt das 1996 in Hannover verabschiedete Programm54 lediglich eine Ergänzung und Überarbeitung des Vorgängertextes dar; diesmal sind die Änderungen noch geringfügiger. Diejeni47

Pfahl-Traughber (FN 24), S. 32. Kailitz (FN 23), S. 48. 49 Ebd., S. 49. 50 Stöss (FN 18), S. 85. 51 Eike Hennig/Manfred Kieserling/Rolf Kirchner, Die Republikaner im Schatten Deutschlands. Zur Organisation der mentalen Provinz, Frankfurt a. M. 1991, S. 10. 52 Fascher (FN 18), S. 182. 53 Ebd., S. 183. 54 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Parteiprogramm, verabschiedet auf dem Bundesparteitag am 6. Oktober 1996 in Hannover. 48

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gen Thesen und Formulierungen, die das Vorgängerprogramm als extremistisch kennzeichnen, sind weitestgehend unverändert 1996 im REP-Programm nachzulesen. Neu ist ein Abschnitt zur Geld- und Währungspolitik, der vor allem Vorbehalte gegen eine europäische Währungsunion begründet. Die REP lehnen die „Einführung der europäischen Einheitswährung [. . .] kategorisch ab“ – eine Haltung, die sich in die feindselige Haltung der Partei der Europäischen Union gegenüber folgerichtig einfügt. Auch 1996 behalten die REP ein Parteiprogramm extremistischen Inhalts. Von Grund auf neu formuliert ist das im Mai 2002 in Künzell beschlossene Parteiprogramm.55 Das bis dato gültige ist ein Ausdruck der Bemühungen Schlierers, seine Partei als seriöse, rechtskonservative Partei zu repositionieren. Seit dem Gründungsprogramm von 1983 handelt es sich um den Programmtext mit den wenigsten als extremistisch angreifbaren Forderungen und Formulierungen. Das Künzeller Programm ist wesentlich kürzer als die Beschlüsse von Augsburg und Hannover, aber auch weniger aussagekräftig. Weiterhin fühlen sich die REP dem Gedanken der Volksgemeinschaft verpflichtet, nämlich dem „Organismus, den das Volk als politische Gemeinschaft bildet, nachdem es sich als Nation seiner Zusammengehörigkeit bewußt geworden ist“. Im Gegensatz zu früheren Programmen überschattet und durchdringt das Schicksalsgewächs Nation jedoch nicht jeden Programmteil. Die Ansprüche auf Gebiete Osteuropas sowie des östlichen Mitteleuropas zur Eingliederung in ein vereintes Deutschland werden fallen gelassen. Die REP verlassen bei den Themenfeldern Volk und Nation – wie in anderen Programmbereichen – den Dogmatismus. Absolutheitsansprüche sucht man ebenso vergebens wie Utopismus und kategorischen Utopismus-Verzicht. Forderungen an die Europäische Union deuten eine gewisse Distanz an, sind aber sachlich formuliert und zeichnen kein Feindbild. Eindeutig bestehen bleiben xenophobe Vorbehalte gegenüber Ausländern und Fremdkulturen. Ganz im Jargon rechtsextremistischer Parteien beklagen die REP „Überfremdung und Masseneinwanderung von Ausländern“. Die „Grenze der Belastbarkeit“ in Deutschland sei überschritten – Ausländer werden folglich grundsätzlich als Belastung gesehen. Dies gilt besonders für „Ausländer aus fremden Kulturkreisen“. Gegen die drohende „multikulturelle Gesellschaft“ bieten die REP eine „Wiederbelebung des deutschen Liedgutes einschließlich desjenigen der Vertreibungsgebiete“ auf. Ziel müsse es zudem sein, die „Zuwanderung von Ausländern zu begrenzen und bestimmte Ausländergruppen in ihre Heimat zurückzuführen“. Im Hinblick auf Ausländer erhalten sich die REP ihre Freund-Feind-Stereotype. Von der Fortsetzung von Verschwörungstheorien kann indes keine Rede sein. Auf die Alliierten wird nicht mehr verbal scharf geschossen, nachgesucht wird lediglich um die „Respektierung der vollen Souve55 Vgl. Die Republikaner/Bundesverband, Parteiprogramm, verabschiedet auf dem Bundesparteitag am 12. Mai 2002 in Künzell.

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ränität Deutschlands“ und gemeinsame „Manöver auf deutschem Boden nur im Falle der Gegenseitigkeit“. Nach dem Künzeller Programm zu urteilen, lauert der Feind nicht mehr hinter jeder Ecke. Von den Medien wird verlangt, die „Manipulation historischer Tatbestände zu volkspädagogischen Zwecken“ zu unterlassen. Fanatismus und Aktivismus sind im aktuellen Programm der REP nicht erkennbar. Das Künzeller Programm der REP liest sich wie eine Sammlung rechtskonservativer Essays. Bezugspunkte zum Extremismus werden ausgemerzt. Eine Ausnahme bilden, wie erwähnt, die nach wie vor stark ausgeprägten fremdenfeindlichen Neigungen rund um das Feindbild Ausländer. Die Partei übernimmt unter der Führung Schlierers die bisherige Beschlußlage bei der Abgrenzung gegenüber extremistischen Organisationen. Den Ruhstorfer Beschluß aus dem Jahr 1990 bestätigt der Bundesvorstand unter der Leitung Schlierers zweimal, zunächst am 18. Juni 1995 als Reaktion auf das „Eisenacher Signal“ und dann am 25. März 1996 als Stellungnahme zur Fortsetzung der „runden Tische“ des extrem rechten Lagers. Abgelöst wird der Ruhstorfer Beschluß erst durch eine Resolution des REP-Bundesparteitages am 27./28. November 2004 in Veitshöchheim, welche die Beteiligung an einer „rechten Volksfront“ ablehnt und gemeinsame Aktivitäten mit der NPD spezifisch ausschließt.56 So eindeutig die Beschlußlage sein mag, so unklar ist deren praktische Anwendung und Gültigkeit. Schlierer traf sich am 17. November 1998 selbst mit dem DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey. Laut Schlierer habe es sich um eine kurze Begegnung gehandelt, deren Bedeutung von geringer Relevanz sei.57 Allerdings kann dem in einer Pressemitteilung verkündeten Ergebnis kaum eine geringfügige Bedeutung zugemessen werden. Dort heißt es, beide Parteivorsitzende hätten sich darauf geeinigt, bei Wahlen „eine unnötige Konkurrenz zwischen Republikanern und DVU zu vermeiden“.58 Während der Amtsführung Schlierers arbeiten REP-Funktionären vereinzelt mit NPD und DVU zusammen, wenn auch ohne Billigung Schlierers. So wehrt sich der Bundesvorstand vehement gegen die Formation eines kommunalen Wahlbündnisses in Dresden mit Anhängern von REP, DVU und NPD. Er schaltet eine Anzeige in der Lokalpresse, um sich vom Nationalen Bündnis Dresden (NBD) zu distanzieren59, und faßt am 28./29. Juni 2003 einen Beschluß, wonach die am NBD 56 Vgl. Die Republikaner, Die Republikaner bekennen sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung und zur Demokratie, Resolution des Bundesparteitages in Veitshöchheim am 27./28. November 2004. 57 Vgl. Rolf Schlierer, Telefonat mit dem Autor vom 24. Mai 2005. 58 Rolf Schlierer, „Vermeidung unnötiger Konkurrenz“, in: Der Neue Republikaner 12/1998, zitiert nach: Thomczyk (FN 22), S. 55. 59 Im Anzeigentext heißt es: „Wir distanzieren uns von dem sog. Nationalen Bündnis Dresden. Diese Gruppierung wird von uns nicht unterstützt und ist für verantwortungsbewußte Patrioten nicht wählbar. Das NBD ist eine Tarnveranstaltung der NPD, mit der wir nichts gemein haben.“ Zitiert aus einem Faksimile der Zeitungsanzeige, abgedruckt in Nation & Europa 54 (2004) H. 7/8, S. 50.

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beteiligten REP-Mitglieder nicht im Auftrag der REP handelten, eine Unvereinbarkeit zwischen einer Mitgliedschaft im NDB und bei den REP bestünde und die Fortsetzung einer Zusammenarbeit mit dem NBD als parteischädigendes, zum Parteiausschluß führendes Verhalten zu werten sei.60 War die Haltung Schlierers zur NPD und DVU während der ersten Jahre seiner Amtszeit ambivalent, ringt er sich zunehmend zu einer konsequenten Abgrenzung durch (auch auf Kosten des Verlusts derjenigen Anhänger, die Vorbehalte gegenüber DVU und NPD aufgeben wollen). Da Schlierer die Gewinnung neuer Mitglieder und Wähler aus dem gemäßigten konservativen Spektrum nicht gelingen will, hat diese Strategie eine fortschreitende Marginalisierung der REP zur Folge. Die Mehrheit wissenschaftlicher Autoren nimmt Schlierer die Wandlung seiner Partei zu einer rechtskonservativen, demokratisch gefestigten Kraft nicht ab. Die verstärkten Bemühungen einer Distanzierung vom Rechtsextremismus seien vergeblich, meint Pfahl-Traughber.61 Zu den politischen Positionen der DVU bestünden „kaum Unterschiede, allenfalls in der Art und Weise der inhaltlich gemäßigteren und seriöser klingenden öffentlichen Präsentation“.62 Die Partei verberge lediglich „ihre rechtsextremistischen Positionen häufig hinter einem seriös-konservativ wirken sollenden Erscheinungsbild“.63 Kailitz erkennt keinen nennenswerten Wandel nach der Amtsübernahme Schlierers: „Der Abgrenzungskurs Schlierers gegenüber der rechtsextremistischen Konkurrenz erwies sich als ebenso wenig konsequent wie der seines Vorgängers.“64 Britta Obszerninks betrachtet den Versuch der REP, sich mittels ihrer moderateren Programmformulierungen als demokratische Partei zu legitimieren, als gescheitert.65 Auf das Treffen zwischen Frey und Schlierer verweisend,66 mahnt Everts zur Skepsis bei der Bewertung der sprachlichen Bereinigungen der REP-Programmtexte.67 Anders bewertet Stephan Thomczyk den „Schlierer-Kurs“. Einen deutlichen Richtungswechsel der REP führt Thomczyk auf die Parteiführung Schlierers zurück.68 Dieser habe gegen parteiinterne Kritiker den Ruhstorfer Beschluß verteidigt und langfristig Koalitionen mit den Unionsparteien angestrebt.69 Thomczyk gemäß legt Schlierer Wert darauf, „potentiellen Wählern die 60 Vgl. Der Republikaner, 7–8/2003, S. Intern 1, zitiert nach BMI (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2003, Berlin 2004, S. 81. 61 Pfahl-Traughber (FN 46), S. 90. 62 Ebd.; vgl. ders. (FN 24), S. 32. 63 Ders., Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 39/ 2000, S. 5. 64 Kailitz (FN 23), S. 51. 65 Vgl. Obszerninks (FN 22), S. 78. 66 Vgl. Everts (FN 22), S. 215. 67 Ebd., S. 246 f. 68 Vgl. Thomczyk (FN 22), S. 124–129. 69 Vgl. ebd., S. 127.

Die Partei der Republikaner im Wandel der Zeit

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Grundgesetztreue der Republikaner zu beweisen“.70 Auch Jesse beobachtet, die Partei versuche unter Schlierer „einen betont national-konservativen Kurs zu steuern, damit sie das Etikett ,extremistisch‘ verliert“.71 Von der aggressivkämpferischen NPD unterscheide sie sich grundlegend.72 Bergsdorf meint: „Stärker als Schönhuber, der die REP inzwischen verlassen hat, versucht Schlierer, seine Partei – gerade im Kontrast zu DVU und NPD – als wohlanständig und gemäßigt zu präsentieren.“73 Eine Bewertung der REP für die Amtszeit Schlierers ist kompliziert. Es sollte wiederum zwischen zumindest zwei voneinander abgrenzbaren Phasen unterschieden werden. Schlierer wird mit einer denkbar knappen Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt, was u. a. auf seine Ankündigung einer strikten Abgrenzung zu NPD und DVU zurückzuführen ist. Jahrelang sieht er sich einer starken internen Opposition gegenüber, die auf eine Zusammenarbeit oder gar einen Zusammenschluß mit Kräften der „alten“ Rechten drängt. Das im Jahr 2002 beschlossene Künzeller Programm, welches sich mit Ausnahme einer rabiaten Fremdenfeindlichkeit von allen Kennzeichen des Extremismus befreit, muß den Schlierer-Gegnern als Kampferklärung gelten. Dies ist auch ein Wendepunkt auf einem beschwerlichen Weg weg vom Extremismus. Rechtsextremistische Wähler und Aktivisten sehen sich durch die REP kaum mehr repräsentiert. Der bemerkenswerte Mitgliederschwund der REP und eine nicht endenwollende Serie von Wahlniederlagen sind Folgen dieser Entwicklung. Daß Schlierer sich nach dem Ausscheiden der REP aus dem baden-württembergischen Landtag 2001 als Parteivorsitzender halten kann, überrascht und frustriert dessen parteiinterne Kontrahenten. Die einflußreichsten Gegner des Schlierer-Kurses verlassen die Partei. Christian Käs tritt 2002 aus der Partei aus.74 Kerstin Lorenz wechselt zur NPD, Frithjof Richter wird aus der Partei ausgeschlossen. Auf innerparteiliche Kritiker und Abweichler reagiert der Parteivorsitzende seit Jahren konsequent mit dem ihm zur Verfügung stehenden Sanktionsarsenal. Der Abgrenzungskurs Schlierers wird zunehmend glaubwürdig.

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Ebd., S. 184. Eckhard Jesse, Politischer Extremismus heute: Islamistischer Fundamentalismus, Rechts- und Linksextremismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 46/2001, S. 4. 72 Vgl. ebd. 73 Bergsdorf (FN 4), S. 63. 74 Christian Käs, E-Post an den Autor vom 14. September 2004; vgl. Gabriele Renz, „Republikaner“ streiten über ihren Kurs: Bundesvorstand enthebt baden-württembergischen Landeschef Käs seiner Parteiämter, in: Frankfurter Rundschau vom 12. Februar 2002. 71

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6. Schlußbetrachtung Bei der Bestimmung der Anwendbarkeit des Extremismusbegriffs auf eine Partei ist ein Grad an Deutungswillkür des Forschers nicht gänzlich auszuschließen. Die Frage, wie viele Kennzeichen des Extremismus eine Gruppe erfüllen muß, um als extremistisch zu gelten, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Jesse erklärt hierzu: „Während feststeht, daß Frankfurt am Main auf dem 50. nördlichen Breitengrad liegt (und auf dem neunten östlichen Längengrad), sind solch exakte Koordinatenangaben im Bereich des politischen Extremismus aus verschiedenen Gründen nicht möglich“.75 Gerade die genaue Einstufung der REP und die Bestimmung ihrer Nähe zum Extremismus bereitet manchen Autoren Kopfzerbrechen. Albes fragt: „Sind die Republikaner nun rechtsextremistisch, rechtsradikal oder nur ultrakonservativ und populistisch? Wo fängt die Demokratiefeindlichkeit an? Wo hört sie auf? Und was soll man eigentlich schreiben, wenn man das alles nicht so genau weiß?“76 Uwe Danker spricht von einer „besonderen Geschichte und Rolle“77 der REP und mag deswegen die Partei nicht ohne weiteres in eine Darstellung rechtsextremer Gruppierungen einbeziehen. Überfordert ist die Forschung insbesondere dann, wenn eilige Journalisten, den drängenden Redaktionsschluß im Nacken, die Verkürzung eines komplexen Sachverhalts wie die Klärung der Nähe der REP zum Extremismus zu einem leicht vermittelbaren verbalen Häppchen verlangen. Auffällig ist die wechselhafte ideologische Entwicklung der Partei, welche eine pauschale Antwort unmöglich macht. Die Untersuchung der Programminhalte, des Verhältnisses zu eindeutig extremistischen Parteien sowie wissenschaftlicher Analysen liefert für die Amtsperioden der Vorsitzenden Handlos, Schönhuber und Schlierer jeweils gleichermaßen unterschiedliche wie eindeutige Ergebnisse. Relativ unbestritten ist die Situation für die Zeit der Amtsführung von Handlos. Der ehemalige CSU-Bundestagsabgeordnete hat bei der Gründung der REP eine kleinbürgerliche, konservative Partei mit bundesweiter Ausdehnung im Sinn. Das Gründungsprogramm macht Anleihen aus verschiedenen politischen Lagern, ist aber in ein rechtskonservatives Gedankengut ohne extremistische Ausflüge eingebettet. Schönhuber will die REP zwischen CSU und NPD positionieren und führt die Partei dem Extremismus zu. Unter Schlierer nähert sich die Partei schrittweise dem konservativen Spektrum, verfügt jedoch bis heute über extremistische Mitgliederanteile. Die weitere Entwicklung der REP gilt es mit Sorgfalt und wissenschaftlicher Reflektiertheit nachzuzeichnen. Nur auf dieser Grundlage läßt sich die Einordnung der Rechtspartei verantwortlich und fundiert gestalten. 75 Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Berlin 2004, S. 18 f. 76 Albes (FN 30), S. 10. 77 Danker (FN 37), S. 111.

Direkte Demokratie und politischer Extremismus Das Beispiel der Schweiz Von Sophie Guggenberger

1. Einleitung Wer der Frage nachgeht, ob die direktdemokratischen Elemente in der Schweiz die Bestrebungen extremistischer Gruppierungen fördern oder schwächen, stößt – jenseits der Problemanalyse des konkreten Falles – unvermeidlich immer wieder auf das Kernproblem: der Frage nach der politischen Ordnung und der zugehörigen institutionellen Kräfte-Balance. Welche Ordnung der politischen Einrichtungen ist die angemessenste? Die Frage nach Stabilität und „anthropologischer Passung“ der Verfassungen und Einrichtungen ist die Ausgangsfrage der politischen Wissenschaft von Anfang an. Ganz zu Recht erachtet Eduard Zeller die Aristotelische „Politik“ als „das Größte und Reichste, was wir aus dem Altertum und, wenn man den Unterschied der Zeiten berücksichtigt, als wohl das Größte, was wir überhaupt auf dem Gebiet der politischen Philosophie besitzen“.1 Dieser Bewertung hat in jüngerer Zeit der Heidelberger Politologe Dolf Sternberger uneingeschränkt zugestimmt: Die „Politik“ des Aristoteles ist „das größte Buch, das die abendländische politische Theorie oder politische Wissenschaft überhaupt hervorgebracht hat (trotz Machiavelli, Hobbes, Rousseau, Hegel, Marx und Lenin, und wen man sonst noch in Vergleich setzen will)“.2 Die europäische politische Philosophie in der Aristoteles-Nachfolge hat mit ihren Ausführungen über Wesen und Begriff des Staates, über die politische Natur des Menschen, über den Bürgerbegriff, über Anlässe und Formen politischer Umwälzungen, über gerechte Herrschaft und über die Staats- und Regierungsformen mit geringen Veränderungen bis in die zweite Hälfte des 18. und zum Teil bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als „politische Normalphilosophie Alteuropas“ die grundlegenden Kategorien zu einer Verständigung über die

1 Eduard Zeller, Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie, Leipzig 1971, S. 12. 2 Dolf Sternberger, Begriff des Politischen – Der Friede als der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, Frankfurt a. M. 1961, S. 7.

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jeweilige politische und gesellschaftliche Wirklichkeit abgegeben. Und sie hat ihre Aktualität keineswegs verloren. Mit Blick auf unser Thema liegt die schwer zu überschätzende Aktualität des Aristotelischen Ansatzes in seinem strukturellen Anti-Extremismus, d.h. in seiner für die politische Philosophie folgenreich reklamierten topischen MésotesLehre, der Lehre vom „goldenen Mittelweg“: Gerade so, wie die Tugend der Tapferkeit die Mitte hält zwischen Feigheit und Tollkühnheit, so hält die gute politische Ordnung, welche Tugend und Tüchtigkeit ihrer Bürger ermöglicht und ermuntert, die Mitte zwischen individueller Anarchie auf der einen und einem lebensdirigistisch-totalitären Etatismus auf der anderen Seite. Aristoteles bereits bemerkt in seiner „Ethica Eudemia“: „Es ist aber das Mittlere in einem stärkeren Gegensatz zu den Extremen als diese zueinander. Der Mittlere nämlich kommt mit keinem der beiden Extreme zusammen vor, dagegen die Extreme häufig miteinander.“ In seiner „Nikomachischen Ethik“ ist demzufolge Mésotes, die vernünftige Mitte, der zentrale Begriff.3 Der politische Extremismus – wie der explizite Anti-Extremismus – wird vor allem über das grundlegende Politikverständnis und die ihm zugehörige politische Anthropologie definiert: Die strikte strukturelle und moralische Ächtung des politischen Extremismus gehört in den Tugend-Laster-Kontext eines moderaten Politikverständnisses, welches das Wesen des Politischen von Kompromiß und Kompromißfähigkeit bestimmt sieht. Und umgekehrt: Das Politikverständnis des politischen Extremismus jedweder Couleur ist durch die Freund-FeindBeziehung gekennzeichnet. Dogmatische Kompromißlosigkeit und unversöhnliche Konfliktfähigkeit werden hier zu verhaltensleitenden „Tugenden“. Hier stellt sich die seit Aristoteles fast gänzlich vernachlässigte Frage, ob Extremismus per se und unter allen Umständen zu negieren ist, oder ob es nicht vielleicht auch demokratiepolitisch achtbare Gründe für eine „Moderation“ in der Ablehnung des Extremismus gibt: Leistet der Extremismus etwa z. B. einen anderweitig nicht kompensierbaren Beitrag zur politischen Innovationsfähigkeit und Adaptivität politischer Systeme? Müssen demokratische Ordnungen lernen – zumal unter Bedingungen einer „immer schneller werdenden 3 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, 4. Aufl., Berlin 1967, S. 35–42 (1106a–1109b); sowie zum Mittebegriff im politischen Denken allgemein: Bernd Guggenberger/Klaus Hansen (Hrsg.), Die Mitte. Vermessungen in Politik und Kultur, Opladen 1992; Martin Gralher, Mitte – Mischung – Mäßigung. Strukturen, Figuren, Bilder und Metaphern in der Politik und im politischen Denken, in: Peter Haungs (Hrsg.), Res Publica. Studien zum Verfassungswesen. Dolf Sternberger zum 70. Geburtstag, München 1977, S. 82–114. Vgl. zudem Wolfgang Kraushaar, Implosion der Mitte, in: Mittelweg 36 (1994), Teil I/H. 2, S. 10–27 (Teil II/H. 3, S. 73–91; Teil III/H. 4, S. 65–76), der in diesem dreiteiligen Aufsatz allerdings in der Skizzierung und Kritik eines Extremismus der Mitte über das Ziel weit hinausschießt.

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Kultur“4 –, mit einem gewissen Maß an Extremismus zu leben? Ist am Ende, dialektisch gewendet, gar ein Mindestmaß an Extremismus stabilitätsrelevant und ordnungsfunktional? Zur überlegenen Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates trägt nicht zuletzt entscheidend bei, daß er die Relativität und Vorläufigkeit der durch ihn verkörperten Ordnung zu reflektieren und damit die Bedingungen der eigenen nichtkatastrophischen Fortentwicklung zu benennen vermag. Auf den Untersuchungsgegenstand bezogen, könnte dies bedeuten, daß eine allzu wehrhafte Demokratie sich selbst um Lernchancen bringt. Denn alle Extremismen sind unvermeidlich auch Symptom für gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen. Somit fungieren sie – unfreiwillig – stets auch als soziale Frühwarnsysteme. Hat die Schweiz weniger politischen Extremismus? Äußert er sich in anderen, unter Umständen milderen, geschmeidigeren, kompromißbereiteren Formen? Gibt es politisch-pädagogisch und sozialpsychologisch vom geläufigen Extremismusbild abweichende Entwicklungen und Verlaufsformen, die für die Schweiz typisch sind? Spielen soziale und politische Lernprozesse in extremistischen Gruppierungen, spielen sozialintegrative Mechanismen der politischen Teilhabe eine erkennbare Rolle? Selbst wenn diese Fragen zufriedenstellend zu klären sind, bleibt gleichwohl das Problem der ursächlichen Zuordnung ungelöst: Denn sollte die Schweiz in der Bilanz weniger und milderen politischen Extremismus – vor allem seit den siebziger Jahren – aufweisen, gilt es zu prüfen, inwieweit dies ursächlich auf das Vorhandensein direktdemokratischer Beteiligungsprozeduren zurückgeführt werden kann. Im Kontext der in der Bundesrepublik Deutschland mit einer gewissen „Verkrampfung“ geführten Diskussion über direkte Demokratie sind im Rahmen der seit den achtziger Jahren intensivierten wissenschaftlichen Rezeption zuletzt vor allem vergleichende Arbeiten entstanden, die gegenüber dem bisherigen Stand der Literatur geradezu einen „Qualitätssprung“ bedeuten. Der Blick auf Länder, in denen direktdemokratische Politikformen schon länger zu einem festen Bestandteil des politischen Systems gerechnet werden können, bietet sich vor allem angesichts der vergleichsweise geringen Erfahrungen mit Stärken und Schwächen der direkten Demokratie in Deutschland an. Für die diskursive Behandlung und abschließende Entscheidung der Frage, ob sich ein eher stimulierender oder ein tendenziell moderierender Wirkungszusammenhang zwischen direkter Demokratie und politischem Extremismus in der Schweizer Demokratie nachvollziehbar und plausibel geltend machen läßt, sind einige kurze Hinweise auf die „Extremismusbilanz“ der Schweiz unerläß4 Douglas Coupland, Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Zivilisation, Berlin 1994.

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lich. Im vorliegenden Beitrag werden daher beispielhaft unterschiedliche Erscheinungsformen des politischen Extremismus in der Schweiz, deren mögliche Ursachen und deren Verlauf skizziert – unter besonderer Berücksichtigung der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Rolle des rechtskonservativen Populisten Christoph Blocher –, nachdem zuvor das System der direkten Demokratie und wichtige Aspekte der politischen Kultur der Schweizer Eidgenossenschaft, die in einem möglichen Bezug zum politischen Extremismus stehen, dargestellt wurden. Am Ende erörtere ich Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit des schweizerischen Analysebefundes auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland.

2. Föderalismus, Konkordanz und Referendumsdemokratie in der Schweiz Eine über Jahrhunderte reichende ideengeschichtliche und praktische Kontinuität in der Erfahrung mit direktdemokratischen Politikformen führte in der nur 7,2 Millionen Einwohner zählenden Schweiz dazu, daß „die vormodernen Gemeinschaftsideen und Gemeinschaftserfahrungen in den Formierungsprozeß des modernen Verfassungsstaates eingingen“5, wo sie in den Landgemeinden der Innerschweiz zum Teil bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind.6 Der Begriff direkte Demokratie meint einen Komplex aller „Beteiligungsformen, in denen das Volk als Staatsorgan Sach- oder Personalentscheidungen selbst trifft beziehungsweise unmittelbar daran mitwirkt. Lediglich die durch Parlamentswahlen erfolgenden Personalentscheidungen [. . .] sind keine direktdemokratischen Entscheidungen in diesem Sinne“7. Die Volksgesetzgebung stellt dabei ein Sachentscheidungsverfahren dar, welches entsprechend der von Fijalkowski entwickelten kategorialen Differenzierung als „perfekte, originäre und initiative Form der Volksbeteiligung“8 definiert ist. Danach besitzt das als Gesamtheit der stimmberechtigten Bürger verstandene Volk das Recht, eine aus 5 Jürgen Gebhardt, „Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungsstaat“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 23/1991, S. 28. 6 Zur Geschichte direkter Demokratie allgemein vgl. Silvano Möckli, Direkte Demokratie. Ein Vergleich der Einrichtungen und Verfahren in der Schweiz und Kalifornien, unter Berücksichtigung von Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Liechtenstein und Australien, Bern/Stuttgart/Wien 1994, S. 32–71; Markus Kutter, Doch dann regiert das Volk. Ein Schweizer Beitrag zur Theorie der direkten Demokratie, Zürich 1996. 7 Hermann K. Heußner, Volksgesetzgebung in den USA und Deutschland. Ein Vergleich der Normen, Funktionen, Probleme und Erfahrungen, Köln 1994, S. 11 f. 8 Jürgen Fijalkowski, Erfahrungen mit Volksabstimmungen zu Sachfragen, in: Hans-Dieter Klingemann/Wolfgang Luthardt (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat, Sozialstruktur und Verfassungsanalyse, Opladen 1993, S. 153.

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seiner Mitte heraus selbst erstellte Vorlage (initiativ) auf eigenen Antrag (originär) in einer Volksabstimmung mit verbindlicher Wirkung (perfekt) zu entscheiden. Theoretisch wie politisch-praktisch zu unterscheiden ist die Volksgesetzgebung vor allem vom Verfahren des fakultativen Referendums9. Bei beiden handelt es sich zwar um perfekt-originäre Beteiligungsformen, doch ist das fakultative Referendum nicht initiativ, sondern sanktionierend, weil stets über „eine von der Ebene der Staatsorgane her gemachte und im dortigen Willensbildungsprozeß bereits zum Beschluß gebrachte Vorlage“ entschieden wird.10 Mit Hilfe des Referendums kann das Volk das Inkrafttreten eines Gesetzes oder Beschlusses des Parlaments verhindern. Das vetoähnliche Referendumsrecht wirkt für den politischen Prozeß somit insgesamt, eher bewahrend als bewirkend, weil es vom Parlament oder von der Regierung ausgehende Veränderungen abblockt oder ihre Wirkung hinausschiebt. Aus diesem Grund bezeichnet man das Referendumsrecht häufig als die „Notbremse“ in der Hand des Volkes. Das politische System der Schweiz ist jedoch mit dem Stichwort direkte Demokratie samt der damit einhergehenden politik- und verfassungstheoretischen Konnotationen höchst unzulänglich beschrieben. Mindestens ebenso kennzeichnend und folgenreich wie die direktdemokratische Bürgermitwirkung an Sachentscheiden erweisen sich der Föderalismus mit seinem traditionellen Aufbau aus Gemeinden, Kantonen und Bund, sowie das korporatistische Element und die damit verbundenen Mechanismen und Prozeduren der Verhandlungs- und/ oder Konkordanzdemokratie. Wenn also vom politischen System der Schweiz die Rede ist, zielt dies nicht allein auf die staatlichen Einrichtungen einschließlich der Beteiligungsrechte von Initiative und Referendum im Rahmen der – gelegentlich treffender auch so genannten – „halbdirekten“ Demokratie,11 sondern auf das gesamte, ausbalancierte Gefüge von Kräften und Einflußgrößen, welche beim Zustandekommen politischer Entscheidungen und ihrem Vollzug wirksam werden, einschließlich der politisch-kulturell unverwechselbar geprägten Methoden und Verfahren, die dabei Anwendung finden, an vorderster Stelle etwa das „Institut der Konkordanz“12. 9 Bundesgesetze, Bundesbeschlüsse sowie unbefristete Staatsverträge unterliegen dem fakultativen Referendum, d.h., darüber kommt es zu einer Volksabstimmung, falls dies 50.000 Bürger – das sind etwa 1,1 Prozent der Stimmberechtigten – verlangen. Die Unterschriften müssen innerhalb von 100 Tagen nach der Publikation eines Erlasses vorliegen. 10 Vgl. Fijalkowski (FN 8), S. 153. 11 Im Sinne Giovanni Sartoris müßte direkte Demokratie gelegentlich treffender als „semi-direkte“ oder halbdirekte Demokratie bezeichnet werden. Vgl. Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 132. 12 Nach der von Arend Lijphart entwickelten Typologie demokratischer Systeme figuriert die Schweiz als „Konsensdemokratie“. Auch wenn man seiner Analyse des politischen Systems der Schweiz grundsätzlich folgt, gilt es gleichwohl, die Darstel-

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Die direkte Demokratie setzt zunächst alle politischen Akteure unter einen programmatischen Befassungszwang, dem sich keiner entziehen kann – auch nicht ein heimliches Allparteien-Kartell, welches sich auf das Ausklammern konfliktbelasteter Themen verständigen möchte. Da sich mit dem Volk, mit der Basis der Stimmbürger, stets ein zusätzlicher, schwer berechenbarer Akteur bemerkbar machen kann, fungieren die Schweizer Parteien viel weniger als die Parteien anderer Länder als hermetische Filtersysteme, die verhindern, daß bestimmte Anliegen und Prozesse überhaupt politisch thematisiert werden. Sie filtern den politischen Prozeß nicht, sie selektieren nicht seine Agenda, sie moderieren ihn. Weil einerseits das System der direkten Demokratie die (etablierten) Parteien zur permanenten programmatischen Wachsamkeit, Beweglichkeit und Adaptivität erzieht, sind kontinuierlich arbeitende Widerstands- und Einspruchsbewegungen an den Rändern des politischen Spektrums eher selten; die Parteien wirken als Beschleuniger mit Blick auf die Aufnahme von Basisimpulsen. Weil andererseits aber die Parteien – angesichts des politischen Instabilitätsfaktors Volk – zu tendenziell mäßigenden Maklern und Mittlern werden, eröffnen sich für parteipolitische Newcomer oder populistische Single-Issue-Groups immer wieder punktuelle Mobilisierungs- und Aufmerksamkeitschancen. Diese Hinweise sind für das Verständnis der direkten Demokratie der Schweiz von allergrößter Wichtigkeit. Bei einer verschwindend niedrigen Annahmequote von Volksinitiativen ist für das gesetzgeberische Resultat nicht so sehr die Frage der Annahme oder Ablehnung entscheidend, sondern der durch die Möglichkeit der direkten Bürgerbeteiligung angestoßene Veränderungsprozeß, der programmatisch alle Staatsorgane betrifft und verpflichtet. Im Falle eines so stark in Traditionen verwurzelten und über die Jahrhunderte hinweg gewachsenen Systems wie dem der Schweiz ist, neben der geschriebenen, stets jener imaginäre Text der „ungeschriebenen Verfassung“ einzubeziehen, ohne den sich für den externen Beobachter die Binnenlogik dieses Modells nicht erschließt. Das politische System der Schweiz ist von drei fundamentalen Rahmenbedingungen geprägt: von seiner historischen Gewachsenheit, seiner Kleinstaatlichkeit und von seiner pluralistischen Gesellschaftsstruktur.13 Der Föderalismus stellt das Fundament des eidgenössischen Bundesstaates dar. Obwohl die effektive Bedeutung der Souveränität der 26 Kantone und Halbkantone zu schwinden

lung auf das weiter gefaßte Konzept der Konkordanz auszudehnen. Vgl. Arend Lijphart, Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in TwentyOne Countries, New Haven/London 1984, insbesondere S. 23–30, 211–222. 13 Vgl. Leonhard Neidhart, Die Schweizer Konkordanzdemokratie. Elemente des schweizerischen Regierungssystems, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Die Schweiz, Stuttgart 1988, S. 128–155.

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scheint, ist die Schweiz im internationalen Vergleich bis heute einer der am wenigsten zentralisierten Staaten. Die Bundesverfassung sichert den Kantonen weitgehende Eigenständigkeit zu.14 Im Unterschied etwa zu den USA oder der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet Lijphart das schweizerische System als „inkongruenten Föderalismus“, weil die gesamtgesellschaftliche Heterogenität auf der Ebene territorialer Subeinheiten deutlich reduziert wird.15 Während beispielsweise im Bund mit inzwischen vier verschiedenen Amtssprachen operiert werden muß, sind die meisten Kantone offiziell nur einsprachig. Der Föderalismus kann als vertikale Gewaltenteilung verstanden werden. Er setzt auf bundesstaatlicher Ebene gleichsam das Prinzip der Subsidiarität um. Konkret heißt das, daß eine Dorfgemeinschaft, die nach der Familie nächst größere Gemeinschaft, so viele Angelegenheiten wie möglich in eigener politischer Kompetenz demokratisch, oft sogar ohne Mediation durch politische Parteien, zu lösen versucht. Diese auch „Gemeindeautonomie“ genannte Kompetenz ist beispielsweise im schweizerischen Kanton Graubünden sehr stark ausgeprägt. Nur Probleme, welche die Kräfte der Gemeinden übersteigen, werden im föderalistischen System von den nächsthöheren Einheiten, sprich von einem Teilstaat oder Bundesstaat gelöst. Dabei hat der Gesamtstaat im föderalistischen System eindeutig weniger Befugnisse als in einem zentralistischen System. Grundsätzlich kann hier gesagt werden, daß um so mehr (direkte) Demokratie möglich ist, je mehr Föderalismus vorhanden ist.16

3. Politischer Extremismus in der Schweiz a) Überblick Zum Katalysator für die Wahrnehmung des politischen Extremismus in der Schweiz wurde der Aufmarsch von 100 bis 120 Rechtsextremen auf der historischen Rütli-Wiese am Vierwaldstätter See, die die Rede von Bundesrat Kasper Villiger zum 1. August im Jahr 2000 störten.17 Dieser Akt war insofern von 14 Laut Art. 3 BV sind „die Kantone souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.“ Vgl. des weiteren Art. 43, Art. 46, Abs. 2 und Art. 47 BV. Leonhard Neidhart, „Repräsentationsformen in der direkten Demokratie. Aspekte des schweizerischen Staatsbildungsprozesses“, in: Beat Junker (Hrsg.), Geschichte und Politische Wissenschaft. Festschrift für Erich Gruner zum 60. Geburtstag, Bern 1975, S. 307– 314. 15 Vgl. hierzu Lijphart (FN 12), S. 179–183. 16 Das heißt aber nicht, daß in einem zentralistischen System grundsätzlich nicht demokratisch regiert werden kann. 17 Die Störaktion an der 1.-August-Feier auf dem Rütli erschien vielen Beobachtern als symbolischer Terrorakt und wurde häufig als die „Schande vom Rütli“ betitelt, da die Extremisten ihre Hände statt zum Rütli-Schwur zum Hitlergruß hoben.

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Bedeutung, als an einem für die nationale Identität der Schweiz symbolträchtigen Ort der Vertreter der Regierung am Nationalfeiertag öffentlich gedemütigt wurde und zugleich von den Skinheads der Anspruch auf den mythischen Rütli medial behauptet werden konnte. Mit solchen öffentlichen Auftritten verließen die Rechtsextremen im Sinne eines Paradigmenwechsels bewußt die Konspiration und suchten auf der Basis eines neuen, demonstrativen Selbstbewußtseins Öffentlichkeit und politische Wirkung. Ein weiteres Zeichen dieses neuen Selbstbewußtseins war der öffentliche Vorschlag eines Vertreters einer rechtsextremen Organisation, als Gegenleistung für einen „Freiraum“ für rassistisches Denken und Handeln einen Gewaltverzicht der Skinhead-Szene zu bewirken. Zunehmend rückt auch das Schweizer Mittelland in den Fokus der rechtsextremistischen Szene. Nach Wahlerfolgen in Langenthal18 und Günsberg19 machte die Partei national orientierter Schweizer (PNOS) zum 1. Mai 2005 mit Demonstrationszügen in Aarau und Solothurn auf sich aufmerksam. Der Extremismusexperte Jürg Frischknecht vergleicht die heutige Situation mit dem kleinen Frontenfrühling Ende der achtziger Jahre. Damals hatten die Köpfe der rechtsextremen Bewegung das Gefühl, ihre Stunde sei gekommen. Ihr Motto lautete: „Schweiz, wir kommen!“ Laut Frischknecht befindet sich die rechtsextreme Szene heute in einer ganz ähnlichen Situation. Sie sei wieder offensiver, selbstbewußter und aggressiver geworden.20 Die sogenannte „Neue Rechte“21 befinde sich in einem Wandel und verfüge zudem über sehr gut ausgebaute Strukturen und Vereinigungen, wie beispielsweise eben die PNOS. Der politische Extremismus im allgemeinen und die Skinhead-Szene22 im besonderen werden heute zwar laut aktuellem Extremismusbericht der Schweiz nicht als große Gefahr für die nationale Sicherheit der Schweiz eingestuft, doch bilden sie ein lokales, oft kurzfristig auftretendes und ernst zu nehmendes Ge18 Der 20jährige Straßenbauer Tobias Hirschi hat am 26. September 2004 überraschend den Sprung ins Stadtparlament von Langenthal geschafft – trotz rechtsextremen Gedankenguts. Dies sorgte in der ganzen Schweiz für Schlagzeilen. Er erhielt 415 von 9172 Stimmen. 149 Stimmen davon kamen von SVP-Wählern. Politisches Vorbild des Neugewählten ist Jürgen Schwab, ein intellektueller Rechtsextremist im Umfeld der NPD. 19 Der einzige Exekutiv-Politiker der PNOS sitzt im siebenköpfigen Gemeinderat von Günsberg. Der 20jährige Dominic Bannholzer wurde am 24. April 2005 gewählt. 20 Siehe Berner Zeitung vom 27. September 2000, S. 15. 21 Siehe hierzu Wolfgang Gessenharter/Thomas Pfeiffer (Hrsg.), Die Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie?, Wiesbaden 2004; Dieter Stein, Phantom „Neue Rechte“, Berlin 2005; Martin K. W. Schweer (Hrsg.), Die Neue Rechte: eine Herausforderung für Forschung und Praxis, Frankfurt a. M. 2003. 22 Weiterführend ist die detaillierte Untersuchung von Christian Menhorn, der als einer der ersten deutschen Autoren die komplette Historie der Skinheads von ihrem Ursprung in den sechziger Jahren bis zu ihren heutigen internationalen Erscheinungsformen beschreibt. Vgl. Christian Menhorn, Skinheads: Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001.

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waltpotential.23 Insgesamt jedoch sei die Lage „unter Kontrolle“, auch in bezug auf Islamisten und ausländische Extremisten. Weder Anarchisten, Skinheads und Hooligans noch Islamisten gefährdeten die Schweiz gravierend. Der Linksextremismus konzentriert sich im Gegensatz zum Rechtsextremismus auf die Städte und damit „auf die wirtschaftlichen und politischen Nervenzentren der Schweiz“.24 Viele der marxistisch Orientierten gehörten dem Mittelstand an und könnten „durch ihre Position Einfluß geltend machen, was umso gravierender ist, als einige dieser Exponenten nach wie vor Kontakte zur Terroristenszene unterhalten“.25 Worin jedoch genau der die Sicherheit gefährdende Einfluß besteht, wird in dem Bericht nicht weiter ausgeführt. Es wird aber vermutet, daß die schwierige wirtschaftliche Situation und „der in mancher Beziehung labile Zustand unserer Gesellschaft“ den Linksextremisten auch in Zukunft Zulauf garantieren und das Mobilisierungspotential erhöhen.26 Am Erscheinungsbild des Rechtsextremismus hingegen habe sich wenig geändert. Es sei zwar auffällig, daß die gewalttätigen Exponenten der rechten Szene immer jünger würden und die Szene stetig anwüchse, jedoch sähen gewisse rechtsextreme Gruppierungen „zumindest strategisch“ von Gewalttätigkeiten ab und suchten den Einstieg in die Politik. Sie planten die Teilnahme an Wahlen, wobei allerdings von einem bescheidenen Erfolg auszugehen sei. Der sich tendenziell verschärfende Konflikt zwischen den beiden extremistischen politischen Lagern wird von den Linksextremisten immer radikaler ausgetragen. Insgesamt jedoch resümieren der Extremismusbericht wie die alljährlichen Berichte über die innere Sicherheit der Schweiz, daß „die nationale Sicherheit der Schweiz zurzeit durch keine extremistische Gruppierung schwerwiegend bedroht wird.“27 Das wichtigste Argument für eine Beschäftigung mit dem Phänomen des politischen Extremismus, wie es sich in den effektiven Wahlergebnissen oder den im außerparlamentarischen Raum sich abspielenden extremistischen Aktivitäten gewaltbereiter Gruppen spiegeln könnte, ist nicht in der manifest gewordenen Aktualität des Themas zu sehen. Es gründet vielmehr in der Tatsache, daß politischer Extremismus auch in latenter, wenig sichtbarer Form ein „normales“28, in allen Demokratien übliches Phänomen ist, mit dem sich diese schon aus 23 Als extremistisch eingestuft wurden Bewegungen und Parteien, Ideen sowie Einstellungs- und Verhaltensmuster, deren Mitglieder und Träger die freiheitlich-demokratische Ordnung ablehnen, gewaltbereit sind und im Andersdenkenden nicht einen politischen Gegner, sondern den Feind sehen. Vgl. hierzu Extremismusbericht des Bundesrates in der Schweiz v. 25. August 2004, S. 5013. 24 Ebd., S. 5045. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd. 27 Ebd., S. 5013 und S. 5066. 28 Vgl. hierzu Erwin K. Scheuch, Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Bd. 12, Hamburg 1967, S. 11–29.

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Gründen der Selbsterhaltung und der inneren Glaubwürdigkeit intensiv auseinandersetzen müssen. Wäre der Extremismus ein klar abgegrenztes und marginalisierbares Phänomen, wäre er ein gesellschaftlich relativ harmloses und leicht zu bewältigendes Problem. Wie Hanspeter Kriesi u. a. aber betonen, findet längst auch in der Schweiz eine sogenannte „Normalisierung“ des extremistischen Diskurses statt.29 „Normalisierung“ hat damit, im hier angesprochenen Kontext, eine Verschiebung der politischen Chancenstruktur zugunsten extremistischer Kreise zur Folge, deren Legitimität durch den schleichenden Einstellungswandel scheinbar erhöht wird. Logische Konsequenz dieses Vorganges ist der fremdenfeindliche Diskurs, welcher nach Kriesi u. a. parallel zur Normalisierung auftritt30, auch bei nationalkonservativen Foren. Für ein für Demokratien bedrohliches, zumindest aber ausgesprochen unangenehmes und lästiges Phänomen, mit dem sich diese eigentlich permanent, wenngleich mit unterschiedlicher Intensität auseinandersetzen müssen, gibt es naturgemäß eine Reihe von Definitionen und Definitionsversuchen. Aus der Vielzahl von Definitionen ist die von Uwe Backes und Eckhard Jesse hervorzuheben.31 Hiernach werden unter politischem Extremismus Gesinnungen und Bestrebungen zusammengefaßt, die sich in kämpferischer Form gegen grundlegende Werte, Spielregeln und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates richten – wie etwa die Idee der Menschenrechte, die aus ihnen abgeleiteten Grundrechte, den politischen Pluralismus oder das gewaltenteilige Institutionsgefüge des Rechtsstaates. Die rechtspolitische Tradition der Schweiz kennt nicht wie diejenige Deutschlands das Konzept der Verfassungsfeindlichkeit. Im Gegensatz zu den Ländern, die die Institutionen des Verfassungsschutzes weit entwickelt haben, reichen in der Schweiz organisierte Bestrebungen einer Gruppe zur Abschaffung der Demokratie, der Menschenrechte oder des Rechtsstaates alleine noch nicht aus, um sie von den Staatsschutzorganen beobachten zu lassen. Eine Gruppierung muß zur Erreichung dieser Ziele zusätzlich Gewalt ausüben, befürworten oder in Kauf nehmen. Entscheidend ist die Gegnerschaft gegenüber den demokratischen Grundwerten und Ordnungsprinzipien und nicht die politische Randlage extremistischer Phänomene. Außenseiterpositionen sind in jeder Gesellschaft unvermeidlich. Extremistisch werden diese Positionen erst, sobald je29 Vgl. Hanspeter Kriesi u. a., The Politics of New Social Movements in Western Europe. A Comparative Analysis, Minneapolis 1995; hierzu auch Scheuch (FN 28). 30 Vgl. Kriesi u. a. (FN 29), S. 179. 31 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 7; vgl. auch Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989. Die Schwäche dieser Definition besteht in ihrer starken Anbindung an das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und dessen Verständnis extremistischen Handelns, die es teilweise schwierig machen, das Phänomen international zu vergleichen.

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mand von der Randposition aus den Anspruch erhebt, für eine größere Menge oder sogar für alle zu sprechen, und dementsprechend einzeln oder zusammen mit anderen beginnt, seine einseitigen Ansprüche gegen die Mehrheit zu stellen und gewaltsam durchzusetzen. b) Extremismusbilanz Wenn in der Schweiz von politischem Extremismus die Rede ist, gilt die Aufmerksamkeit meistens grölenden und prügelnden Skinheads oder den Anhängern der Antiglobalisierungsbewegung aus der linksautonomen Szene.32 Im Mittelpunkt stehen weniger Einzelpersonen wie der Anwalt Pascal Junod, seit vielen Jahren eifriger Exponent der rassistisch inspirierten Nouvelle Droite, oder der bekannte „Revisionist“33 und Altfaschist Gaston-Armand Amaudruz sowie marginale Bewegungen wie der Cercle Thulé oder die Nationale Koordination. Allenfalls werden noch Schweizer Demokraten, Freiheitspartei (ehemals Autopartei) oder Lega dei Ticinesi mit politischem Extremismus in Verbindung gebracht. Das Rechts-Mitte-Links-Schema ist nach wie vor die geläufigste und eingängigste Methode Parteien ideologisch zu verorten.34 Parteipolitische Machtzentren situieren sich demzufolge eher im rechten, eher im mittleren oder eher im linken Lager. Grundsätzlich wird in der Schweiz – wenn von rechts- oder linksextremistischen Parteien oder Gruppierungen die Rede ist – eher von nationaloder rechtskonservativen beziehungsweise linkssozialistischen oder anarchistischen Positionen und Einstellungen gesprochen.35 Der Begriff der „nationalen Rechten“ bezeichnet heterogene Strömungen, Gruppierungen, Organisationen und Einzelpersonen, die ihre Politik vor allem unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der nationalstaatlichen Souveränität und Neutralität und gegen eine außenpolitische Öffnung und Solidarität der Schweiz betreiben. Dazu wird eine restriktive Gesetzgebung in der Ausländer- und Asylpolitik gezählt. Diese Strömungen reichen vom nationalkonservativen La32

Vgl. Extremismusbericht (FN 23), S. 5023–5046. Der Begriff des „Revisionismus“ wird verwendet für Personen, die revisionistische, die Verantwortung der Nationalsozialisten relativierende Geschichtstheorien verbreiten, ohne dabei den Holocaust zu leugnen – im Gegensatz zu den „Negationisten“. Vgl. Peter Niggli/Jürg Frischknecht, Rechte Seilschaften. Wie die ,Unheimlichen Patrioten‘ den Zusammenbruch des Kommunismus meisterten, Zürich 1998, S. 653–701. 34 Laut Backes/Jesse ist „die Rechts-Links-Geographie derart ausgeprägt, daß sich politisch Handelnde und Debattierende ihrer wie selbstverständlich bedienen.“ Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Die Rechts-Links-Unterscheidung. Betrachtungen zu ihrer Geschichte, Logik, Leistungsfähigkeit und Problematik, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 9, Baden-Baden 1997, S. 13–38. 35 Vgl. hierzu Herbert Kitschelt, The Radical Right in Western Europe. A comparative Analysis, in collaboration with Anthony J. McGann, Michigan 1995. 33

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ger innerhalb der Regierungskoalition bis zu rechtsextremen Oppositionsgruppen. Innerhalb der heterogenen „nationalen Rechten“ kann man von zwei Hauptströmungen ausgehen: einerseits dem nationalkonservativen Lager, das schwergewichtig von Teilen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) getragen wird, ebenso von „überparteilichen“ Organisationen wie der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS)36. Dieses Lager ist teilweise in die Regierungsverantwortung eingebunden, steht aber teilweise auch in fundamentaler Opposition zur Regierungspolitik. Andererseits umfaßt die nationale Rechte Gruppierungen der äußersten Rechten, welche am politischen System der Schweiz außerhalb der Konkordanz partizipieren. Dazu gehören beispielsweise die Schweizer Demokraten (SD) – ehemals Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat (NA)37 –, die Lega dei Ticinesi (LdT)38, die Partei national orientierter Schweizer (PNOS) und die frühere Autopartei, heute Freiheitspartei (FP)39. Die „Neue Linke“ samt der neuen sozialen Bewegungen und linken parteiförmigen Organisationen bildet eine alternative Gegenkultur zum Protest der „nationalen Rechten“. Sie argumentiert aus der Perspektive der Moderne, denn sie akzeptiert die modernen Ziele wie etwa die Frauenemanzipation, nicht aber die modernen Mittel wie beispielsweise die Großtechnologie oder die Großbürokratie. Die beschleunigten Industrialisierungs- und Bürokratisierungsprozesse riefen Gruppierungen am linken Rand hervor, die in Form von antiautoritären Jugendbewegungen, von Anti-Atom-, Friedens-, Ökologie- oder Frauenbewegungen auftraten. Die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH)40 gehörten zu den typischen Vertretern der „Neuen Linken“ und erlebten als Protest- und Oppositionspartei in den achtziger Jahren ihren Höhepunkt. Weitere Hauptanliegen der linksextremen Gruppierungen, insbesondere des Revolutionären Aufbaus Schweiz (RAS)41 mit seiner Unterorganisation Revolutionärer Aufbau Zürich (RAZ), sind Antifaschismus und Globalisierungskritik sowie am Marxismus 36 Vgl. Jürg Frischknecht, „Schweiz wir kommen“. Die neuen Fröntler und Rassisten, Zürich 1991, S. 266 f. 37 Siehe hierzu ebd., S. 99–115; Andreas Heller, Schweiz. Ein einzig Volk von Brüdern?, in: Martina Kirfel/Walter Oswalt (Hrsg.), Die Rückkehr der Führer. Modernisierter Rechtsradikalismus in Westeuropa, Wien/Zürich 1989, S. 100 f. 38 Vgl. hierzu Giuseppe Rusconi, La Lega dei Ticinesi: Gegen die Tessiner „Partitokratie“, in: Urs Altermatt u. a. (Hrsg.), Rechte und linke Fundamentalopposition. Studien zur Schweizer Politik 1965–1990, Frankfurt a. M. 1994, S. 154–173. 39 Vgl. hierzu Urs Altermatt/Markus Furrer, Die Autopartei: Protest für Freiheit, Wohlstand und das Auto, in: Altermatt u. a. (FN 38), S. 135–153; Heller (FN 37), S. 102 f. 40 Vgl. Altermatt u. a. (FN 38), S. 14–19. 41 Laut Extremismusbericht ist „der marxistisch-leninistisch orientierte Revolutionäre Aufbau Schweiz die mit großem Abstand wichtigste und zugleich auch gewalttätigste linksextremistische Organisation der Schweiz“. Extremismusbericht (FN 23), S. 5040 f.

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ausgerichtete Ideen – beispielsweise der Partei der Arbeit (PdA), die gemessen an den einstigen kommunistischen Staatsparteien teilweise stark sektiererische Züge aufweisen. Gemeinsam war und ist ihnen allen das Ziel, das kapitalistische System zu zerschlagen. Alle erwähnten Parteien und parteiförmige Organisationen am äußeren linken wie am äußeren rechten Rand des Parteienspektrums verschwanden nach einem kurzzeitigen, lauten Auftritt auf der politischen Bühne genauso rasch in der politischen Bedeutungslosigkeit oder wurden durch die Regeln der Konkordanz zu Mäßigung gezwungen und in das politische System eingebunden. Da sich viele der ehemaligen Mitglieder von Parteien und Gruppierungen des äußersten rechten Randes der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) anschlossen, nachdem sie in der Wählergunst deutlich zurückgefallen waren, gilt im folgenden der SVP und der Rolle des rechtskonservativen Populisten Christoph Blocher besonderes Augenmerk. c) Christoph Blocher und die Ideologie der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Die Schweizerische Volkspartei42 ist momentan die wählerstärkste Partei der Schweiz. Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2003 errang sie 55 von 200 Sitzen im Nationalrat und acht von 46 Sitzen im Ständerat und ist damit die stärkste Partei im Parlament – noch vor der SP mit 52 Nationalrats- und neun Ständeratssitzen. Die SVP forderte daraufhin einen zweiten Bundesratssitz zu Lasten der Christdemokraten, die bei den Wahlen große Einbußen hinnehmen mußten. Das Schweizer Parlament wählte schließlich am 10. Dezember 2003 Christoph Blocher zu einem der sieben Bundesratsmitglieder. Die SVP war damit erstmals mit zwei Mitgliedern in der Regierung vertreten. Parteipräsident ist seit Ende 2003 der Zürcher Nationalrat Ueli Maurer. Auf Bundesebene wurde die Partei erstmals 1917 im Kanton Bern unter dem Namen Schweizer Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) aktiv. Sie war eine Abspaltung der vorwiegend städtisch geprägten Freisinnig-demokratischen Partei (FDP) und vertrat in erster Linie die Interessen der Bauern sowie der gewerblichen Klein- und Mittelbetriebe. 1971 folgte nach dem Beitritt der demokratischen Parteien der Kantone Glarus und Graubünden die Umbenennung in Schweizerische Volkspartei. Weiteren Zuzug erhielt die SVP von den neunziger Jahren an durch frühere Mitglieder von Parteien des äußersten rechten Randes, vor allem von der früheren Autopartei (heute Freiheitspartei), der Lega die Ticinesi sowie – in geringerem Ausmaß – von den Schweizer Demokraten. Dies

42 Vgl. Frischknecht (FN 36), S. 258–269; Thomas Buomberger, Kampf gegen unerwünschte Fremde – Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher, Zürich 2004.

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blieb für den politischen Kurs der Partei nicht ohne Folgen. Seit den frühen achtziger Jahren ist der charismatische, häufig als populistisch beschriebene Unternehmer und Nationalrat Christoph Blocher die inoffizielle Führungsfigur der Partei und deren größter Geldgeber. Unter seiner Führung hatte sich die SVP zunächst im Kanton Zürich, dann auch anderswo von einer biederen Handwerker- und Bauernpartei zu einer rechtspopulistischen Kraft gewandelt, die in der Schweizer Parteienlandschaft durch einfache Schwarz-Weiß-Parolen und aggressive, plakative Werbekampagnen auffällt. In ihrer Selbstdarstellung versteht sich die SVP gern als die „Partei des kleinen Mannes“ und als oppositionelle Protestpartei. Sozialdemokraten und Grüne werfen der Partei vor, Minderheiten und Andersdenkenden auszugrenzen, Fremdenfeindlichkeit zu schüren, mit Intoleranz und Haßparolen systematisch Gräben aufzureißen sowie pauschal die politischen Institutionen samt der zugehörigen „classe politique“ zu verhöhnen und zu verunglimpfen. Die Extremismusexperten Peter Niggli und Jürg Frischknecht, Verfasser einer Studie über den „Vormarsch der Rechten in der Schweiz“43, führen das stetige Wachstum der SVP auf den „günstigen Nährboden“ in den neunziger Jahren zurück. Das Ende des Kalten Krieges polarisierte nach 1989 zwei gegenläufige politische und kulturelle Tendenzen: Die einen wollen den Zusammenbruch des Kommunismus produktiv nutzen und vertreten eine Öffnung nach Europa, wohingegen die anderen einer Abschottung des Landes und der Rückkehr „zu den alten Zeiten“ den Vorzug geben. Die leidenschaftlichen Abstimmungskämpfe der neunziger Jahre vertieften die Kluft zwischen Erneuerern und Reaktionären. Parallel dazu geriet die Schweiz 1991 in eine lang anhaltende Rezession, aus der sie erst 1998 wieder herausfand. Am Erfolg der SVP hat die charismatische Führerfigur Christoph Blocher entscheidenden Anteil. Christoph Blocher ist ein typischer Vertreter des europäischen Populismus.44 Blocher war von 1979 bis 2003 Mitglied des Nationalrates und zudem von 1986 bis 2003 Präsident der AUNS45, bis er am 10. Dezember 2003 in den Bundesrat gewählt wurde.46 Erst im dritten Wahlgang setzte er sich mit knapper Mehrheit durch. Blochers Einbindung ins Amt des Bundesrats 43

Vgl. Niggli/Frischknecht (FN 33). Zum europäischen Populismus vgl. Frank Decker, Der neue Rechtspopulismus, Opladen 2004. Blochers SVP betreibe im europäischen Vergleich sogar einen besonders schlimmen Populismus, so der Pariser Politologe und Populismus-Experte Guy Hermet. Vgl. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag vom 8. Dezember 2002, S. 26. 45 Die Außenpolitik des Bundesrats sei miserabel, amateurhaft und dumm, deshalb sei die im UNO-Abstimmungskampf unterlegene AUNS notwendiger denn je, befand einst Christoph Blocher. Den Beitritt der Schweiz zur UNO konnte Blocher im Jahr 2002 trotz einer aufwendigen AUNS-Kampagne nicht verhindern. Nach seiner Wahl zum Bundesrat glaubte sich die AUNS gestärkt, da Blochers Partei, die SVP, nunmehr vermehrt zu Zugeständnissen gezwungen sei. Vgl. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag vom 12. Mai 2002, S. 12. 44

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führte bei ihm zu einer – manchmal gewiß eher unfreiwilligen – Mäßigung, da er seitdem in viele förmliche Regelungen und Verfahren eingebunden ist.47 Auch die lauten Parolen der SVP sind seither weniger geworden.

4. Wirkungszusammenhang zwischen direkter Demokratie und politischem Extremismus Gibt es möglicherweise so etwas wie einen – positiven oder negativen – Wirkungszusammenhang zwischen der direkten Demokratie und der spezifischen Erscheinungsform des politischen Extremismus in der Schweiz? Präziser formuliert: Fördern oder schwächen die direktdemokratischen Elemente der Schweizer Demokratie Bestrebungen extremistischer Parteien und Gruppierungen? Führen die erweiterten Möglichkeiten direktdemokratischer Bürgermitwirkung und ihre routinierte Inanspruchnahme dazu, daß politische Extrempositionen und eventuelle (partei-)politische Newcomer sich stärker auf die institutionellen Ansatzpunkte im System selber konzentrieren; daß gerade der partizipative Schulterschluß mit dem System, zusammen mit der Bereitschaft, sich auf die anerkannten Beteiligungsregeln einzulassen, die Möglichkeit eröffnet, die eigenen Forderungen gewissermaßen mit öffentlichem „Befassungszwang“ darzustellen und zu propagieren? Werden also die ordnungsfunktionalen Erwartungen einer Integration durch Partizipation erfüllt? Unterscheidet man die Initiatoren direktdemokratischer Aktivitäten nach dem Kriterium ihrer Entscheidungsanteile im repräsentativen Entscheidungsprozeß, dann zeigt sich, daß vier von fünf Initiativen von politischen Außenseitergruppen gestartet werden.48 Zu diesen Akteuren sind sowohl die parlamentarischen Oppositionsparteien als auch die außerparlamentarischen Bürgerbewegungen zu rechnen, die weitgehend außerhalb des konkordanzdemokratischen Verhandlungssystems stehen und deren Anliegen keinen unmittelbaren Zugang zum repräsentativen Entscheidungsprozeß finden. Die friedenspolitische Initiative der „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ (GSoA) von 1985 belegt dabei beispielhaft, daß die Urheber vielfach nicht mit der Annahme ihrer Vorlage rech46 Nach den Parlamentswahlen 2003 sprach die Presse im In- und Ausland besorgt von „Rechtsruck“ oder „Rechtsrutsch in der Schweiz“. Hierzu kritisch Clive H. Church, The Swiss elections of October 2003: two steps to system change?, in: West European Politics 27 (2004), S. 518–534. 47 Der Bundesrat basiert auf dem sogenannten Kollegialitätsprinzip, was bedeutet, daß die Entscheide des Kollegiums von allen sieben Bundesräten gemeinsam vertreten werden. Dieser Umstand läßt naturgemäß wenig Spielraum für eine daueroppositionelle Haltung. 48 Vgl. Kris W. Kobach, „Switzerland“, in: David Butler/Austin Ranney (Hrsg.), Referendums around the World. The Growing Use of Direct Democracy, Washington D.C. 1994, S. 98–153; hier S. 144 f.; siehe auch Wolf Linder, Schweizerische Demokratie. Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern/Stuttgart/Wien 1999, S. 263.

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nen.49 Ursprünglich beabsichtigte die GSoA lediglich, „ihre Forderungen in die Diskussion zu bringen und damit zur friedenspolitischen Bewußtseinsbildung beizutragen.“50 Insofern ist das leitende Motiv dieser Kategorie von Initiativen primär im Aspekt des agenda setting zu sehen. Selbst wenn die kurzfristige direktdemokratische Durchsetzbarkeit eigener Ziele skeptisch beurteilt wird, versprechen sich die Initianten durch die Herstellung von Öffentlichkeit zumindest einen größeren Einfluß auf die politische Tagesordnung.51 Mit Blick auf die im vorherigen Kapitel skizzierte „Extremismusbilanz“ der Schweiz wird deutlich, daß keine der dort dargestellten Parteien oder parteiförmigen Organisationen Kontinuität beweisen konnte, sondern lediglich kurzzeitig und punktuell in der Lage war, die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Ein Beleg hierfür liefert beispielsweise schon die bereits kurz erwähnte rechtsextremistische Nationale Aktion (NA) um James Schwarzenbach52. 1969 lancierte die Partei unter Schwarzenbach als Parteivorsitzendem die nach ihm benannte Schwarzenbach-Initiative53, die eine Begrenzung der kantonalen Ausländeranteile auf maximal 10 Prozent zum Ziel hatte. Kein Abstimmungskampf hat die Schweizer Bevölkerung je so aufgewühlt wie die berüchtigte Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative 1970, denn das Volk mußte entscheiden, ob 300.000 Ausländer aus der Schweiz auszuweisen waren oder nicht. Viele hatten zur damaligen Zeit der raschen, noch ungewohnten Einwanderung das Gefühl, der Schweiz drohe die progressive Überfremdung. Die Volksinitiative jedoch wurde abgelehnt, erzielte gleichwohl mit einem Anteil von 46 Prozent Ja-Stimmen einen überraschend hohen Stimmenanteil und wurde zu einem schockartigen Signal. 1974 wurde eine weitere Volksinitiative mit ähnlichem Inhalt von zwei Dritteln der Stimmenden verworfen.54 Nach fulminanten Öf49 Hierzu insbesondere Linder (FN 48), S. 263; Ralph Kampwirth, Volksentscheid und Öffentlichkeit. Anstöße zu einer kommunikativen Theorie der direkten Demokratie, in: Theo Schiller (Hrsg.), Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 17–68, hier S. 33. 50 Rudolf Epple-Gass, Friedensbewegung und direkte Demokratie in der Schweiz, Frankfurt a. M. 1988, S. 156 f. Die GSoA-Initiative von 1989 erzielte mit einem JaStimmen-Anteil von 37 Prozent ein überdurchschnittliches Ergebnis und machte somit Kritik an der Armee möglich – an jener Institution also, die bis dahin ein politisches Tabuthema wie kein anderes war. Der zweite Anlauf im Dezember 2001 allerdings wurde mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 78,1 Prozent verworfen. Vermochte die GSoA-Initiative von 1989 noch mehr als zwei Drittel (68,6 Prozent) der Stimmberechtigten an die Urne zu locken, war es 2001 nur noch gut ein Drittel. Vgl. hierzu Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. Februar 2002, S. 25. 51 Vgl. Henner Kleinewefers, Die direkten Volksrechte in der Schweiz aus ökonomischer Sicht. Ein Überblick, in: Silvio Borner/Hans Rentsch (Hrsg.), Wieviel direkte Demokratie verträgt die Schweiz? Kritische Beiträge zur aktuellen Reformdebatte, Chur/Zürich 1997, S. 66; Kampwirth (FN 49), S. 25 f., 32 f. 52 Vgl. Buomberger (FN 42). 53 Vgl. hierzu Heller (FN 37), S. 100; www.admin.ch (Stand: 10. Mai 2005). 54 Siehe hierzu www.admin.ch (Stand: 10. Mai 2005).

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fentlichkeitserfolgen verschwand die NA von der Bildfläche. Ähnliches deutet sich für die SVP an, die gegenwärtig mit ihrer Ausländerbegrenzungsinitiative, der sogenannten „18-Prozent-Initiative“55, die Stimmung anheizt. Bisher wurden sämtliche Anträge und Initiativen der SVP in dieser Richtung vom Volk in den Abstimmungen verworfen. Dies alles zeigt, daß die Bevölkerung sehr wohl differenziert: Sie hat den Oppositionspolitiker Blocher gewählt – dem regierenden Bundesrat zeigt sie die kalte Schulter. Bei keinem seiner wesentlichen Anliegen ist sie ihm gefolgt. Man schätzt die scharfzüngige Direktheit und das schnörkellose Politisieren, weil es bewegt und die Politik unter Rechtfertigungsdruck setzt. Gestaltungspolitisch traut man ihm und seiner Partei nicht über den Weg. Der Blocher-SVP hat der zweite Bundesratssitz auch auf kantonaler Ebene keine Vorteile gebracht, im Gegenteil: Man will sie eben nur fürs Opponieren, die Wählerskepsis bezüglich ihrer Regierungsfähigkeit hält an. Oder allgemeiner: Man will, daß virulente Themen und Probleme in aller Deutlichkeit angesprochen und auf der offiziellen Tagesordnung berücksichtigt werden. Dafür bedarf es lautstarker Minderheiten. Pragmatisch-lösungspolitisch setzt man aber auf den vermittelbaren, majoritätskompatiblen Kompromiß. Gerade in jüngster Zeit, so scheint es, hat das politische System der Schweiz für ein weiteres Mal seine Robustheit, seine integrative Kraft und Absorbtionsfähigkeit erwiesen. Und es ist ganz offensichtlich, daß hier ein enges Wechselverhältnis zwischen den spezifischen Moderationsphänomenen des eidgenössischen Extremismus auf der einen und den wenig eingeschränkten Möglichkeiten der direktdemokratischen Bürgermitwirkung auf der anderen Seite besteht. Mit anderen Worten: Ein wichtiger Grund für das hohe Maß an Kontinuität, für die überlegene Stabilität und Moderationsfähigkeit, aber auch die gelegentlich überraschend hohe Adaptivität der schweizerischen Demokratie ist wohl in den unverkennbar hohen inklusiven Qualitäten dieses Systems zu sehen; darin also, daß es nichts und niemand von vornherein vom förmlichen, regelgebundenen politischen Prozeß ausschließt: keine Person, kein Programm, keine Parole. Und dieser im Vergleich zu fast allen anderen politischen Systemen so extrem niedrige Exklusivitätsmodus scheint seinerseits einem ganz und gar unaufgeregten demokratischen Selbstvertrauen geschuldet: Die direkte Demokratie der Schweiz erscheint in der Wahrnehmungsperspektive von außen als ein hocheffizienter „partizipativer Verdauungstrakt“ mit gar nicht zu überschätzenden Kon55 Die Volksinitiative „für eine Regelung der Zuwanderung“, die sogenannte „18Prozent-Initiative“, welche den Ausländeranteil in der Schweiz auf willkürliche 18 Prozent festlegen will, ist bereits die siebte Überfremdungsinitiative seit den 1960er Jahren. Bisher wurden sämtliche dieser Anliegen vom Volk verworfen. Vgl. hierzu insbesondere Niggli/Frischknecht (FN 33), S. 245–251; auch Hans Tschäni, Das neue Profil der Schweiz. Konstanz und Wandel einer alten Demokratie, Zürich 1990, S. 167 f.

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sequenzen für ein sensibles, innovationsförderliches agenda setting einerseits wie auch für die erwünschten sozialintegrativen und legitimitätsförderlichen Kontinuierungs- und Mäßigungsleistungen des Systems andererseits. Es verfügt damit über ungeahnte Korrekturfähigkeiten im Akteursdreieck von Regierung, Parlament und Volk. Sie reichen allemal, mit Irritationen durch systemfremde, konkordanzunfähige Elemente fertig zu werden; so beispielsweise gerade eben mit den Provokationen eines Exekutivmitglieds, welches nach dem politischen Seitenwechsel vom Stammtischpoltern und Säbelrasseln des Oppositionspolitikers nicht lassen kann.

5. Resümee Aus der Geschichte extremistischer Bewegungen sind Verzweiflung und Ohnmacht als richtunggebende Weichensteller nicht wegzudenken. Wenn aber politische Ohnmachtserfahrungen zu den Entstehungsbedingungen des politischen Extremismus zählen, dann spricht vieles dafür, daß eine politische Ordnung, die auch extremen Meinungen und Forderungen zu öffentlichen Hörchancen verhilft, den Nährboden für politischen Extremismus sukzessive auszehrt.56 Es spricht also einiges für die These Integration durch Partizipation.57 Ein weiteres kommt hinzu: Der Chance, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, korrespondiert eine spiegelbildliche Pflicht von politisch mutmaßlich mäßigender Konsequenz. Wer gehört werden will, muß sich verständlich artikulieren. Wer unter Wettbewerbsbedingungen um Stimmanteile ringt, muß dafür sorgen, daß er verstanden wird und Zustimmung findet. Er bewegt sich nicht mehr nur unter Gleichgesinnten, die sich wechselseitig bestärken. Positive Rückkoppelungsprozesse – ein hermetischer Dogmatismus und ein sich selbst verstärkender politischer Extremismus – sind bekanntlich die Folgen sozialer Isolation und politischer Beteiligungsabstinenz. Integrative Beteiligungsprozeduren dagegen mindern Schärfe und Unversöhnlichkeit der Auseinandersetzung, stimulieren soziale und programmatische Lernfähigkeit und politische Kompromißbereitschaft. Sie schaffen nicht zuletzt einen politisch-pädagogischen Befassungszwang für den Vertreter extremer Positionen selbst: Er muß erst Klarheit im eigenen Kopf schaffen, um seine Programmatik für andere nachvollziehbar in eine politisch folgenreiche, weil handelbare Form zu bringen. Zu einem solchen Klärungsprozeß gehört unvermeidlich, daß man in einen Dialog eintritt, daß Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten deutlicher an Kontur gewinnen; vor

56 Siehe hierzu auch das Interview mit Andreas Gross in der Thüringer Allgemeinen Zeitung vom 8. Juni 2002: „Direkte Demokratie ist ein effizientes Mittel gegen Demagogen. Es kommt alles eher auf den Tisch der Öffentlichkeit. Im Verborgenen richtet Extremismus größeres Unheil an.“ 57 Vgl. hierzu auch Linder (FN 48), S. 264 f.

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allem aber, daß die realen Stärkeverhältnisse aufgeklärt werden: Niemand kann sich nach einer Abstimmung noch auf ominöse Mehrheiten berufen, die die eigene Position stützen. Vielen typischen Mehrheits-Minderheits-Konflikten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte in Europa lag eine extremistische Situationsdeutungen begünstigende und verstärkende „Asymmetrie der Sachkompetenz“58 zugrunde. In vielen – zumal den ökologischen – Konfliktkonstellationen standen hochgradig engagierte und sachkundige Minderheiten apathischen und häufig probleminkompetenten Mehrheitskoalitionen gegenüber. Gegen diese machte die kritische Minorität – nicht selten mit einer gewissen Berechtigung, wie etwa beim frühen Anti-AKW-Protest59 – ihre überlegene Sachverstandsdifferenz aus dem Geist kundiger Besorgnis geltend. Direktdemokratische Teilhabe- und Mitwirkungsmöglichkeiten verhindern, über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet, weitgehend das Entstehen solcher „delegitimierenden Sachverstandsdifferenzen“60, weil sie das Niveau der Sachkompetenz auf Seiten der Stimmbürger generell verbessern. Damit könnte eine wesentliche Voraussetzung für politischen Extremismus zumindest teilweise entfallen – die Möglichkeit der elitären Selbststilisierung, die den Mitbewerber als politisch nicht ebenbürtig erachtet und sich selbst zum Träger eines überlegenen Bewußtseins erklärt. Vieles im Rahmen der angestellten Überlegungen und grundlegenden Annahmen zum Problem- und Wirkungszusammenhang von Partizipation und Integration spricht für eine deutliche Abmilderung der sozialen Fieberkurve des politischen Extremismus, wenn die Einmischung des Souveräns, wenn die Teilhabe per Volksentscheid ein vertrautes und unaufgeregt normal zu handhabendes Instrument im politischen Alltag darstellt. Denn in gewisser Hinsicht bedeutet die direktdemokratische Bürgerbeteiligung auch eine „Prämie auf Intensität“61, d.h. einen Ausgleich für jenes häufig zu beobachtende Intensitätsgefälle im Pro und Contra umkämpfter Entscheidungen, welches auf Seiten der unterlegenen Minderheiten zu Legitimitätszweifeln Anlaß gibt. Der Rahmen dieses Beitrags ließ eine systematische Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland in die Analyse nicht zu. Einige Andeutungen am Ende seien gleichwohl erlaubt. Wenn wir uns überlegen, ob die direkte Demokratie der Schweiz tatsächlich Vorbildcharakter für das politische System der Bundes58 Bernd Guggenberger, Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, Stuttgart u. a. 1980, S. 74 f. 59 Zur Anti-AKW-Bewegung siehe Damir Skenderovic, Die Umweltschutzbewegung im Zeichen des Wertewandels, in: Altermatt u. a. (FN 38), S. 33–61, insbesondere S. 40–49; Linder (FN 48), S. 129 f. 60 Guggenberger (FN 58), S. 78 f. 61 Ebd.

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republik Deutschland haben kann, so fallen zunächst die unterschiedlichen quantitativen Ausgangsverhältnisse auf: Die Schweiz zählt 7,2 Millionen Einwohner, Deutschland hat 82 Millionen Einwohner; auch von der Fläche her ist Deutschland mehr als zehnmal so groß wie die Schweiz. Obwohl beide Staaten föderalistisch organisiert sind, hat sich der Föderalismus in der Schweiz ungleich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Die gleichen direktdemokratischen Instrumente werden in Deutschland nicht die gleichen Wirkungen erzielen wie in der Schweiz. Zu unterschiedlich sind die politischen Systeme, die historische Erfahrung und die politische Kultur. Könnten aber direktdemokratische Elemente in der Bundesrepublik Deutschland künftig stärker praktiziert werden, würde sich mit der Zeit das politische System, d.h. Wahrnehmung und Praxis der politischen Institutionen ändern, wovor man sich dank der starken Verfassungsgerichtsbarkeit und vorsichtigen Ausgestaltung der direkten Demokratie keineswegs zu ängstigen brauchte. Deutschland würde mit mehr direkter Demokratie allein gewiß keines der drängenden Probleme lösen. Mehr Gemeinsinn, mehr Engagement der Bürger gegenüber der Gemeinschaft und mehr Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflichtigkeit der Politiker gegenüber den Bürgern jedoch würde die Demokratie insgesamt stärken.

„Radau“-Nationalismus in der frühen Bundesrepublik Die Sozialistische Reichspartei im Lichte alliierter Geheimdienstberichte Von Henning Hansen

1. Einleitung Als im Jahr 2001 Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat einen Verbotsantrag gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) beim Bundesverfassungsgericht einreichten, rief dies zugleich das erste Parteiverbotsverfahren der noch jungen Bundesrepublik in Erinnerung. Geführt wurde es gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP). Anders als bei der NPD, endete es am 23. Oktober 1952 mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit und dem Verbot der Partei. Besiegelt wurde das Scheitern eines frühen Versuches, rechtsextremistische Politikvorstellungen wieder salonfähig zu machen. Laut Urteilsbegründung handelte es sich immerhin um eine Partei, die „in ihrem Programm, ihrer Vorstellungswelt und ihrem Gesamtstil der früheren NSDAP wesensverwandt“ gewesen sei.1 Die Bundesrepublik demonstrierte, daß mit Art. 21 Abs. 2 GG ein scharfes Schwert geschmiedet wurde, das man auch einzusetzen gewillt war. Mit dem Verbot verschwand eine Partei von der politischen Bühne, die zwar nur drei Jahre existierte, dennoch für erheblichen Wirbel gesorgt hatte. Sie muß als gewichtigster Vertreter des Rechtsextremismus in der frühen Bundesrepublik gelten. Für die Einordnung der SRP als rechtsextremistische Partei zeichnete vor allem ihr unverblümter Rückgriff auf politische Inhalte und Erscheinungsformen aus dem nationalsozialistischen Giftschrank verantwortlich. So propagierte sie eine Parteiorganisation, die einem „Führungsprinzip“ folgen sollte und mittels starker Neben- und Aktivorganisationen den Weg einer Kaderpartei beschreiten wollte. Die Bundesregierung reagierte am 4. Mai 1951 mit einem Verbot der „aktivistischen Gliederungen der SRP“.2 Namentlich wurde die sogenannte „Reichsfront“ herausgehoben, die für die SRP den Saalschutz überneh-

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Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, Tübingen 1953, S. 69. Gemeinsames Ministerialblatt, 8. Mai 1951, S. 111. Zu den Nebenorganisationen zählten neben der „Reichsfront“, der „Frauenbund“, die „Kameradschaftshilfe“ sowie die „Reichsjugend“. 2

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men, die nötige „Propagandaarbeit bei Kundgebungen“ sowie die „Vorbereitung der Versammlungen“ organisieren sollte. Mittels „körperlicher Ertüchtigung“ sollten die Reichsfrontmitglieder auf ihre Aufgaben vorbereitet werden. Die Bundesregierung wertete dies als Ausdruck der Verwandtschaft zwischen „Reichsfront“ und SA.3 Hinzu kamen Propagandaveranstaltungen, die offen dem Vorbild der NSDAP nacheiferten. So schmückte die Rednerpulte eine rote Fahne, in deren Mitte ein schwarzer Adler prangte. Totenehrungen für die gefallenen Soldaten des Weltkrieges sowie das Abspielen des „Badenweiler Marsches“ unterstrichen zudem lautstark die politische Ausrichtung der Partei. Ein anderes Merkmal für ihre rechtsextremistische Provenienz waren die heftigen Attacken gegen die politischen Vertreter des neuen Staates. Die Rechnung der SRP ging folgendermaßen: Wer es schafft, die herausragenden Vertreter der Bundesrepublik zu diskreditieren, beschädigt letztlich die politische Ordnung der Bundesrepublik, das eigentliche Angriffsziel. Immer wieder betonten die Parteiredner, daß die „Regierung des Westens [. . .] genausowenig legal zustandegekommen [sei] wie die des Ostens“, wofür die „Erschöpfungspolitiker“ und die „Landesverräter“ in Bonn die Schuld trügen.4 Die SRP kanzelte die führenden Politiker der Bundesrepublik als die wahren Verursacher der deutschen Not ab. Es galt die Parole: „Wer von Bonn frißt, stirbt daran.“5 Das rechtsextremistische Gepräge der SRP zeichnete sich durch die Adaption nationalsozialistischer Propagandamethoden, die Verächtlichmachung demokratischer Politiker sowie die Negation des legalen Zustandekommens der Bundesrepublik und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus. Bei dem Versuch, den Extremismus der SRP zu beschreiben, drängt sich eine Anwendung des von Uwe Backes entwickelten Rasters für politischen Extremismus auf. Als dessen Merkmale nennt Backes einen kategorischen Wahrheitsanspruch, einen ausgeprägten Dogmatismus und Utopismus, eine strenge FreundFeind-Unterscheidung, die Formulierung von Verschwörungstheorien sowie einen, durch signifikanten Fanatismus gekennzeichneten Aktionismus.6 Da Struktur und Auftreten der SRP alle diese Punkte aufwiesen, kann sie als frühe Vertreterin des politischen Extremismus in der Bundesrepublik verortet werden. Zur innen- wie außenpolitischen Belastung geriet die Partei allerdings erst durch ihren spektakulären Wahlerfolg im Mai 1951 in Niedersachsen. Aus dem Stand holte sie bei der dortigen Landtagswahl elf Prozent der Stimmen. Manchem demokratischen Politiker und politischen Beobachter ließ dieses Ergebnis 3 Bundesarchiv-Koblenz (BArch-Koblenz), Bestand B 106/15541, S. 16. Verbotsantrag der Bundesregierung. 4 BArch-Koblenz, B 104/77, S. 5. 5 BArch-Koblenz, B 106/15534, Bd. 6, S. 6. 6 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 298–311.

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das Blut in den Adern gefrieren, das Ausland reagierte schockiert. Ein Pressespiegel des Bundesministerium des Inneren sprach von „außerordentlich heftig[en] Reaktionen der internationalen Presse auf die Wahlen in Niedersachsen.“7 Diese Reaktionen setzten das politische Bonn in Bewegung und ließen den Ruf nach einem Verbotsverfahren gegen die SRP immer lauter werden. Angesichts des nach wie vor nicht konstituierten Bundesverfassungsgerichts war Bundeskanzler Konrad Adenauer urplötzlich an der Frage interessiert, „wer die Schuld daran trägt, daß der Gerichtshof nicht längst funktionstüchtig ist“.8 Die Nachlässigkeiten bei der Einrichtung des Gerichtes rächten sich nun. Der bereits lange drängende Bundesinnenminister Robert Lehr bekam endlich grünes Licht, die nötigen Beweise zu sammeln, um schnellstmöglich einen Verbotsantrag begründen zu können.9 Diese Festlegung markierte das Ende einer quälenden Entscheidungsfindung, wie mit der SRP umzugehen sei. Aufgrund taktischer Überlegungen hatten die demokratischen Parteien lange Zeit eine konsequente Position gegenüber der SRP vermissen lassen. Während DP und CDU – im niedersächsischen Wahlbündnis Niederdeutsche Union (NU) zusammengefaßt – hofften, mittels SRP die verhaßte SPD-Regierung in Niedersachsen abzulösen, hofften die Sozialdemokraten, die Wahlbeteiligung der SRP würde zu Lasten des bürgerlichen Lagers gehen. Die Bekämpfung der SRP besaß für die SPD-Regierung in Hannover zunächst nur nachgeordnete Priorität.10 Und die NU nahm von Verhandlungen mit der SRP erst Abstand, als der britische Hochkommissar gegen eine mögliche Regierungsbeteiligung der SRP intervenierte.11

7 BArch-Koblenz, Bestand B 106/15536, S. 2 eines Pressespiegels, der zahlreiche Ausschnitte ausländischer Zeitungen gesammelt hatte. 8 Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 4, 1951, Sitzung vom 8. Mai 1951, S. 356, Boppard a. R. 1988. 9 Vgl. Otto John, Zweimal kam ich heim. Vom Verschwörer zum Schützer der Verfassung, Düsseldorf/Wien 1969, S. 232. Laut John hatte man nach einem Jahr der Beweismittelbeschaffung im Sommer 1952 ausreichend Material zusammen, um ein erfolgreiches Verbotsverfahren zu führen. 10 Vgl. Public Record Office, Kew Richmond, Surrey (PRO), Foreign Office (FO), 1008/14, 5/3/56/51, S. 7. HICOG-Bericht vom 10. Mai 1951 über SRP-Aktivitäten. Ebenso wie Bundesinnenminister Lehr glaubten die Briten, der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher wünsche aus taktischen Erwägungen eine Wahlbeteiligung der SRP, da diese zur „Zersplitterung“ des rechten Wählerlagers führen würde. 11 Vgl. PRO, FO 1008/15, 5/3/102/51, Antwortschreiben des FO an Wahnerheide vom 25. Juli 1951. Das FO äußerte sich sehr zufrieden: „The excellent effect which seems to have been produced by the High Commissoner’s intervention at the time of the formation of the Land Government in Lower Saxony when there seemed to be a possibility that the S.R.P might get representation in a Cabinet alongside the Coalition Parties.“ Dieser Intervention entstammt vermutlich die spätere Forderung der Briten, Adenauer möge den DP-Vorsitzenden Heinrich Hellwege für dessen Verhandlungsbereitschaft gegenüber der SRP tadeln. Vgl. hierzu Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 335.

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Wie dieses Beispiel zeigt, waren es vor allem die außenpolitischen Implikationen, die die demokratischen Parteien zu einem entschlossenen Handeln gegenüber der SRP zwangen. Trotz dieses starken Einflusses blieb das Verhältnis zwischen SRP und Besatzungsmächten bis heute unterbelichtet, nicht zuletzt aufgrund fehlenden Quellenmaterials. Vor dem Hintergrund, daß die Bundesrepublik zur Zeit der SRP nach wie vor ein faktisch besetztes Land gewesen ist, war es von großer Bedeutung, wie sich die Besatzungsmächte zu Aufstieg und Entwicklung der Partei stellten. In letzter Instanz waren sie es, die über das Schicksal der SRP entschieden. Wie sich herausstellte, spielten vor allem die Reaktionen des Auslandes und der Besatzungsmächte gegenüber der SRP eine gewichtige Rolle und nötigten die Bundesregierung dazu, mit dem Instrument des Verbotsantrages gegen die SRP vorzugehen. Für die Regierungskoalition stand viel auf dem Spiel. Angesichts der Verhandlungen um die Ablösung des Besatzungsstatuts sowie der Aussicht auf eine Remilitarisierung der Bundesrepublik mußte sie alles unterbinden, was einen erfolgreichen Abschluß dieser Verhandlungen behinderte. Ein wildgewordener Haufen von unverbesserlichen Rechtsextremisten war auf jeden Fall das Letzte, was sie benötigte, um die ausländische Skepsis gegenüber Deutschland zu zerstreuen. Und was für die Bundesregierung zutraf, galt in ähnlicher Weise für die Besatzungsmächte. Wollten sie im Zeichen des Kalten Krieges die Bundesrepublik tatsächlich zu einem wiederbewaffneten Partner machen, durften sie es nicht dulden, daß eine Partei wie die SRP die Reputation des westdeutschen Staates irreparabel schädigte. Zudem bestand die Gefahr, das alliierte Ziel einer Demokratisierung der Bundesrepublik werde durch die SRP zunehmend konterkariert. Unter diesen Voraussetzungen stellt sich die Frage nach dem Verhalten der Alliierten gegenüber der SRP und wie sie diese beurteilten. Da die Quellenmaterialien vor allem aus britischen und amerikanischen Archiven stammen, stellt der Beitrag vorwiegend auf die Politik dieser beiden Besatzungsmächte ab. Ausgehend vom „SRP-Kernland“ Niedersachsen, behandelt der erste Punkt zunächst das britische Verhalten. Danach gerät die amerikanische Besatzungsmacht in den Blick. Ein kurzer Schlußteil wird die Ergebnisse zusammenfassen.

2. Die britische Haltung gegenüber der SRP Der Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus hatten bei den Besatzungsmächten ein tiefes Mißtrauen gegenüber der deutschen Politik und deutschen Politikern zurückgelassen. Die relativ späte Zulassung von Parteien in den westlichen Besatzungszonen ebenso wie die bis Anfang 1950 bestehende Lizenzpflicht waren Ausdruck davon. Angesichts der zunehmenden Verschärfung des Ost-West-Konfliktes sahen sich die westlichen Besatzungsmächte trotzdem veranlaßt, Westdeutschland in ein entsprechendes Verteidigungssystem

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zu integrieren. Es folgte die Gründung der Bundesrepublik und die damit verbundene Abgabe innenpolitischer Zuständigkeiten an die deutsche Politik. Den Alliierten war bewußt, daß die Übertragung innenpolitischer Verantwortlichkeit an den neuen Staat die Entstehung von Parteien wie der SRP begünstigen würde. Vor allem die starke föderale Verfassung des neuen Staates schien den Briten mitverantwortlich für diese „unwillkommene Entwicklung“ zu sein.12 Trotz des Bewußtseins, mit Rückschlägen in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik rechnen zu müssen, geriet das aggressive Auftreten der SRP und insbesondere deren Wahlerfolg in Niedersachsen zu einem Problem für die Alliierten. Die Besatzungsmächte mußten sich fragen, ob sie noch Herr der innenpolitischen Entwicklung Westdeutschlands waren. Da die Verbreitung der SRP von Niedersachsen ausging, machte deren Existenz vorwiegend den britischen Besatzungsbehörden zu schaffen. Es kam immer häufiger zu einer negativen Berichterstattung der britischen Presse. Eine Anfrage im Unterhaus lief unter folgender Überschrift: „The reemergence of the Nazis in Germany as the Socialist Reich Party which polled nearly a quarter of a million votes in the Lower Saxony elections.“ Solche Vorgänge setzten das britische Foreign Office immer mehr unter Erklärungsdruck.13 Der sichtbare Erfolg der SRP ließ in Großbritannien immer häufiger das Bild vom „unbelehrbaren“ Deutschen entstehen. Vor dem Hintergrund der angestrebten Wiederbewaffnung Westdeutschlands entfaltete diese Entwicklung einiges an Sprengkraft und erleichterte den Kritikern eines westdeutschen Wehrbeitrages, diesen nicht als ein Mehr an Sicherheit in Westeuropa, sondern als eigentliche Bedrohung darzustellen.14 Selbst Vertreter der eher unaufgeregten britischen Hochkommission beurteilten das Auftreten der SRP als ernst und glaubten, die Bundesrepublik und deren Demokratie befänden sich in einer „extrem kritischen Phase“. Sie führten das vor allem auf die alliierte Forderung nach dem westdeutschen Wehrbeitrag zurück. Diese habe eine zu schnelle Lockerung der alliierten Kontrolle bewirkt, die unter anderen Umständen so nicht erfolgt wäre. Der stellvertretende britische Hochkommissar plädierte gegenüber dem Foreign Office deshalb dafür: „It 12 Vgl. PRO, FO 1008/15, 5/3/117/51. Anwort der High Commission an das FO vom 18. August 1951. Darin wird darauf verwiesen: „As soon as the Germans began to find their feet again and the Allied controls were relaxed, it was inevitable that groups of disgruntled people should be formed and make nuisance of themselves.“ 13 PRO, FO 1008/14, 5/3/61/51. Anfrage des FO an die High Commission vom 24. Mai 1951. Es wurde Informationsmaterial über die SRP und die Situation in Niedersachsen benötigt, um so im Unterhaus ausreichend präpariert zu sein. 14 PRO, FO 1008/15, 5/3/102/51. Bericht des Foreign Office vom 25. Juli 1951. Für das Anwachsen der SRP stellte das FO fest: „Inevitably it is just the sort of development which tends to strengthen the hands of those who argue that the Germans are still completely unregenerate [. . .] and are therefore not to be trusted [. . .] with rearmament“.

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is [. . .] imperative that if we do not wish to see this state emerge with many features hideously similar to those which we were faced with by prewar Germany, we must be extremely watchful against the development of typically German tendencies and make the best use of what powers and position remain to us before they disappear.“15 Der stellvertretende britische Hochkommissar zeigte sich besorgt darüber, daß über das „kurzfristige Ziel“ eines westdeutschen Wehrbeitrags das „langfristige Ziel“ einer Demokratisierung Deutschlands aus dem Auge verloren werden könnte. Als abschreckendes Beispiel erwähnte er die bisherige britische Deutschlandpolitik, die bereits akzeptiert hätte, daß ehemalige Nationalsozialisten in hohe Positionen zurückgekehrt seien: „The second rank of political posts seems to have become almost a monopoly of ex-Nazis.“ Es dürfte deshalb nicht toleriert werden, daß jene „ex-Nazis“ nun auch noch von „neo-Nazis“ flankiert würden.16 Offenbar sah er Anzeichen, die Alliierten könnten vermehrt bereit sein, zugunsten der Aufstellung einer deutschen Armee Personen in verantwortlichen Positionen zu akzeptieren, die nachweislich in das nationalsozialistische Regime verstrickt waren oder dem aktuellen rechtsextremen Milieu zugerechnet werden konnten. Für ihn gab es nur eine Konsequenz: Die britische Besatzungsmacht müsse den Deutschen zweifelsfrei verdeutlichen, daß sie solch eine Entwicklung nicht dulden würde.17 Was damit gemeint war, hatten die Briten bereits anläßlich der Regierungsbildung in Niedersachsen gezeigt, als sie mögliche Gedankenspiele zu einer Regierungsbeteiligung der SRP sofort unterbanden. Angesichts der bis August 1951 noch immer nicht erfolgten Konstituierung des Bundesverfassungsgerichtes sahen sich die Briten veranlaßt, beim Bundeskanzler zu intervenieren. Die Kritik des britischen Hochkommissars Kirkpatrick fiel offenbar so massiv aus, daß sich Adenauer überaus gekränkt zeigte und Kirkpatrick eine Fortsetzung des Gespräches mit dem Bundeskanzler für wenig sinnvoll hielt. Den Briten war bewußt, daß die Verzögerung nicht allein der Bundesregierung angelastet werden konnte. Die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichtes lag in der Verantwortung des Parlaments. Dennoch wollte der Hochkommissar den Druck auf Bundeskanzler und Regierung aufrechterhalten und weiterhin zu mehr Eile mahnen.18 Das massive Drängen der Briten, endlich ein arbeitsfähiges Bundesverfassungsgericht zu errichten, zeigt, wie dringlich ihnen ein Verbot der SRP mittlerweile erschien. Anscheinend befürchteten sie, die Verzögerung 15 PRO, FO 1008/15, 5/3/102/51, S. 1. Entwurf des stellvertretenden britischen Hochkommissars vom 16. August 1951, der als Anwort an das Foreign Office und deren Schreiben vom Juli 1951 vorgesehen war. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. PRO, FO 1008/15, o. R. Schreiben des High Command an das FO vom 14. August 1951.

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könne zu einer Störung des deutschen Demokratisierungsprozesses führen und der internationalen Reputation der Bundesrepublik Schaden zufügen.19 Die Briten trieb nicht nur die Sorge um, die SRP könne zum Problem für die Bundesrepublik werden, sondern die eigene Besatzungspolitik konterkarieren. Die Partei geriet zunehmend zu einer Belastung für die britische Besatzungsmacht selbst. So war es ruchbar geworden, daß sich unter der German Service Organisation (GSO), einer Einrichtung des britischen Militärs, SRP-Mitglieder befänden. In der GSO waren Deutsche beschäftigt, die für die Briten beispielsweise Reparatur- oder Fahrerdienste leisteten. Bereits im Mai 1951 hatte Bundesinnenminister Lehr die Briten darauf hingewiesen, daß ihm Informationen zugetragen worden seien, wonach „Mitglieder dieser Partei bei Dienststellen der Britischen Besatzungsmacht beschäftigt werden“.20 Mit seiner Besorgnis rannte Lehr bei der britischen Hochkommission offene Türen ein und bekam zur Antwort, die britischen Stellen würden geeignete Schritte einleiten.21 Wie die britische Hochkommission konstatierte, gab es tatsächlich SRP-Mitglieder, die für die Briten arbeiteten, zumeist innerhalb der GSO. Da diese jedoch direkt dem britischen Militär unterstand, war ein Zugriff durch die britische Hochkommission verstellt.22 Der Außenminister wandte sich aus diesem Grunde mit der Forderung an den britischen Kriegsminister, strikter als bisher nach möglichen SRP-Mitgliedern zu suchen und diese aus der GSO zu entfernen.23 Das Militär war schon vorher auf die Problematik aufmerksam geworden und hatte ein „Screening“ der GSO-Mitglieder in die Wege geleitet, um so mögliche SRPMitglieder herauszufiltern; in vereinzelten Fällen gelang dies auch.24 Grundsätz19 Vgl. PRO, FO 1008/15, 5/3/102/51. So jedenfalls schätzte das FO die Lage ein. In dem bereits erwähnten Brief vom 25. Juli 1951 an die High Commission heißt es: „We quite agree with the High Commissioner’s opinion that this sort of ,lamentable episode’ does much harm to the reputation in Germany of democratic institutions and we would add some harm also to the Federal Republic’s reputation abroad.“ 20 PRO, FO 1008/14, 5/3/58/51. Brief Lehrs vom 10. Mai 1951 an den Britischen Hochkommissar. 21 Vgl. PRO, FO 1008/14, 5/3/60/51. Antwort Kirkpatricks an Lehr vom 28. Mai 1951. 22 Vgl. PRO, FO 1008/14, 5/3/59/51. Kurzinformation der Hochkommission vom 16. Mai 1951. Für das Personal der Control Commission for Germany (CCG) hatte man bereits zuvor eine Überprüfung vorgenommen. Daraufhin wurde eine geringe Anzahl von Beschäftigten entlassen; hierzu PRO, FO 1008/14, 5/3/58/51, Kurzinformation vom 21. Mai 1951 über ein Gespräch zwischen einem Vertreter der CCG und dem Staatssekretär im BMI, Ritter von Lex. 23 Vgl. PRO, FO 1008/14, 5/3/83/51. Informationsschreiben des FO an die britische Hochkommission. Es wird zudem darauf verwiesen, der Außenminister wolle alle Kriegsminister dazu auffordern, eine Zusammenarbeit zwischen Militär und britischer Hochkommission sicherzustellen. Offenbar funktionierte dies nicht immer zur Zufriedenheit aller. 24 PRO, FO 1008/14, o. R. Bericht der Army vom 7. Juni 1951. Danach galt: British Air Force of Occupation (BAFO) „had sacked some Germans for exhibiting proNazi tendencies“.

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lich reichte diese Maßnahme nicht aus, da nicht verhindert werden konnte, daß GSO-Mitglieder nach diesem „Screening“ ihre politische Meinung änderten und dann zur SRP stoßen würden. Ähnliches galt für deutsches Personal, das für andere britische Stellen arbeitete. Zur Abwehr von möglichen SRP-Mitgliedern in britischen Diensten wurde deshalb verstärkt auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse gesetzt.25 Der Wahlerfolg der SRP in Niedersachsen und die Vorkommnisse um die GSO hatten die britische Öffentlichkeit mehr und mehr für die Entwicklungen in der Bundesrepublik sensibilisiert.26 Die britischen Besatzungsbehörden waren in erhöhtem Maße alarmiert, wenn es um die SRP und deren Wirken ging. Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, sie vernachlässigten deren Entwicklung. Der Land Commissioner für Niedersachsen verbot beispielsweise dem British Resident in Dannenberg, die Einladung der SRP zu einer „privaten Parteiversammlung“ anzunehmen. Es galt den Eindruck zu vermeiden: „That the party is at least tolerated if not supported by the Allies.“ Nach britischer Meinung sei das Hauptaugenmerk der SRP „momentan“ darauf ausgerichtet, die deutsche Öffentlichkeit glauben zu machen, es handele sich bei der Partei lediglich um einen Zusammenschluß „vernünftiger und moderater“ Personen.27 Die geschilderten Verhaltensmaßregeln gegenüber der SRP bezogen sich ausschließlich auf Kontakte, die sich in der Öffentlichkeit abspielten. Vertrauliche Treffen mit SRP-Funktionären gehörten dennoch zur Arbeit der britischen Besatzungsmacht. Mehrmals kam es zu Gesprächen mit Wolf Graf von Westarp, der ein positives Bild der SRP zu vermitteln suchte. Diese Versuche mißlangen jedoch auf ganzer Breite, als die britischen Gesprächspartner von Westarp mit verbalen Ausfällen seiner Parteifreunde Hans-Henning Festge und Franz Richter alias Fritz Rößler konfrontierten. Die Vertreter der britischen Hochkommission kamen zu dem Ergebnis: „His subtile, moderate and reasonable manner did not reflect the SRP as it was.“28 Nicht die beschwichtigende Position eines von Westarp spiegelte das wahre Gesicht der SRP wider, sondern die Propaganda, die Richter, Dorls oder Remer artikulierten. Statt mit Sanktionen gegen die Parteigrößen vorzugehen, wollte die britische Besatzungsmacht abwarten, welches Resultat das angestrebte Ver25

Ebd. Vgl. PRO, FO 1008/14, 5/3/69/51. Telegramm des FO an die britische Hochkommission vom 1. Juni 1951. Das FO benötigte Material für eine Parlamentsanfrage, die sich am 6. Juni 1951 mit der GSO beschäftigte. 27 PRO, FO 1008/15, 5/3/150/51. Schreiben des Land Commissioner an den High Commissoner vom 31. Oktober 1951. Die Einladung wurde durch von Bothmer ausgesprochen, der den Briten beweisen wollte, daß die SRP eine „verfassungsgerechte“ Partei ist. Er gab an: „The SRP is the victim of a campaign by the left-wing parties“. 28 PRO, FO 1008/15, 5/3/104/51, S. 2. Bericht des Land Commissioner Hannover an die britische Hochkommission in Wahnerheide vom 30. Juli 1951. 26

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botsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zeitigen würde. Lediglich auf die Presseerzeugnisse der SRP suchten die Briten einzuwirken, da sich die Alliierten dabei leichter taten als die deutschen Behörden. Im Falle des neunzigtägigen Verbots der „Reichszeitung“ wurde dies offensichtlich.29 Die Besatzungsmacht hätte sich bei einem für die SRP positiven Ausgang des Verbotsverfahrens nicht gescheut, ihrerseits gegen die Partei einzuschreiten. Vor allem die vehemente Opposition der SRP gegen die Remilitarisierung sowie deren Unterschriftensammlung für den „Vorbereitenden Ausschuss für die Befreiung Deutscher Soldaten“, womit deutsche Kriegsverbrecher im Zuchthaus Werl gemeint waren, rüttelte an der bisherigen britischen Besatzungspolitik. Laut Aufruf sollte diese Petition ein „Protest [. . .] gegen die schmähliche Behandlung deutscher Männer, die nur ihre Pflicht taten“ sein und sich zugleich „gegen feindliche Siegerwillkür und damit letztlich gegen alle sogenannten ,Kriegsverbrecherprozesse‘“ richten.30 Die Briten zeigten sich besorgt, daß es der SRP innerhalb von zwei Wochen gelang, immerhin 650.000 Unterschriften zu sammeln, obwohl Gewerkschaften, Presse und demokratische Parteien die Bevölkerung dazu aufgerufen hatten, die Petition keinesfalls zu unterschreiben.31 Diese Zahl war nicht dazu geeignet, die britischen Zweifel an der Lernfähigkeit der deutschen Bevölkerung zu zerstreuen.

3. Die amerikanische Haltung gegenüber der SRP Neben den Briten verfolgten die amerikanischen Besatzungsbehörden die Entwicklung der SRP ebenfalls sehr aufmerksam. In zunehmenden Maße trieb die Partei auch ihnen die Sorgenfalten auf die Stirn, da sie nach der Niedersachsenwahl 1951 versucht hatte, in den US-Besatzungszonen Fuß zu fassen und ihre dortigen Propagandaaktivitäten zu steigern.32 Parallel zu den Einschätzungen der Bundesregierung erschien den US-Behörden die SRP bis zur Niedersachsenwahl als Größe, deren Gefahrenpotential relativ gering war. Ein interner Bericht, der aus dem ersten Halbjahr 1950 stammt, beurteilte dies folgendermaßen: „The party is not able to constitute a threat to the security of the 29 Vgl. PRO, FO 1008/14, 5/3/88/51. Antwortschreiben des Office of the UK High Commissioner an den Land Commissoner Hannover vom 20. Juni 1951. 30 U.S. Army Intelligence and Security Command, Freedom of Information, Investigative Records Repository (IRR), XE-266906, Vol. V, S. 2301. Aufruf zur Unterschriftensammlung. Bei den besagten Kriegsverbrechern handelte es sich um die Generäle Kesselring, von Manstein und den General der Waffen-SS Meyer. 31 Vgl. Wellington Long, The new Nazis of Germany, Philadelphia u. a. 1968, S. 65. 32 Vgl. U.S. Army, IRR, D-266906, 1828. Bericht vom 7. September 1951. Demnach sei die SRP eine Partei, die ihre Aktivitäten in Bayern und Württemberg-Baden forciere.

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Allies or the Federal Government at the present time.“33 „Circumstances may change“, vermerkten die Amerikaner jedoch und hielten an einer Beobachtung der Partei fest, zumal ihnen die SRP als erste Partei galt, in der sich die „AltNazis“ zuhause fühlen.34 Wie die Wahlerfolge und das Anwachsen der Mitgliederbasis der SRP bewiesen, hatten die amerikanischen Besatzungsbehörden allen Grund für solch gesteigerte Aufmerksamkeit. Analog zu den Briten erschien den Amerikanern die SRP-Propaganda zu einem Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik in einem westlichen Bündnis als äußerst brisant.35 Ganz erheblich stand dies den politischen Konzeptionen der US-Administration entgegen, die während des Kalten Krieges auf ein bewaffnetes Westdeutschland setzten. Mehrmals sahen sich interne Berichte der US-Stellen gezwungen, auf die heftigen Attacken der SRP gegen einen solchen Verteidigungsbeitrag hinzuweisen. Das Counter Intelligence Corps (CIC) zog daraus den Schluß, die SRP verrichte das Geschäft Moskaus.36 Verbunden mit der Propaganda gegen die Remilitarisierung war eine verschärfte Agitation der SRP gegen die alliierte Besatzungsmacht. Teil dieser Agitation war der Vorwurf, die US-Behörden würden die noch einsitzenden Kriegsverbrecher schlecht behandeln. Bereits vor der gelungenen Unterschriftensammlung der SRP zur „Befreiung“ der Kriegsverbrecher im Gefängnis von Werl sahen sich die US-Behörden zu der Feststellung veranlaßt: „This allegations represents a serious direct attack on policies and actions of the Allied forces and could develop into a dangerous [. . .] propaganda effort.“37 Am Beispiel der IG Farben bezichtigte die SRP die Besatzungsmächte, die „gesamte deutsche Forschung zerstört“ und sich durch die „Wegnahme sämtlicher deutscher Patente“ einen unzulässigen Wettbewerbsvorteil verschafft zu haben.38

33 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. II, S. 23. Undatierter Bericht, der nur Vorgänge aus dem ersten Halbjahr 1950 benennt (Hervorhebung im Original). 34 Vgl. ebd. 35 U.S. Army, IRR, D-266906, S. 4420. Bericht des Office of the Land Commissioner for Wuerttemberg-Baden vom 6. September 1951 über den dortigen Wahlkampf der SRP. Dem Bericht zufolge mußte gelten: „The hottest issue, and the one in which the SRP seems to put up a show of greatest determination, is the issue of rearmament.“ 36 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. II, S. 609 f. Bericht des CIC vom 23. August 1950. Die Schlußfolgerung lautete: „The SRP is formulating a policy which is moving from extreme right to center and now to left of center using pro-Soviet propaganda as a basis for their speeches.“ 37 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. II, S. 447. Propagandaveranstaltung in Lilienthal, vom 14. November 1950. 38 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. XI, S. 3775. Referat der SRP mit dem Titel „Was will die SRP?“.

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Daß sich diese Agitation mit den zunehmend verschärften Sanktionen gegen die SRP nicht vermindern würde, machte den Amerikanern eine Auswahl von Artikeln der SRP-Zeitung „Deutsche Opposition“ vom Juni 1952 deutlich. Trotz des bevorstehenden Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht setzte die SRP ihre öffentliche „vicious anti-United States propaganda“ nicht nur unvermindert fort, sondern verschärfte sie nochmals. Einer der Vorwürfe lautete, die US Army hätte tausende von deutschen Kriegsgefangenen aufgehängt oder auf anderem Wege exekutiert, eine Praxis, die von den Amerikanern nun auch in Korea angewandt würde.39 Aufgrund dieser heftigen Angriffe gegen die Alliierten und der Agitation gegen die Wiederbewaffnung erkannten die Amerikaner sehr schnell die Notwendigkeit, über jegliche Veränderung innerhalb der SRP im Bilde zu sein, um nicht Überraschungen erleben zu müssen. Mit dem Ziel, jede Regung in der Partei seismographisch zu registrieren, unterhielten die Amerikaner ein dichtes Netz von Agenten in der SRP und deren Umfeld. Von besonderem Interesse erschienen den Amerikanern die vielfachen Kontakte der SRP zu Vertretern anderer Parteien, wobei sich der Fokus überwiegend auf Kontakte zu Parteien des rechtsextremen Spektrums richtete. Die US-Behörden hielten es jederzeit für möglich, daß die SRP durch Fusionen mit der „Deutschen Gemeinschaft“, dem „Deutschen Bund“ oder der „Wirtschaftlichen Aufbau Vereinigung“ eine schlagkräftige rechtsextreme Sammlungspartei schaffe, die destabilisierend auf die Bundesrepublik wirken könnte und damit auch für die Besatzungsmacht eine Gefahr dargestellt hätte. Gleichermaßen erregten die Kontakte zwischen SRP und Parteien aus dem demokratischen Lager den Argwohn der amerikanischen Berichterstatter. Waren es einmal die Versuche der DP, nach der Niedersachsenwahl eine bürgerliche Mehrheit unter Einschluß der SRP zustande zu bringen, waren es ein anderes Mal Gespräche zwischen dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher und Fritz Dorls. Schumacher hatte nach anfänglichem Zögern einem Treffen mit Dorls zugestimmt. Die SRP könnte der SPD bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und vor allem in Niedersachsen dienlich sein. Entscheidend für ihn war, daß die SRP dem bürgerlichen Lager wichtige Stimmen streitig machen würde. Am Ende der Gespräche soll sich Schumacher sogar bereit erklärt haben, bei der SPD-Regierung Schleswig-Holsteins zugunsten der SRP zu intervenieren, um eine Lockerung der Redeverbote für einzelne Propagandisten der Partei zu erreichen.40 Tatsächlich wurde ein Auftrittsverbot für Remer, das aus dem Februar 1950 stammte, bereits im April wieder aufgehoben. Da sich die SPD spä39

Vgl. ebd., S. 3673 f. Bericht über die „Deutsche Opposition“ vom 13. Juni 1952. Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. II, S. 20. Analyse über die Entwicklung der SRP aus dem zweiten Halbjahr 1950. Schumacher soll sich am 4. Oktober 1949, 10. November 1949 und am 30. März 1950 mit Dorls getroffen haben. 40

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ter in Bremen ähnlich verhielt, gelangten die Amerikaner zu der Einschätzung: „Their attitude towards the SRP was [. . .] ambiguous.“41 Besonders interessant nahm sich eine Verbindung der SRP in die USA selbst aus. Offenbar gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen dortigen rechtsextremen Kreisen und der SRP. Es hatte sich ein „Committee for the Freedom of Major General Remer“ gebildet, das an verschiedene Mitglieder des Bundestages und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik Briefe versandte, die „Gerechtigkeit für Remer“ forderten. Die Briefe waren in folgendem Tenor abgefaßt: „The Third Reich was a legal state and Remer the idol of many people. The manner in which the Bonn Government treats Remer and the other members of the SRP, Germany will be judged and treated.“42 Diese unverhohlene Drohung stammte offenbar aus der Feder von Harold Keith Thompson, der die Briefe unterschrieben hatte. Thompson, schon vor 1945 ein Bewunderer des Nationalsozialismus, hatte sich mit Beginn des Jahres 1950 als Agent für die SRP verdingt und gelegentlich Artikel für die rechtsextremistische Zeitschrift „Der Weg“ verfaßt. Dadurch kam er mit dem hochdekorierten Kampfflieger Hans-Ulrich Rudel in Verbindung.43 Kontakte zur SRP pflegten allerdings nicht nur Vertreter bundesdeutscher Parteien oder rechtsextreme Kreise in den USA. Mehrmals trafen sich auch Angehörige der amerikanischen Besatzungsmacht mit führenden Personen der SRP. Besonders interessiert zeigten sie sich daran, über die SRP einen Kontakt zu Manfred Roeder herzustellen, der als Ankläger gegen die „Rote Kapelle“ agiert hatte. Die Amerikaner verbanden damit die Hoffnung, Zugang zu dessen verschollenen Ermittlungsakten zu bekommen. Im Zeichen der antikommunistischen Hysterie der McCarthy-Ära in den USA, suchten die US-Behörden nach Informationen, die möglicherweise Auskunft über Kontakte führender westdeutscher Persönlichkeiten zu kommunistischen Kreisen geben konnten. Auf Vermittlung durch Graf Westarp kam es im Januar 1952 zu einem Treffen von CIC-Vertretern mit Manfred Roeder. Während des fünfeinhalb Stunden dauernden Gesprächs gab Roeder den drei US-Vertretern die Zusage, die in Frage stehenden Akten zu kopieren, um dadurch weiteren Schaden von Deutschland abzuwenden. Als Termin zur Übergabe der Akten einigte man sich auf den 4. Februar 1952 in Hannover.44 41 U.S. Army, IRR, D-266906, S. 3369. Analyse vom 23. Mai 1952 der Bundestagsnachwahl in Bremen. 42 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. XI, S. 3556. Bericht vom 26. Juni 1952. 43 Vgl. Kevin Coogan, Dreamer of the day. Francis Parker Yockey and the Postwar Fascist International, New York, 1999, S. 256 f.; hierzu auch U.S. Army, XE-255628, S. 24. Vermerk vom Oktober 1953 über einen Brief, den Thompson an einen gewissen Nadir geschrieben hatte, in dem er ihm Dorls als Kontaktadresse für Deutschland nannte. 44 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VI, S. 2399-2401.

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Trotz dieser Zusage Roeders gelangten die US-Behörden offensichtlich nicht in den Besitz der Akten. An Roeders Stelle erschienen zu besagtem Termin Vertreter der SRP, wobei es sich vermutlich um Dorls und von Westarp handelte. Diese machten klar, daß die Akten erst dann zur Verfügung gestellt würden, wenn die Amerikaner drei Forderungen erfüllten. Erstens sollten sich die Besatzungsbehörden zugunsten der SRP einsetzen und die Bundesregierung soweit unter Druck setzen, daß ein Verbot der Partei durch das Bundesverfassungsgericht verhindert würde. Zweitens forderte die SRP ein Treffen im Pentagon, um über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen den USA und der Partei zu beraten. Drittens sollten die Amerikaner finanzielle Hilfe leisten, um die Dienste ehemaliger Mitarbeiter des deutschen Sicherheitsdienstes, mit denen Roeder in Verbindung stand, zu erwerben. Bei Erfüllung dieser Forderungen versprachen die SRP-Vertreter im Gegenzug die US-Politik zu unterstützen. Dies beinhaltete auch die Zustimmung zur Remilitarisierung. Zudem wollte man den US-Behörden den Zugang zu allen Informationen, über die Roeder – angeblich – verfügte, ermöglichen. Da die US-Vertreter nicht ohne Anwesenheit Roeders weiterverhandeln wollten, wurde vereinbart, sich am nächsten Tag unter Einschluß Roeders nochmals in Hannover zu treffen.45 Selbst wenn dieser Kontakt zur SRP-Führungsspitze in einem unverhohlenen Erpressungsversuch mündete, dürften die Amerikaner von dieser Wendung nicht überrascht gewesen sein. Bereits im Januar 1952 hatten zwei Zusammenkünfte zwischen Vertretern der amerikanischen Besatzungsmacht und der SRP-Führungsriege stattgefunden, in denen die SRP die Unterstützung der US-Behörden zu erlangen suchte. Angehörige des CIC hatten am 4. Januar 1952 Dorls und vermutlich von Westarp getroffen, um sie hinsichtlich des weiteren Kurses der SRP zu befragen. In einer breiten und „leidenschaftlichen“ Ansprache – „as if he were adressing a public meeting“ – versuchte Dorls den CIC-Mitarbeitern beinahe drohend zu verdeutlichen, daß ein Verbot der SRP ein Überlaufen der meisten Mitglieder zur KPD bedeuten würde. Erklärbar werde dies durch die Ansicht der Parteimitglieder, die Russen zeigten sich gegenüber eines deutschen Nationalismus wesentlich aufgeschlossener. Trotzdem versicherten die SRP-Vertreter: „The SRP is on the side of the United States [and] does not advocate or strive for the predominance of Germany in Europe.“46 Noch deutlicher wurden Dorls, von Westarp und der SRP-Landesvorsitzende für Baden, Karl Theodor Förster, bei einem Treffen zwei Wochen später. Die USA sollten die Bundesregierung dazu bringen, der SRP einen fairen Prozeß zu gewährleisten, um ein Weiterbestehen der Partei zu ermöglichen. Laut SRP lag 45 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VII, S. 2658 f. Ob dieses Treffen zustande kam, ließ sich nicht klären. 46 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VI, S. 2472, 2479. Bericht vom 11. Januar 1952 über das Treffen vom 4. Januar 1952.

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eine Weiterexistenz im unmittelbaren Interesse der USA, da sich die Partei bereit erklärte, im Falle eines Krieges gegen die UdSSR eine deutsche Freiwilligenarmee auf der Seite der Westmächte zu aktivieren. Um eine solche Armee zu ermöglichen, sei es allerdings nötig, daß die US-Administration ihr Geld fortan nicht mehr in die „Bonner Regierung und den Koreakonflikt“ stecke, sondern jene Kräfte finanziell unterstütze, die den gemeinsamen Kampf gegen die UdSSR zu gewinnen versprachen.47 Wie die Gesprächsteilnehmer des CIC kurz darauf an ihr Hauptquartier weitergaben, sollte die geforderte finanzielle Unterstützung der SRP zukommen.48 Was die CIC-Vertreter an den Aussagen der SRP-Führungsriege noch mehr erstaunt zu haben scheint als deren Abkehr von ihrer bisherigen antiamerikanischen Linie, ist die Offenheit, mit der dies geschah. Ein Bericht vom 11. Februar 1952 hält fest: „The SRP seems to be remarkably naive in regard to personal security and apparently gave no thought to the possibility that the key party functionaries might be under surveillance by either the Bundesamt für Verfassungsschutz or British Intelligence.“ Zutreffend stellte der CIC fest, daß ein kleiner Kassettenrekorder ausgereicht hätte, um die SRP bloßzustellen, denn: „This record could conceivably provide the basis for smashing the SRP through publicizing their attempts to negotiate with the Americans.“49 Auch wenn die besagten Gespräche mit der SRP-Führung einiges Wissenswertes und Überraschendendes hervorbrachten, ließ sich das wahre Potential der Partei dadurch nur recht unzureichend für die Amerikaner ablesen. Als beispielsweise ein CIC-Mitarbeiter während des Gespräches am 4. Januar 1952 nach Mitgliedernamen und finanziellen Quellen der SRP fragte, erhielt er die zwar zutreffende, aber wenig befriedigende Antwort, daß keine überregionale Mitgliederliste existiere. Als Begründung führten die Gesprächsteilnehmer der SRP an, aus den schlechten Erfahrungen der NSDAP gelernt zu haben und überdies nicht das nötige Geld für eine solche Mitgliederliste zu besitzen. Im Hinblick auf die finanzielle Grundlage der Partei wiederholten die SRP-Vertreter lediglich, daß nicht einmal genug Geld vorhanden sei, um die Reisen von Parteirednern zu bezahlen oder den Parteiführern Gehälter zukommen zu lassen.50

47 Vgl. ebd., S. 2438. Zusammenfassung eines Treffens vom 19. Januar 1952, an dem ein Colonel W. R. Philip teilnahm, der ein Vertreter des CIC-Hauptquartiers war. Dies macht deutlich, wie ernst der CIC den Kontakt zur SRP nahm. 48 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VII, S. 2626. Ein Kurzbericht vom 14. Februar 1952 gelangt zu der Schlußfolgerung: „The SRP needs financial and moral support from the United States to continue to exist.“ 49 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VII, S. 2660. 50 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VI, S. 2474. Gespräch vom 4. Januar 1952.

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Für einen tieferen Einblick in die Entwicklungen innerhalb der SRP, vor allem über etwaige Flügelkämpfe, war der CIC auf seine Agenten angewiesen, ebenso wie auf Gespräche mit SRP-Führern aus der zweiten Reihe, beispielsweise dem badensischen SRP-Landesvorsitzenden Förster. Anders als die Parteileitung gab dieser gegenüber CIC-Vertretern zu verstehen, daß die Vermutung der Amerikaner zuträfe, wonach es in der SRP immer häufiger zu Spannungen zwischen einer radikalen „Nazi faction“ und einer konservativen komme. Obwohl sich Förster davon überzeugt zeigte, daß sich der konservative und „rationale“ Parteiflügel durchsetzen werde, gestand er unumwunden zu, die „Nazi faction“ sei eine Gefahr für das Weiterbestehen der Partei, vor allem deshalb, da diese wesentlich lauter auftrete und damit weithin vernehmbar wäre.51 Die Sicherheit im Urteil Försters, daß sich der „konservative“, auf Legalität ausgerichtete Flügel um von Westarp würde durchsetzen können, muß dem CIC im Laufe des Jahres 1952 als Zweckoptimismus vorgekommen sein. Mehr denn je trat zu Tage, daß sich innerhalb der SRP die Hardliner – oder wie es die Briten zu sagen pflegten, der „Radau-Flügel“ um Dorls und Remer – durchsetzten.52 Recht deutlich stellte ein CIC-Bericht fest: „The former assertions of the Parteirat, that the SRP stood for multi-party system and periodically elected government are not being mentioned any longer“. Vielmehr sei das „Führerprinzip“ nach wie vor in Kraft, und immer mehr neue Mitglieder folgten dem Lager von Otto Ernst Remer und Fritz Dorls.53 Nichts mehr war spürbar von den kurz zuvor angestellten Erwägungen des Parteirats, wonach die radikalen Angriffe auf die Bundesregierung eingestellt werden sollten, eine bewaffnete Partnerschaft der Bundesrepublik mit dem Westen zu begrüßen sei und im Hinblick auf die Debatte um den 20. Juli 1944 moderatere Töne angekündigt wurden.54 Auch in untergeordneten Parteizellen schien sich eine neue Stufe der Radikalisierung zu vollziehen. In Bayern versuchte eine Gruppe um den SRP-Organisationsleiter Hans Baum an Waffen zu kommen, um damit eine „Terror51 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VIIII, S. 3277. CIC-Bericht vom 3. April 1952 über ein Gespräch, das auf Bitten Försters am 26. März 1952 stattfand. Während des Gespräches erklärte Förster, er stehe in engem Kontakt zu Graf Westarp. Dies erklärt seine Überzeugung, der konservative Flügel würde sich durchsetzen. Von Westarp galt als der Führer dieses Flügels, der die Partei in ruhigeres Fahrwasser steuern wollte. 52 Vgl. PRO, FO 1008/15, S. 2 einer Denkschrift über „Die Entwicklung des Neonazismus in Niedersachsen“. 53 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. XI, S. 3597. CIC-Bericht vom 23. Juni 1952. Der Bericht hält fest, daß der zunehmende „Nazismus“ innnerhalb der Partei mehr und mehr zur Uneinigkeit führe. 54 Ebd., S. 3545. Bericht vom 27. Juni 1952. Noch Anfang Juni soll der Parteirat erwägt haben, Kontakte zu jüngeren Abgeordneten der Bonner Koalition herzustellen, um mit diesen die genannten Punkte zu debattieren. Der CIC betrachtete die geäußerten Erwägungen des Parteirates als „clever device“, um vor dem Verfassungsgericht bessere Bedingungen anzutreffen.

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Gruppe“ ins Leben zu rufen. Laut CIC soll es sich dabei nicht nur um kleinkalibrige Waffen, sondern um Handgranaten und Maschinenpistolen gehandelt haben.55 In Kaufbeuren versuchte der dortige SRP-Vorsitzende Heinz Joanni ebenfalls Waffen zu beschaffen, allerdings nicht auf käuflichem Wege. Er wollte US-Militärpolizisten in entlegene Gegenden locken, um diese dann gewaltsam zu entwaffnen.56 Selbst wenn diese Fälle als äußerst abenteuerlich erscheinen und offensichtlich nicht von der Parteiführung koordiniert wurden, deuten sie doch das radikale Potential der SRP an. Eine ungleich größere Gefahr erblickten die US-Besatzungsbehörden – in Zeiten eines forcierten amerikanischen Antikommunismus – in Hinweisen und Gerüchten, die SRP unterhalte Kontakte zu den Machthabern in Ostdeutschland. Dem CIC oblag es deshalb, Indizien zu sammeln, die diesen Verdacht erhärten konnten. Hinweise für eine Annäherung der SRP an den Osten glaubten die USBehörden in Kontakten zwischen Dorls und Vertretern der KPD erblicken zu können. Bereits im Oktober 1948 soll Dorls einen Kontakt zum ersten Vorsitzenden der niedersächsischen KPD Erich Jungmann hergestellt haben, der allerdings ohne Resultat blieb.57 Eine Fortsetzung fand jener Kontakt erst im September 1950. Diesmal soll Dorls eine halbstündige Unterhaltung mit seinem KPD-Bundestagskollegen Rudolf Kohl geführt haben.58 Ziel dieser Unterredungen war nicht, eine langfristige politische Kooperation zwischen beiden Parteien zu erreichen, sondern ein Stillhalten der jeweils anderen Seite gegenüber der eigenen Politik. Eine Einschätzung der US-Behörden unterstreicht dies: „The SRP rejects the KPD ideologically, especially its subservience to the Russian Communist Party, but it is equally certain that it would not be averse to collaborating with the KPD should it at any time suit its purpose.“59 Wie das Beispiel der Bremer Bundestagsnachwahl vom Mai 1952 zeigte, waren temporäre Abkommen zwischen beiden Parteien nichts Ungewöhnliches.60 Obwohl die US-Behörden den Berichten über Kontakte zwischen SRP und KPD große Auf55 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. XII, S. 3969. Der Waffenkauf sollte über den Kreisvorsitzenden von Traunstein, Anton Linner, abgewickelt werden. Er behauptete, bereits im Besitz von Waffen zu sein. 56 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. VIIII, S. 3018. Bericht am 23. April 1952. Mittels jener Waffen sollte vor allem gegen Frauen vorgegangen werden, die Verbindungen mit US-Soldaten pflegten. 57 Vgl. U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. II, S. 20. US-Analyse der SRP aus dem ersten Halbjahr 1950. 58 Vgl. U.S. Army, IRR, D-266906, S. 3114. Dossier vom April 1952 über die führenden Personen in der SRP. 59 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. II, S. 20. 60 Vgl. U.S. Army, IRR, D-266906, S. 3369. Wahlanalyse des US-Generalkonsulats von Bremen vom 23. Mai 1952. Der Bericht hält fest, während der ersten SRP-Versammlung sei es noch zu Störversuchen seitens der FDJ gekommen, die aber schon bei der nächsten Versammlung unterblieben. Offenbar waren nicht alle FDJ-Mitglieder über die neue Linie der KPD im Bilde.

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merksamkeit schenkten, erkannten sie, daß zahlreiche Informationen aus äußerst trüben Quellen stammten: „The allegations contained therein should be regarded with considerable skepticism.“61 Den US-Behörden gelang es nicht, Belege beizubringen, die eine Verbindung der SRP nach Ostdeutschland zweifelsfrei ergeben hätten. Über die temporären Kontakte zur KPD hinaus fanden sich keine Hinweise. Dem CIC erging es nicht anders als den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik, dem britischen Secret Service oder der französischen Sureté. Das äußerst dichte Agentennetz innerund außerhalb der SRP lieferte den Alliierten zwar die nötigen Informationen, um über die wahre Stärke der SRP im Bilde zu sein, allerdings keine Beweise für Ostkontakte. Indizien reichten nicht aus.

4. Schlußbetrachtung Trotz der Kontaktaufnahmen der Besatzungsmächte zur SRP sowie den Versuchen, an Erkenntnisse über die „Rote Kapelle“ zu kommen, blieb für die Alliierten die SRP eine „neo-nazistische“ Partei, deren politischer Einfluß in der Bundesrepublik begrenzt war. Dennoch besaß sie Entwicklungspotentiale, die eine Demokratisierung der Bundesrepublik im Sinne der Westmächte erschweren konnten. Die zeitweise geäußerten Beschwichtigungen und Versprechen der SRP, fortan nicht mehr gegen die Westmächte zu agitieren und ihre Antiremilitarisierungskampagne einstellen zu wollen, erweckten bei den Besatzungsbehörden wenig Vertrauen. Die Unglaubwürdigkeit der Führung, die massenhafte Ansammlung von ehemaligen nationalsozialistischen Funktionsträgern in den Reihen der Partei sowie die Gerüchte um deren Ostkontakte ließen den Alliierten die SRP nicht länger tragbar erscheinen. Vor allem die von gewissem Erfolg gekrönten nationalistischen Wahlkampfparolen der SRP bereiteten dem amerikanischen Hochkommissar Sorgen, da „bedauerlicherweise [. . .] auch die Mehrzahl der bekannten politischen Parteien immer mehr die nationalistische Trommel [rührten]“ und es „selbst mehrere Bundesminister nicht verschmäht [haben], diesen Ton anzuschlagen“. Als Warnung in Richtung der demokratischen Parteien hob dessen Quartalsbericht hervor: „Verabreicht man erst einmal das Narkotikum des radikalen Nationalismus, dann zeigt sich alsbald die Notwendigkeit, die Dosis zu vergrößern.“62 Allein wegen der außenpolitischen Verwerfungen, die die SRP bewirken konnte, hatten die Westalliierten Grund genug, das von der Bundesregierung eingeleitete Verbotsverfahren gegen die SRP nicht nur zu begrüßen, sondern auch zu fordern. Die Amerikaner und Briten präferierten zwar ein Vorgehen der 61

Ebd., S. 3113. Dossier über Fritz Dorls. Amt des amerikanischen Hochkommissars (Hrsg.), 9. Bericht über Deutschland, 1. Oktober–31. Dezember 1951, S. 63. 62

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Bundesregierung, behielten es sich aber vor, selbst zu handeln, sofern sich die Regierung Adenauer nicht dazu aufraffen könne. Mit ihrem Gang vor das Bundesverfassungsgericht entsprach die Bundesregierung den Erwartungen der westlichen Besatzungsmächte. Zufrieden stellte der letzte Bericht des amerikanischen Hochkommissars fest, daß der Bundesregierung mit dem Grundgesetz nicht nur die „Waffe“ zur Verfügung stehe, um eine Partei wie die SRP zu verbieten, sondern sie auch „die Kraft und den Mut hat, diese Waffe zu gebrauchen“.63 Die Kontakte des CIC oder der britischen Sicherheitsdienste zur SRP täuschen nicht darüber hinweg, daß die entscheidenden Funktionsträger der westlichen Besatzungsmächte ein Verbot der SRP lieber heute als morgen gesehen hätten. Die Hoffnung von Dorls, die Amerikaner könnten „eine freundschaftliche Einstellung [. . .] der nationalen Opposition gegenüber“ einnehmen, erwies sich als illusorisch.64 Auch wenn sich die Alliierten – angesichts der Frontstellung gegenüber der Sowjetunion – alle Optionen offen halten wollten, erwies sich die SRP zu sehr als Störfaktor einer Integration der Bundesrepublik in ein westliches Verteidigungsbündnis. Eine ernsthafte Zusammenarbeit mit der SRP zogen die Besatzungsmächte deshalb nie in Erwägung. Die Besatzungsmächte ließen sich in ihrer Befürwortung des SRP-Verbotsverfahrens auch nicht durch den wenig später eingereichten Verbotsantrag gegen die KPD abschrecken, immerhin eine Partei, die einstmals durch die Alliierten lizenziert wurde und Teil des Parlamentarischen Rates war. Sie übernahmen vielmehr den antitotalitären Ansatz der Bundesregierung: „It would be illogical to ban the SRP without also banning the KPD, both must be done at once.“65 Wie die Vielzahl der alliierten Geheimdienstberichte zeigt, hatten die Besatzungsmächte ein dichtes Agentennetz inner- und außerhalb der SRP errichtet. Dieses bot ihnen die Gewährleistung, stets über die Entwicklungen in und um die Partei ausreichend informiert zu sein. So glaubten die Alliierten, am besten vor unliebsamen Überraschungen durch die SRP gefeit zu sein. Sie gelangten auf diesem Wege zu einem sehr realistischen Bild ihrer Gefährlichkeit. Dieses Agentennetz hatte nach dem Verbot weiterhin Bestand, wodurch die Alliierten auch später darüber informiert waren, was die SRP-Überbleibsel planten und in welchen Parteien und Organisationen die ehemaligen Funktionäre unterkamen.66 63 Amt des amerikanischen Hochkommissars (Hrsg.), Bericht über Deutschland, 21. September 1949–31. Juli 1952. 64 PRO, FO 1008/15, 5/3/101A/51, Kurzberichte des Bundes der Verfolgten des Naziregimes vom 20. Juli 1951. 65 PRO, FO 1008/15, 5/3/102/51. Einschätzung zum SRP-Verfahren und zur Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. August 1951. 66 U.S. Army, IRR, XE-266906, Vol. XVIII, S. 5240. „Lagebericht“ des ehemaligen SRP-Landesleiters von Franken, Karl Hunger, an die italienischen Faschisten der MSI

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Aufgrund dieses Informationsstandes war den Besatzungsmächten schnell klar, daß die Wiederbelebungsversuche eines Dorls oder Remers allesamt zum Scheitern verurteilt waren. Die Partei löste sich nach ihrem Verbot in ihre Einzelteile auf, oder wie der ehemalige SRP-Hauptgeschäftsführer, Fritz Heller, es ausdrückte: „Uns [sind] die Verbände förmlich unter den Fingern weggelaufen.“67 Die Befürchtungen einiger Beobachter, ein SRP-Verbot könne sich kontraproduktiv auswirken, da „die ewig Unverbesserlichen als hin und her wandernde Radikale ja bestehen [blieben]“68, bewahrheiteten sich nicht. Das Verbotsverfahren eignete sich auch nicht, aus den SRP-Führern „Märtyrer“ zu machen, wie der Prozeßvertreter der Bundesregierung, Ritter von Lex vermutet hatte. Er befürchtete, ein Verbot würde den SRP-Führern noch mehr Zulauf verschaffen als bisher.69 Befriedigt stellten die Alliierten fest, daß sich ihr Drängen auf ein SRP-Verbot ausgezahlt hatte. Für den organisierten Rechtsextremismus hinterließ das Verbot bis weit in die sechziger Jahre hinein verbrannte Erde. Der spätere NPD-Parteivorsitzende Adolf von Thadden brachte dies auf den Punkt: „Nicht verschwiegen sei aber auch, daß für die Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen deutschen Rechten auch solche Zeitgenossen bedeutsam wurden, die nicht nur Nationalsozialisten waren, sondern es auch bleiben wollten und jedem, der es hören wollte, lautstark zuriefen, daß ein demokratischer Staat in Deutschland nicht lebensfähig sei. Diese Denkungsweise formierte sich ab Herbst 1949 in der ,Sozialistischen Reichspartei (SRP)‘, die im Herbst 1952 erwartungsgemäß vom Bundesverfassungsgericht in Anwendung des Art. 21 GG verboten werden mußte. Auch die Auswirkungen dieses Vorganges sind über Jahrzehnte hinweg noch deutlich spürbar.“70 Mit dem Problemfeld Rechtsextremismus mußten sich die alliierten Besatzungsmächte fortan nicht mehr beschäftigen.

(Movimento Sociale Italiano) vom 15. August 1953. Hunger schreibt: „In Deutschland hat sich die SRP in der Deutschen Reichspartei gesammelt. Teilweise auch in der Deutschen Partei.“ 67 Hauptstaatsarchiv NRW, NW 541/222. Bericht des LfV vom 31. August 1953. 68 Die ZEIT vom 10. Juli 1952, „Demokratisches Führerprinzip“. Diese Äußerung geht auf Marion Gräfin Dönhoff zurück, die statt des Verbotes ein Vorgehen gegen die SRP-Führer nach § 18 GG befürwortete. 69 PRO, FO 1008/15, 5/3/117/51, S. 2. Bericht vom 18. August 1951 über Fragen der Demokratie in der Bundesrepublik. Die Angaben zu Ritter von Lex gehen auf ein Gespräch zurück, das er mit einem Vertreter des High Commissioner im Juli 1951 führte. 70 Adolf von Thadden, Die verfemte Rechte. Deutschland, Europa- und die Weltpolitik in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus Sicht von rechts, Rosenheim 1984, S. 50.

Populismus und Charisma Zur elektoralen Erfolgs- und Mißerfolgsformel anhand zweier Beispiele in der bundesdeutschen Parteiendemokratie Von Florian Hartleb

1. Einleitung Untersuchungen zum Thema „populistische Inszenierung, Manipulierung und Symbolisierung“, die das Neue, den Wandel, die Zäsur, den Bruch betonen, haben in der Politikwissenschaft Konjunktur. Gleichwohl verstellen sie etwas den Blick auf die Realität. Zwar nimmt es nicht Wunder, daß das „Wie“ der politischen leadership durch zunehmende Personalisierungstendenzen in den westeuropäischen Parteiendemokratien im Focus steht. Aber bereits Max Weber, der das Charismakonzept wie kein anderer prägte und dadurch für die Analysefähigkeit dieser Fragen immer noch einen entscheidenden Forschungsbeitrag leistet, stellte unter Einschluß der daraus resultierenden Problemlagen (die gleichwohl keineswegs zu Lasten der Funktionsfähigkeit und Outputleistung des politischen Systems gehen müssen) heraus, daß Politiker als Folge moderner Medienöffentlichkeit es auf ihre Wirkung hin anlegen müssen.1 In den westeuropäischen Demokratien schien es ab Beginn der 1980er Jahre, daß mit einer zunehmenden Rationalisierung moderner Gesellschaften eine Art „Entmystifizierung“ entstehe, die wiederum ein Vakuum hinterließe.2 Neue Wettbewerber nutzten diese Spielräume auf dem Parteienmarkt und konnten einen rapiden Aufschwung verzeichnen, der vor allem den individuellen Fähigkeiten einer „charismatischen Führungspersönlichkeit“ vom Schlage eines Jörg Haider, Jean-Marie Le Pen, Silvio Berlusconi, Umberto Bossi, Pim Fortuyn, Carl Hagen, Pia Kjärsgaard oder Christoph Blocher geschuldet war. Dieser Beitrag will belegen, daß Populismus und Charisma wesentlich Erfolg und Mißer-

1 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 1. Halbbd., Köln/ Berlin 1964, S. 157. 2 Vgl. Edgar Grande, Charisma und Komplexität. Verhandlungsdemokratie, Mediendemokratie und der Funktionswandel politischer Eliten, in: Leviathan 28 (2000), S. 134.

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folg neuartiger Parteien in den modernen westeuropäischen Demokratien erklären. Zunächst gilt es, das Populismuskonzept tragfähig zu machen und die Stellung des Charismas in diesem zu erläutern. Anschließend will der Verfasser die Ergebnisse auf zwei Fallbeispiele in der Bundesrepublik, Ronald Schill und Gregor Gysi, vergleichend anwenden. Anders als die Webersche Perspektive3 richtet sich der Blick des Verfassers auch auf die Analyse der Persönlichkeit der möglichen Charismatiker. Beide, der Stadtstaatpolitiker Schill und der Bundespolitiker Gysi, haben ihre im großen und ganzen populistische Parteien, die ihrerseits allerdings sehr, wenn nicht sogar äußerst verschieden4 sind, maßgeblich geprägt. Um möglicher Kritik vorzubeugen: Populistische Merkmale spielen innerhalb etablierter Parteien durchaus eine gewichtige Rolle.5 Populismus kennzeichnet aber die antielitäre, gerade gegen das Establishment gerichtete Haltung. Die Abhängigkeit vom Charisma ist bei Außenseiterparteien weitaus höher als bei herkömmlichen Wettbewerbern, obwohl diese zum Teil weitaus besser in der Lage sind, Charisma durch die Medien „künstlich“ zu verstärken und gerade im Wahlkampf unter Einsatz finanzieller Mittel und durch ein Mehr an Erfahrung an den Wähler zu bringen.6 Trotz der günstigeren Ausgangsposition, auch in rechtlicher Hinsicht7, konnten die etablierten Parteien den Aufstieg neuartiger Parteientypen nicht verhindern.

3 Vgl. dazu in der Sekundärliteratur M. Rainer Lepsius, Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendung auf den „Führerstaat“ Adolf Hitlers, in: Ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 95 f. 4 Vgl. zu Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Parteien mit Betonung ihrer Populismusdimension: Florian Hartleb, Rechts- und Linkspopulismus. Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei und PDS, Wiesbaden 2004. 5 Vgl. mit der Interpretation von Populismus als Regierungsstil in modernen westeuropäischen Demokratien: Uwe Jun, Populismus als Regierungsstil in den westeuropäischen Parteiendemokratien: Deutschland, Frankreich und Großbritannien, in: Frank Decker (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2006, S. 233–251; vgl. am Beispiel der bayerischen CSU für eine etablierte Partei: Claudius Wagemann, Once Again the Deviant Case? Why the Christlich-Soziale Union Only Partially Fulfils the Image of an „Alpine Populist Party“, in: Daniel Caramani/Yves Mény (Hrsg.), Challenges to Consensual Politics. Democracy, Identity, and Populist Protest in the Alpine Region, Brüssel 2005, S. 167–186. 6 Vgl. zu letztgenanntem Aspekt: Winfried Gebhardt, Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Berlin 1994, S. 26; Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur Politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 186 f. 7 Außenseiterparteien mangelt es in der Regel an Gelegenheitsstrukturen im institutionellen Bereich. Vgl. für die Bundesrepublik Deutschland sehr anschaulich: Jan Köhler, Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006.

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2. Begriffsbestimmung des Populismus Der Tenor der Forschung ist eindeutig: Der schwammige, wiewohl inflationär gebrauchte Populismus-Begriff trägt plakativ-polemische Züge.8 Populismus ist kein neuartiges Phänomen. So müßte die Suche nach den Wurzeln des Populismus beispielsweise die gegenrevolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts Frankreichs, speziell den Bonapartismus behandeln. Dieser zog als Abwehrhaltung gegen das Ancien régime und gegen den bürgerlichen Parlamentarismus das Kleinbürgertum in seinen Bann. Der Bonapartismus entstand aus einem regelrechten Napoleonkult. Charles Louis Bonaparte, der Neffe des „großen“ Napoleon und als Napoleon III. bekannt, gelangte, vorher im Exil, nach der 1848er-Revolution im Dezember 1851 durch einen (mittels eines Referendums ratifizierten) „Staatsstreich“ an die Macht. Plebiszite dienten anschließend zur Legitimation (plebiszitärer Cäsarismus); die direkte Verantwortung gegenüber dem „Volk“ betonte der charismatische Führer. Eine präzise Definition des Begriffs scheint – wie der Soziologe Guy Hermet betont9 – nur schwer möglich. Erschwerend wirkt: Der Populismus-Rüffel kann selbst populistisch sein, ein Ersatz für sachliche Argumente. Erleichternd würde nach Ansicht mancher Autoren wirken, wenn er lediglich „zur Kennzeichnung einer bestimmten Politik-, Interaktions- und Kommunikationsform, das heißt eines bestimmten Politikstils, dient.“10 Das hätte aber eine Beliebigkeit des Begriffs zur Folge. Es kommt schlichtweg zur Negation eines entscheidenden Merkmals, würden Politikstile von etablierten Parteien und ihren Repräsentanten als populistisch bezeichnet, deren Appelle nicht gegen das etablierte politische System insgesamt, sondern gegen parteipolitische Konkurrenz innerhalb dieses Kontextes zielen. Einige Autoren hingegen stufen Populismus als eine Art Ideologie, präziser eine „Anti-Status quo-Ideologie“11 ein. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob der Populismus Ideologiegehalt hat oder nicht. Gewiß enthält er in beiden Fällen ein irrationales, demagogisches Element. Populismus konstituiert sich nach eigener Anschauung durch Negativabgrenzung vom jeweils typischen politischen und gesellschaftlichen Establishment. Zunächst ist Populismus Methode

8 Vgl. u. a. Margaret Canovan, Populism, London 1981, S. 301. Canovan war grundlegend für die Populismusforschung, im Grunde ihr Wegbereiter. Zuletzt dies., Populism for political political theorists?, in: Journal of Political Ideologies 9 (2004), S. 241–252. 9 Vgl. Guy Hermet, Les populismes dans le monde, Paris 2001, S. 19 f. 10 Joachim Raschke/Ralf Tils, CSU des Nordens. Profil und bundespolitische Perspektiven der Schill-Partei, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 47 (2002), S. 52 (Hervorhebung im Original). 11 Vgl. beispielsweise Sebastian Reinfeld, Nicht-wir und Die-da. Studien zum rechten Populismus, Wien 2000, S. 3.

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und Stil. Populismus als Protest gegen „die-da-oben“, gegen die Herrschenden, verbindet und vermengt sich aber als eine Art „Anti-ismus“ mit konkreten Inhalten. Populismus, der ein a priori festsitzendes Korsett des „Volkswillens“ vorgaukelt, heißt nicht Pragmatik des Augenblicks, inhaltliche Gleichgültigund Beliebigkeit. Er zeigt sein Gesicht in bestimmten Rechts- und Linkskonstellationen. Die Tatsache, daß Populismus nicht per se „rechts“ zu orten ist, es auch einen Linkspopulismus gibt, wird in der wissenschaftlichen Forschung wie den Medien meist übersehen. Ein linker Populismus versucht im Antagonismus zum Establishment, die fortschrittlichen, egalitären, solidarischen und aufbegehrenden Sedimente des Alltagsverstands der Massen zu reaktivieren. Unter Berufung auf Oppositionsgeist und Rebellentum appelliert der Linkspopulismus nicht an spezifische Bevölkerungssegmente; im politischen Jargon des Linkspopulismus spielen gleichwohl „die einfachen Leute“ eine Schlüsselrolle. Ein Schattendasein fristet die ihres Sinns entleerte Sprache des Klassenkampfes, im Sinne eines Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Meine Betrachtung des Populismus ergibt folgendes Bild: • „Technische Dimension des Populismus“: Populismus als vereinfachender Politikstil, der mit bildreicher Sprache eine direkte Verbindung zum „Volk“, den einfachen Leuten konstruiert sowie mit Eklat in einer gegen das Establishment (gegen die Elite) gerichteten Haltung auftritt. • „Inhaltliche Dimension des Populismus“: Populismus, der nicht nur opportunistisch ausgerichtet ist, sondern als eine Art „Bewegungstypus“ auch AntiPositionen einnimmt und sich auf bestimmte, mobilisierungsfähige (Protest-) Themen (z. B. law and order, soziale Versprechungen nach dem GießkannenPrinzip) fixiert. Maßgebliche Anknüpfungspunkte sind reale oder imaginäre Mißstände. • „Personelle, als charismatisch zu bezeichnende Dimension des Populismus“: Populismus, dessen Belange von einer zentralen Figur nicht nur mit Ausstrahlung, sondern sogar mit einer Art „Magie“ vertreten werden. • „Mediale Dimension des Populismus“: Populismus, der mit Blick auf Schlagzeilen positiver oder negativer Natur die Massenmedien nutzt (diese Dimension läßt sich gleichwohl nur schwer individualisieren).

3. Rolle der charismatischen Führungspersönlichkeit Die populistische Realitätskonstruktion kommt einem auf die charismatische Führungsfigur konzentrierten, fragmentarisierten Geschehen gleich. Der Populist bietet an, die – angeblichen – Verkrustungen des politischen Tagesgeschäfts aufzubrechen, die Alltagsthemen, Sorgen und Nöte der „schweigenden Mehr-

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heit“ zu artikulieren und die Koordinationssysteme des politischen Diskurses wieder zurechtzurücken, die aus Sicht des selbsternannten Erneuerers aus den Fugen geraten sind. Dem populistischen Parteiführer kommt die Tendenz zugute, daß sich die europäischen Regierungssysteme zunehmend „präsidentialisieren“, Spitzenkandidaten in Wahlkämpfen den direkten Kontakt mit dem Wähler suchen, selbst an Parteien und Parlamenten vorbei. Der entscheidende Unterschied ist aber, daß Populismus eine Methode der politischen Kommunikation zu einer Art „Demokratieersatz“ stilisiert. Populisten beanspruchen ein sogenanntes „Interpretationsmonopol“ des Volkswillens.12 Der populistische Agitator, der als selbsternannter parteipolitischer Interessenvertreter des „kleinen Mannes und/oder des nationalen Interesses“ auftritt, handelt gemäß einer so genannten „umgekehrten Psychoanalyse“13: Er nähert sich seinem Publikum mit genau der gegenteiligen Intention, mit welcher der Analytiker auf die zu therapierende Person zugeht. Der Populist greift die individuellen Verunsicherungen, die neurotischen Ängste auf und verstärkt sie gezielt mit dem Zweck, den Patienten nicht mündig werden zu lassen, um eine feste Bindung zu erzeugen. Der Populist gibt sich – wie das Beispiel Berlusconi zu Beginn seines Einstiegs in die Politik vortrefflich zeigt – als homo novus, als „neuer Mann“ in der Politik, der aus Uneigennützigkeit und von edlen Motiven getrieben zum „Politiker wider Willen“ wurde. Schlüsselfigur für die Integrationswirkung und die Außen- und Medienwirkung ist „eine charismatische Führungspersönlichkeit, die den Anspruch erhebt, im Einklang mit dem common sense der Masse stehend, den Volkswillen instinktiv zu erfassen und unverfälscht wiederzugeben.“14 Ein charismatischer15 Anführer im Sinne von Max Weber ergreift die ihm angemessene Aufgabe und verlangt Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner (ursprünglich im religiösen Sinne verstandenen) Sendung. Ob er sie findet, entscheidet der Erfolg. Erkennen diejenigen, an die er sich gesandt fühlt, seine Sendung nicht an, so bricht sein Anspruch zusammen. Erkennen sie ihn an, so ist er ihr Herr, solange er sich durch „Bewährung“ die Anerkennung zu erhalten weiß.16

12 Vgl. Roland Sturm, Das Urteil steht vor dem Argument. Rechtspopulisten beanspruchen das Monopol der Interpretation des Volkswillens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2000. 13 Der Literatursoziologe Leo Löwenthal prägte diesen Begriff, der sich aus seinen psychoanalytischen Untersuchungen der rechtsextremistischen Agitatoren in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte. 14 Hans-Georg Betz, Rechtspopulismus: Ein internationaler Trend?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 9–10/1998, S. 5. 15 Das Wort „charismatisch“ oder „Charisma“ kommt aus dem Griechischen und heißt übersetzt „Geschenk, große Begabung“. 16 Vgl. Weber (FN 1), S. 179–188.

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Für den französischen Sozialpsychologen Alexandre Dorna übt ein charismatischer Anführer folgende Wirkungen aus:17 • Inspiration: Der Anführer treibt seine Gefolgschaft an, für den Erfolg des Ganzen über sich hinauszugehen. Er agiert wie ein Mentor, dessen Hilfe man für die eigene Entwicklung braucht. • Motivation: Der Anführer spornt auf unterschiedlichste Weise dazu an, eine durch ihn forcierte Veränderung der Werte zu befürworten und gutzuheißen. • Identifikation: Der Anführer repräsentiert die Menschwerdung eines gemeinschaftlichen Vorhabens. Das politische Denken des Leaders changiert gleichwohl zwischen Wunschdenken und Selbstüberschätzung. Eine fortwährende Überblendung von Anspruch und Realität, Schein und Substanz tritt ein. Gerät er selber ins Kreuzverhör der Kritik, kann das die Handlungsfähigkeit der Partei, die auf ihn angewiesen ist, lähmen. Wenn ihr Anführer durch elektorale Mißerfolge nicht mehr unantastbar ist, kommen interne Querelen und Zerwürfnisse der tendenziell instabilen Partei leicht zum Vorschein. Aufstieg und jäher Fall der populistischen Heilsbringer liegen eng zusammen. Die eigene Partei kann durchaus die Gefolgschaft verweigern, sich über den rigiden Führungsstil mokieren und sich bei Mißerfolg emanzipieren.

4. Zwei Beispiele in der bundesdeutschen Parteiendemokratie a) Ronald Barnabas Schill Wer die Vorgeschichte von Ronald Barnabas Schill nicht kennt, kann die Entwicklung der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, kurz Schill-Partei nicht angemessen beurteilen. Der Hamburger Amtsrichter Ronald B. Schill schaffte einen kometenhaften Aufstieg zum zeitweilig populärsten und zugleich meistgehaßtesten Politiker in der Hansestadt. Im Oktober 1996 kursierte sein Name zum ersten Mal in der Presse. Anlaß war sein später viel zitiertes Urteil gegen eine psychisch kranke Frau, die offenkundig aus Neid den Lack teurer Autos zerkratzt und die der Richter zu einer zweieinhalb Jahre langen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt hatte. Schills Ausschöpfung des Strafmaßes bis an die äußerste Grenze des Zulässigen traf den Nerv der Bürger. Die Hamburger Boule-

17 Vgl. Alexandre Dorna, Le néopopulism et le charisme, in: Olivier Ihl/Janine Chêne/Éric Vial/Ghislain Waterlot (Hrsg.), La tentation populiste au cœur de l’Europe, Paris 2003, S. 95. Dorna beleuchtet die Schlüsselrolle des Charismas innerhalb des neuen Populismus.

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vardpresse verpaßte ihm den griffigen Beinamen „Richter Gnadenlos“. Schill war zeitweise auch Gast bei CDU-Ortsverbänden. Immer mehr ins Rampenlicht gerückt, wagte Schill den Einstieg in die Politik und gründete am 13. Juli 2000 eine Partei – die Partei Rechtsstaatlicher Offensive, nahezu ausschließlich unter ihrem Kürzel „Schill-Partei“ bekannt. 14 Monate später konnte sie – im September 2001 – bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen 19,4 Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Nie zuvor hatte in der Geschichte der Bundesrepublik eine erst neu entstandene Partei einen derart hohen Erfolg erzielen können. Der „Wahlkampflokomotive“ Schill war das Charisma zugewachsen, das einen erfolgreichen Populisten kennzeichnet. Der ZweiMeter-Mann beherrschte im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf die klassischen Agitationsformen eines rechten Populisten, schürte Unsicherheitsängste, stand, obwohl kein Mann aus dem „Volk“, auf Seiten der kleinen Leute, betätigte sich als Sprachrohr der „schweigenden Mehrheit“ und bediente Einstellungen gegen den „Parteienstaat“.18 Laut Joachim Raschke und Ralf Tils entpuppte sich Schill im Wahlkampf 2001 als ein „charismatische[r] Führer, der trotz seines ungelenken, spröden und hölzernen Habitus durchaus Nähe zu seinen Anhängern herzustellen weiß“.19 Innerhalb seiner von ihm gegründeten Partei galt er als unantastbar, wirkte als ihre charismatische Führungspersönlichkeit. Ronald B. Schill konnte Glaubwürdigkeit erzeugen, indem er vorgab, als „Law-and-order“-Amtsrichter den Rechtsstaat zu vertreten und zu verteidigen. Im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf 2001 schuf sich der bekennende Anti68er Schill ein überzeugendes Image als Fachmann für Innere Sicherheit. In seinem früheren Amt als Strafrichter hatte er zudem die von ihm und seiner Partei propagierte Politik der „Zero Tolerance“20 konsequent praktiziert. Schill warf ein Angstszenario auf und erklärte, an das Sicherheitsgefühl appellierend, Hamburg zur Hauptstadt des Verbrechens. Seine Wahlkampfveranstaltungen beendete er mit dem Satz: „Kommen Sie gut nach Hause und lassen Sie sich nicht überfallen!“ Dem ehemaligen Amtsrichter traute ein beachtlicher Anteil der Hamburger Wahlberechtigten am ehesten zu, die Probleme der Inneren Sicherheit in Hamburg zu lösen.21 Die Person Ronald B. Schill zu diesem Zeitpunkt als reine 18 Vgl. Frank Decker/Florian Hartleb, Das Scheitern der Schill-Partei als regionaler Machtfaktor. Typisch für Rechtspopulismus in Deutschland?, in: Lars Rensmann/Susanne Frölich-Steffen (Hrsg.), Populisten an der Macht: Populistische Regierungsparteien in Ost- und Westeuropa, Wien 2005, S. 105–119. 19 Raschke/Tils (FN 10), S. 53. 20 Markus Klein/Dieter Ohr, Der Richter und sein Wähler. Ronald B. Schills Wahlerfolg als Beispiel extremer Personalisierung der Politik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 33 (2002), S. 67. 21 28 Prozent aller Wahlberechtigten in Hamburg gaben dies bei Umfragen an. Nach einer Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen bezeichneten im September

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Figur des Protests abzutun, greift somit zu kurz. Zusätzlich wurden ihm eine klare, verständliche Sprache und ein professionelles öffentliches Auftreten attestiert. Der politischen Konkurrenz war es durch Schills Reputation und seine überzeugende Abgrenzungsstrategie22 gegen den Rechtsextremismus nicht möglich, den „Richter Gnadenlos“ als Rechtsextremisten zu stigmatisieren, auch wenn dies teilweise versucht wurde. Nach dem grandiosen Wahlerfolg verblaßte der Siegernimbus Schills. Er stolperte über eine Fehleinschätzung der eigenen Bedeutung, enttäuschte Medien und Wähler gleichermaßen. Sein Wahlversprechen, innerhalb von 100 Tagen die Verbrechensrate um die Hälfte zu senken, korrigierte Schill beispielsweise mit der Aussage, er habe ja nicht gesagt, in welchen 100 Tagen.23 Die Tätigkeit als Innensenator legte Defizite offen; Schill versäumte eine Profilierung jenseits seines „Spezialthemas“ Innere Sicherheit. Pannen und Affären häuften sich – es kam zu Filzvorwürfen in der Personalpolitik. Kontakte ins halbseidene Milieu wurden ihm nachgesagt, Kokainvorwürfe kursierten, die seine Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit verspielten und den Bonus der Medien aufzehrten. Schill machte – nur teilweise selbstverschuldet – Schlagzeilen als „Partysenator“. Eine Kampagne der Medien und der Hamburger Oppositionsparteien zielte darauf, sein Image als Saubermann nachhaltig zu beschädigen. Der Innensenator führte im Februar 2002 eigens einen Haartest durch, um Vorwürfe, er habe Kokain konsumiert, zu entkräften. Beispielsweise hatte ihn Wolfgang Hoffmann-Riem, ehemaliger Hamburger Justizsenator in einer Regierung aus SPD und STATT Partei (1993 bis 1997) und Richter am Bundesverfassungsgericht, in einem spektakulären offenen Brief zu diesem Schritt aufgefordert. Dieser Vorgang des exponierten Schill-Gegners war unglaublich, kehrte ein Repräsentant des höchsten deutschen Gerichts doch aus durchsichtigen Motiven die Beweislastregel um. Die Medien kolportierten einen fehlenden Arbeitselan und brachten diesen in Zusammenhang mit inhaltlichen Schwächen. An seine Person geknüpfte Erwartungen versuchte Innensenator Schill mit symbolischer Politik und Aktionismus

2001 rund 51 Prozent der Wahlberechtigten in Hamburg das Thema Kriminalität als das wichtigste Problem, deutlich vor der Arbeitslosigkeit (17 Prozent) und der Verkehrspolitik (14 Prozent) sowie der Bildung (10 Prozent); vgl. Harald Bergsdorf, Gegner oder Partner? Schill als Problem der Volksparteien, in: Die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte 49 (2002), S. 162. 22 Die Partei und ihr Aushängeschild achteten auf eine strikte Distanzierung. Im Aufnahmeantrag wird ganz klar nach der politischen Vergangenheit gefragt. Beispielsweise dürfen frühere Mitglieder von NPD, DVU oder „Republikaner“ nicht der Partei beitreten. Schill selbst verbat sich jegliche Vergleiche mit Jörg Haider. 23 Vgl. dazu Thomas Holl, Aufstieg eines Richters. Wie Ronald Schill in Hamburg zum Erfolg kam, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Dezember 2003.

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zu entgegnen. Dies gelang ihm mit der von ihm initiierten Einführung blauer Polizeiuniformen in Hamburg, die das Umdenken in der Hamburger Sicherheitspolitik aller Welt vor Augen führen sollte. Durch die von großem medialen Pomp getragene Inszenierung wollte Schill eine Nähe zu „Sheriffs“ suggerieren und eine bundesweite Vorreiterrolle herausstreichen.24 Die tägliche und mühevolle Detailarbeit überließ Schill seinem Staatsrat Walter Wellinghausen. Um organisatorische und programmatische Bemühungen der (Bundes-)Partei kümmerte er sich nicht. Freilich ist es müßig darüber zu spekulieren, ob das überhaupt (Pflicht-)Aufgaben des „Symbols“ Schill gewesen wären. Der profunde Eintritt in Politikfelder von bundespolitischer Brisanz fand jedenfalls nicht statt. Indem er den Antritt seiner Partei zur Bundestagswahl 2002 nicht verhindern und sich damit innerparteilich nicht durchsetzen konnte (die Partei erreichte nur 0,8 Prozent der Zweitstimmen), hatte Parteigründer Schill bereits Schaden genommen. Sich anschließend – einem Chamäleon gleich – an die Spitze der Gegenbewegung zu setzen und gemeinsam mit Antrittsbefürwortern den Weg nach Berlin zu suchen, erschien zwar als ein für Populisten charakteristischer Opportunismus, war aber wenig glaubwürdig. Schill mußte im Wahlkampf konzedieren, seine Partei übe „eine enorme Anziehungskraft auf Glücksritter aller Art aus“. Es gebe zu viele „ehrgeizzerfressene Querulanten, die uns das Leben schwer machen“.25 Eckhard Jesse bemerkte: „Bundestagswahlen sind eben keine Bürgerschaftswahlen. Schill dürfte an sein kühnes Ziel, die Partei, die kaum öffentliche Auftritte absolvierte, werde acht Prozent erreichen und könne im Bund mitregieren, selbst nicht geglaubt haben.“26 Das Charisma Schills verblaßte (mit dem Mißerfolg) auch innerparteilich erheblich. Möglicherweise deshalb, weil die Partei im Bundestagswahlkampf – trotz medialer Mutmaßungen über die mögliche bundespolitische Bedeutung – kaum eine Gelegenheit zu einem öffentlichen Auftritt und damit zur Profilierung fand, sorgte Ronald B. Schill am 29. August 2002 im Bundestag für einen eher taktisch motivierten Eklat. Schill, der als stellvertretender Bürgermeister Rederecht hatte, sprach absichtlich als Wahlkämpfer und nicht in der ihm eigentlich zugedachten Rolle als Repräsentant des Landes Hamburg in Vertretung des Bürger24 Schill holte aus München Udo Nagel und machte ihn zum Polizeipräsidenten. Am Rande sei bemerkt: Nach den Bürgerschaftswahlen 2004 berief der (Wieder-)Bürgermeister von Beust den parteilosen Nagel überraschenderweise sogar zum neuen Innensenator – wohl auch deshalb, um weiterhin, mit Blick auf die ehemaligen SchillWähler, eine konsequente Law-and-order-Politik zu demonstrieren. 25 Zit. nach Matthias Krupa, Basis Gnadenlos. Wie die Hamburger Rechtspopulisten ihren Gründer Ronald Schill in den Bundestagswahlkampf treiben, in: Die Zeit vom 27. Juni 2002. 26 Eckhard Jesse, Die Rechts(außen)parteien: Keine ersichtlichen Erfolge, keine Erfolge in Sicht, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003, S. 164 f.

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meisters. Er mißbrauchte die Debatte über die Flutkatastrophe zu polemischen Angriffen gegen die Immigrationspolitik der Regierung und die Ost-Erweiterung der Europäischen Union. Dazu drohte er der Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs, die ihm das Wort entzog, mit einer Verfassungsklage. Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust (CDU) sah sich bemüßigt, seinen Stellvertreter zu disziplinieren. Schill rückte kurzzeitig wieder ins mediale Rampenlicht. So wurde Schills Eklat im Bundestag zum Aufmacher in der Welt vom 30. August 2002. Die Zeitung, die im Hamburger Wahlkampf durchaus gewisse Sympathien für Schill bekundet hatte, zeigte sich nun äußerst distanziert und befremdet. Ein Kommentar mit dem Titel „Schill ohne Maske“ bezeichnete Schill als „rechtspopulistisches Rumpelstilzchen“ und legte Ole von Beust nahe, „einen Trennungsstrich zu ziehen“27. Im Zuge der Entlassung Schills durch Regierungschef von Beust setzte eine beispiellose Negativberichterstattung ein. Der Bürgermeister begründete den Schritt damit, durch Erpressungsversuche seines Innensenators bloßgestellt worden zu sein. Schill sah sich unter Druck, da er mit Rücktrittsvorwürfen gegen seine „rechte Hand“ Walter Wellinghausen konfrontiert war, den er unbedingt im Amt behalten wollte. Er sprach in der anschließenden, für ihn peinlichen Pressekonferenz von einem – angeblichen – homosexuellen Verhältnis des Bürgermeisters mit dem Justizsenator Roger Kusch. Primär wurden nunmehr dem ehemaligen Innensenator und Stellvertretenden Bürgermeister der Hansestadt Charakter und Anstand abgesprochen. Das Thema kam ausführlich und überregional zur Sprache. Unmittelbar nach dem Skandal, dem – angeblichen oder tatsächlichen – Erpressungsversuch gegenüber von Beust, versagte die eigene Partei, insbesondere die Hamburger Schill-Fraktion um Mario Mettbach, ihrer Führungsfigur die Gefolgschaft. Eine innerparteiliche Zerreißprobe folgte. Keiner wußte so genau, ob Schill überhaupt weitere politische Ambitionen hatte. Klarheit verschaffte der Bundesparteitag in Düsseldorf Anfang November, wo die Delegierten Schill einen triumphalen Empfang bereiteten. Schill, sichtlich davon beeindruckt, brachte klar und kämpferisch zum Ausdruck, er wolle wieder Landesvorsitzender werden und das Aushängeschild der Partei bleiben.28 Schill schlug jetzt schärfere Töne an. Er bezeichnete sich, ganz Unschuldslamm, als Opfer eines Komplotts. Die Verschwörungstheorien erschienen selbst vielen Schill-Anhängern und besonders der Hamburger Führungsgruppe um Mario Mettbach als wirklichkeitsfremd. Auf dem Hamburger Landesparteitag am 29. November 2003 wurde Schill trotz Stimmeneinbußen29 zum Landesvorsitzenden wiedergewählt. Auf seiner Rede betonte er noch, er wolle – angeblich – 27

Ulrich Clauss, Schill ohne Maske, in: Die Welt vom 30. August 2002. Eigene Beobachtung des Verfassers auf den Bundesparteitag in Düsseldorf. 29 Mit 73,5 Prozent der Stimmen wurde das Wahlergebnis von 96,8 Prozent ein Jahr zuvor deutlich unterschritten. 28

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auf persönliche Abrechnung verzichten. Direkt im Anschluß holte Schill zum Schlag aus gegen parteiinterne Widersacher um Mario Mettbach, startete einen Rachefeldzug gegen von Beust und torpedierte die Regierungskoalition nach Kräften, gab sie der Lächerlichkeit preis. Durch sein destruktives Vorgehen hat Schill das eigene Aufbauwerk in den Abgrund gerissen. Die von ihm abhängige Partei startete eine rigide Distanzierung. Unter Regie von Mettbach sagte sich die Partei von ihm los, schloß ihn von Fraktion und Partei aus. Zunächst wollte die Partei auf Gedeih und Verderb die Koalition und damit Machterhalt sowie den eigenen Besitzstand sichern. Als dies mißlang, entlud sich der Frust auf Ronald B. Schill, der allgemein als Schuldiger für das Scheitern des Regierungsbündnisses hingestellt wurde. Ronald B. Schills Selbstüberschätzung, gepaart mit Hilflosigkeit, symbolisierte spätestens der Bürgerschaftswahlkampf, als er mit seiner neuen Partei Pro-DM/ Schill den nichtssagenden Spruch „Ich räume auf!“ plakatieren ließ.30 Schill kündigte noch am Wahlabend in der für ihn typischen, populistisch-exzentrischen Weise an, auswandern zu wollen, nach Südamerika (Uruguay) vielleicht. Seither ist er aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Aufstieg und Abstieg der Partei Rechtsstaatlicher Offensive verkörperte stets Ronald B. Schill31. Zu den Aufstiegsfaktoren gehörten: • öffentliche Figur („Richter Gnadenlos“); • unverbrauchtes Image als Seiteneinsteiger; • Sprachrohr der schweigenden Mehrheit; • „seriös und kompetent (als Richter „Fachmann“ für Innere Sicherheit) wirkende Protestfigur“. Zu den Abstiegsfaktoren (Innensenator; Spitzenkandidat für die Bundestagswahlen 2002; Entlassung, Absetzung als Landesvorsitzender, Ausschluß aus Fraktion und Partei; gescheiteter Neuversuch mit der neuen Partei Pro DM/ Schill) zählten: • (angebliche) Passivität im politischen Tagesgeschäft; • Hang zu Unbedarftheit und Skandalen, zur Selbstüberschätzung; • fehlende inhaltliche Substanz; • ausgeprägte Egozentrik und Egomanie; • persönlicher Rachefeldzug auf Kosten der Koalitionsregierung. 30 Vgl. Réne Wagner, Zwei Männer [gemeint sind Olé von Beust und Ronald Schill] auf der Kippe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. März 2004. 31 Vgl. Florian Hartleb, Auf- und Abstieg der Hamburger Schill-Partei, in: Hans Zehetmair (Hrsg.), Das deutsche Parteiensystem. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 223.

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b) Gregor Gysi Gregor Gysi agierte als „Fernsehmatador“, der wegen seiner Telegenität32, seines koketten Auftretens, seiner Eloquenz und seiner Ausstrahlung gerne in die zahlreich gewordenen Talkrunden eingeladen wurde. Er verpaßte der PDS ein modernes (Medien-)Profil, das sie außerhalb der eigenen Kreise – besonders für die junge Linke – attraktiv und wählbar machte. Der Rechtsanwalt33 und Sohn des prominenten SED-Politikers Klaus Gysi34, der mit einem Ergebnis von 95,32 Prozent in der Übergangszeit letzter Vorsitzender der SED wurde und die umbenannte Partei, deren Totenglocken schon läuteten, in die Bundesrepublik führte, gehörte zu den wenigen PDS-Politikern, die auch im Westen Akzeptanz fanden. Die lange währende Diskussion, ob er in Ausübung seines Berufs Mandantenverrat beging oder nicht, Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit war, änderte daran nichts.35 Die entscheidende Figur innerhalb der PDS war zumindest bis zum Münsteraner Parteitag im April 2000 neben Gregor Gysi Lothar Bisky. Zwischen beiden funktionierte eine geschickte Arbeitsteilung: Gregor Gysi und Lothar Bisky waren, obwohl der DDR-Elite zugehörig, keine SED-Kader im engeren Sinne. Sie hatten aber staatsloyale Positionen inne, auf welche die SED nach Bedarf zurückgreifen konnte. Lothar Bisky, Professor für Film- und Fernsehwissenschaften, konnte die inneren Widersprüche und Flügelkämpfe zwischen „Orthodoxen“ und „Reformern“ der PDS bis zum Münsteraner Parteitag 2000 teilweise überdecken. An der Spitze hatte sich um beide Persönlichkeiten eine effektiv organisierte Führungscrew entwickelt. Gregor Gysi als Volkstribun des Ostens appellierte an die Befindlichkeiten der Einigungsverlierer, fokussierte ostdeutsche Belange. Gysi, der Polit-Enter-

32 Gysi verstärkte seine Wirkung beispielsweise mit Brillen vom Typ des legendären Beatles-Star „John Lennon“. Vgl. Jens Bastian, The Enfant Terrible of German Politics: The PDS Between GDR Nostalgia and Democratic Socialism, in: German Politics 4 (1995) H. 2, S. 109, Fn. 9. 33 Gysi verwies gerne auf seinen erlernten Beruf eines Rinderzüchters. Wer nun Exotisches vermutet, liegt falsch. In der DDR gehörte es zur Praxis, daß auch die eigene Elite schulbegleitende sozialistische Praxis bis hin zur Berufsbefähigung kennen lernte. 34 Klaus Gysi (geb. 1912) war u. a. Minister für Kultur, Staatssekretär für Kirchenfragen und Botschafter der DDR in Rom. Zahlreiche Auszeichnungen wie die Erinnerungsmedaille des Ministeriums für Staatsicherheit und die Lenin-Erinnerungsmedaille (1970), der Vaterländische Verdienstorden (1972), der Karl-Marx-Orden (1977) sowie der Große Stern der Völkerfreundschaft (1987) wurden ihm zuteil. Er wurde 1990 Mitglied der PDS. Klaus Gysi verstarb 1999 in Berlin. 35 Bei Gregor Gysi sorgt die Frage, ob er als IM „Notar“ ausreisewillige DDR-Bürger dem MfS verraten habe, seit mehr als einem Jahrzehnt für juristische Auseinandersetzungen. Bis heute hat er, gelinde formuliert, auf den „Stasi-Verdacht“ keine überzeugende Antwort gegeben.

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tainer, verstand es, der Partei mit seiner witzig-spritzigen Art36 Dynamik zu verleihen. Er schaffte es, innerhalb weniger Sätze von einem scheinheiligen Eingeständnis krimineller Machenschaften in der DDR auf einen Frontalangriff gegen die Bundesrepublik überzuleiten. In einem Gespräch mit dem Pfarrer und Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann beispielsweise demonstrierte er diese Vorgehensweise. Die Frage, ob die DDR ein krimineller Staat gewesen wäre, konterte er wie folgt: „Ich verstehe diese Bewertung, weil es soviel Kriminelles, soviel Unrecht in diesem Staat gab. Aber der Staat als Ganzes war nicht kriminell. Wenn Sie das als Grundlage nehmen würden, dann müßten Sie jede einzelne Maßnahme der Bundesrepublik danach überprüfen, ob sie zur Stabilisierung dieses Systems beigetragen hat oder nicht. Wenn ja, war sie ein Verbrechen, weil sie eine Unterstützung eines verbrecherischen Systems war.“37 Obwohl dies nicht der parteiinternen Wirklichkeit entsprach, identifizierte eine beträchtliche Zahl Außenstehender die PDS mit der Person Gysi. Eine Affäre um den intellektuellen Vordenker der Partei, André Brie, änderte an dieser Einschätzung nichts. Im Oktober 1992 geriet Brie, zum damaligen Zeitpunkt Landesvorsitzender in Berlin, unter Beschuß, weil er seine 19 Jahre andauernden Aktivitäten für die Staatsicherheit verschwiegen hatte. Brie kündigte seinen Rücktritt für den Parteitag im Januar 1993 an, ebenso wie der Parteivorsitzende Gregor Gysi, der für diesen Vorfall die Verantwortung übernahm. Gysi selbst wollte – angeblich – vermeiden, daß die PDS als eine um seine Person kreisende „Einmannpartei“ wirkte. Die Verantwortung, die er als „ihr Anwalt, ihr Verteidiger, ihr Hoffnungsträger“ trug, „mußte endlich auf mehrere Schultern verteilt werden“.38 Wenn die PDS in den Medien Präsenz zeigt, dann war und ist dies ein großer Verdienst Gysis. Die „Lichtgestalt“ hat viele Gesichter: Er verkörpert den Mann aus dem „Volk“, den Intellektuellen, das Opfer, den Rächer, den Underdog. Gysi zeichnet, gerade in seinen Buchveröffentlichungen, das Bild eines fleißigen, ehrlichen, anständigen, besorgten, pflichtbewußten, weltgewandten und intellektuellen Mannes. Es gibt aber auch eine andere Seite. Die zentrale Schwäche in Gysis Politikverständnis ist nach zutreffender Ansicht des Journalisten Jens König der Irrglaube, der Lauf der Welt werde von der Einsicht der historischen Akteure in eine imaginäre Vernunft bestimmt und nicht vom Aushandeln grundsätzlich divergierender Interessen: „Da steckt ein Rest DDR in ihm: die avantgardistische Vorstellung seiner alten Staatspartei, daß es die Vernunft an sich nicht gibt und es nur einer politischen Vorhut bedarf, die diese erkennt und ihr im Namen der herrschenden Klasse zum politischen Durchbruch verhilft. 36 Siehe dazu die Zusammenstellung Gysis „frecher Sprüche“ (vgl. Gregor Gysi, Freche Sprüche, Berlin 1997). 37 Ders., Einspruch! Gespräche, Briefe, Reden, Berlin 1992, S. 346. 38 Ders., Das war’s noch lange nicht!, München 1999, S. 219.

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[. . .] Seine Haltung macht Gysi zum idealen Vertreter der Sabine-ChristiansenGesellschaft. Wenn Sonntag für Sonntag nach der Zauberformel dafür gesucht wird, wie der Untergang der Bundesrepublik verhindert werden kann, ist er ganz in seinem Element.“39 Gysi wirkte als gewiefter Siegertyp, der es schaffte, bei den Bundestagswahlen von 1990 bis 1998 und 2005 jedes Mal ein Direktmandat zu gewinnen (2002 trat er nicht als Direktkandidat an). Das zeigt aber auch ein Dilemma auf: Sein Charisma bleibt weitgehend auf die Außenwirkung und das öffentliche Erscheinungsbild beschränkt. Funktionäre und Entscheidungsträger der Partei sind relativ autark. Übertrieben ist die Feststellung Patrick Moreaus im Jahre 1998: „Die wahre Macht hält immer noch der ,charismatische Führer‘ Gregor Gysi in Händen.“40 Innerparteilich war Gysi bereits als Parteivorsitzender längst nicht so souverän, wie er in der Öffentlichkeit wirkte. Er trat wie ein Dompteur auf, der sich eine Rückendeckung erst erkämpfen mußte. Die innerparteiliche Rückendeckung für Gysis Kurs schien nie sehr ausgeprägt. Beispielsweise wurde sein als ultima ratio41 verstandener Appell an die Delegierten des 4. Parteitages der PDS, die Sprecherin der Kommunistischen Plattform Sahra Wagenknecht wegen ihrer neostalinistischen Positionen42 nicht mehr in den Bundesvorstand zu wählen, von der Versammlung mit immerhin 30 Prozent für Wagenknecht quittiert. Zwar reichte Wagenknechts Ergebnis im Januar 1995 nicht aus, doch bereits bei den nächsten Vorstandswahlen gelang ihr erneut der Einzug in den Parteivorstand.43 Auch innerhalb der Bundestagsfraktion gab es Vorbehalte gegenüber dem Vorsitzenden Gysi wegen dessen exponierter Rolle in der Öffentlichkeit.44

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Jens König, Gregor Gysi. Eine Biographie, Berlin 2005, S. 321. Patrick Moreau, Die PDS: Profil einer antidemokratischen Partei, München 1998, S. 56. 41 Vgl. Manfred Gerner, Antagonismen der PDS. Zum Pluralismus der SED-Nachfolgepartei, in: Deutschland Archiv 29 (1996), S. 228. 42 Damit wird der seit Gründung der Partei bestehende antistalinistische Grundkonsens systematisch mißachtet. Sahra Wagenknecht, eine 1969 geborene ehemalige Philosophiestudentin, zog gewisse Medienaufmerksamkeit auf sich. Für Franz Oswald wird der Einfluß der Kommunistischen Plattform innerhalb der PDS weit übertrieben dargestellt. Vgl. Franz Oswald, The party that came out of the Cold War: the Party of Democratic Socialism in United Germany, Westport (Connecticut)/London, 2002, S. 37–39, insb. S. 37. Diese Annahme ist bedenklich, gelang dem enfant terrible Wagenknecht doch immer wieder (von 1991 bis 1995 sowie von Oktober 2000 an) der Einzug in den Parteivorstand. Seit 2004 sitzt sie sogar als Abgeordnete im Europäischen Parlament. 43 Vgl. dazu Michael Gerth, Die PDS und die ostdeutsche Gesellschaft im Transformationsprozeß, Wahlerfolg und politisch-kulturelle Kontinuitäten, Hamburg 2003, S. 79. 44 Vgl. Uwe Kranenpohl, Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 bis 1994, Opladen 1999, S. 238 f. 40

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Die viel beschworene Geschlossenheit blieb ein Desiderat. Innerparteilich war Gysi dem Vorwurf des Opportunismus ausgesetzt. Mit den Rücktritten von Gysi45 und Bisky nach dem desaströsen Münsteraner Parteitag im April 2000, dem eine mangelnde innerparteiliche Konfliktlösung vorausging, fehlte es der PDS an einer Führungs- und Integrationsfigur, die auch nur ansatzweise über Charisma verfügt. Es wurde deutlich, wie wenig sich die Partei von ihren wichtigsten Protagonisten emanzipiert hatte. André Brie konstatierte im August 2000, mit dem Rückzug Gysis von der vordersten Front sei das Mobilisierungspotential der Partei erheblich beeinträchtigt. Gysis Eloquenz und nachhaltige Medienpräsenz hätten die schwache politische Substanz der PDS verhüllt.46 Gregor Gysi hat sich danach kurzzeitig selbst ins Abseits manövriert. Zur Vorgeschichte: Er kehrte in der zweiten Jahreshälfte 2001 auf Landesebene in die Politik zurück, als Spitzenkandidat in Berlin. Gysi, mit dem höchsten Bekanntheitsgrad unter den Kandidaten, setzte auf eine reine Persönlichkeitskampagne und eine Abgrenzungsstrategie gegenüber der eigenen Partei.47 Ein Fraktionsmitglied bezeichnete Gysis Versprechen, in den Bereichen Kultur und Bildung nicht kürzen zu wollen, als „klassische Verwechslung von Politik und Propaganda.“48 Seinen Sinn für Selbstgefälligkeit offenbarte Gysi in einer progressiven „Alles oder nichts“-Haltung. So betonte er, er würde lieber im Bundestag bleiben als einfacher Abgeordneter im Berliner Parlament werden, wenn es ihm nicht gelänge, einen Senatorenposten in der Regierung zu bekleiden. Er wollte gegen das Meinungsbild, die PDS sei für Berlin ein entzweiender Faktor, ankämpfen. Gezielt sprach Gysi den Stolz der Berliner auf ihre Hauptstadt an, betonte, zu integrieren statt auf eine Trennung Ost-West-Berlin hinzuwirken.49 Die Taktik Gysis ging auf und stellte für ihn einen überzeugenden Sieg dar: Die PDS steigerte ihr Gesamtergebnis von 17,7 Prozent bei den Wahlen 1999 auf 22,6 Prozent, im Osten Berlins erreichte die Partei fulminante 47,6 Prozent. 49 Prozent der PDS-Wähler gaben an, sie hätten die Partei in erster Linie wegen der Person Gysi, nicht wegen ihrer Programme oder Politik gewählt.50 Gysi 45

Die Nachfolge Gysis als Fraktionsvorsitzender trat Roland Claus an. Vgl. dazu André Brie, Die PDS in Ost und West – Fakten und Argumente statt Vermutungen, Manuskript, Berlin 2000, S. 2. 47 Seine Wahlkampagne war von der Berliner PDS losgelöst, das „GysiWahlQuartier“ (mit der eigenen Website www.take-it-gysi.de) nicht in der Parteizentrale beherbergt. 48 Zit. nach Michael Koß/Dan Hough, Zurück in die Zukunft? Die Linkspartei.PDS und die Verlockungen des Populismus, in: Uwe Jun/Henry Kreikenbom/Viola Neu (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a. M. 2006, S. 188. 49 Vgl. zu diesem Absatz Joanna McKay, From Pariah to Power: The Berlin Election of 2001 and the PDS Question, in: German Politics 11 (2002) H. 2, S. 23 f. 50 Vgl. Wolfgang Brunner u. a., Analyse der Abgeordnetenhauswahl in Berlin vom 21. Oktober 2001, Sankt Augustin 2001, S. 55. 46

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übernahm, von der Woge der Euphorie getragen, das Amt des Wirtschaftssenators.51 Sogar Unternehmer hatten Gysi ihre Sympathien bekundet und begonnen, ihm wirtschaftspolitische Kompetenzen zu attestieren. Der Wechsel in die Berliner Landespolitik blieb dennoch ein Intermezzo. Bereits Ende Juli 2002 trat er zurück – als Reaktion auf eine eher banal scheinende „Flugmeilenaffäre“52, die bei ihm finanzielle Unregelmäßigkeiten offen legte. Selbst in Sympathisantenkreisen wurde dieser Schritt vielfach so interpretiert, als sei der gewandte und populäre Politiker in seiner Aufgabe überfordert gewesen und distanziere sich durch eine Fahnenflucht indirekt von seiner Partei.53 Danach vermißte ihn die PDS schmerzlich – in der öffentlichen Diskussion wie in der aktiven Politik. Die PDS verzichtete im Wahlkampf 2002 notgedrungen auf die Nominierung eines Spitzenkandidaten und setzte auf ein Quartett um Parteichefin Gabriele Zimmer. Im Vergleich zu Gysi wirkte die Führungscrew ausgesprochen blaß. Vor allem bei der spröde wirkenden Zimmer, der Bevölkerung nur unzureichend bekannt und vermittelbar, waren rhetorische Schwächen und eine fehlende Ausstrahlung offensichtlich. Zimmers Erscheinungsbild stand im diametralen Gegensatz zum eloquenten und telegenen Gysi. Zudem wurde sie zum Spielball der Parteiflügel. Bereits direkt nach der Niederlage bei den Bundestagswahlen 2002 brach in der PDS eine neuerliche Führungskrise aus; vor allem die Bundesvorsitzende Gabriele Zimmer geriet gleich von zwei Seiten unter Druck: Der „Reformerflügel“ warf ihr eine zu starke Anbiederung an die „Orthodoxen“ vor, der linke Flügel dagegen Verrat an den kommunistisch-sozialistischen Idealen. Patrick Moreau beurteilte Zimmer allzu hart, beinahe vernichtend: „Sie verfügt weder über politische Kultur noch über die geringste Spur von Charisma. Dazu mangelt es ihr an rhetorischen und dialektischen Qualitäten. Daher rührt ihr abschätziger Spitzname ,Zonen-Gabi‘“54 Nach dem (mehr oder weniger freiwilligen) Rücktritt Zimmers wurde Lothar Bisky wieder Parteivorsitzender. Gregor Gysi betätigte sich neben zahlreichen Medienauftritten als Rechtsanwalt und hatte mit starken gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. 51

Dafür legte er sein Bundestagsmandat nieder. Vgl. Gregor Gysi, Was nun? Über Deutschlands Zustand und meinen eigenen, Hamburg 2003, S. 146–158. Gysi schildert seine Sicht der „Affäre“ und die Beweggründe für seinen Rücktritt. 53 Die These, Gysi wurde sein Rückzug aus der Politik mit dem Rücktritt als Berliner Wirtschaftssenator von der Parteibasis zeitweise stark übelgenommen, bestätigte sich auf dem Chemnitzer Parteitag am 25. und 26. Oktober 2003, der den für die Partei so wichtigen Neuanfang einleiten sollte. Der Parteivorsitzende Lothar Bisky verpflichtete Gysi für einen Auftritt auf dem Chemnitzer Marktplatz, vor den Delegierten sollte er jedoch nicht reden. 54 Patrick Moreau, Politische Positionierung der PDS – Wandel oder Kontinuität?, München 2002, S. 64. 52

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Doch Gysi kehrte zurück und gab damit dem Dängen vor allem Lothar Biskys und den Mutmaßungen der Medien nach: Er leitete zunächst im Hintergrund die Öffnung der PDS nach Westdeutschland und das Bündnis mit einer gewerkschaftlich dominierten Westabspaltung ein, der WASG („Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“). Die WASG, zum Teil eine westdeutsche SPD-Abspaltung, die sich aus Protest gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung („Hartz IV“) gegründet hatte, erzielte bei der Landtagswahl im Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen ein beachtliches Ergebnis für einen erstmaligen Wahlantritt. Von einem Sprung in ein Parlament war sie dennoch relativ weit entfernt. Anfangs mußte sie ohne einen prominenten Kopf auskommen, da Lafontaine der Partei erst kurz nach der Landtagswahl beitrat. Doch im Hintergrund wurde von Gregor Gysi unter großem medialen Widerhall ein Bündnis gemeinsam mit dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vorangetrieben, der sich nun wiederum bereit erklärt hatte, an die Spitze der WASG zu treten. Dieser Schritt brachte ihr bei der Bundestagswahl von 2005 den kurzfristigen Erfolg, den Gysi und Lafontaine durch ihre Aura maßgeblich herbeigeführt haben. Eher im Hintergrund wirkten der Parteistratege Bodo Ramelow und die Integrationsfigur Lothar Bisky, gleichsam „Väter des Erfolgs“. Für den populistischen Charakter dieser neu entstanden Gruppierung spricht, daß sich Gysi von seinem Amt als Berliner Wirtschaftssenator im Juli 2002 auf ähnlich unrühmliche Weise zurückgezogen hatte wie Lafontaine von dem des Bundesfinanzministers drei Jahre zuvor. Dennoch werden Gysi und Lafontaine in ihrer Fähigkeit zur populistischen, gegen das Establishment gerichteten Wähleransprache derzeit von keinem anderen bundesdeutschen Politiker übertroffen.55 Das überaus gute Abschneiden des linkspopulistischen Wahlbündnisses, das 8,7 Prozent aller Zweitstimmen erhalten hatte, war so nicht vorhersehbar. Das hervorragende Ergebnis ist im wesentlichen der Zugkraft des Linkspopulismus geschuldet, der durch die beiden herausragenden Führungsfiguren Lafontaine und Gysi „kopflastig“ vorangetrieben wurde. Sie waren der Stachel im Fleisch des politischen Establishments.56 Aus der Konstellation der Großen Koalition kann die Linkspartei freilich Profit schlagen. Ihr hätte es weitaus mehr geschadet, wenn die SPD in die Opposition gekommen wäre und die Lücke am linken Rand des Parteienspektrums zumindest partiell wieder gefüllt hätte. Einmal mehr hat Gysi seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Gysi führt zusammen mit Lafontaine auch die Fraktion im Bundestag an (als gemeinsame Frak55 Vgl. Frank Decker/Florian Hartleb, Populismus auf schwierigem Terrain. Die rechten und linken Herausfordererparteien in der Bundesrepublik, in: Decker (FN 5), S. 209. 56 Vgl. dazu Florian Hartleb/Franz Egon Rode, Linkspartei.PDS und WASG im Bundestagswahlkampf 2005 – durch Linkspopulismus zum Erfolg?, in: Winand Gellner/Martin Reichinger (Hrsg.), Deutschland nach der Bundestagswahl 2005. Fit für die globalen Herausforderungen der erweiterten EU?, Baden-Baden 2006, S. 45–57.

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tionsvorsitzende). Zu den Aufstiegsfaktoren (lange Zeit wirkend an der Spitze der PDS und als Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag) gehörten: • Profilierung als maßgebliche Figur bei der „Überführung“ der SED in eine neue Partei, die PDS (einschließlich der Übernahme von politischer Führung); • außerordentlich begabter und intelligenter Redner (medial stark präsent); • charmantes und kokettes Auftreten; • Sprecher der Benachteiligten (gegen das West-Establishment gerichtet). Zu den zeitweiligen Abstiegsfaktoren (zum Beispiel schneller Rücktritt als Berliner Wirtschaftssenator) zählten: • Hang zur Egomanie; • umstrittene, nicht endgültig geklärte Vergangenheit als Rechtsanwalt in der DDR; • Schwierigkeiten im Umgang mit dem heterogenen Charakter der PDS, vor allem mit deren dogmatischen Flügel.

c) Vergleich Schill-Partei und PDS legten mit den Personen Ronald B. Schill und Gregor Gysi einen autoritären Paternalismus an den Tag. Beide galten über einen gewissen Zeitraum als „gewöhnliche Personen mit außergewöhnlichen Attributen“, wurden von Öffentlichkeit und Parteibasis zum magischen Anziehungspunkt stilisiert. Aus ihrer parteiinternen Bedeutung leiteten die Protagonisten einen beinahe egomanischen Sendungsanspruch ab. Eine überschaubare Gruppe von Vertrauten hielt ihren jeweiligen Führungsfiguren auf dem Weg nach oben den Rücken frei. Der Rechtsanwalt Gysi, vorher – wiewohl in der DDR-Elite und aus prominenter Familie – politisch ein weitgehend „unbeschriebenes Blatt“, avancierte 1989 zum Aushängeschild, der Amtsrichter Schill im Jahre 2001. Die politische Laufbahn beider entwickelte sich rasant, beinahe kometenhaft. Der schnelle Aufstieg, der in herkömmlichen Parteien nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre, hängt mit dem damals als neuartig empfundenen Kommunikationsstil und der geschickten Wähleransprache zusammen. Das Motto der beiden Außenseiter und Selbstdarsteller lautete: „Nimm dir kein Blatt vor den Mund!“ Stark machten die beiden Politiker auch manche Medien. Ronald B. Schill sorgte mit klaren Botschaften für Furore, bediente als politischer Newcomer die Sehnsucht nach innerer Sicherheit. Er griff im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf 2001 in den Werkzeugkasten des Populisten, agitierte gegen das Establishment, schürte Unsicherheitsängste, vermittelte die Illusion perfekter innerer Sicherheit, betätigte sich mit Totschlagargumenten und

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Vereinfachungen als Sprachrohr der „schweigenden Mehrheit“. Publicity-süchtig wirkte er in der konkreten Amtsausführung allerdings eitel und nicht übermäßig fleißig. Die Partei und seine Person verkörperten dennoch ein und dieselbe Identität – bis zu seiner Entlassung als Innensenator. Unter Gysi schien die PDS eine Mobilisierungsagentur mit einer medien- und kameragerechten Führungspersönlichkeit zu sein. Gleichwohl hatte und hat Gysi stets auf prominente Mitstreiter wie Lothar Bisky gesetzt. Nach seinem Rückzug stand schnell fest: „Gysi, der zweifellos Instinkt für die ,Massen‘ hatte und wie andere begnadete Populisten mit einer Mischung aus groben und realitätsverfälschenden Vereinfachungen, vermeintlich einfachen Lösungen und dies garniert mit Chuzpe die PDS in der Öffentlichkeit vertrat, hat keinen Nachfolger gefunden.“57 Nach seiner überraschenden Rückkehr wurde er gleichsam sein Nachfolger, obgleich die Verantwortung nun auf mehreren Schultern verteilt ist. Geistreicher Witz, kokettes Auftreten, Eloquenz und persönliche Ausstrahlung machen den Selbstdarsteller Gysi nach wie vor zu einem begehrten Medienpartner. Die PDS galt in der Außendarstellung lange Zeit als „Gregor-Gysi-Partei“, obwohl dies keineswegs der parteiinternen Realität entsprach. Gysi kann via TV mit dem Gestus der Beschwerdeführung ostdeutsche Belange artikulieren, sensibel auf „Befindlichkeiten“ eingehen. Darüber hinaus trug er lange vor dem Bündnis mit der WASG entscheidend dazu bei, die PDS durch ein modernes Image in der ostdeutschen Öffentlichkeit („Gysis bunte Truppe“), partiell selbst in Westdeutschland, salonfähig zu machen. Beide, Ronald B. Schill und Gregor Gysi, waren in einem praktischen Regierungsamt schnell ernüchtert. Die Erfüllung der Wahlversprechen und besonders der immensen Erwartungen ihrer (damaligen) Klientel kam fast einer Quadratur des Kreises gleich. Während der Berliner Wirtschaftssenator und Zweite Bürgermeister Gysi am maroden Berliner Haushalt schnell verzweifelte (ihm wäre eine repräsentative Zuständigkeit wie Kultur weitaus besser gelegen) und schließlich wegen der so genannten Bonusmeilenaffäre zurücktrat, brachte den an Detailarbeiten desinteressierten Hamburger Innensenator und Zweiten Bürgermeister Ronald B. Schill ein – tatsächlicher oder angeblicher – Erpressungsvorwurf zu Fall. Der aktive Widerstand gegen Schill seitens der Partei- und Fraktionsspitze bis hin zum Parteiausschluß setzte ein, als die Koalition und damit der eigene Machtanspruch gefährdet waren. Auch Gysi war nach dem schnellen Abgang als Senator – trotz enormer Verdienste um die Partei – zeitweise nicht mehr sonderlich wohlgelitten. Die These, daß charismatische Protagonisten zwischen Extrempolen oszillieren – strikte Gefolgschaft im Erfolg und Ablehnung im Mißerfolg –, findet an Schill Bestätigung, an Gysi insgesamt aber weitgehend nicht. Die extrovertierten Außendarsteller wurden unmittelbar 57 Viola Neu, Die PDS. Eine populistische Partei?, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 266.

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nach ihren Rücktritten schmerzlich vermißt. So setzten die Parteien im Bundestagswahlkampf 2002 (PDS) bzw. im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf 2004 (Partei Rechtsstaatlicher Offensive) notgedrungen nicht auf eine Ein-PersonenKampagne, sondern auf eine blaß wirkende Führungscrew. Ein elektoraler Mißerfolg war in beiden Fällen auch deswegen programmiert. Wie wichtig Gysi für die Partei ist, zeigt exemplarisch die jüngste Entwicklung seit seiner aktiven Rückkehr, etwa das fulminante Ergebnis bei der Bundestagswahl 2005. Im Hang nach Selbstzerstörung gab es zwischen Schill und Gysi stets gravierende Unterschiede: Gysi achtete stets auf seinen integren Ruf, bei Schill war diese Neigung wenig ausgeprägt, wie die Vorgänge, die zu den Neuwahlen von 2004 führten, deutlich zeigen. Während Gysi die unterschiedlichen Strömungen, die seine Person kontrovers beurteilten, schon aus der Natur der Partei heraus berücksichtigte und berücksichtigen mußte, betrachtete der selbstherrliche Schill die Partei als eine Art Eigentum. Die durch ihn ausgelösten Turbulenzen sind wichtige Indikatoren für seine frühere parteiinterne Bedeutung. Er riß seine („alte“) Partei sogar in den Abgrund. Derartige Bestrebungen hatte der auf Seriosität bedachte Gysi, obwohl Selbstdarsteller, in keiner Weise; Schill galt in den Augen der Öffentlichkeit spätestens mit seiner Entlassung als egozentrischer Schmierenkomödiant. Gysi versuchte, Ideengeber, programmatischer Lenker seiner Partei, die im Unterschied zur Schill-Partei einen ideologischen und intellektuellen Unterbau hat, zu sein. Ingesamt ergibt eine Gegenüberstellung folgende Aufschlüsse: Ronald Schill

Gregor Gysi

rhetorischer Aktionismus lediglich lokale Größe

rhetorischer Aktionismus weitgehend bundesweite Größe

punktuelle Medienpräsenz Seiteneinsteiger

kontinuierlich breite Medienpräsenz „Wurzeln“ im Establishment der DDR

politischer Novize thematisch begrenzt

politischer Profi breites thematisches Spektrum

ich-zentriert Präsentation einfacher Lösungen

ich-zentriert Präsentation einfacher Lösungen

stark polarisierend Provokateur, Scharfmacher

begrenzt polarisierend Charmeur

begrenzt mitreißend, eher hölzern, intelligent vorzeitiges Ende als Innensenator

stark mitreißend, eloquent, intelligent vorzeitiges Ende als Wirtschaftssenator

destruktiv

eher konstruktiv

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5. Fazit Charisma und Populismus sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Das ist ein politikwissenschaftlich fruchtbares Erklärungsmuster vor allem für den Aufstieg anti-elitärer, personenzentrierter Parteien (wenn die Identität des Parteivorsitzenden und der Partei gleichsam eins werden). Sehr abgeschwächt gilt das für die PDS bzw. Linkspartei.PDS, welche als „intellektualisierte“ Weltanschauungspartei viele Strömungen integriert, wodurch sie sich von einem reinen Personenkult loslöst. Das parteiinterne Gebilde gilt es darum, von dem öffentlichen Erscheinungsbild zu unterscheiden. Gleichwohl zeigen die Beispiele Ronald Schill und Gregor Gysi den Vorteil eines personenzentrierten Vergleichs: Die Annahme ist wohl unrealistisch, daß das Personencharisma dauerhaft und verläßlich eine wichtige Funktion bei der politischen Integration moderner Demokratien einnimmt. Charisma hat nur dann eine konstante Bedeutung, wenn die Gefolgschaft an ihren Anführer und seine Fähigkeiten glaubt. Ohne den rhetorischen Aktionismus von Ronald Schill wäre es nicht zur Gründung seiner Partei Rechtsstaatlicher Offensive („Schill-Partei“) gekommen. Honoriert wurden in den Hamburger Bürgerschaftswahlen 2001 die „kopfzentrierten“, auf Schill fixierten Umstände, die zur Gründung der Partei geführt hatten. Schill kam im Wahlkampf nicht nur im Stil, sondern auch mit klaren pointierten Standpunkten den Vorstellungen einer charismatischen Führungspersönlichkeit nahe. Spätere Tabubrüche wie sein Auftritt im Bundestag paßten gut ins Bild – wenngleich Schill den Nimbus des unorthodoxen Parvenüs in der Realpolitik verloren hatte. An der Person Schill läßt sich rückblickend beinahe idealtypisch festmachen, wie schnell der Glanz einer charismatischen Führungspersönlichkeit durch Fehlverhalten verblassen kann. Mißerfolg gefährdet die Gefolgschaft, das Charisma Schills hielt nicht einmal eine Wahlperiode lang. Wie im Nachhinein deutlich, wurde das Phänomen „Schill“ in hohem Maße medial konstruiert und verstärkt. Mit Gregor Gysi kann die PDS seit langer Zeit einen gewandten Selbstdarsteller in der Führungsetage vorweisen, der es verstand, Wähler und Sympathisanten, auch in Westdeutschland, anzusprechen. Ihm gelang es zeitweise in der Außendarstellung, daß die Identität der heterogenen Partei mit derjenigen Gysis nahezu vollständig verschmolz. Die PDS präsentierte sich oftmals – obwohl dies der parteiinternen Realität keineswegs entsprach und stets andere Personen wie Lothar Bisky sehr bedeutsam für die Partei waren und sind – als „GregorGysi-Partei“. Wie stark die Partei im Erscheinungsbild von ihm abhängig war, zeigte die Führungsriege um Gabriele Zimmer sehr deutlich. Die PDS wirkt nach dem Verlust des „Gysi-Bonus“ farblos, schien medial wenig präsent. Abhilfe schuf die Rückkehr Gysis selbst im Zuge der angestrebten Parteifusion, die er unter anderem mit Oskar Lafontaine „kopflastig“ und der Beteiligung des Parteivorsitzenden Lothar Biskys vorantrieb. Die vorgezogene Bundestagswahl

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2005 brachte der Linkspartei dementsprechend den kurzfristigen Erfolg. Einmal mehr unterstrich der Charmeur seinen (Außen-)Wert für die Partei. Diesen muß er in dem schwierigen Fusionsprozeß mit der vor allem westlich geprägten WASG erneut unter Beweis stellen. Die Verantwortung für die Zukunft der Partei ist freilich auf mehreren, relativ stabilen Schultern verteilt – ganz anders als einst im Fall Schill.

Die Dritte Hochschulreform und die daraus resultierende Verantwortung der FDJ Das Beispiel der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt Von Jana Kausch

1. Einleitung „Im Namen der Jugend unserer Republik erklären wir: Die Beschlüsse des VII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands – des Parteitags der Jugend – sind uns Programm, das Programm unserer aktiven Teilnahme an der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus. Sie enthalten unsere Perspektive und unsere Träume, sie sind uns Aufgabe und Verpflichtung.“1 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte das Problem der Bildung oberste Priorität bei den Besatzungsmächten. Vorrang genoß die Wiedereröffnung der Schulen, Hoch- und Fachschulen sowie Universitäten, auch in der sowjetischen Besatzungszone. Diese Phase, im nachhinein auch als Erste Hochschulreform bezeichnet, besaß noch keine gravierende ideologische Färbung. Sie unterstützte wesentlich die Entnazifizierung und schnelle Wiederaufnahme des Lehrbetriebs. Doch schon kurze Zeit später begann die SED in der Wissenschaft den „mächtigsten Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts“2 zu erkennen, mit Bedeutung für die Ausbildung der Weltanschauung. Die Sowjetisierung und der Beginn der Ideologisierung stellten die Folge der Zweiten Hochschulreform von 1951 dar. Spätestens mit dieser Umgestaltung entzog die DDR-Führung den Wissenschaftlern die Grundlagen für eine freie Forschung. Die Dritte Hochschulreform, welche 1965 durch das einheitliche sozialistische Bildungssystem und die „Prinzipien zur weiteren Vervollkommnung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“ eingeleitet wurde und

1 „Delegierte des VIII. Parlaments der Freien Deutschen Jugend“, in: Freie Presse vom 13. Mai 1967, S. 3. 2 Roswitha Wisniewski, Wissenschaft und Forschung, in: Rainer Eppelmann u.a. (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 2: N–Z, 2. Aufl., Paderborn 1997, S. 962–99, hier S. 962.

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1967 in Kraft trat, hatte eine vollständige Neustrukturierung des Hochschulsektors zum Ziel. Eine sinnvolle Verbindung von Lehre und Forschung mit der Praxis, die planvolle Heranbildung qualifizierten Personals, die Verwirklichung der wissenschaftlich-technischen Revolution sowie die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit – alles das sollte erlangt werden. Es galt, die Wissenschaft als Handlanger der SED-Politik umzustrukturieren, da es durch sie möglich war, die eigene Politik zu legitimieren. Die Freie Deutsche Jugend war als einziger Jugendverband der DDR eine Massenorganisation, die die „unselbständige Vermittlungs- und Hilfsfunktion bei der Polarisierung und Durchsetzung der SED Politik“3 besaß. Aus diesem Grund fiel ihr bei der Verwirklichung der Wissenschaftspolitik eine besondere Bedeutung zu. Als Bindeglied von Partei und Jugend sollte sie Ziele und Aufgaben der Dritten Hochschulreform in die Studentenschaft hineintragen und die Studenten zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen; es schien möglich, durch den Verband unmittelbar auf den einzelnen Studenten einzuwirken. Gegenstand des Beitrags ist die Frage, welche Veränderungen auf dem Sektor des Hochschulwesens mit der Reform von 1967 durchgesetzt und erreicht wurden und welche Rolle die FDJ bei der Umsetzung der Reform zwischen 1967 und 1969, vom Inkrafttreten der Novellierung bis zum Beschluß ihrer Weiterführung, gespielt hat. Verdeutlicht werden soll dies am Beispiel der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt (THK). Daraus ergeben sich zwei Leitfragen: Konnten an der THK die Erfordernisse der Dritten Hochschulreform erfolgreich in die Realität umgesetzt werden? Erfüllte die FDJ in Karl-Marx-Stadt den ihr von der Parteiführung zuerkannten Auftrag, „die Mädchen und Jungen zu überzeugten Sozialisten zu erziehen“?4

2. Der Weg zur Dritten Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt a) Die „Prinzipien zur weiteren Vervollkommnung von Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“ Der vom 15. bis 21. Januar 1963 in Berlin tagende VI. Parteitag versprach eine Wendung in der bisherigen Politik. Nicht nur, daß sich die Partei eine novellierte Satzung gab, die „ein neues Zeitalter [. . .] das Zeitalter des Sozialismus“5 einleiten sollte. Es wurde auch das „Programm zur planmäßigen Ent3 Ralph Jessen, Partei, Staat und „Bündnispartner“, Die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur, in: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997, S. 27–86, hier S. 38. 4 Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan, Blaue Hemden, rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, S. 164.

Die Dritte Hochschulreform

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wicklung der Wissenschaftslandschaft in der DDR“ verabschiedet, durch welches die Lehre eine Neustrukturierung erfahren sollte. Damit schuf Walter Ulbricht bereits 1963 die „ideologische Grundlage“6 für die Dritte Hochschulreform. Die Ergebnisse des VI. Parteitages mündeten in dem einheitlichen sozialistischen Bildungssystem vom 25. Februar 1965, welches die Einheit von „Theorie und Praxis“, „Lehre und Forschung“ sowie „Lehre und Erziehung“ vorsah.7 Damit war der Rahmen für die zukünftige Entwicklung der Wissenschaftslandschaft gegeben. Es galt, die Studentenschaft im Sinne des Marxismus-Leninismus zu erziehen sowie Wissenschaft und Wirtschaft zu verschmelzen.8 Um dieses Gesetz zu verwirklichen, stellte das Sekretariat für Hoch- und Fachschulwesen im Dezember 1965 die „Prinzipien zur weiteren Vervollkommnung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“ zur Diskussion, die auf der Grundlage der Beschlüsse des VI. Parteitages basierten und der Verwirklichung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems dienten. Sie beinhalteten die Ausbildung einer hohen Studien- und Arbeitsmoral, die Erziehung zur Charakterfestigkeit und zum sozialistischen Patriotismus, die Verbundenheit mit der DDR und der damit zusammenhängenden Einsatzbereitschaft, Kenntnisse des Marxismus-Leninismus, die Entwicklung der Eigenverantwortlichkeit, die Studienzeitverkürzung auf vier bzw. fünf Jahre sowie die praxisbezogene Ausbildung auf einer breiten technischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlage. Um eine hohe Effizienz zu erzielen, gliederte sich das Studium von nun an in vier Phasen: Grund-, Fach-, Spezial- und Forschungsstudium. In der Forschung lag die Konzentration auf der komplexen Grundlagenforschung und den Forschungsaufgaben für die Industrie, wofür eine enge Kooperation zwischen der Grundlagenwissenschaft und den angewandten Wissenschaften erforderlich war und Wechselbeziehungen mit anderen Forschungseinrichtungen notwendig wurden. Um die Einheit von Lehre, Erziehung und Forschung zu sichern, sollte eine neue Leitungsebene geschaffen werden: die der Sektionen.9 5 15.–21. Januar 1963. VI. Parteitag, in: Ilse Spittmann (Hrsg.), Die SED in Geschichte und Gegenwart, Köln 1984, S. 216. 6 Julius Schoenemann, Der große Schritt. Die Dritte Hochschulreform in der DDR und ihre Folgen dargestellt an einem Beispiel aus der medizinischen Fakultät der Universität Rostock 1969–1972, Rostock 1998, S. 13. 7 Vgl. Reinhard Feige, Die Entwicklung der Technischen Hochschule Karl-MarxStadt zur polytechnischen Bildungsstätte. 1963 bis 1965, in: Rektor der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt (Hrsg.), Königliche Gewerbeschule Chemnitz 1836–Technische Hochschule Karl-Marx-Stadt 1986. Zur Geschichte der Ingenieurausbildung in einer traditionsreichen Stadt des Maschinenbaus und der revolutionären Arbeiterbewegung, Leipzig 1986, S. 102–113, hier S. 102. 8 Vgl. Marianne Usko, Hochschulen in der DDR, Berlin 1974, S. 18. 9 Vgl. „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der Deutschen Demokratischen Republik“, hrsg. vom Staatssekretariat

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Den Auftakt zur Diskussion über die „Prinzipien“ an der THK stellte eine außerordentliche Sitzung des Senats am 2. März 1966 dar, an welcher auch der stellvertretende Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen, Hermann Tschersich, teilnahm und der weitere Tagungen folgten. Die Ergebnisse der Beratungen mündeten in der „Wortmeldung der Technischen Hochschule KarlMarx-Stadt zum VII. Parteitag der SED“, die am 30. November 1966 vom Senat verabschiedet wurde10 und vorsah, noch im laufenden Studienjahr mit den Maßnahmen zur Verwirklichung der „Prinzipien“ zu beginnen. Ein weiterer Schritt war der Erlaß einer neuen Prüfungsordnung für die Universitäten und Hochschulen der DDR vom 15. März 1966 die sowohl den Lehrern als auch den Studenten eine wesentliche Verantwortung bei der Bildung und Erziehung zuwies. In Paragraph drei des Gesetzes hieß es dazu: „(2) Der Lehrkörper hat durch die kontinuierliche Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus von Ausbildung und Erziehung, durch ständige Leistungskontrollen und durch die systematische Anleitung der Studierenden die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Prüfungen mit besten Ergebnissen abgelegt werden. (3) Die Studenten tragen selbst eine hohe Verantwortung für ihre Bildung und Erziehung. Sie nutzen alle Möglichkeiten, die sich für ihre Entwicklung zu hochgebildeten staatsbewußten Persönlichkeiten bieten. Sie bereiten sich systematisch und sorgfältig auf die Prüfungen vor.“11 Paragraph fünf der Ordnung besagte, daß ein Studierender exmatrikuliert werden konnte, wenn er durch sehr schlechte Leistungen auffiel und Maßnahmen, wie Hilfestellungen in der Seminargruppe, nicht zum gewünschten Ergebnis führten. Die Prüfungen selbst nahm nun eine zentrale Prüfungsstelle ab, die dem Direktor für Studentenangelegenheiten unterstand. Das Prüfungssystem bestand aus kontinuierlichen Leistungskontrollen sowie Abschlußleistungen.12 Nach Diskussionen über das neue Prüfungssystem wurde es als Ordnung auch in Karl-Marx-Stadt eingeführt.

für das Hoch- und Fachschulwesen, Dezember 1965, in: Universitätsarchiv Chemnitz (UAC) Akte 201/11/234c THK (1953–1968) Rektorat. Beratungen und Beschlüsse, Maßnahmen und Berichterstattung zu „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“ an der THK bzw. zentralen Einrichtungen, 1966, S. 1-X. 10 Vgl. Feige (FN 7), S. 102. 11 Prüfungsordnung für Universitäten und Hochschulen der Deutschen Demokratischen Republik (15. März 1966), in: UAC Akte 201/11/234a THK (1953–1966) Rektorat. Schriftwechsel mit dem Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, Bd. 1: (1965) 1966, S. 2-X. 12 Vgl. Usko (FN 8), S. 106.

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b) Die IV. Hochschulkonferenz und der VII. Parteitag Am 2. und 3. Februar 1967 fand unter der Leitung von Kurt Hager die IV. Hochschulkonferenz zu den „Aufgaben der Universitäten und Hochschulen im einheitlichen Bildungssystem der DDR“ statt. Sie zog Bilanz über die auf dem VI. Parteitag gestellten Aufgaben für das Hochschulwesen, beriet, wie das einheitliche Bildungssystem weiter zu entwickeln war13 und nahm das Programm der Dritten Hochschulreform an. Im folgenden tagte die Leitung der Technischen Hochschule Ende Februar darüber, wie die Aufgaben zügig in die Realität umzusetzen sind und wie die bereits begonnenen Projekte sich entwickeln. Die THK befürwortete die zukünftige Gliederung des Hochschulwesens, beklagte aber zugleich, daß die für die Arbeit an der Hochschule erforderlichen, neu ausgearbeiteten Studienpläne noch nicht vorlagen. Auch an einem zukünftigen Forschungsprofil arbeitete die Hochschule zu diesem Zeitpunkt und nahm Beratungen mit Betrieben darüber auf, wie die Forschung effektiver den Erfordernissen der Industrie angepaßt werden könne. Ziel war es, mindestens 50 Prozent der gesamten Forschung als Vertragsforschung zu etablieren.14 Im Vorfeld der IV. Hochschulkonferenz und des VII. Parteitages (17.–22. April 1967) wurde Kritik „an der mangelnden Effektivität in der Ausbildung“ geübt. Schlechte Studienergebnisse, vorzeitige Abgänge und Studienzeitüberschreitungen sollten durch die „Verbesserung der Erziehung durch den Lehrkörper und die Erhöhung des Leistungswillens der Studenten schnell [überwunden werden]“.15 Wie schon die Hochschulkonferenz setzte auch der Parteitag hier an und manifestierte die in den „Prinzipien“ und auf der IV. Hochschulkonferenz beschlossenen Maßnahmen der Dritten Hochschulreform.16 Die THK definiert die Grundsätze der Reform wie folgt: „Die Hauptaufgabe der sozialistischen Hochschule besteht in der Erziehung und Ausbildung hochqualifizierter, allseitig entwickelter Persönlichkeiten, die fest auf dem Boden des MarxismusLeninismus stehen, und die fähig und bestrebt sind, im Sinne des Leitbildes des sozialistischen Wissenschaftlers und Ingenieurs ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten bei der Stärkung des entwickelten gesellschaftlichen 13 Vgl. „Lehren und Forschen für unsere DDR. Professoren, Dozenten und Studenten beraten Entwicklung des Hochschulwesens“, in: Freie Presse vom 3. Februar 1967, S. 2. 14 Vgl. Vorlage Nr. 11/67. Stand der Verwirklichungen der „Prinzipien“ und der „Wortmeldung der TH Karl-Marx-Stadt zum VII. Parteitag der SED“, in: UAC Akte 201/11/262c THK (1953–1968). Rektorat. Zur III. Hochschulreform. Allgemeine Materialien des Leiters Wissenschaft im Rektorat Dr. W. Lohse, April–Juli 1968, S. 2-X. 15 „Bericht des Zentralkomitees an den VII. Parteitag der SED“, in: Freie Presse vom 17. April 1967, S. 10. 16 Vgl. Feige (FN 7), S. 115.

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Systems des Sozialismus schöpferisch anzuwenden. Es ist erforderlich, das allgemeine Niveau der Erziehung und Ausbildung ständig zu heben und auf Höchstleistungen im Studium zu orientieren, um der Gesellschaft die notwendigen Hochschulkader in kürzester Zeit und mit hoher Qualität zur Verfügung zu stellen.“17 Ziel war es, Pionierleistungen zu erzielen, die Arbeiten auf Weltniveau zu bringen und den Erfordernissen in der Gesellschaft und der Wirtschaft zu entsprechen. Zur sozialistischen Erziehung stellte die THK fest, daß diese nur dann erfolgreich sein können, „wenn die Persönlichkeitsentwicklung des Studenten durch einheitliche, gezielte pädagogische Maßnahmen des Lehrkörpers und der Kollektive des sozialistischen Jugendverbandes gelenkt und im Sinne einer kameradschaftlichen Selbsterziehung eines jeden Studenten gefördert wird.“18 Dazu gehörten zum einen die einheitlichen Grundstudienpläne für das gesamte Gebiet der DDR, die nicht nur fachliche, sondern auch politisch-ideologische Anforderungen einschlossen. Zum anderen umfaßte es den Erziehungsauftrag der Jugendorganisation, die die Vermittlung eines festen Klassenstandpunktes übernehmen und kontrollieren mußte. Jeder einzelne Student sollte dazu angehalten werden, sich selbstständig mit den politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Die Ausbildung an der THK galt es so zu konzipieren, daß sie den „Erfordernissen der wissenschaftlich-technische Revolution und den strukturbestimmenden Schwerpunkten der Volkswirtschaft der DDR [entspricht, und sich organisch der] prognostischen Entwicklung des Bezirkes einfügt“.19 Auf der ersten Hochschulkonferenz am 23. Mai 1968 leitete der Rektor die Durchführung der Reform an seiner Lehranstalt ein. Er betrachtete die Novellierung nicht als „eine Addition von verschiedenartigen neben einander laufenden ideologischen Prozessen und bestimmten inhaltlichen und strukturellen Veränderungen“, sondern vielmehr als einen „Umgestaltungsprozeß im Zusammenhang mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung“. Der Erfolg wird „einzig und allein an den Ergebnissen gemessen, die wir hinsichtlich der Erhöhung der Effektivität in Lehre und Forschung erzielen“.20 17 Neufassung des Abschnittes 2 des Manuskriptes „Weitere Maßnahmen zur Durchführung der Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt“, in: UAC Akte 201/11/262c THK (1953–1968). Rektorat. Zur III. Hochschulreform. Allgemeine Materialien des Leiters Wissenschaft im Rektorat Dr. W. Lohse. April–Juli 1968, S. 2 18 Ebd., S. 3. 19 Entwurf des Programms zur weiteren Durchführung der Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt. Vorgelegt auf der 2. Konferenz der Hochschule am 26. Juni 1968, in: UAC Akte 201/11/261 THK (1953–1968) Rektorat. Zur III. Hochschulkonferenz. Gedruckte Materialien, 1968, S. 4-X. 20 Referat zur Hochschulkonferenz am 23. Mai 1968 über die Durchführung der Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, in: UAC Akte

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Nachdem der Prozeß der Umsetzung eingeleitet war, wurde mit Maßnahmeund Zeitplänen für die Durchführung begonnen. Auch erfolgte die Ausarbeitung der „Konzeption für die weitere Entwicklung der Hochschule zur modernen sozialistischen Hochschule“, und die THK ging erste Schritte zu ihrer Realisierung. In dieser ersten Etappe21 erfolgte die Einbeziehung von Vertretern aller Hochschulbereiche. Dafür wurden eigens Delegiertenkonferenzen abgehalten und bis zum 20. Mai 1968 vier Arbeitsgruppen22 gebildet, die unter der Leitung des Rektors regelmäßig Beratungen durchführten und an den Aufgaben zur Verwirklichung der Reform arbeiteten.23 Die zweite Phase bestand nicht mehr in der Ausarbeitung des Vorhabens, sondern in seiner Umsetzung.24

3. Die Umsetzung der Dritten Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt a) Sektionsbildung Die „Prinzipien“ sahen zur Sicherung der Einheit von Lehre, Erziehung und Forschung die Gründung von Sektionen vor. Ein zentrales Schema für deren Bildung existierte nicht. Die Entstehung richtete sich nach dem jeweiligen Profil sowie den Schwerpunktaufgaben in Ausbildung und Forschung. Verschiedene Formen waren möglich, vielleicht sogar gewünscht.25 „Die Bildung der Sektionen sollte dort erfolgen, wo durch die Konzentration und Profilierung von Erziehung, Ausbildung und Forschung den prognostischen Bedürfnissen von Gesellschaft, Volkswirtschaft und Wissenschaft Rechnung getragen wird, und wo 201/11/307 THK (1952–1968). Rektorat. Materialien zur III. Hochschulreform an der THK, April–August 1968, S. 7. 21 Wurde von der THK selbst so bezeichnet. 22 Arbeitsgruppe Propaganda und politische Massenarbeit, Arbeitsgruppe Erziehung, Aus- und Weiterbildung, Arbeitsgruppe Leitung/Struktur, Arbeitsgruppe Hochschulökonomie. 23 Vgl. Vorlage für die Dienstbesprechung bei Genosse Minister Gießmann am 20. August 1968, in: UAC Akte 201/11/301k THK (1953–1968). Rektorat. Vorlage für Dienstbesprechung beim Genossen Minister Gießmann am 20. August 1968, S. 2. 24 Vgl. Anlage 3: 1. Entwurf. Führungskonzeption zur Weiterführung der Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt bis zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR (Studienjahr 1968/69), S. 1 der Vorlage für die Dienstbesprechung bei Genosse Minister Gießmann am 20. August 1968, in: UAC Akte 201/11/ 301k THK (1953–1968) Rektorat. Vorlage für die Dienstbesprechung beim Genossen Minister Gießmann am 20. August 1968. 25 Vgl. Erläuterungen zu den Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR, in: UAC Akte 201/11/234c THK (1953– 1968) Rektorat. Beratungen und Beschlüsse, Maßnahmen und Berichterstattung zu „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“ an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt bzw. zentralen Einrichtungen, 1966, S. 9.

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Schwerpunkte in Ausbildung und Forschung liegen die charakteristisch und profilbestimmend für die Hochschule sind.“26 Mit den Sektionen versuchte die DDR-Regierung, durch die Möglichkeit der Zusammenarbeit auch unterschiedlicher Fakultäten, den Ansprüchen der Wissenschaft zu entsprechen und das Niveau in Ausbildung und Lehre zu erhöhen. Materielle Mittel konnten durch Kooperation diverser Fachgebiete eingespart werden. Die Leitung der Sektion übernahm der Vorsitzende, der dem Dekan unterstand. Beraten wurde er vom Sektionsrat, dem vor allem Professoren, Dozenten, besonders befähigte Mitarbeiter und jeweils ein Vertreter aus der Parteiorganisation, der Gewerkschaft, der FDJ und der Praxis angehörten.27 Falls die Angelegenheiten über die eigentlichen Aufgabengrenzen der Sektion hinausgingen, konnte die Sektion, der mindestens 25 Wissenschaftler angehörten, dem Rektor oder einem Prorektor unterstellt werden.28 Die Fakultäten erhielten eine neue Bedeutung. Sie sollten nun Forschungsvorhaben fördern, kontrollieren sowie die Resultate und Wirkung der Erziehung und Ausbildung analysieren. Die Sektionen unterstanden der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften, Mathematik, Naturwissenschaften, Maschineningenieurwissenschaften und Elektroingenieurwissenschaften.29 Zügig begann die THK mit der Entwicklung der neuen Leitungsebene. Bereits am 25. Oktober 1967 legten Rektor Hans Jäckel sowie die Hochschulparteileitung eine Konzeption für das künftige Profil der Hochschule vor. Die Arbeitsgruppe Leitung/Struktur hatte die Erarbeitung der inneren Struktur der Sektionen zur Aufgabe. Unter ihrem erarbeitenden Modell konzipierten sich die Vorschläge für Struktur und Inhalt der jeweiligen Einheit.30 Die erste Sektion, für Fertigungstechnik und -organisation, wurde noch 1967 gegründet.31 Da die THK ihre ersten Erfahrungen positiv bewertete, erfolgte mit dem Einverständnis des Ministeriums für das Hoch- und Fachschulwesen in einem Festakt am 10. September 1968 die Gründung der folgenden Sektionen: 26 Brief des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen an die Rektoren der Universitäten, Hochschulen und Medizinischen Akademien vom 12. Juni 1967, in: UAC Akte 201/11/300a THK (1953–1968). Rektorat. Neuprofilierung der THK-Sektionsbildung (im Rahmen der III. Hochschulreform), 1967–1968, S. 2. 27 Vgl. Akte 201/11/234c THK (1953–1968) Rektorat (FN 25), S. 9. 28 Ebd., S. 3-X. 29 Brief an das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen vom 7. November 1972, in: UAC Akte 202/1000/56 THK (1968–1980) Rektorat, Kurzcharakteristika der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt (Hochschulpaß), S. 2. 30 Vgl. Schreiben der Arbeitsgruppe Kader an die Zentrale Arbeitsgruppe Hochschulreform vom 19. Juni 1968, in: UAC Akte 201/11/262a THK (1953–1968). Rektorat. Zur III. Hochschulreform-Eingaben. Eingaben von Wissenschaftlern, Bereichen und Gewerkschaftsgruppen zur Durchführung der III. Hochschulreform an der THK, 1968. 31 Am 10. September 1968 in Fertigungsprozeß und -mittel umbenannt.

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Mathematik, Physik/Elektronische Bauelemente, Maschinenbauelemente, Verarbeitungstechnik, Automatisierungstechnik, Informationsverarbeitung32, Marxismus-Leninismus, Erziehungswissenschaften und Fremdsprachen sowie Sozialistische Leitungs- und Organisationswissenschaften.33 Die „neuen Struktureinheiten“34 der Hochschule nahmen ihre Arbeit am 1. September 1968, daß heißt gut eine Woche vor dem eigentlichen Festakt, auf. Die Sektionen Technologie der metallverarbeitenden Industrie, Chemie/Werkstofftechnik und Rechentechnik/ Datenverarbeitung wurden am 1. September 1969 gegründet.35 Neben diesen Sektionen finden sich in den Akten zahlreiche Stellungnahmen zur Bildung der einzelnen Einheiten und Vorschläge zur Etablierung weiterer Sektionen, die allerdings im Gründungsprozeß keine Berücksichtigung fanden oder als nicht praktikabel abgewiesen wurden. b) Studium Das Studium in der DDR stand unter dem Leitsatz der Einheit von Lehre, Ausbildung, Erziehung, Forschung, Praxis, Aus- und Weiterbildung wie es das einheitliche sozialistische Bildungssystem definiert hatte, um die Produktivität der Studenten und des Studiums in den Mittelpunkt zu rücken. Mit der Dritten Hochschulreform veränderte sich das Studiensystem grundlegend. Das Ziel bestand in der Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus, der Steigerung der Eigenverantwortlichkeit der Studenten und der effektiven Verbindung von Lehre und Praxis. Im Ergebnis gliederte sich das Studium in Grund-, Fach-, Spezial- und Forschungsstudium. Das Grundstudium umfaßte sowohl die naturwissenschaftliche als auch die gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenausbildung. Es setzte bei dem Wissensstand der Hochschulreife an. Das Grundstudium schloß mit der Vorprüfung ab. Dafür war es erforderlich, Fremdsprachenkenntnisse sowie die Teilnahme an der Sport- und militärischen (vormilitärischen) Ausbildung vorzuweisen.36 Das Fachstudium führte das Grundlagenstudium in einer spezifischen Richtung weiter. Es endete mit der Hauptprüfung und dem Erwerb des Diploms. An das beendete Fachstudium knüpfte zunächst das Spezialstudium an, in welchem der Student praktische und theoretische Probleme zu lösen hatte. Eigens dafür wurde er in die Forschungsaufgaben einer Sektion oder eines Instituts einbezo32

Am 1. Juni 1971 in Informationstechnik umbenannt. Umbenennung am 1. Mai 1972 in Sektion für Wirtschaftswissenschaften. 34 Vorlage für die Dienstbesprechung bei Genosse Minister Gießmann am 20. August 1968, in: UAC Akte 201/11/301k THK (1953–1968) Rektorat. Vorlage für die Dienstbesprechung beim Genossen Minister Gießmann am 20. August 1968, S. 4. 35 Vgl. UAC Akte 202/1000/56 (FN 29). 36 Vgl. UAC Akte 201/11/234c THK (1953–1968) Rektorat (FN 25), S. 4. 33

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gen. Da es sich allerdings in der Praxis nicht bewähren konnte, wurde es bald stillschweigend fallen gelassen.37 Das Ziel des Forschungsstudiums schließlich bestand darin, einen eigenen Beitrag zur Wissenschaftsforschung zu leisten. Es umfaßte einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahre. Nach dem erfolgreichen Promotionsverfahren schloß es mit dem akademischen Grad des Doktors eines Wissenschaftszweiges ab.38 Mit der Dritten Hochschulreform existierten einheitliche Grundstudienpläne für die gesamte DDR. Das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen gab das Ausbildungsziel sowie einen einheitlichen Rahmen vor, der Wissenschaftliche Rat übernahm die Ausarbeitung.39 Die Zulassungsordnung zum Hochschulstudium nannte neben der Hochschulreife drei weitere Voraussetzungen: die aktive Mitgestaltung an der sozialistischen Gesellschaft und deren Verteidigung, den Nachweis hoher fachlicher Leistungen sowie die Bereitschaft, alle Forderungen der sozialistischen Gesellschaft zu erfüllen und nach dem abgeschlossenen Studium einen entsprechenden Arbeitsplatz anzunehmen. Die Bewerbung um einen Studienplatz erfolgte im Jahr vor der voraussichtlichen Studienaufnahme in der Zeit vom 25. September bis 5. Oktober, und zuvor in der gewünschten Fachrichtung an der entsprechenden Hochschule. Jeder zukünftige Student mußte neben seinem eigentlichen Studienwunsch noch ein weiteres mögliches Fach angeben. Doppelbewerbungen waren unzulässig. Über die Aufnahme entschied eine vom Rektor gebildete Zulassungskommission auf der Grundlage der Bewerbungsunterlagen.40 Ein weiteres Charakteristikum des Studiums in der DDR war das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. Dieses fand seinen Einzug spätestens ab 1949 in Form der Pflichtvorlesung des Dialektischen und Historischen Materialismus, die dazu dienen sollte, den Studenten die gewünschte politisch-ideologische Anschauung zu vermitteln. Da das Grundlagenstudium mit Prüfungen abschloß, mußte ein enormer Zeitaufwand investiert werden. Die marxistischleninistischen Pflichtveranstaltungen sollten Einfluß auf die Erziehung jedes einzelnen Studenten nehmen, Hilfe zur Selbsterziehung im Hinblick auf das sozialistische Moralbewußtsein und das praktische Handeln und Verhalten leisten. Um sicher zu gehen, daß die Hochschullehrer und Mitarbeiter auf einer zuverlässigen politisch-ideologischen Basis agierten, wurde mit dem 1. September 1968 das System zur marxistisch-leninistischen Weiterbildung für diese eingerichtet.41 37

Usko (FN 8), S. 69. Vgl. UAC Akte 201/11/234c THK (1953–1968) Rektorat (FN 25), S. 5. 39 UAC Akte 201/11/234c THK (1953–1968) Rektorat (FN 37), S. 2. 40 Vgl. Gabriele Husner, Studenten und Studium in der DDR, Köln 1985, S. 29 f. 41 Vgl. Institut für Hochschulbildung (Hrsg.), Das Hochschulwesen in der DDR. Ein Überblick, Berlin 1980, S. 93. 38

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Daneben stellte die Seminargruppe ein weiteres Wesensmerkmal dar, die bereits mit dem Studienjahr 1949/50 durch die FDJ, als kollektive Lernbewegung, eingeführt wurde. Sie umfaßte ca. 20 Mitglieder. Vorerst übernahm die Leitung ein Assistent oder dafür fähig befundene Studenten. 1951 erfolgte die Umwandlung der Gruppen in staatliche Seminargruppen, denen jeder Student während seines gesamten Studiums angehörte. Von der Dritten Hochschulreform an gab es einen Seminargruppenbetreuer, der erzieherische Maßnahmen übertragen bekam.42 Die eigentliche Leitung der Seminargruppen lag wegen der Einflußnahme auf die sozialistische Erziehung in den Händen der FDJ.43 Um möglichst hohe Studienergebnisse zu erreichen, wurde das Mittel des Wettbewerbs eingeführt. Der Wettstreit galt für die Dauer eines Studienjahres. Der Prorektor für Studienangelegenheiten legte jeweils zu Beginn des Jahres den Schwerpunkt fest.44 Ein Beispiel für solch einen sozialistischen Wettstreit war jener 1967 zwischen der THK und der TH Otto von Guericke Magdeburg, welche die Modellrolle bei der Umsetzung der Dritten Hochschulreform einnahm. Die Themenschwerpunkte lagen im Bereich der Erziehung und Ausbildung, den Gesellschaftswissenschaften, dem Sport, der Kultur und den Sprachen, der Forschung sowie der Verwaltung.45 Den Höhepunkt der Studentenwettstreite bildete die Leistungsschau der Bildungseinrichtungen, ferner die Zentrale Leistungsschau der Studenten und jungen Wissenschaftler.46 c) Organisationsstruktur Das oberste Organ der Wissenschaftslandschaft der DDR war das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen. „Das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen verwirklicht die einheitliche zentrale staatliche Leitung der Universitäten und Hochschulen hauptsächlich durch die Ausarbeitung von Grundsätzen und Direktiven für die Entwicklung des Hochschulwesens, durch 42

Vgl. Usko (FN 8), S. 94. Vgl. Diskussionsbeitrag: Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit zwischen Hochschullehrern und Studenten bei der Lösung der Aufgaben der 3. Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, in: UAC Akte 201/11/ 300b THK (1953–1968). Rektorat. Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit zwischen Hochschullehrern und Studenten bei der Lösung der Aufgaben der III. Hochschulreform an der THK (Diskussionsbeitrag), 1968, S. 6. 44 Vgl. UAC Drucksache 511/201/Dr/83 THK: Beschluß der gemeinsamen Sitzung des Akademischen Senats und der FDJ-Hochschulleitung über die wissenschaftlichproduktive Tätigkeit und den Wettbewerb um hohe Studienleistungen der Studenten und jungen Wissenschaftlern an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt vom 29. November 1967, S. 6. 45 Vgl. UAC Drucksache 511/201/Dr/79D: Wettbewerb zwischen der TH Otto von Guericke Magdeburg und der TH Karl-Marx-Stadt zu Ehren des VII. Parteitages der SED und des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, S. 2-X. 46 Vgl. UAC Akte 201/11/300b THK (1953–1968). Rektorat (FN 43), S. 26. 43

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die Koordinierung seiner Aufgaben mit den Aufgaben der anderen gesellschaftlichen Bereiche, durch die Gewährung der Mitbestimmung und Mitwirkung der Hochschulangehörigen an der Leitung und Planung des Hochschulwesens, durch die Entwicklung des Hochschulrechts und durch die Berufung und Abberufung aller Hochschullehrer.“47 Um die Struktur und Leitung der Universitäten und Hochschulen effektiv zu gestalten, gliederte sich die Lehranstalt von der Dritten Hochschulreform in zwei Leitungsebenen. Die erste umfaßte die Leitung der Hochschulen, die zweite die der Sektionen. Zur ersten Ebene: Sie legte die Weisungen für die gesamte Hochschule und für die zweite Leitungsebene fest.48 Die Hochschulleitung übernahm der Rektor nach dem Prinzip der Einzelleitung und der persönlichen Verantwortung. Seine Funktionalorgane waren die Prorektoren. Außer dem Prorektor als ersten Stellvertreter des Rektors gab es einen Prorektor für Prognose und Wissenschaftsentwicklung sowie einen Prorektor für Gesellschaftswissenschaften. Neben diesen standen dem Rektor die Direktoren für Ausbildung und Erziehung, für Weiterbildung, für Kaderentwicklung, für Ökonomie, für wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zur Verfügung.49 Weitere Beratungsgremien waren der Gesellschaftliche sowie der Wissenschaftliche Rat, die Hochschulkonferenz und die Delegiertenkonferenz aller Hochschulangehörigen.50 Zur zweiten Leitungsebene: Auf dieser Ebene waren die Sektionen angesiedelt. Die Leitung übernahmen die Sektionsdirektoren, die dem Rektor direkt unterstellt und rechenschaftspflichtig waren. Sie trugen Verantwortung für die Erziehung, die Durchführung von Aus- und Weiterbildung, die Qualifizierung von sogenannten Kadern und die Durchführung der Forschungsarbeit an ihrer Sektion.51

47 Institut für Hochschulbildung (Hrsg.), Das Hochschulwesen in der DDR. Ein Überblick, Berlin 1980, S. 293-X. 48 Vgl. Leitgedanken zur Durchführung der Hochschulreform an der Technischen Hochschule Otto von Guericke Magdeburg (Neufassung), in: UAC Akte 201/11/301k THK (1953–1968). Rektorat. Vorlage für die Dienstbesprechung beim Genossen Minister Gießmann am 20. August 1968. 49 Vgl. Vorlage für die Dienstbesprechung bei Genossen Minister Gießmann am 20. Juni 1968, in: UAC Akte 201/11/301k THK (1953–1968). Rektorat. Vorlage für die Dienstbesprechung beim Genossen Minister Gießmann am 20. August 1968, S. 49-X. 50 Vgl. Der Beitrag der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: Rektor der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt (Hrsg.), Die Technische Hochschule Karl-Marx-Stadt in der Zeit von 1963 bis 1975, Leipzig 1978, S. 9–52, S. 29-X. 51 Vgl. UAC Akte 201/11/301k THK (1953–1968). Rektorat (FN 49), S. 55.

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d) Forschung „Wissenschaft und Forschung haben einen entscheidenden Anteil daran, die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaft in der Klassenauseinandersetzung mit den Imperialisten auf allen Gebieten des Lebens unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu erringen und zu sichern.“52 Auch die Forschung erhielt durch die Dritte Hochschulreform eine zunehmende Bedeutung. Um größtmögliche Erfolge erzielen zu können, sollte sie Theorie und Praxis miteinander verknüpfen. Die Ergebnisse der Forschung galt es unmittelbar in der Praxis anzuwenden. Dafür mußte die Forschung den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen, und in Übereinstimmung mit den Perspektivplänen erfolgen, woraus sich die enge Kooperationsbeziehung zwischen der Grundlagen- und der Angewandten Wissenschaft ergab.53 Eigens für die Prognosearbeit wurde an der THK mit der Dritten Hochschulreform ein Prorekorat geschaffen, dessen Aufgabe darin bestand, systematische Trenduntersuchungen durchzuführen und zu ermitteln, welche Verflechtungen zwischen den einzelnen Fachgebieten bestehen und genutzt werden können. Dadurch sollten sich zukünftige Aufgaben für die Wissenschaft ableiten. Eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie, dem Ministerium für Wissenschaft und Technik, der Deutschen Akademie der Wissenschaften sowie anderen Hochschulen und Universitäten der DDR war dafür zwingend notwendig. Im Ergebnis sollten die Forschungsprofile überarbeitet, Empfehlungen für künftige Forschungsvorhaben abgegeben, Vorschläge für mögliche Kooperationen unterbreitet, der Boden für neue Fachgebiete und Lehrveranstaltungen geebnet sowie Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit aufgezeigt werden. Ziel war die Erarbeitung der Jahrespläne der Hochschule, das Beschaffen von Investitionen, die Klärung der Planabstimmung mit dem Ministerium, die Erstellung statistische Materialien und die Kontrolle der Vertragsinhalte.54 Die Vereinbarungen über die Zusammenarbeit mit der Industrie traf die THK 1967 auf der Forschungskonferenz.55 Im Vergleich zu 1965 wurde 1967 auf 52 Die Aufgaben der Technischen Hochschule bei der Weiterführung der 3. Hochschulreform im Studienjahr 1969/70. Führungskonzeption, 1969, in: UAC Akte 202/ 1000/58 THK (1969–1980). Rektorat. Die Aufgaben der Technischen Hochschule bei der Weiterführung der 3. Hochschulreform im Studienjahr 1969/70. Führungskonzeption, 1969, S. 1. 53 Vgl. UAC Akte 201/11/234c THK (1953–1968) Rektorat (FN 9), S. 1-X. 54 Vgl. Vorschlag. Aufgaben und Struktur des Prorektorats für Prognose und Wissenschaftsentwicklung vom 24. Juni 1968, in: UAC Akte 201/11/262a THK (1953– 1968). Rektorat. Zur III. Hochschulreform-Eingaben. Eingaben von Wissenschaftlern, Bereichen und Gewerkschaftsgruppen zur Durchführung der III. Hochschulreform an der THK, 1968, S. 1-X. 55 Vgl. Rektor der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt (Hrsg.), Die Technische Hochschule Karl-Marx-Stadt in der Zeit von 1963 bis 1975. Festschrift, Leipzig 1978, S. 28.

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dem Gebiet der Grundlagenforschung eine deutliche Steigerung erreicht, und in der Vertragsforschung ein Wachstum um das 11/2-Fache erzielt. Die Einbeziehung der Studenten in die Forschung, durch Diplomarbeiten und Ingenieurpraktika, erfuhr ebenfalls eine positive Bewertung.56 Die Hauptpraxisvertreter der THK waren unter anderem: VEB Werkzeugmaschinen-Kombinat „Fritz Heckert“, VVB Textima Karl-Marx-Stadt, VVB Plast-Elast Berlin, VEB Kombinat Robotron, VEB Carl Zeiss Jena, VVB Automobilbau.57

4. Die Rolle der FDJ bei der Umsetzung der Dritten Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt a) Die Verantwortung der FDJ für die Dritte Hochschulreform Die Hauptaufgabe der Jugendorganisation lag darin, den Studenten die politisch-ideologische Richtung vorzugeben und sie von der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu überzeugen. Es war erkannt worden, daß die sozialistische Erziehung nur erfolgreich sein konnte, „wenn die Persönlichkeitsentwicklung des Studenten durch einheitliche, gezielte pädagogische Maßnahmen des Lehrkörpers und der Kollektive des sozialistischen Jugendverbandes gelenkt und im Sinne einer kameradschaftlichen Selbsterziehung eines jeden Studenten gefördert wird“.58 Die FDJ sollte „alle Studenten zu überzeugten, klassenbewußten jungen Sozialisten erziehen, die um höchste Leistungen im Studium ringen und ihre ganze Kraft für die Vollendung des Sozialismus einsetzen“.59 Ihre politische Tätigkeit mußte darauf ausgerichtet sein, die eigenen Mitglieder von einer vorbehaltslosen Anerkennung der Politik der SED zu überzeugen und sie

56 Vgl. Schreiben des Rektors vom 10. April 1968, in: UAC Akte: Akte 201/11/ 251b THK (1953–1968) Rektorat. Die Neugestaltung der Ausbildung, Erziehung und Forschung an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt entsprechend des VII. Parteitages und den „Prinzipien zur Neugestaltung der Ausbildung, Erziehung und Forschung an den Universitäten und Hochschulen der DDR“, 14. April 1968, S. 8-X. 57 Vgl. Technische Hochschule Karl-Marx-Stadt, in: UAC Akte 202/1000/56 THK (1969–1980) Rektorat. Kurzcharakteristik der Technischen Hochschule Karl-MarxStadt (Hochschulpaß), 1969, S. 6. 58 Neufassung der Abschnittes 2 des Manuskriptes „Weitere Maßnahmen zur Durchführung der Hochschulreform an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt“, in: UAC Akte 201/11/262c THK (1953–1968) Rektorat. Zur III. Hochschulreform. Allgemeine Materialien des Leiters Wissenschaft im Rektorat Dr. W. Lohse, April–Juli 1968, S. 2-X. 59 Führungsplan des Sekretariats der FDJ-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt zur Arbeit an den Hoch- und Fachschulen des Bezirkes im Studienjahr 1967/68 vom August 1967, in: UAC Akte 231/9: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, 1967, S. 2.

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für die aktive Mitarbeit zu gewinnen.60 Dafür galt es, die Rolle der FDJ weiter zu stärken. Die Freie Deutsche Jugend erhielt diesen Auftrag, da es ihr über die SeminarFDJ-Gruppen möglich schien, Kontakt zu jedem Mitglied aufzunehmen.61 Auch übte die FDJ „die öffentliche Kontrolle über die Studienhaltung und die Studienergebnisse jedes Studenten“62 aus. Wenn allerdings eine Betrachtung der Studienergebnisse aus dieser Zeit erfolgt, zeigt sich, daß entweder diese Methode nicht griff oder sie nicht angewandt wurde. Betrug an der THK 1966 der Durchschnitt aller Noten aus Leistungskontrollen der Matrikel von 1962 2,9, so war der Mittelwert der Matrikel von 1966 3,3.63 Die Erziehung der Jugendlichen gestaltete sich als die schwierigste Aufgabe bei der Durchführung der Hochschulreform. Ein veränderter Leitungsaufbau, neue Lehrpläne oder eine neue Organisationsstruktur waren leichter umzusetzen, da diese von „oben“ erfolgten. In das studentische Bewußtsein einzudringen, es nach der eigenen politisch-ideologischen Vorstellung zu prägen, gestaltete sich wesentlich schwieriger. b) Die Rolle der FDJ bei der Durchführung und Umsetzung der Beschlüsse Die FDJ erkannte den ihr von der Partei angetragenen Auftrag vorbehaltlos an. Der Zentralrat (ZR) der FDJ legte am 3. Mai 1967 seinen Beschluß über „Ziel und Inhalt der politisch-ideologischen Arbeit der Freien Deutschen Jugend an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen“ vor und definierte darin die studentischen Aufgaben. Sie bestanden sowohl in der Vollendung der sozialistischen Revolution, der Beitragsleistung für die Gestaltung einer sozialistischen Perspektive für ganz Deutschland als auch in der aktiven Parteinahme für 60 Vgl. Beschluß des Büros des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend vom 3. Mai 1967. Ziel und Inhalt der politisch-ideologischen Arbeit der Freien Deutschen Jugend an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen, in: UAC Akte 231/1 THK. Kreisleitung der FDJ. Schriftwechsel mit dem Zentralrat der FDJ. 1966–1969, S. 4. 61 Vgl. Arnold Freiburg/Christa Mahrad, FDJ. Der sozialistische Jugendverband der DDR, Opladen 1982, S. 172. 62 Ebd., S. 13. 63 Vgl. Anlage IVc: Entwicklung der Studienleistungen der einzelnen Matrikel nach Ende der Studienjahre 1965/66 und 1966/67 bezogen auf Durchschnitt aller bisher erzielten Noten in Leistungskontrollen, Anlage von: Das künftige Profil in Ausbildung, Erziehung und Forschung der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt entsprechend den Erfordernissen des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus-Hauptfragen für die Parteiarbeit, die sich daraus ergeben, in: UAC Akte 201/11/ 301i THK (1953–1968) Rektorat. Das künftige Profil in Ausbildung, Erziehung und Forschung der THK entsprechend den Erfordernissen des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus. Hauptfragen für die Parteiarbeit, die sich heraus ergeben (Vorlage für die SED-Bezirksleitung KMSt), September–Oktober 1967.

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den Sozialismus. Die Studierenden galt es in die Lösung von praktischen gesellschaftlichen Aufgaben einzubeziehen, um sie in die Lage zu versetzen, Verantwortung für die Gesellschaftsentwicklung zu übernehmen. Um effektiv als Erzieher wirken zu können, sollten sich FDJ-Funktionäre selbst eine feste sozialistische Klassenposition aneignen und sich durch Tagungen, Zirkel, Seminare und Schulungen weiterbilden.64 Um die Wirkung der Anleitung zu verbessern, trugen die FDJ-Leitungen die Verpflichtung für das politische und geistig-kulturelle Leben in den Studentenklubs, den Wohnheimen und während der Semesterferien. Bereits einen Tag zuvor, am 2. Mai 1967, präsentierte die THK einen ersten Informationsbericht über „konkrete Ereignisse und Maßnahmen, die sich aus den Forderungen und Beschlüssen des VII. Parteitages“65 ergaben. Günter Dybowski, erster Sekretär der FDJ an der Hochschule, vermerkte darin, daß bereits dazu übergegangen wurde, erste konkrete Schritte wie erzieherische Maßnahmen sowie den „verstärkte[n] Kampf gegen Mittelmäßigkeit in Studium und in der Forschung [. . .] [und gegen die] Studienzeitüberschreitung“66 einzuleiten. Um den Parteitag auch längerfristig auswerten und umsetzen zu können, galt es, die Studenten mit seinen Materialien vertraut zu machen, neue Studienprogramme am Institut für Marxismus-Leninismus zu erarbeiten und die volkswirtschaftliche Ausrichtung stärker zu betonen.67 Im Mai 1967 wurde kritisiert, das FDJ-Jahr an der THK sei unbefriedigend verlaufen. Zwar beschäftigte sich der Verband mit dem Stand der Durchführung, konkrete Schlußfolgerungen aber blieben aus. Auch das Informationssystem über die Tätigkeit der FDJ funktionierte unzureichend, da nur sehr wenige Gruppen Bericht erstatteten.68 Aus diesem Grund verfaßte das Sekretariat der FDJ-Bezirksleitung im August 1967 einen Führungsplan zur Tätigkeit an den Hoch- und Fachschulen im Bezirk Karl-Marx-Stadt für das Studienjahr 1967/ 68, welcher manifestierte, daß das FDJ Kreissekretariat nun vierteljährlich zur politisch-ideologischen Situation der FDJ-GO Stellung nehmen sollte. Die Grundorganisation selbst erhielt den Auftrag, sich ein Programm für die poli64 Vgl. Beschluß des Büros des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend „Ziel und Inhalt der politisch-ideologischen Arbeit der Freien Deutschen Jugend an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen“ vom 3. Mai 1967, in: UAC Akte 231/1 Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, Schriftwechsel mit dem Zentralrat der FDJ, 1966–1969, S. 5. 65 Informationsbericht an die Bezirksleitung der FDJ Karl-Marx-Stadt („Gen. Dieter Junge“) vom 2. Mai 1967, in: UAC Akte 231/9: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, S. 1. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 2-X. 68 Vgl. Die Verwirklichung des Propagandabeschlusses des Sekretariats des Zentralrats vom 5. Mai 1967, in: UAC Akte 231/9: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, S. 4.

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tisch-ideologische Tätigkeit zu erarbeiten.69 Auf dem Fundament des Grundlagenprinzips der Leitungstätigkeit galt es die Aufmerksamkeit des Verbandes schwerpunktmäßig auf das Erzielen von wissenschaftlichen Höchstleistungen, die Verwirklichung der wissenschaftlich-produktiven Tätigkeit, die Kontrolle des studentischen Erziehungsprozesses, das Absenken der frühzeitigen Exmatrikulationen, die Einbeziehung der Studenten in die kulturelle und sportliche Selbstbetätigung und das Vermitteln der Grundsätze des Marxismus-Leninismus zu lenken.70 Am 4. Juli 1968, über ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Reform, tagte das FDJ- Sekretariat der THK. Erneut wurden Aufgaben und Grundlagen der Reform dargestellt, aber auch kritische Stellungnahmen zum bisherigen Verlauf abgegeben: „Einigen Leitungen fällt es schwer, den Inhalt der Hochschulreform zu erkennen und daraus den FDJ-Studenten die richtigen Aufgaben zu übertragen. Damit wird an die vorhandene Aufgeschlossenheit nur ungenügend angeknüpft und sie nur ungenügend in aktives Handeln umsetzt.“71 Vor allem die abwartende Haltung, die Gleichgültigkeit und der Pessimismus wurden beanstandet, bedingt durch die ungenügende politisch-ideologische Auseinandersetzung sowie durch das „oberflächliche Herangehen an die sozialistische Hochschulreform“.72 Das Sekretariat der FDJ mußte erkennen, in den Gruppen sei das Studium des Marxismus-Leninismus gegenüber dem Spezialfach noch immer unterbewertet. Auch die Arbeit der Grundorganisationen geriet erheblich in Kritik, da „auch [sie es] nicht verstanden, das Propagandasystem der FDJ zielstrebig zu führen“.73 Die Umsetzung der Hochschulreform war ein Jahr nach ihrem Beschluß zwar angelaufen, ersichtlich an den veränderten Stundenplänen, aber die Realisierung hatte sich noch nicht eingestellt. Einige kleinere Teilerfolge waren erreicht, jedoch ließ die ideologische Prägung der Studenten noch immer zu wünschen übrig. Daher erhielt die FDJ Kritik, besonders Schuldzuweisungen. Günter Dybowski: „Die Leitung der FDJ-GO der Technischen Hochschule hat es nicht verstanden, sich zu einem festen politischen Führungskollektiv zu entwickeln. Der Prozeß der politisch-ideologischen Erziehung [. . .] wird durch den 1. Sekretär der GO, Genosse Günter Dybowski, nur ungenügend geführt.“74 Um dieses Problem zu lösen, sollte das Sekretariat 69 Vgl. Führungsplan des Sekretariats der FDJ-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt zur Arbeit an den Hoch- und Fachschulen des Bezirkes im Studienjahr 1967/68, in: UAC Akte 231/9: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, S. 10. 70 Ebd., S. 1-X. 71 Sitzung des Sekretariats: 4. Juli 1968, in: UAC Akte 231/10: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt mit der Bezirksleitung der FDJ Karl-Marx-Stadt (1968–69), S. 10. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 12. 74 Ebd., S. 16.

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der SED den Erziehungsprozeß in der Leitung der FDJ-Grundorganisation stärker beeinflussen und durchdringen sowie die Grundfragen der sozialistischen Umgestaltung verstärkt gemeinsam erörtern.75 Am 12./13. April 1969 tagte in Unterwellenborn die Hochschulkonferenz zur Weiterführung der Dritten Hochschulreform. Ihr Anliegen war es, in Auswertung des Beschlusses des Staatsrates der DDR zur „Weiterführung der Hochschulreform und Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975“ die Verantwortung und Aufgaben der FDJ auszuarbeiten, die in den kommenden Jahren von Bedeutung sein sollten.76 Dazu zählte die Zusammenarbeit mit den Praxispartnern, die Vertiefung der Gemeinschaftsbeziehungen zwischen der Arbeiterjugend und Studenten sowie die weitere Verbesserung der Erziehung und die Erhöhung des Niveaus der wissenschaftlichen Forschung.77 Zur Verwirklichung der Reform galt es, Kooperationsmöglichkeiten innerhalb des Verbandes besser zu nutzen.78 Im Ergebnis sollten die Grundorganisationen straffer und effizienter geführt werden. Wohl aus diesem Grund faßte die FDJ-Hochschulleitung den Beschluß, bei der Bezirksleitung am 12. November 1969 die Abberufung des 1. Sekretärs Manfred Klaus, welcher seit Dezember 1968 im Amt war, aufgrund mangelnder Leitungstätigkeit, Vernachlässigung von Schwerpunktaufgaben und übersteigertem Selbstvertrauen zu beantragen,79 denn es war wesentlich einfacher, einen Schuldigen zu nominieren, als die Arbeit der gesamten Jugendorganisation auf den Prüfstand zu stellen. Um den Beschluß des Staatsrates und der FDJ-Hochschulkonferenz von Unterwellenborn gerecht zu werden, erließ das Sekretariat der FDJ-Bezirksleitung am 28. August 1969 die Führungskonzeption für das Studienjahr 1969/70. Die „Erziehung und Ausbildung hochqualifizierter sozialistischer Persönlichkeiten an den Hoch- und Fachschulen“80 sollte durch die besondere Aktivität und Sta75

Vgl. ebd., S. 17-X. Maßnahmeplan des Sekretariats der FDJ-Bezirksleitung in Auswertung der FDJHochschulkonferenz 1969 in Unterwellenborn und zur Verwirklichung des Beschlusses des Sekretariats des Zentralrates vom 8. Mai 1969, in: UAC Akte 231/10: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt mit der Bezirksleitung der FDJ Karl-Marx-Stadt (1968–69), S. 1. 77 Brief des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen an der Rektor der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt vom 27. Mai 1969, in: UAC Akte 202/1000/13 THK (1969–1980) Rektorat. Grundsatzdokumente, Verfügungen, Anordnungen, Weisungen und Mitteilungen des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen, 1968– 1970, S. 1. 78 Akte 231/10 (FN 76), S. 1. 79 Antrag auf Abberufung des 1. Sekretär der FDJ-HSL, in: UAC Akte 231/10: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt mit der Bezirksleitung der FDJ Karl-Marx-Stadt (1968–69), S. 1. 80 Führungskonzeption des Sekretariats der FDJ-Bezirksleitung im Studienjahr 1969/70 zur Verwirklichung des Beschlusses des Staatsrates zur Weiterführung der Hochschulreform vom 3. April 1969 und der FDJ-Hochschulkonferenz von Unterwel76

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bilität der FDJ, die Entwicklung einer sozialistischen Gemeinschaftserziehung und die optimale Vorbereitung auf Studium und Beruf erreicht werden.81 Am 7. Juli 1969 referierte Wolfgang Herger, Sekretär des ZR der FDJ, „zu einigen Problemen der Führungstätigkeit der FDJ bei der weiteren Verwirklichung des Staatsratsbeschlusses über die Dritte Hochschulreform“. Er faßte die bisherige Arbeit der Jugendorganisation zusammen und sparte nicht mit Kritik. Herger resümierte, daß die FDJ nicht gründlich genug mit dem Staatsratsbeschluß vertraut sei und nur ungenügende Kenntnisse darüber existieren. Dies erschwere es, die Reform den Studenten näher zu bringen. Auch viele Leitungen, besonders die FDJ-Sektionsleitungen, hätten noch keinen eindeutigen Standpunkt zur Umsetzung des Beschlusses eingenommen. Diese Positionslosigkeit innerhalb des Jugendverbandes stellte ein gravierendes Problem dar. Wie sollte es den FDJ-Funktionären gelingen, die Studenten zu erziehen, wenn sie selbst über keine eindeutige Einstellung verfügen? Herger fuhr fort, daß bestimmte Maßnahmen der Hochschulreform als Wirkungen der wissenschaftlichtechnischen Revolution verstanden wurden und nicht – wie erwünscht – als „Ergebnisse der Gestaltung des sozialistischen Systems in der DDR und des Klassenkampfes zwischen Imperialismus und Sozialismus“.82 Ferner wurde die ungenügende Teilnahme am FDJ-Studienjahr, die bei lediglich 50 Prozent lag, angesprochen, ebenso die teilweise vernachlässigte propagandistische Tätigkeit. Insgesamt resümierte Wolfgang Herger jedoch: „Mehr und mehr werden die Hochschulreform und überhaupt die Hochschul- und Wissenschaftspolitik der SED zu einem entscheidendem Feld der ideologischen Arbeit in der gesamten FDJ.“83

5. Resümee Die Universitäten und Hochschulen stellten in der DDR einen wichtigen Bestandteil an dem entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus dar.84 lenborn, in: UAC Akte 231/10: Schriftwechsel der Kreisleitung der FDJ der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt mit der Bezirksleitung der FDJ Karl-Marx-Stadt (1968–69), S. 1. 81 Ebd. 82 Referat von Dr. Wolfgang Herger, Sekretär des Zentralrats der FDJ „Zu einigen Problemen der Führungstätigkeit der FDJ bei der weiteren Verwirklichung des Staatsratsbeschlusses über die 3. Hochschulreform“, in: UAC Akte 231/4 Referat von Dr. Wolfgang Herger, Sekretär des Zentralrats der FDJ „Zu einigen Problemen der Führungstätigkeit der FDJ bei der weiteren Verwirklichung des Staatsratsbeschlusses über die 3. Hochschulreform“, S. 2. 83 Ebd., S. 13. 84 Vgl. Entwurf. Verordnung über die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Universitäten, wissenschaftlichen Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen mit Hochschulcharakter der Deutschen Demokratischen Republik, in: UAC Akte 202/ 1000/13. Bd. 1. THK (1969–1980) Rektorat. Grundsatzdokumente, Verfügungen, An-

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Bei der Betrachtung des Reformprozesses zeigt sich, welche Bedeutung die SED der „politischen Eroberung der Universitäten und Hochschulen“85 zuschrieb. Das Motiv dafür war einfach. Sollte sich der Sozialismus in der SBZ/ DDR zügig entwickeln, galt es, die Menschen von seiner Überlegenheit zu überzeugen. Die höheren Klassen an den Schulen und vor allem die Universitäten, Hoch- und Fachschulen schienen der geeignete Rahmen dafür zu sein. Die Dritte Hochschulreform, von den „Prinzipien zur weiteren Vervollkommnung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“, von dem einheitlichen sozialistischen Bildungsgesetz vorbereitet und durch die IV. Hochschulkonferenz und den VII. Parteitag eingeleitet, sollte der letzte Schritt zur Aufhebung der Hochschulautonomie sein und die politisch-ideologische Gestaltung der Lehranstalten vollenden. Im Zuge der Novellierung wurden an der THK grundlegende Veränderungen bei der Hochschulstruktur, dem Studium und der Forschung eingeführt. Die Leitungsstruktur untergliederte sich von diesem Zeitpunkt an in zwei Ebenen. Die erste umfaßte die Leitung der Lehranstalt mit dem Rektor, den verschiedenen Prorektoren und Direktoren, dem Gesellschaftlichen und Wissenschaftlichen Rat sowie der Konferenz der Hochschule. Auf der zweiten Ebene waren die Sektionen mit ihren Direktoren, wissenschaftlichen Sekretären und dem Sektionsrat angesiedelt. Die herkömmlichen Institute und Fakultäten verloren ihre ursprüngliche Form. An ihre Stelle traten die Sektionen. Die Forschung sollte den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechen. Dafür wurde die wissenschaftliche Betätigung stärker als bisher auf die Bedürfnisse der Industrie ausgerichtet. Ihre Ergebnisse mußten unmittelbar in der Praxis anwendbar sein. Das Studium stand unter dem Leitsatz der Einheit von Lehre, Ausbildung, Erziehung, Forschung, Praxis, Aus- und Weiterbildung. Ziel der Novellierung war die Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus und der Eigenverantwortlichkeit der Studenten, die effektivere Verbindung von Lehre und Praxis sowie die Steigerung der Produktivität der Studenten. Im Ergebnis gliederte sich das Studium in Grund-, Fach-, (Spezial-) und Forschungsstudium. Die Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen in Russisch sowie einer weiteren Sprache, die Teilnahme an der Sport- und militärischen (vormilitärischen) Ausbildung, das Studium des Marxismus-Leninismus, die einheitlichen Grundstudienpläne, die Ein-

ordnungen, Weisungen und Mitteilungen an das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, 1968–1970, S. 1. 85 B. Themenfelder, II. Themenfeld: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Drucksache 12/7820, 12. Wahlperiode, Bonn 1994, S. 43–85, hier S. 70.

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richtung der Seminar-FDJ-Gruppe sowie der sozialistische Wettstreit stellten weitere Besonderheiten des Studiums in der DDR dar. Damit war der erste Aufgabenteil der Dritten Hochschulreform an der THK erfüllt. Die Realisierung der zweiten Verpflichtung, die politisch-ideologische Erziehung der Studenten, gestaltete sich wesentlich schwieriger. Schon bald traten die Grenzen der Wirkungsweise hervor. Ansätze für die Umsetzung der Dritten Hochschulreform seitens des Verbandes existierten an der THK, was sich beispielsweise darin zeigt, daß Arbeitsgruppen mit dem Auftrag gebildet worden, Konzeptionen für die Realisierung vorzulegen. Aber es fehlte das erfolgreiche aktive Handeln. Die Auseinandersetzung mit der Reform war ungenügend, die Herangehensweise oberflächlich. Häufig mußte die Feststellung getroffen werden, daß sich bei der politisch-ideologischen Erziehung der gewünschte Erfolg nicht eingestellt hatte. Die Schwierigkeit, mit der die Jugendorganisation Zeit ihres Bestehens zu kämpfen hatte, war das ideologische Desinteresse vieler Jugendlichen. Die weltanschauliche Durchdringung gestaltete sich somit als eine der am schwersten durchsetzbaren Aufgaben. Nicht alle Studenten standen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung skeptisch gegenüber. Die politisch-ideologische Situation war Ende der 1960er/ Anfang der 1970er Jahre eine andere als in den Anfangszeiten der DDR. Die Studenten, die zur Zeit der Dritten Hochschulreform die Universitäten, Hochund Fachschulen der DDR besuchten, waren im sozialistischen Staat geboren und aufgewachsen, konnten somit eine gewisse Identität zum eigenen Staat aufweisen. Auch die politisch-ideologische Durchdringung des alltäglichen Lebens hatten sie bis dahin miterlebt. So ist es nicht verwunderlich, daß viele von ihnen, freilich nicht alle, begonnen hatten, sich mit dem sozialistischen System zu arrangieren und sich in ihm einrichteten. Aber die FDJ hatte es nicht verstanden, durch ihre Bemühungen auch den anderen Teil der Jugendlichen zu mobilisieren. Die Mehrzahl der FDJ-Mitglieder empfand die Arbeits- und Wirkungsweise oftmals als hölzern und autoritär, nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet.

Rückkehr der Vergangenheit Die Debatte um das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg als Beispiel von Geschichtspolitik Von Frank König

1. Einleitung Jede Gesellschaft gründet ihren Wertekanon und ihre Identität maßgeblich auf die gemeinsame Vergangenheit. Der Umgang der Politik mit der Geschichte ist daher von besonderem Interesse. Denn wer die Darstellung und Deutung des Gestern bestimmt, hat Einfluß auf die Gestalt und Bewertung des Heute und kann letztlich auch das Morgen prägen. Der Begriff der Geschichtspolitik, der diese Verflechtung beschreibt, tauchte zwar bereits 1986 zum ersten Mal auf1, kam jedoch erst in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Forschung vermehrt zur Anwendung. Geschichtspolitik als ein Forschungsthema stand Ende der neunziger Jahre erst am Anfang.2 Deshalb werden mit Geschichtspolitik immer noch sehr unterschiedliche und breit gefächerte Assoziationen in Verbindung gebracht. „Mit Geschichtspolitik gemeint ist die von verschiedenen Akteuren getragene und mit unterschiedlichen Interessen befrachtete politische Nutzung von Geschichte in der Öffentlichkeit, um mobilisierende, politisierende oder legitimierende Wirkungen in der politischen Auseinandersetzung zu erzielen,“3 so Edgar Wolfrum. Geschichtspolitik wird betrieben bei Diskussionen über die Vergangenheit und deren Bewertung, an Gedenk- und Feiertagen sowie Ritualisierungen und Inszenierungen, die den Umgang mit der Geschichte zum

1 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2001, S. 446. 2 Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989. Phasen und Kontroversen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 45/1998, S. 3–15, hier S. 4. Inzwischen ist der Begriff fest etabliert und Geschichte und deren Deutung durch die Politik Gegenstand zahlreicher Untersuchungen; vgl. beispielsweise Heinrich August Winkler (Hrsg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004. 3 Edgar Wolfrum, Geschichte als Politikum – Geschichtspolitik. Internationale Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 41 (1996), S. 376–401, hier S. 377.

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Thema haben. Dabei geht es immer um die Prägung von Werten und Einstellungen. Aktiv werden bei der Bestellung dieses „ideologischen Feldes der Identitätsfindung“4 verschiedene konkurrierende Deutungseliten5 wie Politiker, Journalisten6 oder auch Wissenschaftler. Innerhalb der politischen Deutungskultur7 geht es darum, über die Geschichte Vorstellungen zu prägen. Einen großen Raum innerhalb der Geschichtspolitik nimmt die Zeitgeschichte ein. Gerade in Deutschland ist der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit ein sensibles Thema, geht es dabei doch immer auch um die Beschäftigung mit Extremismen und deren Hinterlassenschaften. Prägend für die alte Bundesrepublik war die Herausforderung, sich mit dem Erbe des totalitären Dritten Reichs auseinanderzusetzen. 1990 kam mit dem Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden und der deutschen Einheit eine weitere gewaltige Aufgabe für die Geschichtspolitik hinzu. Die Vergangenheit des NS-Regimes spielt jedoch weiterhin eine herausgehobene Rolle. Das Besondere der Jahre von 1933 bis 1945 ist die Dimension und Wucht der Verbrechen in dieser Zeit. Möglich wurden diese durch den totalitären Charakter des Hitlerstaates: Die Ausschließlichkeit des Herrschaftsanspruchs ging mit der Unbegrenztheit des Herrschaftsbereiches einher.8 Umso wichtiger ist die Frage, wie die Demokratie der Bundesrepublik mit den Relikten umgeht, sich von ihnen abgrenzt, ohne eine Auseinandersetzung damit zu scheuen. Ein bis vor wenigen Jahren stark vernachlässigter Bereich der Geschichtspolitik ist der der historischen Orte, definitorisch unscharf meist unter dem Gedenkstättenbegriff subsumiert.9 „Nirgendwo kristallisiert sich Erinnerung beklemmender und eindrucksvoller als am historischen Ort“10, so Wolfgang Benz. Gerade dort werden geschichtspolitische Ziele verfolgt, Werte und Normen ver4 Ulrich Schneider, Rolle rückwärts – Politik mit der Vergangenheit, in: http:// www.uni-kassel.de/~schneid/geschpol2.html (Stand: 20. August 2001). 5 Siehe zum „Wettbewerb um die Deutungsmacht“ und deren Relevanz für Herrschaft bei Dietmar Schirmer, Mythos – Heilshoffnung – Modernität. Politisch-kulturelle Deutungscodes in der Weimarer Republik, Opladen 1992, S. 53–58. 6 Die Massenmedien üben bei der Darstellung von Geschichten und den Kontroversen über diese eine Selektionsfunktion aus. Diesbezügliche Nachrichten werden ausgewählt nach den Kriterien des Aktualitätsbezugs, der kommunikativen Anschlußfähigkeit und der Moralisierungsfähigkeit. Vgl. Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 11–15. 7 Der Begriff geht zurück auf Karl Rohe, Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer/Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21. 8 Vgl. Hans-Joachim Lieber, Zur Theorie totalitärer Herrschaft, in: Ders. (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2000, S. 881–932, hier S. 884. 9 Siehe zu der Thematik auch Detlef Hoffmann, „Authentische Orte“. Zur Konjunktur eines problematischen Begriffs in der Gedenkstättenarbeit (1), in: Gedenkstättenrundbrief 110, in: http://141.35.114.211:8080/gedenkstaettenforum/gr.htm (Stand: 6. Oktober 2004).

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mittelt, die durch die Prägung von Geschichtsbildern und die Darstellung von Geschichte in die kollektive Identität übergehen sollen. Einer der prägnantesten historischen Orte, die die NS-Vergangenheit in Deutschland repräsentieren, ist das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Wie gingen die Stadt und ihre Bürger mit dieser Hinterlassenschaft um? Welche Argumente und Ziele hatten und haben die verschiedenen Gruppen, die sich mit dem Gelände und dem neuen Dokumentationszentrum auseinandergesetzt haben und dies noch immer tun? Um diese Fragen zu beantworten, erfolgt zuerst eine Darstellung der verdrängten Auseinandersetzung und der gescheiterten Lösungsvorschläge für das Gelände, die bis zu Beginn der neunziger Jahre prägend waren. In einem zweiten Schritt wird die Entstehung des Dokumentationszentrums nachgezeichnet, wobei die inhaltlichen Überlegungen, die vermittelte Pädagogik und die politische Unterstützung besondere Beachtung finden. Nach einem Blick auf die aktuelle Entwicklung in Nürnberg folgt eine zusammenfassende Bewertung, die auch offene Fragen der gesamten Geschichtspolitik an und mit historischen Orten berücksichtigt.

2. Zeit der Verdrängung Die Stadt Nürnberg hat als Erbe des Reichsparteitagsgeländes eine Auseinandersetzung mit diesem lange gescheut, was eine teilweise Umwidmung des Areals oder gar Abtragen von Bauten zur Folge hatte.11 Ein Ende des Beseitigens der Relikte gab erst die Neufassung des bayerischen Denkmalschutzgesetzes im Jahr 1973 vor. Darin ist die Regelung festgeschrieben, daß Bauten geschützt werden sollen, „deren Erhaltung wegen ihrer geschichtlichen, künstlerischen, städtebaulichen, wissenschaftlichen oder volkskundlichen Bedeutung im Interesse der Allgemeinheit“ liegt.12 Seither ist auch der Kolossalstil der NS-Bauten in die Denkmalliste aufgenommen und die Stadt verpflichtet, für deren Erhalt zu sorgen.

10 Wolfgang Benz, Gedenken und authentischer Ort. Überlegungen zur deutschen Erinnerungslandschaft, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Spuren des Nationalsozialismus. Gedenkstättenarbeit in Bayern, München 2000, S. 9–20, hier S. 9. 11 Es handelt sich beim für die Reichsparteitage verplanten Gelände um ca. elf Quadratkilometer. Die Bauten der Kongreßhalle und der Zeppelintribüne sind, etwa neben der „Kraft-durch-Freude“-Anlage auf der Insel Rügen, die größten Relikte des Kolossalstils des Nationalsozialismus. Siehe zu einem ausführlichen und fundierten Überblick über die Entwicklung des Geländes nach 1945: Eckart Dietzfelbinger/Gerhard Liedtke, Nürnberg – Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände. Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004, S. 93–144. 12 Vgl. hierzu wie zum Folgenden: Denkmalschutzgesetz. Gesetz zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler (Denkmalschutzgesetz – DSchG) vom 25. Juni 1973, Art. 1 und Art. 4, in: http://www.archifee.de/denkmalgesetz.html (Stand: 28. Februar 2005).

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Ende der siebziger Jahre wurde die Diskussion über den Umgang mit den Resten des Reichsparteitagsgeländes intensiver in der Öffentlichkeit geführt. Die Gründe hierfür waren – neben den allgemeinen Entwicklungen der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur – die Aktivitäten der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ vor Ort. Der Nürnberger Karl-Heinz Hoffmann hatte 1973 mit dem Aufbau der Gruppe begonnen. Deren Mitglieder traten beispielsweise in SSUniformen auf, führten paramilitärische Übungen durch, sammelten militärisches Gerät und gründeten Ausleger im Bundesgebiet, ehe die Gruppe im Januar 1980 verboten wurde. 1977 meldete sich erstmals eine Initiative für die Schaffung eines Dokumentations- und Informationszentrums am Reichsparteitagsgelände zu Wort, die während der nächsten 20 Jahre dieses Ziel verfolgen sollte.13 Einem 1978 von der Gruppe präsentierten Vorschlag eines „Instituts zur Faschismusforschung“ sind die Leitlinien zu entnehmen, die von einem stark antifaschistischen Impetus geprägt waren.14 Im Jahr zuvor hatte die Stadt erstmals eine Broschüre über das Reichsparteitagsgelände herausgegeben. Mit Blick auf den fünfzigsten Jahrestag der „Machtergreifung“ forcierte der damalige Kulturreferent Hermann Glaser ein Ausstellungsprojekt zum Thema „Nationalsozialismus – Neofaschismus“, doch war dies bis zum 30. Januar 1983 nicht fertiggestellt. Erst im Juli 1985 eröffnete eine Ausstellung mit dem Titel „Faszination und Gewalt“, getragen vom Pädagogischen Institut der Stadt Nürnberg.15 Im März 1987 unterbreiteten drei Geschäftsleute den Vorschlag, die Kongreßhalle für rund 500 Millionen DM zu einem Freizeit-, Shopping- und Erlebniscenter umzubauen Dies war der Auslöser für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Gelände. Mit der Veranstaltung eines Symposiums mit dem Titel „Das Erbe – vom Umgang mit der NS-Architektur“ im Juli 1988 wurde als Reaktion auf diese Pläne auf breiterer wissenschaftlicher Basis über die Zukunft des Reichsparteitagsgeländes gesprochen. Die Stadtratsfraktionen von CSU und SPD votierten in zwei Denkschriften für einen neuen Umgang mit dem Areal und eine generelle Auseinandersetzung mit der Geschichte.16 Damit schienen 13 Die Zusammensetzung der Initiative war dabei im Lauf ihres Bestehens von einer großen Heterogenität geprägt: Politiker aller Parteien, Historiker, Lehrer, Journalisten und interessierte Bürger gehörten der Gruppe an. Vgl. Dietzfelbinger/Liedtke (FN 11), S. 119. 14 Siehe dazu: Helge Cramer u. a.: Projekt eines Instituts zur Faschismusforschung (Vorentwurf), o. O. 1978. Archiv Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg (ADRN). 15 Vom 17. November bis 2. Dezember 1984 hatte bereits die Tonbildschau „Faszination und Gewalt“ als Pilotprojekt in der Zeppelintribüne stattgefunden. Die Veranstaltungen des Pädagogischen Instituts der Stadt Nürnberg wurden von mehreren tausend Menschen besucht, die Vorstellungen waren meist überfüllt. 16 Siehe CSU Presse-Dienst, Mitteilungen aus der Arbeit der Nürnberger Stadtratsfraktion vom 1. Dezember 1988: Gelände am Dutzendteich – Reichsparteitagsgelände, ADRN. SPD Nürnberg, Arbeitsgruppe Reichsparteitagsgelände: Denkschrift über die

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günstige Voraussetzungen für ein offenes und bekennendes Herangehen an die Beschäftigung mit den NS-Relikten und deren museologische Aufbereitung und Präsentation geschaffen. Das Bild täuschte jedoch. Den Worten folgten keine Taten. Die Willensbekundungen und die Diskussionen blieben ohne ein greifbares Ergebnis. Noch Anfang der neunziger Jahre war nach Einschätzung von Eckart Dietzfelbinger und Gerhard Liedtke „ein politischer Wille für eine konkrete Veränderung [. . .] nicht erkennbar“.17 Auch einem erneuten Vorstoß der Gruppe, die bereits Ende der siebziger Jahre für ein „Institut für Faschismusforschung“ plädiert hatte, und inzwischen als Verein „Informationszentrum Reichsparteitagsgelände“ (IRG) formierte, blieb in Nürnberg die maßgebliche politische Unterstützung verwehrt.18 Obwohl die Pläne sogar so weit gediehen waren, daß ein Kostenvoranschlag19 eines Architekten für das Projekt vorlag und nach Verhandlungen mit der Stadt Räumlichkeiten im nördlichen Kopfbau der unvollendeten Kongreßhalle angemietet waren, erfolgte keine Umsetzung.

3. Das Projekt „Dokumentationszentrum/ Reichsparteitagsgelände“ Die Stadt Nürnberg und der von 1987 bis 1996 regierende SPD-Oberbürgermeister Schönlein setzten sich zwar grundsätzlich mit dem Nationalsozialismus auseinander. Den sprichwörtlich großen „Brocken“ ehemaliges Reichsparteitagsgelände packten die Verantwortlichen jedoch eher zögerlich an, wenngleich aufgrund der Erfahrungen mit der Ausstellung in der Zeppelintribüne und den wachsenden Besuchszahlen dort die Notwendigkeit eines Ausbaus bekannt war. Vielmehr sind zu dieser Zeit wichtige, aber eher symbolische Fortschritte der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Nürnberg zu verzeichnen: 1993 erfolgte die Einweihung der „Straße der Menschenrechte“ am Germanischen Nationalmuseum und zwei Jahre später erstmals die Verleihung des „Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises“. Eine Neuordnung der Museumslandschaft führte 1994 zum Übergang der provisorischen Ausstellung in der Zeppelintribüne in den Zuständigkeitsbereich der städtischen Museen. Deren Leiter Franz Sonnenberger setzte es sich zum Ziel, eine ständige Dokumen-

zukünftige Nutzung der Bauten des ehemaligen NSDAP-Reichsparteitagsgeländes, Dezember 1988, ADRN. 17 Dietzfelbinger/Liedtke (FN 11), S. 123. 18 Siehe zu den Vorschlägen: Initiativgruppe Kongreßhalle, ohne Titel, 1. Oktober 1991, ADRN. 19 Initiativgruppe Kongreßhalle, Außen-/Informationsstelle Kongreßhalle im nördlichen Kopfbau. Kostenvoranschlag K. Biller, 8. April 1991, ADRN. Wenig später wurde mit der Summe von 250.000 DM gerechnet.

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tation über die NS-Geschichte in Nürnberg einzurichten.20 „Wo sonst“, so führte Sonnenberger aus, „böte sich eine vergleichbare Möglichkeit, die Schaufassade des ,Dritten Reiches‘ kritisch zu beleuchten und damit alten und neuen Mythen und Legendenbildungen entgegenzutreten“.21 Die 1994 vorgestellte Idee eines Dokumentationszentrums galt allerdings in den „Nürnberger Nachrichten“ damals noch als eine Vision, „die vorerst vollends als Utopie erscheinen muß“.22 Der Stadtrat stimmte dem Ansinnen zwar zu – mit der Bereitstellung von Finanzmitteln war dies jedoch nicht verbunden. Das Graben in den Trümmern der Geschichte war noch immer nicht salonfähig. IRG indes sah sich durch die von Sonnenberger präsentierten Vorschläge mit einer völlig neuen Situation konfrontiert. Einerseits war die Gruppe dem seit Jahren verfolgten Ziel, ein Dokumentationszentrum zu errichten, ein ganzes Stück näher gekommen. Andererseits mußten die Mitglieder abklären, wie mit den Vorschlägen umzugehen sei und welche Möglichkeiten dem Verein eingeräumt werden würden, sich bei der Realisierung einzubringen. IRG begrüßte die Statusveränderung des Reichsparteitagsgeländes, das damit „endlich aus dem Zwielicht des ewigen ,Wir müssen es leider erhalten, obwohl es uns doch gar nicht gehört‘ hineingerückt [wird] in die lichte Dämmerung des ,Wir wollen versuchen, damit umzugehen‘“.23 Der Verein sah sich nicht als konkurrierendes Projekt, sondern als „unabhängiger Anreger“.24 In einem Brief an Sonnenberger machte der Vorsitzende Klaus Schlesinger diese Position deutlich.25 In seinem Antwortschreiben erklärte der Leiter der Museen seine ablehnende Haltung zum Projekt von IRG,26 das der Politik Sonnenbergers diametral entgegenstand. Er bemühte sich um ein Konzept, mit dem bei den Geldgebern bei Land und Bund um Unterstützung geworben werden sollte. Wenn nun aber die Stadt die kleine Lösung gemäß den Vorschlägen des Vereins umsetzte, würde dieses Vorgehen die Schaffung eines Dokumentationszentrums in einem Neubau „geradezu konterkarieren“. Sobald die Stadt Nürnberg nämlich auf eigene Kosten ein Informa20

Vgl. hierzu wie zum Folgenden: Dietzfelbinger/Liedtke (FN 11), S. 123 f. Franz Sonnenberger, Faszination und Gewalt. Leitlinien für die Konzeption der neuen Dauerausstellung des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, in: museen der stadt nürnberg (Hrsg), Die Zukunft der Vergangenheit. Wie soll die Geschichte des Nationalsozialismus in Museen und Gedenkstätten im 21. Jahrhundert vermittelt werden, Nürnberg 2000, S. 87–100, hier S. 88 f. 22 Das Zitat ist entnommen aus: museen der stadt nürnberg, Öffentlichkeitsarbeit. Presseinformation: Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände – eine Chronologie, o. O, o. J. 23 Schreiben des „Infozentrum ehemaliges Reichsparteitagsgelände“ e. V. vom 14. Dezember 1994, ADRN. 24 Ebd. 25 Siehe dazu „Infozentrum ehemaliges Reichsparteitagsgelände“ e. V./Klaus Schlesinger, Brief an Franz Sonnenberger vom 9. Februar 1995, ADRN. 26 Siehe zu dem Brief: Museen der Stadt Nürnberg/Franz Sonnenberger, Antwortschreiben an IRG vom 6. März 1995, ADRN. 21

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tionszentrum einrichtete, würde in München und Bonn keine Bereitschaft mehr bestehen, zusätzliche Projekte zu fördern: „Warum etwas in Nürnberg investieren, wenn sich doch die Nürnberger selbst so tatkräftig dieser Sache annehmen?“27 Sonnenberger bezeichnete das IRG-Projekt als „gut gemeinten Ansatz“, jedoch müsse seiner Auffassung nach die „Zeit der Provisorien und Notlösungen (so verdienstvoll sie sein mochten) allmählich vorbei sein“. Der Verein löste sich zum Jahresende 1996 auf. Wichtig für die Durchsetzung des Sonnenberger-Konzeptes war ein Entschluß des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages vom April 1996. Eine angemessene Form der Darstellung des Geländes und seiner Geschichte zu ermöglichen, wurde als eine nationale Aufgabe eingeschätzt.28 In der entsprechenden Entschließung des Ausschusses hieß es: „Im Gegensatz zu den Stätten, an denen der unzähligen Opfer der NS-Diktatur gedacht wird, steht an diesem Ort die Selbstdarstellung der Täter im Zentrum der Wahrnehmung. Dies prägt seine Einmaligkeit in Deutschland und fordert heute zu nationaler Reaktion heraus. [. . .]. Die Verantwortung dafür kann nicht der Stadt Nürnberg allein überantwortet werden, sondern ist eine Aufgabe in föderativer Tradition.“29 Vom neu gewählten Oberbürgermeister Ludwig Scholz (CSU) unterstützt, präsentierte Sonnenberger die Pläne zur Errichtung eines Dokumentationszentrums in einer Denkschrift 1996 der Öffentlichkeit.30 Das ehemalige Reichsparteitagsgelände sei „der Ort der Täter. Hier feierte sich die Nazi-Bewegung auf beinahe obszöne Weise selbst. Hier präsentierte sie der Welt die Schauseite des Regimes. Und hier wurden die Deutschen auf den Krieg eingestimmt“.31 Die historische Dimension des Ortes erfordere zwingend eine schlüssige Darstellung und Bewertung, und das demokratische Gemeinwesen sei zu einer eindeutigen Stellungnahme aufgerufen. Grundlage der Ausstellungskonzeption „Faszination und Gewalt“ war die Arbeit des Historikers Gregor Schöllgen von der Universität Erlangen-Nürnberg, der von den städtischen Museen beauftragt worden war, ein „Gutachten zur zukünftigen musealen Nutzung des ehemaligen Reichparteitagsgeländes“ auszuarbeiten.32 Den Schwerpunkt der Ausstellung stellen die Reichsparteitage dar, die 27

Ebd. Vgl. Dietzfelbinger/Liedtke (FN 11), S. 124. 29 Zitat nach museen der stadt nürnberg (Hrsg.), Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg. Denkschrift zur Auseinandersetzung mit dem steinernen Erbe der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Nürnberg 1996. 30 Sonnenberger schwebte zu dieser Zeit noch ein Neubau in Gestalt eine Pavillons vor. Architektonisch mit sehr viel Glasflächen geplant, sollte er Transparenz symbolisieren und historisch an einen Leuchtturm erinnern, der 1906 an fast gleicher Stellte errichtet und für die Bauten der Kongreßhalle abgerissen worden war. 31 museen der stadt nürnberg (FN 29) (Hervorhebung im Original). 32 Siehe zu den einzelnen Punkten bei Gregor Schöllgen, Gutachten zur künftigen musealen Nutzung, in: museen der stadt nürnberg (Hrsg.), projekt dokumentationszen28

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immer wieder Ausgangspunkt für thematische Exkurse sind. Die der Dokumentation zugemessene Bedeutung erschließt sich bei einem Blick auf den mit Museumsfachleuten und Wissenschaftlern hochkarätig besetzten Wissenschaftlichen Beirat, der für die Ausstellungskonzeption und -inhalte verantwortlich zeichnete. Ihm gehörten neben Schöllgen beispielsweise Wolfgang Benz, Reinhard Rürup, Horst Möller und Hermann Schäfer an. Ebenso wichtig war die Arbeit und Unterstützung des Kuratoriums, das unter Vorsitz des früheren Bundesbauministers Oskar Schneider zum einen prominente Personen aus Gesellschaft und Politik in das Projekt einbezog – darunter etwa Günther Beckstein, Julian Nida-Rümelin, Ignaz Bubis – und zum anderen für eine entsprechende Außenwirkung und nicht zuletzt finanzielle Unterstützung Sorge trug. Die SPD-Fraktion des Nürnberger Stadtrats übte nach der Vorstellung der Konzeption jedoch Kritik.33 Demzufolge seien „problematische Bewertungen“ Nürnbergs enthalten, bei der Darstellung des Widerstands im Dritten Reich fehlten der Aspekt der politischen Opposition sowie Beispiele von Widerständlern aus Nürnberg. Insgesamt sei der Bezug zur Stadt zu gering oder fehle ganz. Die Darstellung Nürnbergs auch als „braune Stadt“, die bereits in den Zeiten vor der Diktatur Hitlers aus verschiedenen Gründen als Ort der NSDAP-Parteitage genutzt wurde, entsprach aus Sicht der SPD-Abgeordneten nicht dem weithin verbreiteten Bild Nürnbergs als Arbeiterfestung. Beim Themenbereich „Widerstand“ ging das Ansinnen, diesen in seiner politischen Dimension zu zeigen, in einen grundsätzlichen geschichtspolitischen Deutungskampf über: Welcher Widerstand ist der „richtigere“ oder besser „wichtigere“. Weshalb soll gerade dieser gezeigt werden? Und vor allem: Wie kann und soll die gegenwärtige und zukünftige Einschätzung etwa auch der politischen Nachfolger der Widerständler durch die historische Präsentation gelenkt werden? Aus Sicht der Sozialdemokraten bedeutete dies, den linken, den sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand besonders zu berücksichtigen. Der Hinweis auf die Notwendigkeit, hiesige Vertreter aufzuzeigen, mag zum einen dem Wunsch entsprungen sein, die Ausstellungsinhalte durch Beispiele aus Nürnberg Besuchern der Region näher zu bringen. Zum anderen gehe das Verständnis der Kulturpolitik von Oberbürgermeister Maly (SPD) – so die Einschätzung von Eckart Dietzfelbinger – entlang der Konfliktlinien „Arbeiterstadt“ und „Widerstand“, wobei Nürnbergs Vergangenheit als „Nazi-Hochburg“34 verdrängt werde; solch trum reichsparteitagsgelände, Nürnberg 1999. (= Auszugsweiser Abdruck des vom Wissenschaftlichen Beirates am 29. Juli 1997 verabschiedeten Gutachtens). 33 Vgl. dazu: Diskussion auf breiter Ebene, in: Nürnberger Zeitung vom 13. November 1999. 34 Auf diese Bedeutung der Stadt Nürnberg für die Auswahl zur „Stadt der Reichsparteitage“ wird hingewiesen von Hans-Ulrich Thamer, Zwischen Demokratie und Diktatur. Politik und Kultur in Nürnberg zwischen regionaler Identität und europäischem Kontext 1918–1989, in: Neuhaus, Nürnberg, eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, Nürnberg 2000, S. 105–119, hier S. 113.

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ein Tabu im lokalen Rahmen zu brechen, sei auch Zweck der Dokumentation.35 Der Mythos vom gänzlich „roten Nürnberg“ wird somit durch die Ausstellung zumindest in Frage gestellt. Der zweite Kritikpunkt, der des fehlenden Nürnberg-Bezugs, läßt sich nicht erhärten. Die Selbstdarstellung des Dokumentationszentrums weist darauf hin, daß die Ausstellung „einerseits einen ,mikroskopischen‘ Blick auf die Geschichte Nürnbergs“ wirft, um die lokalen Bedingungen für die Entwicklung zur „Stadt der Reichsparteitage“ herauszuarbeiten.36 „Andererseits weitet sich der Blick aber immer wieder, damit sich in den wesentlichen Zügen ein Panorama deutscher und europäischer Geschichte zwischen 1933 und 1945 entfalten kann“.37 Ein Gang durch das Dokumentationszentrum bestätigt diese Ausführungen. Von den Auseinandersetzungen, die allerdings auf den lokalen Rahmen beschränkt blieben und zu keinen größeren Differenzen führten, war in offiziellen Verlautbarungen keine Rede. Aus Sicht von Oscar Schneider, Kuratoriumssprecher des Dokumentationszentrums, begründen „Wissenschaftlichkeit, strenge Objektivität, überparteiliches Zusammenwirken, frei von jeder ideologischen Vorgabe“, den Erfolg des Projekts.38 Die vermittelte Einhelligkeit liegt zum einen an der geringen Dimension der Konflikte um das Dokumentationszentrum. Zum anderen ist sie der Tatsache geschuldet, daß historische Orte zur NS-Vergangenheit inzwischen einem weitgehenden generellen Konsens in der Bewertung und Wertschätzung innerhalb der relevanten Deutungseliten liegen und dieses Bild auch aufrechterhalten werden soll. Sie sind zu Orten der Repräsentation geworden, über die keine geschichtspolitisch-ideologischen Grundsatzdebatten mehr geführt werden. Die pädagogische Arbeit hatte in dem Vorhaben von Beginn an eine „außerordentliche Bedeutung“39, sie ist eine „Kernaufgabe“.40 Sonnenberger nannte in diesem Zusammenhang Themen wie die „Manipulierbarkeit des einzelnen durch eine überlegene Macht“, das Verhältnis von Individuum und Kollektiv oder die Menschen- und Minderheitenrechte auf der ganzen Welt.41 Innerhalb des städtischen „Projektbüro Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ 35

Interview des Autors mit Eckart Dietzfelbingers am 31. Januar 2005 in Nürn-

berg. 36 museen der stadt nürnberg, Öffentlichkeitsarbeit: Dokumentationszentrum Reichparteitagsgelände. Dauerausstellung „Faszination und Gewalt“ – Inhalt und museale Vermittlung, in: http://museen.nuernberg.de/reichsparteitag/pages/pressemitteilungen/ ausstellung.rtf (Stand: 1. Januar 2004). 37 Ebd. 38 Vgl. Kultstätte einer politischen Religion, in: RegioPress. Nummer 072, November 2002, S. 1 f. 39 Gesprächsprotokoll der Kuratoriumssitzung für ein „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ am 2. Juli 1998, ADRN. 40 Sonnenberger (FN 21), S. 99. 41 Ebd.

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nahm die Entwicklung des pädagogischen Programms eine wichtige Rolle ein. Im Rahmen von Fachtagungen und einem Runden Tisch wurden die Voraussetzungen, Inhalte und Ziele eines entsprechenden Konzeptes von den im Studienforum beteiligten Gruppen sowie mit der Gedenkstättenpädagogik vertrauten Experten diskutiert. Christoph Kreutzmüller von der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ machte zwei große Anforderungen der pädagogischen Arbeit in Nürnberg aus: zum einen eine eher kognitive Auseinandersetzung mit dem Thema, das die (Zwangs-)Integration auf der einen Seite und die Ausgrenzung und Ermordung auf der anderen Seite beinhaltet, zum anderen die Entwicklung von Empathie.42 Alexander Schmitt von „Geschichte für Alle e. V.“ betonte, daß das Reichsparteitagsgelände keine Gedenkstätte und auch kein Museum sei, was im Positiven mehr Lockerheit und einen offeneren Blick, im Negativen aber Oberflächlichkeit bedeuten könne.43 Das Interesse von Jugendlichen am Thema sei groß, vor allem dann, wenn sie bemerken würden, daß „die Seite der Täter und der ,normalen‘ Mitläufer“ stärker als in einer KZ-Gedenkstätte berücksichtigt werde.44 Auf das Besondere des Reichsparteitagsgeländes ging auch die Politikwissenschaftlerin Sylvia Greiffenhagen ein: Das Nürnberger Projekt schien ihr in vieler Hinsicht geeignet, politisch bildend zu wirken, da das „Thema der ,Täter‘“ einen „neuen Stoff [bietet], der zur erneuten Beschäftigung mit den historischen Themen“ besonders die Schüler einlade, die sich „übersättigt“ fühlten.45 Die geschilderten Überlegungen flossen in die Konzeption „Pädagogik rund um das Dokumentationszentrum“ ein, in der die Inhalte, Ziele und Perspektiven der pädagogischen Arbeit festgeschrieben sind.46 Der Blick auf die Täter ist also das Neue und Besondere in Nürnberg. Diese Herangehensweise stellt zugleich die Herausforderung dar, der sich die Pädagogik stellen muß: Kann durch die (zusätzliche) Beschäftigung mit den Tätern, Anhängern und Mitläufern der Diktatur, wie es am Beispiel der Reichsparteitage aufgezeigt wird, ein besonderer Ertrag und ein neuer Weg gefunden werden, nicht nur historisches Wissen zu vermitteln, sondern auch die Demokratie gegen Extremismen zu imprägnieren?

42 Christoph Kreutzmüller, Prinzipien einer Ausstellungskonzeption: Wie kann sie für junge Menschen benutzbar sein?, in: Kreisjugendring Nürnberg Stadt (Hrsg.): Pädagogik wider das Vergessen. Das alleine reicht nicht!, Nürnberg 1999, S. 10–19, hier S. 11. 43 Alexander Schmitt, Zur pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, in: ebd., S. 30–35, hier S. 30. 44 Ders., Mit Jugendlichen im Jüdischen Museum Franken und auf dem Reichsparteitagsgelände – ein Praxisbericht, in: Kreisjugendring Nürnberg Stadt (Hrsg.): Pädagogik wider das Vergessen – die Ausstellung, Nürnberg 2000, S. 31–35, hier S. 34. 45 Sylvia Greiffenhagen, Pädagogik wider das Vergessen – eine Aufgabe der politischen Bildung, in: ebd., S. 7–13, hier S. 11. 46 Vgl. dazu Anja Prölß-Kammerer, Die Konzeption „Pädagogik rund um das Dokumentationszentrum“, in: ebd., S. 40–50.

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Die verantwortlichen Stellen in Nürnberg, insbesondere die Museen der Stadt in Person von Franz Sonnenberger, trieben die Werbung für das Dokumentationszentrum und eine Ausweitung des Vorhabens nach Bekanntgabe der Pläne auf die Landes- und Bundesebene voran. Ein privater Sponsor sorgte jedoch für die entscheidende Anschubfinanzierung: Der Verleger und Herausgeber der „Nürnberger Nachrichten“, Bruno Schnell, sagte im Juni 1997 250.000 DM für das Dokumentationszentrum zu, womit der erste Schritt in Richtung Durchführung gemacht war. Ebenfalls im Juni 1997 zog der Kulturausschuß des Bezirkstags von Mittelfranken nach und beschloß, das Projekt zu unterstützen. Bis zum Jahr 2001 sollten von dieser Seite 950.000 DM bereitgestellt werden.47 Eine Förderung durch den Bund schätzten die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats lange Zeit als „nicht so günstig“ ein, da dies ein Novum darstelle und das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zuvor „absolut keine Bundesaufgabe“ gewesen sei; ein Scheitern des Projekts galt bei der Gründungssitzung des Gremiums im Juli 1997 noch als mögliche Gefahr.48 Dem Projekt kam die generelle Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit zugute. Deutlich wurde dies etwa 1996 durch die Bestimmung des 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, zum offiziellen Gedenktag. Das Engagement des Bundes für die Umgestaltung der ehemaligen „Mahn- und Gedenkstätten“ im Osten des Landes hatte Auswirkungen auf die gesamte institutionalisierte Erinnerungskultur. Die höchste staatliche Ebene trat nach 1990 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik im Bereich der Gedenkstättenpolitik als Akteur auf. Die Politik konnte damit letztlich die Augen vor den Problemen der bereits bestehenden Einrichtungen im Westen wie der dortigen gesamten Erinnerungslandschaft nicht mehr verschließen. Ein besonderes Argument für die Notwendigkeit einer nationalen Beteiligung am institutionalisierten Erinnern und Gedenken ist der von Jan und Aleida Assmann beschriebenen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis.49 Am sich abzeichnenden Ende der Zeitzeugenschaft mußten und müssen neue Wege des Tradierens der Erinnerung gefunden werden. Diejenigen, die die Jahre des Nationalsozialismus selbst erlebt haben, werden immer weniger und in absehbarer Zeit kann niemand mehr darüber berichten. Dann ist die Gesellschaft umso mehr darauf angewiesen, in Gedenkstätten, Dokumentationszentren oder Museen die Erinnerung zu bewahren und die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel deutscher Geschichte fortzuführen.

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Die Zahlen sind entnommen aus: museen der stadt nürnberg (FN 22). Vgl. zu den Aussagen bei Gesprächsprotokoll der Beiratssitzung für ein „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ am 29. Juli 1997, ADRN. 49 Dazu Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. 48

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Im Januar 1998 besuchte die SPD-Arbeitsgruppe der Bundestags-EnqueteKommission zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ das frühere Reichsparteitagsgelände und informierte sich über die Pläne.50 In einer Aussage Markus Meckels, des Sprechers der Arbeitsgruppe, wurde die Problematik der damals geltenden Gedenkstättenförderkonzeption und deren Auswirkung für die zeithistorischen Orte in den alten Bundesländern im allgemeinen sowie für das Vorhaben in Nürnberg im speziellen deutlich: „Wir brauchen ein gesamtdeutsches Gedenkstättenkonzept, auch wenn der Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945 liegt“51. Aufgabe der Enquete-Kommission war es auch, Empfehlungen für eine neue Gedenkstättenförderkonzeption zu erarbeiten. Damals erhielten lediglich Einrichtungen in den neuen Bundesländern und Berlin gemäß den Förderkriterien von 1993 eine Unterstützung durch den Bund. Hierbei standen vor allem der Umbau der ehemaligen Mahnund Gedenkstätten der DDR und der Aufbau neuer Gedenkorte zur SBZ/DDRVergangenheit im Mittelpunkt der Anstrengungen. Die NS-Gedenkstätten in den alten Bundesländern sahen sich dadurch benachteiligt. Erst die Konzeption von 1999 brachte eine Ausweitung der Förderung – wenn auch nur projektbezogen und nicht institutionell. Im Rahmen der damals geltenden Regelungen war eine Unterstützung für das Nürnberger Projekt somit nicht möglich. Die Mitglieder der Enquete-Kommission hatten zudem erst durch die Einladung von Günter Gloser (SPD Nürnberg), Mitglied des Deutschen Bundestages, von dem Projekt erfahren. Der Freistaat Bayern hatte dies in Bonn nicht angemeldet.52 Somit ist Nürnberg als „international der bekannteste Täterort auf deutschem Boden“53 gerade noch rechtzeitig in das Blickfeld der Bundespolitik gerückt und „offenbar erst kurz vor zwölf auf den Zug aufgesprungen“.54 Hans-Jochen Vogel, Mitglied des Kuratoriums des Dokumentationszentrums, bezeichnete im Juli 1998 die Zusammenarbeit im Haushaltsausschuß des Bundestags als einen „außerordentlich seltenen Vorgang“. Damals waren für das Vorhaben 500.000 DM im Bundeshaushalt bereitgestellt worden. „Daß über eine solche Summe in der Bereinigungssitzung noch Verständigung erzielt worden ist. Alle Hochachtung“55, so seine Einschätzung. Die Neuigkeiten aus Bonn bewertete Franz Sonnenberger mit folgenden Worten, die die Bedeutung der Bundesförderung klar machen: „Wir müssen sagen: Tatsächlich. Es hat sich ein Wunder ereignet. Von der ersten Idee bis heute hat sich das Ganze in einer phantastischen Art und 50 Vgl. zum Besuch der Arbeitsgruppe: Eine Gedenkstätte an einem „Ort der Täter“. Bund steht in der Verantwortung, in: Nürnberger Nachrichten vom 20. Januar 1998. 51 Ebd. 52 So die Aussage Vergins in: Ebd. 53 Die Schande offenbaren, in: Die Woche vom 30. Januar 1998. 54 Vgl. dazu FN 50. 55 Vgl. Kuratorium (FN 39). Es ging damals um die Summe von 500.000 DM, die der Bund für das Projekt in Nürnberg bereitstellen wollte.

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Weise entwickelt“.56 Hans-Christian Täubrich, der Leiter des Dokumentationszentrums, sieht die Entstehung als einen „Glücksfall“.57 Der damalige Bundespräsidenten Johannes Rau eröffnete am 4. November 2001 das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände.

4. Das Reichsparteitagsgelände heute Der Erfolg der Einrichtung ist unumstritten.58 Nachdem die Museen der Stadt mit 100.000 Besuchern pro Jahr gerechnet hatten, hat sich die Zahl inzwischen bei rund 150.000 eingependelt, womit die Dokumentation am ehemaligen Reichsparteitagsgelände eine der wichtigsten und meistbesuchten historischen Orte mit NS-Täterbezug in Deutschland ist.59 Mit der Eröffnung des Dokumentationszentrums ist die Beschäftigung mit dem „Ort der Massen“60 und der Frage des Umgangs mit diesem jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Die Ausstellung und das angeschlossene Lern- und Studienforum können nicht losgelöst vom Rest des Geländes betrachtet werden. Beide – das Dokumentationszentrum und das ehemalige Reichsparteitagsgelände – bedürfen stets einer zusammenhängenden Betrachtung. Nach einem ergebnislos gebliebenen Ideenwettbewerb seines Vorgängers Ludwig Scholz (CSU) aus dem Jahr 2001 legte der neue Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) im Februar 2003 einen „Diskussionsbeitrag über den Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg“ vor.61 Die Außenwahrnehmung der Stadt werde „in entscheidendem Maße“ von den Relikten aus der NS-Zeit bestimmt. Die Auseinandersetzung mit diesen stelle inzwischen eine Chance dar, zu zeigen, „daß das Nürnberg von heute mit dem Nürnberg unterm Hakenkreuz nicht das Geringste mehr zu tun“ habe. Für Maly ist die „braune Hinterlassenschaft“ ein Kapital, „dessen Wert heute vielleicht noch gar nicht hoch genug eingeschätzt wird“. Als Ziel nannte er, „für das Gelände und 56 Ergebnisprotokoll der Beiratssitzung für ein „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ am 25. Juni 1998, ADRN. 57 Interview des Autors mit Hans-Christian Täubrich am 27. April 2005 in Nürnberg. 58 Siehe zu einer Ausstellungskritik bei Ulrike Grammbitter, Das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, in: Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte (Hrsg.), Kunstchronik (2002) H. 9/10, S. 473–477. 59 Die Zahlen sind entnommen aus der internen Besucherstatistik des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände. Sie wurden bereitgestellt von Martina Christmeier, Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums. 60 Dietzfelbinger/Liedtke (FN 11). 61 Siehe zu den folgenden Inhalten des Beitrags: Ulrich Maly/Wolfgang Baumann/ Uli Glaser/Siegfried Zelnhefer, Ein Diskussionsbeitrag über den Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, in: http://www.nuernberg.de/verwal tung/reden.rpg.pdf (Stand: 28. August 2005).

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den Umgang mit ihm ein inhaltlich-gedankliches Rahmenkonzept zu finden“, dessen Leitgedanke es sein solle, „dem totalitären System der Bauherren und ihrer Architektur das demokratisch-pluralistische Denken der Gegenwart entgegenzusetzen“. Das Dokumentationszentrum leiste eine herausragende, national und international anerkannte Arbeit, weshalb Maly einen Ausbau der Bildungsstätte befürwortete. Geschichtspolitik ist mithin auch Standortpolitik. Ergebnis eines im Januar 2004 durchgeführten Hearings von Fachleuten und interessierten Bürgern waren Leitlinien, die als Grundlage für eine zu dem Thema angesetzte Stadtratssitzung dienten. Ausgangsposition war eine darin festgeschriebene Verpflichtung der Stadt Nürnberg zur Auseinandersetzung mit dem Gelände, wobei es „nicht um das Ob, sondern um das Wie“ gehen sollte.62 Nürnberg trage zwar die Hauptverantwortung für das „nationale Erbe“, doch stünden Bund und Land weiterhin „in der Pflicht“. Die Bewahrung der baulichen Reste sowie der Ausbau des Dokumentationszentrums, des „Nukleus“ für die Auseinandersetzung mit dem Reichsparteitagsgelände und der NS-Zeit, sind als Ziele formuliert. Mit Blick auf die ökonomischen Aspekte des Areals wurde ein weiterer Flächenverbrauch für kommerzielle Nutzungen „nicht angeraten“. Am 19. Mai 2004 fand schließlich im Nürnberger Stadtrat eine öffentliche Sitzung zum Thema „Nutzung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes“ statt, in der einstimmig die Leitlinien als Grundlage für das weitere Vorgehen im Umgang mit dem Gelände beschlossen wurden.63 Für die konkrete Entwicklung vor Ort bedeutet der Beschluß, daß 25 Informationsinseln entstehen sollen, die das Gelände zu einem „Lernort“ werden lassen.64 Zudem erfolgte die Zustimmung zu einem Ausbau des Dokumentationszentrums. Diese Planungen waren den Realitäten des Geländes angepaßt, zum einen was die Dimensionen angeht, zum anderen was die Kosten betrifft: Die Durchführung mußte und muß auch weiterhin in einem für die Stadt erträglichen finanziellen Rahmen bleiben, denn sie trägt die laufenden Kosten. Im Jahr 2002 gab die Stadt 1,2 Millionen Euro65 62 Vgl. zu den Inhalten der Leitlinien: Anmeldung zur Tagesordnung für die Sitzung des Stadtrates am 19. Mai 2004. Öffentlicher Teil. Leitlinien/Leitgedanken zum künftigen Umgang der Stadt Nürnberg mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. 4. Mai 2004, in: http://www.kubiss.de/ehemaliges-reichsparteitagsgelaende/down lloads/Stadtratsvorlage_gesamt.pdf (Stand: 27. August 2005) (Hervorhebung im Original). 63 Beschluß des Stadtrats vom 19.05.2004, in: http://online-service.nuernberg.de/ eris/downloadPDF.do; jsessionid=aHhH2qNsO438?id=61944 (Stand: 1. April 2005). 64 Siehe dazu Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2005. Die einzelnen Stationen der Geländeinformation finden sich in den Leitlinien der Stadt Nürnberg: Nutzung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes, in: http://online-service.nuernberg.de/eris/down loadPDF.do;jsessionid=aHhH2qNsO438?id=56790, S. 7–9 (Stand: 31. März 2005). 65 Die Zahl ist entnommen aus der internen Verwaltung des „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ unter dem Titel „Kosten und Finanzierungsplan für das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“, Sachstand 4. Dezember 2003. Mit freundlicher Unterstützung von Jürgen de Hasque.

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für die Institution aus; sie hat Gelder etwa für Sonderausstellungen im Dokumentationszentrum auf 10.000 Euro pro Jahr begrenzt. Neben kritischen Bürgern begleitete u. a. der Verein „BauLust“, der sich Fragen der Architektur und Stadtplanung verschrieben hat, diese Überlegungen.66 Nach einem Werkstattgespräch (November 2002) mit Architekten, Landschaftsplanern und Historikern fertigte der Verein einen an die Stadt Nürnberg gerichteten Forderungskatalog für den Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände an.67 Darin legten die Verfasser unter anderem darauf Wert, das „ungehemmte Ausbreiten“ einer kommerziellen Nutzung durch die Messe oder Massensportveranstaltungen zu stoppen und einer Parkanlage Vorrang einzuräumen. In einem ergänzenden Papier konkretisierte die Arbeitsgruppe ihre Pläne und schlug vor, bei der Stadt Nürnberg eine Koordinierungsstelle einzurichten, in deren Beirat neben städtischen Vertretern „Abgeordnete der an der laufenden öffentlichen Diskussion beteiligten Vereine und Institutionen sowie externe Fachleute“ mitwirken sollten.68 Der Verein „Geschichte für Alle e. V.“ verfolgt das Projekt „Hermann-LuppePark“, das die Sicherung und den Ausbau des „grünen Teils“ des Geländes mit Bezugnahme auf die kommunalpolitischen Erfolge der zwanziger Jahre zum Ziel hat.69 Namensgeber war der letzte vor 1933 demokratisch gewählte Oberbürgermeister Nürnbergs. In dessen Amtszeit war im Südosten der Stadt das Areal entstanden, „das sozialpolitische Gedanken, Ideale der Landschaftspflege und beispielhafte moderne Architektur miteinander verband“.70 Diese Tradition wiederzubeleben, ist das Anliegen des Vereins, der sich gegen eine Kommerzialisierung und „billige Vermarktungsstrategien“, eine „Vernutzung“ durch zu zahlreiche Großveranstaltungen und einen weiteren Flächenverbrauch der Nürnberg-Messe aussprach. 66 Siehe dazu http://online-service.nuernberg.de/eris/downloadPDF.do (Stand: 31. Januar 2005). 67 Arbeitsgruppe ehemaliges Reichsparteitagsgelände, Werner Geim u. a., BauLust Thesenpapier zum Reichsparteitagsgelände vom 19. Dezember 2002, in: http://bau lust-nuernberg.de/projekte/2003/RPG/RPG-thesen_2002-12.html (Stand: 27. August 2005). 68 Ebd. 69 Alexander Schmitt/Katrin Bielefeldt/Martina Frohmader und der Arbeitskreis Hermann-Luppe-Park für das Team von Geschichte Für Alle e. V., Projekt „HermannLuppe-Park“ – ein Vorschlag zu einem Teil des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes. 2. Version September 2003, in: www.geschichte-fuer-alle.de/intern/download/gfa_ luppe_2003_09_26.pdf (Stand: 5. Mai 2005). 70 Unter Leitung von Stadtgartendirektor Alfred Hensel und dem Baurat Otto Ernst Schweizer entstand in den der Zeit der Weimar Republik auf dem Gelände ein Naherholungsgebiet, das auch das Städtische Stadion umfaßte, in dem während der Reichsparteitage die Hitlerjugend ihre Veranstaltungen abhielt. Hermann Luppe (1874–1945) war Abgeordneter der DDP und von 1920–1933 Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg.

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Roland Fleck (CSU), der Wirtschaftsreferent der Stadt Nürnberg, äußerte sich kritisch zu den entwickelten Leitlinien. Grundsätzlich begrüßte er das Konzept, doch merkte er an, daß es sich nicht um ein „fachlich interdisziplinär angelegtes“ Entwicklungskonzept handele, sondern auf die Kulturpolitik ausgerichtet sei.71 Die Nürnberg Messe sowie die Sport- und Eventinfrastruktur des Areals seien „leider deutlich weniger tiefergehend“ in die Überlegungen einbezogen worden und deren Belange nur angedeutet. Ein permanenter Diskussionspunkt ist in Nürnberg die Frage der Ausweitung des Messekomplexes, der direkt an die heutigen Überreste des Reichsparteitagsgeländes grenzt bzw. auf dem historischen Gebiet steht. Die Messegesellschaft meldet einen stetigen Bedarf an Möglichkeiten zur Ausweitung an.72 Die Gebäude reichen inzwischen an die „Große Straße“ heran, die überwiegend als Parkplatz für Messebesucher genutzt wird. Bereits 2003 sprach sich Fleck dafür aus, wenn nötig weitere Messegebäude zu errichten. Für ihn bedeutete die Forderung nach einer Begrenzung, wie es GFA und Maly propagieren, „eine künstliche Wachstumsgrenze aus rückwärtsgewandten Motiven“.73 Auch SPD und Grüne setzten sich für eine Begrenzung der Flächenüberbauung ein. Im Grunde ging es in diesem Disput um die Frage nach Prioritäten, nämlich denen von ökonomischen Interessen auf der einen Seite und dem Wert historischen Erinnerns und Gedenkens auf der anderen. Soll der Umgang mit der Geschichte wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden oder vice versa? Erst das Eingreifen Oscar Schneiders (CSU) bereitete dem Streit ein Ende: Er setzte sich klar für die „Grenze“ der „Großen Straße“ ein, die erhalten bleiben müsse.74 Der Verlauf dieser Auseinandersetzung spricht für die These von Eckart Dietzfelbinger, daß die Erinnerungsarbeit im Allgemeinen, wie die Unterstützung von Institutionen an historischen Orten im Speziellen, stark vom Engagement der von ihm so bezeichneten „elder statesmen“ und einzelnen engagierten und interessierten Politikern abhängig ist.75 Diese, wie etwa Hans-Jochen Vogel im Verein „Gegen Vergessen – für Demokratie“ oder Kurt Beck für die Organisation der Sinti und Roma, bildeten eine Lobby, die für die Arbeit der Stätten wichtig sei. Eine andere Unterstützergruppe mit ähnlichem Einfluß sieht Dietzfelbinger nicht, mit dem Abtreten dieser Politikergeneration ginge ein Verlust an Erinnerungskultur einher. 71 Siehe zur Haltung Flecks: Anmeldung zur Tagesordnung für die Sitzung des Stadtrates am 19. Mai 2004. Öffentlicher Teil. Stellungnahme Ref. VII vom 26. April 2004, 4. Mai 2004, in: http://www.kubiss.de/ ehemaliges-reichsparteitagsgelaende/ downloads/Stadtratsvorlage_gesamt.pdf (Stand: 27. August 2005). 72 Der Grundstein für das „Deutsche Stadion“, eine Sportstätte, die für über 400.000 Zuschauer geplant war und die die Gigantomanie und Selbstdarstellungssucht des „Dritten Reichs“ repräsentiert hätte, mußte der Messe weichen. 73 Siehe zum Konflikt Peter Schmitt: Messe auf belastetem Terrain, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2005. 74 Ebd. 75 Interview mit Eckard Dietzfelbinger (FN 35).

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5. Schlußbetrachtung Die Geschichts- beziehungsweise Gedenkstättenpolitik in Nürnberg ist gleichermaßen typisch wie besonders. Nach Jahrzehnten des Verdrängens und Verschweigens gingen auch hier erste Anläufe von Akteuren aus, deren Herkunft und Interessen in der Bewegung der Geschichtswerkstätten der siebziger und achtziger Jahre zu sehen sind und dem Motto „Grabe wo du stehst“76 verpflichtet sind. Eine Beschäftigung mit den Tätern stand damals nicht auf der geschichtspolitischen Agenda der Deutungseliten. Wenn überhaupt eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stattfand, dann ging es um die Opferproblematik. In den neunziger Jahren änderten sich die Prämissen der Erinnerungskultur. Mit der deutschen Einheit waren der geschichtspolitische Gegner DDR und dessen Staatsantifaschismus verschwunden; durch den Aufund Umbau der Gedenkstättenlandschaft in den neuen Bundesländern wurde ebenso die Situation der westdeutschen Einrichtungen deutlich. Zudem war ein Handlungsbedarf durch das sich abzeichnende Ende der Zeitzeugenschaft entstanden. Konnten die aus bürgerschaftlichem Engagement entstandenen Initiativen davon nicht profitieren, so ist in Nürnberg ab Mitte der neunziger Jahre eine beschleunigte und nachholende Beschäftigung mit dem ehemaligen Areal der NSDAP-Feierlichkeiten zu beobachten. In der Stadt wirkte die Umstrukturierung der Museumslandschaft als Katalysator. Der neue Direktor Sonnenberger vermochte es, sein Projekt mit Unterstützung des Oberbürgermeisters Scholz als etwas Neues und Innovatives zu präsentieren und durch geschickte Verhandlungen sowie ein gutes Gespür für das Machbare die richtigen Befürworter für das Vorhaben zu gewinnen. Dadurch, daß das Projekt zum Interesse der Deutungseliten geworden war und innerhalb der Deutungskultur als wichtig und vorrangig eingeschätzt wurde, konnte in relativ kurzer Zeit die Realisierung gesichert werden. Die Gründe für diesen Wandel liegen einerseits in den geschilderten strukturellen Veränderungen der Erinnerungskultur, andererseits spielt die zunehmende Historisierung der NS-Zeit ein Rolle. Durch den Tod der Zeitzeugen beginnt eine neue Phase der Beschäftigung mit der Geschichte, die durch weniger emotionale und mehr rational-kognitive Zugänge zum Thema gekennzeichnet ist. Die Diskussion geht nicht mehr generell um das „Ob“, sondern das „Wie“, was weniger konfliktbeladen ist. Zudem herrscht inzwischen ein allgemeiner Konsens über den Stellenwert der Erinnerung, dessen positive Effekte auch für die Deutungseliten interessant geworden sind. Daß das Projekt trotz einer enormen Kostensteigerung Erfolg hatte, zeugt in den Augen von Peter März (Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit) von einem

76 Sven Lindqvist, Grabe wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989. Das Buch ist bereits 1978 in Schweden unter dem Originaltitel „Gräv där du star“ erschienen.

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„klugen Akteursvorgehen“ Sonnenbergers.77 Befürworter wie Oskar Schneider, Günther Beckstein oder Ignatz Bubis trugen zum Erfolg des Vorhabens bei. Die Unterstützung und Bedeutung des Kuratoriums ist dabei als hoch einzuschätzen. März erachtet es auch als sehr wichtig, daß eine „Willenseinheit“ im Nürnberger Stadtrat die Verhandlungen erleichtert habe. Zudem waren eindeutige Vorgaben auszumachen: das Areal, die Gebäude sowie die Thematik seien klar gewesen, was er als Vorteil etwa gegenüber der Situation in der Landeshauptstadt München und der dortigen Diskussion über ein NS-Dokumentationszentrum sieht.78 In Nürnberg wurde vergleichsweise schnell und erfolgreich der Plan zu einem Dokumentationszentrum zur NS-Geschichte verwirklicht. Die Finanzierung der laufenden Kosten ist jedoch weiterhin ein Problem. Für einen Ausbau, wie er etwa für Wechselausstellungen gewünscht wird, hat die Stadt alleine aufzukommen, da weder Bund noch Land bereit sind, sich weiter zu engagieren. Darüber hinaus muß das Dokumentationszentrum aufgrund der sich verschlechternden finanziellen Lage der Stadt Nürnberg Etatkürzungen hinnehmen.79 Das Land Bayern beteiligt sich zwar über die Landeszentrale für politische Bildung an den Kosten für das Studienforum, doch war es politisch nicht darstellbar, Nürnberg weiter auszubauen, solange in München beim Dokumentationszentrum zur NS-Geschichte keine Fortschritte erzielt wurden.80 Ob sich an dieser Situation nach dem Beschluß zum Bau eines NS-Dokumentationszentrums in der bayerischen Landeshauptstadt etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Die Unterstützung für den Bau des Dokumentationszentrums war zwar beachtlich, aber deren Art und Intensität muß auch kritisch gesehen werden. Die Einrichtung in Nürnberg profitiert nicht von der Bundesgedenkstättenkonzeption des Jahres 1999. Diese ist bezüglich der institutionellen Förderung auf die neuen Bundesländer beschränkt und für Einrichtungen im Westen lediglich bei Projektbeteiligungen relevant. Christina Weiss, damalige Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, hat in ihren Vorschlägen zu einer Neukonzeption des Gedenkstättenkonzeptes vom Februar 2005 lediglich vier KZ-Gedenkstätten in den alten Bundesländern eine institutionelle Förderung in Aussicht gestellt.81 Dieses 77

Interview des Autors mit Peter März am 6. Juni 2005 in München. Ebd. Siehe zur Diskussion in München: Kulturreferat der Landeshauptstadt München/Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Ein NS-Dokumentationszentrum für München. Ein Symposium in zwei Teilen. 5. bis 7. Dezember 2002, 16. bis 17. Januar 2003. Tagungsband, München 2003. 79 Interview mit Hans-Christian Täubrich (FN 57). 80 Interview mit Peter März (FN 77). 81 Vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Geschichte und Gedenken in Deutschland: Dokumentation der NS-Verbrechen, in: http://www. bundesregierung.de/Anlage789131/Entwurf+zur+Weiterentwicklung+des+Gedenkst%E 4ttenkonzepts.pdf (Stand: 7. Februar 2005). Die vier KZ-Gedenkstätten sind BergenBelsen, Dachau, Flossenbürg und Neuengamme. 78

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Dilemma schreibt Hans-Christian Täubrich dem Schwerpunkt der Förderung der Opferorte zu.82 Täterorte blieben „außen vor“, so führt er aus, was er nicht als Neid verstanden wissen will. Er betrachtet es jedoch als „inkonsequent, wenn man vor Erreichen einer bestimmten inhaltlichen Grenze halt macht“. Die Wurzeln für die Gewalt und die Verbrechen des Dritten Reichs lägen tiefer, in der Propaganda und der mentalen Vorbereitung, wie sie in Nürnberg exemplarisch stattgefunden haben. Der sehr genaue Blick auf die Täter, der keine Kollektivschuld implizieren soll, sich aber mit der Frage des „Wie war das möglich?“ beschäftigt, der Frage, wie eine Demokratie zu einem verbrecherischen Regime werden konnte, sieht auch Thomas Lutz vom Gedenkstättenreferat in Berlin als sehr wichtig an.83 Diese bleibe ausgeschlossen, wenn die Auseinandersetzung mit den Verbrechen auf die Opferperspektive beschränkt sei. Symptomatisch für die Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland war in Nürnberg die späte und zögerliche Auseinandersetzung mit dem Reichsparteitagsgelände. Die Beschäftigung mit den Tätern und den Orten ihrer Selbstdarstellung oder Machtdemonstration – wie in Nürnberg oder am Obersalzberg – hinkt(e) im Vergleich zur Beschäftigung mit den Opferorten hinterher. Bemerkenswert war in Nürnberg jedoch die Dynamik und Schnelligkeit, mit der die Stadt das Anliegen vorantrieb. Dies macht das Besondere des Dokumentationszentrums aus.

82 83

Interview mit Hans-Christian Täubrich (FN 57). Interview des Autors mit Thomas Lutz am 9. Mai 2005 in Berlin.

Linker Terror und rechte Gesinnung im Diskurs der Mitte Wahrnehmung linker und rechter Extremismen im parlamentarischen Diskurs des Deutschen Bundestages Von Verena Küstner

1. Fragestellung Verfassungsrechtlich betrachtet meint „politischer Extremismus“ Richtungen, die zentrale Elemente des demokratischen Verfassungsstaates (Menschenrechte, Mehrparteien-Prinzip, Volkssouveränität, Gewaltenteilung etc.) ablehnen oder sogar aktiv bekämpfen. „Politischer Extremismus ist demnach der von links wie auch von rechts kommende verfassungsfeindliche Verstoß einer Organisation gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“1 Eine strikte definitorische Trennung zwischen „der“ Demokratie und „dem“ Extremismus muß in der politischen Realität allerdings artifiziell bleiben. Es existieren zahlreiche ideologische, personelle und politische Schnittmengen und Grauzonen zwischen „noch“ demokratisch und „schon“ extremistisch. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat – nach wie vor – mit der schieren begrifflichen Erfassung von Extremismen zu kämpfen.2 Gestaltet sich die Einschätzung der Materie schon auf wissenschaftlicher Ebene als begrifflicher Kampf gegen die Hydra der vielköpfigen Extremismusformen, wie steht es dann um die Extremismuswahrnehmung etablierter demokratischer Parteien, die als Multiplikatoren gesellschaftlicher Wirklichkeit über eine große kommunikative Deutungsmacht verfügen? Im folgenden soll der Extremismusdiskurs von CDU/CSU und SPD, sowie ergänzend auch der FDP,3

1 Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder, Opladen 1994, S. 26. 2 Siehe Uwe Backes/Eckhard Jesse, Extremismusforschung – ein Stiefkind der Politikwissenschaft, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Extremismus und streitbare Demokratie, Stuttgart 1987, S. 9–28, hier S. 19. 3 Diese Parteien wurden zum einen unter quantitativen Gesichtspunkten ausgewählt, zum anderen, weil sie die Politik in der Bundesrepublik Deutschland seit der Nach-

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betrachtet werden. Hierzu wurden parlamentarische Plenumdebatten des Deutschen Bundestages diskursanalytisch4 in diachroner Perspektive untersucht: der Terrorismusdiskurs der siebziger Jahre und der Fremdenfeindlichkeitsdiskurs in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Im Zusammenhang dieses Beitrags wird „Extremismus“ als Interaktionsprodukt mit dem öffentlichen Diskurs verstanden. Isabelle Canu bemerkt zur Kontextabhängigkeit des Extremismusbegriffes: „Das Verständnis des Begriffes in den jeweiligen Staaten beeinflußt die Haltung von Politikern und Politikwissenschaftlern zum Thema ebenso wie ihre Perzeption des Gefahrenpotentials und die Wahl der Instrumente, die zur ,Therapie‘ des Phänomens vorhanden sind und eingesetzt werden.“5 Extremismen und demokratische Mehrheitskultur werden hier weniger als Antipoden gesehen, sondern als interdependente, normativ aufgeladene Begrifflichkeiten, die einer politischen Realität entspringen. Max Kaase bemerkte bereits in den achtziger Jahren: „Bei aktualisiertem politischem Extremismus handelt es sich um ein typisches Mehrebenenproblem, d.h. ein Problem, in dem erst die Interaktion von Individuen, Aktionseliten und den Maßnahmen des Staates gemeinsam das Endprodukt, eben politischen Extremismus, zur Folge haben.“6 Wie nehmen nun die etablierten politischen Parteien Extremismen wahr? Wie verbalisieren sie dieses Problem in ihrer Rolle als Multiplikatoren demokratischer Werthaltungen? Welchen Einfluß haben parlamentarische Funktionszwänge und parteipolitische Interessen? Verändert sich kriegszeit entscheidend gestaltet und geprägt haben. Die FDP wurde in die Betrachtungen mit einbezogen, da sie als Koalitionspartner der beiden Volksparteien ebenfalls maßgeblich an der Politikgestaltung beteiligt war. 4 Zur Frage der Perzeption des politischen Extremismus durch demokratische Parteien finden sich gegenwärtig nur wenige Abhandlungen, so daß sich hier eine Forschungslücke auftut. Wichtige Anregungen lieferte für diesen Beitrag die Studie von Christine Morgenstern, die mit dem Diskursbegriff Michel Foucaults Ideologieelemente des Rassismus im parlamentarischen Einwanderungsdiskurs der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Dies., Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 2002. Eine äußerst aufschlußreiche Analyse des parlamentarischen Diskurses zum extremistischen Themenfeld nimmt Heinz Lynen von Berg vor, der Plenumdebatten zur fremdenfeindlichen Gewalt im zwölften Deutschen Bundestag qualitativ wie quantitativ – methodologisch ausgewogen – untersucht. Ders., Politische Mitte und Rechtsextremismus. Diskurse zu fremdenfeindlicher Gewalt im 12. Deutschen Bundestag 1990–1994, Opladen 2000. Die Autorin möchte mit ihrer Dissertation einen weiteren explorativen Vorstoß in dieses noch weitgehend „unbeackerte“ Forschungsfeld wagen und Lynen von Bergs synchroner Studie eine diachrone – allerdings rein qualitative – Betrachtung zur Seite stellen. 5 Isabelle Canu, Der Streit um den Extremismusbegriff. Die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien, in: Eckhard Jesse/ Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, München 1997, S. 103–125, hier S. 124. 6 Zitiert nach Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991, S. 54 (Hervorhebung im Original).

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die Wahrnehmung politischer Extremismen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland?

2. Theoretische und methodologische Grundlagen Teil der politischen Kultur, die in einer Gesellschaft gepflegt wird, ist der öffentliche Diskurs der politischen Elite, die mitbestimmt, welche Themen diskutiert und wie sie thematisiert werden. Der politische Diskurs spiegelt wider, was in einem Gesellschaftssystem politisch möglich ist, was tabuisiert wird, welche normativen Strukturen gelten und nach welchen Schemata die Realität interpretiert wird. Hier soll geklärt werden, wie politische Eliten das Aktionsund Reaktionsfeld politischer Extremismen abstecken, „beackern“ und damit in seiner gesellschaftlichen Realität – diskursiv – mit konstituieren. Aus der Art der Perzeption leitet sich der Umgang mit der Wirklichkeit ab. Und in der Herangehensweise an das Problemfeld politischer Extremismen drücken sich persönliche wie zeitgeschichtliche Weltbilder, Erfahrungen und ideologische Hintergründe aus, die Hinweise auf das Demokratie- und Gesellschaftsverständnis der politischen Eliten geben. Um die Interdependenz zwischen Macht, der Konstruktion gesellschaftlicher Wissensvorräte und der Versprachlichung von Phänomenen darstellen zu können, wurde ein diskursanalytisch-konstruktivistischer Zugang gewählt. Die Auswertung des Diskursmaterials in Form der stenographischen Parlamentsprotokolle des Deutschen Bundestages folgt dabei dem diskurstheoretischen Verständnis Michel Foucaults7. Der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Foucault interessierte sich für die gesellschaftliche Produktion von Wissen mittels Diskursen. Diskurse sind für ihn als institutionalisierte und geregelte Redeweisen zu verstehen, deren Bedeutung in der Konstitution von Wirklichkeit und des gesellschaftlichen Wissens von der Wirklichkeit durch Sprache liegt. Die Aussagen in einem Diskurs spiegeln die spezifische Wahrnehmung der sozialen Realität einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt wider. Im Diskurs treffen sich Macht und Wissen: „Die gesellschaftliche Wissensordnung wird diskursiv in sozialen Prozessen hergestellt und die so konstituierten Diskurse wirken über ihre Anbindung an Institutionen (wie Sozialisationsinstitutionen, Medien) auf individueller und kollektiver Ebene wahrnehmungs- und hand-

7 Siehe hierzu unter anderem: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974; ders., Der Wille zum Wissen, Bd 1. Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1977; ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 11. Aufl., Frankfurt a. M. 1995; Hannelore Bublitz u. a. (Hrsg.), Das Wuchern der Diskurse: Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M./New York 1999; Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow/Michel Foucault, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987.

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lungsleitend.“8 Diskurse sind Redeweisen, die reale Phänomene und Informationen über die Realität zu gesellschaftlichen Wissensvorräten verdichten. Diskurse schaffen akzeptierte „Wahrheiten“ – die nach dem Foucaultschen Verständnis stets nur relativ sein können, da sie jederzeit diskursiv verhandel- und damit umdeutbar sind. Dabei ermöglicht Macht, respektive Deutungsmacht die Durchsetzung einer Deutungsvariante als gesellschaftlich akzeptiertes „Wissen“. Ein Diskurs erschließt einen Bereich der Wirklichkeit für dessen gesellschaftliche „Bearbeitung“. Um ein zu „ver-“ und zu „behandelndes“ Objekt diskursiv zu konstituieren, werden Charakteristika, die als einem Objektbereich zugehörig verstanden werden, definitorisch zusammengefaßt, so daß quasi ein Idealtypus entsteht. Diskurse ermöglichen damit Kategorisierungen, Klassifizierungen und Normierungen. Sie schaffen ein Wahrnehmungs- und Interpretationsraster, mit dem wir Wissen organisieren können. Gesellschaftliche Diskurse haben damit auch eine Ordnungsfunktion. Nach Foucault wird in diskursiven und nicht-diskursiven (also institutionellen, medialen, etc.) Praktiken ein einheitlicher Gesellschaftskörper konzipiert. Ein elementares Ordnungselement ist dabei die Herstellung „binärer Oppositionen“. Eine gesellschaftliche Einheit, „die sich über Spaltungen des Volks- und Gesellschaftskörpers herstellt [. . .]. Die historische Diskursanalyse zeigt: ,Die Gesellschaft‘ muß permanent gegen die ,gefährlichen Individuen‘ und ,gefährlichen Klassen‘ verteidigt werden, die sie selbst als solche erst produziert; das ist sozusagen der Effekt der von der Gesellschaft konstituierten Wahrheitsdiskurse.“9 Dieser Gedankengang läßt sich auch auf den „Extremismus“ anwenden. Diskurskategorien sind oft Kategorien der dualistischen Fragmentierung, anhand derer Subjekte konstituiert und Gesellschaften integriert werden. Der Diskursgegenstand „Extremismus“ dient demnach als ideeller Gegenspieler der Demokratie, dient zur internen Integration der Gesellschaft und als Gegenpol auf der demokratischen Normierungsskala, auf der alle politischen Strömungen verortet werden. Wer über „das Andere“, „das Fremde“, das „Anormale“ spricht, kann gleichzeitig Aussagen über das „Eigene“, das „Normale“, über die Norm treffen. Dieser Beitrag interessiert sich für die Aussagen über das „Andere“ der demokratischen Wirklichkeit. Er konzentriert sich auf den Extremismusdiskurs politischer Funktionsträger, da der politische Diskurs eine Orientierungsfunktion für die gesellschaftliche und mediale Diskussion hat. Durch die den politischen Eliten zur Verfügung stehenden exekutiven und legislativen Machtressourcen 8 Rainer Diaz-Bone, Probleme und Strategien der Operationalisierung des Diskursmodells im Anschluß an Michel Foucault, in: Bublitz (FN 7), S. 119–135, hier S. 126. 9 Hannelore Bublitz, Diskursanalyse als Gesellschafts-,Theorie‘. ,Diagnostik‘ historischer Praktiken am Beispiel der ,Kulturkrisen‘-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende, in: Bublitz (FN 7), S. 22–46, hier S. 32.

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zeitigt deren Diskurs aber auch reale Auswirkungen in Form erlassener Gesetze, exekutiver Anweisungen, Ressourcenvergabe etc. Für die Analyse wurden Parlamentsdebatten10 gewählt, um einen im historischen Verlauf eingrenzbaren sowie vergleich- und intersubjektiv nachvollziehbaren Diskurskorpus zu untersuchen. Die diachrone Perspektive soll eventuelle Ähnlichkeiten und Parallelen, aber auch mögliche Veränderungen, Entwicklungen und Differenzen in der parlamentarischen „Bearbeitung“ politischer Extremismen aufzeigen. Sie ermöglicht die Feststellung, daß vermeintliche „Wahrheiten“ einer historischen Konjunktur unterliegen.

3. Wahrnehmungsfeld und Täterbild im parlamentarischen Extremismusdiskurs Die begriffliche Uneinheitlichkeit der wissenschaftlichen Extremismusdiskussion findet sich auch im parlamentarischen Diskurs wieder. In beiden Untersuchungszeiträumen operierten die Diskursteilnehmer mit unterschiedlichen Begriffsbelegungen und argumentierten teilweise mit ideologischen Wertungen. In den siebziger Jahren trat erstmals die – nach wie vor – unklar gebrauchte Zweiteilung des „antidemokratischen“ Feldes in „radikale“ und „extremistische“ Umtriebe auf. Zu Beginn der siebziger Jahre wurde „Radikalismus“ noch synonym zum Begriff des „Extremismus“ gebraucht, später zum Teil differenziert verwendet, wobei ersterer als nicht ganz so „extrem“ verstanden wurde wie letzterer: „Das [die Baader-Meinhof-Gruppe] sind Kriminelle. Das sind Radikale. Herr Carstens nennt sie ,Linksradikale‘. Für mich besteht ein großer Unterschied zwischen jemandem, der sich auf dem Boden der Verfassung auch einmal in einer radikalen Formulierung deutlich artikuliert, und Terroristen und Extremisten, die mit Gewalt, Gewaltandrohung und mit innerer Organisationskraft diesen Staat aus den Angeln heben wollen.“11 Terminologische Zuordnungsversuche des Linksterrorismus in den Bereich des „Totalitarismus“, des „Faschismus“ respektive des „Kommunismus“ zeigten ideologisch Flagge. Die Bundesrepublik wurde als bedroht gesehen durch die Umsturzbemühungen „linksradikale[r], kommunistische[r] Gruppen und subversive[r] Kräfte“, die durch den Mißbrauch von Freiheitsrechten für „bürger-

10 Der Diskurskorpus stützt sich auf die amtliche Parlamentsberichterstattung, die vor allem vom Stenographischen Dienst des Bundestages getragen wird und Teil der parlamentarischen Öffentlichkeitsarbeit ist. Die protokollarische Dokumentation des Sitzungsverlaufs und der Verhandlungsatmosphäre ist sehr detailliert und bezieht neben dem Wortlaut der Redebeiträge begleitende Kundgebungen wie Beifall oder Zwischenrufe mit ein. Die Bände der Stenographischen Protokolle werden hauptsächlich an amtliche Stellen, Verbände, andere Organisationen sowie Bibliotheken abgegeben. 11 Karl Liedtke (SPD), Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode (WP), 132. Sitzung, 15. November 1974, 8973 C.

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kriegsähnliche Demonstrationen“ und „Gewaltaktionen von Terroristen“12 verantwortlich seien. In dieser Wahrnehmung vermischte sich offenbar der politisch institutionalisierte Systemkonflikt zwischen Ost und West mit der innergesellschaftlichen Problemlage. Dabei hing nur ein Teil der linken Bewegung explizit kommunistischen Theorien an. Der RAF-Terrorismus beispielsweise artikulierte nie eine konkrete Gesellschaftsvorstellung. Undifferenziert blieb auch die begriffliche Zusammenlegung von „Terrorismus“ und „Anarchismus“. Für den Linksterrorismus wurde damit eine ideologische Teilfacette des linken Theoriespektrums als übergreifende Bezeichnung in Anschlag gebracht. Inhaftierte Terroristen galten als „anarchistische Banditen“13. Es wurde von „anarchistisch operierenden Terroristen“14 gesprochen oder die Bekämpfung „des verbrecherischen Anarchismus“15 gefordert. Nicht nur die Terroristen befleißigten sich damit eines ideologisch aufgeladenen Vokabulars. Gelegentlich kam es auch zu einer Doppelung der Begriffe: So sprach der Abgeordnete Hirsch von „radikale[n] Anarchisten“16, die Union wiederum warnte vor den Gefahren des „radikalen Terrorismus“17. Beides läßt die Frage offen, ob es auch weniger „radikalen“ Anarchismus bzw. Terrorismus gibt, und zeigt die Tendenz des parlamentarischen Diskurses zu undifferenzierten Begrifflichkeiten. Insgesamt zielte bereits die Benennung extremistischer Phänomene im Terrorismusdiskurs der siebziger Jahre an der eigentlichen Erfassung der agierenden Gruppierungen vorbei. Für die Diskussion der Fremdenfeindlichkeit in den neunziger Jahren bietet sich ein ähnliches Bild. Die Gruppierungen, die ihre diffuse Xenophobie mit nationalistischen Symbolen und rechtsideologischen Versatzstücken sowie nationalsozialistischer Politästhetik ausschmückten, waren für die Diskursteilnehmer schwer einzuordnen. Ließ sich in den siebziger Jahren der Täterkern der subversiven und terroristischen Zirkel noch relativ deutlich abgrenzen, hatte in den neunziger Jahren selbst die interdisziplinäre Extremismusforschung Probleme, 12 Carl-Dieter Spranger (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 7. WP, 213. Sitzung, 16. Januar 1976, 14724 A. 13 Helmut Schmidt (Bundeskanzler). Deutscher Bundestag, 7. WP, 168. Sitzung, 25. April 1975, 11783 B. 14 Merk (Staatsminister) (Bayern), Deutscher Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13. März 1975, 10751 B. [Die Vornamen der Redner mußten für die siebziger Jahre im Datenhandbuch des Deutschen Bundestages recherchiert werden, da sie in den Stenographischen Protokollen fehlen; die Vornamen von Bundesratsmitgliedern werden hier leider nicht aufgeführt, weswegen im Zitatnachweis nur der Nachname erfolgt.] 15 Franz Josef Strauß (CDU/CSU), ebd., 10826 C. 16 Burkhard Hirsch (FDP), Deutscher Bundestag, 7. WP, 132. Sitzung, 15. November 1974, 8977 A. 17 Hillermeier (Staatsminister) (Bayern), Deutscher Bundestag, 7. WP, 178. Sitzung, 12. Juni 1975, 12443 C.

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Beweggründe, Weltbild, Gruppenstrukturen und Eskalationsfaktoren des subkulturell geprägten „Jugendproblems“18 auszumachen. Diese Ratlosigkeit spiegelte sich auch in der politischen Diskussion wider. Orteten die einen Diskursteilnehmer das Geschehen rein subkulturell unter dem Stichwort „Skinhead“19, vermuteten andere hinter den Agierenden die politischen Netzwerke „rechtsradikaler“, „rechtsextremer“ bzw. „rechtsextremistischer“ oder sogar „neonazistischer“20 Organisationen und Interessen – in jedem Fall nahm man aber die Jugendlichkeit21 der Täter wahr. Die Begriffskonfusion zwischen den Termini „Radikalismus“ und „Extremismus“22 lebte auch 20 Jahre nach Einführung des Zweitbegriffes „Extremismus“ fort. Ein Regierungsmitglied stellte fest, daß „extremistisch radikale und antidemokratische Gruppen an den Grundwerten der Demokratie“23 rüttelten, und sich selbst die Frage, was die Politik „gegen extremistische, gewaltorientierte Radikale“24 tun könne. Diese Verwendung ist ähnlich verwirrend wie die Begriffsdoppelung von „Radikalismus“ und „Anarchismus“: Existieren weniger extremistische radikale Gruppen? Gibt es auch demokratisch ausgerichtete extremistische Organisationen oder neben einem „extremistischen Radikalismus“ gar einen „radikalen Extremismus“? Durch eine

18 „Wer sind eigentlich diese Leute mit den kahlen Schädeln? Blicken Sie einmal in die Gesichter. Es sind z. T. noch kindliche Gesichter. Es sind 14-, 15- und 16jährige, die durch die Schule des Sozialismus gegangen sind [. . .]“. [Ulrich Klinkert (CDU/ CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 43. Sitzung, 25. September 1991, 3571 A.] 19 „Wir haben die Gruppe der Skinheads, oder sagen wir auf deutsch: der Glatzköpfe, die mit Brandsätzen, Knüppeln und Steinen gegen Ausländer wüten. [. . .] das sind Kriminelle und nichts anderes. Ihr Verhalten kann mit Politik nicht erklärt werden. Es kann mit Politik, behaupte ich, auch kaum beeinflußt werden. Die Täter sind, soweit sie bekannt sind, überwiegend zwischen zwölf und 20 Jahre alt. Sie sind offenbar in erster Linie auf Gewalt und Randale aus. Ihr rechtsextremistisches Gehabe dient meist ohne eigentlich politisch-ideologischen Hintergrund vor allem der Provokation.“ [Heribert Blens (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 47. Sitzung, 10. November 1991, 3938 A.] 20 Der Liberale Jürgen Schmieder spricht beispielsweise von den „Mordversuche[n] der Rechtsradikalen und Neonazis“. [Ders., Deutscher Bundestag, 12. WP, 110. Sitzung, 8. Oktober 1992, 9411 D.] 21 „Ich bin erschrocken über den Geist, der sich in bestimmten Kreisen, genauer: in Subkulturen, beispielsweise der Musikszene, breit macht und so auch in die junge Generation hineingetragen wird, in Bereiche, in die wir mit der Sprache der Politiker überhaupt nicht mehr hineinkommen.“ [Eduard Oswald (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 128. Sitzung, 10. Dezember 1992, 11059 A–B.] 22 Siehe den Beitrag des Unionsabgeordneten Heribert Blens, der vom „Rechtsradikalismus“ spricht, wohingegen seine liberale Nachfolgerin auf dem Rednerpult den „Rechtsextremismus“ thematisiert. [Ders. (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 110. Sitzung, 8. Oktober 1992, 9400 C und Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), ebd., 9401 D.] Offenbar wurden die Begriffe nach wie vor von der Mehrheit der Diskursteilnehmer als gleichbedeutend verstanden und auch genutzt. 23 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Bundesministerin der Justiz) (CDU/CSU), ebd., 9406 C. 24 Dies., ebd., 9407 B.

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derartige Häufung politischer Ächtungsvokabeln steigerte sich zumindest der Aufmerksamkeitsfaktor für die parlamentarische Bestandsaufnahme. Die „politische Mitte“ grenzte sich so nach außen ab und befestigte das antiextremistische Selbstverständnis. Ideologisch wurde der fremdenfeindliche Pöbel teilweise als „neonationalsozialistisch“ oder – je nach eigenem politischem Standort – auch als „faschistisch“ bzw. „neofaschistisch“25 klassifiziert. Angesichts der meist nur rudimentär politisch argumentierenden Täter bleibt gegenüber diesen Einordnungen Skepsis angebracht. In den siebziger wie in den neunziger Jahren forderten die Ereignisse offenbar einen gewissen – zumindest rhetorischen – Aktionismus heraus, da man im öffentlichen Diskurs klare Wertungen setzen wollte, wohl aber auch, um den Bedeutungsgehalt der Diskussion zu erhöhen. Lassen sich in Extremismusdiskursen doch emotionalisierte und polarisierte Debatten führen, politische Gegner publikumswirksam angreifen und wichtige Politikfelder wie beispielsweise die Innen- und Sicherheitspolitik neu aushandeln. Vor allen Dingen für die jeweilige Oppositionspartei bietet ein Extremismusdiskurs die Gelegenheit, die Regierungspartei(en) zu kritisieren und in Diskussionen über den Zustand des demokratischen Systems zu verwickeln. Allein der Rechtfertigungszwang, dem sich die Regierungspartei(en) in diesen Fällen ausgesetzt sieht bzw. sehen, schwächt den Souveränitäts- und Legitimationsanspruch der aktuellen Machthaber, während die Opposition als Kritiker an Deutungsmacht gewinnen kann. So monierten die Sozialdemokraten in den neunziger Jahren mit Blick auf fremdenfeindliche Ausschreitungen: „Wir können nicht sehen, daß in ähnlicher Weise wie in den 70er Jahren, als es den organisierten Terrorismus gab, die Bundesregierung dieses zu ihrem Thema gemacht hat: daß es organisierten Gewaltterrorismus gegen Mitbürger bei uns hier wieder gibt.“26 Während die SPD den Organisations- und Gefährlichkeitsgrad der Vorkommnisse mit der Titulierung „Terrorismus“27 offensichtlich relativ hoch ansiedelte, sprach die regierende Union von „Minderheiten von extremistischen Krakeelern“28 und von „aus dumpfen Gefühlen gespeiste[r] Ausländerfeindlichkeit“29. 25 Im Extremismusdiskurs der PDS/Linken Liste spiegelte sich deutlich die eigene ideologische und weltanschauliche Positionierung wider. Parallel zur Warnung in den siebziger Jahren von konservativer Seite vor dem „kommunistischen“ Terrorismus prangerten Vertreter der Linken nun die Fremdenfeindlichkeitswelle als „Neofaschismus“ und „Rassismus“ an. Siehe Gregor Gysi (PDS/Linke Liste), Deutscher Bundestag, 12. WP, 43. Sitzung, 25. September 1991, 3575 A und Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste, Deutscher Bundestag, 12. WP, 51. Sitzung, 18. Oktober 1991, 4258 A. 26 Freimut Duve (SPD), ebd., 4241 D. 27 Auch der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine sprach vom „Rechtsterrorismus“. [Ders., Deutscher Bundestag, 12. WP, 128. Sitzung, 10. Dezember 1992, 11043 B.] 28 Wolfgang Schäuble (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 51. Sitzung, 18. Oktober 1991, 4211 D. 29 Klaus Kinkel (Bundesminister der Justiz), ebd., 4238 A.

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Sie interpretierte die Anschläge eher als Eskalationsergebnis. Im Gefahrenverständnis schlugen sich damit nicht nur parteipolitische und ideologische, sondern auch parlamentarische Wirkungsverhältnisse nieder. In beiden Zeiträumen trat vor allem die jeweilige Opposition als Mahner auf, der das demokratische System als Ganzes gefährdet sah, während sich die Regierungsparteien in rhetorischer Schadensbegrenzung übten. So verstanden die Unionsparteien in den siebziger Jahren den Angriff der Terroristen auf das demokratische System als „Kriegserklärung“ an den Staat. Das konfrontative Vokabular der CDU/CSU, die die „Bekämpfung“ und „Unschädlichmachung“ der terroristischen „kriminelle[n] Banden“30 forderte, verdeutlichte das absolute Gefahrenverständnis der damaligen Opposition. „Wir können diesen Zustand nicht länger hinnehmen. Wir müssen erkennen, daß es sich um einen zentralen Angriff auf unseren freiheitlichen Rechtsstaat handelt.“31 Das quantitativ geringe Ausmaß wurde weniger in die Wertung einbezogen, das qualitative Moment terroristischer Agitation überwog in der Wahrnehmung der Union. „der Zweck der Vereinigung [. . .] ist immerhin der, Mord, T[o]tschlag, Völkermord oder Geiselnahme zu begehen.“32 Die Koalitionsregierung orientierte sich hingegen eher an quantitativen Aspekten, um die Gefährdungslage zu relativieren und blieb angesichts der „terroristischen Herausforderung“, der es zu „begegnen“33 gälte, relativ nüchtern – zumindest in ihrer Wortwahl. Bei „einer zahlenmäßig im Verhältnis zur Bevölkerung unseres Landes überhaupt nicht mehr faßbaren Gruppe“34 seien Gelassenheit und die richtige Relation wichtig. In den neunziger Jahren drehte sich das Verhältnis um: Die sozialdemokratische Opposition sah angesichts der Fremdenfeindlichkeit das bundesrepublikanische System in historischer Rückfallgefahr. Es sei alarmierend, daß „Rechtsradikale mit schlimmen Parolen zur Gewalt aufrufen und sich immer häufiger an die Spitze derer setzen, die sie zuvor aufgehetzt haben. Für uns Ältere, für meine Generation werden da böse Erinnerungen wach“35. Die Gefahrensituation wurde nun akuter eingeschätzt als in den siebziger Jahren die Bedrohung von links: „Was wir erleben, ist eine besorgniserregende, dramatische Änderung des

30 Karl Carstens (Fehmarn) (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 7. WP, 132. Sitzung, 15. November 1974, 8967 C. 31 Ders., Deutscher Bundestag, 7. WP, 168. Sitzung, 25. April 1975, 11785 B. 32 Heinz Eyrich (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 7. WP, 213. Sitzung, 16. Januar 1976, 14752 B. 33 Siehe Werner Maihofer (Bundesminister des Innern), Deutscher Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13. März 1975, 10751 B oder Hans-Jochen Vogel (Bundesminister der Justiz), Deutscher Bundestag, 7. WP, 213. Sitzung, 16. Januar 1976, 14745 B. 34 Detlef Kleinert (FDP), Deutscher Bundestag, 7. WP, 178. Sitzung, 12. Juni 1975, 12453 C. 35 Hans-Jochen Vogel (SPD), Deutscher Bundestag, 12. WP, 110. Sitzung, 8. Oktober 1992, 9396 C.

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gesellschaftlichen Klimas. Rechtsradikale Gewalt beginnt alltäglich zu werden. Der Feind der Demokratie steht wieder rechts.“36 Die Unionsparteien distanzierten sich auch von den Gewalttätern, griffen aber – wie die Regierungsparteien in den siebziger Jahren37 – zu weniger dramatischem Vokabular und schätzten mit dem Verweis auf „Wirrköpfe und Demagogen, die aus der Vergangenheit nichts gelernt haben“38 zumindest den Organisationsgrad der Täter deutlich niedriger ein.39 Die Regierung pflegte in den neunziger Jahren einen – angesichts der materiellen, sozialen und strukturellen Härten durch Asylbewerber-„Ströme“ und die Wiedervereinigung – vor allem gegenüber den Sympathisanten eher zurückhaltenden Diskurs, der die Übergriffe als sozialpsychologische Reaktion verstand. „Die Gewaltbereitschaft hat viele Ursachen, vor allem Perspektivlosigkeit, Angst vor sozialem Abstieg, fehlendes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik, Verlust allgemein akzeptierter Wertvorstellungen [. . .].“40 Die Unionsparteien bestimmten als Regierungsträger die weitere Richtung des Extremismusdiskurses: „Die Menschen haben Angst vor den Problemen, die ein solcher Flüchtlingsstrom, der unkontrolliert auf uns zukommt, mit sich bringt. [. . .] Wir wissen doch, daß die Kriminalität in unserem Land dramatisch ansteigt. Und wir wissen doch auch, wie hoch die Beteiligung von Ausländern dabei ist. [. . .] Dies ist das Agitationsfeld der Rechtsradikalen. Wir machen es doch den Rechtsradikalen leicht.“41 Sie verknüpften die politische Thematisierung der Fremdenfeindlichkeitswelle mit dem Feld der Ausländer- und Asylpolitik so nachhaltig, daß auch die Sozial-

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Wolfgang Thierse (SPD), ebd., 9408 A–B. Die Regierungsparteien verwiesen in den siebziger Jahren wiederholt auf die Irrationalität individuell „fanatisierte[r] Einzelgänger“ bzw. auf die Unzurechnungsfähigkeit der RAF und der „von der gleichen verbrecherischen Wahnvorstellung besessenen Nebenorganisationen“, um damit die Täter zu individualisieren und zu entpolitisieren. Der Linksterrorismus sollte nicht als Teil einer Organisation oder politischen Bewegung verstanden werden. Die konservative Opposition hingegen warnte damals vor einer organisierten linksextremistischen bzw. kommunistisch unterwanderten Bewegung. Siehe hierzu Hans-Dietrich Genscher (Bundesminister des Innern), Deutscher Bundestag, 6. WP, 188. Sitzung, 7. Juni 1972, 10978 C; Wolfgang Mischnick (FDP), Deutscher Bundestag, 7. WP, 168. Sitzung, 25. April 1975, 11787 C; Helmut Schmidt (Bundeskanzler), ebd., 11783 C; Hermann Dürr (SPD), Deutscher Bundestag, 8. WP, 25. Sitzung, 5. Mai 1977, 1681 A. 38 Eduard Oswald (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 128. Sitzung, 10. Dezember 1992, 11059 A. 39 Der zitierte Redner verweist dafür ausführlich auf die Gefahren einer subkulturellen Unterwanderung gerade Jugendlicher durch rechtsextremistische Agitation und warnt davor, hier nicht die geistige und politische Auseinandersetzung mit gewaltverherrlichenden Ideologien zu versäumen. Siehe ders., ebd., 11059 B–C. 40 Klaus Kinkel (Bundesminister des Auswärtigen), Deutscher Bundestag, 12. WP, 162. Sitzung, 16. Juni 1993, 13870 A. 41 Norbert Geis (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 143. Sitzung, 4. März 1993, 12305 A. 37

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demokraten die unausgesprochene Argumentationsbasis teilten, die akute xenophobe Gewalt hänge direkt mit der Höhe der Asylbewerberzahl zusammen. Eine Interpretation, der sich die Opposition auch in ihren sozialpädagogisch orientierten Maßnahmenvorschlägen annäherte.42 Hinsichtlich des Täterbildes griff in den siebziger wie in den neunziger Jahren derselbe Wahrnehmungsmechanismus: Der harte Kern gewaltbereiter und gewaltausübender Täter wurde von den parlamentarischen Akteuren als „kriminell“ und als außerhalb der demokratischen Gemeinschaft angesiedelt definiert. Die extremistische Gewalt wurde rhetorisch externalisiert. Das diente wohl auch einer Stabilisierung des Selbstbildes der demokratischen Mitte. Zudem wurden durch die dichotomisierende Problemwahrnehmung die – de facto offenbar durchlässig gewordenen – normativen Grenzen und Regeln des demokratischen Rechtsstaates, insbesondere das Gewaltverbot, neu artikuliert. „In einem freiheitlichen Staat gibt es für die Gewalt weder eine moralische noch eine politische noch eine rechtliche Legitimation. [. . .] es [muß] eine Grundübereinstimmung aller Demokraten geben, nämlich die klare und eindeutige Absage an die gemeinsamen extremistischen Feinde von rechts und links.“43 In den neunziger Jahren betonte der damalige Bundeskanzler: „Unser freiheitlicher Rechtsstaat ist bereit und, wenn wir wollen, in der Lage, mit allen ihm zu Gebote stehenden

42 Die Verknüpfung zwischen dem Fremdenfeindlichkeits- und dem Asylpolitikdiskurs fand sich nicht nur bei den großen Volksparteien wieder, sondern wurde beispielsweise auch von den Liberalen und sogar vom Bündnis 90/GRÜNE aufgegriffen. Siehe Burkhard Hirsch (FDP), Deutscher Bundestag, 12. WP, 79. Sitzung, 20. Februar 1992, 6471 A und Konrad Weiß (Berlin), Deutscher Bundestag, ebd., 6477 B–C. Der maßgeblich von den Unionsparteien in der Fremdenfeindlichkeitsdiskussion plazierte Asylpolitikdiskurs erlangte eine so große öffentliche Wirkungsmacht, daß sich die anderen Parteien daran beteiligten und ihre Problemwahrnehmung anpaßten. Es sei auf die zahlreichen Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungspolitikdebatten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre verwiesen, in denen die Ausländerfeindlichkeit mit angesprochen wurde. Die Unionsparteien leiteten aus der Fremdenfeindlichkeit einen politischen Handlungsbedarf ab, den sie mit Nachdruck an die Öffentlichkeit vermittelten: „Die geltende Asylrechtsregelung stößt bei der Bevölkerung auf Vorbehalte und trägt dazu bei, Reserviertheit und manchmal sogar Abneigung gegenüber Asylbewerbern hervorzurufen.“ [Erwin Marschewski (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 12. WP, 96. Sitzung, 5. Juni 1992, 7889 C–D.] Siehe auch die Debatten des Deutschen Bundestages zur Ausländer, Asyl- und Zuwanderungspolitik am 18. Oktober 1991, 20. Februar 1992, 5. Juni 1992, 21. Januar 1993, 4. März 1993, 26. Mai 1993 oder am 19. Mai 1994. Die Bedeutung der Verknüpfung zwischen Fremdenfeindlichkeits- und Asyldebatte wird auch daran sichtbar, daß im analysierten Zeitraum ebenso viele Debatten zur Ausländerfeindlichkeit wie zur Zuwanderungspolitik geführt wurden (mit wechselseitigen Verweisen). Diskussionen zur xenophoben Gewalt fanden statt am 25. September 1991, 10. Oktober 1991, 8. Oktober 1992, 10. Dezember 1992, 16. Juni 1993, 14. April 1994 und 18. Mai 1994. 43 Burckhard Hirsch (FDP), Deutscher Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13. März 1975, 10784 C–D.

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Mitteln Gewalt und extremistischen Terror zu bekämpfen. [. . .] Die Anwendung von Gewalt muß in unserer Gesellschaft ein Tabu bleiben.“44 Der Täterkern wurde – in beiden Zeiträumen – streng verurteilt, blieb aber in der Wahrnehmung der Parlamentarier eng begrenzt. Denn für die Volksparteien war die Diskussion über eine breitere gesellschaftliche Verwurzelung „antidemokratischen“ Gedankenguts problematisch. Beide großen politischen Lager wollten die politischen Grenzgänger und „Wackelkandidaten“ im eigenen ideologischen Spektrum demokratisch einbinden und mögliches Wählerpotential nicht verprellen. Die extremistischen Verbindungen in die demokratische Gesellschaft wurden allenfalls in der Sympathisantenfrage thematisiert. Dem Täterkern, den die volle Gewalt der „wehrhaften“ Demokratie treffen sollte, stand ein diffus wahrgenommener Bereich an Mitläufern und Sympathisanten entgegen. Die Sympathisantendiskussion in den siebziger Jahren, die um Terroristenanwälte, um sogenannte „Radikale im öffentlichen Dienst“ sowie um linke Intellektuelle und Systemkritiker kreiste, wurde allerdings wesentlich kontroverser geführt. Sie berührte normative Umwälzungsprozesse in einer Gesellschaft, in der sich neben einer materialistischen und wertkonservativen Orientierung zunehmend postmaterialistische Wertbedürfnisse Bahn brachen. So warb vor allem die SPD für eine integrative Politik gegenüber den mit linken Ausschreitungen sympathisierenden Bevölkerungsteilen, um einer Spaltung der Gesellschaft und einer weiteren Radikalisierung der Linken vorzubeugen. Der Zuwachs an systemkritischer Jugend in den Parteien sei nicht immer „bequem, aber das sollte er auch nicht sein. [. . .] Die Integration der jungen Generation ist ebenso wie die Integration der Kräfte an den Flügeln unseres Parteiensystems eine der wichtigsten Aufgaben der demokratischen Parteien.“45 Die Sozialdemokraten waren durch die sich in der eigenen Partei auftuenden Spaltungen zwischen reformorientierten und teilweise radikalen Gruppierungen und traditionellen Sozialdemokraten für die normativen Verwerfungen in der Gesellschaft besonders sensibilisiert. Sie balancierten zwischen einer Integrationspolitik, die radikalisierungsgefährdete Strömungen demokratisch einbinden wollte, und dem Zwang, sich gegen die Vorwürfe des Sympathisantentums abzugrenzen. Wohl nicht zuletzt deswegen plädierten die Sozialdemokraten und mit ihnen auch die Liberalen vor allem bei den sogenannten „Radikalen im öffentlichen Dienst“ für eine nicht zu restriktive Politik: „[. . .] nicht schon jede radikale Kritik an unserer bestehenden Gesellschaftsordnung und geltenden Staatsverfassung [ist] mit Verfassungsfeindlichkeit gleichzusetzen“, denn „in jeder nachwachsenden Generation [muß] es immer wieder neu ein radikales Durchdenken über die Sinner44 Helmut Kohl (Bundeskanzler), Deutscher Bundestag, 12. WP, 128. Sitzung, 10. Dezember 1992, 11040 A–B. 45 Hans-Dietrich Genscher (Bundesminister des Innern), Deutscher Bundestag, 6. WP, 188. Sitzung, 7. Juni 1972, 10981 D.

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fülltheit und Zeitgemäßheit der gesellschaftlichen Verhältnisse geben.“46 In der Innenpolitik zogen sie aber dennoch am selben Strang wie die Union und damit deutlich andere Saiten auf: Im Strafrecht, Prozeßrecht und im exekutiven Bereich der Sicherheitsorgane wurden Liberalisierungserfolge der sechziger Jahre wieder rückgängig gemacht, problematische Entscheidungen zugunsten der staatlichen Ermittlungs- und Staatsschutzbehörden getroffen.47 Ebenfalls beachtenswert im Sympathisantendiskurs der siebziger Jahre ist die Bemühung, den politischen Gegner als prinzipiell mit dem Terrorismus und dessen ideologischer Zielrichtung verbunden darzustellen. Die Sozialdemokraten taten sich aufgrund ihrer Integrationspolitik sowieso schwer, sich vom linksextremistischen Bereich der vielen ideologisierten Kleingruppen, Verbände und Organisationen abzugrenzen; Auseinandersetzungen mit dem linken parteiinternen Flügel kosteten die SPD Energie und Reputation. Die Opposition nahm dies zum Anlaß, von den Interessen „der“ Linken48 zu sprechen, die in all ihren Schattierungen – bis hinein ins Lager der Regierungsparteien – den demokratischen Staat von innen heraus aushöhlen wolle. Die Unionsparteien bezichtigten die SPD offen, die Verbreitung linkslastiger Inhalte zumindest zu tolerieren, wenn nicht aktiv zu befördern. Teile der Jusos standen aus Sicht der Union kapitalismuskritischen Theorien zu nahe. Der Vorwurf wurde laut, die Regierungsparteien duldeten systemkritische Bestrebungen im öffentlichen Dienst: „Legen Sie den Systemveränderern in den von Ihnen beherrschten Kultusministerien endlich das Handwerk! [. . .] Beenden Sie die psychosoziale Vergiftung, die von einem Teil unserer Hochschulen und Schulen ausgeht! Sorgen Sie dafür, daß nicht Konflikttheorien, Haß und Klassenkampfparolen, sondern Toleranz, Rechtsbewußtsein und Staatsgesinnung die Erziehung unserer Jugend ausmachen.“49 Einige Redner konstruierten ein Kartell der Linken: „Vielfach [. . .] ist die Solidarität der Demokraten bereits unheilvoll überlagert durch eine historisch 46 Werner Maihofer (Bundesminister des Innern), Deutscher Bundestag, 7. WP, 132. Sitzung, 15. November 1974, 8960 A. 47 Siehe Uwe Berlit/Horst Dreier, Die legislative Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, in: Fritz Sack/Heinz Steinert, Analysen zum Terrorismus 4/2. Protest und Reaktion, Opladen 1983, S. 227–318. 48 Die definitorischen Grabenkämpfe um die ideologische „Auslagerung“ des Extremismus in die Reihen des politischen Gegners führten in den neunziger Jahren gar zu systemischen Verschwörungstheorien, mutmaßte man doch, daß auch die Stasi durchaus ein Interesse an der akuten fremdenfeindlichen Gewalt haben könnte, diese vielleicht sogar befördere oder organisiere. „Bezeichnenderweise wurden in Rostock einige ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi festgestellt, die in vorderster Reihe agierten. Es stellen sich die Fragen, wer die regiert, wer lenkt und leitet, wer wird durch wen und wovon begünstigt?“ [Jürgen Schmieder (FDP), Deutscher Bundestag, 12. WP, 8. Oktober 1992, 9411 A.] 49 Alfred Dregger (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13. März 1975, 10744 C.

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gesehen für die Freiheit tödliche Solidarität der Sozialisten, zwischen demokratischen Sozialisten und antidemokratischen Sozialisten und Kommunisten, denen bereits das irreführende Etikett ,kritische Demokraten‘ angeheftet worden ist.“50 Auch zum Marxismus wurde der Bogen in der Wahrnehmung „der“ Linken durch die Opposition gespannt: Teile der sozialdemokratischen Partei hätten „immer noch ein gestörtes Verhältnis zur Ausübung rechtsstaatlicher Macht“ und hingen einer „Utopie von der herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung“ an. Eine ideologische Nähe zur „marxistische[n] Doktrin vom Absterben des Staates“51 wurde diagnostiziert. Die Sozialdemokraten wiederum postulierten, der Linksterrorismus spiele „der“ Reaktion in die Hände. „Im objektiven historischen Sinne [. . .] sind die politischen Terroristen immer noch die Helfershelfer des konservativsten politischen Konservatismus gewesen, indem sie die durch Terror verängstigten Bürger in [sic] die Wahlurnen der Ultra-Konservativen getrieben haben.“52 Der Terrorismus provoziere den Ruf nach restriktiven Maßnahmen durch den Staat. Er dränge die Wähler nach rechts, um so eine Legitimation für den an die Gesellschaft gerichteten Faschismusvorwurf zu gewinnen. Das konservative Lager wiederum könne – so die These – im Zuge der Terrorismusdiskussion mit populistischen Kampagnen konservative Politikziele im Bereich der inneren Sicherheit leichter durchsetzen. „Terror und Gewalt sind, was Methode, Ziel und absehbare Folgen betrifft, in einem ganz stockfinsteren Sinne reaktionär. Dann kleben Sie welches Etikett sonst immer auch mit drauf.“53 Der Sympathisantendiskurs der siebziger Jahre weitete sich von der konkreten Frage der Terroristenadvokaten bzw. der ideologischen Standortbestimmung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst auf eine – beiderseitige – Verschwörungstheorie von der Interessenkoalition des politischen Gegners mit Systemumstürzlern aus. Die aufgeheizte Sympathisantendebatte sollte die gegnerischen Parteien diskreditieren und delegitimieren. Wurde der politische Gegner erst einmal argumentativ mit dem extremistischen Bereich verknüpft, bestand die berechtigte Hoffnung, daß etwas davon am Opponenten hängen blieb. Dem parlamentarischen Rollendualismus zwischen Regierung und Opposition gemäß wurde in der Extremismusdiskussion das zu erörternde Objekt durch eine Debatte über die Aktivitäten des politischen Gegners ersetzt. In den neunziger Jahren führten primär die Sozialdemokraten den Sympathisantendiskurs. In ihrem allgemeinen Moralisierungsdiskurs und im Bewußtsein 50 Friedrich Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 7. WP, 197. Sitzung, 24. Oktober 1975, 13581 C. 51 Helmut Kohl (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 8. WP, 22. Sitzung, 20. April 1977, 1450 D. 52 Kühn (Ministerpräsident) (Nordrhein-Westfalen), Deutscher Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13. März 1975, 10801 D–10802 A. 53 Willy Brandt (SPD), Deutscher Bundestag, 8. WP, 28. Oktober 1977, 4111 C.

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der eigenen – von ihnen durchaus politisch wie rhetorisch nutzbar gemachten – historischen Verfolgungsgeschichte traten sie als „Mahner“ auf und verwiesen auf die sympathisierenden Massen: „Dies ist das eigentlich Bestürzende, Alarmierende: Die nicht mehr nur heimliche, sondern lautstarke Zustimmung zur Gewalt, zu rechtsradikalen Ausbrüchen bei vielen, allzu vielen Menschen.“54 Interessanterweise äußerte auch die SPD – neben den Unionsparteien und den Liberalen – ein gewisses Verständnis für fremdenfeindliche, biologistisch gedeutete „Reflexe“ der Bevölkerung angesichts sozialer und ökonomischer Belastungen: „Im Einzelfall ist uns der Fremde immer noch eine willkommene Bereicherung. In der Masse aber wird er von vielen als Bedrohung empfunden. [. . .] Das Gefühl der Bedrohung löst im Verhalten der Menschen Abwehrmechanismen aus. Dies ist die Grundlage, auf der sich die Fremdenfeindlichkeit derzeit in Deutschland ausbreitet.“55 Keinesfalls waren die „Sympathisanten“ der fremdenfeindlichen Gewaltakte Ziel so kontroverser legislativer Auseinandersetzungen wie die Terrorismus-„Sympathisanten“ in den siebziger Jahren, gegen die gesetzliche Neuregelungen und Verschärfungen eine rechtliche Handhabe liefern sollten. Wurden diese in den siebziger Jahren diskursiv und strafrechtlich als „Täter“56 eingeordnet, entrüstete man sich in den neunziger Jahren parteiübergreifend zwar angesichts sympathisierender Massen, führte deren Reaktion aber eben auf gesellschaftliche Verwerfungen zurück, so daß die „Sympathisanten“ eher als die eigentlichen Opfer galten. Obwohl die Extremismusauffassung in unserer Gesellschaft eine zutiefst politische ist, „der“ Extremismus als systemisches Gegenbild zu unserer politischen Verfassung gilt, tendierte die parlamentarische Extremismuswahrnehmung zur Entpolitisierung. In den siebziger Jahren wurden von oppositioneller wie von regierender Seite primär der kriminelle Gehalt des Linksterrorismus betont und der Terrorismus in einen allgemeinen Sicherheitsdiskurs eingegliedert. Die Koalition stellte seine Verhaftung an „fehlgeleiteten“, „fanatisierten“ Elementen heraus und mühte sich, die politische Dimension der linken Bewegung und der terroristischen Auswüchse zu relativieren. Ungeachtet des eben erst eingeführten gesonderten Straftatbestandes der „terroristischen Vereinigung“ sprach man

54 Wolfgang Thierse (SPD), Deutscher Bundestag, 12. WP, 110. Sitzung, 8. Oktober 1992, 9408 A. 55 Oskar Lafontaine (Ministerpräsident) (Saarland), Deutscher Bundestag, 12. WP, 128. Sitzung, 10. Dezember 1992, 11044 D–11045 A. 56 Mit der Einführung des § 129a, der den Terrorismus als kriminelle Vereinigung strafrechtlich erfaßt, wurde der Täterbegriff auch auf den Bereich der Helfer-, Unterstützer-, Befürworter- und Sympathisantenszene ausgeweitet. Auch diese Taten sollten klar kriminalisiert werden – eine Forderung vor allem von der Union nachhaltig verfolgt: „Aber das, was gemacht werden muß, muß deutlich machen: Ein Terrorist, ein aktiver Sympathisant, ein größerer oder kleinerer Helfer müssen von dieser Rechtsordnung als Unrechtstäter definiert werden.“ [Benno Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/ CSU), Deutscher Bundestag, 7. WP, 178. Sitzung, 12. Juni 1975, 12453 A–B.]

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sich gegen eine politische Klassifikation dieser Verbrechen aus. Der Terrorismus müsse seiner „heutigen Bemäntelungen als, wie manche auch heute noch sagen, politische Kriminalität entkleidet und als das aufgefaßt und bekämpft“ werden, was er sei, „als gemeine Kriminalität“57. Es schien auf der Hand zu liegen, daß „die einmal vorhandene politische Motivation eigentlich verloren gegangen ist und daß es sich heute nur noch um gewöhnliche Kriminalität handelt. Gerade die Anreicherung der terroristischen Szene mit unpolitischen kriminellen Elementen in neuerer Zeit macht dies besonders deutlich.“58 Vor allem die Sozialdemokraten thematisierten den Linksterrorismus als der politischen Auseinandersetzung nicht würdig. „Die Anarchisten haben sich mit ihren Aktionen außerhalb jeder denkbaren Form von Gesellschaft gestellt. Letztlich ist das der Ausdruck ihres Scheiterns. Sie sind auch in dem Lager, dem sie sich einmal verbunden gefühlt haben, politisch zunehmend isoliert. Der Griff zur Gewalt war zugleich das Eingeständnis jener Isolierung. Weder die Täter noch ihre Helfer und Sympathisanten stehen für irgendwen in unserem Land, außer für sich selbst.“59 Die SPD wollte sich offenbar so weit wie möglich von den Linksrevolutionären distanzieren. Verstärkt wurde diese argumentative Strategie durch die zusätzliche Kriminalisierung des Terrorismus, also dessen Wahrnehmung unter strafrechtlichen und kriminologischen Gesichtspunkten. So wurde die „kleinere Gruppe der Radikalen und Revolutionäre“60 als einem allgemeinen Kriminalisierungs- und Abstiegsprozeß verhaftet interpretiert, das politische Moment argumentativ in den Hintergrund gerückt. Die Betonung der kriminellen, biographischen und teils pathologischen61 Dimension ermöglichte eine Individualisierung des terroristischen Phänomens. Damit ließ sich ein eventueller Bewegungscharakter und eine mögliche Politisierung breiterer Schichten in der Diskussion gehen. Die von den Terroristen propagierte Massenwirksamkeit ihrer revolutionären Strategie wurde der Baader-Meinhof-Gruppe abgesprochen, denn die Stammklientel der Linken – Arbeiter, Arbeitnehmer und Gewerkschaften – hätte „kein Verständnis für selbsternannte Ersatzproletarier als Vorkämpfer der Arbeiterklasse“.62 57

Werner Maihofer (Bundesminister des Innern) (FDP), ebd., 12460 A. Fritz-Joachim Gnädinger (SPD), Deutscher Bundestag, 7. WP, 253. Sitzung, 24. Juni 1976, 17991 A–B. 59 Hans-Dietrich Genscher (Bundesminister des Innern), Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 188. Sitzung, 7. Juni 1972, 10980 D. 60 Ders., ebd., 10981 C. 61 „Welchen Zusammenhang gibt es mit psychischen Anomalien und Krankheitserscheinungen? Ist es nur ein Zufall, daß eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Terroristen gerade der jetzt [Oktober 1977] aktiven Generation aus dem Umkreis des sogenannten Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg stammt?“ [Hans-Jochen Vogel (Bundesminister der Justiz), Deutscher Bundestag, 8. WP, 53. Sitzung, 28. Oktober 1977, 4092 D.] 62 Helmut Schmidt (Bundeskanzler), Deutscher Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13. März 1975, 10738 A. 58

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Mit der Definition des Terrorismus als zur allgemeinen Gewalt- und Bereicherungskriminalität zugehörig fiel der Gegenstand in ein traditionell von konservativer Seite besetztes Politikfeld: dem der inneren Sicherheit. Den Unionsparteien kam es gelegen, den Linksterrorismus unter diesem Aspekt zu thematisieren, um ihre auf die Innen- und Sicherheitspolitik fokussierten Politiklinien durchsetzen zu können: „Ganz allgemein muß man über den aktuellen Komplex Baader-Meinhof-Bande feststellen: Die Aktivität politischer Extremisten, die auch mit Gewalt unsere freiheitliche rechtsstaatliche Ordnung beseitigen wollen, nimmt zu. [. . .] Politische Fanatiker verteilen unter dem Vorwand, ein neues Paradies auf Erden schaffen zu wollen, Anleitungen für den Straßenkampf. Ausdrücke aus der Ganovensprache gehen mehr und mehr in die Umgangssprache ein. [. . .] Radikale Ausländer tragen ihre Gegensätze bei uns mit Messer und Pistole aus. Der Rauschgiftkonsum steigt. Gewissenlose Geschäftemacher nutzen Neugierde und Leichtsinn vieler Jugendlicher aus.“63 Hier wurden parteiliche Extremismen, die Sympathisantenfrage, linguistischer Werteverfall, ausländische Extremismen sowie – gänzlich unverbunden zu diesen Themen – die Rauschgiftproblematik64 in einen Zusammenhang gestellt. Das Terrorismusproblem geriet in einen allgemeinen innenpolitischen Diskurs. In den neunziger Jahren galt der fremdenfeindliche Extremismus parteiübergreifend oft als strukturelle Dysfunktion. Der gewalttätige Täterkern wurde zwar unter strafrechtlichen Gesichtspunkten wahrgenommen. Der damalige Innenminister sprach 1992 von „Kriminellen, von Gewalttätern, die kriminelle Handlungen begangen haben, die wir alle gemeinsam verurteilen“65 und stellte in Aussicht, „dem Treiben extremistischer Gewalttäter eine eindeutige und entschiedene rechtsstaatliche Antwort zu geben“.66 Im Gegensatz zu den hochorganisierten Terrorgruppen der siebziger Jahre wurden die Übergriffe fremdenfeindlicher Gruppierungen aber eher als unorganisiert beschrieben: „Der Verfassungsschutz hat uns wissen lassen, daß es sich bei den Rechtsextremisten um keine wohlorganisierte Gruppe handelt“.67 Man sprach vom „eruptiven Aufbrechen der Gewalt, die kaum koordiniert, weitgehend planlos, zeitlos, unberechen63 Merk (Minister des Freistaates Bayern), Deutscher Bundestag, 6. WP, 188. Sitzung, 7. Juni 1972, 10996 A. 64 Auch die Regierung verwies auf das Drogenmilieu: Politische Entwicklungen seien mit „bestimmten kulturellen Strömungen – hierin gehört z. B. das Auftreten einer Drogen-Subkultur“ zusammengetroffen und hätten „zur Entstehung eines Untergrundes“ geführt. [Hans-Dietrich Genscher (Bundesminister des Innern), ebd., 10981 C.] Deutlich wird hier die Intention, durch die Anspielung auf die drogenverhaftete Verwurzelung des Terrorismus sowie auf dessen Untergrundcharakter gesellschaftskritische Anteile terroristischer Aktionen in den Hintergrund treten zu lassen. 65 Rudolf Seiters (Bundesminister des Innern), Deutscher Bundestag, 12. WP, 110. Sitzung, 8. Oktober 1992, 9395 D–9396 A. 66 Ders., ebd., 9396 B. 67 Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), ebd., 9401 C.

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bar, aber intensiv und sehr brutal ist“.68 Die Fremdenfeindlichkeit wurde als jugendpolitisch und sozialpädagogisch zu lösendes Problem gesehen: „Wichtiger noch als das Strafrecht [. . .] ist z. B. die Stärkung jener Institutionen, die gerade Jugendlichen Halt und Orientierung geben können und die an ihrer Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit mitwirken. Hier tragen die Familien und die Schule [. . .] eine ganz besondere Verantwortung. Aber auch Kirchen und Gewerkschaften, Träger der Jugendarbeit und die Medien sind gefordert.“69 In beiden Betrachtungszeiträumen wurden die Extremismen in ihrem politischen Gehalt zumindest rhetorisch nicht wahr- und ernstgenommen. Um so bemerkenswerter erscheint das vor dem Hintergrund der legislativen Entscheidungen des Parlaments in diesen Zeiträumen: Entgegen den Beteuerungen, es handele sich lediglich um gewöhnliche gruppenförmige Kriminalität, wurden in den siebziger Jahren etliche straf- und prozeßrechtliche Regelungen erlassen, die ein enges Korsett materiellen Sonderrechts schnürten und neben dem Täterkern „Sympathisanten“ terroristischer Vereinigungen strafrechtlich erfaßten. Auch in den neunziger Jahren zeigten die fremdenfeindlichen Aufmärsche im Zusammenhang mit der Extremismusdebatte sehr wohl politische Wirkung; zumindest wurden sie genutzt, um ein seit langem schwelendes politisches Anliegen wieder auf die Tagesordnung zu bringen.

4. Conclusio: Extremismusthematisierung im parlamentarischen Diskurs Extremistische Ereignisse besitzen für die Politik der parlamentarisch etablierten Parteien ein großes Instrumentalisierungspotential: Themenfelder, die mit dem Behandlungsobjekt „Extremismus“ argumentativ verbunden werden, gewinnen erheblich an Bedeutung. Der „Eyecatcher“-Effekt extremistischer Erscheinungen kann parteipolitisch instrumentalisiert werden, um wichtige Politikfelder und Vorhaben ins Gespräch zu bringen. CDU und CSU nutzten in den siebziger Jahren die Diskussionen um den Terrorismus zur Etablierung innenpolitischer und strafrechtlicher Verschärfungen auf der Agenda, in den neunziger Jahren betonten sie im Zuge des Fremdenfeindlichkeitsdiskurses ihr Anliegen einer Grundgesetzänderung beim Asylrecht. Sie dominierten in beiden Zeiträumen die argumentative „Marschrichtung“, unabhängig von ihrer parlamentarischen Rolle. Auch in der Opposition setzten sie die sozialliberale Koalition unter Argumentationsdruck; SPD und FDP sahen sich in den siebziger Jahren genötigt, den Sicherheitsdebatten zu folgen, ebenso wie sie sich in den neunziger 68

Dies., ebd., 9401 D. Helmut Kohl (Bundeskanzler), Deutscher Bundestag, 12. WP, 162. Sitzung, 16. Juni 1993, 13860 B. 69

Linker Terror und rechte Gesinnung im Diskurs der Mitte

229

Jahren auf den Diskurs um das Asylrecht einließen. Anscheinend nutzten CDU und CSU ihre Deutungsmacht effektiver und aggressiver als SPD und FDP, die gegenüber den Konservativen argumentativ an Boden verloren. Zwar stritten sich die Lager vor allem in den siebziger Jahren um Sicherheitsinteressen und liberale Errungenschaften; die Sozialdemokraten und Liberalen schienen allerdings gegenüber den politischen und rhetorischen Vorstößen der Opposition in einer eher defensiven Position zu sein. Ebenso wie sie in den neunziger Jahren keinen wirklichen Gegendiskurs gegen die argumentative und kausale Verknüpfung von Fremdenfeindlichkeit und Ausländerzahl etablieren konnten oder wollten. In beiden Fällen fungierte die Union als diskursiver Schrittmacher. Im parlamentarischen Extremismusdiskurs setzte sich die in der Wissenschaft zu beobachtende definitorische Uneinheitlichkeit fort. Es wurde in erster Linie ein antidemokratischer Gegenpol thematisiert, definiert und zum Gegenstand exekutiver wie legislativer Eingriffe gemacht. Die jeweiligen Regierungsparteien haben in beiden Zeiträumen nicht nur die gerade virulent auftretenden extremistischen Phänomene erörtert, sondern auch wiederholt auf das ideologische Extremismusgegenstück verwiesen. Die „Egalisierung“ von Links- und Rechtsextremismen70 lenkte in der konkreten Situation von einem dem eigenen politischen Spektrum nahestehenden Extremismus ab. Das konnte vor allem für Regierungsparteien von Vorteil sein, für die politische Gewalt immer zu Kompetenz- und Legitimationsverlusten führen dürfte, während die Opposition aus extremistischen Ereignissen zumindest parteipolitisch durch die Kritik an der Regierung Kapital zu schlagen vermag. Der unspezifizierte Monolith „Extremismus“ dient dem demokratischen System wohl auch zur Eigendefinition und zur Neuortung der eigenen Außengrenzen. „Der“ Extremismus bleibt eine – historisch bedingte – identifikatorische Gegengröße der Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche Gesellschaft basiert ihr Selbstverständnis auf die Verteidigung gegen das „Andere“, gegen die Antidemokratie. Gesellschaftliche Ordnung wird über Strategien der Grenzziehung und der Dualisierung erreicht. Foucaults „gefährliche Individuen“ erweisen sich für die soziale Gemeinschaft als durchaus nützlich, indem sie als Kontrastmittel für die Konturen bestehender Normen fungieren. Somit ist der Extremismusdiskurs in einer demokratischen Gesellschaft ein wichtiges Diskussionsfeld, in dem die politischen Akteure die Außengrenzen des Systems verdeutlichen und in der 70 „Terrorismus ist für uns objektiv auch [. . .] keine Frage von ,links‘ oder ,rechts‘.“ [Willy Brandt (SPD), Deutscher Bundestag, 8. WP, 53. Sitzung, 28. Oktober 1977, 4111 B.] Siehe hierzu auch Heinz Lynen von Bergs Beobachtungen für den parlamentarischen Fremdenfeindlichkeitsdiskurs in den neunziger Jahren: „Diese Form der ,Egalisierung‘ von Rechts- und Linksextremismus bei der Thematisierung der fremdenfeindlichen Gewalt dient dazu, eine gleichgewichtige Bedrohung der Demokratie durch beide ,Extremismen‘ zu konstruieren und damit das aktuelle Problem des Rechtsextremismus zu relativieren.“ So Lynen von Berg (FN 4), S. 270.

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Verena Küstner

Abgrenzung von Auszuschließendem binnenintegrative Effekte erzielen können. Extremistische Phänomene liegen der demokratischen Gesellschaft weniger diametral gegenüber, sondern sind in ihrer Existenz Teil der Eigenwahrnehmung der Demokratie. Der antidemokratische Gegenspieler bietet den Akteuren des demokratischen Systems Instrumentalisierungspotentiale. „Der“ Extremismus bleibt – trotz zahlreicher Ab-, Aus- und Eingrenzungsversuche – eng mit der demokratischen Realität verbunden. Eine weiterführende qualitative wie quantitative Diskursanalyse könnte in der Extremismusforschung den Blick frei machen für die historische Konstruiertheit vermeintlicher „Wahrheiten“, hinsichtlich der Interaktionsprozesse zwischen Demokratie und Extremismus, der gegenseitigen Instrumentalisierungspotentiale und der Wege in den Extremismus, die ja in der demokratischen Wirklichkeit entspringen.

Kommunaler Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung“ und „NS-Gleichschaltung“ Das Dresdner Stadtverordnetenkollegium in der Weimarer Republik Von Anita Maaß

1. Einleitung „Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Dieser Satz gilt auch für die Wahrnehmung von Parteiinteressen.“1 Mit diesen Worten und einem Plädoyer für die Erhaltung der Kommunalen Selbstverwaltung führte der linksliberale Oberbürgermeister von Dresden, Dr. Wilhelm Külz (Deutsche Staatspartei), am 16. Januar 1933 die neugewählten Stadtverordneten in ihr Amt ein. Dresden befand sich in einer wirtschaftlichen und politischen Krise. Zu den Stadtverordnetenwahlen im November 1932 gaben 47 Prozent der Wähler ihre Stimme einer extremistischen Partei.2 Von den 75 Mandaten errangen die Nationalsozialisten (NSDAP) 22 und die Kommunisten (KPD) 13 Sitze. Der Wahlerfolg dieser extremistischen Parteien bezeugte das Scheitern der demokratischen Entwicklung auf kommunaler Ebene. Noch hoffte Oberbürgermeister Dr. Külz, die Stadtverordneten würden trotz der neuen Mehrheitsverhältnisse wegen der schwierigen Lage der Stadt zu einer ausgeglichenen Politik zurückfinden. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, daß er selbst am 14. März beurlaubt und am 7. April 1933 vollständig aus dem Amt entfernt wird. Auf Grundlage dieser Entwicklung wird der Wandel der demokratischen Verhältnisse in der Dresdener Kommunalpolitik zwischen 1918 und 1933 untersucht. Welche Form politisch-parlamentarischer Kultur bildete sich auf kommunaler Ebene in der ersten deutschen Republik heraus? Welche politischen Vorstellungen vertraten die Parteien? Geprüft wird die These, ob die lokale Politik als „Schule der Demokratie“ fungierte. In der historischen wie in der politischen Forschung beschäftigten sich nur wenige Studien mit der Integration politischer bzw. administrativer Eliten in das politische System der Weimarer Repu-

1 2

Dresdner Anzeiger vom 17. Januar 1933, S. 6. Vgl. Die Großstadt Dresden, Kalender 1933, Dresden 1932, S. 107 f.

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Anita Maaß

blik.3 Lokal- und regionalhistorische Studien zum Vergleich und zur Erklärung gruppenspezifischer – milieuübergreifender – Politisierungsprozesse in der Weimarer Republik fehlen weitgehend.4 Die Analyse erfordert zunächst eine Skizzierung des Untersuchungsgegenstandes und des theoretisch-methodischen Ansatzes. Daran schließt sich eine Beschreibung der politischen Kommunikation der Parteien, ihrer politischen Positionen und ihres politischen Stils im Dresdner Stadtverordnetenkollegium an.

2. Untersuchungsgegenstand In der Weimarer Republik bildete die kommunale Ebene die unterste Stufe demokratischer Mitbestimmung. Die Integration der Kommunalen Selbstverwaltung in das republikanisch-demokratische System erfolgte durch eine umfassende rechtliche Umgestaltung des Gemeindeverfassungsrechts unter demokratischen Vorzeichen.5 Damit sollte die kommunale Mitbestimmung durch Einbeziehung breiter Bevölkerungsschichten gewährleistet werden.6 In Dresden existierten zwei städtische Körperschaften: das ab 1919 in allgemeiner, gleicher, direkter und geheimer Wahl durch die gesamte Einwohnerschaft bestimmte Stadtverordnetenkollegium und der von den Stadtverordneten gewählte Rat. Die Wahlperiode des Stadtverordnetenkollegiums betrug drei Jahre. Über den gesamten Untersuchungszeitraum von 1919 bis 1933 hatte das Kollegium folgende soziale Zusammensetzung: 20 Prozent Arbeiter, 22 Prozent 3 Vgl. zur Forschung kommunaler Institutionen und Eliten u. a. Detlef Lehnert, Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919– 1932. Wohnungs-, Verkehrs- und Finanzpolitik im Spannungsfeld von politischer Selbstverwaltung und Verbandseinflüssen, Berlin 1988, S. 11; ebenso ders., Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994, besonders S. 289. 4 Ausnahmen betreffen die Betrachtung der Sozialdemokratie. Vgl. hierzu beispielsweise: Die SPD im Chemnitzer Rathaus 1897–1997, hrsg. von der SPD-Fraktion im Chemnitzer Stadtrat, Hannover 1997; Mike Schmeitzner/Alfred Fellisch, 1884–1973. Eine politische Biographie, Köln u. a. 2000; Frank Heidenreich, Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933, Köln u. a. 1995; Karsten Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871–1923), Köln u. a. 1995. Vgl. demgegenüber zu einer ähnlichen Problemstellung der Kommunikationsanalyse, aber am Beispiel eines anderen Untersuchungsgegenstandes: Ekkehard Felder, Handlungsleitende Konzepte in der Nationalversammlungsdebatte über die Unterzeichnung des Versailler Vertrages im Jahre 1919, in: Armin Burkhardt/Kornelia Pape (Hrsg.), Sprache des deutschen Parlamentarismus. Studien zu 150 Jahren parlamentarischer Kommunikation, Wiesbaden 2000, S. 111–131, hier S. 112. 5 Vgl. Gunda Ulbricht, Die exemten Mittelstädte Sachsens im Prozeß der Gemeindeverfassungsreform 1918 bis 1933, ungedr. Dissertation TU Dresden, Dresden 1994. 6 Vgl. Bekanntmachung vom 28. November und 31. Dezember 1918 über die Wahlen von Stadtverordneten und Gemeindevertretern (G. V. Bl. 1919, S. 4 und 5), sowie Veröffentlichung in der Dresdner Volkszeitung vom 29. November 1918.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 233 30.5%

35%

30%

1

2

3

19.3%

4

5

13.7%

Ratsmitglieder Stadtverordnete

7.4%

6.1% 0.0%

4.0%

7

Berufsgruppen

3.2%

9.5% 0.0%

2.8%

6

9.5%

9.5%

8.8% 3.2%

5%

4.2% 2.1%

10%

15.4%

18.9%

15%

14.0%

20%

7.4% 10.7%

Anteil (relativ)

25%

8

9

10

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Unternehmer Freie Berufe Selbstständige Höhere Beamte Niedere Beamte Leitende Angestellte Einfache Angestellte Politische leitende Angestellte Politische einfache Angestellte Arbeiter Sonstige (unbekannt, Hausfrau u.ä.)

11

Berufsgruppen

Quelle: Daten Stadtarchiv Dresden, eigene Zusammenstellung.

Abbildung 1: Soziale Zusammensetzung der Stadtverordneten und Ratsmitglieder nach Berufsgruppen (relativer Anteil) in den Jahren 1919 bis 1933

Angestellte – davon waren 10 Prozent politische Angestellte in Parteien, Verbänden, Zeitungen –, 24 Prozent Beamte, 25 Prozent Berufstätige der Freien Berufe, Selbständige und Handwerksmeister, sieben Prozent Hausfrauen, zwei Prozent Industrielle bzw. Unternehmer und ein Prozent Geistliche. Dem Rat gehörten 17 auf sechs Jahre und länger gewählte besoldete Mitglieder sowie 22 auf drei Jahre gewählte unbesoldete Mitglieder an. Deren Sozialprofil dominierten die Beamten mit 34 Prozent, gefolgt von den Selbständigen mit 19 Prozent und den Angestellten mit 19 Prozent, davon waren 10 Prozent in Verbänden und politischen Organen beschäftigt. Sieben Prozent zählten zu den Freien Berufen, vier Prozent der Räte waren Unternehmer, und nur drei Prozent der Stadträte kamen aus der Arbeiterschicht. Letztere wurden von der KPD delegiert. Zu 14 Prozent der Räte, größtenteils mit Hochschulabschluß, ließ sich keine genaue berufliche Zuordnung ermitteln. Die politische Bedeutung des Stadtverordnetenkollegiums ergab sich aus seiner rechtlichen Stellung in der Gemeindeorganisation im Vergleich zum Rat. Die Stadtverordneten besaßen bis 1924 gemäß der „Revidierten Städteordnung“ vom 24. April 1873 nur eine politische Kontrollfunktion im Rahmen der Kommunalen Selbstverwaltung.7 Erst die „Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen“ vom 1. August 1923, die im April 1924 in Kraft trat, drückte den Willen 7 Revidierte Städteordnung vom 24. April 1873 und Städteordnung für mittlere und kleine Städte vom 24. April 1873, Dresden o. J.; vgl. Paul Sander, Das sächsische Gemeindewahlrecht, Inaugural-Dissertation, Würzburg 1927, S. 14.

234

Anita Maaß

des Gesetzgebers aus, die politische Funktion des Stadtverordnetenkollegiums durch mehr Mitbestimmungsrechte aufzuwerten. Das neue Gemeindeverfassungsrecht gewährte der Selbstverwaltung der Gemeinden weiten Handlungsraum und konstituierte die allgemeine Parlamentarisierung der Kommunalverwaltung.8 Die politisch wichtigste Änderung im Vergleich zur „Revidierten Städteordnung“ bestand nun im „Alleinentscheidungsrecht“ der Gemeindeverordneten. Der Rat war den Stadtverordneten weisungsgebunden. Ein knappes Jahr später schränkte die Novelle der Gemeindeordnung vom 15. Juni 1925 den Wirkungskreis und die Rechtsstellung der Gemeindeverordneten wieder erheblich ein.9 In Gemeinden mit körperschaftlich gebildeten Gemeinderat – wie in Dresden – verlor das Stadtverordnetenkollegium seine alleinige Entscheidungsvollmacht. Die Aufstellung bzw. Abänderung von Ortsgesetzen und Haushaltsplänen war wieder von der Zustimmung des Rates abhängig. Die novellierte Gemeindeverfassung blieb bis 1935 offiziell in Kraft. Den Gemeindeverordneten blieb zwar grundsätzlich die politische Willensbildung in allen Gemeindeangelegenheiten vorbehalten, deren Vorbereitung und Ausführung oblagen aber grundsätzlich dem Rat10. Damit ging die politische Macht in der Stadt wieder vom Stadtverordnetenkollegium auf den Rat über. Mit der Stärkung des Fachbeamtentums sollten zugleich die bürgerlichen Vorstellungen von Kommunaler Selbstverwaltung als sachlich-praktischer Verwaltungsarbeit restauriert, jegliche parteipolitische Kampfesabsichten hingegen zurückgedrängt werden. Politisch fungierte das Stadtverordnetenkollegium als Ort, an dem die Repräsentanten der Einwohnerschaft ihren kommunalpolitischen Willen zum Ausdruck brachten.11 Hier traten die Vertreter der politischen Parteien und Gruppierungen der Stadt im Rahmen einer öffentlichen Diskussion gemeinsam auf. Die Einwohner konnten daran persönlich teilnehmen oder sich in den Tageszeitungen über das politische Geschehen informieren. Die Teilnehmer der Stadtverordnetensitzungen – neben den Stadtverordneten, auch die Stadträte und Bürger8 Vgl. A. Streit, Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen vom 1. August 1923 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juni 1925, 2. Aufl. Leipzig 1925; Thomas Klein, Grundriß der Deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe B. Bd. 14: Sachsen, Marburg/Lahn 1982; Gunda Ulbricht, Die Selbstverwaltungsgarantie, in: Sächsische Heimatblätter (1991) H. 5, S. 300 ff. 9 Vgl. Willy Berthold, Die Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen, vom 1. August 1923 in der Fassung des Gesetzes vom 15. Juni 1925, Dresden 1925; W. Löffler, Die sächsische Gemeindeordnung, in: Sachsen. Kultur und Arbeit des sächsischen Landes mit besonderer Berücksichtigung der Kommunalwirtschaft und Kommunalpolitik, hrsg. von Dr. Naumann/Erwin Stein, Berlin-Friedenau 1928, S. 15 ff. 10 Vgl. Rudolf Siegert, Das Verhältnis der Gemeindeverordneten zum Gemeinderat nach der sächsischen Gemeindeordnung, Leipzig 1927, S. 17. 11 Vgl. zu den Elementen der Kommunalpolitik: Wolfgang R. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung: Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Fallstudien zu Dortmund und Münster, Stuttgart 1985, S. 193.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 235

meister – bildeten eine Kommunikationsgemeinschaft. Sie produzierten bzw. reproduzierten dabei die Strukturen der eigenen politischen Organisation und setzten politische Orientierungsmaßstäbe.12 Neben den Stadtverordneten nahmen die Stadträte an den Sitzungen teil. Die politischen Akteure waren bekannt und die jeweiligen Äußerungen konnten zugeordnet werden.

3. Theoretisch-methodischer Ansatz Grundsätzlich bettet sich die Untersuchung zur Politischen Kommunikation im Stadtverordnetenkollegium aus funktionaler Perspektive in das theoretische Verständnis des Input-Output-Konzeptes der „politischen Kulturforschung“ nach Gabriel A. Almond und Sidney Verba ein.13 Unter dem Begriff der Politischen Kultur wird aus dieser Forschungsperspektive kein bestimmtes politisches Ordnungsmodell verstanden. Vielmehr ist damit der gesellschaftliche Prozeß gemeint, durch welchen sich politische Strukturen herausbilden und politische Leitvorstellungen entstehen.14 Methodisch wird das Stadtverordnetenkollegium demnach in der Analyse als Institution angesehen, in der allgemeingültige politische Regeln erlassen und nach außen getragen werden.15 Dieser gesellschaftliche Prozeß im Stadtverordnetenkollegium, mit der dadurch vermittelten Form politischer Kultur, ist zugleich ein Indikator für die Qualität der damals erreichten Demokratie. Im Sinne der Demokratietheorie konstituieren sich demokratische politische Systeme durch soziale und politische Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft. Einerseits strukturiert Demokratie das gesellschaftliche Miteinander. Andererseits ist sie Ausdruck der politischen Kultur, mithin des erreichten politischen Entwicklungsstandes. Demokratie ist daher nicht als Ergebnis eines festen, unveränderbaren Prozesses anzusehen. Sie bezeichnet einen beständigen Vorgang, in dem sich die Akteure stetig über ihre politischen Prinzipien verständigen, diese gemeinschaftlich bewahren oder auch weiterentwickeln. Für die Analyse der politischen Kultur im Dresdner Stadtverordnetenkollegium und der daraus abzuleitenden erreichten Qualität bedarf es klarer Krite-

12 Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, besonders S. 87, S. 171. 13 Vgl. u. a. Gabriel A. Almond, The Intellectual History of the Civic Culture Concept, in: Ders./Sidney Verba, The Civic Culture revisited, 2. Aufl., London u. a. 1989, S. 1–36. 14 Karl Rohe, Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzeptes, in: Oskar Niedermayer/Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21; vgl. Dirk Berg-Schlosser/Ralf Rytlewski, Political Culture in Germany: A Paradigmatic Case, in: Dies. (Hrsg.), Political Culture in Germany, London 1993, S. 3–12. 15 Vgl. Arno Waschkuhn, Demokratietheorien. Politiktheoretische und ideengeschichtliche Grundzüge, München/Wien 1998, S. 331.

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Anita Maaß

rien.16 Demokratie meint zunächst wörtlich Volksherrschaft. Als Gradmesser für die erreichte Qualität der Demokratie des Untersuchungszeitraumes wird die Weimarer Reichsverfassung herangezogen. Sie gilt als grundsätzliche Norm eines spezifischen Demokratietyps und definiert, was im Verständnis der Verfassungsgeber (der Nationalversammlung) als demokratisch zu verstehen ist. Hieraus lassen sich Anhaltspunkte für eine als demokratisch – mithin gesellschaftlich legitim – anzusehende politische Kultur ableiten. Da aber Demokratisierung als Prozeß gesehen wird, kann eine normative Regel nicht von sich heraus als Minimalkonsens des demokratischen Verständnisses begriffen werden. Vielmehr fungiert die Reichsverfassung als eine idealtypische Norm bzw. als Zielvorgabe. Sie ist gewissermaßen ein Raster, auf dem die realen Ausprägungen der politischen Kultur eingeordnet werden können. Die tatsächliche Ausprägung des Demokratieverständnisses im Stadtverordnetenkollegium bestimmt sich durch die Annäherung oder Abweichung an die verfassungsmäßig vorgegebenen politischen Prinzipien. Die Meßlatte besitzt dabei bildlich gesprochen zwei Pole. Der Plusbereich zeigt die Annäherung an die demokratischen Leitprinzipien, der Minusbereich bestimmt den Grad der Abweichung von diesen Werten. Die schärfste Form der Demokratieablehnung wird als extremistisch bezeichnet.17 Die folgende Tabelle faßt die Prinzipien zusammen, die nach der Reichsverfassung Maßstäbe für demokratische Leitvorstellungen sind.18 Regeln und Prinzipien, die zur Ausprägung einer politischen Kultur beitragen, bedürfen nach Karl Rohe nicht nur der „Verinnerlichung“ durch die sie vermittelnden Akteure, sondern auch der „Veräußerlichung“ in die Gesellschaft hinaus, um ihre Funktion erfüllen zu können.19 Zur analytischen Unterscheidung der „unterschiedlichen Ebenen und Modi politischer Kultur“ entwickelte Rohe die Kategorien der „politischen Soziokultur“ (Bestand der kollektiven politischen Mentalitäten) und der „politischen Deutungskultur“ (Thematisierung der politischen Mentalitäten und Verhaltensmuster).20 16

Vgl. hierzu auch ausführlich die Herleitung in der Dissertation der Verfasserin. Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, BadenBaden 2005, S. 23. 18 Vgl. zur Operationalisierung von politischer Kultur allgemein: Detlef Lehnert/ Klaus Megerle, Problems of Identity and Consensus in a Fragmented Society: The Weimar Republic, in: Berg-Schlosser/Rytlewski (FN 14), S. 43–59, hier Tabelle S. 55; vgl. auch: Gert Pickel, Subjektive und objektive Indikatoren der Demokratiemessung im Vergleich – Grundlegende Unterschiede oder gleiche Ergebnisse?, in: Hans-Joachim Lauth/Gert Pickel/Christian Welzel (Hrsg.), Demokratiemessung. Konzepte und Befunde im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 242–265, hier S. 248 f. 19 Vgl. Rohe (FN 14), S. 7. 20 Zur Deutungskultur vgl. ders., Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 16 f. – Rohe bezieht sich mit seinem Konzept auf die Arbeiten von Gabriel Almond und Sidney Verba. Nach der Auffassung von Verba schließt die Politische Kultur ein: den Sinn nationaler Identität, die Einstellungen als 17

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 237 Tabelle 1 Demokratieprinzipien Kriterien für das Demokratieverständnis

Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit

Prinzipien des Parlamentarismus

Prinzipien der Demokratie

Verfassungsprinzipien

Regelakzeptanz, Schaffung und Sicherung der Freiheitsbedingungen

Pluralismus, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz

Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung

Verortung der idealtypischen Leitvorstellungen in der Verfassung

Vgl. Verfassung u. a.: Art. 3, Art. 5–15, Art. 48 Grundrechte/Grundpflichten: besonders Art. 128–131

Vgl. Verfassung u. a.: vgl. Bestimmungen des Parlamentarismus hinsichtlich des Reichstages, besonders Art. 20, 21, 36

Vgl. Verfassung u. a.: Präambel, Art. 1, Grundrechte/Grundpflichten: besonders Art. 109, 114, 116, 118, 123, 124, 125, 127, 134, 135–139, 141, 142–150, 160– 165

Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Bei der gesellschaftlichen Multiplikation der politischen Kultur ließe sich nun – in Anlehnung und Ergänzung zu Rohes Überlegungen – die Deutungskultur auch in eine Inhaltsseite und eine Ausdrucksseite unterscheiden. Als kulturelle Praxis beeinflußt die Vermittlungsform – die Ausdrucksseite – wiederum die Inhaltsseite der politischen Kultur. Sie ist deshalb nicht nur als ein Zugang zu Inhaltsseite zu betrachten, sondern besitzt auch politischen Eigenwert. Für die empirische Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen wird die politische Kommunikation – die Deutungskultur – im Stadtverordnetenkollegium funktional nach Inhalten und Formen unterschieden. Unter die Kommunikationsinhalte fallen alle direkten Äußerungen zum politischen bzw. gesellschaftlichen System, konkret zur Regierungsform, zur Gesellschaftsordnung und zu politischen Ereignissen. Gesucht wird nach den politischen Positionen und demokratischen bzw. extremistischen Botschaften der Kommunikatoren. Zugleich deuten Rhetorik, Lexik und Sprache diese Inhalte an. Diese indirekten Kommunikationselemente sind Teil des Politischen Stils der Stadtverordneten und verweisen ebenfalls auf politische Leitvorstellungen. Unter die Formen der politischen Kommunikation fallen ergänzend drei weitere Ebenen des Politi-

Beteiligter und als Zeitgenosse der Gesellschaft, Haltungen zu und Erwartungen von der Regierung sowie die Vorstellungen vom politischen Prozeß mit Blick auf die Entscheidungsfindung.

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Anita Maaß

schen Stils: die politischen Verhaltens-, Erscheinungs- und Handlungsweisen.21 Daraus leitet sich die Ausdruckseite der politischen Kommunikation ab. Diese verweist indirekt nochmals auf die politischen Inhalte (Leitvorstellungen). Tabelle 2 Kriterienraster zur Analyse der Deutungskultur Politische Inhalte Kommunikation = Direkte Äußerungen = Deutungskultur Inhaltsseite der Deutungskultur = Sprache

Formen Indirekte Ableitung = Ausdrucksseite der Deutungskultur = Auftreten

Politische Ebenen

Regierungsform (Stichworte: Diktatur, Führerstaat versus Soziale Demokratie, Rätedemokratie . . . )

Politische Verhaltensweise (= Grad der Integration der Stadtverordneten in die parlamentarische Kommunikation und Grad der Politisierung, Stichworte: Obstruktion, „Fensterreden“ . . .)

Wirtschafts- und Gesellschaftssystem (Stichworte: Sozialismus/ Kapitalismus sowie Arbeiterschaft/Proletariat, Volksgemeinschaft . . .)

Politische Erscheinungsweise (= Vermittlung von politischen Einstellungen und der Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Stadtverordneten, Stichworte: Handgreiflichkeiten, Absingen der Internationale . . . )

Politische Ereignisse und Politiker (Stichworte: Dawes-Plan, Rathenau-Mord, Hindenburg-Besuch . . .)

Politische Handlungsweise (= Formen der Verhandlungsführung und Problembehandlung, Stichworte: Anträge, Erklärungen, Abstimmungen . . .)

Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Die politischen Inhalte in den Reden der Stadtverordneten sowie die politischen Formen ihres Umgangs und Auftretens im Kollegium werden getrennt untersucht. Der Vorteil hierbei ist eine analytisch objektive Rekonstruktion der politischen Deutungskultur der einzelnen Akteure bzw. Parteien. Die dadurch erreichte Reduktion des komplexen Geschehens im Kollegium könnte sich für die Gesamtaussage als nachteilig erweisen. Kritisch ist nämlich zu prüfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Handlungsgeschehen derart analytisch aufzutrennen und damit aus dem sachlichen Kontext zu reißen.

21 Vgl. Marcus Hoinle, Was ist eigentlich politischer Stil?, in: Zeitschrift für Politik 49 (2002), S. 198–218.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 239

Dem ist die Problemstellung der Untersuchung entgegenzuhalten. Diese fragt bewußt nach dem – in der Institution des Kollegiums zum Ausdruck gebrachten – Demokratieverständnis sowie nach der Qualität der politischen Kultur. Es geht also nicht um interne Entscheidungszusammenhänge. Vielmehr richtet sich der Fokus auf die politische Außenwahrnehmung des Kollegiums als Teilkategorie des politischen Systems. Der politische Prozeß im Kollegium als solcher steht im Mittelpunkt. Das Stadtverordnetenkollegium gilt eben gerade als Vermittlungsinstanz von politischen Leitprinzipien der politischen Kultur sowie als Ort des gesellschaftlichen „Verinnerlichens“ und „Veräußerlichens“ von politischen Handlungen im Demokratisierungsprozeß der Weimarer Republik.

4. Demokratieverständnis und kommunikativer Prozeß a) Inhaltsseite der Deutungskultur In der chronologischen Darstellung der im Kollegium geäußerten politischen Standpunkte der Stadtverordneten kristallisierten sich zwei Spezifika heraus. Zum einen ist die Vielzahl der Diskurse bemerkenswert, in denen sich die Parteien zum politischen System, zur Regierungsform oder zu politischen Ereignissen direkt äußerten. Typische Themen waren hierfür u. a. die Aussprachen zur Verwendung von republikanischen Symbolen oder die Debatten über die Schulpolitik. Zum anderen meldeten sich nicht alle Parteien und Gruppierungen in den gleichen politischen Diskursen zu Wort. Vielmehr engagierten sie sich nur dann, wenn ihnen die Themen zur Durchsetzung der eigenen Interessen wichtig erschienen. Diskurse, in die sich die Stadtverordneten sämtlicher politischer Couleur gleichermaßen einbrachten, waren zumeist nur die Haushaltsdebatten oder die Wahl des Vorstandes. Richtet sich der Blick zunächst auf die Inhaltsseite der politischen Kommunikation, steht die Suche nach den vermittelten politischen Leitbildern im Stadtverordnetenkollegium im Vordergrund. Welchen tatsächlichen Rückhalt fand die Republik bzw. das demokratische System hier, und welche politischen Werte bzw. Orientierungsmuster wurden ausgehandelt? Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war innerparteilich zerrissen. Während unmittelbar nach der Revolution zunächst die gemäßigteren Mehrheitssozialisten die Oberhand in der örtlichen SPD hatten und demzufolge die republikanische Ordnung zu stabilisieren versuchten, dabei aber schon mehr oder weniger vorsichtig die Vermittlung sozialistischer Vorstellungen vorantrieben, setzten sich im Laufe der Zeit die radikaleren linken Sozialdemokraten immer stärker durch. Besonders der Anschluß jüngerer und parlamentarisch unerfahrener Männer aus der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutsch-

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lands (USPD) stärkte diese linken Kräfte. Die SPD proklamierte ab dem Jahr 1923 deutlich ihr Ziel der Fortentwicklung der demokratischen, parlamentarischen Republik von Weimar zu einem sozialistischen Staat. „Wir erblicken eine Beseitigung dieses großen Elends nur in einer völligen Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Überführung der kapitalistischen Produktion in sozialistische [. . .]. Den Weg, den wir da zu beschreiten haben, ist uns durch unser sozialistisches Programm klar vorgezeichnet. Er wird Erfolg bringen.“22 Sie erkannte die verfassungsmäßige Ordnung als Rahmenziel an, wollte aber das Wirtschafts- wie Sozialsystem im sozialen/sozialistischen Sinne deutlich umgestalten. Die Dresdner Sozialdemokraten befanden sich damit mehrheitlich im Gegensatz zu den Spitzen der Reichs-SPD. In den politischen Standpunkten der örtlichen Dresdner SPD im Stadtverordnetenkollegium spiegelte sich der linke Landeskurs der SPD wider, der sich im Freistaat besonders durch die linksozialistische Regierungspolitik bis hin zur gemeinsamen Regierungsbildung mit den Kommunisten im Sommer 1923 zeigte. Später wurde die kommunale SPD-Politik ebenso durch den sächsische Parteikonflikt zwischen der Mehrheit und Minderheit der SPD-Fraktion im Landtag beeinflußt. So befanden sich die gemäßigten rechtsozialistischen Kräfte im Jahr 1924 nur noch in der Altsozialdemokratischen Partei Sachsens (ASPS). Ihnen ging es stärker um eine auf Interessenausgleich der Klassen und Schichten bedachte, am Allgemeinwohl orientierte, kommunale Sachpolitik. Diese Gemäßigten sahen die verfassungsmäßige republikanische Ordnung als feststehend an, die es zu stabilisieren galt. Sozial und wirtschaftlich strebten sie behutsame Verbesserungen und keine kompromißlosen, möglicherweise sogar das politische Gefüge destabilisierende Reformen an. Erst Ende des Jahres 1928 sprach sich die Dresdner SPD – zunächst noch zögerlich, ab 1930 dann deutlicher – für die Stabilisierung der verfassungsmäßigen Ordnung der Republik aus. „Aber man kann mit dem bürgerlichen Gegner sehr wohl zusammenarbeiten, weil man da doch ein gewisses Verständnis voraussetzen kann [. . .]. Wenn wir solche Leute wie die Kommunisten, die überhaupt kein Verantwortungsgefühl dem Proletariat gegenüber haben, nicht mit einladen, so ist das richtig. Und wenn man die Nationalsozialisten, die auch in keiner Weise Verantwortungsgefühl besitzen, sondern nur auf die niedrigsten Instinkte irgendwie reflektieren, wenn man die nicht einlädt, dann ist das auch richtig. Man muß mit Leuten arbeiten, die wenigstens einigermaßen erwarten lassen, daß man sich mit ihnen verständigen kann.“23 Die Sozialdemokraten waren immer stärkeren politischen Angriffen, vor allem der KPD, ausgesetzt. Unter den wirtschaftlichen Zwängen verringerte sich 22 Stadtarchiv Dresden (StAD), 3.2.1 Stenographische Sitzungsberichte, 13. September 1923, S. 576. 23 StAD, 3.2.1 (FN 22), 3. Juli 1930, S. 675.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 241

auch ihr politischer Handlungsspielraum. Angesicht dieser akuten Problemlage in der Stadt und dem Erstarken der links- und rechtsextremen Parteien ging es der SPD nicht mehr um die Fortentwicklung des Landes zur sozialen Republik, sondern um die Verteidigung der Volksherrschaft. Die SPD nahm nun vehement den Kampf um den Bestand der Rechte und Freiheiten der kommunalen Selbstverwaltung gegen die diktatorisch erscheinenden Auswirkungen der Präsidialregierung Brüning auf. Für die Ausprägung eines gemeinsamen politischen Grundkonsenses der republiktragenden Kräfte kam dieses sozialdemokratische Bekenntnis zum Erhalt der verfassungsmäßigen Republik allerdings zu spät. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie vertraten die Anhänger der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) über den gesamten Zeitraum eine einheitliche positive Haltung gegenüber der demokratischen Republik. Diese erkannten sie in ihren konstitutionellen Grundlagen an. Dabei unterstützten die Liberalen nicht nur das in der Verfassung ausgedrückte „idealtypische“ Verständnis der Republik zur Staatsorganisation oder die Grundrechte bzw. Grundpflichten. Vielmehr zögerten sie nicht, die Republik auch mit ihren demokratischen Schwächen anzunehmen. Die DDP war die einzige Partei, die die Republik im Stadtparlament über die gesamten 14 Jahre in ihrem verfassungsmäßigen Bestand konsequent verteidigte. „Für uns als Verfassungspartei ist die Achtung vor den Gefühlen Andersdenkender eine Selbstverständlichkeit.“24 Allerdings unterschätzten die Bedeutung der permanenten kommunikativen Vermittlung demokratischer politischer Prinzipien, Leitbilder und Werte. Gerade die politisch im Reich und im Freistaat relativ stabile Zeit zwischen 1924 und 1927 verlief im Stadtverordnetenparlament äußerst kontrovers und konfliktgeladen. Die Demokraten vertraten hierbei ihre Positionen nicht laut und deutlich genug. Sie verpaßten es auch, sich als integrativ wirkende Partei für die politische Mitte zu positionieren. In den letzten Jahren der Weimarer Republik – in der Zerreißprobe des kommunalen Parlamentarismus – versteckten sich die Demokraten schließlich hinter ihrem Wortführer und späteren Oberbürgermeister Dr. Külz. Auf diese Weise gelang es ihnen nicht, die politische Deutungskultur zu prägen. Die Deutsche Volkspartei (DVP) ist aufgrund ihrer politischen Haltung im Stadtparlament mit dem Etikett „Vernunftrepublikaner“ zu versehen. Traditionelle Berufsgruppenvertreter und ehemalige Nationalliberale stellten sich nach der Revolution sofort hinter die Republik als neuer Regierungsform. Die politische Änderung der Regierungsform erkannten sie aufgrund der innen- und außenpolitischen Ereignisse des Krieges an. Dabei hatte sich für sie nur die Regierungsform, nicht der politische Wesenskern des „Staates“ Deutsches Reich geändert. Ihre politischen Leitvorstellungen zum deutschen Staat generierten sich aus dem Nationalstaatsgedanken bzw. der nationalstaatlichen Einheit, aus der deutschen Wirtschaftskraft vor dem Krieg und der – im Kaiserreich erwor24

StAD, 3.2.1 (FN 22), 27. April 1931, S. 348.

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benen – politischen Stärke Deutschlands. Die Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Parlamentarismus legten sie dabei zwar ihrem bürgerlichen Verständnis aus, akzeptierten diese aber grundsätzlich als politische Leitlinien für die Entwicklung des Deutschen Reiches. Der im Stadtparlament verkündete Vernunftrepublikanismus der DVP bezog sich auf die innere und äußere Stabilisierung des Deutschen Reiches, die bis 1928 durchaus im Rahmen der konstitutionellen Ordnung möglich erschien. „Die Meinung der Deutschen Volkspartei ist es, daß die Parteiverhältnisse sich zwischen rechts und links immer die Wage halten, und daß große Unterschiede dabei nicht in Erscheinung treten werden. Wir müssen meiner Meinung nach, und diese Politik haben wir volksparteilich immer vertreten, Rücksicht nehmen auf die andere Hälfte, ebenso wie wir Rücksicht verlangen für die bürgerlichen Interessen, die hinter uns stehen. Wir behalten dabei im Auge, die großen wichtigen Entscheidungen immer mit Rücksicht auf das Wohl der Allgemeinheit zu treffen.“25 Im Laufe der Zeit zeigten sich die Rechtsliberalen jedoch von der politischen Entwicklung unter demokratischen Vorzeichen enttäuscht. Gerade der parlamentarische Umgang im Stadtparlament entsprach in ihren Augen nicht den Prinzipien eines funktionierenden, demokratischen Parlamentarismus. Sie trauerten den alten Staatsvorstellungen des Deutschen Reiches nach. Dabei waren sie nicht unbedingt Monarchisten, vielmehr sehnten sie sich nach einem konsequent gelenkten, durchschaubaren und stabilen politischen Ordnungssystem. Die Vertreter der Wirtschaft, die Gruppe Handwerk, Handel und Gewerbe und der Allgemeine Hausbesitzervereines vertraten in den ersten Jahre ähnliche Ansichten, ebenso die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Wenngleich sie alle zunächst den deutschen Staat auf der Grundlage der Reichsverfassung anerkannten, distanzierten sie sich im Laufe der Jahre von dieser Ansicht. Ihre Kritik gegenüber dem republikanischen System zielte insbesondere auf die Qualität der politischen Kultur. Das von Parteienstreit und politischen Krisen erfüllte demokratische System, wie es beispielhaft auch auf kommunaler Ebene erkennbar war, schwächte in ihren Augen das Ansehen des deutschen Staates. Je weniger ihnen der Wiederaufbau eines politisch starken Nationalstaates unter den damaligen politischen Rahmenbedingungen möglich erschien, desto weniger akzeptierten sie das System. Allerdings verfolgten sie auf der kommunalen Ebene andere Ziele als im Land- oder Reichstag. Hier ging es ihnen um ganz konkreten persönlichen Einfluß sowie um die Wahrung ihres Besitzstandes. Da sie jedoch zu jeder Zeit die machtpolitisch wichtige zweite Körperschaft – den Rat – dominierten, befanden sie sich damit im Vergleich zu den Sozialisten in einer völlig anderen politischen Position. Sie brauchten im Stadtverordnetenkollegium keinen politischen Kampf um die politische Vorherrschaft in der Stadt zu führen. Sie proklamierten daher ausdrücklich eine sachorientierte Kommunalpolitik 25

StAD, 3.2.1 (FN 22), 23. Juni 1927, S. 641.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 243

und bemühten sich, die „große Politik“ in Form von Anträgen an den Reichsoder Landtag zu lassen. Mit Blick auf die politische Kommunikation gelang den reinen Wirtschaftsgruppen eine sachbezogene Positionierung besser und glaubwürdiger als den Parteivertretern von DVP bis DNVP. Im Vergleich zu diesen Parteien, lehnten die völkischen Gruppen, die Deutschsoziale Partei (DSP) und die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (Volksrechtspartei) – aus denen sich spätere NSDAP-Mitglieder rekrutierten – die Ausprägung des politischen Systems des Deutschen Reiches ab. Als wichtigstes Anliegen proklamierten sie den Wiederaufbau des deutschen Nationalstaates sowie die Erfüllung der Forderungen des deutschen Volkes bei der Aufwertung von Sparguthaben bzw. der Revision des Versailler Vertrages. Dabei vertraten sie antisemitische und rechtsextremistische Haltungen. Beide Parteien sahen sich in ihren Interessen durch die etablierten Parteien unzureichend vertreten. Sie fühlten sich nicht nur von den linken sozialistischen Parteien, sondern auch von den bürgerlichen Kräften enttäuscht. Die NSDAP ist in ihrer Entwicklung und Programmatik eindeutig eine rechtsextremistische Partei. Sie trat ab 1929 im Stadtverordnetenkollegium in Erscheinung. In ihren öffentlichen Äußerungen im Stadtparlament zur Republik gaben sich ihre Mitglieder anfangs scheinbar demokratisch, mit einer der DNVP-ähnlichen staatsbejahenden, die Qualität des demokratischen Systems aber ablehnenden, Haltung. Diesen Anschein wahrten sie vor allem im Jahr 1930 aufgrund ihres politischen Legalitätskurses. Anders als Rechtsliberale, Konservative oder Deutschvölkische bildete für sie zwar auch ein Deutsches Reich als starker Nationalstaat das Ziel ihrer Politischen Kommunikation, aber ihre politischen Leitbilder und Prinzipien lehnten sich weitaus weniger an traditionelle Vorstellungen bzw. Erfahrungen des Kaiserreiches an. Im Laufe der Zeit paßten die Nationalsozialisten ihre republikfeindlichen Äußerungen geschickt den wahrnehmbaren politischen Stimmungen in der Stadt bzw. im Land wie den strategischen politischen Entscheidungen der Gesamtpartei an. Populistisch wurde die „Erfüllungspolitik“ der Reichsregierung, d.h. die Begleichung der Kriegsschulden, kritisiert. Kommunalpolitische Fragen traten in ihrer Argumentation weniger in Erscheinung. „Durch jede Tributzahlung kommen wir ja dorthin, was wir täglich erleben müssen, daß die Erwerbslosen in ihrer tiefsten Not zu Mitteln greifen, die bloß mit Polizeigewalt niedergeschlagen werden könne. [. . .] Solange die Erfüllungspolitik durch die Reichsregierung und die damit verbundenen Parteien betrieben wird, wird das Elend so weiter fortgehen.“26 Die NSDAP achtete ferner darauf, die Republik bzw. den Staat so erscheinen zu lassen, als würde er an seinen eigenen Verkrustungen zugrundegehen. „Man sagt den Nationalsozialisten nach, sie hätten Putschabsichten gegen

26

StAD, 3.2.1 (FN 22), 13. Februar 1930, S. 185 f.

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die Republik. Wir bekämpfen zwar die Republik, aber nur ihren Inhalt.“27 Dagegen konstruierten sie die eigene Partei als eine neue politische Kraft mit neuen politischen Lösungen, die dem Deutschen Reich neuen Mut sowie Identität zu geben bereit war. Dem politisch und gesellschaftlich zerrissenen, wirtschaftlich arg geschwächten und außenpolitisch sich erniedrigt fühlendem deutschen Volk versprachen sie Arbeit, Lohn und Brot. Dieser Losung haftete zugleich der Klang von Ruhe, Ordnung und Sicherheit an. Damit punkteten sie nicht nur bei den Arbeitslosen, sondern vor allem in den bürgerlichen Kreisen. Ganz andere politische Haltungen vertraten die Linksextremisten, die Kommunisten. Sie lehnten konsequent und kompromißlos den deutschen Staat wegen seiner nationalstaatlichen Tradition wie dessen republikanisch-demokratische Regierungsform ab. Obgleich die KPD anfangs sachbezogen und konstruktiv im Stadtverordnetenkollegium mitarbeitete, verhehlte sie nie ihr Ziel der revolutionären Beseitigung des republikanischen Systems durch die Arbeitermassen zum Aufbau eines sozialistischen Staates unter der „Diktatur des Proletariats“. „Die restlose Hilfe kann uns nur werden durch die Beseitigung des Systems, das uns in dieses Elend getrieben hat.“28 Dabei schlossen sie auch einen Bürgerkrieg als Mittel zum Zweck nicht aus. Inhaltlich enthielten ihre politischen Reden insgesamt zwei Schwerpunkte: 1. die Proklamation des parlamentarischen wie außerparlamentarischen Kampfes der Arbeitermassen für die Errichtung eines sozialistischen Staates nach sowjetischem Vorbild. 2. den Kampf gegen die SPD, die die kommunistisch-revolutionären Ziele nicht konsequent mittrüge, sondern sich den Bürgerlichen anpaßte. Diese Argumentation behielt die Partei bis 1933 unverändert bei. Die Kommunisten radikalisierten dabei ihre politische Sprache bzw. Argumentation. „Wir bekämpfen die Reichsverfassung theoretisch wie praktisch mit aller Entschiedenheit, und zwar nicht als Reichsverfassung, sondern als Ausdruck dieser deutschen demokratischen Republik, die in Wahrheit nur eine kapitalistische Diktatur ist.“29 Das Auftreten und die politische Haltung der KPD im Dresdner Stadtverordnetenkollegium unterschied sich folglich – ähnlich wie das der NSDAP – nicht von ihrer politischen Agitation auf Landes- oder Reichsebene. Sie kämpfte gegen das gesamte politische System, ohne die konkreten Möglichkeiten politischer Entscheidung und Gestaltung auf kommunaler Ebene zu berücksichtigen. Dabei propagierten die Kommunisten ein neues politisches Staatssystem. Dieses sollte aber vollständig auf die Sowjetunion ausgerichtet sein. „Die kommunistische Stadtverordnetenfraktion ruft die werktätigen Massen auf, sich in die rote aktive Klassenfront einzureihen und unter Führung der Kommunistischen Partei zu kämpfen gegen die Hungerpolitik der sozialdemokratisch-bürgerlichen Koali27 28 29

StAD, 3.2.1 (FN 22), 7. April 1930, S. 396. StAD, 3.2.1 (FN 22), 23. November 1922, S. 2221. StAD, 3.2.1 (FN 22), 20. Dezember 1926, S. 1450.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 245

tion; gegen den Youngplan und das Räuberprogramm des Trustkapitals; gegen Massensteuern, Wucherzölle und Erhöhung der Tarife und Gebühren; gegen die Auslieferung der Kommunalbetriebe an das Privatkapital; gegen Massenentlassungen, für den Siebenstundentag, gegen Hungerschiedssprüche und Abbau der Sozialversicherung. Nieder mit dem Polizeiterror! – Nieder mit dem faschistischen Republikschutzgesetz! Es lebe der Kampf um die proletarische Diktatur! Es lebe der Kampf für ein Sowjetdeutschland!“30 b) Ausdrucksseite der Deutungskultur Die Untersuchung der Deutungskultur konzentriert sich auf die Spezifika des politischen Stil der Parteien sowie auf die Dauer der Abgeordnetentätigkeit, der sozialen Herkunft der Mandatsträger und auf ihr Geschlecht. Weiter ist das politische Zusammenspiel insgesamt, also der Wandel der parlamentarischen Kultur, im Zeitverlauf zu berücksichtigen. Infolge wechselnder Mehrheitsverhältnisse während des Untersuchungszeitraumes wandelte sich der politische Umgang des Kollegiums untereinander. Die chronologische Betrachtung der Parteien zeigt feine Nuancen ihres politischen Agierens sowie ihrer Strategien. Auf das kommunalpolitische Zusammenspiel schlugen sich beispielsweise interne Parteienkonflikte ebenso nieder wie reichsund landespolitische Entwicklungen oder die Wählkämpfe in Reich, Land und Kommune. Der politische Stil der bürgerlichen Parteien und Gruppierungen entsprach ihrem Verständnis als Sachpolitiker. Gewählt als Interessenvertreter von Berufsvereinigungen, Wirtschaftsgruppen sowie als Abgeordnete der politischen Parteien von DDP bis DNVP schlugen sich parteipolitische Denkweisen selten in ihren politischen Erscheinungs- und Verhaltensweisen nieder. In ihren politischen Handlungsweisen bemühten sich die Bürgerlichen weitgehend um konstruktives Verhalten. Sie integrierten sich in die parlamentarischen Strukturen und Verfahrensabläufe des Stadtverordnetenkollegiums. Diese gründeten sich ohnehin auf ihrem traditionellen Verständnis vom parlamentarischen Prinzip, obgleich sich die Mehrheitsverhältnisse verschoben hatten. Im Stellen von Anträgen aus macht- und parteitaktischen Gründen hielten sie sich zurück, während sie spezifische Sachinteressen mit entsprechenden Vorlagen durchzusetzen versuchten. Ihre Aktivitäten im Kollegium nahmen im Laufe der Zeit ab. Sie meldeten sich im Vergleich zu den Sozialdemokraten oder den Rechts- und Linksextremisten viel weniger zu Wort als es ihrer politischen Bedeutung entsprochen hätte und redeten wesentlich kürzer. Ihre politischen Aktivitäten blieben stärker Reaktionen auf Angriffe des politischen Gegners als eigene Aktio30

StAD, 3.2.1 (FN 22), 9. Januar 1930, S. 12.

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nen. Dies resultierte einerseits aus ihrem Selbstverständnis als Kommunalpolitiker und ihrer häufig langjährigen kommunalpolitischen Erfahrungen. Andererseits begründete sich dies mit ihren anderen Einflußmöglichkeiten auf die Kommunalpolitik. Während die bürgerlichen Parteien und Gruppierungen im Stadtverordnetenkollegium nur in der dritten Wahlperiode von 1924 bis 1926 die Mehrheit besaßen, stellten sie durchgehend bis 1932 die meisten Ratsmitglieder und besetzten den Oberbürgermeisterposten. 1921

1919

1924

4

4 B

14

8

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B

5

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30 A

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1926 D

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1932

1929 3

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111 ST U

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22

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7

A SPD B USPD C ASPD D KPD E DNVP F Bürgerl. Einh.-liste G Bürgerl. Ausch. H Freie Aussch. I Hausbesitzer J Beamte K Privatangest. L Handwerk M DVP N Zentrum O DDP/ Staatsp. P DSP Q Volksrechtsp. R NSDAP S Christl. Soz. T Überp. Rechte U Handel

E

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12

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2 1

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Quelle: Daten Stadtarchiv Dresden, eigene Zusammenstellung.31

Abbildung 2: Sitzverteilung (absolut) nach den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung von Dresden 1919 bis 1932

Ganz anders als die Bürgerlichen verhielten sich die Sozialdemokraten im Plenum, wodurch sie sich von ihrem politischen Stil vor dem Krieg und während des Krieges deutlich unterschieden. Die Sozialdemokraten versuchten nach 1919, als bisher zurückgedrängte Vertreter der Arbeiterschaft, an Einfluß zu gewinnen. Hierfür nutzten sie bewußt die politische Deutungskultur als Faktor zur Machtgewinnung für sich aus. Politisch kommunizierten in erster Linie die männlichen Fraktionsmitglieder. Die Frauen beschränkten sich – wie ihre bür31 StAD, 3.1., Litt. St. II, Nr. 178, Bd. 1918–1923, Bl. 100, 253; 3.1., Litt. St II, Nr. 214, Bd. I 1924–1926, Bl. 26, 408–409; 3.1, Litt. St II, Nr. 214, Bd. III, Bl. 52–54 sowie Die Großstadt Dresden, Kalender 1933, Dresden 1932, S. 107 f.

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 247

gerlichen Kolleginnen – zumeist auf soziale Themen oder auf Fragen der Fürsorge von Kriegshinterblieben bzw. Kriegsversehrten. Auffällig waren bei der SPD die Unterschiede in der politischen Positionierung entsprechend des Alters bzw. der Dauer der Abgeordnetentätigkeit. Diejenigen SPD-Mitglieder, die schon im Kaiserreich im Stadtverordnetenkollegium saßen, traten gemäßigter auf. Sie vermittelten über ihre Verhaltensweise stärker am Gemeinwohl als an parteipolitischen Prinzipien ausgerichtete Ansichten. Dagegen kämpften vor allem die jüngeren und nach 1919 neu ins Plenum eingezogenen Vertreter für deutlich parteipolitische Ziele. Sie stärkten den linken Flügel der SPD und gaben ihrer Partei im Dresdner Stadtverordnetenkollegium insgesamt einen linkssozialistischen Anstrich. Ferner rangen SPD und USPD im Plenum in den ersten drei Jahren erbittert um den politischen Vertretungsanspruch der Arbeiterklasse. Die Linkssozialisten integrierten sich anfangs in die parlamentarischen Formen, hielten jedoch bereits in der ersten Wahlperiode oft vergleichsweise lange politische Reden. Von Beginn an versuchten sie dadurch, zwar die politische Deutungskultur zu dominieren, nicht aber die parlamentarischen Abläufe zu stören. Zugleich erkannten sie die Bedeutung der Tribünenbesucher als politisches Machtinstrument. Teilweise versuchten sie deren Verhalten für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren. Der Zusammenschluß der USPD- und SPD-Fraktion 1922 veränderte das parlamentarische Auftreten der SPD, welches jetzt stärker durch die radikaleren Äußerungen der USPD-Abgeordneten geprägt wurde. Bestärkt wurde diese Entwicklung durch einen Elitenaustausch in der SPD, wodurch bis 1924 fast vollständig neue Abgeordnete ins Parlament einzogen. Die gemeinsame Beteiligung der SPD und KPD an der Landesregierung 1923, die Reichsexekution und die Abspaltung der Mehrheit der Landtagsfraktion mit der Gründung der ASPS (1924) schlugen sich ebenfalls auf das politische Verhalten der SPD im Stadtparlament nieder. Die älteren, gemäßigteren Sozialdemokraten organisierten sich auch hier in der ASPS und näherten sich in ihrer politischen Erscheinungsweise den Liberalen an. Dadurch verschärften sich jedoch die Grabenkämpfe innerhalb des sozialistischen Lagers. Lange politische Reden und scharfe, vielfach beleidigende Worte prägten den Umgang nicht nur zwischen SPD und KPD, sondern auch zwischen den Sozialdemokraten selbst. Zumeist schürten die Kommunisten diese politischen Kämpfe. Das politische Verhalten der Sozialdemokraten änderte sich noch einmal merklich ab 1927. Die SPD trat nun – in Abgrenzung zur KPD – als Verantwortungsträger der Kommunalpolitik auf. Eigene Störungsversuche oder Mißfallensbekundungen gegenüber dem Parlament oder den bürgerlichen Fraktionen unternahmen die Sozialdemokraten kaum mehr. Statt dessen mußten sie sich selbst stärker gegen die Angriffe der Kommunisten wehren. Die Kommunisten traten ab 1922 entweder neu ins Kollegium ein oder kamen aus den Reihen der ehemaligen USPD. Sie verfügten über keine parlamen-

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tarische Erfahrung aus dem Kaiserreich. Anfangs fügten sie sich zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen durchaus in das parlamentarische Prinzip ein. Doch bald änderte sich ihr politisches Verhalten. Prinzipielle machtpolitische Ziele der Kommunisten verdrängten ihre sachpolitischen Positionen. Häufig traten die Kommunisten daher mit Anträgen hervor, deren Forderungen unter den gegebenen wirtschaftlichen bzw. finanziellen Rahmenbedingungen unrealisierbar waren. Mit zahlreichen Vorlagen und Anträgen, deren Entscheidungsbefugnisse im Land- oder Reichstag lagen, versuchten sie, die Deutungskultur zu dominieren. Zugleich hielten sie politischen Propaganda- und Agitationsreden für die eigenen Anhänger auf der Tribüne, für die eigene Presseberichterstattung sowie zur Wählerwerbung bzw. als politische Überzeugungsarbeit. Mit der Verschärfung des politischen Kampfes der Kommunisten gegen die Sozialdemokraten und Bürgerlichen ab dem Krisenjahr 1923 nahmen die Störungen der parlamentarischen Arbeit durch Außenstehende zu. Unter den Vorzeichen bürgerlicher Mehrheiten im Parlament ab 1924 verstärkte sich dieses politische Verhalten der Kommunisten und bekam aufgrund des Stalinisierungskurses der Partei ab 1928 weiteren Auftrieb. Tabelle 3 Redestruktur im Parlament Parteien/Gruppen

AusschußAnzahl Abgeordneten Berichterstatter (Prozent) (Prozent)

Debatten- Antrags- bzw. Abgabe einer redner AnfrageErklärung steller (Prozent) (Prozent) (Prozent)

1919–1921 Beamte Freier Ausschuß Mehrheitssozialisten Bürgerl. Ausschuß Unabhängige Soz. Privatangestellte

13 14 46 17 5 5

15 9 41 25 7 3

12 18 20 29 18 4

7 21 28 24 15 5

0 9 5 41 45 0

5 42 36 10 7 1

2 44 36 10 8 0

17 44 15 15 8 1

25 41 16 9 8 1

0 53 20 7 7 13

1922 KPD bürgerl. Einheitsliste SPD USPD Beamtenliste Angestelltenliste

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 249 Parteien/Gruppen

Anzahl AusschußAbgeordneten Berichterstatter (Prozent) (Prozent)

Debatten- Antrags- bzw. Abgabe redner Anfrageeiner steller Erklärung (Prozent) (Prozent) (Prozent)

1924–1926 Beamte DDP DNVP DSP DVP/Zentrum Hausbesitzer Handwerk KPD SPD

1 9 13 7 15 4 9 13 28

0 10 11 3 13 4 11 23 24

0 7 8 11 8 3 7 32 24

1 4 10 12 8 1 5 40 19

6 0 6 24 0 0 12 24 24

4 7 12 13 4 8 13 3 35 1

1 5 12 13 4 3 20 1 40 0

2 4 9 8 5 8 29 12 23 0

0 3 7 6 3 2 37 6 34 0

2 2 8 15 0 4 25 13 31 0

1 7 9 16 4 8 9 1 37 1 5

2 5 7 16 5 6 12 2 40 1 3

0 4 7 9 2 6 32 2 20 3 13

0 4 8 6 1 3 41 2 26 1 7

0 3 3 14 0 10 28 0 28 0 14

1927–1929 ASPS DDP DNVP DVP Hausbesitzer Handwerk KPD Volksrechtspartei SPD Zentrum 1930–1932 ASPS Staatspartei DNVP/KVP DVP Hausbesitzer Handwerk KPD Überparteil. Rechte SPD Zentrum NSDAP

Quelle: Daten Stadtarchiv Dresden, eigene Zusammenstellung.

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Die Kommunisten kämpften vor allem um politisch einflußreiche Posten im Vorstand des Stadtverordnetenkollegiums. Durch diese wollten sie sich weniger in die parlamentarische Funktionsweise integrieren, sondern vielmehr Machtpositionen besetzen, um ihre politischen Ziele besser kommunizieren zu können. Auch für die Dresdner Kommunisten galt mit Blick auf ihr politisches Auftreten der Grundsatz der „totalen Konfrontation“.32 Die permanenten Konflikte zwischen den KPD und SPD entwickelten sich zu einem bedeutsamen Merkmal der parlamentarischen Kultur im Stadtverordnetenkollegium. Die Linksextremisten versuchten nicht zuletzt durch die direkte Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten Schwächen des parlamentarischen Prinzips aufzuzeigen. Ihr politischer Stil – in Form langer, vom Thema abschweifender politischer Reden und vieler Anträge – besaß für die Kommunisten eine wichtig politische Bedeutung. Mit ihren politischen Handlungs- und Verhaltensweisen demonstrierten sie die Ablehnung des parlamentarischen Systems. Indem die Kommunisten als Redner eindeutig die politische Kommunikation dominierten, verlor das Kollegium an Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit. Die häufigen Reden der Kommunisten verlängerten die Sitzungen und brachten Sitzungsabbrüche bzw. Verschiebungen von Tagesordnungspunkten mit sich. Die übrigen Parteien reagierten darauf, indem 1926 eine strenger geregelte Geschäftsordnung des Stadtverordnetenkollegiums erlassen wurde. Anfänglich lehnten die Sozialdemokraten diese als undemokratisch ab, weil sie u. a. Beschränkungen der Redezeit enthielt. Das demokratische Recht der Meinungsfreiheit schien ihnen dadurch gefährdet. Nach Einigungsverhandlungen der Parteien akzeptierten schließlich auch die Sozialdemokraten die neue Geschäftsordnung und setzten sie gemeinsam mit den Bürgerlichen gegen den massiven kommunistischen Widerstand in Kraft.33 Im Laufe der Zeit nutzte der sozialdemokratische Vorsteher die Vorschriften der Geschäftsordnung konsequent, um die Redezeit der Kommunisten zu beschränken oder um kommunistische Abgeordnete nach verbalen Entgleisungen aus den Parlamentssitzungen zu entfernen. Auf diese Weise versuchten sie, die parlamentarische Arbeit im Interesse der Demokratie zu schützen und zu stabilisieren. Im Jahr 1929 wurden erstmals vier Vertreter der NSDAP ins Plenum gewählt. Die Nationalsozialisten waren bis auf eine Ausnahme parlamentarische Neulinge. Die Fraktion war zwischen 1929 und 1932 aber durchschnittlich nicht deutlich jünger als die übrigen politischen Gruppen. Frauen saßen in diesem Zeitraum nicht für die NSDAP im Stadtparlament. Die Nationalsozialisten äh32 Vgl. zum politischen Hintergrund des Linksrucks die Darlegungen von Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 464, S. 661–697. 33 Vgl. StAD, Hist. Dresd. 2092, Geschäftsordnung der Stadtverordneten zu Dresden, 16. März 1926 sowie Debatte in: StAD, 3.2.1 (FN 22), 3. Dezember 1925, S. 1128–1142.

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nelten in ihrem parlamentarischen Auftreten den Kommunisten. Anders als jene nahmen die Nationalsozialisten aufgrund ihrer Legalitätsstrategie sensibel öffentliche Stimmungen war und paßten sich den parlamentarischen Regeln an. Die Intensität und Radikalität ihrer Äußerungen schwankte und hing von den großen politischen Ereignissen bzw. Zielen ab. Anders als die Kommunisten, oder noch Mitte der zwanziger Jahre die Sozialdemokraten, versuchten die Nationalsozialisten nicht, sofort aggressiv die Politische Kommunikation zu dominieren. Auf der einen Seite strebten sie danach ihre politische Auffassung inhaltlich zu vermitteln und entsprechende Machtpositionen zu besetzen, aber auf der anderen Seite fielen ihre politische Verhaltens- und Erscheinungsweise im Vergleich zu den Kommunisten weniger negativ auf. Sie versuchten nicht das parlamentarische Handeln bewußt zu stören oder durch ewig lange Fensterreden Entscheidungen zu blockieren. Außerdem mußten sie sich anfangs erst mit dem parlamentarischen Verlauf bekannt machen, was auch zu peinlichen Fehlern – wie der Nichtunterstützung der Dringlichkeit von Anträgen der eigenen Fraktion – führte.34 Anders als die Linksextremisten demonstrierten sie ihre politische Auffassung zusätzlich über ihre äußere Erscheinungsweise im Parlament. Sie trugen bei bestimmten Anlässen die „braunen Hitlerhemden“, u. a. am 23. Juni 1932 nach der für sie erfolgreich verlaufenen Landtagswahl.35 Ein bedeutsames Charakteristikum der parlamentarischen Kultur ab 1930 war eine stärkere Einflußnahme der Tribünenbesucher auf die Verhandlungen. Wie in den Vorjahren auch, waren die Zuschauerränge stets mit interessierten Besuchern gefühlt. Nun drängten sich aber neben den meist kommunistischen Anhängern die Sympathisanten der Nationalsozialisten auf der Galerie. Dabei handelte es sich auf beiden Seiten zumeist um Jugendliche, die sich von den jeweiligen Parteien zu Zwischenrufen und zum Lärmen aufstacheln ließen. In fast jeder Sitzung sah sich der Vorsteher daher genötigt, die Tribünenbesucher zur Ordnung zu rufen. Die politische Front – ganz besonders innerhalb des sozialistischen Lagers – blieb in den Krisenjahren ab 1930 bestehen. Der feindliche und die Abgeordneten vielfach in ihrer Person angreifende Streit zwischen den Fraktionen prägte den politischen Stil im Parlament. Das ewige Gezänk zermürbte die Abgeordneten, im sozialistischen Lager wie im bürgerlichen. Politische Werte im Umgang miteinander hatten in den Jahren an Wert verloren. Sachlichkeit wurde durch Propaganda ersetzt. Obgleich sich SPD und Bürgerliche zwar in der Ablehnung des parlamentarischen Auftretens der Extremisten einig waren, blieben sie in inhaltlicher Hinsicht weit voneinander getrennt.36

34 35 36

Vgl. StAD, 3.2.1, 6. Februar 1930, Dringlichkeitsantrag der Nationalsozialisten. Vgl. Dresdner Anzeiger vom 24. Juni 1930. Vgl. StAD, 3.2.1. (FN 22), 1930, S. 439, 448.

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5. Zusammenfassung Welche Form politisch-parlamentarischer Kultur bildete sich auf kommunaler Ebene in der ersten deutschen Republik heraus? – Die Versammlung der Stadtverordneten war kein Verwaltungskollegium, welches als Organ der kommunalen Selbstverwaltung nur mit den eigenen Angelegenheiten und Regelungsaufgaben der Kommune beschäftigt war. Tatsächlich nahm dieses Gremium im Laufe der Zeit immer stärker politische Züge an. Als Repräsentationsorgan der städtischen Bevölkerung entwickelte es sich zu einem städtischen Parlament und wurde von einzelnen Fraktionen als verlängerter politischer Arm der Reichs- und Landespolitik betrachtet. Das im Stadtverordnetenkollegium durch die Kommunalpolitiker zum Ausdruck gebrachte Republikverständnis zeigte, wie stark in allen Kreisen und zu allen Zeiten derartige politische Fragen eine Rolle spielten. Das Bedürfnis, sich über das politische Werteverständnis der Zeit, über die Qualität der Republik, ihre Stabilisierung, Verbesserung oder Beseitigung auszutauschen, war groß. Die Ausformung der Demokratie war auf den gegenseitigen Austausch über ihre politischen Leitbilder, Prinzipien und ihr Werteverständnis angewiesen. Bis zum Ende der zwanziger Jahre gab es gegensätzliche Auffassungen der einzelnen politischen Parteien bzw. Gruppierungen zum Deutschen Reich als Staat und zur Republik als dessen Regierungsform. Damit existierten nicht nur unterschiedliche politische Deutungen, sondern hieraus ergaben sich zugleich auch verschiedenartige Formen politischer Stile. Die Frage war, ob die jeweiligen Politiker die Verantwortung für den Fortbestand der Republik zur Stabilisierung des Staates zu tragen bereit waren. Dies prägte wesentlich den Umgangsstil der Abgeordneten und ihr kommunalpolitisches Verständnis. Für das Erkenntnisziel der Untersuchung – der Frage nach dem Charakter der Demokratie – bedeutet diese Einschätzung die Bestätigung der These, die lokale Politik sei eine „Schule der Demokratie“. Auch in der Weimarer Republik erlernten und vermittelten Stadtverordnete als Repräsentanten der Einwohnerschaft parlamentarische Grundprinzipien und politische Leitbilder. Die politische Polarisierung in ein sozialistisches und bürgerliches Lager in der politischen Kultur des Stadtparlaments sowie die Grabenkämpfe innerhalb des sozialistischen Lagers erwiesen sich als politisch destruktiv. Den etablierten und staatstragenden Parteien gelang es nicht, dem Eindruck von einer kommunalen Chaospolitik entgegen zu treten. Am Ende siegten die republikfeindlichen Kräfte. Das republikanische System wurde mittels demokratischer Mittel und gleichsam auf demokratischem Wege beseitigt. Was in den Forschungen auf Reichs- und Landesebene als tragischer Widerspruch erscheint, erweist sich auf kommunaler Ebene dagegen eher als funktionale Konsequenz: Die Beschneidung der demokratisch-parlamentarischen

Parlamentarismus zwischen „Demokratisierung‘‘ und „NS-Gleichschaltung‘‘ 253

Kommunalpolitik schien im Interesse der Aufrechterhaltung der Kommunalen Selbstverwaltung dringend notwendig zu sein. Die Unzufriedenheit mit der Form bzw. Qualität der demokratischen Kommunalpolitik und der Wille zum Wiederaufbau eines starken deutschen Staates, deren unterste Funktionsebenen die Kommunen waren, griffen ineinander. Nachdem die bis 1930 verantwortlichen Parteien unter den gegebenen Umständen keine Lösungsmöglichkeiten sahen und deprimiert bzw. hoffnungslos die Republik, nicht jedoch den Staat, aufgaben, traten die Nationalsozialisten als neue Verantwortungsträger für den deutschen Staat auf. Die von den einzelnen politischen Kräften vertretenen differenten politischen Vorstellungen im Zusammenhang mit Krisenerfahrungen und Identitätsverlust bündelten sich am Ende im offensichtlichen Wählerwillen, den Nationalsozialisten eine Chance zu geben. Im Frühjahr 1933 bestand schließlich ein Grundkonsens der Hitlersympathisanten wie Hitlergegner: Der deutsche Staat war vor einem Zusammenbruch zu retten, und auch die Kommune als das „kleine“ politische System war unter den bisherigen politischen Gegebenheiten offenbar nicht mehr gestaltbar. Das demokratische System, mithin das parlamentarisch-demokratische System auf kommunaler Ebene, war bereits lange vor dem überdeutlichen Stimmengewinn der Nationalsozialisten aufgegeben worden bzw. funktionsuntüchtig. Die Nationalsozialisten mußten tatsächlich nichts mehr „zerstören“. Damit bestätigte sich die Einschätzung des Oberbürgermeisters Dr. Wilhelm Külz, die Lebensfragen der Selbstverwaltung seien nicht durch die Parteipolitik zu lösen. Dennoch brachte auch in Dresden erst die sich immer weiter verschärfende wirtschaftliche und soziale Krise die Nationalsozialisten an die Hebel der Macht. Während sie anfangs nur für einige Wählerschichten eine Alternative waren, wurden sie später angesichts der massiven Hoffnungslosigkeit für viele entweder zum Rettungsanker oder gar zum Protesthammer. Im Jahr 1933 gaben ein Viertel der Wähler die damals herrschende politische Kultur und das demokratische System der Republik auf. Mit den Wahlgewinnen der NSDAP war zwar der Übergang von der Demokratie zu einem autoritären Führerstaat denkbar. Ungeahnt waren aber das Ausmaß und die Schnelligkeit der politischen Umgestaltung.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei Die Mitgliederentwicklung der Deutschen Volksunion Von Stefan Mayer

1. Einleitung Im Jahr 1987, dem Jahr ihrer Gründung, gelang der „Deutschen Volksunion“ (DVU) mit ihrem ersten Wahlantritt der symbolträchtige Sprung in die Bremische Bürgerschaft. Bei den folgenden Urnengängen konnte sich die jüngste rechtsextremistische Partei Deutschlands im Kreise der deutschen Rechtsparteien etablieren. Dennoch sind es weniger die Wahlerfolge der DVU, die seit 1987 ein neues Kapitel rechtsextremistischer Parlamentsgeschichte schreiben. Vielmehr zog mit der Partei ein neuartiger Politikansatz in die Parlamente Bremens, Schleswig-Holsteins, Sachsen-Anhalts und Brandenburgs ein. Der Bundesvorsitzende Gerhard Frey und seine DVU stehen in zuvor nicht gekanntem Ausmaß für die Kommerzialisierung der Parteipolitik. Wie bei kaum einer anderen Partei liegt die Zielsetzung der DVU zwischen politischen und kommerziellen Interessen im Dunkeln. Was also veranlaßte Gerhard Frey im Laufe der Jahre unter dem Oberbegriff DVU ein weitverzweigtes Organisationsgeflecht zu entwickeln, das heute neben dem Verein und der Partei drei sogenannte Aktionsgemeinschaften, eine Wochenzeitung sowie einen Literatur- und Devotionalienversand umfaßt? Als politische Partei im Sinne des Art. 21 Grundgesetz (GG) verfügt die Frey-Partei ihrem unmittelbaren verfassungsmäßigen Auftrag und Anspruch nach gegenüber allen anderen Formen der Interessenorganisation über eine herausgehobene (Rechts-)Stellung im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Diese Sonderstellung beruht auf den speziellen Funktionserwartungen des Ordnungssystems an die politischen Parteien. Ausdruck ihrer Stellung im Staatsaufbau ist die Gründungsfreiheit, die Garantie des Mitwirkens an der politischen Willensbildung des Volkes (Betätigungsfreiheit), das System der unmittelbaren und mittelbaren Parteienfinanzierung sowie die erhöhte Bestands- und Schutzgarantie.1

1 Vgl. u. a. Theodor Maunz/Günter Dürig/Roman Herzog, Grundgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung Lfg. 23, München 1994, S. 14–20.

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Stefan Mayer

Dem verfassungsrechtlich privilegierten Status der Parteien und ihren im Parteiengesetz (PartG) näher bezeichneten Aufgaben (§ 1 PartG) stehen nach dem Parteienbegriff des § 2 PartG jedoch auch besondere Erwartungen an ihr Erscheinungsbild gegenüber. Diesen Erwartungen wird die DVU vielfach nur unzureichend gerecht. So zeichnet sich ihre innere Ordnung mitsamt dem angeschlossenen Verein und den Vorfeldorganisationen „Initiative für Ausländerbegrenzung“ (I.f.A.), „Ehrenbund Rudel“ und „Aktion Oder-Neiße“ (AKON) unter dem Vorsitz Gerhard Freys weniger durch eine nach demokratischen Grundsätzen ausgestaltete als vielmehr durch eine zentralistische Führungsstruktur aus. Die extreme ideologische Stoßrichtung des Parteiprogramms sowie vor allem die Aussagen und Publikationen ihrer Funktionäre und Mandatsträger weckten erhebliche Zweifel an der Verfassungstreue der DVU. Nicht zuletzt scheint bei den seltenen öffentlichen Auftritten, den öffentlichkeitswirksam inszenierten Wahlkämpfen sowie der Parlamentsarbeit der Partei keineswegs die Vermittlung konkreter politischer Programme oder Lösungsansätze im Vordergrund zu stehen, die den aktuellen Problemstellungen angemessen wären. Oftmals tritt die Teilhabe am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß zurück hinter den eindringlichen, ideologisch verbrämten Spenden-, Beitritts- und Kaufappellen für die hauseigenen Organisationen und Erzeugnisse. Als kommerzieller Unternehmer betreibt Gerhard Frey neben der DVU eine gut eingespielte und florierende Verlagsmaschinerie. Das publizistische Flaggschiff, die in der „DSZ-Druckschriften- und Zeitungsverlag GmbH“ (DSZ-Verlag) erscheinende „National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung“ (NZ), ist seit Jahren unangefochten die auflagenstärkste rechtsextremistische Wochenzeitung in Deutschland. Aufgrund der Stellung Freys als Verleger und Autor sowie gleichzeitig als DVU-Bundesvorsitzender muß die NZ nicht nur als offizielles politisches Sprachrohr Gerhard Freys, sondern auch als halboffizielles ideologisches Sprachrohr seiner Partei gelten. Ebenso wie die NZ dient die „Freiheitliche Buch- und Zeitschriftenverlag GmbH“ (FZ-Verlag) mit dem angegliederten Devotionalien-Versandhandel „Deutscher Buchdienst“ und dem Reiseveranstalter „Deutsche Reisen“ dem gewinnträchtigen Geschäft der Verbreitung des politisch-ideologischen Gedankenguts. Zu den Einkünften aus den Verlagsunternehmen gesellen sich erhebliche Zinseinnahmen aus dem Kreditgeschäft, denn Frey vergibt zu marktüblichen Zinssätzen Kredite an seine Partei. Beide Seiten des Frey’schen DVU-Projekts – die parteipolitische und die kommerzielle – sind eng miteinander verflochten, sie ergänzen sich gegenseitig und sind etablierte Bestandteile ihres jeweiligen Marktes. An der Spitze eines jeden Teils des DVU-Komplexes steht Gerhard Frey, im organisatorischen Zentrum des Netzwerks, die Partei. Im Gegensatz zum kommerziellen Erfolg ist der DVU der parteipolitische Gestaltungserfolg allerdings bislang weitgehend versagt geblieben.2 Damit stellt sich die Frage nach der Funktion der DVU innerhalb des Organisationsgeflechts. Gerhard Frey hat den Parteienstatus stets plan-

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

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voll und konsequent zu nutzen gewußt. Die Existenz der Partei bietet ihm den legalen organisatorischen Rahmen für die Verfolgung seiner wirtschaftlichen Interessen. Die Politik wird so zum Vehikel des Geschäfts – und umgekehrt. Einerseits nutzt Frey die Partei zur finanziellen Vorteilsnahme, andererseits setzt er seine finanziellen und publizistischen Möglichkeiten zum Erhalt der DVU ein. So bleibt es in letzter Konsequenz fraglich, ob der Parteibesitzer Gerhard Frey mit seiner DVU überhaupt eine politische Vision verfolgt. Womöglich dient ihm der Parteienstatus lediglich als rechtliches Fundament, auf dem das Geschäft mit der Politik gedeiht und das ein Vorgehen gegen die ideologisch gefärbte Werbe- und Unternehmenstätigkeit erschwert. Muß im Zusammenhang mit Gerhard Frey und seiner DVU nicht statt von der Kommerzialisierung der Parteipolitik sogar von der Politisierung der kommerziellen Eigeninteressen gesprochen werden? Entspricht die DVU in ihrer derzeitigen Erscheinungsform tatsächlich noch dem Leitbild des Parteiengesetzes, oder bildet die Partei nicht vielmehr den Dreh- und Angelpunkt eines überwiegend unpolitischen und gewinnorientierten Netzwerks? Ist die DVU überhaupt eine politische Partei im Sinne des Art. 21 GG? Die Antwort auf diese Frage liefert eine Analyse der rechtsextremistischen Partei anhand der Beurteilungskriterien des Parteiengesetzes. Als wesentliche Merkmale des Partei-Seins postuliert das Parteiengesetz die Dimensionen der Organisation, der Ideologie und der Strategie. Es verweist auf das Konzept des „Gesamtbilds der tatsächlichen Verhältnisse“ (§ 2 PartG). Bereits ein erster Blick auf die Anfänge der DVU fördert eine Eigentümlichkeit zu Tage: den rasanten Anstieg der Zahl ihrer Anhänger. Am Beginn der Suche nach einer Antwort steht somit die Betrachtung der organisatorischen Verfaßtheit der DVU, insbesondere der Mitgliederentwicklung und der geographischen Entfaltung der Partei.

2 Vgl. CDU-Stadtverordnetenfraktion Bremerhaven, 18 Jahre sind zuviel! Die DVU in der Stadtverordnetenversammlung, Positionspapier, Bremerhaven 2005; Jochen Grabler, Ein Jahr DVU-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft: Mißbrauch des Parlaments. Studie im Auftrag der Bürgerschaftsfraktion „Die Grünen“, Bremen 1992; Jürgen Hoffmann/Norbert Lepszy, Die DVU in den Landesparlamenten: inkompetent, zerstritten, politikunfähig. Eine Bilanz rechtsextremer Politik nach zehn Jahren, St. Augustin 1998; Britta Obszerninks/Matthias Schmidt, Die Parlamentsarbeit der DVU in den Hamburger Bezirksversammlungen. Eine Dokumentation, Hamburg 2001; SPD-Landtagsfraktion Brandenburg, Die Deutsche Volksunion (DVU), Potsdam 2005.

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Stefan Mayer

2. Begriffe und Beurteilungskriterien a) Der Begriff „Rechtsextremismus“ Angesichts der vielfältigen Verschränkungen im Organisations- und Wirkgeflecht der DVU kann die Frage nach dem Status der rechtsextremistischen Partei nur auf der Grundlage eindeutiger Begrifflichkeiten geklärt werden. Die Vorstellungen über den konkreten Inhalt der Rechtsextremismus-Kategorie gehen jedoch mangels einer allgemeingültigen Definition weit auseinander; es herrscht eine Vielfalt konkurrierender Konzepte zur Beschreibung des Phänomenbereichs.3 In der Alltagssprache wie in der wissenschaftlichen Publizistik taucht der Rechtsextremismusbegriff neben so unterschiedlichen Bezeichnungen wie Neonationalsozialismus, Faschismus, Nationalismus, Rechtsradikalismus oder Rechtspopulismus auf. Nicht an jeder Stelle lassen sich diese schillernden Begriffe trennscharf fassen, und nicht in jedem Fall werden sie trennscharf angewandt. Vielfach sind sie mit politischen Motiven aufgeladen und finden als instrumentelle Kampfbegriffe Verwendung in der öffentlichen Diskussion. Der Wortbestandteil Extremismus bezeichnet als Oberbegriff kein einheitliches, sondern ein vielschichtiges Phänomen, das im demokratischen Verfassungsstaat viele Gesichter hat und sich einer übereinstimmenden Definition weitgehend entzieht. Für die Beurteilung der DVU hinsichtlich ihres Parteienstatus reicht es allerdings aus, sich einer mit Blick auf das Erkenntnisinteresse operationalisierbaren Definition anzuschließen, etwa der normativen Sichtweise des politischen Extremismus’ als Grenzüberschreitung nach Backes und Jesse: Extremismus wird in diesem Sinne verstanden als „Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen [. . .], die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen“.4 Bezugspunkt des Extremismus ist demnach der demokratische Verfassungsstaat, der Extremismus steht in einem „antithetischen Verhältnis“5 zur staatlichen Ordnung. 3 Vgl. u. a. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Totalitarismus. Extremismus. Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung, 2. Aufl., Opladen 1985, S. 17–27; Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe. Positionen. Praxisfelder, 2. Aufl., Wiesbaden 2001, S. 22–84; Wolfgang Kowalsky/Wolfgang Schroeder, Rechtsextremismus. Begriff. Methode. Analyse, in: Berliner Debatte INITIAL 3 (1994), S. 87–94; Gero Neugebauer, Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 14–37; Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus. Eine kritische Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung, 2. Aufl., Bonn 1995, S. 14–29; Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2005, S. 13–28. 4 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 45. 5 Ebd., S. 53.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

259

Die Definition des Extremismus von Backes und Jesse trägt als „Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen“ der Komplexität des Phänomens Rechnung. Dies gilt auf allen Ebenen, sowohl auf der organisatorischen und ideologischen als auch auf der strategischen. Die „Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln“ verweist das politische Handeln auf die Grenze der Verfassungsmäßigkeit. Diese Grenze konkretisierte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1952. Anläßlich des Verbotsverfahrens gegen die „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) bestimmte es den Kernbereich des deutschen demokratischen Verfassungsstaats: die freiheitliche demokratische Grundordnung. „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“6 Extremisten überschreiten diese Grenze des freiheitlichen demokratischen Ordnungssystems in unterschiedlicher Weise. Der Wortbestandteil „Rechts“ verweist somit auf die inhaltliche Ausrichtung, die ideologischen Merkmale des Extremismus im konkreten Fall. Mit diesem normativen Begriffsverständnis wird eine Standortzuschreibung möglich und die Etikettierung einer Partei wie der DVU als rechtsextremistisch im Sinne einer Gegenposition zum demokratischen Wertekonsens nachprüfbar (ex negativo). Für die Beantwortung etwa der Frage nach den Ursachenzusammenhängen bei der Entstehung rechtsextremistischer Einstellungen und Orientierungsmuster, nach den Wurzeln des Rechtsextremismus, würde dieses Begriffsverständnis dagegen zu kurz greifen. Denn je nach Sichtweise ist der Rechtsextremismus nicht nur ein politisches, sondern auch ein soziales und/oder psychologisches Phänomen.7 Vor diesem Hintergrund können durchaus mehrere Gegenstandsdefinitionen nebeneinander existieren.8

6

SRP-Urteil BVerfGE 2, 1 (1); vgl. KPD-Urteil BVerfGE 5, 85. Vgl. u. a. Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 1999, S. 97–110; Wilfried Schubarth, Pädagogische Strategien gegen Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt. Möglichkeiten und Grenzen schulischer und außerschulischer Prävention, in: Ders./Stöss (FN 3), S. 251–270. 8 Vgl. Carmen Everts, Politischer Extremismus. Theorie und Analyse am Beispiel der Parteien REP und PDS, Berlin 2000. 7

260

Stefan Mayer

b) Der Begriff „Partei“ Gleiches gilt nicht für den Parteienbegriff, dieser ist einheitlich bestimmt. Politische Parteien sind unverzichtbare Bestandteile freiheitlicher demokratischer Ordnungssysteme. Sie erfüllen eine verfassungsrechtlich notwendige, öffentliche Aufgabe. Ihrer Bedeutung wird mit ihrer Verankerung in der Verfassung Rechnung getragen (Institutsgarantie): „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG). Zum Begriff der Partei schweigt das Grundgesetz jedoch und überläßt seine nähere Bestimmung dem einfachen Gesetzgeber (Art. 21 Abs. 3 GG). Es dauerte bis ins Jahr 1967, bis dieser dem Verfassungsauftrag mit dem aus der politischen Praxis der Bundesrepublik Deutschland gewonnen Parteiengesetz nachkam. § 2 S. 1 des Gesetzes gilt seitdem – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – als Legaldefinition des Parteienbegriffs:9 „Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung bieten.“ Das Konzept des „Gesamtbilds der tatsächlichen Verhältnisse“ des § 2 PartG eröffnet dem Betrachter einen weitreichenden Beurteilungs- und Interpretationsspielraum sowohl in der Frage des Status als auch in der Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Partei.10 Die bewußte Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses verlangt von den politischen Parteien für die juristische Zuerkennung des Parteienstatus lediglich die formal erkennbare Absicht und Fähigkeit, die Systemfunktionen einer Partei zu erfüllen. Ein Wert- oder Qualitätsurteil – insbesondere hinsichtlich ihrer Verfassungstreue – ist damit noch nicht abgegeben. Eine Analyse der DVU hat somit die Merkmale des Parteiwesens nach den rechtlichen und politischen Vorgaben bzw. der Rechtsstellung der Parteien und den Funktionserwartungen an sie gleichermaßen zu berücksichtigen. Von der Definition des Parteienbegriffs lassen sich die analytischen Kriterien der Betrachtung ableiten. Als Legaldefinition des Parteienbegriffs benennt der § 2 des Parteiengesetzes die für die Beurteilung des Gesamtbilds der tatsächlichen Verhältnisse einer Partei wesentlichen Gesichtspunkte: Organisation, Ideologie und Strategie. Tsatsos und Morlok sprechen von den Merkmalen Struktur, Zielset9

Vgl. u. a. BVerfGE 24, 260 (264); 47, 198 (222); 79, 379 (384); 89, 266 (270). Vgl. Wiebke Wietschel, Unzulässige Parteiverbotsanträge wegen Nichtvorliegens der Parteieigenschaft, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 28 (1996), S. 208–211. 10

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261

zung und Tätigkeitsart.11 Backes verwendet die Bezeichnungen Doktrin, Organisation und Aktion; er sieht in diesen Untersuchungsfeldern sogar die Grundelemente einer Phänomenologie des politischen Extremismus überhaupt.12 Als organisatorisches Merkmal des Parteiwesens setzt das Parteiengesetz die „Vereinigung von Bürgern“ voraus. Ihr Zusammenschluß muß im Unterschied zu allen anderen Vereinigungen im politischen Raum „dauernd oder für längere Zeit“ und „für den Bereich des Bundes oder eines Landes“ angelegt sein. Nur so kann eine Partei in zeitlicher wie personeller Hinsicht, „insbesondere nach Umfang und Festigkeit der Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder“ die Fähigkeit des Eintretens für ihre spezifischen Ziele einerseits und für das Erfüllen ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben andererseits glaubhaft machen, „eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung bieten“. Der Grad der Organisation einer Partei kann dabei – horizontal wie vertikal – äußerst unterschiedlich ausfallen. Der Prozeß der innerparteilichen Willensbildung und Entscheidungsfindung, die innere Ordnung des Parteilebens, muß in jedem Fall demokratischen Grundsätzen gehorchen. Das ideologische Kriterium steht im Zusammenhang mit der im Vergleich zu anderen Organisationsformen besonderen Zielsetzung einer Partei. Sie versucht, wesensmäßig „auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken“ zu können. Diese Zielsetzung muß in ihrem Programm sowie in allen anderen ihr zurechenbaren Verlautbarungen zu Fragen von politischer Relevanz ernsthaft vermittelt werden. Die inhaltliche Ausrichtung der angestrebten politischen Willensbildung kann gemäß der Vielfalt weltanschaulicher Grundüberzeugungen höchst unterschiedlich ausfallen und einen unterschiedlichen Stellenwert für die jeweilige Partei besitzen. Einschränkend wirkt jedoch die inhaltliche Bindung der Parteidoktrin an die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unter den strategischen Aspekt des Parteiwesens fallen alle nach außen gerichteten Aktivitäten einer Partei, ihr „Hervortreten in der Öffentlichkeit“. Die Art ihrer öffentlichen Tätigkeit muß gemäß der Zielsetzung des Mitwirkens an der politischen Willensbildung und der Vertretung des Volkes in den Parlamenten des Bundes oder eines Landes zumindest die wiederholte Teilnahme an Wahlen auf einer dieser Ebenen beinhalten. Die öffentliche Parteiarbeit dient der Werbung für und dem Erreichen der formulierten politischen Inhalte und muß gleich den organisatorischen Anforderungen zumindest „eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung bieten“. Die Bedeutung direk11 Vgl. Dimitris Th. Tsatsos/Martin Morlok, Parteienrecht. Eine verfassungsrechtliche Einführung, Heidelberg 1982, S. 20–24. 12 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 116–120.

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ter oder indirekter Aktionsformen kann für die jeweiligen Parteien stark variieren. Die Grenze im politischen Meinungskampf bildet wiederum die verfassungsmäßige Ordnung. Die organisatorischen Voraussetzungen, die inhaltlichen Zielsetzungen und das öffentliche Auftreten lassen das „Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse“ einer Partei entstehen und bilden daher die Kriterien der Beurteilung der DVU. Bei einer derartigen Aufspaltung des Konzepts des „Gesamtbilds der tatsächlichen Verhältnisse“ in verschiedene Analyseebenen, so Backes, handelt es sich freilich um eine Betrachtung jener „Ausschnitte der Wirklichkeit, deren Separierung erkenntnisstimulierend wirken soll, wiewohl sie in der Realität vielfältig miteinander verflochten sind“.13

3. Mitgliederentwicklung a) Der schnelle Aufstieg Die DVU ist heute die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei und zugleich die größte rechtsextremistische Organisation in Deutschland. Dabei lag sie im Jahr 2005 mit 9.000 Mitgliedern deutlich vor ihren wichtigsten Konkurrenzparteien, den REP (6.500 Mitglieder) und der NPD (6.000 Mitglieder).14 Weitere rechtsextremistische Klein- und Kleinstparteien folgten den „großen Drei“ mit deutlichem Abstand. Die Spitzenposition unter den rechtsextremistischen Parteien hatte die DVU bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung inne. Bemerkenswert war dabei der sprunghafte Anstieg der Parteigänger in den ersten Jahren ihres Bestehens. Im Gründungsjahr 1987 zählte die Partei 2.500 Mitglieder.15 Schon im Jahr darauf hatte die DVU die Zahl ihrer Mitglieder auf 6.00016 mehr als verdoppelt und im Jahr 1989 nochmals auf 25.00017 mehr als vervierfacht (vgl. Abb. 1). Damit war die DVU innerhalb dreier Jahre zur größten rechtsextremistischen Partei in Deutschland aufgewachsen. Zu diesem Zeitpunkt hinkte die NPD der DVU mit einer Stärke von 7.000 Mitgliedern18 deutlich abgeschlagen hinterher.19

13

Ebd., S. 326. Vgl. Verfassungsschutzbericht 2005, S. 51. 15 Vgl. Verfassungsschutzbericht 1987, S. 117. 16 Vgl. Verfassungsschutzbericht 1988, S. 128. 17 Vgl. Verfassungsschutzbericht 1989, S. 127. 18 Vgl. ebd., S. 130. 19 Im Jahr 1989 wurden die REP noch nicht als rechtextremistische Partei in den Statistiken der Verfassungsschutzbehörden aufgeführt. Lediglich der Landesverband Nordrhein-Westfalen wurde wegen des Verdachts rechtsextremistischer Bestrebungen von der dortigen Landesbehörde mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet. Vgl. Verfassungsschutzbericht 1989, S. 108. 14

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263

Tatsächlich fügte sich die Partei bei ihrer Gründung als „rechte Alternative, auf die Deutschland wartet“,20 in die politische Landschaft der Zeit. Lange hatten einerseits die NPD als rechtsextremistische Partei sowie andererseits die DVU e. V. als rechtsextremistische Organisation im Zusammenspiel mit der Frey-Presse als publizistischer Machtfaktor ihre jeweiligen Einflußsphären im rechtsextremistischen Lager abgesteckt. Angesichts der neuen Herausforderung durch die Gründung der REP im Jahr 1983 kam Bewegung in das Gefüge. Die bis dahin konkurrierenden Parteien rückten näher zusammen und entschlossen sich teilweise zur gegenseitigen Unterstützung, insbesondere bei den jeweiligen Wahlteilnahmen. Zur Bürgerschaftswahl in Bremen trat die DVU als Wahlbündnis auf und präsentierte dem Wähler mehrere Vertreter der NPD auf ihrer Wahlliste. 1987

2.500 6.000

1989

25.000 22.000

1991

24.000 26.000

1993

26.000 20.000

1995

15.000 15.000

1997

15.000 18.000

1999

17.000 17.000

2001

15.000 13.000

2003

11.500 11.000

2005

9.000 0

5.000

10.000

15.000

20.000

25.000

30.000

Quelle: Der Bundesminister des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzberichte 1987 bis 2005, Bonn und Berlin 1988 bis 2006.

Abbildung 1: Mitgliederentwicklung der „Deutschen Volksunion“ (DVU) 1987–2005

20 Deutscher Anzeiger Nr. 47, 1986, zit. nach: Verfassungsschutzbericht 1986, S. 178.

264

Stefan Mayer

Der schnelle Aufschwung in der Anfangsphase war jedoch keineswegs Ausdruck einer adäquaten programmatischen Antwort auf die politischen Fragen der Zeit oder der Integrationskraft der Partei, sondern eines juristischen Winkelzugs Gerhard Freys im Zusammenspiel mit seinem Verein DVU e. V. im Jahr 1988: „Bei der Bundesversammlung der DVU am 20. Dezember in München beschlossen die Teilnehmer eine Satzungsänderung. Danach sollen Mitglieder über 16 Jahre ,zugleich Mitglieder der Deutschen Volksunion – Liste D (DVU) sein‘. Sie werden ,der Deutschen Volksunion – Liste D (DVU) als Neumitglieder vorgeschlagen, sofern sie die Mitgliedschaft in der Deutschen Volksunion – Liste D nicht ausdrücklich ablehnen bzw. nicht schon Mitglied der Deutschen Volksunion – Liste D (DVU) sind‘. Die ,Mitgliedschaft in der DVU e. V. bleibt hiervon unberührt‘. Auf Antrag sind ,Mitglieder, die der Deutschen Volksunion – Liste D (DVU) angehören, in der DVU e. V. beitragsfrei‘.“21 Der Verein stellte damals mit 16.000 Mitgliedern die größte rechtsextremistische Organisation in Deutschland dar. Mit der Integration seiner Mitglieder in die Partei sollten die Kräfte gebündelt und den potentiellen Wählern der Partei eine steile Aufwärtsentwicklung suggeriert werden. Allerdings war die Satzungsänderung rechtlich äußerst bedenklich, da der Eintritt in eine politische Partei in der Regel eine eindeutige Willensbekundung verlangt. An der Grenze von Verein und Partei hatte Gerhard Frey die Verhältnisse kurzerhand umgekehrt: Nur wer der festgelegten Verfahrensweise ausdrücklich widersprach, verhinderte einen ungewollten Parteieintritt. Nach der Überführung seiner Mitglieder in die Partei fristete der Verein ein Schattendasein. Durch diesen Automatismus wurde nicht nur die Mitgliederzahl der DVU künstlich in die Höhe getrieben, sondern auch eine vielsagende Verquickung innerhalb des Netzwerks geschaffen. Seither haftet der DVU der Vorwurf mangelnder Transparenz an. „Daß es Dr. Frey auch darum geht, die Unterschiede zwischen Verein (DVU) und Partei (DVU – Liste D) zu verwischen, zeigt der Umstand, daß die DVU bei der Satzungsänderung ihre Kurzbezeichnung – in Angleichung an die Praxis der DVU – Liste D – nunmehr auch formell auf ,DVU‘ festlegte.“22 In dieses Bild des Scheins paßt es, daß die von Gerhard Frey angegebenen Mitgliederzahlen in der Vergangenheit regelmäßig deutlich höher ausfielen als die Angaben der Verfassungsschutzbehörden. Gleiches galt für die Auflagenzahlen der Frey-Presse. Neben dem schnellen Anstieg der Mitgliederzahl vollzog sich der organisatorische Ausbau in rasantem Tempo.23 Den ersten Landesverband gründete die DVU 1987 in Bremen mit Blick auf die Bremische Bürgerschaftswahl. Bei diesem Wahlgang erzielte sie 3,4 Prozent der Stimmen. Das Ergebnis reichte aus, 21 22 23

Verfassungsschutzbericht Bayern 1988, S. 103. Ebd. Vgl. Der Bundeswahlleiter, WR 3/00, 1. Ordner.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

265

um aufgrund einer Wahlrechtsbesonderheit auf Anhieb in die Bremische Landesvertretung einzuziehen. Bereits 1988 – ein Jahr nach ihrer Gründung – unterhielt die Partei 10 Landesverbände sowie zahlreiche Untergliederungen. Der flächendeckende Ausbau wurde forciert, denn das erklärte Ziel war eine bundesweite Wahl: die Wahl zum Europäischen Parlament 1989. Die Bedeutung dieses Wahlgangs für die damalige DVU – Liste D belegte die Kandidatur des ansonsten öffentlichkeitsscheuen Gerhard Freys auf Platz 1 der Bundesliste. Die Voraussetzungen waren vielversprechend, verfügte die junge Partei doch über den umfangreichen Mitgliederstamm der DVU e.V. sowie das Propagandainstrumentarium und die Finanzkraft des Parteigründers. Zusätzlich sollte ein Wahlverzicht der NPD und die Unterstützung durch ihre Verbände vor Ort ein übriges tun, um einen straffen Wahlkampf mit einem überzeugenden Erfolg zu ermöglichen. Rechtzeitig zur Europawahl war der Ausbau der DVU auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik abgeschlossen. Sie verfügte mit nunmehr 11 Landesverbänden über bundesweite Untergliederungen. Und auch unterhalb der Landesebene schritt die organisatorische Entwicklung in Bezirks- und Kreisverbänden voran. Ihr ambitioniertes Wahlziel verfehlte die DVU allerdings trotzdem. Mit 1,6 Prozent der Zweitstimmen schnitt die Partei gerade vor dem Hintergrund der günstigen Ausgangsbedingungen etwa im Vergleich zu den REP enttäuschend ab. Die REP erreichten mit weitaus geringeren finanziellen Mitteln und ohne die Unterstützung der NPD 7,1 Prozent der Stimmen. Aus Sicht der DVU führte der finanzintensive, materialaufwendige und öffentlichkeitswirksame Europawahlkampf allerdings wenigstens dazu, daß „mehrere Tausend neue Mitglieder sich der Partei anschlossen“.24 Zugleich stand eine besondere Herausforderung an – die Ausdehnung auf die neuen Bundesländer. Doch im Gegensatz zu der hoffnungsvollen Anfangsentwicklung in den alten Bundesländern kam hier der organisatorische Ausbau nur schleppend voran. Die jahrelange Agitation für die deutsch-deutsche Vereinigung gepaart mit dem Dominanzanspruch Gerhard Freys ließen diesen Schritt dennoch zwangläufig erscheinen. Es ging in den kommenden Jahren um nichts weniger als um die Rolle als stärkste Kraft im rechtsextremistischen Parteienlager. Die DVU intensivierte ebenso wie die NPD ihre Anstrengungen. Im Jahr 1990 ebbte die Anfangseuphorie vor dem Hintergrund des schlechten Europawahlergebnisses zunächst wieder ab. Die Mitgliederzahl der DVU sank auf 22.000.25 Im Jahr 1991 wuchs die Partei wieder auf 24.000 Mitglieder.26 Es gelang ihr, Landesverbände in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zu gründen. Ihre 24 25 26

Verfassungsschutzbericht 1989, S. 126. Vgl. Verfassungsschutzbericht 1990, S. 88. Vgl. Verfassungsschutzbericht 1991, S. 74.

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Stefan Mayer

Anhänger in Berlin und Brandenburg versammelte sie in einem gemeinsamen Landesverband. Damit war die DVU durch 14 Landesverbände nahezu flächendeckend in Deutschland vertreten. Einzig in Mecklenburg-Vorpommern konnte trotz mehrerer Versuche noch kein Landesverband ins Leben gerufen werden. Auch die erneut erfolgreiche Teilnahme an der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft 1991, bei der die DVU mit 6,1 Prozent ein überraschend gutes Ergebnis erzielte, unterstützte den Aufwärtstrend. Bei der Schaffung von Parteistrukturen in den neuen Bundesländern machte sich schon bald der eklatante Mangel an geeigneten Führungskräften bemerkbar, die aufgrund der spezifischen, autokratischen Organisationsstruktur der Partei keinen Platz in der DVU fanden. Darüber hinaus stieß die DVU bei ihrer potentiellen Gefolgschaft auf gravierende Vorbehalte gegenüber dem westdeutschen Führungsanspruch sowie der organisatorischen Vereinnahmung nach der Vereinigung. Zu diesem Zeitpunkt war das rechtsextremistische Spektrum in der ehemaligen DDR im Vergleich zur alten Bundesrepublik überwiegend organisationsfeindlich eingestellt. Das rechtsextremistische Einstellungs- und Gewaltpotenzial entlud sich vielmehr unkontrolliert in Angriffen auf Asylbewerberheime durch überwiegend jugendliche Rechtsextremisten.27 So erreichten die rechtsextremistischen Gewalttaten 1992 sowohl quantitativ als auch qualitativ ein neues Niveau. Die Welle rechtsextremistischer, insbesondere fremdenfeindlicher Ausschreitungen führte staatlicherseits zu einer Welle von Verbotsüberlegungen und Vereinigungsverboten. Von der aufgeheizten Stimmung der Nach-„Wende“-Jahre profitierte auch die DVU. Sie erreichte 1992 mit 26.000 Mitgliedern ihren Höchststand. Ursächlich dafür war wiederum eine erfolgreiche Wahlteilnahme. Bei der Schleswig-Holsteinischen Landtagswahl 1992 erzielte die DVU mit 6,3 Prozent der Stimmen ein aufsehenerregendes Ergebnis. Sie führte ihren Wahlkampf vor allem mit fremdenfeindlichen Parolen und trug so zur Polarisierung in der Asyl-Frage bei. Gleichzeitig schloß sie mit der Gründung eines Landesverbands in Mecklenburg-Vorpommern ihre Reihen in Ostdeutschland. Mit 15 Landesverbänden (darunter der gemeinsame Landesverband Berlin-Brandenburg) war sie nunmehr in allen Bundesländern – Ost und West – präsent. Die Mitgliedergewinne entfielen allerdings auf die alten Bundesländer; in den neuen Bundesländern stagnierte die Mitgliederentwicklung weiterhin.28 Dies galt auch für das Jahr 1993, in dem die Mitgliederzahl auf hohem Niveau konstant blieb. Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl gelang es der DVU nicht, die Wahlerfolge aus Bremen und Schleswig-Holstein zu wiederholen. Mit 27 Vgl. u. a. Verfassungsschutzbericht 1991, S. 74–84; Verfassungsschutzbericht 1992, S. 70–86; Verfassungsschutzbericht 1993, S. 81–99. 28 Vgl. Verfassungsschutzbericht 1992, S. 113.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

267

2,8 Prozent verfehlte sie den Einzug in das Landesparlament. In organisatorischer Hinsicht stagnierte die Entwicklung der Partei. Die Gründung eines 16. Landesverbands durch die Trennung des bisherigen gemeinsamen Landesverbands Berlin-Brandenburg war lediglich Ausdruck einer geographischen Bereinigung, weniger einer fortschreitenden Entwicklung vor Ort. Damit war das Ende des Höhenflugs erreicht. Zu diesem Zeitpunkt vereinigten sich (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) ca. 61 Prozent der Rechtsextremisten in der Partei Gerhard Freys (1992: 42.700 Personen,29 1993: 42.450 Personen30). In ihrer Hochphase als Mitgliederpartei hatten sich somit weit über die Hälfte der deutschen Rechtsextremisten der DVU angeschlossen. Diese Zahlen drücken allerdings nicht die tatsächlichen Kräfteverhältnisse der Zeit aus, denn darin nicht enthalten sind die Mitgliederzahlen der REP. Die REP wurden erst ab dem Jahr 1993 in den Verfassungsschutzberichten des Bundes aufgeführt. Ihre Mitglieder wurden ab dem Jahr 1994 in den statistischen Angaben der Verfassungsschutzbehörden berücksichtigt, was zur Folge hatte, daß 1994 das rechtsextremistische Personenpotential sprunghaft auf 56.000 Personen31 anstieg. Da nun auch die Angaben der beiden Vorjahre statistisch bereinigt wurden, ergab sich ein stark verändertes Bild: Demnach waren im Jahr 1992 lediglich ca. 42 Prozent (der 61.900 Personen)32 und im Jahr 1993 ca. 40 Prozent (der 64.500 Personen)33 und damit deutlich weniger als die Hälfte der organisierten Rechtsextremisten Mitglied in der DVU. Die REP verfügten in diesen beiden Jahren über immerhin 20.000 bzw. 23.000 Mitglieder.34 Die zahlenmäßige Vorherrschaft im Kreise der rechtsextremistischen Parteien wurde der DVU somit zumindest zeitweise von den REP streitig gemacht. b) Der lange Fall Nach dem anfänglich steilen Anstieg verlief die Mitgliederentwicklung im weiteren augenfällig negativ. Im Zuge der Vereinigungsverbote und des Abebbens der Gewaltwelle folgten zahlreiche Rechtsextremisten dem Konzept der „freien Kameradschaften“, einer Organisationsform weitgehend ohne formale Mitgliedschaft. Im Jahr 1994 waren weder aufsehenerregende Gewalttaten noch überraschende Wahlergebnisse zu verzeichnen. Zusätzlich hatte der sogenannte Asylkompromiß die Gemüter beruhigt. Folglich nahm auch die Zahl der deutschen Rechtsextremisten erheblich ab. Wurde 1993 ein rechtsextremistisches 29 30 31 32 33 34

Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Verfassungsschutzbericht 1993, S. 74. Vgl. Verfassungsschutzbericht 1994, S. 78. Ebd. Ebd. Ebd.

268

Stefan Mayer

Personenpotential von 64.500 registriert, sank diese Zahl 1994 auf 56.600.35 Dabei verloren vor allem die rechtsextremistischen Parteien zahlreiche Mitglieder. Bei der DVU fiel der Verlust mit 6.000 auf 20.000 Mitglieder am deutlichsten aus.36 Die REP mit 3.000 und die NPD mit 500 Personen hatten ebenso spürbare Mitgliederverluste zu verkraften.37 Durch den überproportionalen Mitgliederschwund bei der DVU zogen die REP mit der Frey-Partei gleich. Diese Entwicklung setzte sich in den beiden nächsten Jahren fort. Die Mitgliederzahl der DVU sank 1995 um weitere 5.000 Personen auf 15.000.38 Im gleichen Jahr verloren die REP 4.000 und die NPD 500 Mitglieder.39 Damit büßte die DVU ihre Rolle als mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei ein. Ursächlich für die hohen Mitgliederverluste in allen rechtsextremistischen Parteien dürften interne Faktoren in Form von Führungsstreitigkeiten sowie finanzielle Engpässe und erfolglose Wahlteilnahmen gewesen sein. So beteiligte sich die DVU an der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft 1995 nur mit geringem Erfolg und schied nach zwei Legislaturperioden infolge wieder aus dem Landtag aus. Die strukturelle Schwäche der Partei drückte sich u. a. in der erneuten Fusion der beiden Landesverbände Berlin und Brandenburg aus. Damit war zunächst die Talsohle erreicht. 1996 konnte die DVU ihren Mitgliederbestand konsolidieren und den Abwärtstrend bei 15.000 Mitgliedern stoppen.40 Dies gelang nicht allen rechtsextremistischen Parteien; bei den REP waren mit 1.000 und bei der NPD mit 500 Personen weiterhin Verluste zu verzeichnen.41 Während sich damit der Abwärtstrend der letzten Jahre bei den Parteien insgesamt fortsetzte, stieg das Personenpotential im Bereich der gewaltbereiten Rechtsextremisten und der Neonationalsozialisten an, weshalb sich das rechtsextremistische Gesamtpotential nur geringfügig verringerte. Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse war Ausdruck einer umfassenden Umstrukturierung des rechtsextremistischen Spektrums im Zuge der staatlichen Repressionsstrategie. Diese ging deutlich zu Lasten des parteimäßig organisierten Rechtsextremismus. Hinzu kam das erneut schlechte Abschneiden der DVU bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein. 1996 verpaßte sie mit 4,3 Prozent der Stimmen den Wiedereinzug in das Landesparlament. Im folgenden Jahr änderte sich für die DVU nichts. Mit 15.000 Mitgliedern42 konnte sie 1997 ihre Mitgliederzahl halten, während die REP wie auch die Na35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd. ebd. ebd. Verfassungsschutzbericht 1995, S. 98. ebd. Verfassungsschutzbericht 1996, S. 90. ebd. Verfassungsschutzbericht 1997, S. 73.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

269

tionaldemokraten bereits wieder neue Anhänger gewannen. Die Lähmung des rechtsextremistischen Lagers durch die Vereinigungsverbote schien überwunden zu sein. Bei der Wahl in Hamburg erzielte die DVU zwar ein beachtliches Ergebnis, verfehlte aber dennoch mit 4,9 Prozent der Stimmen den Einzug in die Bürgerschaft. Das gute Abschneiden wirkte sich im Folgejahr auf die Mitgliederentwicklung aus. Beschleunigt wurde das Geschehen durch eine weitere erfolgreiche Wahlteilnahme. Bei den Landtagswahlen 1998 in Sachsen-Anhalt erzielte die DVU das beste Wahlergebnis einer rechtsextremistischen Partei in der Geschichte der Bundesrepublik: Sie errang 12,9 Prozent der Wählerstimmen und zog als erste rechtsextremistische Partei in eine ostdeutsche Landesvertretung ein – obwohl sie vor Ort nur über eine rudimentäre Parteistruktur verfügte. Das überraschende Ergebnis war kein Anzeichen für ein Erstarken der DVU in den neuen Bundesländern, sondern Ausdruck der spezifischen Bedingungen einer Protestwahl. Zwar kam es infolge des Wahltriumphs zu einem regelrechten Mitgliederschub, die Partei wuchs um 3.000 Personen auf nunmehr 18.000 Mitglieder an.43 Damit errang sie wieder die Spitzenposition unter den rechtsextremistischen Parteien. Die Verbände im Westen behielten ihre deutliche zahlenmäßige Überlegenheit. Den Schwung des Erfolgs in Sachsen-Anhalt konnte die DVU weder in die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern noch in die Bundestagswahl im gleichen Jahr mitnehmen. Mit 2,9 Prozent bzw. 1,2 Prozent blieb sie deutlich hinter den geweckten Erwartungen zurück. Erfolg und Mißerfolg wechselten sich nunmehr ab. Die Wahlniederlagen kompensierte die Partei durch den Wiedereinzug in die Bremische Bürgerschaft. Bei der Landtagswahl 1999 errang sie zwar lediglich 3,0 Prozent der Stimmen, zog aber aufgrund der spezifischen Regelungen des Wahlrechts in die Landesvertretung ein. Erfolgreicher schnitt sie bei der Landtagswahl in Brandenburg ab. Mit 5,3 Prozent schaffte sie den Sprung in das zweite Landesparlament auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Weniger erfolgreich gestaltete sich mit einem Ergebnis von 3,1 Prozent die Beteiligung an der Landtagswahl in Thüringen. Die öffentlichkeitswirksamen Wahlkämpfe bzw. die parlamentarische Präsenz in mittlerweile drei Landesvertretungen zogen diesmal keine neuen Mitglieder an. Im Gegenteil, mit einer Stärke von 17.000 war sogar ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen.44 Nach einer kurzfristigen Erholung im Jahr 1998 setzte bald ein erneuter Abwärtstrend ein, von dem sich die DVU in den nächsten Jahren nicht mehr erholen konnte. Im Jahr 2000 wurde die Mitgliederzahl von 17.00045 zwar noch einmal gehalten. Im Jahr 2001 dagegen zählte die DVU nur 15.000 Mitglieder.46 In die43 44 45

Vgl. Verfassungsschutzbericht 1998, S. 19. Vgl. Verfassungsschutzbericht 1999, S. 18. Vgl. Verfassungsschutzbericht 2000, S. 28.

270

Stefan Mayer

ses Bild paßte das schlechte Abschneiden bei der Hamburger Bürgerschaftswahl. Mit nicht mehr als 0,7 Prozent der Wählerstimmen erlitt die Partei eine der schwersten Niederlage in ihrer Geschichte als Wahlpartei. Darüber hinaus verzichtete die DVU in diesem Jahr mangels Beteiligung erstmals auf ihre alljährliche Großveranstaltung in Passau. In gleichem Umfang fielen die Mitgliederverluste im Jahr 2002 aus. Der Mitgliederstamm umfaßte bloß 15.000 Personen,47 so daß es der DVU mittlerweile für eine erfolgversprechende Wahlteilnahme teilweise wieder an effizienten Strukturen fehlte. Auch im Jahr 2003 setzte sich der Mitgliedschwund weiter fort. Zu diesem Zeitpunkt zählte die DVU 11.500 Mitglieder.48 Bei der Teilnahme an der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft konnte sie unter erneuter Ausnutzung der Wahlrechtsbesonderheit mit landesweit 2,3 Prozent ein Mandat in der Bürgerschaft erringen. Das Jahr 2004 brachte ebenfalls keine Trendwende. Obwohl der DVU mit 6,1 Prozent erneut der Einzug in den Brandenburgischen Landtag und sogar eine Verbesserung des Vorwahlergebnisses von 1999 gelang, verlor sie weitere 500 Mitglieder. Damit verlangsamte sich zwar die Abwanderungsbewegung, es verblieben der DVU 11.000 Parteigänger.49 Dieser Abwärtstrend betraf das gesamte Spektrum der rechtsextremistischen Parteien. Um diesem Trend entgegenzuwirken, kam es 2005 unter dem Titel „Volksfront“ zu einem parteiübergreifenden Einigungsversuch zwischen DVU und NPD50 – mit unterschiedlichem Erfolg: Während die DVU weiter zahlreiche Mitglieder verlor und nach einem Rückgang um 2.000 9.000 Mitglieder (oder 23 Prozent des rechtsextremistischen Personenpotentials) registrierte, konnte die NPD erstmals wieder einen leichten Mitgliederzuwachs verbuchen (um 700 auf 6.000 Mitglieder).51 In diesem Jahr waren 21.500 Personen52 in rechtsextremistischen Parteien organisiert und damit weniger als etwa in den Jahren 1992 und 1993 alleine in der DVU. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 stand vereinbarungsgemäß lediglich die NPD auf dem Stimmzettel. Mit dem enttäuschenden Ergebnis von 1,6 Prozent konnte sie die weitreichenden Ambitionen der „Volksfront“ keinesfalls bestätigen. Mit dem Absinken der Mitgliederzahl stagnierte der organisatorische Ausbau. Zwar war die DVU in allen Bundesländern mit jeweils einem Landesverband vertreten, funktionsfähige Strukturen unterhalb der Landesebene ließen sich unter diesen Bedingungen nur in geringem Umfang entwickeln bzw. aufrechterhal46 47 48 49 50 51 52

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Verfassungsschutzbericht 2001, S. 34. Verfassungsschutzbericht 2002, S. 29. Verfassungsschutzbericht 2004, S. 37. ebd. zum Konzept der „Volksfront“ 4.2. Perspektiven. Verfassungsschutzbericht 2005, S. 51. ebd.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei Nordrhein-Westfalen

271 1.500

Bayern

1.200

Baden-Württemberg

1.000

Hessen

800

Niedersachsen

800

Rheinland-Pfalz

550

Berlin

450

Schleswig-Holstein

400

Sachsen

250

Brandenburg

230

Bremen

200

Hamburg

180

Thüringen

90

Mecklenburg-Vorpommern

50

Sachsen-Anhalt

50

Saarland 0

200

Quelle: Verfassungsschutzberichte der Länder 2005.

400

600

800 1.000 1.200 1.400 1.600

53

Abbildung 2: Mitglieder in den Landesverbänden der „Deutschen Volksunion“ (DVU) – Stand: 2004

ten. Darüber hinaus offenbarten sich bei näherer Betrachtung gravierende Unterschiede in der geographischen Verteilung der Parteimitglieder (vgl. Abb. 2). Die durchschnittliche Größe der Gebietsverbände betrug 200454 ca. 520 Mitglieder. Den mit Abstand größten Landesverband unterhielt die DVU in Nordrhein-

53 Die Summe der Mitglieder in den einzelnen Landesverbänden weicht von der angegebenen Gesamtzahl der DVU-Mitglieder ab. Das Landesamt für Verfassungsschutz des Saarlandes weist keine Mitgliederzahl für den DVU-Landesverband aus. 54 Die DVU-Mitgliederzahlen in den Landesverbänden haben sich im folgenden Jahr nicht wesentlich geändert.

272

Stefan Mayer

Westfalen mit 1.500 Mitgliedern, gefolgt von den Landesverbänden in Bayern mit 1.200, Baden-Württemberg mit 1.000, Hessen und Niedersachsen mit jeweils 800 Mitgliedern. Damit war die DVU mit ihren größten Untergliederungen in den bevölkerungsreichsten Bundesländern vertreten. Im Jahr 2004 belegten Nordrhein-Westfalen (18.075.000 Einwohner), Bayern (12.444.000 Einwohner), Baden-Württemberg (10.717.000 Einwohner), Niedersachsen (8.001.000 Einwohner) und Hessen (6.089.000 Einwohner) die ersten fünf Plätze der Bevölkerungsstatistik.55 Bei den übrigen Landesverbänden zeigte sich das gleiche Bild. Die Mitgliederstärke der DVU-Landesgliederungen stand im Verhältnis zu den Einwohnerzahlen der Bundesländer. Dies bedeutete, daß die DVU mit ihrem spezifischen Erscheinungsbild bundesweit einen in etwa konstanten Teil der Bevölkerung ansprach. Allerdings existiert eine Ungleichverteilung der Mitglieder in West- bzw. Ostdeutschland. Mit 7.080 Mitgliedern in den westlichen und 670 Mitgliedern in den östlichen Bundesländern lag das strukturelle Übergewicht der DVU eindeutig in Westdeutschland (vgl. Abb. 3). Setzt man die Einwohnerzahl der alten und neuen Bundesländer in ein Verhältnis zueinander, ergab sich ein Wert von ca. 84 zu 16 Prozent (69.058.000 Einwohner einschließlich Berlin bzw.

West

7.080

Ost

670

0

1.000

2.000

3.000

Quelle: Verfassungsschutzberichte der Länder 2005.

4.000

5.000

6.000

7.000

8.000

56

Abbildung 3: Mitglieder der „Deutschen Volksunion“ (DVU) West/Ost – Stand: 2004

55 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fläche und Bevölkerung nach Bundesländern, Wiesbaden 2005. 56 Die Summe der Mitglieder in den einzelnen Landesverbänden weicht von der angegebenen Gesamtzahl der DVU-Mitglieder ab. Das Landesamt für Verfassungsschutz des Saarlandes weist keine Mitgliederzahl für den DVU-Landesverband aus.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

273

13.433.000 Einwohner)57. Im Verhältnis der West- bzw. der Ost-Verbände der DVU war diese Differenz mit 91 zu 9 Prozent deutlich stärker ausgeprägt. Betrachtet man die Mitgliederverteilung, war die DVU damit, trotz ihrer Wahlerfolge bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt, am ehesten als „West“-Partei zu bezeichnen. Ihre Wahlerfolge erzielte die DVU dabei offensichtlich zu einem guten Teil unabhängig von den jeweiligen Strukturen. Damit befand sie sich in guter Gesellschaft. Sowohl die REP als auch die NPD waren in den westdeutschen Bundesländern deutlich stärker vertreten als in den ostdeutschen. Bei den REP ergab sich ein Verhältnis von ca. 96 zu 4 Prozent und bei der NPD von ca. 67 zu 33 Prozent. Gemessen an der Mitgliederstärke und der Bevölkerungszahl konnte also allenfalls bei der NPD von einer Partei gesprochen werden, die in den neuen Bundesländern Fuß gefaßt hatte. Die Mitgliederbasis der rechtsextremistischen Parteien lag nach wie vor in den alten Bundesländern. Ihre Wahlergebnisse sprachen jedoch eine andere Sprache.

4. Schlußbetrachtung a) Resümee Die Mitgliederentwicklung der DVU war im gesamten Verlauf ihres beinahe 20jährigen Bestehens deutlichen Schwankungen unterworfen. Sie war geprägt von einem dynamischen Aufschwung in den Gründerjahren 1987 bis 1992 und substantiellen Mitgliederverlusten seit 1993. Erklärtes Ziel bei der Fortentwicklung des Vereins zur Partei war die Teilnahme an Wahlen. Zu diesem Zweck erfolgte die Selbstorganisation der DVU auf klassische Art und Weise in Form von Landesverbänden. Dabei verlief die Entwicklung ihrer Mitgliederzahl wiederum zu einem guten Teil in Abhängigkeit von ihren Wahlerfolgen. Allerdings spielten auch weitere externe und interne Faktoren wie etwa das Gegner- und Konkurrentenumfeld, die personelle Leistungsfähigkeit und die innere Geschlossenheit der Partei eine bestimmende Rolle für das Auf und Ab. Trotz flächendeckender Organisationsstrukturen und beachtenswerter Wahlerfolge dürfte es der DVU schon aufgrund der ungünstigen Altersstruktur künftig immer schwerer fallen, die beständige Erosion ihres Mitgliederstamms zu stoppen. Die forcierte Entfaltung der Partei war allerdings nicht alleine Ausdruck des expansiven Anspruchs des Parteivorsitzenden, sie war auch einer rechtlichen Anforderung des Parteienstatus geschuldet. Das Grundgesetz bestimmt unter Gesetzesvorbehalt über die Parteien: „Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen“ (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG). Als einfaches Gesetz

57

Vgl. Statistisches Bundesamt (FN 55).

274

Stefan Mayer

schreibt das Parteiengesetz zwingend den verbandsmäßigen Aufbau, die geographische Selbstorganisation in Gebietsgliederungen vor und erhebt gleichzeitig einen qualitativen Anspruch an die Funktionsfähigkeit der Gebietsverbände (§ 7 PartG). Der Hintergrund dieser gesetzlichen Regelung wird in § 7 Abs. 1 Satz 3 PartG erläutert: „Die gebietliche Gliederung muß so weit ausgebaut sein, daß den einzelnen Mitgliedern eine angemessene Mitwirkung an der Willensbildung der Partei möglich ist.“ Diesen Anspruch hat die DVU nie erfüllt. Auch heute kommt die Wirklichkeit des Parteilebens den Anforderungen des Parteiengesetzes nur formell nach. Die übermächtige Stellung Freys läßt den Landesverbänden keinen Raum für eigenständige politische Arbeit und Weiterentwicklung. So wollen sich einfach keine politischen Gestaltungserfolge einstellen. Viele Mitglieder sind kaum mehr als zahlende Leser der Frey-Publikationen. Sie suchen und finden in Gerhard Frey und seiner DVU lediglich ein öffentliches Sprachrohr für ihre politische Gesinnung. Frey selbst bleibt eine heftig umstrittene Persönlichkeit.58 Ausschlaggebend für das Erscheinungsbild der Frey-Partei ist ihre besondere Organisationsstruktur, diese wiederum hat ihre Ursache in der Persönlichkeitsstruktur ihres Vorsitzenden. Die finanzielle Unabhängigkeit des Parteigründers verhalf ihm von Anfang an zu einer dominanten Stellung innerhalb der Partei. Dazu sagte Gerhard Frey auf einer Pressekonferenz am 23. September 1997: „Ich bin tatsächlich der einzige Parteivorsitzende seit Gründung der Bundesrepublik, der seine Partei finanziert [. . .].“59 Frey ist nicht nur der erste, er ist auch der bislang einzige Vorsitzende der DVU. Die Partei ist seine Schöpfung, und als solche hängt sie an seinem Tropf.60 Aufgrund der finanziellen Abhängigkeit der DVU und ihrer Funktionäre ist Frey weniger als Partei-Vorsitzender, denn als Partei-Besitzer zu bezeichnen. Er ist weder ein intellektueller Führer oder politischer Visionär noch ein charismatischer Populist oder mitreißender Volkstribun. Gerhard Frey verkörpert den Typus des geschäftstüchtigen Managers in Sachen Politik. Ein eigenständiges politisches Profil seiner Gefolgsleute duldet Freys autokratischer Führungsstil nicht. Die Mitglieder der Ein-Mann-Partei bleiben größtenteils inaktiv, innerparteiliche Demokratie wird klein geschrieben. Führungspositionen werden in seinem 58 Vgl. zur Biographie Gerhard Freys: Munzinger Archiv/Internationales Biographisches Archiv 6/00, Gerhard Frey, P 011159-9; Backes/Jesse (FN 4), S. 337–339; Anette Linke, Der Multimillionär Frey und die DVU. Daten. Fakten. Hintergründe, Essen 1994, S. 11–13; Stefan Mayer, Biographisches Porträt: Gerhard Michael Frey, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 14, Baden-Baden 2002, S. 169–181. 59 Gerhard Frey, zitiert nach: Munzinger Archiv (FN 58). 60 Vgl. Stefan Mayer, Zehn Jahre Deutsche Volksunion als politische Partei, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 10, Baden-Baden 1998, S. 184–198.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

275

Politik- und Medienkonzern entweder aus dem Kreise der Familienangehörigen heraus besetzt oder aus einem kleinen Zirkel vertrauter Weggefährten rekrutiert. So übt er jederzeit die Kontrolle über seinen Machtbereich aus.61 Seit mehreren Jahren entwickelt sich das DVU-Projekt rückläufig, Gerhard Frey scheint mit seinem politischen Engagement in eine Sackgasse geraten zu sein. Dem Projekt fehlt es inhaltlich wie personell an Dynamik. Zuletzt war er selbst innerhalb der DVU nicht mehr ganz unumstritten.62 Eine Abwahl als Parteivorsitzender ist jedoch aufgrund der finanziellen Abhängigkeit der DVU so gut wie ausgeschlossen. Unterdessen konzentriert sich Frey auf den Erhalt des Kerngeschäfts mit der NZ. Seine Ziele bleiben weiter verschwommen, sind ein Gebräu aus politischen Ambitionen, kommerziellem Gewinnstreben und persönlicher Eitelkeit. In seinen Rollen als Journalist, Verleger, Politiker und Geschäftsmann bleibt er stets unnahbar und unangreifbar, persönlich und juristisch. Frey verfügt über eine etablierte Stellung im rechtsextremistischen Lager, stößt aber aufgrund der spezifischen Mischung aus Politik und Kommerz sowie seines autoritären Habitus mit den ambitionierten Initiativen immer wieder an Grenzen. b) Perspektiven Auf seinem Weg zum Parteichef hat Gerhard Frey stets initiativ und gut vorbereitet die günstigen Zeitumstände genutzt. Ob die Gründung einer politischen Partei von Anfang an das Ziel seiner Bestrebungen gewesen ist, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. In seinem unbedingten Führungsanspruch und dem daraus resultierenden Mangel an Integrationskraft dürfte jedenfalls nicht nur ein Grund für die rückläufige Entwicklung des DVU-Projekts, sondern auch für das Scheitern seiner verschiedenen Einigungsbemühungen im rechtsextremistischen Parteienspektrum zu finden sein, sei es seinerzeit mit der NPD, sei es in den neunziger Jahren mit den REP unter Franz Schönhuber bzw. Rolf Schlierer. Diesen Anspruch scheint Frey zuletzt angesichts der prekären Lage der DVU zurückzustellen. Seit dem Jahr 2004 unternehmen weite Teile des rechtsextremistischen Spektrums in Deutschland einen neuerlichen Versuch der Einigung – unter ihnen Gerhard Frey mit seiner DVU. War zuletzt der Schulterschluß der Rechtsextremisten noch an den Nachwirkungen des NPD-Verbotsverfahrens gescheitert, setzte die NPD in der Folge neben der innerparteilichen Konsolidierung konsequent auf die Kooperation im rechtsextremistischen Lager. Mit einer „Gemeinsamen Erklärung der Parteivorstände von DVU und NPD“ unter dem Titel 61

Vgl. Jörg Fischer, Ganz rechts. Mein Leben in der DVU, Reinbek 1999, S. 77–

93. 62

Vgl. u. a. Verfassungsschutzbericht 2000, S. 85.

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Stefan Mayer

„Taten statt Worte“63 vom 23. Juni 2004 gaben Gerhard Frey und Udo Voigt einen gegenseitigen Wahlverzicht bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen bekannt. Sie riefen ihre Anhänger zur Wahl der jeweils anderen Partei auf. Zwar war die Vereinbarung aus der Not der tatsächlichen Kräfteverhältnisse der jeweiligen Landesverbände heraus geboren. Doch gelang es mit diesem aufsehenerregenden Schritt dem Wähler Einigkeit im rechtsextremistischen Parteienlager zu suggerieren. Neben zahlreichen anderen Faktoren sorgte dieser Eindruck 2004 für die Wiederwahl der DVU in den Brandenburger Landtag. Dennoch schien ihr die NPD den Rang der erfolgreichsten Wahlpartei der letzten Jahre mit ihrem überraschenden Ergebnis von 9,2 Prozent bei der Sächsischen Landtagswahl im gleichen Jahr streitig zu machen. Noch am Wahltag veröffentlichte die NPD eine Stellungnahme unter dem Titel „Volksfront statt Gruppenegoismus“64 und bekannte sich zur „Gesamtbewegung des nationalen Widerstands“.65 Damit verkündete sie die Öffnung der Partei auch für Vertreter der „Freien Kräfte“ und rief zum gemeinsamen Kampf auf. Mit gegenseitigen Gast-Auftritten auf den Parteitagen der Bündnispartner demonstrierten Gerhard Frey (am 30./31. Oktober 2004 auf dem NPD-Bundesparteitag in Leinefelde/Thüringen) und Udo Voigt (am 15. Januar 2005 auf dem DVU-Bundesparteitag in München/Bayern) die neue Einigkeit. Am 15. Januar 2005 bekräftigten und konkretisierten sie ihren Willen zur Zusammenarbeit in einem „Deutschland-Pakt“66, in dem sie – unter Wahrung der Eigenständigkeit der beiden Parteien – Verabredungen zur Vermeidung konkurrierender Wahlantritt bis ins Jahr 2009 trafen. Ob das aufgestaute Mißtrauen zwischen den Beteiligten, die gegenseitigen Eifersüchtelein sowie die ideologischen wie strategischen Widersprüche diesmal überwunden sind und die zerbrechliche „Volksfront“ langfristig zu einer Stabilisierung des schwächelnden DVU-Projekts beiträgt, ist offen.67 Ebenso ungeklärt wie der Fortbestand der „Volksfront“ ist die Frage der Zukunft Gerhard Freys. Wer als Parteivorsitzender ein derart strenges Regiment führt, läßt seinen potentiellen Erben kaum Gelegenheit zur eigenen Profilierung. Frey hat mit über 70 Jahren ein Alter erreicht, in dem die Regelung seiner Nachfolge aussteht. Doch keiner seiner Vertrauten verfügt über eine eigene Hausmacht in der Partei, geschweige denn über die finanziellen Mittel, die Frey 63 Vgl. Gerhard Frey/Udo Voigt, Taten statt Worte. Gemeinsame Erklärung der Parteivorstände von DVU und NPD, in: National-Zeitung vom 25. Juni 2004. 64 Vgl. NPD-Präsidium, Volksfront statt Gruppenegoismus. Erklärung des Parteipräsidiums der NPD vom 19. September 2004. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. u. a. Deutschland-Pakt von DVU und NPD, in: Nationalzeitung vom 21. Januar 2005. 67 Vgl. Steffen Kailitz, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Auf dem Weg zur „Volksfront“?, St. Augustin 2005, S. 71–83.

Aufstieg und Fall einer rechtsextremistischen Partei

277

stets zum Erhalt seiner innerparteilichen Position verhalfen – mit Ausnahme der Familienangehörigen. So sind nach dem Rückzug Freys aus der aktiven Politik zumindest zwei Szenarien denkbar: Zum einen könnte Frey die (Partei-)Geschäfte alsbald an einen Kronprinzen übergeben, der das DVU-Projekt in seinem Sinne weiterführt. Zum anderen könnte die Annäherung zwischen NPD und DVU das Ende des parteipolitischen Zweigs der DVU einläuten.

Extremismus und Radikalismus Eine Analyse der Parteien DKP, DVU, PDS und Die Republikaner Von Andreas Morgenstern

1. Einleitung Worin unterscheiden sich extremistische und radikale Parteien? Unter dieser Frage steht der folgende Beitrag. Dabei geht der Autor von folgender These aus: Sowohl Extremisten als auch Vertreter des Radikalismus distanzieren sich von der staatstragenden Funktion demokratischer Parteien der Bundesrepublik. Sie erstreben grundlegende politische und gesellschaftliche Veränderungen. Jedoch unterscheiden sie sich in der Intensität ihres Denkens und Handelns. Während Extremisten den demokratischen Verfassungsstaat fundamental ablehnen, zielen Radikale auf eine Veränderung der politischen Kultur und stellen die prinzipielle Legitimität der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht in Frage. Eine Unterscheidung zwischen Extremismus und Radikalismus trifft bei verschiedenen Sozialwissenschaftlern auf Widerstand, obwohl oder gerade weil eine detaillierte Differenzierung der beiden Termini bislang ein Desiderat geblieben ist. So sprechen die Politologen Christoph Butterwegge und Lüder Meier von der Erzeugung einer „spitzfindigen Trennlinie“1. Ihr Vorwurf trifft zwar zu, daß sich eine Unterscheidung beider Begriffe dank teilweise fließender Übergänge2 als diffizil erweist, doch erfordert die Beschreibung von Phänomenen am Rand des politischen Spektrums gerade deshalb besonderes Augenmerk. Reklamiert Hans-Joachim Veen den (Rechts-)Extremismusbegriff als das „ex-

1 Christoph Butterwegge/Lüder Meier, Bremen – das kleinste Bundesland als Experimentierfeld für die extreme Rechte (1951/52, 1967–1971, 1987–1995), in: Christoph Butterwegge u. a., Rechtsextremisten in Parlamenten. Forschungsstand, Fallstudien, Gegenstrategien, Opladen 1997, S. 122. 2 Vgl. Eckhard Jesse, Fließende Grenzen zum Rechtsextremismus? Zur Debatte über Brückenspektren, Grauzonen, Vernetzungen und Scharniere am rechten Rand – Mythos und Realität, in: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Opladen 1996, S. 514–529.

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tremste über den wir in diesem Zusammenhang verfügen, extremer geht es nicht, semantische Verschärfung ist nicht möglich“,3 muß eine feine Unterscheidung vorgenommen werden, da andernfalls jede Distanzierung vom politischen mainstream unter den Extremismusverdacht geriete.4 Ein Beitrag des Berliner Politologen Ossip K. Flechtheims suchte den Gegensatz zwischen Extremismus und Radikalismus in der jeweiligen Verankerung ihrer Ideologien in den gesellschaftlichen Traditionen. Seine These: Radikalismus und Extremismus vertreten zwar mit den gegenwärtigen Realitäten unvereinbar erscheinende Utopien, doch stützt Radikalismus keine mit den historischen Kontinuitäten inkompatible Ideen.5 Dabei bleibe unbestritten, daß die vollkommene Gesellschaft nicht erschaffbar sei. Radikale Veränderungen seien so im demokratischen Verfassungsstaat umsetzbar. Extremismus aber ziele auf die Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Flechtheims Ergebnisse wurden jedoch kaum rezipiert. Uwe Backes und Eckhard Jesse differenzierten zwar Radikalismus und Extremismus, wobei sie ersteres als „Salz in der Suppe“ der politischen Auseinandersetzung beschrieben,6 allerdings blieb bei ihnen eine Detailuntersuchung zum Unterschied zwischen Extremismus7 und dem sich in einer „Grauzone“ zwischen demokratischem und antidemokratischem Denken und Handeln befindlichen Radikalismus aus. Verschiedene Ansätze zur Radikalismusdefinition folgten: Michael Minkenberg beschrieb (Rechts-)Radikalismus als ein demokratisches Phänomen, das sich gegen die unter dem Chiffre „1968“ subsumierten Werte richte und sah Radikalismus als abgeschwächte Form des Extremismus.8 Zur Unterscheidung zwischen Extremismus und Radikalismus bietet der vorliegende Beitrag zunächst eine Kategorisierung beider Begriffe. Er präsentiert jeweils einen Kriterienkatalog, da ein Verständnis zu kurz greift, das Radikalismus auf einen abgeschwächten Extremismus reduziert. So werden für beide Phänomene fünf Kriterien mit Blick auf Ideologie, Strategie und Organisation

3 Hans-Joachim Veen, „Rechtsextrem“ oder „Rechtsradikal“? Plädoyer für mehr begriffliche Klarheit, in: Das Parlament vom 15. April 1994. 4 Vgl. Manfred Funke, Art. Extremismus, in: Wolfgang M. Mickel (Hrsg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1983, S. 132–136, hier S. 133. 5 Vgl. Ossip K. Flechtheim, Extremismus und Radikalismus. Eine Kontraststudie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 6/ 1976, S. 22–30. 6 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Demokratie und Extremismus. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 44/1983, S. 3–18. 7 Vgl. zu ihrer Extremismusdefinition: Dies., Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005. 8 Vgl. Michael Minkenberg, Die neue radikale Rechte im Vergleich. USA, Frankreich, Deutschland, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 43.

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ausgeführt. Ein zweiter – empirischer – Teil wendet die Kriterien auf vier ausgewählte Parteien an beiden Rändern des politischen Spektrums an.

2. Merkmale extremistischer Parteien Zu den wesentlichen Merkmalen extremistischer Parteien gehören: 1. Sie verabsolutieren ihre Ideologie. 2. Sie negieren bzw. überhöhen das Gebot der fundamentalen menschlichen Gleichheit. 3. Sie legitimieren vergangene Diktaturen. 4. Sie bekämpfen repräsentativ-pluralistische Gremien. 5. Sie mißachten Grundlagen innerparteilicher Demokratie. Extremisten kennzeichnet Rigorismus. Mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch bekämpfen sie Meinungsvielfalt9 und bestreiten die Legitimität inhaltlicher Auseinandersetzung. Daher sollen die Parlamente zu Akklamationsorganen reduziert werden. Widersprüche blenden Extremisten meist aus ihrem Bewußtsein aus.10 Ihr Denken bestimmt ihr Handeln: Das Volk bedürfe Anleitung, um es zu schützen oder in ein Utopia zu führen. Diese Heilserwartung skizzierte das ehemalige DKP-Mitglied Peter Schütt folgendermaßen: „Die Partei schenkte mir ein chronisch gutes Gewissen und ein schlichtes Schwarzweißbild meiner Umwelt, sie befriedigte für eine Weile mein Gottsuchertum und deckte meinen Religionsbedarf. [. . .] Die Partei schien all meine Heilserwartungen zu erfüllen, sie versprach den Gerechten sogar das Paradies auf Erden. Das Opium der Revolution versetzte mich zeitweilig in regelrechte Rauschzustände, die Droge des proletarischen Internationalismus vermittelte mir das ozeanische Gefühl der Verbundenheit mit dem Weltgeist. [. . .] Und als Gläubiger habe ich meiner Ersatzkirche die Treue gehalten, gerade in der Zeit des Zweifels und der Krise, gerade dann, wenn die Glaubensnot am größten war.“11 Rückschläge führen nicht zur Hinterfragung (dies würde das eigene Weltbild in Frage stellen), sondern zur Abkapselung. Das notwendige Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Freiheit beschrieb Reinhold Niebuhr wie folgt: „Das Prinzip der ,Gleichheit‘ ist ein wichtiger Maßstab der Kritik an der gesellschaftlichen Hierarchie; das Prinzip der ,Freiheit‘ dient dem gleichen Zweck der Einheit einer Gemeinschaft. Aber kein Prinzip könnte ganz oder absolut gesetzt werden, ohne das Gemeinwesen zu zerstören.“12 Extremisten vollziehen jedoch diesen Schritt. 9 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten, Opladen 1989, S. 289–318. 10 Vgl. Russell Hardin, The Crippled Epistomology of Extremism, in: Albert Breton u. a., Political extremism and rationality, Cambridge 2002, S. 9. 11 Peter Schütt, Mein letztes Gefecht. Abschied und Beichte eines Genossen, Böblingen 1992, S. 9 f. 12 Reinhold Niebuhr, Freiheit und Gleichheit, in: Heinz-Dietrich Wendland (Hrsg.), Politik und Ethik, Darmstadt 1969, S. 258.

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Sie negieren natürliche Unterschiede oder verabsolutieren Wesensmerkmale zu unüberbrückbaren Gegensätzen. Besonderheiten dienen als Grundlage für die Wertung des Gegenübers, des Fremden. Dieser wird herabgesetzt, da er nicht dem Ideal entspricht.13 Ergänzung findet dieses Prinzip durch die Verabsolutierung von Unterschieden bei vordergründig zugestandener Gleichrangigkeit. Zwar ist das Denken noch nicht als extremistisch zu klassifizieren, es negiert nicht grundsätzlich die menschliche Würde des Gegenübers, doch fördert es diskriminierendes Handeln. Abgrenzung soll zur Erhaltung der eigenen Gruppe dienen, da angenommene Unvereinbarkeit ein erbittertes Entweder-Oder erzeugt.14 „Volksgemeinschaft“ verstehen Rechtsextremisten nicht als soziologische Kategorie, im Sinne einer Staatsbevölkerung, sondern als lebendigen Organismus: „Dies bedeutet, der Begriff ,Volk‘ bezieht sich nicht auf den demos als politisch definiertes Staatsvolk, sondern auf den ethnos als ethnisch oder ideologisch nationale Gemeinschaft, die eine Vorrangstellung gegenüber den Gesellschaftsmitgliedern und ihren Grundrechten einnimmt“.15 Linksextremisten überhöhen die Identitätstheorie Jean-Jaques Rousseaus und negieren damit die individuelle Freiheit des Denkens und Handelns. Der Philosoph forderte Anleitung, daß der einzelne „durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden [muß]. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn dazu zwingt, frei zu sein“.16 Es folgt auch hier die Nivellierung individueller Unterschiede und die Unterordnung unter den überlegenen Genius, um Gefahren abzuwehren.17 In Deutschland herrschten während des 20. Jahrhunderts die nationalsozialistische und anschließend auf dem Territorium der DDR die kommunistische Diktatur. Beide beanspruchten eine umfassende Erklärung der Welt und verfolgten ihre Kritiker gnadenlos. Derlei „Prophetie“ verurteilte der Soziologe Karl Mannheim: Sie wandele „Geschichte zwangsläufig in reine Determination und beraubt uns dadurch der Möglichkeit der Wahl und zur Entscheidung, [. . .] es erstirbt der abwägende suchende Instinkt im Hinblick auf die stets sich gestaltende Möglichkeit“.18 Zwar verbietet sich eine Gleichsetzung von SED und NSDAP,19 doch offenbart die Relativierung begangener Verbrechen und die

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Vgl. Backes (FN 9), S. 211. Vgl. Christine Morgenstern, Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 2002, S. 22. 15 Minkenberg (FN 8), S. 47 (Hervorhebungen im Original). 16 Vgl. Jean-Jaques Rousseau, Politische Schriften, Bd. 1, Paderborn 1977, S. 77. 17 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Köln 1989, S. 42 f. 18 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1952, S. 223. 14

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Hervorhebung einzelner Resultate zu deren Rechtfertigung antidemokratisches Gedankengut. Extremisten wissen um die Unattraktivität der vergangenen Diktaturen. So prangern sie eher deren Verurteilung an. Mit Kritik an der Kritik sollen gesellschaftliche Gegenkräfte geschwächt werden. Erfolgreicher ist hierbei die Linke, deren Anti-Antikommunismus größeren Terraingewinn verbuchte als die Rechte, die das Diktum der Ächtung des Nationalsozialismus durch den historisch einmaligen Holocaust nicht abschüttelte. Wer intern freie Meinungsäußerung unterdrückt oder behindert, von dem ist auch im weiteren gesellschaftlichen Raum deren Garantie nicht zu erwarten.20 Extremismus kennzeichnet ein Gehorsam erzwingender antiaufklärerischer Romantizismus. Diesen Geist beschrieb Heinrich Mann im Roman „Der Untertan“: „Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus (. . .) ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war.“21 Extremisten pervertieren das Theorem des Philosophen Thomas Hobbes, der Konflikte durch die „gütige“ Herrschaft einer Elite ausschloß,22 zum absoluten Führungsanspruch über die Partei bzw. (im weiteren Rahmen) über den Staat. Die angestrebte Durchdringung vollziehen sie in den eigenen Reihen. Sie bekämpfen widerstrebende Meinungen, da langwierige Entscheidungsfindungen die Kampfkraft einer auf revolutionären Umsturz fokussierten Organisation schwächen könnten und ihrem geschlossenen Weltbild widersprechen.

3. Merkmale radikaler Parteien Zu den Charakteristiken radikaler Parteien zählen: 1. Sie fordern Reformen an „Haupt und Gliedern“ des demokratischen Verfassungsstaats und behandeln demokratisch legitimierte Institutionen als formbare Objekte. 2. Sie provozieren kalkulierte Brüche des gesellschaftlichen common sense und spielen gesellschaftliche Konfliktlinien zur Veränderung der politischen Kultur aus. 3. Sie zeigen nach innen und außen eingeschränkte Konfliktfähigkeit, solang alterna-

19 Handelte es sich bei der NS-Diktatur um eine autonome Herrschaft, trat die SED-Diktatur als „Kollaborationsregime“ der Sowjetunion auf. Vgl. Wolfgang Mommsen, Die DDR in der deutschen Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 29–30/1993, S. 20–29. 20 Hierbei geht es nicht um die idealtypische Gegenüberstellung von Anspruch und Wirklichkeit. Vgl. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., Opladen 2000, S. 177–193. 21 Heinrich Mann, Der Untertan, Frankfurt a. M. 2002, S. 13. 22 Vgl. Thomas Hobbes, Behemoth oder das Lange Parlament, Frankfurt a. M. 1991.

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tive Strömungen den Kurs der Partei nicht nachhaltig beeinflussen.23 4. Sie stilisieren sich zum politischen Arm einer „sozialen Protestbewegung“.24 5. Sie kooperieren mit Feinden des demokratischen Verfassungsstaats. Radikalismus kennzeichnet die Akzeptanz des Verfassungskerns, des durch die Garantie von Menschenwürde, Demokratieprinzip und Rechtsstaatlichkeit beschriebenen demokratischen Minimalkonsenses.25 Darüber hinaus erstrebt er die Deformierung der sozialen Rahmenbedingungen, um Gegenpositionen zugunsten eigener Vorstellungen einzuhegen, ohne sie jeder Artikulationsmöglichkeit zu berauben. Reformen haben einen eigenen Wert und degenerieren somit nicht zum Mittel zur Verbesserung der Kampfbedingungen zugunsten des revolutionären Umsturzes. Zwar verneint Dieter Grimm das Recht des Souveräns auf eine willkürliche Änderung des Staatsrechts, wenn die Verfassung auf vernunftgeleiteten Regeln basiere,26 doch diskreditiert das nicht per se eine begrenzte Revision. Die Verfassungsmütter und -väter schützten zwar Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes besonders (den Kern der Verfassung und demokratischen Minimalkonsens), zugleich sind andere Festlegungen veränderbar, wenn sie nicht anschließend dem Verfassungskern widersprechen. Denkbar wären so Reformen an den Repräsentativorganen, wobei deren Legitimation bzw. ihr Gestaltungseinfluß nicht in Frage gestellt werden darf. Radikalismus kann auch das Gewicht nichtstaatlicher Verbände auf die Parteien oder korporative Elemente beschneiden bzw. auf einzelne Gruppen beschränken oder gezielt einzelne Organisationen bevorzugen, um ihnen exklusiven Zugang zu Entscheidungsprozessen zu sichern.27 Eine veränderte politische Kultur mit gesteigerten eigenen Beeinflussungsmöglichkeiten folgte.

23 Unter Strömungen werden Orientierungsgemeinschaften, Machtagenturen und Personalrekrutierungspools verstanden. Vgl. Joachim Raschke, Sind die Grünen regierungsfähig? Die Selbstblockade einer Regierungspartei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 10/2001, S. 24. 24 „Soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.“ Vgl. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systemischer Grundriß, Frankfurt a. M. 1995, S. 77; Roland Roth/Dieter Rucht ergänzen: „Von spontanen und einmaligen Protesten unterscheiden sich soziale Bewegungen durch ein höheres Maß an Kontinuität, das durch die Ausbildung eigener Organisationsformen ermöglicht wird.“ Vgl. dies., Art. Neue Soziale Bewegungen, in: Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Wiesbaden 2002, S. 297. 25 Vgl. Stephan Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie. Eine Studie zur Akzeptanz der Grundlagen demokratischer Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn u. a. 1986. 26 Vgl. Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a. M. 1991.

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Radikalismus erstrebt eine umfassende Erneuerung des Gemeinwesens, wobei er zur Popularisierung eigener Thesen nicht vor Populismus und Provokationen zurückschreckt. Er widerspricht dem common sense, um traditionelle Werte und Begrifflichkeiten zu konvertieren. Notwendig hierfür ist eine fortgeschrittene Aushöhlung der Wirkungskraft tabuisierter Normen, weshalb dies nicht in eine Verurteilung des Enttabuisierers mündet, sondern eine Form von Heldenstatus verleiht.28 Anders ausgedrückt: „Zuvor unbestritten übernommene Kategorisierungs- und Bewertungssysteme geraten in Widerspruch zu den neuen Bedingungen.“29 Erfolg verspricht diese Strategie, „wenn in einer Gesellschaft etwas nicht stimmt, [. . .] wenn die Eliten zu sehr zusammenrücken, sich sozial einseitig rekrutieren in ihrer Kommunikation nach unten abschotten, miteinander eine nahezu identische politische Philosophie teilen.“30 Hierbei beanspruchen Radikale für sich, die Intentionen des Volks erkannt zu haben, doch streben sie keinen Austausch der politischen und gesellschaftlichen Eliten an. Ihr Ziel ist begrenzter: der eigene Aufstieg ins politische Establishment. Radikalismus idealisiert die eigene Ideologie. Er beschränkt jene aber auf wenige Leitsätze und zeigt Flexibilität, wendet sich aber beständig gegen die einflußreichen gesellschaftlichen Schichten, die von einem hohen Aufmerksamkeitsgrad profitieren.31 Mit gezielten Brüchen des Tabus der partiellen Leistungsfähigkeit diktatorischer Regime suchen sie öffentliche Aufmerksamkeit. Deren antidemokratische Untriebe verschweigen sie hierbei. Radikalismus entstellt die Realität und verleiht der Diktatur teilweise Legitimität, wenn sie international kaum geächtet ist und eine Form von Revolutionsromantik ausstrahlt. Symbolik, wie den Che Guevara-Kult, nutzt der politische Radikalismus zur Beeinflussung solcher Schichten, die eine Kongruenz mit ihren Ideen aufweisen, sich aber von der Partei und deren Organisations- und Ausdrucksformen nicht angesprochen fühlen. Radikale suchen einen Weg zwischen der Dominanz der Parteispitze und der politischen Teilhabe aller Gliederungen. Damit entsteht ein labiles Gleichge27 Vgl. Kurt Damaschke, Der Einfluß der Verbände auf die Gesetzgebung, München 1986. 28 Vgl. Jörg Meyerhoff, Verbotene Handlung. Wann ist ein Tabu ein Tabu?, in: Das Parlament vom 14. Juni 2004. 29 Morgenstern (FN 14), S. 10. 30 Franz Walter, Lafontaines „Appel au peuple“, in: Internationale Politik 60 (2005) H. 9, S. 62 f. 31 Different stellt sich die Situation in anderen Ländern dar. In Österreich profitierte die FPÖ von der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Proporzdemokratie von SPÖ und ÖVP. In Frankreich nutzte der Front National (FN) den schwachen Organisationsgrad der etablierten Parteien und die Auflösung der genuinen Mitte. Vgl. zum Aufstieg des FN: Marieluise Christadler, Der Front national. Vom Außenseiter zur etablierten Protestpartei, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 24 (1995), S. 291–304.

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wicht. Zwar kann die Basis nur in Schwächephasen die Führung entscheidend beeinflussen, zugleich muß jene deren Befindlichkeiten achten. Weiterhin würdigen Radikale Meinungsvielfalt, bieten dabei aber pluralismusfeindlichen Kräften ein Plenum. Gegenüber diesen Strömungen sucht sich die Führung öffentlichkeitswirksam abzugrenzen, um nach außen demokratische Verläßlichkeit zu dokumentieren. Idealtypisch steht an der Spitze einer derartigen Organisation eine charismatische Persönlichkeit mit solcher Reputation, die sie intern unangreifbar erscheinen läßt. Von der Popularität des „Gesichts“ der Gruppierung profitieren alle Strömungen.32 Zugleich offenbart das den Keim neuer Konflikte. Bleibt der Erfolg aus, steht mit der Zukunft der Führung der gesamte Kurs in Frage. „Soziale Protestbewegungen“ bieten sich als alternative Artikulationsforen zur schmelzenden Integrationsfähigkeit der (Volks-)Parteien an. Eine Gemengelage aus thematischer Beschränkung und bunter Sympathisantenschar verleiht ihnen Attraktivität – mit begrenzter inhaltlicher Übereinstimmung können breite Bevölkerungsschichten angesprochen werden.33 Auffällig sind die Spontaneität von „Bewegungen“ sowie die Heterogenität ihrer Protagonisten. Sie variieren von einem festen Veränderungsszenario über die Vertretung unklarer Wünsche bis hin zu reinen Krawallorgien.34 Diese verschiedenen Spielarten verhindern die Erzeugung einer „Bewegung“ durch politische Organisationen.35 Zwar verfügt die Mehrheit der Anhänger von Rechtsaußenparteien über ein ideologisch nahestehendes Weltbild,36 jedoch müssen zu dessen Aktivierung besondere Umstände eintreten. Andernfalls folgt politische Abstinenz bzw. greifen die Integrationsfaktoren der etablierten Parteien. Signifikante Unterschiede in den Wahlergebnissen einzelner Gruppierungen (die sich selbst als „Bewegung“ definieren) verdeutlichen: Stand ein funktionell nutzba32 Vgl. Florian Hartleb, Rechts- und Linkspopulismus. Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei und PDS, Wiesbaden 2004, S. 87–95. 33 Vgl. Rudolf Günter Deiters, Die PDS, die rechten Parteien und das Alibi der „Politikverdrossenheit“. Die Beweggründe westdeutscher Rechts- und ostdeutscher PDS-Wähler auf dem empirischen Prüfstand, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 422–441. 34 Vgl. Helmut Willems, Kollektive Gewalt gegen Fremde. Entwickelt sich eine soziale Bewegung von rechts?, in: Hans-Günther Heiland/Christian Lüdemann (Hrsg.), Soziologische Dimension des Rechtsextremismus, Opladen 1996, S. 30. 35 Vgl. Ruud Koopmanns, Soziale Bewegung von rechts? Zur Bewegungsförmigkeit rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Mobilisierung in Deutschland, in: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 767– 781. 36 Vgl. Jürgen W. Falter, Wer wählt rechts? Die Wähler und Anhänger rechtsextremistischer Parteien im vereinigten Deutschland, München 1994; ebenso: Kai Arzheimer, Wahlen und Rechtsextremismus, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Berlin 2004, S. 56–81; für die Linke stehen entsprechende Untersuchungen aus.

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res Thema auf der politischen Agenda, gelangen hohe Zustimmungswerte. Radikalismus kann „Bewegungen“ nur begleiten und dient sich als deren Speerspitze an. Hierbei verspricht thematische Kongruenz zwischen den Protagonisten des Protests und den Vertretern einer Partei beidseitigen Gewinn. Kooperationen und gegenseitige Sympathiebekundungen von Demokraten mit Extremisten verwischen die Grenze zwischen Anhängern der freiheitlichen Demokratie und Verfassungsfeinden.37 Wer mit Antidemokraten zusammenarbeitet, kann nicht als Stütze der demokratischen Ordnung fungieren.38 Zugleich erschwert die verbreitete Gleichsetzung zwischen extremistischen und radikalen Parteien letzteren die Zusammenarbeit mit Gruppierungen des demokratischen Spektrums. Durch diese Isolation laufen sie auf der Partnersuche Gefahr, sich dem Lager der Verfassungsfeinde anzunähern bzw. sogar in dieses überzuwechseln. Somit stellt für Radikale ihr Verhalten gegenüber Extremisten einen Spagat dar. Sie versuchen deren Ressourcen zu nutzen, ohne in ihr Fahrwasser abzutreiben; sie treten einen Schritt hinaus aus dem demokratischen Rahmen, wollen ihm aber angehören. Kooperationen dienen zur Verbreiterung strategischer Optionen, wobei die Frage nach dem Charakter und den Intentionen des Partners in den Hintergrund rückt.

4. Extremismus und Radikalismus im Vergleich „Eine liberale Demokratie muß bei der Zuschreibung der Charakterisierung ,extremistisch‘ vorsichtig sein, da die exakte Trennung zwischen Extremisten und Demokraten oft schwierig ist angesichts des Nebeneinanders und Durcheinanders extremistischer und demokratischer Strömungen in bestimmten Bewegungen sowie der Täuschungsmanöver extremistischer Gruppierungen, die häufig ihre Verfassungstreue betonen.“39 Dennoch beschreiben die Kriterien radikale und extremistische Organisationen, wobei sich Übergänge als fließend erweisen. Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und umfassender Veränderungswille eint sie, während ihr Dissens im Unterschied zwischen Reform und Revolution, zwischen Mäßigung und Maßlosigkeit liegt. Extremismus basiert auf einer Doktrin der umfassenden Welterklärung. Ihnen stehen die Pluralismus fördernden Demokraten gegenüber. Radikalismus lehnt 37 Vgl. zur Entwicklung vor 1990: Wolfgang Rudzio, Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1988; Rudzios Befund ist auch auf das wiedervereinigte Deutschland übertragbar. 38 Vgl. Jürgen Maruhn, Gefährdungen und Sicherungen des demokratischen Konsenses. Demokratisch, antidemokratisch, links und rechts, in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts, Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, München 1997, S. 89. 39 Isabelle Canu, Der Streit um den Extremismusbegriff. Die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien, in: Ebd., S. 119.

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beide Positionen ab. Er duldet die freiheitlich-demokratische Grundordnung, bejaht aber nicht deren konkrete Ausformung und beschreibt so eine „Grauzone“ zwischen Verfassungstreue und Verfassungsfeindlichkeit. Eine deformierte Republik ist sein Ziel. Extremisten möchten hingegen die Wurzeln des demokratischen Verfassungsstaats ausreißen und an deren Stelle die eigene Ideologie pflanzen. Sie vertreten einen diktatorischen Staatsentwurf. Ihr Antipluralismus verneint direkt oder indirekt die Balance zwischen individuellen Unterschieden und fundamentaler Gleichheit. Weiterhin mißachten Extremisten den Raum der Austragung unterschiedlicher Positionen. Sie verdammen Parlamente als Ausführungsorgan anonymer Mächte. Hingegen nutzen Radikale die Gremien als Plattform und sprechen ihrem Gegenüber nicht das Existenzrecht ab. Während Extremisten keine internen Differenzen ertragen, tolerieren radikale Gruppierungen Vielfalt, die jedoch ihre Grenzen in der Dominanz der Parteiführung findet. Akzeptanz basiert bei ihnen auf zwei Säulen: Einerseits betont die Führung öffentlichkeitswirksam Pluralismusfreundlichkeit, andererseits würde der Ausschluß der Opponenten den Bestand der Partei gefährden. Radikalismus beweist trotz seines festen Zukunftsbildes Offenheit in einem ausreichendem Maß, um Ideologie und Realität in Einklang zu bringen. Er nutzt Populismus als Darstellungsmittel. So erstrebt er den Zugang zur Mehrheitskultur. Er will Gegenkräfte schwächen, ohne deren Existenzrecht grundsätzlich in Frage zu stellen. Radikalismus muß den Keim einer Debatte erkennen, um anfachend bzw. steuernd zu wirken. Da die Darstellung scheinbarer oder tatsächlicher Mißstände breiten Zuspruch verspricht, zielen radikale Gruppierungen insbesondere auf Protestwähler ab. Hingegen gelingt die Etablierung als politischer Arm einer breiter gefaßten „Protestbewegung“ nur bei Kongruenz der Grundlagen, Ziele und der soziologischen Basis. Hierbei erschöpfen sich die Möglichkeiten der Radikalen in einer „Trittbrettfahrermentalität“. Durch seine gegenüber Extremisten größere ideologische Offenheit und populistische Ausrichtung eignet sich Radikalismus als Stimme „sozialer Bewegungen“.

5. DKP, DVU, PDS und Republikaner im Vergleich a) Merkmale des Extremismus in den Parteien Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)40 greifen in unterschiedlicher Stringenz auf die marxistische Lehre zurück. Die Theoriegläubigkeit der Linken läßt sie auf den Sieg 40 Diese Studie bezieht sich auf die Entwicklung der Parteien von 1990 bis 2005. Deshalb kürzt der Autor die im Jahr 2005 in „Die Linkspartei“ umbenannte SEDNachfolgerin mit PDS ab.

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gegen den Kapitalismus vertrauen. Selbst die PDS, die offiziell mit jedem Determinismus brach, forderte, bei Strafe des Untergangs der Menschheit, eine sozialistische Gesellschaft.41 Gleichwohl nahm die Debatte im Vorfeld der Verabschiedung des Chemnitzer Programms von 2003 einen quälenden Charakter an. In der DKP verhinderte fehlende Kompromißbereitschaft sogar bis ins Jahr 2006 hinein eine neue Grundsatzschrift, die das 1978 unter dem Eindruck des Kalten Krieges entstandene Programm ersetzen konnte. Kommunisten und Postkommunisten unterscheidet der Umgang mit ihren Thesen. Während die DKP auf den marxistisch-leninistischen Klassikern beharrt, setzen sich die Genossen der PDS mit ihnen auseinander. So interpretierte Vordenker André Brie Marx als ersten Marx-Revisionisten.42 Die damalige sachsen-anhaltische Vorsitzende Rosemarie Hein versprach gar, ihre Partei stehe dem „System der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie doch nicht ablehnend gegenüber“.43 Konsequent verurteilt die DKP diese Position und damit die PDS als revisionistisch.44 Doch auch bei der SED-Nachfolgerin ist der Pragmatismus umstritten: In den Nachwehen der Bundestagswahl 2002 verfehlte folgender Antrag auf dem nordrhein-westfälischen Landesparteitag nur knapp eine Mehrheit: „die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft und aller Systeme und Strukturen, die Unterdrückung, Krieg, Ausbeutung und Ungerechtigkeit hervorbringen; ihre Ablösung durch gesellschaftliche Verhältnisse, in denen sich Gleichheit, Solidarität, Emanzipation und die Bewahrung der menschlichen Existenzgrundlagen entwickeln, ist Intention sozialistischer Politik und Perspektive.“45 Auch die „Republikaner“ (REP) bieten viele richtunggebende und, im Gegensatz zur auf Schlagworte beschränkten Deutschen Volksunion (DVU), gehaltvolle Grundsatzschriften. REP und DVU eint jedoch, daß sich ihre Mitglieder jenseits fremdenfeindlicher und autoritärer Leitlinien kaum für Einzelfragen interessieren. Die DVU beschränkt sich in ihren Programmen gar auf ausländerfeindliche und antisemitische Parolen. Für ihre Positionen setzten sich, so behauptet sie, „alle gerecht Denkenden“ ein.46

41 Vgl. Programm der PDS, beschlossen auf der 1. Tagung des 3. Parteitags, 29.– 31. Januar 1993, S. 1. 42 Freiheit und Sozialismus. André Brie zur Vorstellung des Programmentwurfs am 24. Februar 2003 in Berlin; http://www.pds-online.de/programm/debatte/debatte2003/ view_html?zid=26&bs=1&n=20 (Stand: 26. März 2003). 43 Vgl. Rosemarie Hein, Schwierigkeiten mit der Gesellschaft. Bemerkungen zum Oppositionsverständnis, in: Disput 1/2003. 44 Vgl. Ekkehard Lieberam, Karl Marx und das Chemnitzer Programm der PDS, in: Marxistische Blätter 6/2003, S. 11–15. 45 Zit. nach: Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2002, Düsseldorf 2003, S. 156 f. 46 Vgl. Deutsche Volksunion. Parteiprogramm, o. O. 1993, S. 1.

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Die „Republikaner“ präsentieren sich als konservative Kraft, verzichten aber nicht auf doppelbödige Inhalte. Je nach Adressat wandelt sie ihre politische Haltung. Einend wirkt die Betonung von nationaler Solidarität und Stärke und der latente Antiamerikanismus. Die schwierigen internen Mehrheitsverhältnisse – ähnlich der PDS – verhindern eine Akzentuierung ihres Ziels, den beinahe alle gesellschaftlichen Bereiche beeinflussenden starken Staat. Eine Verhaftung in ausgrenzenden Denkkategorien ist jedoch auffällig. Das Parteiprogramm schreibt fest: „[I]n einem Sammelsurium von Menschen unterschiedlicher Herkunft (multikulturelle Gesellschaft) wird es weder ein Zusammengehörigkeitsgefühl geben noch die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe und Rücksichtnahme.“47 REP und PDS trennt der Umgang mit ihren Leitsätzen. Dabei prägt letztere ein größerer Pragmatismus. Die Führung ist sich zwar der Bedeutung programmatischer Fundamente bewußt, doch ordnet sie jene im Unterschied zu den erfolglosen REP der Etablierung im Parteiensystem unter. In den Reihen von DKP und DVU sind hingegen keine Ansätze einer Annäherung an das demokratische Spektrum nachweisbar. Die Kommunisten predigen die Unverzichtbarkeit einer revolutionären Partei und der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft, welche „faschistoide Tendenzen“ ausmerze. Dabei meiden sie den belasteten Terminus „Diktatur des Proletariats“ und benutzen die unbestimmtere Formel, es solle „an die Stelle der Herrschaft des Kapitals, die Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen Werktätigen“ treten.48 Die Deutsche Volksunion zeichnet ein Untergangsszenario, das allein durch die Verdrängung aller nichtdeutschen Elemente abgewendet werden könne.49 Zwar eint die äußerste Linke die Übersteigerung des Gebots der fundamentalen menschlichen Gleichheit, doch unterscheidet sich das Ausmaß dieses Denkens. Für die DKP rangieren soziale und kollektive Rechte über individuellen Freiheiten,50 während in der PDS auch dieses Verständnis umstritten bleibt. Sie vertritt ein anything goes. Ihr Vordenker André Brie deklarierte „die Freiheit des einzelnen mit aller Konsequenz [als] Bedingung der freien Entwicklung aller“;51 allerdings bleibt ein Großteil der Programmatik interpretierbar.52 47

Parteiprogramm der Republikaner, o. O. 2002, S. 7. Vgl. Beschluß des 15. Parteitags der DKP vom 2.–4. Juni 2000 in Duisburg: Die DKP-Partei der Arbeiterklasse. Ihr politischer Platz heute, in: DKP-Informationen 3/ 2000, S. 23. 49 Parteiprogramm der DVU (FN 46), S. 1. 50 Peter Gingold zur Eröffnung des 15. Parteitags der DKP vom 2.–4. Juni 2000 in Duisburg, in: http://www.dkp-online.de/parteitage/15pt/referate/peter-gingold.htm (Stand: 8. Juli 2003). 51 Vgl. Brie (FN 42). 52 Vgl. Viola Neu, Das Janusgesicht der PDS: Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, Baden-Baden 2004. 48

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Für die DKP fordert ihr Verständnis des „demokratischen Zentralismus“ hingegen die Unterordnung unter den klassenkämpferischen Genius.53 Dabei erhält der einzelne Rechte erst nach der Verneinung „konkurrierender Einzelinteressen“.54 „Klassenwidersprüche“ trachten die Kommunisten einzuebnen, womit sie weit über die Intentionen der Reformer in der PDS hinausreichen, jedoch das Herz vieler Postkommunisten erwärmen. Entschieden verteidigt die DKP den Sozialismus als „das Erhabenste, was die Menschheit hervorgebracht hat“, weshalb Pluralismus nicht ihrem Wissenschaftlichkeitsanspruch widersprechen darf.55 Den Gegenpol vertritt die Rechte: Sie überhöht Unterschiede. Maßgebliche „Republikaner“ äußern sich in ihrer Ablehnung von Migration vorsichtig: Sie bestreiten nicht die Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen, verneinen aber die Möglichkeit eines Zusammenlebens, da es die jeweiligen Identitäten schwäche. Zugleich versprechen sie Gleichberechtigung durch Einbürgerung.56 Hier offenbart sich die Antinomie ihrer Programmatik. Einerseits verheißen sie Gleichheit, andererseits betonen sie Gefahren.57 Für die PDS ist die DDR ein Fixpunkt ihres Selbstverständnisses. Die in ihr stark vertretene DDR-Aufbaugeneration wehrt sich reflexartig gegen jede noch so behutsame Distanzierung von deren Vergangenheit; sie verteidigt die Legitimität „ihres“ Staates und widerspricht den Reformern, die sich von dem SEDStaat vorsichtig absetzen. Deshalb scheut sich die PDS davor, die DDR als Unrechtsregime zu bezeichnen und beschränkt ihre Kritik auf Einzelphänomene. Die Genossen tadelten den Bau der Berliner Mauer, die durch „kein Ideal und keinen höheren Zweck“ gerechtfertigt werden könne, zugleich orten sie ihn in der „Logik der weltpolitischen Entwicklung“.58 Dieser Widerspruch ist für die PDS unlösbar. Deshalb möchte sie die Vergangenheitsdiskussion abschließen und an die Stelle des antiextremistischen Einvernehmens einen antifaschistischen Konsens etablieren, der sie aus jeder Verantwortung entließe.59 53 Vgl. Rolf Priemer, Organisationsgrundsätze heute, in: DKP-Informationen 7/ 1999, S. 29. 54 Vgl. Politische Erklärung der DKP. Den Widerstand gegen Kriegspolitik, Sozialkahlschlag und Demokratieabbau verstärken! – Das Kräfteverhältnis verändern! (Entwurf), 6. Tagung des Parteivorstands der DKP (14./15. Februar 2004), Manuskript, S. 13. 55 Zum 25. Parteijubiläum erklärte Gerd Deumlich: „es kann natürlich in einer wissenschaftlichen Weltanschauung letztlich nur eine Wahrheit geben“. Vgl. ders., Buchstäblich eine Kernfrage, in: Heinz Stehr/Rolf Priemer (Hrsg.), 25 Jahre DKP: eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993, S. 108. 56 Parteiprogramm der Republikaner (FN 47), S. 16. 57 Ebd. S. 7. 58 Erklärung des Parteivorstandes der PDS zum 13. August 1961, in: http://www. pds-online.de/partei/geschichte/view_html?zid=1&bs=1&n=5 (Stand: 12. Februar 2003). 59 Vgl. Bernd Faulenbach/Reiner Eckert (Hrsg.): Halbherziger Revisionismus: zum postkommunistischen Geschichtsbild, Landsberg a. L. 1996.

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Im Unterschied zu diesem Schlingerkurs trennte sich die DKP nie von ihren marxistisch-leninistischen Wurzeln. Noch immer gilt die Oktoberrevolution als „Signal zum Aufbruch in eine neue Epoche“ und wird der Sowjetunion der Verdienst einer langen Friedensphase zugeschrieben, die erst die kapitalistische Abwicklung zerstört habe.60 In alter Diktion preist sie die DDR als „ausbeutungsfreie, sozial gerechte, klassenlose Gesellschaft“.61 Rechtsaußengruppierungen müssen bei jeder noch so behutsamen Legitimierung der geächteten NS-Diktatur Vorsicht beweisen. So verwischt die „republikanische“ Terminologie das Täter-Opfer-Verhältnis. Verbrechen werden nicht verschwiegen, geraten aber durch die Betonung der deutschen Opfer in den Hintergrund.62 So befriedigen die REP Instinkte. Dabei reichen ihre Vorstellungen nicht an die Haltung der DVU heran. Zwar rechtfertigt auch diese nicht die NS-Ideologie, doch steht sie in Kontinuität zu deren Lehren. Die parteinahe „National-Zeitung“ reduziert den Holocaust zu einer Fußnote der Geschichte, der sich nicht zuletzt aus der Eigenart der Juden erklären lasse, während die USA und Israel Deutschland ständig an den Pranger stellen würden, um es zu einem willigen Gehilfen zu degradieren.63 PDS und REP akzeptieren Repräsentativorgane und versuchen, über sie Veränderungen durchzusetzen. Maßgebliche Protagonisten in beiden Parteien haben oder wollen sich in den Parlamenten etablieren und können dabei nicht von der oftmals widerstrebenden systemkritischen Basis aufgehalten werden, die auf der Einhaltung der reinen Lehre und der damit verbundenen Distanz zur Macht beharren. Davon distanzieren sich DKP und DVU auf unterschiedlichem Weg. Erstere stellt selbst schwächste Wahlergebnisse als Erfolg dar. Sie denunziert Repräsentativorgane als Büttel des „Kapitals“ und fordert den „revolutionären Bruch“,64 weshalb für sie eine Vertretung allein zur Selbstdarstellung dient. Die bereits in Repräsentativorgane eingezogene DVU versuchte hingegen die Arbeit der Gremien durch eine Schwemme ferngelenkter Initiativen zu erschweren, sie anschließend als „Quasselbude“65 verächtlich zu machen und zur Akklamation ihrer Ideologie zu mißbrauchen.66

60 Vgl. Parteivorstand der DKP (Hrsg.), Thesen zur programmatischen Orientierung der DKP. Verabschiedet auf dem 12. Parteitag der DKP am 16./17. Januar 1993 in Mannheim, S. 10. 61 Peter Gingold: Bewahrt die antifaschistische und internationalistische Tradition! Aus dem Grußwort zum 12. Parteitag der DKP, in: Stehr/Priemer (FN 55), S. 167. 62 Parteiprogramm der Republikaner (FN 47), S. 12. 63 Vgl. u. a.: o.V.: Israels Macht in Deutschland. Drahtzieher, Helfer, Hintergründe, in: National-Zeitung vom 22. November 2003. 64 Vgl. Heinz Stehr, Referat auf der 10. Tagung des DKP-Parteivorstandes am 12./ 13. Februar 2000, in: DKP-Informationen 1/2000, S. 20.

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Das Statut der REP kennzeichnet Unbestimmtheit. Zusammenschlüssen gewährt es Vereinigungsrecht, während die Leitung Eingriffsrechte bei tatsächlich oder vorgeblich parteischädigendem Verhalten behält. So kann Pluralismus zum demokratischen Feigenblatt degenerieren. Diesen ambivalenten Eindruck möchte die PDS vermeiden, indem sie in ihrer Satzung u. a. den westlichen Landesverbänden einen überproportionalen Einfluß garantiert. Gleichwohl treten Auseinandersetzungen auf. Maßgebliche Westgenossen, wie der Vorsitzende der Statutenkommission Hans-Henning Adler, diskreditierten so im Jahr 2003 die Klagen vieler Ostmitglieder an den – westlichen – Führungskadern Uwe Hiksch und Dietmar Dehm folgend: Die PDS sei doch nur eine Neuauflage der alten SED.67 Fehlende Konfliktkultur und Reste zentralistischen Denkens erschweren ein gedeihliches Miteinander. Um den Preis der Modernisierung überspielt die Führung Widerstände. Zwar gewährt die PDS verschiedenen Strömungen ein hohes Maß an Autonomie (das trennt sie von den REP), doch darf dies die Etablierung im deutschen Parteiensystem nicht erschweren (das eint sie mit den REP). Diesen pragmatischen Pluralismus verwerfen DKP und DVU. Ihre Strukturen heben sich abseits der gesetzlichen Vorgaben vom Gebot innerparteilicher Demokratie ab. Die kommunistische Partei versteht sich als Kampforganisation, deren Erhalt im Widerstreit zwischen Mitbestimmung und zentraler Leitung situationsbedingte Entscheidungen erfordere.68 Mitglieder müssen Prüfungen ihrer ideologischen Zuverlässigkeit und umfangreiche Schulungsmaßnahmen absolvieren. Dieser Eifer trennt die DKP von der DVU, deren Verzicht auf stabile Strukturen die Position Gerhard Freys sichert. Führende Auguren nehmen ihre Stellung allein aufgrund ihrer Ergebenheit gegenüber Frey ein. Widerspruch schlägt der Vorsitzende mit fester Entschlossenheit nieder. Erfolgsaussichten haben diese jedoch ohnehin keine, da die finanzielle Abhängigkeit von Frey und die weitgehende Beschränkung der Öffentlichkeitsarbeit der DVU auf dessen „National-Zeitung“ keinen Spielraum für Opposition lassen. Folgender Eindruck drängt sich auf: Frey ist die Partei, die Organisation bedeutungslos.

65 Vgl. Liane Hesselbarth, in: National-Freiheitliche Fraktions-Nachrichten aus dem Landtag Brandenburg 5/2004, S. 2. 66 Vgl. u. a.: Matthias Schmidt, Die Parlamentsarbeit rechtsextremer Parteien und mögliche Gegenstrategien. Eine Untersuchung am Beispiel der „Deutschen Volksunion“ im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Münster 1997. 67 Hans-Henning Adler, Sonderparteitag muß Integrationsleistung vollbringen, in: http://www.pds-online.de/politik/themen/vorstandsdebatte2003/view_html?zid=64&bs= 1&n=8 (Stand: 27. Mai 2003). 68 Vgl. DKP-Bildungsthema 2002, Marxistische Theorie und kommunistische Partei (Theorie und Organisation der Partei), S. 16.

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b) Merkmale des Radikalismus in den Parteien Sowohl „Republikaner“ als auch PDS bezeichnen sich als Reformparteien, die „rechts der Mitte“ bzw. im linken Spektrum für grundlegende Umgestaltungen streiten.69 Zwar ist die Position der PDS zum Gehalt „ihres“ Sozialismus unklar, doch bleibt grundlegender Wandel der kategorische Imperativ aller Flügel. Auch die REP verschrieben sich, so das Bekenntnis ihrer Spitzenfunktionäre, der Erhaltung des freien Gemeinwesens.70 Sie agitieren gegen eine verbreitete Dekadenz, die gerade die Vernachlässigung staatsbürgerlicher Pflichten durch die Herrschenden hervorrufe und eine Veränderung der Verfassungswirklichkeit durch Zuwanderung.71 Dagegen sollen Sekundärtugenden wie Pflichtbewußtsein und Treue dominieren. Gemein ist PDS und „Republikanern“ die Anerkennung der Gesellschaft als reformfähig. Sie tolerieren alternative Meinungen und verstehen die eigene Ideologie nicht als alleinbeglückend. Diesen entscheidenden Schritt weiter gehen DVU und DKP. Ihr Anspruch auf die Vertretung aller „Gutgesinnten“ bzw. auf der Wissenschaftlichkeit ihrer Thesen fordert die Anerkennung der Überlegenheit ihres Modells. REP, DVU und PDS bedienen sich des Mittels gezielter Provokationen zur Sicherung öffentlicher Aufmerksamkeit, während sich die DKP mit der Konsolidierung ihrer Existenz bescheidet. Die stärkere gesellschaftliche Verankerung gereicht der PDS zum Vor- und Nachteil. Einerseits ist sie am stärksten etabliert und verfügt über medialen Zugang, andererseits fallen ihr damit Tabubrüche schwerer. Zwar agitierte sie gegen die als Sozialraub deklassierten Reformgesetze, doch wurde die PDS zumindest in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern als Teil dieser Politik verstanden. Auch der spektakuläre Erfolg bei den Bundestagswahlen vom 18. September 2005 relativiert das Urteil kaum: Die PDS profitierte von der Zusammenarbeit mit der WASG und der Kandidatur des Populisten Oskar Lafontaine. Zwar ist dessen Zugkraft ein Glücksfall für die Postkommunisten; allerdings rief die Umbenennung in „Die Linkspartei“ Widerstand hervor,72 wobei das Verhältnis zwischen den unterschiedlich soziali69 Vgl. Parteiprogramm der Republikaner, mit den novellierten Kapiteln 7, 8 und 14, verabschiedet am 6. Oktober 1996 in Hannover, S. 66; Michael Brie, Die PDSStrategiebildung im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Konfliktlinien und politischer Identität, Berlin 2000, S. 49. 70 Vgl. Reinhard Rupsch, Keine Gemeinsamkeiten zwischen Republikanern und NPD, in: http://www2.rep/index/aspx?ArticleRD=2f67b0a0-78dd-4944-9277-ff8c3363 2031 (Stand: 18. September 2004). 71 Vgl. o.V., Macht die Grenzen wieder dicht, in: Der Republikaner 7–8/2003. 72 So tritt gegenwärtig das Kuriosum auf, daß die Partei unter zwei verschiedenen Namen erscheint. Acht Landesverbände versahen das Kürzel „Die Linke“ mit dem Anhängsel PDS und dokumentierten damit ihre Skepsis gegenüber der von der WASG erwirkten Umbenennung.

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sierten Mitgliedschaften, besonders die Kooperation zwischen den Führungsfiguren Lafontaine und Gysi, die Dauerhaftigkeit der Zusammenarbeit als fraglich erscheinen lassen.73 Die PDS löste sich in Westdeutschland nicht von ihrem Image der SED-Nachfolgerin, was der erzwungene Namensverzicht verdeutlicht. Die PDS wird als kleinbürgerlich wahrgenommen. Damit strahlt sie für das kulturell alternative Milieu keine Anziehungskraft aus. So bilanzieren selbst die Genossen ein „Nichtverhältnis“ zu diesen.74 Von ihrer zunehmenden Heterogenität erhoffen sie sich neue Berührungspunkte. Dafür scheut die PDS nicht vor populistisch verwertbaren Aktionen, wie sie mit den Gründungen der „Komitees für Gerechtigkeit“ 1992, dem „Ingolstädter Manifest“ 1994 und ihrer Beteiligung an der „Protestbewegung“ gegen die Hartz IV-Gesetze dokumentierte. Ein „Saubermannimage“ ist für Rechtsaußengruppierungen wichtig, da sich für sie die Bündnissuche schwieriger als für die Linke gestaltet. REP und DVU mißlang, sich als Trittbrettfahrer einer gesellschaftlichen „Bewegung“ wie als Partner der US-kritischen Demonstrationen im Umfeld des Irak-Kriegs 2003 anzudienen. Hier stimmte der gesellschaftliche common sense mit ihren Positionen überein. Jedoch verhinderte ihr Negativbild Zugang zu breiten Bevölkerungsschichten. Weiterhin weisen die „Republikaner“ nicht die Mobilisierungsfähigkeit und partielle gesellschaftliche Integration auf, während die DVU als „Phantompartei“ auf keine aktivierbare Mitgliederschar zurückgreifen kann. Effekte bleiben kurzfristig, wie die Erfolge der DVU bei den brandenburgischen Landtagswahlen 2004 im Gefolge ihres lautstarken – und mit hohem finanziellen Aufwand geförderten – Protests gegen die Hartz IV-Gesetze zeigten. Mangelnde Bündnisfähigkeit der REP erzwingt die Annäherung an die politische Mitte – verbunden mit inneren Verwerfungen – oder Kooperationen innerhalb des engen äußersten rechten Spektrums zur Erweiterung ihrer Aktionsfähigkeit. Verspricht die erste Strategie eine breitere Unterstützerbasis, bleibt der Gewinn bei letzterer beschränkt, provoziert aber geringe innere Konflikte. Im Unterschied zur DVU, die eine vereinte extreme Rechte anstrebt,75 suchen die „Republikaner“ Bündnisse mit Parteien und Vereinigungen des demokratischen Spektrums.76 Trotz dieser Entscheidung gelingt der Spitze der „Republikaner“ kein unumkehrbarer Kurs, was sie mit der Führung der PDS vereint. 73 Vgl. Renate Oschlies, Instabil im Westen, stabil im Osten, in: Berliner Zeitung vom 26. September 2005. 74 Vgl. Angela Klein, in: Dokumentation der Diskussion, in: Workshop der RosaLuxemburg-Stiftung „Schritte wirklicher Bewegung und Programmatik der PDS“, Manuskript, 2003, S. 18. 75 Im Januar 2005 schloß die DVU den „Deutschlandpakt“ mit der NPD, der eine weitreichende Kooperation festschreibt. 76 Kontakte suchten die REP u. a. zu den Splitterparteien Bund Freier Bürger, DP und Pro-DM.

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In beiden Gruppierungen wehren sich weite Teile der Basis gegen eine als zu angepaßt verurteilte Bundesführung. Diese Widerstände können nur in der PDS überspielt werden, die zugleich extremistische Strukturen integriert. Der Grund für die Dominanz der PDS-Führung liegt in der Nachwirkung obrigkeitsstaatlicher Traditionen, verbunden mit höheren Erfolgsaussichten. Die Bundesleitung der „Republikaner“ ist hingegen zur Auseinandersetzung mit selbstbewußten Gegnern aufgerufen. Entschiedenes Handeln schwächt: Zurück bleibt eine „republikanische“ Organisation die sich von DVU und NPD distanziert, zugleich aber kaum aktionsfähig ist. Noch dramatischer ist die Situation für die DKP: Sie wird im Schatten der PDS praktisch nicht wahrgenommen. Sucht sie deren Nähe, zur Sicherung von Aufmerksamkeit im Huckepack-Verfahren, grenzt sie sich zugleich zur Wahrung ihres revolutionären Profils ab.

6. Schlußbetrachtung Radikalismus ist zwischen Extremismus und demokratischem Spektrum angesiedelt. Zwar beschreibt er diese „Grauzone“, doch stellt Radikalismus ein eigenständiges politisches Phänomen dar. Ihn zeichnet die Zustimmung zu den grundlegenden Geboten des demokratischen Verfassungsstaats aus, insofern ist er – noch – dem demokratischen Spektrum zuzuordnen. Zugleich möchte er die Verfassungswirklichkeit deformieren. Fünf Merkmale kennzeichnen Extremismus: die Verabsolutierung einer als alleinbeglückend verstandenen Ideologie, die Negierung des Gebots fundamentaler menschlicher Gleichheit, die Verharmlosung von Diktaturen, die Verachtung pluralistisch-repräsentativer Gremien und die Mißachtung demokratischer Spielregeln innerhalb der eigenen Organisationen. Radikalismus beschreibt hingegen die Forderung nach Reformen an „Haupt und Gliedern“ des demokratischen Verfassungsstaats, eine eingeschränkte Konfliktfähigkeit nach innen und außen, das Schüren gesellschaftlicher Konfliktlinien zur Deformierung der politischen Kultur, die Stilisierung als Bannerträger einer „sozialen Protestbewegung“ und die Kooperation mit Extremisten. Populistisch stößt Radikalismus in jene Lücken, die von den Etablierten durch als schmerzhaft empfundene Reformen eröffnet werden.77 Die gesellschaftlich weniger isolierte Linke kann hierbei Erfolge feiern, wie die PDS eindrücklich beweist. Ihr rechtes Gegenüber leidet jedoch nicht allein unter der geschichtlichen Last, es leidet unter seiner Zerstrittenheit und der fehlenden Plausibilität der eigenen Argumente. Schlagworte, selbst wenn sie ideologisch verbrämt daher kommen, können Protestwähler nicht dauerhaft halten. Erfolg 77 Vgl. Tobias Dürr, Bewegung und Beharrung: Deutschlands künftiges Parteiensystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 32–33/2005, S. 31–38.

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verspricht somit lediglich die Beschränkung als single-issue-party, im Idealfall mit einer charismatischen Führungsperson an der Spitze, die solang reüssiert, bis die etablierten Parteien das Thema aufgreifen und mit ihrer Absorptionskraft die radikalen Parteien in den Hintergrund drängen. Für den Extremismus gilt: Jenseits einer Minderheit ist in einer gefestigten Demokratie ein Einbruch in die Mitte der Gesellschaft nicht zu erwarten. Schnell zeigt sich, daß er über keine Lösungskompetenz verfügt und der Souverän in seiner großen Mehrheit das demokratische Gemeinwesen prinzipiell bejaht. Die Partei des Demokratischen Sozialismus und „Die Republikaner“ sind als radikal zu klassifizieren, während in den Reihen von Deutscher Kommunistischer Partei und der Deutschen Volksunion die Merkmale des Extremismus dominieren. Die beiden letztgenannten Gruppierungen kennzeichnet die beinahe unbeschränkte Dominanz ihrer jeweiligen Führungen, die in der DKP der „demokratischen Zentralismus“ und in der DVU die wirtschaftliche Macht Gerhard Freys hervorruft. In den Mitgliedschaften beider Parteien trifft dies kaum auf Widerspruch. PDS und REP kennzeichnet zwar ebenfalls ein über das Normalmaß hinausgehender Einfluß der Führungsebene, doch garantieren sie ein Mindestmaß an Pluralismus. Wenig überraschend wirkt sich dieser Befund auf den Unterschied zwischen Dogmatismus und – begrenzter – Offenheit für alternative programmatische Positionen aus. Während die DKP noch immer das Sozialismusmodell der Sowjetunion und der DDR verteidigt, befindet sich die PDS auf einem unbestimmten Weg. Sie vertritt ein Gesellschaftsbild, das sich vom ehemaligen Staatssozialismus trennt, sich aber zugleich nicht von allen antiindividualistischen Positionen entfernt hat. Ein ähnlicher Befund gilt für das rechte Parteienspektrum. Die DVU beschränkt sich auf die Aneinanderreihung von Schlagwörtern, die alles als fremd Verstandene zu Feinden deklariert. Wenn diesen feindlichen Gruppen die Integrationsfähigkeit abgesprochen wird, stößt das auf zumindest partiellen Widerspruch aus den Reihen der „Republikaner“. Sie versprechen bei einer praktisch vollständigen Aufgabe der angeborenen Identität die Möglichkeit der Integration von Migranten. Auch in ihren Reihen zeigt sich ein Bild, das ebenso die Struktur der PDS beschreibt: Es fehlt eine ausgleichende Mitte zwischen einem auf Anerkennung in der gesellschaftlichen Mitte zielenden Kurs der Parteiführung und den in extremistischen Denkschablonen verharrenden Positionen von Teilen der eigenen Basis. Die Anerkennung des demokratischen Verfassungsstaats basiert zu einem hohen Maß in der Vorherrschaft der Parteiführung und kann somit durch eine Veränderung der Machtverhältnisse beendet werden. Bei den untersuchten Organisationen gestaltet sich ein Ausblick schwierig. Hatte der Parteienforscher Oskar Niedermayer bereits 2004 das Schreckgespenst einer labilen Demokratie an die Wand gemalt,78 gestand Eckhard Jesse kurz nach den Bundestagswahlen vom 18. September 2005 mit Blick auf die Bil-

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dung einer neuen Regierung: „Ich war selten so ratlos wie jetzt.“79 Die Folgen der schwierigen Koalitionsbildung sind noch nicht absehbar. Fest steht: Die umbenannte PDS reüssierte bei der Bundestagswahl erstmals bundesweit, die DKP rief nach ihrer Distanzierung 2002 wieder zur Wahl der um WASG-Genossen ergänzten SED-Nachfolgerin auf, und die „Republikaner“ schrumpften zu einer Splitterpartei; die von der DVU unterstützte NPD landete ebenfalls keinen Erfolg. Somit kann mittelfristig allein die PDS ihre Ziele durchsetzen. Auch ihr herausragender Erfolg stellt noch längst nicht den Durchbruch sicher. Zwar profitierte sie vom Zusammenspiel der beiden begnadeten Selbstdarsteller Lafontaine und Gysi, doch ist deren Kooperationsbereitschaft nach dem Erreichen des gemeinsamen Ziels fraglich. Davon ist besonders im Westen die Zustimmung zur PDS abhängig. Unüberhörbar ist das Grummeln der WASG-Basis gegen eine als Fremdbestimmung abgelehnte Dominanz der organisatorisch gefestigteren Ostgenossen. So bleibt die Ost-West-Verbindung ein Experiment. Zerbricht dieses Bündnis, ist auch für die DKP der Traum der Beteiligung an einer bundesweiten Linksallianz ausgeträumt. Bereits 2005 mißlang ihr über die Listen der PDS der Einzug in den Bundestag.80 Ihr Gewinn aus der Kooperation – auf Personen-, nicht auf Parteiebene – beschränkt sich darauf, daß sie nicht mehr isoliert den äußersten linken Rand beackern muß. Die Ergebnisse des ersten Stimmungstests nach der Bildung der Großen Koalition verstärken diesen Eindruck. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt stellte die „Nichtwählerpartei“ den eigentlichen Wahlgewinner dar, während die Gruppierungen des linken und rechten Randes nicht reüssierten. Nachdem die DVU und die „Republikaner“ in Magdeburg bzw. Stuttgart in den neunziger Jahren ihre besten Resultate feiern konnten, endeten die Wahlgänge des Frühjahrs 2006 mit eindeutigen Niederlagen. Selbst die umbenannte PDS konnte kein überwältigend gutes Ergebnis in den ostdeutschen Bundesländern erreichen, während die von ihr unterstützte WASG in Stuttgart und Mainz deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Das Projekt einer gesamtdeutschen Linken wird so kaum erfolgreich sein. Dieses Szenario zeichnet kein strahlendes Bild der Zukunft der Parteien. Und doch ist eine gänzlich andere Entwicklung nicht auszuschließen. Breiter gesellschaftlicher Protest gegen die Politik der Großen Koalition würde den Aktionsspielraum der untersuchten Gruppierungen stärken und der PDS einen stabilen 78 Vgl. Oskar Niedermayer, zit. nach: Günter Lachmann, „Deutschland wird eine labile Demokratie“, in: Welt am Sonntag vom 5. September 2004. 79 Interview mit Eckhard Jesse: „Ein katastrophales Ergebnis“, in: Das Parlament vom 23. September 2005. 80 Allerdings kandidierte ihr Genosse Leo Mayer auf dem Listenplatz 10 in Sachsen.

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Platz im Parteiensystem garantieren. Die DKP könnte sich zugleich als Teil eines breiten Linksaußenbündnisses etablieren. Zwar müßte sie sich hierfür praktisch neu erfinden und sich von ihrem Dogmatismus verabschieden, doch würde es sie aus ihrer Isolation befreien. Auch für die äußerste Rechte bieten sich Optionen: Wenn sich der nationalkonservative Kurs der REP durchsetzen und die Union zu Bündnissen mit der SPD oder den Grünen gezwungen sein sollte, eröffnete sich ihr mit einem unverwechselbaren Profil der Einbruch in breitere Wählerschichten und gerade in Süddeutschland die Chance auf eine Rückkehr auf die politische Bühne. Sollten sich die Extremisten in ihren Reihen durchsetzen, könnte eine geeinte Rechte aus REP, NPD und DVU beim Ausbleiben von Erfolgen der wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen zu einem ernstzunehmenden Einflußfaktor werden, dem trotz vielfältiger gesellschaftlicher Stigmatisierung der Einzug in den nächsten Bundestag zuzutrauen wäre. Eines wird deutlich: Die größeren Erfolgsaussichten besitzen die radikalen Parteien PDS und REP. Insbesondere den Postkommunisten könnte es gelingen, sich als politischer Arm einer „Protestbewegung“ zu etablieren, wodurch sie Zugang zu breiteren Schichten der Bevölkerung erhielten. Um gesellschaftlichen Einfluß zu gewinnen, müssen DVU und DKP die Kooperation mit anderen Gruppierungen suchen. Dabei können sie jedoch nicht realistisch erwarten, daß ihnen die führende Rolle in diesen Bündnissen zufällt. Sie müssen auf die tiefgreifende Ablehnung des Demokratiemodells der Bundesrepublik hoffen. Diese Annahme ist unrealistisch. Schließlich wird für die Gruppierungen viel von ihrem zukünftigen Personaltableau abhängen. Gegenwärtig verfügt nur die PDS-Bundestagsfraktion über populäre Köpfe. Sollte sich dies ändern, eröffnen sich den anderen Parteien neue Chancen.

Antifaschismus und Sozialismus statt Demokratie und Marktwirtschaft Extremistische Ansätze in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik der Linkspartei.PDS Von Tim Peters

1. Einleitung Im Juli 2005 nannte sich die PDS in „Die Linkspartei.PDS“ um. Bei den Bundestagswahlen im September 2005 trat die Linkspartei mit einer großen Zahl von Vertretern der „Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit“ (WASG) auf ihren Landeslisten an. Im Gewand der „Linkspartei“ errang die PDS 8,7 Prozent der Zweitstimmen sowie 54 Mandate im neuen Bundestag. Die neue Formation wurde noch vor den Grünen sowie knapp hinter der FDP viertstärkste politische Kraft in Deutschland. Nach den Worten von Michael Brie und Christoph Spehr hat „der ,historische Block‘ des Neoliberalismus (. . .) mit dem Zusammenwirken der linken Kräfte einen ernstzunehmenden Gegner bekommen“.1 Dies stellt einen guten Anlaß dar, bestimmte Positionen der Linkspartei sowie deren Vereinbarkeit mit dem Konzept des demokratischen Verfassungsstaates2 näher zu beleuchten. Eine umfassende Untersuchung der Vereinbarkeit der Politik der Linkspartei mit dem demokratischen Verfassungsstaat würde den Rahmen dieser Studie sprengen.3 Daher beschränkt sich dieser Beitrag auf die folgenden Teilaspekte: Inwieweit nutzt oder schadet die antifaschistische Strategie der Linkspartei dem demokratischen Verfassungsstaat? Welche Bedeutung

1 Michael Brie/Christoph Spehr, Der Neoliberalismus hat einen Gegner, Linke Perspektiven nach der Bundestagswahl 2005, in: rls standpunkte 19/2005, S. 1. 2 Zum Konzept des demokratischen Verfassungsstaates vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 37–40. 3 Umfassende Studien zum Verhältnis zwischen der PDS-Politik mit dem demokratischen Verfassungsstaat: Viola Neu, Das Janusgesicht der PDS, Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, Baden-Baden 2004; Jürgen P. Lang, Ist die PDS eine demokratische Partei? Eine extremismustheoretische Untersuchung, BadenBaden 2003.

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besitzt die Bündnispolitik für die Linkspartei? Inwieweit ist die Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik der Linkspartei vereinbar mit der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes?

2. Linkspartei und demokratischer Verfassungsstaat Ein aufschlußreicher Indikator für die Stellung einer Partei zum demokratischen Verfassungsstaat ist die Positionierung der Partei zu den demokratischen Institutionen des Staates und insbesondere zu jenen Organen, welche den Staat vor seinen Gegnern schützen sollen. Für die Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sind – neben der grundsätzlichen Aufgabe aller Bürger, ihre Freiheit und Demokratie zu verteidigen – speziell das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie entsprechende Stellen in den Ländern zuständig. Die Linkspartei unterstellt den staatlichen Organen regelmäßig das Aufbauschen der extremistischen Gefahr von links und die Verharmlosung der extremistischen Gefahr von rechts. Weniger als 30 von insgesamt 108 rechtsextremistischen Organisationen fänden im Bericht des Bundesamtes Erwähnung.4 Ursachenforschung wie zum Beispiel über Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern werde kaum betrieben.5 Nach der Vorstellung der Linkspartei müßte der Verfassungsschutz im Bereich der Bekämpfung des Rechtsextremismus finanziell und organisatorisch deutlich ausgebaut werden, während er offenbar die Beobachtung von Linksextremismus einstellen sollte, da es sich bei „Linksextremismus“ nach der Auffassung der Linkspartei um eine Erfindung beziehungsweise einen Kampfbegriff der Konservativen gegen antifaschistische, antikapitalistische und fortschrittliche Kräfte handelt. Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, Ulla Jelpke, formuliert es unmißverständlich: „Wer eine Gefährdung des Staates von links behauptet, redet wirres Zeug.“6 Die Art, wie die Linkspartei die Arbeit des Verfassungsschutzes beurteilt und wie sie sich die Arbeit des Verfassungsschutzes idealtypisch vorstellt, spiegelt ihr antifaschistisches Demokratieverständnis wider. Ein weiterer Beleg dafür, wie wenig das antifaschistische Verfassungsverständnis der Partei mit dem antiextremistisch geprägten Grundgesetz vereinbar ist, zeigt sich in der Stellung der Linkspartei zum Versammlungsrecht. Einerseits tritt die Partei gegen jede Verschärfung des Versammlungsgesetzes ein. 4 Vgl. Klaus Böttcher, Rechtsextremistische Strategien enttarnen, Gedankenaustausch über weitere Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, in: PDS-Pressedienst 18/99, 7. Mai 1999, S. 8 f. 5 Ebd. 6 Ulla Jelpke, Wer an der Bekämpfung des Neofaschismus spart, handelt verantwortungslos, in: Pressemitteilung der Fraktion „Die Linke“ vom 23. Februar 2006.

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Andererseits will sie rechtsextremistische Versammlungen verbieten.7 Die Linkspartei strebt unter dem Motto „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ ein Sonderrecht gegen bestimmte Auffassungen an, die sie als rechtsextremistisch einordnet und denen das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht zustehe.8 Interessanterweise steht die Partei mit ihrer Argumentation dem Oberverwaltungsgericht Münster nahe, welches aus Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 4 und Art. 139 GG eine verfassungsimmanente Beschränkung „demonstrativer Äußerungen nazistischer Meinungsinhalte“ herleitet.9 Die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts wurden allerdings sämtlich vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben.10 Soweit sich staatliche Beschränkungen auf den Inhalt und die Form einer Meinungsäußerung beziehen – auch wenn die Äußerung in einer oder durch eine Versammlung erfolgt –, ist ausschließlich Art. 5 Abs. 1 GG betroffen.11 Demgegenüber schützt Art. 8 Abs. 1 GG die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen.12 Dies bedeutet, daß Einschränkungen von auf Versammlungen geäußerten Inhalten sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten dürfen.13 Wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend feststellt, fallen selbst Meinungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung wenden, unter den Grundrechtsschutz der Meinungsäußerungsfreiheit: „Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, daß die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Die Bürger sind daher auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung 7 Vgl. Antifaschistische Politik heute, Beschluß des 3. Parteitages, 2. Tagung, in: Disput (1993) H. 13/14, S. 35–38; Wolfgang Dietrich, Alle grundgesetzlichen Möglichkeiten nutzen, in: Rundbrief der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus, 1+2 2003, S. 66–72; Beschluß der Gesamtmitgliederversammlung der PDS Neubrandenburg vom 5. März 2004, in: www.pds-nb.de (Stand aller Internetseiten: 9. April 2006). 8 Vgl. Dietrich (FN 7), S. 66–72. 9 Vgl. Oberverwaltungsgericht Münster, Beschluß vom 30. April 2001, 5 B 585/01, in: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001), S. 2114. 10 Vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluß vom 27. Januar 2006, 1 BvQ 4/06, in: www.bverfg.de. 11 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 23. Juni 2004, 1 BvQ 19/04, Abs. 19, in: www.bverfg.de; Roman Herzog, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, München, 39. Ergänzungslieferung Juli 2001, Art. 8, Rn. 22. 12 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Entscheidungssammlung, Bd. 104, S. 92–126, hier S. 104. 13 Vgl. Herbert Bethge, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., München 2003, Art. 5, Rn. 144.

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in Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden. Die plurale Demokratie des Grundgesetzes vertraut auf die Fähigkeit der Gesamtheit der Bürger, sich mit Kritik an der Verfassung auseinander zu setzen und sie dadurch abzuwehren.“14 Wehrhafte Demokratie manifestiert sich auch und gerade in Garantien staatlicher Grundrechte sowie im Aufbau allgemeiner rechtsstaatlicher Sicherungen.15 Mit diesem Grundsatz wäre es nicht vereinbar, wenn – wie von der Linkspartei gefordert – der Staat tatsächlich oder vermeintlich verfassungsfeindlichen Meinungen pauschal den Grundrechtsschutz verweigern könnte. Aufgrund des hohen Werts der Meinungsfreiheit kommen nur sehr enge Einschränkungen dieses Grundrechts in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht beurteilt die Meinungsfreiheit in ständiger Rechtsprechung als „schlechthin konstituierend“ für die freiheitliche demokratische Ordnung des Grundgesetzes.16 Im Zweifel gelte die Vermutung der freien Rede. Zu den anerkannten Einschränkungen der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG gehören die Strafgesetze, die zum Rechtsgüterschutz ausnahmsweise bestimmte Inhalte verbieten wie allgemein Beleidigungen und Verleumdungen (§§ 185–200 StGB), speziell volksverhetzende Inhalte (§ 130 StGB) oder die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB). Offen nationalsozialistische Forderungen sind somit bereits heute verboten, weil sie regelmäßig unter einen der bestehenden Straftatbestände fallen. Für darüber hinausgehende „verfassungsimmanente Grenzen“ der Meinungsfreiheit läßt das Grundgesetz keinen Raum.17 Etwas anderes folgt nicht aus Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 4 und Art. 139 GG. Aus der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG und dem Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG ergeben sich keine Schutzbereichseinschränkungen oder verfassungsimmanenten Schranken für andere Grundrechte. Spezielle Grundrechtsschranken wie Art. 5 Abs. 3 Satz 2 und Art. 9 Abs. 2 GG hätten ansonsten keinen Sinn. Art. 139 GG entfaltet seit der Aufhebung der Entnazifizierungsvorschriften keine Wirkung mehr – auch nicht als normativer Ausdruck einer antifaschistischen Werthaltung des Grundgesetzes.18 14 Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluß vom 24. März 2001, 1 BvQ 13/01, in: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001), S. 2069–2072, hier S. 2070. 15 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluß vom 1. Mai 2001, 1 BvQ 22/01, in: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001), S. 2076– 2078, hier S. 2077; Christoph Gusy, Rechtsextreme Versammlungen als Herausforderung an die Rechtspolitik, in: Juristen Zeitung 57 (2002), S. 105–114. 16 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 7, S. 198–230, hier S. 208. 17 Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluß vom 24. März 2001, 1 BvQ 13/01, in: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001), S. 2069–2072, hier S. 2070.

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Im übrigen wäre fraglich, wo die Grenze zwischen einer – verbotenen – neonationalsozialistischen oder rechtsextremistischen Meinung und einer – noch erlaubten – rechtsradikalen, deutschnationalen oder konservativen Auffassung verliefe. Versammlungsbehörden und Gerichte müßten darüber entscheiden, welche Meinungen in Deutschland grundrechtlichem Schutz unterliegen. Dies wäre nicht mit Art. 9 Abs. 2, Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 GG vereinbar.19 Die Linkspartei kann nicht überzeugend erklären, wo dem Grundgesetz eine unterschiedliche Behandlung von rechten Verfassungsfeinden einerseits und anderen Verfassungsfeinden andererseits zu entnehmen ist. Ein „Sonderrecht gegen rechts“ entspringt möglicherweise dem rechtspolitischen Wunsch der Postkommunisten nach einer antifaschistischen Grundordnung, aber findet keine Begründung in der antiextremistischen Ausgestaltung des Grundgesetzes. Problematisch erscheint neben der prinzipiellen Verweigerung des Grundrechtsschutzes für bestimmte als „neonazistisch“ und „rechtsextremistisch“ eingeordnete Meinungen darüber hinaus die Grenzziehung der Linkspartei. Aus der Sicht der Linkspartei fielen nicht nur rechtsextremistische Positionen aus dem Grundrechtsschutz heraus. Auch einzelne bürgerlich-konservative Auffassungen – insbesondere in den Bereichen der Ausländerpolitik oder Inneren Sicherheit – verlören höchstwahrscheinlich ihren Grundrechtsschutz. Bei einer Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Meinungen würde die Grenzziehung zwischen erlaubten und verbotenen Versammlungsinhalten dadurch erschwert, daß Versammlungen von Rechtsextremisten im Regelfall keine offen nationalsozialistischen Ziele verfolgen oder gar eine komplette Rückkehr zum NS-Staat fordern. Die Mottos derartiger Demonstrationen lauten beispielsweise: „Gegen doppelte Staatsbürgerschaft“, „Kein deutsches Blut für fremde Interessen – gegen Krieg und Gewalt“, „Gegen Globalisierung und Euro-Wahn“ oder „Argumente statt Verbote“.20 Diese unverfänglichen Mottos, die teilweise ebenso im demokratischen wie sogar im dezidiert linken politischen Spektrum vertreten werden, können kein Verbot rechtfertigen.21

18 Vgl. Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, Zur Interpretation und Kritik von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1991, S. 247–255 m.w. N.; Gertrude Lübbe-Wolf, Zur Bedeutung des Art. 139 GG für die Auseinandersetzung mit neonazistischen Gruppen, in: Neue Juristische Wochenschrift 13 (1988), S. 1289–1294. 19 So auch Ulli F. H. Rühl, „Öffentliche Ordnung“ als sonderrechtlicher Verbotstatbestand gegen Neonazis im Versammlungsrecht?, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 22 (2003), S. 531–537, hier S. 534. 20 Vgl. die Übersicht über rechtsextremistische Versammlungen in MecklenburgVorpommern 1999–2001: Wolfgang Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, Die rechtlichen Möglichkeiten, rechtsextremistische Demonstrationen zu verbieten oder zu beschränken, Hamburg 2003, S. 26–29. 21 Ebd., S. 117 f., 157 f.

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Alle Bürger, Vereine und Parteien können sich auf die Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit berufen, soweit ihnen nicht gemäß Art. 18 GG die individuelle Berufung auf die Grundrechte ausdrücklich aberkannt oder die aufrufende Vereinigung beziehungsweise Partei gemäß § 3 Abs. 2 Vereinsgesetz beziehungsweise Art. 21 Abs. 2 GG verboten wurde. Die Grundrechte zeichnen sich durch eine Neutralität gegenüber der politischen Positionierung desjenigen aus, der sie in Anspruch nehmen möchte. Eine pauschale Einschränkung von Grundrechten für tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten hätte eine mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarende Sanktionierung von Gesinnungen zur Folge. Sollte sich die von der Linkspartei unterstützte Auffassung durchsetzen, würde dies auf eine antifaschistische Zensurpraxis von Meinungen hinauslaufen. Dieses Muster paßt zum antifaschistischen Politikverständnis der Partei: Nach links ist per se alles erlaubt.22 Nach rechts sollen bereits bürgerlich-konservative Positionen als rechtsextremistisch oder neofaschistisch aus dem demokratischen Diskurs verbannt werden. Die von der Linkspartei verfolgte Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit für bestimmte unerwünschte Inhalte besitzt selbst totalitäre Züge und ist nicht mit dem pluralistischen Meinungswettbewerb sowie der antiextremistischen Grundausrichtung des Grundgesetzes vereinbar. Die Forderungen der Linkspartei zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit stellen eine Bedrohung der freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. Positiv ist die jüngste Entwicklung der Diskussion innerhalb der Linkspartei zum Versammlungsrecht zu bewerten. Insbesondere Petra Pau erklärte im Jahr 2005 wiederholt, daß eine massive Einschränkung des Versammlungsrechts bis hin zu einem Verbot für Rechtsextremisten nicht im Sinne der Linkspartei sei. Im Januar 2005 erklärte sie in einer Pressekonferenz: „Für falsch halte ich alle Versuche, eine Lex NPD zu stricken. Wer das Versammlungsrecht partiell beschneiden will, beschneidet es grundsätzlich. Das wäre keine Antwort auf den Rechtsextremismus, das wäre eine Dienstleistung für den Rechtsextremismus.“23 In einer Presseerklärung von ihr im Februar 2005 heißt es: „Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht und daher besonders geschützt. Es gilt für alle und überall, solange keine strafrechtlichen Gründe dagegen stehen.“24 Im 22 Die PDS tritt regelmäßig als Unterstützerin linksextremistischer Versammlungen auf. Weder sie selbst noch das Oberverwaltungsgericht Münster oder andere Gerichte bzw. Rechtswissenschaftler sind je auf die Idee gekommen, eine Versammlung wegen der Unvereinbarkeit ihrer linksextremistischen Inhalte mit der grundgesetzlichen Ordnung zu verbieten – oder dieses zumindest zu prüfen. 23 Petra Pau, Rechtsextremismus bekämpfen – Rechtsstaat stärken, PDS-Pressekonferenz am 31. Januar 2005, in: www.petra-pau.de. 24 Petra Pau, Kein Sonderrecht am Brandenburger Tor, Presseerklärung vom 11. Februar 2005.

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selben Monat verabschiedeten die rechts- und innenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Linkspartei im Bundestag, in den Landtagen sowie im Linkspartei-Vorstand eine „Berliner Erklärung“, die sich gegen „Aktionismus, gegen kurzschlüssige Einschränkungen des Versammlungsrechts und Verbotsverfahren“ wendet.25 Die Erklärung ist insgesamt besonnen und abgewogen formuliert. Das Wort „Faschismus“ kommt nur im Zusammenhang mit dem 8. Mai 1945 vor. Ansonsten ist ausschließlich vom „Rechtsextremismus“ die Rede. Zumindest in der Frage des Versammlungsrechts ist eine Annäherung von pragmatischen Teilen der PDS an die Konzeption des demokratischen Verfassungsstaates sowie die freiheitliche demokratische Ordnung des Grundgesetzes festzustellen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich diese Linie in der Gesamtpartei sowie der neuen Bundestagsfraktion durchsetzt. Einige der westdeutschen PDS-Bundestagsabgeordneten sind bekannt für einen strikt dogmatischen Kurs. Die meisten WASG-Abgeordneten haben sich bisher nicht öffentlich zum Thema Versammlungsrecht geäußert. In einer neuen Strategie versucht sich die Linkspartei in ihrer Politik auf das Grundgesetz zu berufen. Die Linkspartei will mit ihrer sozialistischen Reformpolitik das Grundgesetz vor dem Neoliberalismus retten. Die neoliberale Politik der Unternehmer bedeute „Vertrags- und Verfassungsbruch“, diese wollten „eine andere Republik und ein anderes politisches System“.26 Nun müsse die Linkspartei das Grundgesetz verteidigen: „Die Hülle des Grundgesetzes, das immer noch den antifaschistischen, antimonopolistischen Geist atmet, aus dem es entstanden ist, wird zur Fessel für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft.“27 Politische Ideen, die der Linkspartei nicht passen, werden als verfassungsfeindlich dargestellt. Wer sich für mehr Markt und mehr Wettbewerb einsetzt, ist in den Augen der Linkspartei grundsätzlich suspekt und wird von ihr mit dem Verdacht der Verfassungswidrigkeit belegt. Wer Einschränkungen im Asyl- und Polizeirecht befürwortet, gefährdet nach der Auffassung von Linkspartei-Politikern die demokratische Verfaßtheit der Bundesrepublik. Es ist kein Wunder, daß ein derartiges Bild von der grundgesetzlichen Ordnung zu folgender Einschätzung führt: „Der Geist und Inhalt des Grundgesetzes lassen sich leichter mit ihrer Politik [der PDS-Politik] als mit der der heutigen CDU/CSU-FDP-Systemveränderer in Übereinstimmung bringen.“28

25 Berliner Erklärung: Kontinuierlich gegen Rechts – Zivilgesellschaft stärken, verabschiedet von den rechts- und innenpolitischen Sprechern der PDS im Bundestag, in den Landtagen und des PDS-Vorstands, 4. Februar 2005. 26 Wolfgang Gehrcke, Mitbestimmung – Sozialstaatlichkeit – Reform der politischen Institutionen: Bestandteile sozialistischer Reformpolitik, in: Utopie kreativ 8 (1998) H. 91/92, S. 155–162. 27 Ebd. 28 Ebd.

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Hier werden zwei Strategien der Linkspartei deutlich. Erstens wird versucht, das Grundgesetz so weit wie möglich im Sinne der Linkspartei zu interpretieren. Offenbar weiß die Linkspartei, daß ein offener Kampf gegen das von der breiten Bevölkerungsmehrheit als sehr positiv eingeschätzte Grundgesetz wenig Aussicht auf Erfolg hat. Wenn es nicht gelingt, Stimmung gegen die Verfassung zu machen, so will die Linkspartei sie zumindest so sozialistisch und antifaschistisch wie möglich auslegen. Dies kann als Versuch bewertet werden, sich zum Wortlaut der Verfassung zu bekennen, aber sie tatsächlich durch eine sozialistisch-antifaschistische Politik ersetzen zu wollen, die nicht mit den grundlegenden freiheitlichen Prinzipien des Grundgesetzes vereinbar ist. Mit ihrer Strategie der marxistisch-leninistischen Interpretation des Grundgesetzes steht die Linkspartei in der Tradition der extremen Linken der Bundesrepublik vor 1990.29 Zweitens versucht die Linkspartei, Initiativen des politischen Gegners nicht im demokratischen Meinungswettbewerb argumentativ zu widerlegen, sondern als verfassungsfeindlich aus dem demokratischen Diskurs auszugrenzen. Deutlich wird das Bestreben der Linkspartei bestätigt, den pluralistischen, repräsentativdemokratischen, rechtsstaatlichen und antiextremistischen Kern des Grundgesetzes durch eine antifaschistisch-sozialistische Ordnung zu ersetzen, die nicht genehmen politischen Meinungen mit dem Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit oder schlicht mit Verboten begegnet.

3. Linkspartei und Bündnispolitik Lenin wird ohne Beleg die Bezeichnung „nützliche Idioten“ für die Bündnispartner zugeschrieben, die keine Kommunisten, aber in bestimmten Fragen zu Bündnissen mit den Kommunisten bereit waren.30 Bündnisse mit anderen Parteien, Organisationen und Einzelpersonen bilden seit frühester Zeit eine zentrale Taktik kommunistischer Parteien, um ihre Isolation zu durchbrechen.31 Charakteristisch ist der taktische Gedanke der Bündnisse. Sie sollen den Einfluß der Kommunisten in einer Schwächephase stärken. Langfristig halten Kommunisten immer an dem Ziel einer kommunistischen Gesellschaft fest. Spätestens bei Erreichen dieses Zieles entledigen sich Kommunisten aller ihrer Bündnispartner wieder. Die Bündnispolitik bildet bei der Linkspartei ein wesentliches Element für die Erringung der sogenannten „kulturellen Hegemonie“ im Sinne des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. In der bürgerlichen Gesellschaft fungiert

29 Vgl. Viola Neu, Das neue PDS-Programm, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, November 2003, S. 7. 30 Vgl. zur Genese des Begriffs Emil-Peter Müller, Die Bündnispolitik der DKP. Ein trojanisches Pferd, Köln 1982, S. 31 f. 31 Vgl. ebd., S. 15.

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die politische und ideologische Vorherrschaft nach Gramscis Überzeugung als eigentliches Machtmittel. Gramsci, der als einer der Vorväter des Eurokommunismus gilt, hielt eine kommunistische Revolution im leninschen Sinne im komplexen System der westeuropäischen bürgerlichen Gesellschaften für wenig erfolgversprechend, da diese zu robust seien.32 Bevor erfolgreich für eine Überwindung des Systems gekämpft werden kann, muß die revolutionäre Arbeiterklasse daher zunächst auf intellektueller und moralischer Ebene die „kulturelle Hegemonie“ erringen.33 Eine zentrale Rolle bei der Transformation des Staates kommt dabei den Intellektuellen zu. Auf die gegenwärtige Lage der Bundesrepublik übertragen bedeutet das Konzept, daß nicht die Besetzung von Regierungsinstitutionen und Fabriken als Voraussetzung der Revolution anzusehen ist. Die Kampfplätze in den westlichen Demokratien bilden die Universitäten, die Medien und die Kultur. Voraussetzung einer Revolution ist somit „die umfassende Diskreditierung des westlichdemokratischen Werte-, Staats- und Rechtssystems unter Einschluß seines Wirtschaftssystems, und zwar bei so vielen Menschen, daß sich eine entscheidende Anzahl von Verteidigern dieser Ordnung im Falle einer Krise nicht mehr findet“.34 In der PDS fiel die Theorie Gramscis nach dem Fall der DDR auf fruchtbaren Boden. Harald Neubert, der in der Partei als Gramsci-Experte gilt, gab im Jahr 1991 eine Zusammenstellung von Gramsci-Texten heraus, hatte sich jedoch schon vor der „Wende“ mit dem Autor beschäftigt.35 Einer der führenden Theoretiker der Partei, André Brie, betonte in einem Interview im Jahr 1995 die Notwendigkeit, die „konservative geistige Hegemonie“ zu zerstören und selbst die Hegemonie in der Zivilgesellschaft zu erlangen.36 In dem für die Ideologie der sogenannten Reformer in der PDS aussagekräftigsten Werk heißt es gleich zu Beginn: „Sie [die PDS] will Teil im Kampf um die Erringung einer Hegemonie

32 Vgl. Viola Neu, Die PDS zwischen Utopie und Realität: Bundestagswahlprogramm und Regierungsbeteiligung in den Ländern, Arbeitspapier Nr. 63/2002 der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin April 2002, S. 4 f. Grundlegend: Antonio Gramsci, Briefe aus dem Kerker, Berlin 1956. 33 Vgl. Patrick Moreau, „Kulturelle Hegemonie“ – Gramsci und der Gramscismus, in: Uwe Backes/Stéphane Courtois (Hrsg.), „Ein Gespenst geht um in Europa“. Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln 2002, S. 259–283. 34 Vgl. Rudolf van Hüllen, „Kulturelle Hegemonie“ als strategisches Konzept von Linksextremisten – dargestellt am Beispiel der „Geschichtsaufarbeitung“, in: Ders. u. a., Linksextremismus – eine vernachlässigte Gefahr, Sankt Augustin 1997, S. 59–80. 35 Vgl. Harald Neubert (Hrsg.), Antonio Gramsci – vergessener Humanist?, eine Anthologie, Berlin 1991; ders., Theoretische Erkenntnisse Lenins und Gramscis über die Hegemonie der Arbeiterklasse und der Kampf der Kommunisten in den kapitalistischen Ländern, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 24 (1982) H. 24, S. 657–670. 36 Vgl. Junge Welt vom 29. Mai 1995.

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der Linken in Deutschland sein. Wie könnten die Schritte zur Formierung eines ,historischen Blockes‘ (Gramsci) aussehen, um die anstehende gesellschaftliche Transformation politisch einzuleiten?“37 Neubert schreibt zur Bündnisbildung und „kulturellen Hegemonie“ im Sinne Gramscis: „Hegemonie ist kein Anspruch, den man einfordern kann, sondern eine Führungsfunktion in einem Bündnis, die man allein durch geistige, politische und moralische Vorzüge erringen muß und die stets der Billigung seitens der Bündnispartner bedarf.“38 Die Bündnisstrategie war der PDS vor allem nach der Diskreditierung der SED-Politik von höchster Bedeutung. 1990 wurde die PDS als unmittelbare Erbin der rundum ruinierten SED im Westen der Republik als reines Phänomen von Übergang und Umbruch gedeutet. Selbst in den neuen Bundesländern galt sie zunächst bloß als „sektiererisches Sammelbecken einer Minderheit ewiggestriger Genossen, die sich schnell verflüchtigen werde“.39 Die PDS mußte aus ihrer politischen und gesellschaftlichen Isolierung ausbrechen, um wieder politikfähig zu werden. Ein wichtiges Instrument war bei diesem Ausbruch aus der Isolation die Bildung von beziehungsweise die Beteiligung an antifaschistischen Bündnissen „gegen rechts“.40 Antifaschismus war – bezogen auf die ideologische Ebene – bereits der wirksamste „integrative Faktor“ der DDR.41 Antifaschismus bleibt auch in der Bundesrepublik einer der zentralen Faktoren der bündnispolitischen Anstrengungen der Partei.42 Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus konnte sich die PDS als Verteidigerin der demokratischen Ordnung und Teil des Verfassungsbogens darstellen – besonders deutlich wurde dies bei der Großdemonstration am 9. November 2000.43 Bündnisse mit linken sozialen Kräften werden von den führenden Linkspartei-Strategen als existenziell wichtig für die Partei beurteilt. Zwar hat sich die Partei aus der nach dem Mauerfall bestehenden fast vollständigen politischen und wirtschaftlichen Isolation befreien können. Dennoch war nach der Bundes-

37 André Brie u. a., Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus, Ein Kommentar, Berlin 1997, S. 11. 38 Harald Neubert (Hrsg.), Antonio Gramsci – vergessener Humanist? Eine Anthologie, Berlin 1991, S. 28 (Hervorhebungen im Original). 39 Tobias Dürr, Die Linke nach dem Sog der Mitte. Zu den Programmdebatten von SPD, Grünen und PDS in der Ära Schröder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 21/2002, S. 5–12, hier S. 7. 40 Vgl. Archiv der PDS, Arbeitsplan der Arbeitsgruppe Bündnisarbeit, 12. April 1991. 41 Vgl. Manfred Wilke, Antifaschismus als Legitimation staatlicher Herrschaft in der DDR, in: Bundesminister des Innern (Hrsg.), Bedeutung und Funktion des Antifaschismus, Texte zur Inneren Sicherheit, Bonn 1990, S. 52–64. 42 Vgl. Patrick Moreau/Rita Schorpp-Grabiak, „Man muß so radikal sein wie die Wirklichkeit“ – Die PDS: eine Bilanz, Baden-Baden 2002, S. 176. 43 So auch: Manfred Wilke, Die „antifaschistische“ Republik – Die PDS strebt eine neue Lagerbildung an, in: Die politische Meinung 46 (2001) H. 377, S. 65–69.

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tagswahl 2002 und dem Verschwinden der PDS aus dem Deutschen Bundestag deutlich geworden, daß die PDS nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügte, um „die vorhandenen Potentiale einer sozialistischen Partei in Deutschland im notwendigen Maße zu erschließen“.44 Die Umbenennung der PDS in „Die Linkspartei“ sowie die Zusammenarbeit mit der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit stellen einen maßgeblichen Schritt in die angestrebte Richtung dar. Sie stärken die Bündnisfähigkeit der Partei entscheidend. Als Antwort auf die Krise der PDS empfahl der programmatische Vordenker Michael Brie bereits im Jahr 2003 die Schaffung eines „historischen Blocks“ à la Gramsci, der eine „wirklich soziale und demokratische Reformalternative“ bieten solle.45 Durch ein Bündnis zwischen außerparlamentarischen sozialen Bewegungen und der PDS strebt die intellektuelle Avantgarde der Partei die kulturelle Hegemonie des Sozialismus über den gegenwärtig herrschenden Konsens aus parlamentarischer Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft an. Das Konzept der starken und attraktiven Formation, die durch ein Bündnis der PDS mit anderen linken sozialen Kräften geformt wird, nannte Brie „PDS plus“. Dabei sollten die Stärken der PDS verbunden werden mit jenen Potentialen, die „außerhalb der PDS für ein sozialistisches parteipolitisches Projekt in Deutschland bestehen und nicht direkt durch die PDS erreicht werden können“.46 Bevorzugte Bündnispartner der PDS wären dabei linke Gewerkschaften, die globalisierungskritischen Bewegungen, die Friedensbewegung, Umweltgruppen, Frauengruppen, aber ebenso antifaschistische Gruppen. Damit das Bündnis eine so große Stärke wie möglich bekommt, müsse die PDS so viele Gruppen und Bewegungen links von SPD und Grünen wie möglich einbinden. Als einziger Partei innerhalb eines Bündnisses sozialer Bewegungen käme der PDS automatisch eine Schlüsselstellung in der Formation zu – obwohl offiziell selbstverständlich jeder „Anschein einer einseitigen Instrumentalisierung und Fernsteuerung dieser Struktur durch die PDS und andere Gruppen verhindert“ werden soll.47 Brie wollte mit dem Konzept „PDS plus“ die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für einen „Richtungswechsel“ in SPD und Grünen und damit für eine Mitte-Links-Koalition schaffen, „in deren Zentrum ein sozialer, demokratischer und ziviler Gesellschaftsvertrag stehen würde“.48 Der neue Gesellschaftsvertrag ist nach den Worten von Brie „eine Strategie für die soziale und demokratische Gestaltung einer neuen Produktionsweise, eines neuen Ak44 Michael Brie, Ist die PDS noch zu retten? Analyse und Perspektiven, in: rls standpunkte 3/2003, erweiterte Internet-Version, in: www.rosalux.de, S. 34. 45 Ebd., S. 35. 46 Ebd., S. 38. 47 Ebd., S. 39. 48 Ebd., S. 36.

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kumulations- und Regulationsregimes“.49 Der gesellschaftsverändernde Anspruch der PDS ist in den Gedanken von Michael Brie ebenso wie bei anderen sogenannten „Reformern“ nicht zu übersehen. Der Linkspartei geht es bei der Beteiligung an oder der Begründung von breiten Bündnissen „gegen Neoliberalismus“ und „gegen rechts“ nicht nur um die Bekämpfung von Marktwirtschaft und Rechtsextremismus, sondern ebenso um eine eigene Machtperspektive. Das wird deutlich, soweit die Linkspartei eine „breite, über den Antifaschismus hinausgehende [. . .] Zusammenarbeit gegen eine weitere Rechtsentwicklung in der Gesellschaft“ mit der Hoffnung auf „eine Rückeroberung der kulturellen Hegemonie eines linken und antifaschistischen Denkens in der Bundesrepublik“ verbindet.50 Die Linkspartei steht mit dieser Denkweise in der Tradition des kommunistischen Antifaschismus. Noch in den siebziger Jahren forderte Wolfgang Fritz Haug: „,Antifaschismus‘ ist zunächst und vor allem ein politisches und ideologisches Problem, nämlich die Aufgabe, einen demokratischen Block unter Hegemonie der Arbeiterorganisationen zusammenzuschmieden.“51

4. Linkspartei und Soziale Marktwirtschaft Neben den Angriffen auf die freiheitliche demokratische und antiextremistische Ordnung des Grundgesetzes dürfen die Angriffe der Linkspartei auf das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik nicht in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. In der marxistischen Theorie formt das Wirtschaftssystem die Basis des politischen Überbaus. Bei allen kommunistisch geprägten Faschismustheorien bildet die Dialektik zwischen Ökonomie und Politik einen wesentlichen Begründungszusammenhang für die Entstehung von Faschismus. Daher ist es wenig verwunderlich, daß jeder marxistisch inspirierte Antifaschismus sich an hervorgehobener Stelle mit der Ökonomie auseinandersetzt. Angriffe von linksextremistischen Antifaschisten richten sich somit nicht ausschließlich gegen den demokratischen Verfassungsstaat, sondern ausdrücklich ebenso gegen seine Wirtschaftsverfassung. In der Bundesrepublik steht die Soziale Marktwirtschaft nicht zufällig im Kreuzfeuer antifaschistischer Kritik. Die These, daß Neoliberalismus eine der wesentlichen Ursachen für Rechtsextremismus sei, hat im Kreise marxistisch geprägter und PDS-naher Politik-

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Ebd., S. 19. Vgl. Klaus Böttcher, „Rechtsextremismus in der BRD nach den Bundestagswahlen – Entwicklungstendenzen und Gegenwehr“, Von einer Konferenz am 19. November 1994 im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, in: PDS-Pressedienst 47/94 vom 25. November 1994, S. 1–3. 51 Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus, Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten, 4. Aufl., Köln 1977, S. 2 f. 50

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und Wirtschaftswissenschaftler in den letzten Jahren zunehmend an Zustimmung gewonnen.52 Nach der Auffassung des Wiener Politologen Christoph Butterwegge stützt der modernisierte Rechtsextremismus sich auf eine ideologische Verklammerung von Wirtschaftsliberalismus und Nationalismus.53 Die „neoliberale Hegemonie“ gefährde die Demokratie und bereite den Nährboden für Rechtsextremismus und Neofaschismus.54 Der Marburger Politikprofessor Reinhard Kühnl stellt Marktwirtschaft gar als Sozialdarwinismus in die unmittelbare geistige Nähe der NS-Ideologie von der Herrschaft des Stärkeren im ewigen Kampf der Völker und Rassen.55 Kühnl bezeichnete die Soziale Marktwirtschaft bereits im Jahr 1971 als „Neoliberalismus“.56 Die „neoliberale Wirtschaftslehre“ diene dem bürgerlichen Herrschaftssystem dazu, die wahren Machtverhältnisse nach der Restauration des Kapitalismus in Westdeutschland nach 1945 zu verschleiern und die sozialistische Planwirtschaft zu denunzieren.57 Kurt Pätzold, Mitglied im Sprecherrat des Marxistischen Forums der Linkspartei, macht keinen Hehl aus seiner Ansicht, daß Maßnahmen, die den Rechtsextremismus erheblich eindämmen, erst als ein Ergebnis der Überwindung des Kapitalismus erwartet werden könnten.58 Die gegenwärtige marktwirtschaftliche Ordnung verschaffe Rechtsradikalen aufgrund der von ihr verursachten sozialen Probleme Zulauf, behauptet der Ökonom Robert Katzenstein im Linkspartei-Theoriemagazin „Utopie kreativ“.59 Erforderlich seien daher umfangreiche staatliche Eingriffe zum Schutz der sozialen Sicherheit und als wirkungsvolle Ursachenbekämpfung von Rechtsradika52 Vgl. Herbert Schui u. a., Wollt ihr den totalen Markt?, Der Neoliberalismus und die extreme Rechte, München 1997; Christoph Butterwegge/Rudolf Hickel/Ralf Ptak, Sozialstaat und neoliberale Hegemonie, Standortnationalismus als Gefahr für die Demokratie, Berlin 1998; Ralf Ptak, Die soziale Frage als Politikfeld der extremen Rechten, Zwischen marktwirtschaftlichen Grundsätzen, vormodernem Antikapitalismus und Sozialismus-Demagogie, in: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Braune Gefahr, DVU, NPD, REP – Geschichte und Zukunft, Berlin 1999, S. 97–145. 53 Vgl. Christoph Butterwegge, Globalismus, Neoliberalismus, Rechtsextremismus, in: Utopie kreativ 12 (2002) H. 135, S. 55–67. 54 Vgl. ders., Herren und andere Menschen, Rechtsextremismus und politische (Un-) Kultur in Deutschland, in: Ulrich Schneider (Hrsg.), Tut was!, Strategien gegen Rechts, Köln 2001, S. 50–59. 55 Vgl. Reinhard Kühnl, Nicht Phänomene beschreiben, Ursachen analysieren, Zum Problem der extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schneider (FN 54), S. 30–37. 56 Vgl. ders., Formen bürgerlicher Herrschaft, Liberalismus – Faschismus, Hamburg 1971, S. 70–73. 57 Ebd. 58 Vgl. Kurt Pätzold, Von Nachttöpfen und anderen Theorien, Über Ursachen des Rechtsextremismus und Ausgangspunkte seiner Bekämpfung in Ostdeutschland und anderswo, in: Schneider (FN 54), S. 38–49. 59 Vgl. Robert Katzenstein, Zuwanderung und Arbeitsmarkt, Provoziert der gegenwärtige Kapitalismus den Zulauf für die Rechtsradikalen?, in: Utopie kreativ 4 (1994) H. 49, S. 35–44.

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lismus. Als gelungenes Beispiel für soziale Sicherheit führt Katzenstein die Sowjetunion an, in welcher der „soziale Standard der Werktätigen“ über siebzig Jahre lang gesichert und auch gesteigert worden sei. Ralf Ptak räumt zwar ein, daß „Neoliberalismus und Rechtsextremismus respektive Faschismus keineswegs identisch“ seien.60 Beide hätten aber „die Legitimation einer von demokratischen Einflüssen und Verteilungsgerechtigkeit befreiten kapitalistischen Ordnung“ gemein. Außerdem, so Ptak, stehe ein autoritäres Regime dem Neoliberalismus näher als eine lebendige Demokratie, und Hayeks „kulturelle Evolution“ entspreche einem kulturell determinierten Rassismus. Träfe Ptaks Interpretation von Neoliberalismus zu, dann wäre Marktwirtschaft grundsätzlich antidemokratisch, unsozial und rassistisch. Eine Politik ist nicht immer dann besonders sozial, wenn sie viel umverteilt. Wirtschaftspolitik wird nicht sozial gerechter, je höher der staatliche Einfluß auf die Wirtschaft ist. Wahrscheinlich ist eher das Gegenteil der Fall. Zentrale Verwaltungswirtschaften haben im historischen Rückblick mit Abstand die schlechtesten Ergebnisse in den Bereichen Wohlstand, Freiheit und Demokratie erzielt. Und im übrigen gab und gibt es Rassismus in marktwirtschaftlichen wie in staatswirtschaftlich strukturierten Systemen. Bisher fehlt jedenfalls jeder Nachweis darüber, ob eine bestimmte Wirtschaftsform mehr Rassismus als eine andere erzeugt. Ptak erklärt den Neoliberalismus zunächst zur führenden Wirtschaftstheorie des deutschen Rechtsextremismus, um dann festzustellen, daß die politische Mitte immer mehr zum Neoliberalismus tendiere. Somit kommt Ptak zum Ergebnis, daß die politische Mitte den Rechtsextremismus fördere. Ptak unterliegt mit seiner Argumentation einem klassischen Zirkelschluß. Seine Unterstellung, jede Zurückdrängung von gewerkschaftlichem Einfluß sei ein Merkmal von Rechtsextremismus,61 stellt im übrigen jeden Reformvorschlag, der Rechte von Gewerkschaften beschneidet oder sich für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt einsetzt, automatisch unter den Verdacht des Rechtsextremismus. In der Linkspartei fällt die Theorie, daß das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ursächlich für Rechtsextremismus sei, auf fruchtbaren Boden. Die Soziale Marktwirtschaft wird dabei von der Linkspartei vorzugsweise als „Neoliberalismus“ oder „Marktradikalismus“ bezeichnet. Der WASG-Vorsitzende Klaus Ernst beschreibt die EU als einen „Verschiebebahnhof von Kapital“, während „keinerlei soziale Standards verbindlich geklärt“ würden und warnt: „So nährt man den Boden für Chauvinismus und Rechtsextremismus.“62

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Ptak (FN 52), S. 901–922. Ebd. 62 Klaus Ernst, „Arbeitnehmer werden vermerkelt“, Presseerklärung vom 19. Dezember 2005. 61

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Die bayerische Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Eva Bulling-Schröter erklärte im Jahr 1998: „Im Kern ist die Durchsetzung des Neoliberalismus der Totengräber der Demokratie und die Vorbereitung für die Übernahme faschistoider Herrschaftsformen.“63 Zu den Bundestagswahlen 2002 äußerte die PDS: „Bedingungen und Ursachen des Neofaschismus liegen in der Mitte der Gesellschaft. Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Konkurrenz, Profitmaximierung und Ausgrenzung basiert, ist wesentlich für neofaschistische Tendenzen verantwortlich.“64 Der gesamte Ansatz, marktwirtschaftliche Positionen in die Nähe von Rechtsextremismus zu rücken, ist Teil einer Strategie der Diffamierung freiheitlicher und demokratischer Politik. Die Soziale Marktwirtschaft ist ein wirtschaftspolitisches Konzept der Mitte, welches aus der „Freiburger Schule“ geboren wurde und eng mit den Namen Walter Eucken und Franz Böhm verbunden ist. Diese als Ordoliberalismus bezeichnete Ausprägung des Neoliberalismus bildet das geistige Fundament der Sozialen Marktwirtschaft.65 Ordo- und Neoliberalismus zeichnen sich dadurch aus, daß sie grundsätzlich das freie Spiel der Kräfte am Markt als effizienteste Konstruktion der Wirtschaftsordnung ansehen. Anders als der klassische Liberalismus befürworten sie einen staatlichen Ordnungsrahmen ebenso wie einen sozialen Ausgleich. Im Gegensatz zu den politischen Kräften, die „Neoliberalismus“ als Begriff zur Diffamierung der erfolgreichen Marke „Soziale Marktwirtschaft“ nutzen und suggerieren, im „Neoliberalismus“ habe sich alles Profitinteressen unterzuordnen, stehen Neoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft eben nicht für eine entfesselte und freie Marktwirtschaft, sondern für eine ordnungspolitisch eingehegte Marktwirtschaft die für sozialen Ausgleich abseits des freien Marktes offen steht. Die Behauptung, im System der Sozialen Marktwirtschaft habe sich der Mensch den Profitinteressen unterzuordnen,66 ist eine gerne von den Gegnern der Marktwirtschaft verbreitete Legende. Im Sinne der christlichen Soziallehre schützt die Soziale Marktwirtschaft die Freiheit und Würde des einzelnen vor Übergriffen und Bevormundung des Staates sowie Willkür von privater wirtschaftlicher Macht. Die schöpferischen Fähigkeiten des einzelnen können sich frei entfalten, ohne dabei die Rechte und Chancen Dritter zu beeinflussen. Die 63 Eva Bulling-Schröter, Faschisten sind die Profiteure des Neoliberalismus, Rundbrief der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus (1998) H. 1, S. 2. 64 Stichworte & Positionen „Rechtsextremismus“, in: www.pds2002.de. 65 Vgl. Rainer Klump, Soziale Marktwirtschaft: Geistige Grundlagen, ethischer Anspruch, historische Wurzeln, in: Otto Schlecht/Gerhard Stoltenberg (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft, Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven, Freiburg i. Br. 2001, S. 17–59; Hans-Rudolf Peters, Wirtschaftssystemtheorie und Allgemeine Ordnungspolitik, 4. Aufl., München 2002, S. 144–161. 66 So beispielsweise Dieter Klein, Erstes Ziel: Eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, in: Michael Brie (Hrsg.), Die Linkspartei, Ursprünge, Ziele, Erwartungen, Berlin 2005, S. 37–45, hier S. 37 f.

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Konsumenten und Produzenten entscheiden frei von staatlichem Dirigismus über ihren Konsum beziehungsweise ihre Produktion. Eine möglichst große Anzahl von Menschen wird durch eigene Leistung von staatlichen Transfers unabhängig gemacht. Staatliche Umverteilung, die durch erfolgreiche Märkte finanziert wird, ist gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf ein erforderliches Minimum begrenzt und steht nur wirklich Bedürftigen zu. Mit Ludwig Erhard konnte sich die Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitisches Erfolgsrezept gegen viele Widerstände in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. Wenn heute die sozialen Sicherungssysteme aufgrund der demographischen und wirtschaftlichen Situation vor dem Kollaps stehen und in der Bundesrepublik eine Staatsquote von über 50 Prozent existiert, ergibt sich evident ein Bedarf nach Reformen der Wirtschaftsordnung und des Sozialstaates. Ein Wohlfahrtsstaat, wie ihn die Bundesrepublik Deutschland heute darstellt, ist möglicherweise wünschenswert, aber nicht finanzierbar. Über die erforderlichen Reformkonzepte läßt sich streiten. Wer aber jede Reform des Sozialstaates als „Neoliberalismus“, „Marktradikalismus“ und „Zerstörung des Sozialstaates“ diffamiert, erweist jenen, die vom Wohlfahrtsstaat profitieren sollen, keinen Gefallen. Ohne Reformen droht der Sozialstaat in naher Zukunft seine Leistungsfähigkeit zu verlieren. Wer die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes durch einen ausufernden Sozialstaat überfordert, gefährdet Wachstum und Beschäftigung, zerstört damit die Finanzierungsquelle der sozialen Sicherung.67 Die Soziale Marktwirtschaft war die dem deutschen „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit zugrunde liegende wirtschaftspolitische Konzeption. Die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards ist ihrem Ziel „Wohlstand für alle“68 erstaunlich nahe gekommen. Eine vergleichbare Erfolgsgeschichte hat keine einzige der von den Kritikern der Marktwirtschaft bevorzugten wirtschaftspolitischen Theorien vorzuweisen. Im Gegenteil hat sich bisher gezeigt, daß staatsorientierte und marxistisch inspirierte Wirtschaftsmodelle grundsätzlich zu weniger Wachstum, weniger Innovation und weniger Wohlstand führen. Hinzu kommt die Einschränkung der wirtschaftlichen und persönlichen Freiheit des Individuums in derartigen Wirtschaftssystemen. Marktwirtschaft ist nicht nur so gut mit einer demokratischen Staatsverfassung vereinbar, weil sie den Bürgern ein Optimum an konsumtiver und produktiver Planungsfreiheit einräumt, sondern weil sie selbst eine tägliche und stündliche plebiszitäre Demokratie ist.69 „Das Stimmrecht an der Wahlurne wird durch das Stimmrecht auf dem Markt [. . .] 67 Vgl. Hans Tietmeyer, Freiheit und sozialer Ausgleich, Konsequenter nach den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft handeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 1985. 68 Vgl. Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957. 69 Vgl. Franz Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1980, S. 89.

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erweitert.“70 Paul Nolte spricht von einem „Citizen Consumer“ oder „Verbraucher-Bürger“.71 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar der Sozialen Marktwirtschaft keinen Verfassungsrang in Form einer Systemgarantie zugebilligt.72 Eine freiheitlich orientierte Wirtschaftsverfassung bildet aber das Gegenstück zur freiheitlichen politischen und gesellschaftlichen Ausgestaltung des Grundgesetzes. Die individuellen grundrechtlichen Garantien des Eigentums (Art. 14 GG), der Berufs-, Gewerbe- und Unternehmensfreiheit verbunden mit der freien Wahl des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte (Art. 12 GG), das Recht der Gründung von Handelsgesellschaften (Art. 9 GG) und die in Art. 2 Abs. 1 GG enthaltene Garantie der Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit bilden in ihrem Wirkungs- und Ordnungszusammenhang eine Funktionsgarantie für die Marktwirtschaft.73 Eine sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft wäre mit dem Grundgesetz unvereinbar.74 Dagegen spricht auch nicht die Sozialisierungsermächtigung von Art. 15 GG, weil diese schon wegen des Entschädigungsgebots eine die Eigentumsinstitutsgarantie ablösende Sozialisierung rechtlich und nicht nur faktisch verhindert.75 Die Marktwirtschaft ist nicht als System durch das Grundgesetz geschützt, ihre Beseitigung wird aber durch die Einzelgrundrechte verhindert. Im übrigen wäre eine Zentralverwaltungswirtschaft nur mit einer starken Exekutivgewalt und mit nahezu schrankenlosen Vollmachten durchsetzbar.76 Eine derartige diktatorische oder zumindest autoritäre Ordnung stände im Widerspruch zur freiheitlichen und demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Die gesamte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, daß es von einer grundsätzlich freien Wirtschaftsordnung ausgeht. Für staatliche Eingriffe in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ist in jedem Einzelfall eine Rechtfertigung erforderlich. Eingriffe sind nur als zulässig anzusehen, wenn sie durch überwiegende Gründe des Gemeinwohls geboten sind.77 Obwohl das Ge70 Paul Nolte, Generation Reform, Jenseits der blockierten Republik, München 2004, S. 115. 71 Ebd. 72 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 7–27, hier S. 17 f.; Bd. 7, S. 377–444, hier S. 400; Bd. 50, S. 290–381, hier S. 388. 73 Vgl. Hans-Jürgen Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: Ernst Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 799–850. 74 Vgl. Ulrich Karpen, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, Eine Einführung in die rechtlichen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, Baden-Baden 1990, S. 62. 75 So zutreffend Hans-Jürgen Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 35 (1977), S. 55–104, hier S. 82–86. 76 Vgl. Böhm (FN 69), S. 82. 77 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 18, S. 315–344, hier S. 327.

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richt die Soziale Marktwirtschaft nicht als System durch das Grundgesetz garantiert ansieht, spricht es von der „bestehenden Wirtschaftsverfassung“, die als Grundlage den „grundsätzlich freien Wettbewerb der als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt auftretenden Unternehmer als eines ihrer Grundprinzipien“ enthalte.78 Durch Artikel 1 des Staatsvertrages zwischen Bundesrepublik und DDR hat „die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien“ im Jahr 1990 eine einfachgesetzliche Verankerung als Wirtschaftssystem des vereinten Deutschlands gefunden. Der Staatsrechtler Peter Badura beurteilt dies als eine „authentische Interpretation der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Staatsziele und Garantien des Grundgesetzes“.79 Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union ist im Gegensatz zu jener des Grundgesetzes in Art. 4 Abs. 1 EGV ausdrücklich „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet“. Der Kampf gegen diese marktwirtschaftlich verfaßte Ordnung genießt für die Linkspartei höchste Priorität: „Der Aufbau von anti-neoliberalen Reformmehrheiten in der Gesellschaft ist die allerwichtigste Aufgabe, der sich die Linke verpflichtet fühlen muß, alles andere ist dem unterzuordnen. Das heißt, sich der Anpassung an die jetzigen Verhältnisse und der Integrationskraft politische und parlamentarischer Systeme immer wieder fühlbar zu entziehen.“80 Der systemüberwindende Anspruch wird nicht verhehlt: „Eine überzeugende, faszinierende Vision für einen Richtungswechsel, ein erneuertes linkes Projekt, wird [. . .] nicht zu haben sein ohne die Entwicklung der demokratischen, der befreienden Fähigkeit zum grundsätzlichen Konflikt mit den herrschenden Klassen und ihren neoliberalen Ideologien.“81 Soweit die Linkspartei an ihrem Ziel einer „Transformation“ der gegenwärtig herrschenden parlamentarisch-marktwirtschaftlichen Ordnung in eine sozialistische Gesellschaft festhält82, ist ihr Programm als unvereinbar mit der grundgesetzlichen Ordnung zu beurteilen.

5. Schlußbetrachtungen Der Linkspartei ist es zumindest im Bereich der neuen Länder gelungen, als Teil des Verfassungsbogens akzeptiert zu werden.83 Allerdings hat sich die 78

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 32, S. 311–319, hier S. 317. Peter Badura, Staatsrecht, Systematische Erläuterungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München 1996, C 91, S. 192 f. 80 Brie/Spehr (FN 1), S. 5. 81 Ebd. 82 So Klein (FN 66), S. 40 f.; Dieter Bartsch, „Das Ziel Sozialismus ist unverzichtbar“, Interview, in: Berliner Zeitung vom 23. Februar 2006. 83 Vgl. dazu und insgesamt zu den Ausführungen dieses Beitrages ausführlich Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden 2006. 79

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Linkspartei in der von ihr verfolgten „Realpolitik“ in Kommunal- und Landesparlamenten der neuen Bundesländer auf die freiheitliche demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung zubewegt.84 Die Linkspartei-Regierungsmitglieder in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin richten ihr Handeln an den geltenden Gesetzen sowie den marktwirtschaftlichen Grundregeln aus. Obwohl sie am Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft festhalten, sind in der aktuellen Parlaments- und Regierungsarbeit der demokratischen Sozialisten dafür keine allzu offensichtlichen konkreten Schritte erkennbar. Die Linkspartei verfolgt in den neuen Ländern keinen Kurs einer klassisch linksextremistischen Partei. Aus diesem Grund spricht Viola Neu vom „Janusgesicht der PDS“.85 Dennoch sorgt die feste Verwurzelung der Linkspartei in Landtagen und Landesregierungen sowie im gesamten vorpolitischen Raum dafür, daß viele radikale linke Positionen und Personen als hoffähig und akzeptabel gelten, während teilweise bereits konservative Auffassungen unter den Verdacht des Rechtsextremismus geraten. Die Linkspartei duldet in ihren Reihen Gruppen wie die Kommunistische Plattform und das Marxistische Forum, die sich offen gegen das freiheitliche und marktwirtschaftliche System der Bundesrepublik aussprechen. Es erscheint kaum vorstellbar, daß eine demokratische konservative Partei, die sich so offen zu einem „nationalsozialistischen Forum“ in ihren Reihen bekennen würde, wie die Linkspartei zur Kommunistischen Plattform, in irgendeiner Form zum Verfassungsbogen gezählt werden könnte. Zwar ist der Befund aus den neuen Ländern nur eingeschränkt auf die gesamte Bundesrepublik übertragbar. Durch ihre Umbenennung in „Linkspartei“ sowie die Kooperation mit der WASG könnte der Linkspartei/PDS allerdings ebenso in den alten Bundesländern die Integration in den Verfassungsbogen gelingen. Eckhard Jesse ist daher zuzustimmen, wenn er von einem „paradoxen Befund“ spricht: „Der Zusammenbruch des realen Sozialismus bildete die Voraussetzung für die Renaissance einer weichen Form des Extremismus. Die desaströse Hinterlassenschaft des real existierenden Sozialismus hat die Äquidistanz gegenüber Rechts- und Linksextremismus weit(er)hin geschwächt.86 Früher wurde in der marxistischen Theorie der Kapitalismus als ursächlich für die Machterlangung des Faschismus angesehen und als Ausweg die „Diktatur des Proletariats“ angestrebt. Heute wird die als „Neoliberalismus“ abqualifizierte Soziale Marktwirtschaft zur Ursache für Rechtsextremismus erklärt und als Lösung ein „sozialer, demokratischer und ziviler Gesellschaftsvertrag“ angeboten. Gemeint ist dasselbe. Der alte Inhalt ist nur in eine moderne Sprache verpackt. Wer wie die Linkspartei und die ihr nahe stehenden marxistischen 84

So auch Lang (FN 3), S. 158. Neu (FN 3). 86 Eckhard Jesse, Die Tabuisierung des Extremismusbegriffs, in: Die Welt vom 4. Februar 2002. 85

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Politik- und Wirtschaftswissenschaftler den „Neoliberalismus“ und die Soziale Marktwirtschaft zur wesentlichen Ursache für den heutigen Rechtsextremismus erklärt, stellt eine neue Dimitroff-Formel des 21. Jahrhunderts auf. Die Linkspartei lehnt das Gegensatzpaar Demokratie und Extremismus ab. Stattdessen hält sie an einer Dichotomie zwischen – stets antifaschistischem und demokratischem – Sozialismus einerseits und – potentiell undemokratischem und faschistischem – Kapitalismus andererseits fest. Die marktwirtschaftlich geprägten Parteien wie die Union und die FDP, aber ebenso die ReformFlügel in SPD und Grünen geraten nach dieser „neuen Dimitroff-Formel“ pauschal unter den Verdacht der Förderung des Rechtsextremismus. Ein so verstandener Antifaschismus wird zu einer politischen Waffe gegen das Wirtschaftsund Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland, gegen marktwirtschaftliche Reformen und gegen demokratische Wettbewerber.

Die Illusion von der Reformierbarkeit der DDR Der „Berliner“ und der „Dresdner Weg“ der Opposition in der friedlichen Revolution 1989/90 Von Jörg Pfeifer

1. Einleitende Bemerkungen Seit dem erfolgreichen Verlauf der Revolution und dem Untergang der diktatorischen DDR ist das Phänomen DDR-Opposition im öffentlichen Bewußtsein und der Publizistik stärker präsent. Vielfach wird das Engagement der oppositionellen Kräfte geehrt. Das erscheint konsequent, weil es in der deutschen Geschichte bislang kein Vorbild für den fundamentalen Umbruch über die Jahreswende 1989/90 gegeben hat, er überwiegend friedlich verlief, den Ostdeutschen die Freiheit und schließlich dem deutschen Volk die Einheit brachte. Es wirkt deshalb erstaunlich, wenn Konrad Weiß, ein betont bürgerlich auftretender Akteur aus dem ehemals breiten Spektrum der DDR-Opposition, fünf Jahre nach dem Erreichen der deutschen Einheit den Umbruch 1989/90 resigniert als verlorene Revolution1 charakterisierte. Selbstkritisch erhebt er den Vorwurf, „wir haben nicht gehandelt, als wir hätten handeln müssen. Wir waren nicht darauf vorbereitet, die politische Verantwortung, die Macht zu übernehmen. Wir waren naiv und gutgläubig. So ist aus zwei deutschen Staaten nur eine größere Bundesrepublik geworden. Das ist nicht wenig; [. . .] Eine solidarische Gesellschaft ist dieses Deutschland nicht. Das aber war 1989 unser Ziel, doch damit sind wir gescheitert.“2 Das Eingestehen des Scheiterns deckt sich mit dem weitgehenden Konsens in der Forschung, daß die oppositionellen Kräfte zwar wesentlich zum Untergang der SED-Diktatur beitrugen, die deutsche Einheit in der Mehrheit aber nicht beförderten.3 Und tatsächlich entsprach

1 Vgl. Konrad Weiß, Wiedervereinigung ohne Vision, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 46 (1995), S. 554–559. 2 Ebd., S. 557 f. 3 Vgl. z. B. Eberhard Kuhrt (Red.), Erfolge und Schwächen der Opposition von den 70er Jahren bis zum Ende der SED-Herrschaft – ein Rückblick im Rundtischgespräch, in: Ders. in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunther Holzweißig (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999, S. 789–795.

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das am 3. Oktober 1990 Erreichte überwiegend nicht den Vorstellungen und Zielen der oppositionellen Kräfte. Die wenigen Oppositionellen erwiesen sich als äußerst heterogen. Viele traten für eine Reform des Sozialismus ein, wollten die Diktatur verändern. Andere plädierten für einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, ohne fest zu umreißen, wie dieser zu gestalten sei. Und einige wenige glaubten nicht mehr an die Reformierbarkeit des Systems, lehnten die weitverbreitete Idee eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ kategorisch ab.4 Folglich gingen die politischen Gruppen und Akteure im Herbst 1989 von einer Vielfalt an Zielvorstellungen aus. Der Zerfall der Zentralgewalt brachte zudem ungleiche regionale Entwicklungen. „Unterschiedlichen Ortes wurde anders gedacht, anders gewollt und anders gehandelt.“5 Der Aufsatz vergleicht den „Berliner“ mit dem „Dresdner Weg“. Warum bietet sich dieser Vergleich an? Bereits die ersten Darstellungen zum Ende der DDR und zur Geschichte ihrer Opposition verwiesen auf die Besonderheit des „Südens“.6 Ziele und Handlungsformen der oppositionellen Kräfte wie der Bevölkerung stellten eine Besonderheit dar. Die Ergebnisse der ersten freien und zugleich letzten Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wurden als Beleg angeführt.7 Aus den Bezirken der DDR kamen wesentliche Impulse für den Umbruch. Die sächsische Region nahm eine Vorreiterrolle ein. Im Fokus der Öffentlichkeit aber, zumal der westlichen, stand vornehmlich das Zentrum Berlin. Hier fiel die Mauer, hier tagte der Zentrale Runde Tisch. Ein „Instrument der gewaltlosen Selbstorganisation, um eine Basis für den Übergang von der Diktatur zu einer demokratischen Politik zu moderieren“8, und eine Institution, die für sich beanspruchte, für die gesamte DDR zu sprechen. Dementsprechend begründeten die Berliner Akteure ihre Legitimation. Mit fortschreitender Dauer der Existenz des Gremiums in Berlin wurde diesem Anspruch aus Dresden allerdings widersprochen. Folglich gab es mehrere Wege in die Freiheit. Ein Vergleich des „Berliner“ und des „Dresdner Weges“ der Opposition ermöglicht eine differenzierte Dar4 Vgl. Michael Richter, Opposition in Sachsen – Zeitzeugenberichte, in: Kuhrt (FN 3), S. 237–275, hier S. 268 f. 5 Uwe Thaysen, Wege des politischen Umbruchs in der DDR. Der Berliner und der Dresdner Pfad zur Demokratiefindung, in: Karl Eckart/Manfred Wilke (Hrsg.), Berlin, Berlin 1998, S. 69–90, hier S. 71. 6 Vgl. „Entwicklungen in Leipzig und Dresden“, in: Gerhard Rein (Hrsg.), Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus, Berlin 1989, S. 169– 196. 7 Vgl. Christian Dietrich/Martin Jander, Die Ausweitung zum Massenprotest in Sachsen und Thüringen, in: Kuhrt (FN 3), S. 737–786, hier S. 737. 8 Peter Maser, Runder Tisch, in: Hans-Joachim Veen/Bernd Eisenfeld/Hans Michael Kloth/Hubertus Knabe u. a. (Hrsg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SEDDiktatur, Berlin 2000, S. 305–306, hier S. 305.

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stellung des Umbruchsprozesses. Die Vielfältigkeit des politischen Systemwechsels 1989/90 wird näher eingegrenzt. Folgende Problematik ergibt sich: Worin unterscheidet sich der zentrale (Berliner) Weg von der regionalen (Dresdner) Entwicklung der Opposition? Wie ist die Interaktion von „alten“ und „neuen Kräften“ einzuordnen? Wo liegen mögliche Ursachen? Haben die Dresdner wie die Berliner Oppositionellen ihre Ziele erreicht? Ausgehend von einer knappen Darstellung der politischen Situation im Spätsommer/Frühherbst 1989 (Kapitel 2) werden in Kapitel 3 und 4 jeweils die wichtigsten Entwicklungslinien für Berlin und Dresden bis zum Fall der Mauer nachgezeichnet. Kapitel 5 und 6 betrachten die sich verändernde Situation nach dem Mauerfall bis in die Phase vor der Volkskammerwahl 1990. Die Trennung der Ebenen Berlin und Dresden dient dabei einer Vereinfachung der Problematik, um chronologische Überschneidungen zu vermeiden und die Übersichtlichkeit zu wahren. Der Vergleich in Kapitel 7 stellt die wesentlichen Unterschiede des Berliner und Dresdner Weges zusammenfassend heraus. Das abschließende Kapitel 8 dient der Einordnung und Bewertung.

2. Politische Situation im Spätsommer/Frühherbst 1989 Die im August 1989 einsetzende Ausreisewelle hauptsächlich junger Leute, die mit Botschaftsbesetzungen in Prag, Warschau und Budapest begann und in einer regelrechten Fluchtbewegung endete, als Ungarn am 11. September 1989 seine Grenzen für Ausreisewillige aus der DDR öffnete, machte deutlich, in welcher Krise sich die SED unmittelbar vor dem 40. Jahrestag der Gründung des sozialistischen deutschen Staates befand. Anfang September begann sich ein Straßenprotest zu artikulieren, in etwa vergleichbar mit den Juni-Protesten 1953. Realitätsfern reagierte die Staats- und Parteiführung auf den Ausreisestrom: Nicht Veränderungen wurden in Aussicht gestellt, sondern jegliche Reformen verneint. Schließlich zeigte das schrittweise Nachgeben im Flüchtlingsdrama und die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge über das Hoheitsgebiet der DDR auffällig die Schwäche und Hilflosigkeit der (noch) Mächtigen. Es wirkte wie eine Farce, daß Menschen mit Billigung der Regierung ausreisen konnten – Menschen, denen Monate zuvor bei einem illegalen Grenzübertritt Gefängnisstrafen oder sogar der Tod drohten. „Das auf der Geschlossenheit des Systems beruhende Gleichgewicht von Unterdrückung und Anpassung“9 kollabierte und erlaubte den alternativen Grup9 Detlef Pollack, Außenseiter oder Repräsentanten. Zur Rolle der politisch alternativen Gruppen in der DDR, in: Ders. (Hrsg.), Die Legitimität der Freiheit: politische alternative Gruppen in der DDR unter dem Dach der Kirche, Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 221–229, hier S. 226.

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pen, den wichtigen Schritt aus dem Schutzraum der Kirche zu gehen. Bereits damit griffen die Oppositionellen bewußt und unbewußt die Grundfeste der autoritären DDR an, weil sie den unbegrenzten und damit diktatorischen Anspruch der SED bestritten, die Macht im Auftrag der Arbeiterklasse und als Folge einer „historischen Mission“ auszuüben. Im Augenblick von Massenflucht und beginnender Demonstrations- und aufstrebender Oppositionsbewegung offenbarte sich die Ohnmacht des politischen Systems. Der Wunsch nach Freiheit und nach Wohlstand wurde zum auslösenden Element, sich gegen ein politisches System zu stemmen, das weder eine demokratische Ordnung noch Rechtsstaatlichkeit prägte. Vielmehr kennzeichnete den Staat ein Autoritarismus, der auf einer sozialistischen Ideologie, einem Nachrichtenmonopol, einer zentralisierten Kommandowirtschaft und allenfalls einem scheinbaren politischen Pluralismus beruhte. Als Ursache des Aufbegehrens galt der zementierte Widerspruch zwischen dem allumfassenden Führungs- und Machtanspruch der SED und den propagierten aber letztlich nicht existenten Entwicklungspotentialen der davon gelähmten Industriegesellschaft. Der propagierte „Sozialismus in den Farben der DDR“ hatte weder ein politisches noch ein ökonomisches Fundament. Die auf Zwang und Gewalt gründende, monistisch ausgeprägte „zweite deutsche Diktatur“, deren Repression sich, im Unterschied zum expansiven Militarismus und ideologisch begründeten Rassismus der „ersten deutschen Diktatur“, ausschließlich gegen die eigene Bevölkerung richtete, war aufgrund ihrer Reformunfähigkeit erschüttert. Fraglich schien nun, in welchem Maß die Machtpotentiale des SED-Staates – Repressionsapparat, ökonomische Verfügungsmacht, Ideologie und politische Loyalität – weiter wirken würden. Die politisch alternativen Gruppen mußten den rein informellen Status überwinden, eine Organisation aufbauen und eine höhere Verbindlichkeit erreichen, wollten sie der Bevölkerung eigene Vorstellungen vermitteln. Dieser Formierungsprozeß vom Sommer 1989 an führte im September/Oktober zu neuen Organisationsformen im Sinne „von Bürgerbewegungen mit größerer Massenbasis und breiterer sozialer Verankerung“.10 Im Eindruck von Ausreisewelle und Demonstrationsbewegung traten kritische Gruppen und Organisationen wie das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch, die Gruppe Demokratie Jetzt, die Sozialdemokratische Partei in der DDR oder die Vereinigte Linke in die Öffentlichkeit. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zu früheren oppositionellen Gruppen und Zusammenschlüssen war nach Rainer Eppelmann „der bewußte Versuch, den Raum der Kirche zu verlassen, um Leuten, die keine Christen sind, die Chance zu geben, da mitzuarbeiten, ohne daß sie den Eindruck haben, sie müßten irgendwelche glaubensmäßigen Vorleistungen erbringen.“11 Neben 10 Oskar Niedermayer, Das intermediäre System, in: Max Kaase (Hrsg.), Politisches System. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland, Bd. 3, Opladen 1996, S. 155–230, hier S. 169. 11 Rainer Eppelmann, in: die Tageszeitung vom 3. Oktober 1989.

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der jahrelangen politischen Erfahrung und der gemeinsamen Absicht, den Rechtsraum der Kirche zu verlassen, einte die Kräfte der Wille, einen möglichst wirkungsvollen Beitrag zu einem Demokratisierungsprozeß in der DDR zu leisten. Das Wörtchen Dialog wurde zum Schlagwort im Frühherbst 1989. Bislang verwehrt, benannte sein Erreichen das Ziel.

3. Der „Berliner Weg“ bis zum Fall der Mauer Eine Vielzahl der oppositionellen Initiativen ging vom Zentrum Berlin aus. Der Grund lag nach Ehrhart Neubert in der relativ hohen Kommunikationsdichte Berlins.12 Dennoch traten die Gruppen unabhängig voneinander in die Öffentlichkeit. Vermischt mit organisatorischen Planungen gingen die inhaltlichen Forderungen über die Formulierung künftiger Diskussionsschwerpunkte sowie die Aufnahme eines gesamtgesellschaftlichen Dialoges und die Auflistung einiger zentraler Reformanliegen nicht hinaus. Rechts- und Menschenrechtsfragen, ökologische und friedenspolitische Themen sind zu nennen. Mit den Begriffen „Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur“13 griff z. B. das erste Papier des Neuen Forum wichtige Elemente der DDR-Opposition auf. Ein politisches Programm mit konkreten Forderungen und Zielen enthielt der Gründungsaufruf nicht. Sämtliche Gruppen lehnten den SED-Machtanspruch ab, obwohl es Abweichungen über den künftigen Status der SED und den Umgang mit ihr gab. Das Ziel war ein Mitwirken am „gesellschaftlichen Reformprozeß“ unter Einschluß der SED. Das Festhalten an der Vision des Sozialismus markierte die zentrale Gemeinsamkeit. Nach Sebastian Pflugbeil, einem der Gründungsmitglieder des Neuen Forum, gingen die Initiatoren wie selbstverständlich davon aus, „einen langen Weg der Reformen des sozialistischen Systems zu beginnen.“14 Das System der Bundesrepublik schien fern und nicht gewollt. Vage Vorstellungen eines „dritten Weges“ blickten durch. Eine sozialistische Alternative zum kapitalistischen System blieb Leitbild, die Wiedervereinigung im Sinne einer Angliederung an die Bundesrepublik ausgeschlossen. U. a. wird dies in den programmatischen Aussagen Markus Meckels auf der Gründungsveranstaltung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR vom 7. Oktober 1989 deutlich: Die SDP erstrebt eine „nichtkapitalistische DDR“, „einen Staat in antifaschistischer Tradition“, jedoch in Abkehr zum Stalinismus. „Wir wissen, mächtige Gegen-

12 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 834. 13 Neues Forum „Gründungsaufruf: Eine politische Plattform für die ganze DDR“, in: Rein (FN 6), S. 13 f., hier S. 14. 14 Sebastian Pflugbeil, Das „Neue Forum“, in: Kuhrt (FN 3), S. 507–536, hier S. 509.

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kräfte stehen gegen das, was wir vorhaben. In unserem Land sind es nicht nur die SED und der von ihr noch beherrschte Staatsapparat. Wenn ich einmal einen demokratischen Staat der DDR voraussetze, so werden es diejenigen sein, die einfach nur eine Wiedervereinigung als Angliederung an die Bundesrepublik wollen. Jenseits unserer Grenzen werden die sich gegen uns wenden, die den Versuch einer Alternative zum kapitalistischen System mit dem Scheitern des realsozialistischen Modells für grundsätzlich gescheitert ansehen wollen, als gäbe es keine andere Alternative, eben weil sie keine wollen.“15 Die Existenz der DDR stand nicht zur Disposition, wenngleich langfristig die Lösung der nationalen Frage im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung möglich schien. Allein die Initiativgruppe Vereinigte Linke verneinte jegliches Bemühen um eine Wiedervereinigung und hielt an der „Drei-Staaten-Theorie“ fest. Die Unberechenbarkeit der Reaktion der Staatsorgane auf die oppositionellen Gruppierungen und deren hoffnungslose Überforderung angesichts der Dynamik des Aufbruchs der DDR-Gesellschaft kennzeichnete die von großer Unsicherheit geprägte Situation. Zwangen die öffentlichen Proteste das Politbüro am 11. Oktober 1989 zu einem ersten eigenen Dialogangebot, so blieb die Aufforderung zu einem „vertrauensvollen politischen Miteinander“ in alten Dogmen gefangen. Die Notwendigkeit oppositioneller Gruppierungen wurde verneint, der Führungsanspruch der SED nicht in Frage gestellt.16 Offensichtlich war einerseits der Versuch der Herrschenden, die Bedingungen für einen Dialog zu diktieren und andererseits, die Kirche in alter Manier für eine Beruhigung der Lage zu gewinnen. Die Proteste sollten in Räume, am besten in kirchliche, verlagert werden. Und die Berlin-Brandenburgische Kirchenleitung ging darauf ein, rief u. a. am 9. Oktober die „beunruhigten Menschen“ auf, „von allen nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen“17. In dieser Situation galt es, den Menschen Mut zu machen für ein persönliches Engagement. Nach dem Scheitern der ersten Bemühungen erwies sich die Bildung der oppositionellen „Kontaktgruppe“ in Berlin als der im Land erhoffte „Brückenschlag“ der Opposition für ein zusammenführendes und einheitliches Vorgehen. Von Ehrhart Neubert als das „unbekannte Revolutionsorgan“18 stili-

15 Markus Meckel: Programmatischer Vortrag zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 7. Oktober 1989, abgedruckt in: Gesamtdeutsches Institut Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, Politische Zielvorstellungen wichtiger Oppositionsgruppen in der DDR. Analysen und Berichte 13 (1989), S. 56–68, hier S. 55 und 65 f. 16 Vgl. Hannes Bahrmann/Christoph Links, Wir sind das Volk. Die DDR im Aufbruch – Eine Chronik, Berlin/Weimar 1990, S. 22. 17 Ehrhart Neubert, Die Opposition im Jahre 1989 – ein Überblick, Dok. 2, in: Kuhrt (FN 3), S. 427–466, hier S. 460. 18 Vgl. ebd., S. 444.

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siert, ging die Gruppe (auf Initiative von Stephan Bickhardt, Demokratie Jetzt) aus Treffen führender Vertreter der Opposition Ende September/Anfang Oktober 1989 unter „konspirativen Bedingungen“19 hervor. Als eine der wichtigsten, weil ersten greifbaren Ergebnisse galt die „Gemeinsame Erklärung“20 vom 4. Oktober. Unterzeichnet von führenden Vertretern der Gruppen Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Frieden und Menschenrechte, der Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der DDR, des Neuen Forum, der Gruppe Demokratischer SozialistInnen und einzelnen Berliner Friedenskreisen, enthielt das Papier das Bekenntnis zur Vielfalt der oppositionellen Bewegung und zum gemeinsamen Willen, „Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten.“ Mit Hinweis auf die verbindlichen Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente drängten die Akteure auf ein Ende der staatlichen Repressionen und formulierten Mindestanforderungen für eine demokratische Wahl unter Kontrolle der UNO. Prüfen wollten die einzelnen Gruppen, inwieweit sich „ein Wahlbündnis mit gemeinsamen eigenen Kandidaten“ realisieren ließ. Damit verstanden sie sich gemeinsam als politischer Gegner der SED. Offen blieb das Verfahren, um den Machtanspruch der SED zu brechen. Halbherzige und auf Vereinnahmung zielende Dialogangebote der „alten Kräfte“ unter Vermittlung der Kirchenleitung waren nicht geeignet.21 Nur mittels Gesprächen zwischen „alten“ und „neuen Kräften“ über die weitere Zukunft des Landes konnten demokratische Veränderungen erreicht werden. Hier lag nach Ansicht der oppositionellen Kräfte die einzige Chance für einen gewaltfreien Weg zur Demokratie. Die Furcht vor einem Gewaltausbruch wie 1953, 1956, 1968, 1981 oder 1989 erwies sich als maßgebendes Motiv. Konnte denn aus historischer und aktueller Perspektive dem Konsens der Gewaltfreiheit getraut werden?

4. Der „Dresdner Weg“ bis zum Fall der Mauer Im Gegensatz zu den Berliner Initiativen entstand die für den Umbruchsprozeß 1989/90 in Dresden so wichtige „Gruppe der 20“ spontan, am Abend des 8. Oktober, auf der Straße, aus der Masse der demonstrierenden Menschen, nachdem es im Zusammenhang mit der Fahrt der Botschaftsflüchtlinge über den Hauptbahnhof Dresden zu tagelangen, teilweise gewalttätigen Demonstrationen

19 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990, S. 29. 20 Vgl. „Gemeinsame Erklärung“, in: Rein (FN 6), S. 122 f. 21 Am 12. Oktober 1989 hatte Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack Gespräche mit Bürgern unter Vermittlung des Generalsuperintendenten Günther Krusche in Aussicht gestellt, falls diese nicht als Vertreter der Oppositionsgruppen auftreten.

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und Protesten gekommen war.22 Die auf Initiative des Kaplans Frank Richter formierte Gruppe aus etwa 20 mehr oder weniger zufällig bestimmten Demonstranten glich im Unterschied zu den „Intelligenzgruppen“ in Berlin viel stärker einer Volksvertretung im Wortsinn. Legitimiert durch die Zustimmung der Demonstranten repräsentierte sie annähernd den sozialen Querschnitt der Bevölkerung. Bereits am Morgen des 9. Oktober 1989 trafen Bürger (Vertreter der Gruppe der 20) und Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer im ersten von insgesamt vier „Rathausgesprächen“ zusammen. Das zentrale Motiv beider Seiten: ein Ende der Gewalt. Als erste in der DDR und zwei Monate früher als in Berlin erreichten oppositionelle Akteure in Dresden einen Dialog mit der Staatsmacht. Nicht das Neue Forum, die Sozialdemokratische Partei oder der Demokratische Aufbruch traten als Initiatoren auf, sondern die Gruppe der 20. Von ihrer Konstituierung an begriff sie sich als Mittler zwischen den Staats- und Parteiorganen und der Bevölkerung, lehnte den Begriff Opposition für sich ab und verstand sich nicht als Partei. Maßgeblich an der Vermittlung des ersten offiziösen Dialogs zwischen den Demonstranten und den (lokalen) Vertretern der SED in der DDR beteiligt war Superintendent Christof Ziemer. Er bestand darauf, daß es sich nun nicht mehr um Gespräche zwischen Kirche und Staat, sondern um einen „Dialog zwischen Volk, Partei und Regierung“23 handle, bei dem die Kirche allenfalls als Mittler auftrete. Ziemer kritisierte das Dialogkonzept der SED und forderte, die Gruppe der 20 anzuerkennen und ihr damit zu gleichwertigen Arbeits- und Organisationsmöglichkeiten zu verhelfen. Das war neu, denn die Proteste in die Räume der Kirche zu verlagern, blieb auch in Dresden Strategie der SED. Ziemer prägte den Begriff des „Dresdner Modells“24, das in der Folgezeit Dialog, Verständigung und Kompromißbereitschaft zwischen den „neuen“ und den „alten“, aber reformorientierten Kräften vereinte und eine landesweite Vorbildwirkung entfaltete. Deswegen eine geradlinige Entwicklung in Dresden vorauszusetzen, ist unrealistisch. Hans Modrow hatte in seiner Position als Erster Sekretär des Rates des Bezirkes noch am 14. Oktober 1989 wieder auf eine Beendigung des Dialogs mit der Gruppe der 20 gedrängt.25 Als sich abzeichnete, daß die Gespräche nicht mehr abzubrechen waren, ging die SED zu einer Politik der Restauration 22 Vgl. zur Gruppe der 20 beispielhaft: Michael Richter/Erich Sobeslavsky, Die Gruppe der 20. Gesellschaftlicher Aufbruch und politische Opposition in Dresden 1989/90, Köln u. a. 1999. 23 Das Dresdner Modell. Christof Ziemer: Die Weisheit des Volkes ist noch nicht erloschen, in: Rein (FN 6), S. 188–196, hier S. 194. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Karin Urich, Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90, Köln u. a. 2001, S. 212 f.

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über. Ein Angebot Berghofers, im zweiten Rathausgespräch am 16. Oktober, künftig interessierte Bürger in „Zeitweiligen Arbeitsgruppen“ in der Stadtverordnetenversammlung mitarbeiten zu lassen, war ein Versuch, die Anerkennung der oppositionellen Kräfte hinauszuzögern und die Schaffung oppositioneller Eigenstrukturen zu verhindern. Im Bericht des Neuen Deutschland hieß es: „Wolfgang Berghofer kündigte an, daß die Bürger künftig im Rahmen der Verfassung die demokratischen Möglichkeiten der Stadtverordnetenversammlung nutzen können. Er schlug vor, in ständigen sowie zeitweiligen Arbeitsgruppen, unterstützt von kompetenten Persönlichkeiten, die aufgezeigten Probleme zu untersuchen.“26 Die SED setzte auf Vereinnahmung der kritischen Kräfte und wollte Veränderungen nur auf der Basis des Sozialismus zustimmen. Fachliche Kompetenz sollte oppositionelle Anliegen überlagern. Die Gruppe der 20 begegnete diesen Vereinnahmungstendenzen mit einer Doppelstrategie: einerseits den Dialog fordern und führen, andererseits den Aufbau eigener unabhängiger Strukturen forcieren. Die Akteure nahmen das ihnen zugebilligte Rederecht in der Stadtverordnetenversammlung an und formierten analog zu den zeitweiligen Arbeitsgruppen thematische Sektionen (interne Arbeitsgruppen), um mit konkret erarbeiteten Vorschlägen auch inhaltlich den alten Kräften entgegenzutreten. Sie unterliefen die ursprüngliche Absicht der SED, die Initiative mit der Bildung der zeitweiligen Arbeitsgruppen wiederzuerlangen und den Dialog für sich zu instrumentalisieren. Von außerordentlicher Bedeutung im Umbruchsprozeß überhaupt erwies sich die Erneuerung der Legitimation. Im Zuge der legendären „Eine-Mark-Aktion“ vom 19. Oktober 1989 an erreichte die bislang ausschließlich durch die Demonstranten legitimierte Gruppe der 20 innerhalb weniger Tage eine derart breite Legitimationsbasis, die nur freie Wahlen überbieten konnten. Die Dresdner folgten der Aufforderung, mit der Überweisung von einer Mark auf ein Postgirokonto ihre Unterstützung der oppositionellen Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Innerhalb weniger Tage kam die respektable Summe von 100.000 Mark zusammen. Eindrucksvoll erneuerten die Oppositionellen das Mandat der Straße.27 Die Gruppe der 20 wuchs in die Rolle einer unabhängigen Bürgerbewegung hinein und stieg allmählich zum gleichberechtigten Partner des Oberbürgermeisters auf. Daraus resultierte die de facto-Anerkennung als Bürgerinitiative im dritten Rathausgespräch am 30. Oktober 1989. Drei Wochen nach dem Zusammenfinden auf der Straße existierten Dialogstrukturen, „die es erlauben, von einem für Demokratien konstitutiven Schritt, nämlich der Anerkennung der Opposition – im Unterschied zu Widerstand – zu sprechen“.28 Damit hob sich die Dresdner 26 27 28

Neues Deutschland vom 17. Oktober 1989. Vgl. Urich (FN 25), S. 222. Vgl. Thaysen (FN 5), S. 25.

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Entscheidung der SED deutlich von der zentralen Entwicklung und der halbherzig propagierten Dialogpolitik des Politbüros ab, das noch am 23. Oktober jegliche offizielle Anerkennung des „Neuen Forum“ oder anderer „antisozialistischer Sammlungsbewegungen“ verneinte.29 Allein der Druck der Bevölkerung rang Wolfgang Berghofer die Entscheidung ab, sich über die Berliner Vorgaben hinwegzusetzen, wenngleich er vorausschickte, daß künftig allenfalls „um Erneuerung, Reform und Fortschritt im Sinne des Sozialismus auf der Grundlage der Verfassung“30 gestritten werde. Unangetastet blieb die Führungsrolle der SED. Eine Steuerung oder eine Inszenierung des Dialogs war allerdings der untaugliche Versuch, die Entwicklung zu bestimmen. Eine gemeinsam vom Rat der Stadt und der Gruppe der 20 organisierte Kundgebung am 26. Oktober und die erste Montagsdemonstration am 6. November offenbarten dies. Die Unterwanderungen der Demonstrationen mit staatlichen Kräften verkehrten sich in eine peinliche Bloßstellung des Systems. Eine Äußerung Arnold Vaatz’ vom 26. Oktober, wonach es Heuchelei sei, auf Seiten der SED von Demokratie zu sprechen und zugleich die Ereignisse in China nicht zu verurteilen,31 umschrieb die Situation treffend. Letztlich mußte Berghofer der Gruppe der 20 zugestehen, vom 13. November an ohne Rücksprache mit dem Rat der Stadt zu Montagsdemonstrationen aufrufen zu dürfen. Die gleichsam rechtliche Anerkennung und das offizielle gewährte Agieren auf der Straße kennzeichneten für die Dresdner frühzeitig einen Status, der sonst nirgends in der DDR erreicht war und eine der Besonderheiten des Dresdner Modells ausmachte. Uwe Thaysen verwies auf den bemerkenswerten Umstand, daß die Dresdner Oppositionellen durch eine grundlegende Verweigerung ihrer Einbindung in staatliche Strukturen das erreichten – aber einen Runden Tisch ablehnten.32 Gerade dieses Konzept favorisierte die Berliner Kontaktgruppe der Opposition.

5. Der „Berliner Weg“ nach dem Mauerfall Angelehnt an einen Vorschlag der Gruppe Demokratie Jetzt erging die Initiative „Zur Einrichtung eines Runden Tisches“33 seitens der Berliner Kontaktgruppe der Opposition am 10. November 1989. Drängten die Akteure damit vor allem auf eine Begrenzung des Wahrheits- und Machtanspruches der SED, dann 29 Vgl. Klaus Schroeder unter Mitarbeit von Steffen Alisch, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 302. 30 „Verlaufsprotokoll des 3. Rathausgespräches“, in: Richter/Sobeslavsky (FN 22), Dok. 73, S. 406–429, hier S. 411. 31 Vgl. Hans Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, 3. Aufl., Berlin 1998, S. 293. 32 Vgl. Thaysen (FN 5), S. 87. 33 Vgl. Neubert, Die Opposition, Dok. 5, in: Kuhrt (FN 3), S. 462.

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stellt sich die Frage, ob mit dem Mauerfall diese Forderung nicht bereits erfüllt war. Jedenfalls hatte die Volkskammer die Führungsrolle der SED bereits aus der Verfassung gestrichen, als der Zentrale Runde Tisch am 7. Dezember zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat. Neben dem Ziel, die Machtkontrolle erstmals zu institutionalisieren, dürfte vor allem die Absicht der Berliner Oppositionskreise ausschlaggebend gewesen sein, einen reformierten Staat DDR zu erhalten. So lautete das erklärte Selbstverständnis in der ersten Sitzung: „Die Teilnehmer des Runden Tisches treffen sich aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung.“34 Angesichts der vierzigjährigen Diktaturerfahrungen kann die von den „neuen Kräften“ mitgetragene Aussage durchaus als taktische Verhaltensweise gelten, um möglichst wenig Konfrontations- und Angriffspunkte zu liefern. Mit der fortschreitenden Existenz des Zentralen Runden Tisches und dem Festhalten an der Selbstverständniserklärung scheidet diese Komponente allerdings weitgehend aus. Hinzu trat das Legitimationsproblem, denn einzig aus dem Anspruch, „die Ersten der Revolution“ zu sein, konnten die Vertreter der Oppositionsgruppen ihre besondere Stellung nur unzureichend ableiten.35 Um eine entsprechende Rückkopplung zur demonstrierenden Bevölkerung bemühten sie sich nicht. Von einer Legitimation der Volkskammer, der Koalitionsregierung unter Modrow und damit der Vertreter der Nationalen Front am Zentralen Runden Tisch zu sprechen, erübrigte sich. Von Ende Oktober 1989 an befand sich die SED in der Defensive. Massenweise Parteiaustritte und die Unglaubwürdigkeit der „Krenz-Wende“ ließen den politischen und gesellschaftlichen Druck auf die Partei wachsen. Das Aufhalten des Demokratisierungsprozesses schien unmöglich. Dennoch blieben der Staat und seine Organe weiter in der Hand der SED. Diese reagierte auf die gesellschaftliche Entwicklung mit einer zweiseitigen Strategie: einerseits den Demokratisierungsprozeß mittragen und unter Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen bestmöglich für die zu erwartende Einordnung in ein neues Parteiensystem nutzen. Andererseits setzte die SED weiter auf den Einsatz der staatlichen Organe. Ergebnis des Ersten war u. a. am 13. November 1989 die Wahl Hans Modrows zum Ministerpräsidenten. Weil er zu einem Ende der Gewalt in Dresden und letztlich zur Friedfertigkeit der Herbstereignisse überhaupt beigetragen hatte, stieg er zum „überparteilichen“ Hoffnungsträger der „alten Kräfte“ und der von ihnen gebildeten Koalitionsregierung auf. Daß schließlich die offizielle Einladung zu einem Runden Tisch von Seiten der SED am 22. November er-

34 35

Thaysen (FN 19), S. 50. Vgl. ebd., S. 49.

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ging, ordnet sich ein. Die oppositionelle Initiative wurde durch die SED unterlaufen und mit Einbindung der Massenorganisationen geschwächt. Als Ausdruck des Zweiten erwies sich das Festhalten an den staatlichen Organen, die künftig in veränderter Form agieren sollten. Die formale Umwandlung des Ministeriums für Staatssicherheit in das Amt für Nationale Sicherheit offenbarte dies. Bei der Amtseinführung des neuen Leiters der Nachfolgeinrichtung des Ministeriums für Staatssicherheit, Wolfgang Schwanitz, betonte Modrow noch am 21. November 1989 im vertrauten Kreis, „daß wir jetzt an einem Punkt sind, wo die Genossen in den staatlichen Organen für die Partei in neuer Weise Verantwortung übernehmen müssen und der Partei in neuer Weise eine Chance zu bieten haben.“36 Während nach „außen“ Verständigung und Kompromiß stete Betonung fanden, schien „innen“ fast alles beim alten. Konspirative Maßnahmen der Zersetzung und zielgerichteten Behinderung blieben mögliche Optionen. Folglich reagierte Modrow nur auf die sich verändernde gesellschaftliche Situation. Entsprechend seinen Erfahrungen in Dresden setzte er in Berlin alles daran, die Initiative nicht zu verlieren, Zugeständnisse nur wenn nötig und nur im begrenzten Umfang zu gewähren. Im Gegensatz zu Dresden gelang es in Berlin, diese Strategie viel länger umzusetzen. Und die Berliner Oppositionellen ließen sich weitgehend darauf ein. Schon am 4. November hatte die erste große und letztlich größte Demonstration in Berlin gezeigt, daß ein wirkliches Abgrenzen und Ausgrenzen der „alten Kräfte“ nicht möglich bzw. nicht gewollt war. Vor einer halben Million Menschen durften Markus Wolf und andere SEDSpitzen gemeinsam mit Sprechern der Opposition auftreten. Die Veranstaltung verkam in der Tat zu einem „Happening“37, während in den ersten Oktobertagen vielerorts die ersten Demonstrationen durch staatliche Kräfte noch gewaltsam aufgelöst wurden und Menschen für demokratische Veränderungen ihr Leben riskiert hatten. Die Streichung des Führungsanspruches der SED aus der Verfassung durch die Volkskammer am 1. Dezember 1989 verdeutlichte die Ernsthaftigkeit der Krise der SED. In den folgenden Tagen wurden immer mehr Korruptions- und Bereicherungsfälle des Regimes bekannt. Die SED-Parteiführung sah sich am 3. Dezember schließlich zum Rücktritt gezwungen. Der Zorn der Massen über die Unrechtmäßigkeit der vierzigjährigen Herrschaft entlud sich in den Besetzungen der Bezirks- und Kreisverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit. Unmittelbar vor der konstituierenden Sitzung des Zentralen Runden Tisches zeigte sich eine spannungsgeladene Situation. 36 Hans Modrow, zit. nach Uwe Thaysen in Zusammenarbeit mit Hans Michael Kloth, Der Runde Tisch und die Entmachtung der SED. Widerstände auf dem Weg zur freien Wahl, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII.I, Frankfurt a. M./Baden-Baden 1995, S. 1706–1852, hier S. 1745. 37 Pflugbeil, Das „Neue Forum“, in: Kuhrt (FN 3), S. 514.

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Taktischer Rückzug und Restaurationsbemühungen markierten in der Folge die Strategie der angeschlagenen SED. Mit der Wahl von Gregor Gysi, Hans Modrow und Wolfgang Berghofer zur neuen Führung der Partei und der Umbenennung in SED-PDS sollte der mehrtägige Sonderparteitag im Dezember 1989 den Beginn der Demokratisierung symbolisieren. Die nötige politische Rückendeckung suchte die SED in der Zusammenarbeit mit den Oppositionskräften am Zentralen Runden Tisch. Jedoch stand die „alte Macht“ gegen Ende Januar 1990 unmittelbar vor dem politischen Bankrott. Rückblickend erscheint es unverständlich, daß die Oppositionskräfte in Berlin in dieser Situation am 28. Januar dem Vorziehen der Volkskammerwahl von Mai auf März zustimmten und Hans Modrow die Beteiligung an der „Regierung der nationalen Verantwortung“ zusagten. Einzig die Vereinigte Linke verweigerte sich.38 Die Sorge um „das in eine Krise geratene Land“, das durch ein endloses Fortschreiten der Massenauswanderung an den Rand des Zusammenbruches rückte, ließen sie den Schritt in die Regierungsverantwortung ohne jegliches Mandat gehen. Wo waren die basisdemokratischen Ansätze? Für die andere Seite verband sich mit der Einbindung der Opposition die Hoffnung, „große Teile der Bevölkerung integrieren und das Bonner Streben nach schneller Wiedervereinigung abwehren zu können“.39 Die schwache Opposition wurde weiter erschüttert und „bezeugte“ umgekehrt den „demokratischen Wandel“ der einstigen Staatspartei und der Regierung. Die Oppositionsgruppen, die keine Anstalten zeigten, „die Macht an sich zu reißen“40, übernahmen scheinbar Verantwortung für das alte System und stützten die Absicht der „alten Kräfte“, „sich selbst salonfähig zu machen.“41 Die acht Minister ohne Geschäftsbereich aus dem Lager der Opposition glichen Alibifiguren, warnten am 13. Februar in Bonn vor einem „Anschluß der DDR an die BRD nach Art. 23 des Grundgesetzes“ und sprachen gar von der Gefahr eines „vierten Reiches“42.

6. Der „Dresdner Weg“ nach dem Fall der Mauer Der Gruppe der 20 fiel im Umbruchsprozeß 1989/90 in Dresden eine herausragende Rolle zu. Ihre Vertreter standen im direkten Dialog mit dem Rat der Stadt und bestimmten die politischen Themen. Die in Dresden aktiven Oppositionskräfte unterstützten die Gruppe der 20 und hatten über ihre Organisationsstruktur Möglichkeiten gefunden, aktiv in den Prozeß der demokratischen Um38

Vgl. Modrow (FN 31), S. 412. Schroeder (FN 29), S. 355. 40 Eckhard Jesse, Oppositionelle Bestrebungen in den achtziger Jahren und ihre Repräsentanten, in: Ders. (Hrsg.), Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 257–324, hier S. 273. 41 Ebd. 42 Hans Modrow, Aufbruch und Ende, Hamburg 1991, S. 132. 39

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gestaltung einzugreifen. Diese Zusammenarbeit formalisierte der Koordinierungsausschuß der Opposition, der am 4. November 1989 erstmals zusammentraf und einen Forderungskatalog aufstellte. Der aus der Gruppe der 20, dem Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch, Demokratie Jetzt, der SDP, der Initiative Demokratische Erneuerung, der ökumenischen Friedenskreise und dem Ökologischen Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke gebildete Ausschuß zielte auf eine inhaltliche und strategische Abstimmung der einzelnen oppositionellen Gruppierungen.43 Das Selbstverständnis drückte sich in der Resolution aus, die zwar die Wiedervereinigung nicht erwähnte, u. a. aber den sofortigen Rücktritt der Regierung forderte. Angesichts der erkennbaren Restaurierungsbemühungen der „bisherigen Macht- bzw. Ohnmachtsverhältnisse“ sah sich der Ausschuß dazu veranlaßt. Damit drängten die Dresdner energisch auf die Unumkehrbarkeit des Demokratisierungsprozesses und verdeutlichten, wie weit diese Vorgänge bereits gediehen waren. Der Koordinierungsausschuß der Opposition vereinbarte noch im November 1989, die Gruppe der 20 als Plattform durch je einen Vertreter des Neuen Forum, der SDP und des Demokratischen Aufbruch zu erweitern. Damit traten die „neuen Kräfte“ künftig als repräsentative Bürgerbewegung im Stadtparlament auf. Wolfgang Berghofer reagierte und machte im vierten und letzten Rathausgespräch am 20. November das Angebot, ab Januar 1990 eine Basisdemokratische Fraktion als Zusammenschluß aller oppositionellen Kräfte in der Stadtverordnetenversammlung zu etablieren. Ein Novum, das im Gegensatz zu Berlin aus der frühen Anerkennung der Opposition als Gesprächspartner und Interessenvertreter resultierte. Umgekehrt bestand die Hoffnung, die Einbindung der außerparlamentarischen Kräfte könne ihrer besseren Kontrolle dienen. Stimmrecht sollten sie nicht erhalten. Blieb die Absicht, den Umbruchsprozeß zu verschleppen? Wenn der Maßstab der Politik Modrows in Berlin angelegt wird, dann muß diese Erkenntnis bleiben. Eine Stärke der Opposition in Dresden bestand darin, solche Entwicklungen erkannt und darauf auch mit außerparlamentarischen Mitteln reagiert zu haben. Die Besetzung der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit am 5. Dezember 1989 ordnet sich hier ein. Zugleich wiesen die Protagonisten im Zusammenhang mit der Konstituierung des Zentralen Runden Tisches jegliche Bemühungen für ein entsprechendes Gremium in der Stadt Dresden zurück. Steffen Heitmann, der juristische Berater der Gruppe der 20, argumentierte: 43 Vgl. Erich Sobeslavsky, Die „Gruppe der 20“ in Dresden – eine bemerkenswerte Erscheinung der friedlichen Revolution von 1989/90. Entwicklung, Strukturen und politische Bedeutung, in: Günther Heydemann/Gunter Mai/Werner Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999, S. 289–305, hier S. 300; Urich (FN 25), S. 273.

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„Diese Funktion nehmen in Dresden wir wahr. Wir brauchen keinen Runden Tisch, wo ja die ganzen alten Kräfte verschleiert jetzt plötzlich als selbständige Kräfte am Runden Tisch saßen. Das war die Taktik der SED schon nach 1945 gewesen, indem sie die Massenorganisationen hineinnahm, aber politisch unterwandert hatte. Und so war jetzt dasselbe Bemühen wieder, diesen Kräften ein eigenes Gewicht zu geben. In Wirklichkeit waren sie aber keine eigenen Kräfte, sondern es waren Teile der SED.“44 Mit der Bildung der Basisdemokratischen Fraktion ging die Opposition in Dresden einen anderen Weg und vermied eine etwaige Zersplitterung wie in Berlin. Als eine „Vertretung der Bürger, die sich in der Vergangenheit der diktatorischen Politik der SED verweigert haben und jetzt in offener Opposition zu ihr stehen“45, verstand die 30köpfige Fraktion von Januar 1990 an ihre Funktion. Die Gruppe der 20 und schließlich die Basisdemokratische Fraktion waren im Vorfeld der Volkskammerwahlen 1990 keineswegs homogene, aber doch entscheidende Kontrollorgane im Übergang zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Während in Berlin reformsozialistische Vorstellungen bei einem Großteil der Oppositionellen handlungsleitend blieben, setzten sich in Dresden die Befürworter einer Übernahme des bundesrepublikanischen Systems durch. Der Wille zu „neuen Experimenten“ war nicht gegeben. Arnold Vaatz verlangte für das Neue Forum Dresden bereits am 17. Dezember 1989 „einen zügigen, nicht aber überstürzten Weg zur Einheit der beiden deutschen Staaten und Berlins im Sinne einer Konföderation. Wir werden unseren politischen Einfluß geltend machen, um [. . .] Entscheidungen zu verhindern, die für den Weg zur deutschen Einheit nicht offen sind.“46 Der triumphale Besuch Helmut Kohls am 19. Dezember bestätigte diesen Kurs. Das Neue Forum plädierte bereits zwei Tage später für die schnellstmögliche Umsetzung der staatlichen Einheit47 und verlangte im Aufruf „Keine Experimente mehr“ den Beitritt der neu zu bildenden Länder nach Artikel 23 Grundgesetz48, während die Berliner Organisatoren noch am 18. Dezember einen langsamen Weg anmahnten49 und gar gemeinsam mit der SDP und der Vereinigten Linken am 24. Dezember vor einer Wiederbelebung „kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse in der DDR“50 warnten.

44

Steffen Heitmann, zit. nach Richter/Sobeslavsky (FN 22), S. 184. „Grundsatzerklärung der Basisdemokratischen Fraktion der Stadtverordnetenversammlung“, in: ebd., Dok. 109, S. 492–493, hier S. 492. 46 Sächsische Zeitung vom 16./17. November 1989. 47 Vgl. Urich (FN 25), S. 326. 48 Vgl. Marianne Schulz, Das Neue Forum, in: Helmut Müller-Enbergs/Marianne Schulz/Jan Wielgohs (Hrsg.), Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegungen, Berlin 1991, S. 11–104, hier S. 47. 49 Vgl. ebd., S. 49. 50 „SDP, Neues Forum und Vereinigte Linke zu Wirtschaftsfragen“, in: Berliner Zeitung vom 23./24. Dezember 1989. 45

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Oppositionelle Akteure wie Arnold Vaatz, Herbert Wagner oder Frank Neubert reflektierten mit ihrer bürgerlichen Sichtweise stärker die Sehnsüchte der Bevölkerung. Selbst wenn keine klaren Vorstellungen über das System Bundesrepublik bestanden, so lag es doch näher, das altbewährte und erfolgreiche Modell zu übernehmen. In der Basisdemokratischen Fraktion kam diese Orientierung zum Tragen. Die Konsequenz des westlichen Wertekonsens: Eine Beteiligung der Vereinigten Linken, die sich weiterhin für eine souveräne DDR einsetzte, war nicht gewollt. Sie schloß sich praktisch von selbst aus. Am 15. Februar 1990 stellten die Mitglieder der Basisdemokratischen Fraktion einen Antrag auf Auflösung der Stadtverordnetenversammlung, um den Bruch mit dem alten System zu symbolisieren. Damit unterliefen die Oppositionskräfte die Absicht, mit der Zulassung der Fraktion die Kräfte der Opposition in eine pseudodemokratische Institution einzubinden und so den Kurs der Wandel suggerierenden PDS demokratisch abzusichern. Umgekehrt offenbarte schließlich die Entscheidung der alten Kräfte, die Auflösung abzulehnen, deren Unfähigkeit zum demokratischen Handeln.

7. Vergleich Berlin – Dresden Zweifellos mangelte es in Berlin wie in Dresden auf Seiten der Opposition an ausreichend Fachkompetenz. Auf zentralstaatlicher Ebene erwies sich dies von großem Nachteil. Die Macht zu übernehmen und Egon Krenz oder Hans Modrow abzulösen, das schien unmöglich und nicht gewollt.51 In Dresden gestaltete sich die Situation günstiger. Mit Wolfgang Berghofer saß der Opposition ein Mann gegenüber, der als einer der ersten Funktionäre in der SED resigniert erkannt hatte, daß die Machtfrage allenfalls hinauszuzögern war. Ausdruck fand dies in einer größeren Kompromiß- und Dialogbereitschaft. Grundlegende Unterschiede zwischen Berlin und Dresden zeigten sich aber in der Stellung der oppositionellen Akteure zum Sozialismus und ihrer Haltung zur deutschen Einheit. Charakteristisch für die Gruppen in Berlin erwies sich das lange Festhalten am Konzept einer erneuerbaren DDR und damit am Reformsozialismus. Wie allein die Demonstration am 4. November 1989 offenbarte, entsprach das sozialistische Verständnis und die Tabuisierung der deutschen Frage dem politischen Verlangen der Berliner Opposition. Nicht eine einzige offizielle Forderung nach der Öffnung der Mauer im Rahmen der Kundgebung ist belegt.52 Selbst nach der Zäsur des Mauerfalls bestimmten Skepsis, ja gar offene Ablehnung die 51 Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, hatte in einem Gespräch am 4. Dezember 1989 den Vertretern der Opposition die sofortige Übernahme der Regierungsverantwortung nahegelegt, was jedoch abgelehnt wurde. Vgl. Pflugbeil, Das „Neue Forum“, in: Kuhrt (FN 3), S. 517.

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deutschlandpolitischen Positionen der Oppositionsgruppen. In einem Flugblatt des Neuen Forum zur Maueröffnung hieß es u. a.: „Laßt euch nicht von den Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken! Ihr wurdet weder zum Bau der Mauer noch zu ihrer Öffnung befragt, laßt euch jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, das uns zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens macht! [. . .] Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.“53 Die Akteure blieben gefangen in ihren Sehnsüchten nach einem „wahrhaftigen Sozialismus“. Eine Lösung vom traditionellen DDR-Bezug und von der Affinität gegen den Konsum gelang nicht. Wolfgang Ullmann, Demokratie Jetzt, sprach am 18. November vom „Staatsvolk der DDR“ und zeigte sich froh, in der Frage der Souveränität mit der SED auf einer Linie zu liegen. Die „antifaschistische Grundentscheidung“54 blieb wesentliches Motiv! Von langfristigen Veränderungen und Reformen in beiden Teilen Deutschlands gingen aber selbst jene Kräfte aus, die vor dem Hintergrund der Einheitseuphorie begannen, die „Wende in der Wende“ mitzutragen. In einem Positionspapier Anfang Dezember 1989 bekannten sich die Sozialdemokraten in der DDR „zur Einheit der deutschen Nation“, lehnten allerdings „eine schnelle Wiedervereinigung im Sinne eines Anschlusses an die BRD“55, also nach Artikel 23 Grundgesetz ab. Ähnlich lauteten die Aussagen zur deutschen Einheit im „Leipziger Programm“ des Demokratischen Aufbruch Mitte Dezember: „Der Weg führt von vertraglicher Bindung zwischen den deutschen Staaten über einen Staatenbund zu einem Bundesstaat.“56 Im Gegensatz zum Zentrum Berlin setzten sich im Ergebnis des Mauerfalls in Dresden jene Kräfte in den oppositionellen Gruppen durch, die aus der zweiten Reihe kamen und ihr Engagement mit einem Bekenntnis zur deutschen Einheit begründeten. Sie strebten eine höhere Verbindlichkeit an und nutzten sowohl die organisatorische als auch inhaltliche Überforderung der Initiatoren für die eigene Profilierung. Zwar blieb auch in Dresden die deutsche Frage nicht unumstritten, doch gelang es den Befürwortern eines schnellen Weges ihre Positionen durchzusetzen. Mit dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, einer ökologisch und sozial verantworteten Marktwirtschaft und dem Bekenntnis zur Einheit der deutschen Nation im Rahmen einer europäischen Friedensordnung 52 Vgl. Annegret Hahn u. a. (Hrsg.): 4. November 89. Der Protest. Die Menschen. Die Reden, Frankfurt a. M. 1990. 53 Flugblatt „Die Mauer ist gefallen“ der Initiativgruppe Neues Forum vom 12. November 1989; in: (Stand: 29. Oktober 2005). 54 Interview Wolfgang Ullmann, in: die tageszeitung vom 18. November 1989. 55 Gutzeit/Hilsberg, Die SDP/SPD, Dok. 8, in: Kuhrt (FN 3), S. 683. 56 Programm des Demokratischen Aufbruch, in: Steffen Kammradt, Der Demokratische Aufbruch. Profil einer jungen Partei am Ende der DDR, Anhang, Frankfurt a. M. u. a. 1997, o. S.

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waren bereits im Januar 1990 grundlegende Ziele der Basisdemokratischen Fraktion definiert.57 Die Übernahme von Verantwortung bedeutete für die Mitglieder der Basisdemokratischen Fraktion keineswegs die Übernahme von Verantwortung für das untergehende System. Das Stimmrecht in der Dresdner Stadtverordnetenversammlung lehnten sie folgerichtig ab, um ein Stimmen mit der PDS auszuschließen. Angetreten, die Parlamentarier als Wahlbetrüger bloßzustellen und über freie Wahlen zu einer kommunalen Selbstverwaltung zu gelangen, verwahrten sie sich gegen jeglichen Anschein von Demokratie. Trotz einer beispiellosen Legitimation fehlte der konkrete Wahlauftrag des Volkes.58 Über diese Dinge gingen die Berliner hinweg. Auch sie wollten die Öffentlichkeitsfunktion ausüben, freie Wahlen ermöglichen und bis dahin zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. Im Regierungseintritt Ende Januar 1990 sahen sie eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten.59 Allerdings erwies sich das in der Realität als problematisch, weil die gewollte Konsensfindung den „alten Kräften“ diente. Ihnen nahm die Opposition ungewollt einen Teil der Verantwortung für die vierzigjährige Diktatur ab – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die deutsche Vereinigung nicht mehr pure Spekulation war. Der Regierungseintritt muß umstritten bleiben, weil kein Mandat vorlag und er auf Initiative Hans Modrows erfolgte. Wenngleich es den „alten Kräften“ immer weniger gelang, die Entwicklungen zu steuern, so haben sie doch wesentlich den Faktor Zeit für sich nutzen können. Das Vorziehen der Volkskammerwahl auf den 18. März und das Verschleppen der Konstituierung des Zentralen Runden Tisches offenbarten dies. Angesichts der Maueröffnung bereits Anfang November 1989 bewertet Gerd Poppe rückblickend kritisch das Verhalten der Berliner Oppositionellen: „Das Ereignis war so massiv, daß fast niemandem mehr verborgen bleiben konnte, wohin es führt. So finde ich es heute tatsächlich ein wenig seltsam, daß im November´89 so wenig passiert ist. Wir haben uns wöchentlich als Kontaktgruppe der verschiedenen Bürgerbewegungen getroffen und haben recht lange Zeit gebraucht, den Runden Tisch zustande zu bringen. Da ist ein ganzer Monat verschenkt worden, der vielleicht sehr wichtig gewesen ist. Dann kam unser Versuch, in die Regierung hinein zu gehen, natürlich viel zu spät, weil gleichzeitig der Wahltermin auf den 18. März vorgezogen wurde.“60 Die Dresdner Oppositionellen hatten mit dem Aufbau eigener Strukturen ein taugliches Mittel gefunden, eine programmatische Profilierung zu erreichen und 57

Vgl. Richter/Sobeslavsky (FN 22), Dok. 109, S. 493. Vgl. ebd., S. 192. 59 Vgl. Interview mit Gerd Poppe, in: Hagen Findeis/Detlef Pollack/Manuel Schilling (Hrsg.), Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den politisch alternativen Gruppen der DDR geworden? Interviews mit ehemals führenden Vertretern, Leipzig 1994, S. 175–191, hier S. 180 f. 60 Ebd., S. 186. 58

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mit konkreten Politikinhalten den Alleinherrschaftsanspruch der SED anzugreifen. Diese frühe Zusammenarbeit mit den Parlamentariern der Dresdner Stadtverordnetenversammlung in den zeitweiligen Arbeitsgruppen kennzeichnete eine andere Situation als in Berlin. Nicht allein das Aufzeigen von Mißständen, sondern die ins Detail gehende Erarbeitung von Lösungsvorschlägen wurde in diesen Gremien praktiziert. Als weiterer Vorteil erwies es sich, daß die Gruppe der 20 trotz der verschiedenen politischen Strömungen nach außen geschlossen auftrat. Eine oppositionsinterne Diskurssituation wie am Zentralen Runden Tisch in Berlin gab es nicht. Michael Richter und Erich Sobeslavsky haben auf die Entwicklung der Gruppe der 20 vom ursprünglichen Dialogforum zum Repräsentationsorgan der Dresdner Opposition hingewiesen.61 Hingegen folgten die Berliner Mitstreiter weitgehend dem Arbeits-Verschleppungstempo der Regierung. Während die „alten Kräfte“ darüber im Bilde waren, was die Opposition wollte, zeigte sich diese auf zentraler Ebene am Runden Tisch in der Tat naiv unwissend über die Absichten der Regierung. Überschätzt wurden Reformfähigkeit und Reformwille der SED. Darum verwunderte es nicht, daß der Zentrale Runde Tisch meist nur reaktiv in Erscheinung trat und im Ergebnis, trotz gegenteiliger Meinungen der Protagonisten, in der Bevölkerung kaum noch wahrgenommen wurde. Die „Entflechtung von Gesellschaft und Staat von der SED und anderen Altkadern“62 gelang nicht, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung blieb ohne große Relevanz. Gleichwohl sind die Auflösung des Staatsicherheitsdienstes und die Terminierung der ersten demokratischen Volkskammerwahl beachtliche Erfolge. Der Runde Tisch gestaltete den Weg vom Einparteienstaat zur pluralistischen Parteiendemokratie auf zentralstaatlicher Ebene und machte ihn verbindlich. Sein Verdienst lag in der beschleunigten Entmachtung der SED, wenngleich sich das Ende ihrer Herrschaft bereits Anfang Dezember 1989 abzeichnete.63

8. Abschließende Bemerkungen In Berlin blieb überwiegend die Zielvorstellung einer „demokratisierten DDR“ noch zu einem Zeitpunkt bestehen, an dem die SED-Herrschaft in die Knie gezwungen war. Den Begriff Sozialismus und die Orientierung auf ihn allein aus taktischen Gründen benutzt zu haben, muß also ausscheiden. Mit dem autoritären Systemcharakter der DDR, der ein zielgerichtetes Nachdenken über die Einheit der Nation, eine westliche Demokratieform und ein marktorientiertes Wirtschaftssystem verhindert habe, lassen sich diese reformsozialistischen Bekundungen ebenso wenig erklären. Warum positionierten sich die Oppositio61 62 63

Vgl. Richter/Sobeslavsky (FN 22), S. 185. Neubert, Die Opposition, Dok. 5, in: Kuhrt (FN 3), S. 450. Vgl. Thaysen (FN 19), S. 150 f.

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nellen nicht, als die Gelegenheit sich bot? Tatsächlich verbanden sie mit ihrem Engagement für eine reformierte DDR andere Intentionen als die SED und die Reformer in der Partei, wie Ehrhart Neubert konstatiert.64 Doch das auffallende Desinteresse an der deutschen Frage ließ viele Oppositionelle in der öffentlichen Wahrnehmung nah an die SED und schließlich PDS rücken. Der Appell „Für unser Land“ vom 28. November 1989 sprach Bände. Veröffentlicht im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED, schien er Teile der „neuen“ und „alte Kräfte“ auf eine gemeinsame Linie festzulegen. Es galt, den Zusammenbruch des Landes zu verhindern, das ihnen letztlich Bedeutung verlieh. Und die „alten Kräfte“ wußten diese Schwäche zu nutzen, übernahmen plötzlich Forderungen des „Aufbruchs 89“, sprachen von Aufklärung, Demokratisierung und einem „dritten Weg“. Nach außen ergab sich ein vermeintlich gemeinsamer Grundkonsens: nämlich den Bestand der DDR nicht in Frage zu stellen oder die „sozialistischen Errungenschaften“ so teuer wie möglich zu verkaufen. Für die oppositionellen Kräfte wirkte dies verheerend. Die frühherbstlichen Reformanstöße und vage formulierten Konzepte waren nicht mehr geeignet, der SED entscheidend Paroli zu bieten. Der Sozialismusgedanke schien endgültig diskreditiert – in der Bevölkerung allemal. Insofern „bedeutete der 9. November das Scheitern der friedlichen Revolution“65 für jene, die an eine erneuerte DDR glaubten. Die Einheit von Massenund Oppositionsbewegung zerbrach, noch ehe sie richtig bestanden hatte, weil die Oppositionsgruppen die deutsche Frage noch immer nur am Rande erwähnten. Überrascht von der Maueröffnung, konnten die Kräfte der Opposition nur langsam zu den ursprünglichen Zielen Demokratisierung und Machtbegrenzung der SED ein weiteres hinzufügen. Eine neue Standortbestimmung fehlte. Gefordert wurde die deutsche Einheit, erst recht der schnelle Weg zu ihr, durch die Demonstranten auf der Straße. Die Rufe „Wir sind das Volk!“ gingen über in „Wir sind ein Volk!“. Aus Furcht vor einem neuen großdeutschen Nationalismus und mit dem Ziel, die deutsche Einheit langfristig in die europäische Einigungsentwicklung zu integrieren, distanzierten sich viele Oppositionelle davon. So verloren sie zwar nicht den Respekt, wohl aber die Gefolgschaft in der Bevölkerung. Die Erklärungen zur deutschen Einheit, beispielsweise des Demokratischen Aufbruch66 am 2. Dezember und der SDP67 einen Tag später, konnten daran nichts ändern – auch weil sie im Widerspruch zu dem von den Oppositionellen getragenen Selbstverständnis des Zentralen Runden Tisches standen.

64

Vgl. Neubert, Die Opposition, Dok. 5, in: Kuhrt (FN 3), S. 453. Urich (FN 25), S. 256. 66 Vgl. das Positionspapier, in: Neubert, Der „Demokratische Aufbruch“, Dok. 9, in: Kuhrt (FN 3), S. 537–571, hier S. 568 f. 67 Vgl. das Positionspapier, in: Gutzeit/Hilsberg, Die SDP/SPD, Dok. 8, in: Kuhrt (FN 3), S. 683. 65

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Schließlich haben die oppositionellen Kräfte, trotz aller Unterschiede, in Berlin wie in Dresden mit der Entmachtung der SED und den freien Wahlen wesentliche Ziele erreicht. Die Ergebnisse der Volkskammerwahl waren freilich ernüchternd. Führende Köpfe der Opposition in Dresden entzogen sich mit ihrem (umstrittenen) Engagement in der CDU dieser Marginalisierung und bestimmten in der Folge maßgebend die politische Entwicklung hin zum Freistaat Sachsen. Für sie bedeutete das Erreichen der Landessouveränität politischen Aufstieg. Für eine Vielzahl der Berliner kam mit der Auflösung des Runden Tisches im März, erst recht mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990, das Ende ihrer politischen Karriere. Die Dresdner Oppositionellen haben sich früh und klar zur westlichen Demokratie bekannt und eine Positionierung im Sinne eines „dritten Weges“, die für viele (Berliner) als Alternative galt, überwiegend abgelehnt. Die Dresdner gingen entschieden den Weg in die Parteiendemokratie und trugen zu deren raschen Etablierung bei. Auch dafür stand das Dresdner Modell, das Konsequenz und Pragmatismus vereinte und über das Jahr 1990 hinaus in die sächsische Landespolitik wirkte. Über ein kurzes Hoch ging die DDR-Opposition neuerlich in der Bedeutungslosigkeit unter. Letztlich lag das Scheitern begründet im fehlenden Verhältnis zur Bevölkerung – resultierend aus der Orientierung an der Antikonsumbewegung im Westen und deren Idealen einer Alternativgesellschaft. Antikapitalismus hieß, die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen zu ignorieren. Die ökonomische Krise spielte für die oppositionellen Kräfte eine untergeordnete Rolle, während die Mehrheit der Bevölkerung in der Wiedervereinigung dafür die einzig sinnvolle Alternative sah. Der Bankrott der DDR und die Erfahrungen unter den Bedingungen des „realen Sozialismus“ ließen den vielfach favorisierten „Traum“ vom Sozialismus zerplatzen. Da im Herbst 1989 kein anderes Ventil zur Verfügung stand, vereinten sich der Unwillen des Volkes und die oppositionelle Szene – dies nicht wegen gemeinsamer, sondern trotz unterschiedlicher Vorstellungen einer künftigen Gesellschaft. In Wahrheit herrschte eine tiefe Kluft, die durch die Einheit von Massen- und Oppositionsbewegung kurzfristig verdeckt wurde. Eine Gruppe wie der Demokratische Aufbruch, der auf zentraler Ebene die konservative Wende vollzog, blieb die Ausnahme schon deswegen, weil in Oppositionskreisen eine Annäherung an den Westen mehrheitlich abgelehnt wurde. Bezeichnend ist die Einschätzung von Konrad Weiß: „Der Wille der Bürgerbewegung zum Dialog, auch mit der SED und den Blockparteien, war im Frühjahr 1990 ein tragischer Fehler. Während wir gutwillig und ehrlich am Runden Tisch um Reformen, um die Demokratisierung der DDR bemüht waren, nutzten die alten Machthaber die Zeit, um für sich zu retten, was zu retten war.“68 Das Bedauern, die politische Verantwortung und Macht nicht übernommen zu haben, als es galt, die Macht zu übernehmen und, daß 68

Weiß (FN 1), S. 556.

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statt eines neuen Deutschlands mit neuer Verfassung nur eine erweiterte Bundesrepublik entstanden sei, ist daher aus Berliner Sicht konsequent. Allerdings lag die wahre Ursache für dieses Scheitern bereits im Glauben an die Reformierbarkeit der DDR begründet.

Kontinuität und Wandel einer postkommunistischen Partei Die programmatische Entwicklung der PDS Von Sebastian Prinz

1. Einleitung Als Folge der „Wende“ in der DDR 1989 benannte sich die SED 1990 in PDS um. Angesichts des tiefgreifenden Wandels der politischen Verhältnisse in der DDR und der nahenden Vereinigung mit dem westdeutschen Staat benötigte die Partei eine neue Programmatik. Schon in dieser Phase des Übergangs zeichneten sich bestimmte innerparteiliche Konfliktlinien ab, die die Auseinandersetzungen und Diskussionen über Rolle, Programmatik und Selbstverständnis der PDS über Jahre hinweg bestimmten. 2003 blickte die Zeitschrift „Utopie kreativ“, das Theorieorgan der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf die programmatische Entwicklung der Partei in den vergangenen 15 Jahren zurück: Es hieß dort, im Grunde oder im weiteren Sinne finde die programmatische Debatte in der PDS schon so lange statt, wie diese Partei existiert. Die programmatische Debatte sei also ein permanenter Prozeß: „Einerseits geht es ständig darum, daß sich alle Mitglieder der programmatischen Leitlinien der Partei bewußt sind bzw. immer bewußter werden und ihr einheitliches Handeln davon ableiten. In diesem Sinne spricht man oft von einer Identität stiftenden Funktion des Parteiprogramms sowie der Auseinandersetzung mit seinem Inhalt. Andererseits aber ist es eine anerkannte Tatsache, daß sich die gesellschaftliche Welt ständig entwickelt oder verändert und folglich auch der Erkenntnisprozeß über sie und damit erst recht die Schlußfolgerungen, die die Partei für ihr Handeln daraus ziehen kann/soll/muß, nie abgeschlossen sein kann.“1 Die Frage nach Kontinuität und Wandel in der Programmatik der PDS hat mehrere Aspekte. Zu den wichtigsten Fragen gehören: die Frage nach Bedeutung und Zweck von Programmatik für die PDS, die Frage nach der Funktion programmatischer Debatten nach innen und nach außen, die Frage, was die 1 Hans-Georg Trost, Die Eigentumsfrage in der Programmdebatte der PDS, in: Utopie kreativ, Nr. 155/2003, S. 841–847, hier S. 842.

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PDS beziehungsweise einzelne Strömungen in der Partei unter Begriffen wie Sozialismus, Kapitalismus und Demokratie verstehen, die Frage, welches Wirtschaftssystem und welche Eigentumsformen die PDS anstrebt, die Frage, ob bzw. inwieweit die Demokratieauffassung der PDS der des Grundgesetzes entspricht, die Frage, wie die PDS das Verhältnis von parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik sieht und die Frage, ob oder unter welchen Voraussetzungen sich die PDS an Regierungen beteiligen will. Um den Streit um die Programmatik der PDS und die programmatischen Positionen der innerparteilichen Lager verstehen zu können, werden diese Lager und ihre Ziele kurz dargestellt, bevor die inhaltliche Diskussion der programmatischen Entwicklung der Partei erfolgt. Daran schließt sich ein Überblick über die drei bisherigen Programme der PDS und den Verlauf der programmatischen Diskussionen an. Es folgt die Beschreibung und Auswertung der Auseinandersetzungen über zentrale oder umstrittene Programmpunkte. Traditionell hat die Programmatik für sozialistische Parteien eine besondere Bedeutung. Gregor Gysi beschrieb diese mit Blick auf die PDS deutlich: „Ein Programm in der CDU zu diskutieren, ist eine Mini-Aufgabe im Vergleich zur PDS. Je linker eine Partei, desto entsetzlicher sind Programmdebatten.“2 Der Extremismus-Experte Jürgen Lang bezeichnete die PDS-Programmdebatte gar als „Glaubenskrieg“.3 Er sprach von einem jahrelangen, quälenden Prozeß mit einer Vielzahl von Entwürfen und Gegenentwürfen.4 Sozialisten verfolgen mehr als die Anhänger anderer Weltanschauungen neben der Wahrnehmung der Interessen der eigenen Klientel das Ziel, in der Zukunft einen bestimmten (utopischen) Endzustand zu verwirklichen.5 Im Verlauf der Programmdebatte zeigte sich immer wieder, daß es zumindest Teilen der PDS bis heute schwerfällt, sich vollständig von dem jahrzehntelangen Glauben an eine historische Mission und eine Utopie zu lösen. So hielten denn auch selbst führende Reformer die PDS noch über zehn Jahre nach dem Ende der DDR wegen ihrer Geschichte, ihrer Programmatik und ihrer Mitgliedschaft nicht für eine „normale“ Partei in der Bundesrepublik.6 2

Interview in der Berliner Morgenpost vom 5. Dezember 1999. Vgl. Jürgen Lang, 15 Jahre PDS – eine zwiespältige Bilanz, in: Deutschland-Archiv 37 (2004), S. 963–969, hier S. 965. 4 Ebd., S. 965. 5 In ihrer Analyse des PDS-Programms von 2003 betonte Viola Neu, die seit vielen Jahren für die Konrad-Adenauer-Stiftung die Entwicklung der PDS beobachtet und kommentiert, daß programmatische Aussagen für Mitglieder einer sozialistischen Partei einen besonderen Stellenwert haben, was sich aus Geschichte und Selbstverständnis sozialistischer/kommunistischer Parteien und Organisationen erkläre. Vgl. Viola Neu, Das neue PDS-Programm, Berlin 2003, S. 4 f. 6 Vgl. André Brie/Michael Brie/Dieter Klein, Die Würde des Menschen ist seine Freiheit und ist seine Gleichheit. Warum Deutschland einen Sozialismus braucht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. August 2001. 3

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In den letzten Jahren vor der Annahme des neuen PDS-Programms 2003 wurden die meisten Kontroversen um die Ausrichtung der PDS in Zusammenhang mit der Programmdebatte ausgetragen. Johannes Leithäuser schrieb dazu: „Drei Jahre lang haben in der PDS Reformlinke und orthodoxe Marxisten ihren Machtkampf großenteils auf dem Debattierfeld des neuen Parteiprogramms geführt, haben Entwürfe, Gegenentwürfe, Minderheitenvoten, Thesen, Einsprüche und Proteste formuliert.“7 Horst Dietzel, der über mehr als zehn Jahre hinweg die programmatischen Diskussionen in der PDS verfolgte und kommentierte, charakterisierte aus der Perspektive eines PDS-Mitglieds den Stellenwert und die Eigentümlichkeiten sozialistischer Programmdebatten: „Programmdebatten bieten eine einmalige Gelegenheit, ideologische Gefechte auszutragen, die von einer breiteren Öffentlichkeit nicht nachvollzogen werden können. Denn es handelt sich um die Lieblingsbeschäftigung von Linken, die noch immer viel Libidogewinn für sie abwirft.“8 Die Programmdiskussion im Zusammenhang mit der geplanten Fusion von Linkspartei und WASG bleibt unberücksichtigt.

2. Verlauf der Programmdebatten Die programmatische Debatte in der PDS verlief in mehreren Etappen. Höheund Wendepunkte waren die Programmparteitage von 1990, 1993 und 2003. Einzelne PDS-Politiker, Gliederungen und Strömungen der Partei, die RosaLuxemburg-Stiftung, die parteinahen Bildungsvereine auf Länderebene, andere linke Organisationen und Beobachter der PDS haben seit 1990 eine Fülle von Veröffentlichungen über die PDS-Programmatik vorgelegt. Es erschien eine Reihe von Monographien und Sammelbänden zur Programmatik, darunter ein Programmkommentar.9 Mehrere programmatische Konferenzen fanden statt, deren Referate veröffentlicht wurden. Daneben räumten die PDS-Parteipresse und der Partei nahestehende sowie parteiungebundene linksgerichtete Zeitungen und Zeitschriften der Programmdebatte breiten Raum ein. Daß die PDS eine sehr heterogene Partei ist10, beeinflußte auch die Programmdebatte. Anders als die SED hat sie keine verbindliche Ideologie, sondern es gibt große weltanschauliche Unterschiede und Gegensätze, wie auch führende Vertreter der PDS bestätigen.11 Mit ihrem linken Pluralismus ist die

7 Johannes Leithäuser, Der demokratische Vorbehalt gilt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Februar 2003. 8 Horst Dietzel, Die Debatte steht auf der Kippe, in: Neues Deutschland vom 10. August 2001. 9 Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e. V. (Hrsg.), Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus. Ein Kommentar, Berlin 1997. 10 Vgl. Gerhard Armanski/Ralph Graf, Die PDS – ostdeutsches Auslaufmodell?, in: Vorgänge, Nr. 134/1996, S. 15–18, hier S. 16.

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PDS eine sozialistische Sammlungs- und Strömungspartei.12 Manfred Wilke schrieb, es gehe der PDS um die Renaissance einer sozialistischen Strömungspartei neben der und gegen die SPD.13 Nach Ansicht von Richard Schröder besteht keine Partei in Deutschland aus so disparaten Flügeln wie die PDS.14 Für Klaus-Dietmar Henke ist die PDS zerrissener als jede andere Partei.15 Peter Jochen Winters hält die PDS für ein Konglomerat von Interessengruppen, Plattformen, Foren und Arbeitsgemeinschaften, die ihr eigenes Süppchen kochen,16 Christian von Ditfurth für ein Nebeneinander unterschiedlicher Strömungen zwischen Punk und staatstragendem Spießertum.17 Anschaulich formulierte er: „Die Autorität der Führung überschreitet in manchen Fällen nicht einmal die Eingangspforte des Karl-Liebknecht-Hauses. Der Pluralismus in der Partei ist statuarisch fest verankert, die Meinungsfreiheit wird geradezu exzessiv genutzt. Gruppen in der Partei, also Fraktionen, haben das Recht, sich zu organisieren, und erhalten Geld aus Parteimitteln.“18 Lothar Probst vertritt die Ansicht, man könne von der PDS eigentlich nur im Plural sprechen.19 Selbst der Parteivorsitzende Lothar Bisky erklärte, die PDS bestehe eigentlich aus mehreren Parteien.20 Gregor Gysi schrieb, die PDS bestehe programmatisch, politisch, kulturell und mental aus zwei Parteien mit großen und unverträglichen Unterschieden.21 Für Jan Bielicki, seinerzeit Redakteur des „Deutschen Allgemeinen 11 Vgl. Michael Brie, Das politische Projekt PDS – eine unmögliche Möglichkeit. Die ambivalenten Früchte eines Erfolgs, in: Ders./Martin Herzig/Thomas Koch (Hrsg.), Die PDS. Postkommunistische Kaderorganisation, ostdeutscher Traditionsverein oder linke Volkspartei? Empirische Befunde und kontroverse Analysen, Köln 1995, S. 9–38, hier S. 12. 12 So schon ausdrücklich das erste Parteiprogramm von 1990 (PDS, Programm und Statut, Berlin 1990, S. 12). Vgl. auch: Manfred Wilke, Die PDS: Partei der Spaltung, in: Hartmut Koschyk/Konrad Weiß (Hrsg.), Von Erblasten und Seilschaften. Die Folgen der SED-Diktatur und Gefahren für die Demokratie, München 1996, S. 70–98, hier S. 76; Manfred Gerner, Partei ohne Zukunft. Von der SED zur PDS, München 1994, S. 77. 13 Vgl. Manfred Wilke, Der lange Marsch der PDS, in: Welt vom 29. Juni 2005. 14 Vgl. Richard Schröder, Was vom Sozialismus bleibt, in: Tagesspiegel vom 24. September 2002. 15 Vgl. Interview in der Berliner Morgenpost vom 29. Juli 2001. 16 Vgl. Peter Jochen Winters, Ist die PDS am Ende?, in: Wolfgang Thierse/Ilse Spittmann-Rühle/Johannes Kuppe (Hrsg.), Zehn Jahre Deutsche Einheit, Opladen 2000, S. 99–112, hier S. 105. 17 Vgl. Christian von Ditfurth, Ostalgie oder linke Alternative, Köln 1998, S. 273. 18 Ebd., S. 216. 19 Vgl. Lothar Probst, Die PDS – von der Staats- zur Regierungspartei. Eine Studie aus Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg 2000, S. 7. 20 Vgl. Lothar Bisky, Stellen wir politische Gemeinsamkeiten über die Unterschiede!, in: Presse- und Informationsdienst des Parteivorstands der PDS, Nr. 24/1995, S. 3–5, hier S. 3. 21 Vgl. Gregor Gysi, Was nun? Über Deutschlands Zustand und meinen eigenen, Hamburg 2003, S. 200.

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Sonntagsblattes“, paßten die einzelnen Strömungen der PDS eigentlich nicht in eine Partei: „Die mehrheitlich eher kleinbürgerlich geprägte Klientel, die der PDS aus dem Kleinbürgerstaat DDR übrigblieb und die vor allem an Vertretung ihrer konkreten Belange interessiert ist, und die bunte Truppe, die ihr aus linken Szenen und Sekten zulief und die die Lust an der Totalopposition treibt, passen nicht in eine Partei.“22 Der Schriftsteller Thomas Brussig meint, in der PDS könne jeder nach seiner Facon links sein.23 Nach außen hin versucht die PDS, ihre Gegensätze als Vielfalt in positivem Sinne darzustellen, etwa mit dem Slogan von „Gysis bunter Truppe“. Selbst noch 2006 wurde die Linkspartei.PDS als Ansammlung sozialistischer Ich-AGs bezeichnet.24 Der Binnenpluralismus der PDS und die innerparteilichen Gegensätze kommen insbesondere in der Programmatik zum Ausdruck: Das PDS-Programm sei, so Konrad Löw 1998, ein Spiegelbild der heterogenen Kräfte in der Partei.25 Gero Neugebauer schrieb 1996, es existiere überhaupt keine einheitliche Programmatik der PDS, sondern lediglich eine Sammlung programmatischer Aussagen.26 Viola Neu meinte 2003 unter Berufung auf Jürgen Falter, die Programmatik der PDS sei durch eine eigentümliche Mischung aus Nostalgie, Ideologie und Protest charakterisiert.27 Die Spannbreite der innerhalb der PDS tolerierten Positionen reiche vom Stalinismus über den Anarchismus bis hin zur Sozialdemokratie: „Wessis, Ossis, Reformer, Traditionalisten, Marxisten, Leninisten, Pragmatiker, Parlamentarier und Revolutionsträumer bilden das Nebeneinander des Unvereinbaren.“28 Für Mechthild Küpper ist die Partei ein Omnibus aus rechts und links, autoritär und antiautoritär, reformerisch und beharrend, umweltschützend und populistisch, aus diesem und jenem und auch dem Gegenteil.29 Noch 2004 konnte man in der Zeitung „Jungle World“ lesen, in der 22 Jan Bielicki, Die PDS – immer noch ein Auslaufmodell, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 41 (1994), S. 1008–1011, hier S. 1011. 23 Vgl. Thomas Brussig, Die Lüge, die Einheit heißt, in: Süddeutsche Zeitung vom 26. Juni 2001. 24 Vgl. Thomas Maron, Verloren in alten Ritualen, in: Frankfurter Rundschau vom 2. Mai 2006. 25 Vgl. Konrad Löw, Für Menschen mit kurzem Gedächtnis. Das Rostocker Manifest der PDS, Köln 1998, S. 52. 26 Vgl. Gero Neugebauer, Anmerkungen zum Geschichtsbild in der Programmatik der PDS, in: Rainer Eckert/Bernd Faulenbach (Hrsg.), Halbherziger Revisionismus. Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1996, S. 199–222, hier S. 200. 27 Vgl. Viola Neu, Die PDS: Eine populistische Partei?, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 263–277, hier S. 270. 28 Ebd., S. 276. 29 Vgl. Mechthild Küpper, Mit der PDS in die deutsche Einheit? Überlegungen zur Beweglichkeit einer ostdeutschen Partei, in: Lothar Probst (Hrsg.), Differenz in der Einheit: Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West, Berlin 1999, S. 54–64, hier S. 62.

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PDS gäbe es eine Spannbreite vom Nationalbolschewisten bis zu kosmopolitisch fühlenden Hippies.30 In einem Positionspapier aus den Reihen der PDS, das 2004 veröffentlicht wurde, hieß es, während „weite Teile der Mitgliedschaft noch irgendwo zwischen Novemberrevolution und Räterepublik festhängen, möchten manch andere mit ,Ho-Ho-Ho-Chi-Minh‘-Schlachtrufen durch Berlin rennen oder sind ,allzeit bereit für Frieden und Sozialismus‘“.31 Manfred Wilke sah politikwissenschaftliche Systematiker an der Widersprüchlichkeit der PDSProgrammatik, „in der sozialdemokratische und grüne Puzzleteile ebenso zu finden sind, wie DDR-Verklärung, zu der die Existenz einer kommunistischen Plattform gehört“,32 regelrecht verzweifeln. Die wichtigsten innerparteilichen Gegensätze bestehen zwischen zwei Lagern, die zumeist als Reformer und Orthodoxe bezeichnet werden.33 In der Programmdebatte traten die Gegensätze zwischen diesen beiden Lagern besonders deutlich zutage, wenn es auch innerhalb der Lager Binnendifferenzierungen gibt. Zum Reformerlager zählen die Mehrzahl der Amts- und Mandatsträger insbesondere der Bundes- und der Länderebene sowie die meisten hauptberuflichen Mitarbeiter der Partei und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Stimme der Orthodoxen sind vor allem die Kommunistische Plattform und das Marxistische Forum. Die meisten Reformer konzentrieren sich auf die praktische Umsetzung demokratisch-sozialistischer Politik in der Gegenwart. Sie akzeptieren die Rechtsordnung der Bundesrepublik als Rahmen für die Politik der PDS und streben Regierungsbeteiligungen an. Langfristig wollen sie durch Reformen die Bundesrepublik in eine sozialistische Gesellschaft transformieren. Die Reformer streben eine Zusammenarbeit mit anderen politischen Parteien und Organisationen an. Erklärtes Ziel ist, in der Bundesrepublik „anzukommen“, ein in der PDS geflügeltes Wort, das von André Brie geprägt wurde. Kritiker sprechen pejorativ von einer „Ankommer“-Fraktion.34 Den Kern der Reformer bildet schon seit der „Wende“ in der DDR eine Gruppe von ideologisch kaum festgelegten Realpolitikern wie Gregor Gysi und 30 Vgl. Jörg Sundermeier, Die Partei ist zu allem fähig, in: Jungle World, Nr. 7/ 2004 vom 4. Februar 2004. 31 Andreas Wiemers u. a., Die PDS ist auf dem Weg – nur wohin?, in: Neues Deutschland vom 28. Februar 2004. 32 Manfred Wilke, Familienbande – Die SPD und die PDS, in: Trend, Nr. 81/1999, S. 6–13, hier S. 12. 33 Jürgen Lang schlug in einem Aufsatz über die PDS-Programmdiskussion eine solche Einteilung vor, da beide Seiten in der Programmdebatte jeweils als Einheit aufträten und den Gegner auch als Einheit identifizierten. Vgl. Jürgen Lang, Partei ohne Mitte – Die programmatischen Auseinandersetzungen in der PDS, in: Uwe Backes/ Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 155–168, hier S. 156. 34 Vgl. Christoph Jünke, Das Vermächtnis der Ankommer, in: Junge Welt vom 16. März 2006.

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Lothar Bisky, Technokraten wie Helmut Holter und Dietmar Bartsch und Intellektuellen wie Dieter Klein und den Brüdern André und Michael Brie. Schon in den letzten Jahren der DDR hatten André Brie, Michael Brie und andere an der Berliner Humboldt-Universität im Rahmen des Projekts „Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus“ gemeinsam nach Wegen für eine Reform des Sozialismus gesucht. Seitdem verfolgen die früheren Mitarbeiter dieses Projekts, die heute zu den Reformern gehören, kontinuierlich das Ziel, mit Stellungnahmen zum Kurs und zur Entwicklung der PDS die Programmatik der Partei im Sinne des sogenannten „modernen Sozialismus“ zu beeinflussen. Diesem Ziel sind sie mit dem Parteiprogramm von 2003 sehr nahe gekommen. Nach Einschätzung von André Brie haben die Positionen der früheren Mitarbeiter des Sozialismus-Projekts an der Humboldt-Universität in beträchtlichem Ausmaß schon das PDS-Programm von 1993 geprägt.35 Auch externe Beobachter der PDS sehen signifikante Parallelen zwischen den Ideen des Forschungsprojekts „Moderner Sozialismus“ und der Programmatik der PDS.36 Die programmatischen Vorstellungen der Orthodoxen orientieren sich eng an klassischen sozialistischen Theoretikern. Viele Orthodoxe setzen sich intensiv mit theoretischen Fragestellungen auseinander und zeigen wenig Interesse an Tagespolitik und praktisch-politischer Mitarbeit in Parlamenten. Sie lehnen die Grundordnung der Bundesrepublik prinzipiell ab und wollen sie beseitigen. Die Orthodoxen befürchten, die Vorstellungen der Reformer führen zu einer Aufweichung sozialistischer Positionen, beispielsweise durch Sachzwänge und Kompromisse in Regierungskoalitionen. Sie warnen vor der Gefahr einer Integration der PDS in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. In der Programmdebatte der letzten Jahre war es das erklärte Ziel der Reformer, in einem neuen Parteiprogramm ihre Positionen ohne Abstriche durchzusetzen und eindeutig zu formulieren, keine „faulen Kompromisse“ mehr zu akzeptieren und damit dauerhaft die Hegemonie im innerparteilichen Richtungskampf zu erringen. Die Orthodoxen wollten grundsätzlich am Programm von 1993 festhalten. Da dies nicht durchsetzbar war, versuchten sie, zumindest einen möglichst großen Teil in das neue Programm zu übernehmen. Nicht nur Beobachter, sondern auch PDS-Politiker fühlen sich bei den Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Orthodoxen an den Konflikt zwischen Realpolitikern und Fundamentalisten bei den Grünen37 oder an historische Debatten in

35 Vgl. André Brie, Ich tauche nicht ab. Selbstzeugnisse und Reflexionen, Berlin 1996, S. 123 f. 36 Vgl. Michael Gerth, Die PDS und die ostdeutsche Gesellschaft im Transformationsprozeß. Wahlerfolge und politisch-kulturelle Kontinuitäten, Hamburg 2003, S. 181. 37 Vgl. Hans-Jörg Heims, Abschied von der Revolution, in: Süddeutsche Zeitung vom 31. März 2000; Rolf Köhne/Juan Sanchez Brakebusch, Eckpunkte sozialistischer

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der sozialistischen Bewegung wie den Revisionismusstreit der deutschen Sozialdemokraten erinnert.38

3. Die Parteiprogramme der PDS In der Umbruchsituation 1989/1990, in der die Zukunft der DDR und der SED völlig unklar und offen war, brauchte die Partei dringend ein neues Programm. Schon beim ersten Parteitag der PDS am 24. und 25. Februar 1990 wurde ein solches beschlossen. Aufgrund der rasanten und unübersichtlichen Entwicklung in der DDR, in ganz Deutschland und in den internationalen Beziehungen, der Auflösungserscheinungen der Partei, der ungewissen Zukunft und der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit konnte das Programm nur ein Provisorium sein. Eine gründliche Reflexion der noch nicht abgeschlossenen epochalen Wende und eine breite, organisierte Debatte in der Partei konnten nicht stattfinden. Fest stand nur, daß das politische System der DDR bei der Bevölkerung und selbst bei vielen Mitgliedern der Staatspartei selbst so diskreditiert war, daß das Programm sich deutlich davon abgrenzen mußte, um den Mitgliederstand zu stabilisieren und um sich überhaupt Chancen bei der bevorstehenden Volkskammerwahl ausrechnen zu können. Mit dem Ende der DDR war die ehemalige Staatspartei gezwungen, sich sehr schnell auf eine völlig andere Rolle in einem völlig anderen politischen System einzustellen. Tilman Fichter, Referent beim Parteivorstand der SPD, kommentierte, damals sei die Ideologie des Sowjetmarxismus blitzschnell durch den ideologiefernen Pragmatismus eines Gysi ersetzt worden.39 Das Programm enthielt widersprüchliche Forderungen. Die PDS skizzierte das von ihr angestrebte politische und wirtschaftliche System und äußerte sich zu ihrem Bild von Sozialismus und Kapitalismus in Geschichte und Gegenwart. Sie erkannte zwar die Marktwirtschaft grundsätzlich an, wollte sie allerdings steuern und kontrollieren sowie Wachstum planend beherrschen.40 Durch diverse Räte sollten die Kompetenzen der Parlamente und der Eigentümer der Produktionsmittel beschränkt werden. Im Interesse des Gemeinwohls der Gesellschaft und zukünftiger Generationen müsse die Regulierung durch den Markt durch strategische Wirtschaftssteuerung des Staates ergänzt werden. Dabei müsse der Gesamtprozeß demokratischer Kontrolle und Öffentlichkeit unter-

Programmatik, in: Beiträge und Informationen zur Programmdebatte, Nr. 4/2001, S. 84–87, hier S. 86; Gerner (FN 12), S. 57 u. 169. 38 Vgl. Carl Chung, Von Lenin zu Bernstein?, in: Heinz Beinert (Hrsg.), Die PDS – Phönix oder Asche?, Berlin 1995, S. 30–60, hier S. 51. 39 Vgl. Tilman Fichter, Kein Auslaufmodell, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 41 (1994), S. 710–715, hier S. 711. 40 Vgl. PDS, Programm und Statut, Berlin 1990, S. 8.

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liegen.41 Eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft erfordere tatsächliche Produktionsdemokratie. Es sollten Betriebs-, Wirtschafts- und Sozialräte als gesellschaftliche Aufsichtsräte gebildet werden, um den Einfluß der Beschäftigten auf strategische Entscheidungen zu sichern.42 Im Programm sagte sich die PDS vom dogmatischen Marxismus-Leninismus los und griff Themen linker westlicher Diskurse auf. Die Partei bekannte sich zu gesellschaftlichem und innerparteilichem Pluralismus. Ausdrücklich wurde im Programm festgeschrieben, daß die Formulierung der Ziele der Partei den Wettstreit der Ideen der Mitglieder, Plattformen und innerparteilichen Strömungen einschließt.43 Das Programm versuchte, das Ideal der PDS von Sozialismus von den Zuständen in der DDR zu trennen, um es möglichst unbeschadet davon erhalten zu können. Die Partei betonte, die sozialistische Ursprungsidee habe nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Sie erkannte zwar an, daß der Kapitalismus effizient sei und die Weltzivilisation bereichert habe, doch er erweise sich als unfähig, den globalen Interessen der Menschheit zur Sicherung des Friedens, zur Abrüstung und zur Schaffung eines ausgewogenen Verhältnisses zur Natur zu entsprechen sowie soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten.44 Das Programm äußerte sich nicht dazu, was einen zukünftigen Sozialismus dazu befähigen könnte, diese Ziele zu erreichen. In ihrem Programm von 1993 verarbeitete die PDS ihre seit dem Ende der DDR gemachten Erfahrungen, verständigte sich über Grundsätze und bestimmte ihren Platz in der Bundesrepublik und ihre Ziele für die nächsten Jahre. Im Programm spiegelten sich der Verlust der Macht, das Ende der DDR, der Beitritt zur Bundesrepublik, der Austritt der überwältigenden Mehrheit der Mitglieder der SED und der Aufbau demokratischer Parteistrukturen wider. Es enthielt auch ein Kapitel zur Geschichte der DDR und des Staatssozialismus. Das Programm war Ergebnis einer intensiven Debatte mit zahlreichen Positionspapieren, Artikeln und Konferenzen zur Programmatik. Es trug deutliche Züge eines Kompromisses zwischen den innerparteilichen Flügeln. Seine teilweise vage gehaltenen Formulierungen ließen bewußt Interpretationsspielräume zu. Einige Fragen wurden offengelassen. In manchen Passagen wurde ausdrücklich festgestellt, daß es in der Partei zu bestimmten Punkten unterschiedliche Auffassungen gab. Carmen Everts charakterisierte das Programm als eine Mischung aus Traditionalismus und Reformanspruch, aus Populismus und Ernsthaftigkeit, aus trotziger Beharrlichkeit und global-historischem Gestaltungswillen.45 41

Ebd., 17. Ebd., S. 18 f. 43 Ebd., S. 12. 44 Ebd., S. 8 f. 45 Vgl. Carmen Everts, Politischer Extremismus. Theorie und Analyse am Beispiel der Parteien REP und PDS, Berlin 2000, S. 262. 42

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Die 1. Tagung des 6. Parteitags der PDS, die Ende Januar 1999 stattfand, faßte einen Beschluß zur Organisation einer programmatischen Debatte in der Partei. Der Parteitag votierte für eine die Gesamtpartei repräsentative Programmkommission. In der Kommission waren alle Strömungen der PDS vertreten. Sie erhielt den Auftrag, konsensorientiert zu arbeiten. Dies erwies sich jedoch als schwierig, da die Vertreter der Reformer wie die der Orthodoxen in der Programmkommission wenig Kompromißbereitschaft zeigten. Aufgrund der genannten Schwierigkeiten in der Programmkommission beschloß diese am 23. März 2001 mit ihrer Reformer-Mehrheit, sich gleichsam selbst zu entmachten und Gabriele Zimmer zu bevollmächtigen, einen Programmentwurf zeitgleich der Parteimitgliedschaft, den Gremien der Partei einschließlich der Programmkommission selbst und der Öffentlichkeit vorzustellen.46 Dieser Entwurf wurde von André Brie, seinem Bruder Michael, dem Vorsitzenden der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und Dieter Klein, dem Vorsitzenden der PDS-Grundsatzkommission, verfaßt. Von diesen war nur Dieter Klein Mitglied der Programmkommission. Sogar die Namen der drei Autoren wurden selbst den Mitgliedern der Programmkommission erst bei der öffentlichen Vorstellung des Programmentwurfs mitgeteilt.47 Der orthodoxe PDS-Bundestagsabgeordnete Winfried Wolf schrieb in einer Kritik am Zustandekommen des Programmentwurfs von Brie, Brie und Klein, es dürfte in der deutschen Parteiengeschichte einmalig sein, daß es keine einzige Parteiinstanz gibt, die für den Text verantwortlich zeichnet.48 Auch die Presse zeigte sich über das seltsame Zustandekommen des Programmentwurfs verwundert. So schrieb die „Berliner Morgenpost“, Brie, Brie und Klein hätten hinter verschlossenen Türen am Entwurf gearbeitet. Er sei wie eine Geheimsache behandelt worden. Die vom PDSParteitag gewählte Programmkommission – so der Vorwurf – wurde auf Anweisung der Parteivorsitzenden Zimmer umgangen.49 Der Entwurf von Brie, Brie und Klein enthielt die üblichen Positionen der Reformer, die später auch größtenteils in das PDS-Programm von 2003 Eingang fanden. Thomas Meyer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission, faßte sein Urteil über den Programmentwurf so zusammen: „Hier ist das kritische Urteil gerechtfertigt, daß die Modernisierung der PDS auf halbem Wege steckengeblieben ist, denn noch verwickelt sich der Programment46

Vgl. Presse- und Informationsdienst des Parteivorstands der PDS, Nr. 13/2001,

S. 1. 47 Vgl. Ellen Brombacher/Sahra Wagenknecht, Kniefall vor der SPD. Die PDS-Führung will mitregieren und braucht dazu ein neues Programm, in: Junge Welt vom 30. April 2001. 48 Vgl. Winfried Wolf, Godesberg II, in: Beiträge und Informationen zur Programmdebatte, Nr. 3/2001, S. 60–64, hier S. 60. 49 Vgl. Frank Käßner, 40 Seiten Sprengstoff, in: Berliner Morgenpost vom 28. April 2001.

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wurf in eine Zwiespältigkeit zwischen prinzipieller Systemopposition und reformerischem Gestaltungswillen, zwischen altmarxistischer Rhetorik und vereinzelten Modernisierungsversuchen, zwischen einer altsozialistischen Eigentumskritik und einer funktionalsozialistischen Entscheidung für Demokratisierung statt Enteignung, zwischen einem grundwerteorientierten Sozialismus-Begriff und massiven Resten der alten Systemfiktion eines Jenseits-Sozialismus, zwischen einer pseudorevolutionären Rhetorik der großen ,Transformation‘ der Gesellschaft und der reformistischen Beschränkung auf marktkonforme Regulierung.“50 Die Orthodoxen reagierten mit eigenen Programmentwürfen. Der Wichtigste stammte von Monika Balzer, der Sprecherin der Kommunistischen Plattform Hamburg, Ekkehard Lieberam, dem Sprecher des Marxistischen Forums Leipzig, der niedersächsischen PDS-Vorsitzenden Dorothée Menzner und von Winfried Wolf. Die Autoren forderten, Bodenschätze, wichtige Rohstoffe, Industriezweige und große Unternehmen zu kontrollieren und nach einem gesellschaftlichen Plan einzusetzen. Die großen Produktionsmittel, die großen Finanzinstitute und der Rüstungssektor sollten vergesellschaftet werden.51 Die NATO sollte aufgelöst, die Bundeswehr abgeschafft werden. Zugleich sprach sich der Programmentwurf für „das Recht von Befreiungsbewegungen und fortschrittlichen Regierungen“ aus, sich gegen militärische Angriffe und Unterdrükkung auch bewaffnet zu verteidigen.52 Selbst die aus der DKP stammende PDSBundestagsabgeordnete Ulla Lötzer bescheinigte diesem Entwurf Verbalradikalismus.53 Nicht nur die Orthodoxen wiesen immer wieder auf die fortgesetzte Mißachtung und Verletzung elementarer Regeln innerparteilicher Demokratie, darunter zwingender Regelungen des PDS-Statuts, durch die Reformer und den von ihnen beherrschten Parteiapparat hin. Für Tilman Fichter wurde der Demokratische Zentralismus der SED lediglich durch einen informellen Führungsstil der neuen Troika Gysi-Bisky-Brie abgelöst.54 Auch den Reformern wohlwollend gegenüberstehende wissenschaftliche Beobachter und sogar einzelne Reformer selbst bescheinigen diesen konspirativen Avantgardismus und das Streben nach

50 Thomas Meyer, Vetomacht oder Gestaltungskraft? Zum ersten PDS-Programmentwurf, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 48 (2001), S. 583–588, hier S. 585. 51 Vgl. Monika Balzer/Dorothée Menzner/Ekkehard Lieberam/Winfried Wolf, Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus – Entwurf –, in: Beiträge und Informationen zur Programmdebatte, Nr. 3/2001, S. 77–107, hier S. 96. 52 Ebd., S. 85. 53 Vgl. Ula Lötzer, Eine weltweite Allianz für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Demokratie, in: Beiträge und Informationen zur Programmdebatte, Nr. 5/2001, S. 77– 81, hier S. 78. 54 Vgl. Tilman Fichter, Kein Auslaufmodell, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 41 (1994), S. 710–715, hier S. 711.

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einer Erneuerung der Partei von oben.55 Der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth warf einigen Reformern vor, die PDS mit einem zentralistischen und diktatorischen Machtanspruch zu regieren: „Die Allmacht dieses inneren Zirkels der Parteispitze scheint ungebrochen und erinnert an die Machtverteilung an der früheren SED-Spitze. Bisky, Brie und Bartsch waren schon SED-Kader. Der offiziell abgelehnte Demokratische Zentralismus, nach dem die jeweils höhere Ebene den Kurs der Partei verbindlich definiert, kehrt also durch die Hintertür wieder zurück.“56 Auch Jürgen Lang und Patrick Moreau sprachen von einem Demokratischen Zentralismus der Reformer.57 Aus der Sicht der Orthodoxen stellte sich das Verhalten der Reformer gegenüber der innerparteilichen Opposition so dar: „Sie ziehen die Fäden, bestimmen die Politik und organisieren ihnen genehme Parteitage. Wenn das mal nicht so funktioniert und die brodelnde Kritik der Parteibasis an der Politik nicht ausreichend fern gehalten werden konnte, dann wurde ein ,fehlgelaufener‘ Parteitag in kürzester Zeit durch einen neuen ersetzt, und seine Beschlüsse und Wahlen sind erledigt.“58 Nach heftigen Diskussionen wurde der Partei und der Öffentlichkeit 2003 ein überarbeiteter Programmentwurf vorgelegt. Bei der Pressekonferenz anläßlich der Vorstellung des Programmentwurfs erklärte Lothar Bisky, daß zwar auch in Zukunft Minderheiten ihren Platz in der PDS haben sollten, daß aber das neue Programm, anders als das Programm von 1993, klare Entscheidungen in wichtigen Punkten treffen müsse: „Das neue Programm ist kein Warenhauskatalog. Es kann kein Sammelsurium linker Positionen sein. Zum Pluralismus gehört, daß die Mehrheit in der Partei die Grundrichtung in der Parteipolitik und -entwicklung bestimmt.“59 Diese Aussage Biskys ist allenfalls teilweise zutreffend. Auch im Programm von 2003 gibt es noch erhebliche Interpretationsspielräume für die Flügel der PDS. Damit entspricht es einer Position Michael Bries aus dem Jahr 2000, der meinte, die „Formelkompromisse“ des Programms von 1993

55 Vgl. Eva Sturm/Eberhard Schmidt, Ein Kommentar zur Programmatik der PDS oder das Problem der Diskursunfähigkeit, in: Utopie kreativ, Nr. 84/1997, S. 81–88, hier S. 83; Wolfram Adolphi, Kommunikationsstörung. PDS am Jahreswechsel, in: Utopie kreativ, Nr. 101/1998, S. 61–69, hier S. 65. Die Positionen der Reformer dürften auch nicht die Mehrheit der PDS-Basis repräsentieren. Vgl. Andreas Fraude, „Reformsozialismus“ statt „Realsozialismus“? Von der SED zur PDS, Münster 1993, S. 110. 56 Gerd Langguth, PDS – Partei mit Doppelgesicht, in: Die politische Meinung 39 (1994) H. 297, S. 19–25, hier S. 21. 57 Vgl. Jürgen Lang/Patrick Moreau, PDS. Das Erbe der Diktatur (Politische Studien, Sonderdruck 1/1994), S. 128. 58 Vera Mika, „Sozialismus als Tagesaufgabe?“ und „Die Hypothek des kommunistischen Erbes“, in: Weißenseer Blätter, Nr. 1/2004, S. 50–61, hier S. 58. 59 Lothar Bisky, Ein Mehr an Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, in: Presse- und Informationsdienst des Parteivorstands der PDS, Nr. 36/2003, S. 3 f., hier S. 4.

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seien auch künftig notwendig, um die Spannungsbreite der Positionen der Partei im Programm festzuhalten.60 Beim Chemnitzer Programmparteitag im Oktober 2003 erstattete Gabi Zimmer als Vorsitzende der Programmkommission einen Bericht über den Verlauf der programmatischen Debatte. Dabei griff sie die Orthodoxen scharf an. Einige hätten wohl die Programmdebatte mit der letzten Schlacht um die PDS verwechselt: „Ich hatte schon den Eindruck, daß es in der Partei nicht so ganz wenige Mitglieder gibt, denen ihre Rolle in der Partei wichtiger ist als die Rolle – ja sogar die Existenz – der Partei in der Gesellschaft!“61 Schließlich wurde das Programm mit 333 Stimmen bei 38 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen angenommen. Die Reformer konnten sich im neuen Programm mit ihrer umstrittenen Position, wonach unternehmerisches Handeln und Gewinninteressen wichtige Voraussetzungen für Innovation und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sind, durchsetzen. Sie mußten allerdings eine einschränkende Passage akzeptieren: „Sozialökologisches Wirtschaften setzt gesellschaftliche Kontrolle und demokratische Mitbestimmung voraus. Ohne Mitbestimmung, gewerkschaftliche Gegenmacht und sozialstaatliche Regulierung führen private Unternehmerinteressen zu volkswirtschaftlich verlustreichen, zu sozialen und umweltzerstörerischen Fehlentwicklungen.“62 In der Frage nach Opposition oder Regierungsbeteiligung entschied sich das Programm für Regierungsbeteiligungen unter dem Vorbehalt nicht näher konkretisierter „entsprechender Kräfteverhältnisse“63. Obwohl die PDS also Regierungsbeteiligungen anstrebt, will sie Anti-System-Partei bleiben. Wie das Parteiprogramm von 1993, so bekennt sich das Programm von 2003 dazu, daß in der PDS sowohl Menschen einen Platz haben, die der kapitalistischen Gesellschaft Widerstand entgegensetzen und die gegebenen Verhältnisse fundamental ablehnen, als auch solche, die ihren Widerstand damit verbinden, die gegebenen Verhältnisse positiv zu verändern und schrittweise zu überwinden.64 Allerdings fehlt der im Programm von 1993 enthaltene Vorrang außerparlamentarischer Politik. Im Programm sieht die PDS sich den Traditionen der Aufklärung, dem Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels, den vielfältigen Strömungen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung – den Gewerkschaften, den sozialdemokratischen und den kommunistischen Parteien –, den unterschiedlichsten 60 Vgl. Michael Brie, Pluralismus braucht Kultur des Streits, in: Junge Welt vom 5. Mai 2000. 61 Gabi Zimmer, Ein Parteiprogramm ist nicht alles, aber dennoch entscheidend, in: Disput, Nr. 11/2003, S. 18–22, hier S. 19. 62 Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin 2003, S. 3. 63 Ebd., S. 4. 64 Vgl. ebd., S. 21.

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revolutionären und demokratischen Bewegungen kritisch verbunden und dem Antifaschismus verpflichtet. Aus historischer Erfahrung wende sich die PDS gegen Antisozialdemokratismus und Antikommunismus.65 Wie im Parteiprogramm von 1993 bekennt sich die PDS zur Legitimität der DDR und bringt zum Ausdruck, daß sie sowohl den Nationalsozialismus als auch die Bundesrepublik für Spielarten des Kapitalismus hält: „Die antifaschistisch-demokratischen Veränderungen im Osten Deutschlands und das spätere Bestreben, eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, standen in berechtigtem Gegensatz zur Weiterführung des Kapitalismus in Westdeutschland, der durch die in der Menschheitsgeschichte unvergleichbaren Verbrechen des deutschen Faschismus geschwächt und diskreditiert war.“66

4. Die Hauptstreitpunkte der Programmdebatte Über die Jahre hinweg kreiste die programmatische Debatte der PDS stets um einige zentrale Konfliktthemen. Die beiden wichtigsten Ziele von Programmatik und Politik der Partei sind Sozialismus und Demokratie (im Sinne der PDS), was schon im Parteinamen zum Ausdruck kommt. So schrieb Bernd Rump, Mitarbeiter der PDS-Fraktion im sächsischen Landtag, zum Stellenwert von Sozialismus und Demokratie für die PDS: „Der Name Partei des Demokratischen Sozialismus war auf den Punkt gebrachte Programmatik.“67 Fraglich und heftig umstritten ist allerdings, was die Partei bzw. was ihre einzelnen Strömungen unter Sozialismus und Demokratie verstehen. Jürgen Lang resümierte 2004 rückblickend, der Kern der PDS-Programmdebatte sei die Auseinandersetzung darüber, „was Sozialismus war, ist und sein soll“68. Kern der innerparteilichen Auseinandersetzungen sei die Deutungsmacht darüber, was Sozialismus war und sein sollte.69 Beim Außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember 1989 faßte die Partei einen Beschluß, in dem es hieß, sie strebe einen demokratischen Sozialismus jenseits von stalinistischem Pseudosozialismus und Herrschaft des Profits an. Die Diskussion darüber, was unter einem solchen demokratischen Sozialismus zu verstehen ist, dauert bis heute an. Umstritten ist in der PDS sowohl, was genau unter demokratischem Sozialismus verstanden werden soll, als auch, welche Stellung das sozialistische Fernziel – daß unter den derzeit gegebenen Umständen in absehbarer Zeit nicht mit der Möglichkeit zum 65

Vgl. ebd., S. 20–22. Ebd. 67 Bernd Rump, Die PDS ist wie immer in Gefahr, in: Neues Deutschland vom 25. Mai 2001. 68 Jürgen Lang, 15 Jahre PDS – eine zwiespältige Bilanz, in: Deutschland-Archiv 37 (2004), S. 963–969, hier S. 965. 69 Vgl. ders., Ist die PDS eine demokratische Partei? Eine extremismustheoretische Untersuchung, Baden-Baden 2003, S. 39 f. 66

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Aufbau eines sozialistischen Staates gerechnet werden kann, ist unumstritten – in Programmatik und Politik der Partei haben kann. Selbst Gregor Gysi schrieb noch 2003, in der PDS gäbe es vielleicht ein Gefühl für das, was sozialistisch sei, aber keine feste Theorie und keine Definition.70 Die PDS, ihre Gliederungen und auch einzelne Mitglieder unternahmen viele Versuche, (demokratischen) Sozialismus zu definieren. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einer Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit und Solidarität nannte die PDS in ihrem Programm von 1990 als Kern ihrer Vision eines demokratischen Sozialismus.71 Demokratischer Sozialismus sei das Eintreten für eine friedliche, humane und solidarische Gesellschaft. Er sei für die PDS nichts Abgeschlossenes, kein Gesellschaftssystem, das es in Kürze in Deutschland geben werde.72 In ihren 1995 bei der 1. Tagung des 4. Parteitags beschlossenen fünf Standpunkten beschrieb die PDS ihr Sozialismusbild: „Er [der Sozialismus] ist für uns verbunden mit vielfältigen Formen der Vergesellschaftung, Überwindung der Kapitalvorherrschaft, Ökologie, Demokratie, Solidarität, sozialer Gerechtigkeit, Emanzipation des Menschen, Überwindung des Patriarchats, Freiheit und Verwirklichung der Menschenrechte, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Minderheitenschutz, Chancengleichheit in Bildung und Kultur und Dezentralisierung.“73 Im Parteiprogramm von 2003 beschrieb die PDS Sozialismus als Ziel, Weg und Werte beziehungsweise als Ziel, Bewegung und Wertesystem: „Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel – eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung einer und eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist. Sozialismus ist für uns eine Bewegung gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, gegen patriarchale Unterdrückung, gegen die Ausplünderung der Natur, für die Bewahrung und Entwicklung menschlicher Kultur, für die Durchsetzung der Menschenrechte, für eine Gesellschaft, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Angelegenheiten demokratisch regeln.“74 Die Einstellungen in der PDS zur (sozialen) Marktwirtschaft sind höchst unterschiedlich und ambivalent. Einerseits erkennen etliche programmatische Papiere an, daß die Zentralverwaltungswirtschaft ineffizient war und zum Niedergang der DDR zumindest beigetragen hat, andererseits herrscht die Auffassung vor, die Marktwirtschaft habe zwangsläufig zerstörerische Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, beispielsweise für die Umwelt. Gero Neugebauer und Richard Stöss sahen die wirtschaftspolitische Programmatik der PDS zwischen die 70 Vgl. Gregor Gysi, Was nun? Über Deutschlands Zustand und meinen eigenen, Hamburg 2003, S. 180. 71 Vgl. PDS, Programm und Statut, Berlin 1990, S. 44 f. 72 Vgl. ebd., S. 16. 73 Beschluß des 4. Parteitages der PDS zu den „5 Punkten“, in: Manfred Uschner, Die roten Socken, Berlin 1995, S. 244–247, hier S. 244. 74 Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin 2003, S. 3.

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Marktwirtschaft akzeptierendem, reformsozialistischem Wohlfahrtsstaat und staatssozialistischen Umverteilungskonzeptionen angesiedelt.75 Arno Klönne faßte 2005 zusammen, in der PDS fänden sich prinzipiell antikapitalistische Positionen „neben Auffassungen, die ,Marktwirtschaft‘ ganz in Ordnung finden, wenn diese nur für sozialmaterielle Sicherheit garantiere.“76 PDS-Politiker greifen in programmatischen Papieren immer wieder die soziale Marktwirtschaft an. Zuweilen taucht in Veröffentlichungen der PDS soziale Marktwirtschaft in Anführungszeichen auf77 oder wird als „vermeintliche soziale Marktwirtschaft“78 oder als „asoziale Marktwirtschaft“79 bezeichnet. Bis heute ist das Verhältnis selbst führender PDS-Politiker zum Privateigentum unklar. Während sich manche zum Privateigentum an Produktionsmitteln bekennen, forderte beispielsweise Sahra Wagenknecht 2003 in einem Beitrag zur Programmdebatte, das Privateigentum im Finanzsektor, bei der Energiewirtschaft, beim Fahrzeugbau, bei weiten Teilen der chemischen Industrie, bei der Telekommunikation, beim Transport und bei bestimmten Zweigen des Handels, mindestens bei allen Dax-Unternehmen, zu beseitigen.80 Mit Diether Dehm sprach sich ein Stellvertretender PDS-Parteivorsitzender für die Vergesellschaftung von Konzernen wie DaimlerChrysler und BMW und Großbanken wie der Deutschen Bank aus.81 Die Arbeitsgemeinschaft Wohnen der PDS schlug vor, in das Parteiprogramm die Forderung nach Überführung von Grund und Boden in Gemeineigentum aufzunehmen.82 Noch weiter ging ein 2001 aus den Reihen der Orthodoxen herausgegebener Sammelband zur Programmdebatte. Dort verlangte ein Autor die vollständige Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmit75 Vgl. Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten, Opladen 1996, S. 154. 76 Arno Klönne, Die Linkspartei im Bundestag, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 64/2005, S. 7–16, hier S. 14. 77 Vgl. beispielsweise Linke Liste/PDS, Für eine starke linke Opposition. Gesamtdeutscher Wahlkongreß der Linken Liste/PDS, Potsdam 1990, S. 46. 78 Vgl. zur radikalen Erneuerung der Programmatik und Struktur der PDS. Diskussionsangebot der AG Lesben- und Schwulenpolitik in der PDS, in: PDS, Dokumente Nr. 2. Berlin 1990, S. 20–27, hier S. 24. 79 Vgl. Klaus Höpcke, Mangel an Gleichheitsgütern, in: Ein Programm sollte nicht mit einer Lüge beginnen. Wortmeldungen von 32 Autoren zum Programm der PDS, o. O. 2001, S. 40–43, hier S. 42; zur programmatischen Debatte. Erklärung des Marxistischen Forums der PDS vom 8. Juni 2001, in: Presse- und Informationsdienst des Parteivorstands der PDS, Nr. 26/2001, S. 14–16, hier S. 15; Klaus Höpcke, 11. September, Programmdiskussion und Umgang mit Geschichte, in: Geschichtskorrespondenz, Nr. 4/2001, S. 22–31, hier S. 27. 80 Vgl. Sahra Wagenknecht, Welche Aufgaben hat ein Programm einer sozialistischen Partei?, in: Utopie kreativ, Nr. 152/2003, S. 536–542, hier S. 541. 81 Vgl. Bild vom 14. Juni 2001. 82 Vgl. AG Wohnen, Wohnungspolitik im Parteiprogramm – Vorschläge für den Text des Programmentwurfs, in: Beiträge und Informationen zur Programmdebatte, Nr. 3/2001, S. 108 f., hier S. 109.

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teln.83 Gregor Schirmer, Mitarbeiter einer PDS-Bundestagsabgeordneten, bekannte, daß er Sozialismus nur für möglich hält, wenn das große Kapital, die Konzerne, Banken und Versicherungen sowie der landwirtschaftliche Großgrundbesitz, enteignet werden.84 Ingo Wagner erklärte die Aufhebung des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln zu der entscheidenden Bedingung für Sozialismus.85 1992 nannte Harald Werner, Mitglied der PDS-Grundsatzkommission, in einem Beitrag zur Programmdebatte die private Verfügung über Produktionsmittel unvereinbar mit einer sozialen und ökologischen Entwicklungsänderung.86 Noch 2004 legte selbst ein führender Reformer wie Michael Brie dar, daß die von ihm befürworteten wirtschaftspolitischen Schritte langfristig faktisch auf Enteignungen hinauslaufen. Nicht unbedingt der Form, aber dem Inhalt nach handle es sich dabei um eine Kette von umwälzenden Eingriffen in die Macht- und Eigentumsverhältnisse und Vergesellschaftungsformen.87 Ist Sozialismus für die PDS Vision und Ideal, so ist Kapitalismus, worunter große Teile der Partei Eigentum und Markt insgesamt verstehen, Feindbild und verkörpert das absolut Böse. Harald Bergsdorf kam in einer vergleichenden Untersuchung radikaler bzw. extremistischer Parteien zu dem Ergebnis, daß die PDS eine Freund-Feind-Propaganda verbreite, die sich „vorrangig gegen ein ,System‘, den ,Kapitalismus‘, und seine Repräsentanten bzw. Träger“88 richte, da die kategorische Weltsicht der rigorosen und antipluralistischen PDS Feindbilder produziere. An anderer Stelle führte Bergsdorf aus, die PDS unterstelle, der Kapitalismus sei verantwortlich sei für die Probleme der Menschheit. Solche Sündenbock-Agitation biete extremistischen Parteien die Basis, um rigide Lösungen zu fordern.89 Daß Freund-Feind-Vorstellungen in der PDS verbreitet seien, bestätigten PDS-Spitzenpolitiker.90 83 Vgl. Arno Peters, Friedrich Engels’ Rat und Friedrich Schillers Urteil, in: Wortmeldungen. 32 Autoren zum Programm der PDS, o. O. 2001, S. 79–82, hier S. 82. 84 Vgl. Gregor Schirmer, Vornehmheit im Urteil über den Kapitalismus?, in: ebd., S. 92–100, hier S. 97. 85 Vgl. Ingo Wagner, Eine Partei gibt sich auf. Theoretisch-politische Glossen zum Niedergang der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin 2004, S. 109. 86 Vgl. Harald Werner, Der moderne Kapitalismus – die fortschrittlichste Katastrophe der Menschheitsgeschichte, in: Horst Dietzel/Wolfgang Gehrcke/Arndt Hopfmann/Harald Werner (Hrsg.), Brückenköpfe. Texte zur Programmdiskussion der PDS, Mainz 1992, S. 12–24, hier S. 14. 87 Vgl. Michael Brie, Welcher Marxismus und welche Politik?, in: Utopie kreativ, Nr. 165–166/2004, S. 648–661, hier S. 656. 88 Harald Bergsdorf, Extremismusbegriff im Praxistest: PDS und REP im Vergleich, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 14, Baden-Baden 2004, S. 61–80, hier S. 66. 89 Vgl. ders., Extremisten ohne Maske, in: Die politische Meinung 48 (2003) H. 407, S. 43–50, hier S. 44. 90 Vgl. Lothar Bisky/André Brie, Deutschland braucht eine neosozialistische Alternative. Probleme und Aspekte der Ausarbeitung einer Strategie der PDS bis 1998, in:

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Die PDS will Demokratie und Sozialismus vereinen. Doch wie beim Sozialismusbegriff ist nicht eindeutig, was die Partei und was einzelne ihrer Gliederungen meinen, wenn sie von Demokratie sprechen. Daß die PDS sich zur Demokratie bekennt, muß nicht heißen, daß damit das Demokratiemodell des Grundgesetzes gemeint ist. Im PDS-Programm von 1990 hieß es, die Partei strebe nach einer höheren Qualität von Demokratie, in der sich parlamentarische Demokratie mit Wirtschaftsdemokratie sowie kommunaler Selbstverwaltung eng verbindet.91 1991 präzisierte der PDS-Parteivorstand, Demokratie habe für die PDS revolutionären Charakter, da die von der Partei angestrebten Umwälzungen über die derzeitigen gesellschaftlichen Strukturen hinauswiesen.92 Während bis heute unklar ist, welche Demokratie die PDS anstrebt, greifen Vertreter der Partei die freiheitlich-demokratische Demokratie der Bundesrepublik immer wieder scharf an. So charakterisierte ein Vertreter der Kommunistischen Plattform die demokratische Ordnung der Bundesrepublik als eine monopolkapitalistische Gesellschaft, deren Demokratie dort ende, wo die Macht der Finanzoligarchie gefährdet oder stark eingeschränkt wird.93 Für Uwe-Jens Heuer, Sprecher des Marxistischen Forums, wohnt der bürgerlichen Demokratie eine antidemokratische Tendenz inne.94 Sahra Wagenknecht bestritt, daß die Bundesrepublik demokratisch, sozial und rechtsstaatlich sei.95 Ein Programmentwurf von 1993 sah in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik nichts anders als ein Instrument zur Festigung der Herrschaftsstrukturen der Bourgeoisie. Demokratie werde nur in deren Klassensinn ausgelegt.96 Uwe-Jens Heuer verglich das Grundgesetz mit Waffenstillstandsbedingungen. Es ginge nicht um ein Bekenntnis zum Grundgesetz, „sondern um den Kampf innerhalb der hier gesetzten verbindlichen Regeln“.97 Für Winfried Wolf war das Grundgesetz die Verfassung eines kapitalistischen und imperialistischen Presse- und Informationsdienst des Parteivorstands der PDS, Nr. 8/1995, S. 3–9, hier S. 5. 91 Vgl. PDS, Programm und Statut, Berlin 1990, S. 28. 92 Vgl. Bericht des Parteivorstandes an den 2. Parteitag der PDS, in: PDS, 2. Parteitag, 1. Tagung, Berlin 1991, S. 40–76, hier S. 61. 93 Vgl. K. Hannemann, Beide Entwürfe nicht ausgereift, in: Disput, Nr. 18/1992, S. 34 f., hier S. 35. 94 Vgl. Uwe-Jens Heuer, Bürgerliche repräsentative Demokratie und Grundgesetz im fünfzigsten Jahr der BRD, in: Gerhard Fischer/Hans-Joachim Krusch/Hans Modrow/Wolfgang Richter/Robert Steigerwald (Hrsg.), Gegen den Zeitgeist. Zwei deutsche Staaten in der Geschichte, Schkeuditz 1999, S. 416–429, hier S. 426. 95 Vgl. Das erste Gespräch, in: Hans-Dieter Schütt, Zu jung, um wahr zu sein? Gespräche mit Sahra Wagenknecht, Berlin 1995, S. 33–57, hier S. 46. 96 Vgl. Programmentwurf von F. Plathe, in: Disput, Nr. 1/1993, S. 17–24, hier S. 20. 97 Uwe-Jens Heuer, Bürgerliche repräsentative Demokratie und Grundgesetz im fünfzigsten Jahr der BRD, in: Fischer/Krusch/Modrow/Richter/Steigerwald (FN 95), S. 416–429, hier S. 424 f.

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Landes.98 In einer von den PDS-Bundestagsabgeordneten Gerhard Riege und Uwe-Jens Heuer herausgegebenen Schrift, die den Verfassungsentwurf der PDS/ Linke Liste kommentierte, sprach sich ein Autor dafür aus, die fdgo (!) in ihrer bisherigen Form ersatzlos zu streichen.99 Angela Marquardt meinte, Linkssein bedeute, nach Möglichkeit den Staat abzuschaffen. Der Staat sei der Feind der Linken. Das Oppositionsverständnis der PDS beziehe sich nicht nur auf die Regierung, sondern auch auf das Herrschaftssystem.100 Ein wichtiges Thema in der Programmdebatte war, wie und auf welchem Weg die PDS ihr Ziel eines demokratischen Sozialismus erreichen will. Nur eine Minderheit will den Sozialismus – zumindest in der Bundesrepublik und auf absehbare Zeit – mit Revolution und Gewalt verwirklichen. So erklärte Michael Benjamin als Sprecher der Kommunistischen Plattform, daß er derzeit auf Gewaltanwendung zur Durchsetzung seiner politischen Ziele verzichten wolle, begründete dies jedoch nicht mit grundsätzlicher Ablehnung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, sondern mit unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu erwartender Erfolglosigkeit. Prinzipiell schloß er Gewalt als politisches Mittel keineswegs aus: „Hier und heute, d.h. in Deutschland für den historisch überschaubaren Zeitraum ist Gewaltanwendung mit dem Ziel sozialer Veränderungen perspektivlos und abzulehnen.“101 Benjamin bekräftigte diese Position später und stellte das Gewaltmonopol des Staates ausdrücklich in Frage.102 Noch 2003 lehnte es Ellen Brombacher, die Vertreterin der Kommunistischen Plattform in der PDS-Programmkommission, ab, sich von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung prinzipiell zu distanzieren. Sie wollte den Satz „Die Mittel für diese Auseinandersetzungen müssen den Zielen von Gewaltfreiheit und Demokratie entsprechen, da sie sonst zum Ausgangspunkt neuer Herrschaft und Unterdrückung werden“103 nicht akzeptieren. Auch Beobachter, die der PDS wohlwollend gegenüberstehen, konnten zumindest bei der Kommunistischen Plattform keinen grundsätzlichen Gewaltver-

98 Vgl. Winfried Wolf, Spur der Steine oder Spur der Scheine, in: Junge Welt vom 27. August 2003. 99 Vgl. Klaus Dammann, Von den Gefahren der wehrhaften Demokratie, in: UweJens Heuer/Gerhard Riege (Hrsg.), Neues Deutschland – Neue Verfassung?!, Bonn 1992, S. 34–36, hier S. 35. 100 Vgl. Angela Marquardt/Ivo Bozic, Turnübung auf einem Holzbein, in: Presseund Informationsdienst des Parteivorstands der PDS, Nr. 30/1994, S. 7–9, hier S. 8. 101 Michael Benjamin, Was wollen Kommunisten heute? Expertengespräch des Vereins Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e. V. am 30. Mai 1996 im Karl-Liebknecht-Haus (Ms.), S. 3 f., nach: Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e. V. (Hrsg.), Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus. Ein Kommentar, Berlin 1997, S. 320. 102 Vgl. ders., Konsens und Dissens in der Strategiedebatte, in: „Helle Panke“ e. V. (Hrsg.), Pankower Vorträge, Nr. 5, Berlin 1997, S. 24–46, hier S. 37 f. 103 Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Nr. 9/2003, S. 17.

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zicht erkennen.104 1998 schrieb Gerhard Branstner, Mitglied des Marxistischen Forums, es sei idiotisch, von einem demokratischen Weg zum Sozialismus zu schwätzen: Der Übergang werde spontan, eruptiv, gewaltsam und qualvoll sein.105

5. Schluß Mit der Beschlußfassung über das neue Parteiprogramm von 2003 hat die Programmdebatte ihren Höhepunkt überschritten und war vorläufig beendet. Es folgten einige programmatische Stellungnahmen aus den Reihen der Reformer und der Orthodoxen, die das neue Programm bewerteten und aus ihrer jeweiligen Perspektive interpretierten. Einige Orthodoxe, beispielsweise Winfried Wolf, verließen die Partei, da sie in dem neuen Programm keine Basis für eine weitere Mitarbeit in der PDS sahen, andere, beispielsweise die Kommunistische Plattform, entschieden sich für ein Verbleiben in der PDS. Im Rahmen der geplanten Fusion der Linkspartei.PDS und der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) wird eine Reihe von Fragen wieder aufgeworfen werden, die die PDS mit ihrem Programm von 2003 bereits weitgehend abgeschossen hatte. Es zeichnet sich ab, daß bei diesen Auseinandersetzungen die Konfliktlinien nicht primär zwischen der Linkspartei.PDS und der WASG, sondern zwischen dem jeweiligen pragmatisch orientierten Flügel und den Orthodoxen beider Parteien verlaufen werden. Dem Zusammenschluß der beiden Parteien soll eine neuerliche Programmdebatte vorausgehen. Erste programmatische Dokumente wurden bereits veröffentlicht und kontrovers diskutiert. Der Zeitplan für die Gründung der neuen gemeinsamen Partei sieht vor, bis Herbst 2006 Programm- und Statutentwürfe vorzugelegt. Im Februar 2007 sollen zeit- und ortsgleich zwei separate Parteitage stattfinden, die gleichlautende Programmentwürfe zu beschließen haben. Der Gründungsparteitag für die neue Partei ist für Mai oder Juni 2007 anvisiert.

104 Vgl. Bernd Söll, PDS – Protestpartei gegen die Kolonialisierung. Das Problem ihrer demokratischen Legitimation, in: Fritz Vilmar (Hrsg.), Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen, Berlin 2000, S. 93–115, hier S. 107. 105 Vgl. Gerhard Branstner, Arbeiterklasse/Klassenkampf, in: Ders., Rotfeder. Die Todsünden des „realen Sozialismus“ und andere Welterfahrungen, Berlin 1998, S. 21– 27, hier S. 21.

Negative Bevölkerungsentwicklung Familienpolitik in der DDR Von Heike Schmidt

1. Einleitung Die Frauen- und Familienpolitik nahm in der DDR in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle ein. Außenpolitisch wurde sie zur Profilierung genutzt. Durch die „vollzogene Emanzipation“ wollte sich das neue Deutschland positiv vom Westen abgrenzen: „Erst der Sozialismus bietet alle Voraussetzungen für diese wahre Gleichberechtigung der Frau, indem er sie in die gesellschaftliche Produktion einbezieht und sie in gleichem Maße wie den Mann am staatlichen und gesellschaftlichen Leben in allen Bereichen teilnehmen läßt.“1 Innenpolitisch besetzte sowohl die Frauen- als auch die Familienpolitik eine eher formale Position. Dem offiziellen Anspruch und der ideologischen Bindung an die Gleichstellung der Frau durch die Wahl der Staatsform an sich stand die faktische Bedeutungslosigkeit der Frauen im politischen Alltag der DDR gegenüber. Für die Partei war die „Lösung der Frauenfrage“ untrennbar mit dem politischen Programm der Befreiung der Arbeiterklasse von kapitalistischer Ausbeutung verbunden. Ideologische Grundlagen der Ostberliner Politik waren vor allem Aussagen von Clara Zetkin, Friedrich Engels und August Bebel. Basis ihres Ideologieverständnisses war die Untrennbarkeit von der Beseitigung des Privateigentums, der Schaffung sozialer Gleichheit und der Lösung der Frauenfrage.2 Die enorme Anzahl an sozialpolitischen Hilfestellungen einerseits und der stetig wachsende Anteil berufstätiger Frauen andererseits ließen auch Soziologen in Westeuropa die dortige Entwicklung positiv bewerten: „Bis zum Zusammenbruch der DDR galt nach dem Selbstverständnis der Partei- und Staatsfüh-

1 Ortrum Hartmann/Irene Uhlmann (Hrsg.), Die Frau, Reihe: Kleine Enzyklopädie, Leipzig 1982, S. 591. 2 Vgl. Clara Zetkin, Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, Frankfurt a. M., 1979; Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx-Engels Werke Bd. 21, Berlin 1973, S. 75; August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Bonn 1994.

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rung, aber auch in weiten Kreisen der Bevölkerung die Gleichstellung von Frauen und Männern als unbestreitbarer Vorzug dieses Gesellschaftssystems.“3 Ziel der dieser Studie ist die historische Aufarbeitung der Familienpolitik der DDR mit den inhaltlichen Schwerpunkten: Bevölkerungspolitik, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der Gleichberechtigung innerhalb der ehelichen Gemeinschaft. Welche Maßnahmen und Interventionen kamen zu diesen Themen von der Partei? Auf welche politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wurde dabei Rücksicht genommen? Schaffte es die „sozialistische Demokratie“, wie sich die DDR selbst nannte, ein privates Thema wie Familie nicht nur auf der gesetzgeberischen, sondern auch auf der individuellen Ebene nachhaltig zu prägen und somit die öffentliche Meinung zu beeinflussen und gegebenenfalls zu verändern?4 Inwiefern war es ein Mittel der Diktatur, sich so massiv in die Privatsphäre ihrer Bürger einzumischen und sie zu lenken? Wurde die Ideologie, schließlich das Herzstück eines totalitären Regimes, genutzt, um den Einfluß des Staates auszudehnen und nicht nur wirtschaftliche, sondern auch familiäre Funktionen zu verstaatlichen? Die Beantwortung dieser Fragen im historischen Kontext muß zu der Bedeutung der Familienpolitik in der DDR Stellung nehmen. Frauen- und familienpolitische Maßnahmen hatten letztlich die Aufgabe, zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beizutragen. Für die Frauenpolitik resultieren daraus zwei Betrachtungsebenen: die Frau als „Produzentin im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß“ und als „Mutter in der Familie“.5 Bezug genommen wird im folgenden auf die Familie und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der DDR durch die Politik der SED.6

2. Keine Familienpolitik – die 1940er bis 1960er Jahre Nach Kriegsende und in den frühen Jahren der DDR sucht man eine explizite Familienpolitik vergeblich. Sie verschmilzt mit der Frauenpolitik der SED und ist kaum von ihr zu trennen. Dennoch mangelte es nicht an überzogenen Ein3 Annemette Sørensen/Heike Trappe, Frauen und Männer: Gleichberechtigung – Gleichstellung – Gleichheit? in: Johannes Huinink/Karl Ulrich Mayer (Hrsg.), Kollektiv und Eigensinn – Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995, S. 189. 4 Aus DDR-Sicht ist die Macht der Arbeiterklasse und ihrer klassenbewußten Partei das Kennzeichen einer sozialistischen Demokratie, zu der sie sich als Staat selbst zuordnet. Vgl. Gerhard Haney, Die Demokratie – Wahrheit, Illusionen und Verfälschungen, Berlin (Ost) 1970. 5 Jutta Gysi, Frauen- und Familienentwicklung als Gegenstand sozialistischer Politik, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1984, Berlin (Ost) 1984, S. 93–109, hier S. 99. 6 Die Rolle der Gewerkschaften und des DFD sollen an dieser Stelle nicht unterschätzt werden. Gerade in der Anfangszeit war es oft der FDGB, der sich auf der Betriebsebene gegen das geschlechtliche Egalitätsprinzip durchsetzte.

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schätzungen. Die DDR-Familienforscherin Anita Grandke charakterisierte die Anfänge wie folgt: „Die Ziele der frühen Familienpolitik der DDR [. . .] kann man ohne Übertreibung als revolutionär bezeichnen.“ Recht zweifelhaft und überhöht erscheint das Zitat durch ihre eigene Anmerkung im nachstehenden Satz: „Allerdings war der Kern der die Familie beeinflussenden Politik nur begrenzt direkt auf sie gerichtet. Das eigentliche und grundlegende Interesse galt der Entwicklung der Frauen, und es ging um die Kinder.“7 Das politische Interesse galt danach zwar nicht vorrangig der Familie, aber es galt Frauen und Kindern? Zunächst scheint es tatsächlich so, als ob es um Frauen und Kinder ginge – nicht aber um Familienpolitik. Schaut man auf die sozialpolitischen Richtlinien, am 30. Dezember 1946 als Abschluß der Verhandlungen für eine Sozialpolitik in der SBZ/DDR erlassen, formulierten sie auch ein familienpolitisches Ziel: „Familienfürsorge mit dem Ziel, die Familie als Grundeinheit der Gesellschaft wiederherzustellen.“8 Trotz eines umfassenden Bekenntnisses zur Wichtigkeit der Familie in der Gesellschaft spielte sie eine untergeordnete Rolle. An der Frage der Doppelbelastung, schließlich Kernproblem und Schnittstelle zwischen Familien- und Wirtschaftspolitik, läßt sich diese Verteilung von politischen Kompetenzen sehr gut zeigen. Denn gerade die Doppelbelastung der Frauen durch berufliche und familiäre Verpflichtungen benachteiligte diese. Schon früh wurde das von der Arbeitsgruppe Frauen beim Zentralkomitee der SED thematisiert: „da die heute übliche Doppelbelastung der berufstätigen Frau auf die Dauer nicht tragbar ist.“9 Die Abteilung Frauen setzte durch, Hausarbeit durch Gemeinschaftsbetriebe weitestgehend zu unterstützen. Zusätzlich sollten auf kommunaler, betrieblicher oder genossenschaftlicher Basis mehr und besser ausgestattete Kindergärten und Heime eingerichtet werden. Die grundsätzliche Anerkennung der Doppelbelastung als Grundproblem führte zu sehr modernen Forderungen. So schlug die Arbeitsgruppe Frauen zeitweise vor, Hauswirtschaft als Beruf anzuerkennen und nicht als Zweitjob zu disqualifizieren.10 Auch der Ansatz einer Verteilung der Familienarbeit war erkennbar: „Trotz Berufstätigkeit der Frau [und] möglichst weitgehender Herausverlagerung der hauswirtschaftlichen Verrichtungen in Gemeinschaftsbetrieben, [sind] doch noch Verrichtungen im Hause nötig. Bei Berufstätigkeit der Frau [ist die] Verteilung der Lasten auf beide Teile [gemeint sind beide Ehepartner] nötig.“11 Neu und auch für lange Zeit singulär waren 7 Anita Grandke, Die Familienpolitik der DDR auf der Grundlage der Verfassung von 1949 und deren Umsetzung durch die Sozialpolitik, in: Günther Manz (Hrsg.), Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001, S. 317. 8 Gunnar Winkler, Geschichte der Sozialpolitik in der DDR 1949–1985, Berlin (Ost) 1989, S. 31. 9 SAPMO-Bundesarchiv DY 30/IV 2/17/1. 10 Vgl. ebd., S. 139. 11 Ebd.

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eine ganz klare Problemdefinierung Frau-Beruf-Hausarbeit sowie die Thematisierung der Verteilung dieser Aufgabenbereiche im Bericht der Arbeitsgruppe. Diese Anmerkungen waren einzigartig in der DDR-Gleichstellungspolitik. Vorstöße wie die Anerkennung von Hausarbeit als Arbeit und auch deren Aufteilung unter den Partnern wurden zumindest bis in die 1970er Jahre nicht mehr geäußert. Die offizielle Linie setzte andere Prioritäten. Anstatt auf die gleiche Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen Männern und Frauen hinzuarbeiten, beschränkte sich die DDR-Familienpolitik auf sekundäre Hilfsangebote. Dienstleistungen, die von Kinderbetreuung bis hin zu Wäschereien reichten, sollten die eigentliche Familienarbeit aus der Familie ausklammern. Die Vergemeinschaftung familiärer Aufgaben war für die SED ideologisch begründbar und bot dabei die Möglichkeit, die Kinder „mitzuerziehen“. Zunächst dominierten jedoch wirtschaftspolitische Belange die politischen Entscheidungen, und das betraf vor allem auch die Frauen. In der Nachkriegszeit wurden sie als Arbeitskräfte benötigt.12 So spricht der Soziologe Rainer Geißler zu Recht bei der Familienpolitik der frühen DDR von einer „gewissen Vernachlässigung“ bis in die 1950er Jahre.13 Ein erster Ansatz hin zu einer eigenständigen Familienpolitik waren die 1949 mit dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) erarbeiteten Vorschläge für ein neues Familienrecht. Hilde Benjamin, von 1948 an Mitglied des DFD-Bundesvorstandes und Leiterin der Juristinnenkommission, war maßgeblich an der gesetzlichen Ausgestaltung beteiligt. Geschaffen werden sollte ein Familienrecht, „in dem Mann und Frau gleichberechtigt und die rechtlichen Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung der Kinder gegeben sind.“14 Hauptsächlich handelte es sich um eine Reformierung der vormals im BGB verankerten eherechtlichen Festlegungen. Aussagen über die Stellung der Familie in der Gesellschaft der DDR wurden nicht getroffen, vielmehr hatten die Vorschläge die Funktion, das SED-Familienmodell in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.15 Im Vordergrund standen die – auch von Hilde Benjamin formulierte – rechtliche Gleichstellung der Frau und die Gleichwertigkeit der Interessen des Kindes.16 Die Verfassung der DDR manifestierte mit diesen Vorstellungen übereinstimmende Artikel. Artikel 30 Absatz 2 integrierte die Familie in den Gel12 Vgl. SAPMO-BArch DY 30/VI 2/17/1, S. 108. Die 1946 gegründete Abteilung Frauen beim ZK der SED wurde im November 1952 aufgelöst. Ein Sektor Massenarbeit unter den Frauen ersetzte die Abteilung. Erst 1955 richtete das ZK wegen mangelnder Interessenvertretung für die Frauen wieder eine Abteilung Frauen ein. 13 Vgl. Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 2. Aufl., Opladen 1996, S. 309. 14 Hilde Benjamin, Vorschläge zum neuen Deutschen Familienrecht, Berlin (Ost) 1949, S. 8. 15 Vgl. Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945–1980, Opladen 1986, S. 110. 16 Vgl. ebd., S. 112.

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tungsbereich des Gleichberechtigungsgrundsatzes. Eine spezifische Bestimmung von Funktion und Stellung der Familie wurde einem gesonderten gesetzlichen Rahmen vorbehalten. Der Paragraph 18 des Gesetzes über den Mutter- und Kindschutz (MKSchG) vom 27. September 1950 enthielt den Auftrag an das Justizministerium, einen Entwurf über ein modernes Familienrechtsgesetz vorzulegen.17 Neben Vorschriften zur Frauenarbeit enthielt das MKSchG bevölkerungspolitische und familienrechtliche Aussagen. Im Unterpunkt „Ehe und Familie“ verfügte das MKSchG über nur wenige Detailregelungen, sondern orientierte sich fast ausschließlich an der Verfassung. Die Festigung der Familie wurde als eine der wichtigsten Aufgaben des Staates proklamiert, die Familie als „eine[r] der Grundpfeiler der Gesellschaft“ benannt.18 In den Paragraphen 13 bis 17 legte das Gesetz die Beständigkeit der Rechte der Frau innerhalb der ehelichen Gemeinschaft fest. Der Gesetzgeber postulierte das Recht auf Berufsausübung, Ausbildung und gesellschaftliche Positionen für verheiratete Frauen. Es gab ein gemeinsames Sorgerecht der Eltern, ob verheiratet oder nicht. Gemäß Paragraph 5 MKSchuG sollten im ersten Fünfjahresplan von 1951 bis 1955 insgesamt 40.000 neue Kinderkrippen- und 160.000 Kindergartenplätze geschaffen werden.19 Trotzdem wurde in den 1950er Jahren keine flächendekkende und qualitativ annehmbare Kinderbetreuung sichergestellt.20 Die Tagesbetreuung für Schulkinder wurde mit der Einrichtung von Schulhorten ebenfalls ausgebaut. Mit diesen Maßnahmen erreichte das Mutter- und Kindschutzgesetz eine Entlastung der Frauen in den ihnen zugeschriebenen Arbeitsbereichen. Eine rechtlich gestärkte Position der Frau innerhalb der ehelichen Gemeinschaft resultierte aus dem im MKSchG zugeschriebenen Recht auf eine berufliche Betätigung der Frauen – unabhängig von den beruflichen Verpflichtungen des Mannes. Wenn auch diese Regelungen mit wirtschaftlichen Interessen im Hin-

17 Auch im Juni 1952 wurde vom Ministerrat der DDR nochmals ein solches Gesetz angefordert. Im Juni 1954 legte das Justizministerium den ersten Entwurf vor. In: Neue Justiz (1954) H. 1, S. 377. Es ging dabei um die Familie als Institution innerhalb der Gesellschaft. Auf sehr erzieherische Art und Weise gab der Gesetzgeber hier Vorgaben. Das Familiengesetzbuch versuchte die Erziehung aller Staatsbürger. Die SED sah trotz dieser linientreuen Ausgestaltung des Gesetzesentwurfes von einer Annahme ohne öffentliche Begründung ab. Möglich ist in jedem Falle eine Vorsichtsmaßnahme des Staates vor der Durchsetzung derartig strikter Regelungen nach den Unruhen im Juni 1953. Verordnungen übernahmen vorerst die Funktionen des FGB. Vgl. Verordnung über Eheschließungen und Auflösungen am 24. November 1955, Vgl. Eheverfahrensordnung vom 7. Februar 1956. 18 Vgl. §12 MKSchuG. 19 Nach DDR-Quellen wurden diese Vorgaben sogar leicht überboten. in: Statistisches Jahrbuch der DDR, 1960. 20 Vgl. Hans Harmsen, Schutz und Fürsorge für Frauen und Kinder in der Sowjetunion und in Mitteldeutschland, Hamburg 1956, S. 42.

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terkopf erlassen wurden, so gereichten sie den Frauen doch zu einer selbständigeren Position innerhalb der ehelichen Gemeinschaft.21 Ein Beschluß des Ministerrates der DDR (DDR-MinR) vom 2. Mai 1952 verlangte die Aufstellung von Frauenförderplänen in den Betrieben. Ein Teil der Ende der 1950er Jahre aufgestellten Frauenförderungspläne widmeten sich der Vereinbarkeit von Qualifizierung und Beruf. In erster Linie war die Qualifizierung das Ziel; als sinnvolles Nebenprodukt entstanden Entlastungsvorschläge für die Frauen in ihrer Doppelrolle. Diese befand der Ministerrat als ursächlich für den Rückstand der Frauen bei der Berufsqualifikation. Das daraus abgeleitete Ziel: „Die Entlastung und Unterstützung der werktätigen Frauen bei ihren häuslichen Pflichten während der Dauer der Qualifizierungsmaßnahmen“ war Produkt eines Erkenntnisprozesses innerhalb der SED-Frauenpolitik. Schrittweise bezog die SED die Problematik der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Beruf mit ein. Frauenförderpläne sollten helfen, den „Kampf um die 1000 kleinen Dinge“ besser zu bestehen. Dies betraf die Hilfe bei der Unterbringung der Kinder, wie die Erleichterung der Hausarbeiten durch Organisierung von Hilfe, Wäschereien, Ausleihe von Haushaltsgeräten.22 Die SED ließ nichts unversucht, die berufliche Gleichstellung der Frauen voranzutreiben: Auf der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 drohte die SED Fälle, bei denen Frauen in den Betrieben nicht gleichermaßen wie Männer weiterqualifiziert wurden, zu verfolgen und die Verantwortlichen vor der Parteikontrollkommission zur Rechenschaft zu ziehen.23 Dieses Gebaren schien insofern konsequent, als eine Vielzahl der Betriebe trotz der Vorgaben ihre Frauenpolitik nicht veränderte. Eine Überprüfung im Frühjahr 1953 ergab, daß von 6.000 VEB nur 935 den gesetzlich vorgeschriebenen Frauenförderplan aufgestellt hatten.24 Der 4. Parteitag der SED vom 30. März bis 6. April 1954 erwähnte die Frauenausschüsse als nützliche Institution. Sie hätten „dazu beigetragen, viele Arbeiterinnen für die politische und fachliche Qualifizierung zu gewinnen. Es ist vor allem ihr Verdienst, daß zahlreiche Einrichtungen zur Erleichterung des Lebens der berufstätigen Frauen geschaffen wurden.“25 Nach Angaben der SED verbes21 Eingeordnet in die Zeit sind diese Regelungen für 1950 nur zu begrüßen. In der Bundesrepublik dagegen vertrat das 1958 in Kraft getretene Gleichberechtigungsgesetz noch die Auffassung, das Recht der Frau auf Erwerbsarbeit von der Vereinbarkeit mit ihren Pflichten in der Familie zu machen. 22 SAPMO-BArch DY 30/IV 2/17/36, S. 6. 23 Aus dem Referat und dem Schlußwort von Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED vom 9.–12. Juli 1952, in: Hannelore Scholz, Die DDR-Frau zwischen Mythos und Realität, Zum Umgang mit der Frauenfrage in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR von 1945–1989, Schwerin 1997, S. 84. 24 Vgl. Erika Dyballa, Alle Kraft für die Förderung unserer werktätigen Frauen, in: Arbeit und Sozialfürsorge 9 (1954) H. 5, S. 139–141. 25 Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages des SED, Bd. VI, Berlin (Ost) 1963, S. 270.

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serten die Frauenförderungspläne die Arbeit der Frauenausschüsse. Mit ihrer Hilfe gelang es der SED, ihre Politik nachhaltiger in den Betrieben zu verankern. Nicht nur in den Betrieben kam die Gleichstellungspolitik der SED schlecht voran, auch auf der gesetzlichen Ebene blieb sie lange Zeit ergebnislos. Nach dem Scheitern des ersten Entwurfes eines Familiengesetzbuches im Juni 1954 stagnierte die familienrechtliche Diskussion. Unsicherheiten über die Rolle der Familie in der DDR waren der Grund. Resultat war das Fehlen einer selbständigen Familienpolitik.26 Dennoch gab es verschiedene familienpolitisch relevante Maßnahmen. Der Siebenjahresplan sah bis 1965 eine weitere Erhöhung der Betreuungsplätze in Kinderkrippen, -gärten und -horten vor.27 Mit den wirtschaftlichen Jahresplänen gelang es, die Rahmenbedingungen für Frauen zu verbessern: Die zunehmende Bedarfsdeckung an Betreuungsplätzen und Dienstleistungsangeboten war ein partieller Erfolg. Gleichwohl blendete die Staatsführung reelle Alltagsprobleme aus. Walter Ulbricht äußerte sich am 30. September 1959 zur Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frauen in der DDR vor der Volkskammer: „Die Gleichberechtigung der Frau ist eine soziale Frage. [. . .] Wir dürfen mit Stolz feststellen, daß [. . .] die völlige Gleichstellung der Frau mit dem Mann bereits eine Selbstverständlichkeit ist.“28 Die tatsächlichen Problemlagen der Frauen in den Familien und in den Betrieben wurden damit völlig ausgeblendet. In seiner programmatischen Erklärung vom 4. Oktober 1960 charakterisierte der Staatsratsvorsitzende die Ehe als eine für das Leben geschlossene Gemeinschaft, in der beide Partner völlig gleichberechtigt nebeneinander stünden. Als Ziel der Ehe formulierte er die gemeinsame Entwicklung der Ehegatten sowie die Erziehung der Kinder zu „fähigen, fleißigen und sauberen Menschen im Geiste der sozialistischen Weltanschauung und Moral“.29 Wichtig war Ulbricht und somit auch der SED-Politik die Formulierung einer sozialistischen Moral als Grundlage einer glücklichen Beziehung. Bemerkenswert sind die deutlichen Worte der Kritik am damaligen Stand der Gleichberechtigung: Es „erscheint [. . .] mir notwendig, daß auch im täglichen Leben der Familie die volle Gleichberechtigung der Frau schneller verwirklicht wird. Oft ist doch auch heute noch die Frau dem Manne gegenüber ernsthaft benachteiligt. Zur vollen Gleichberechtigung gehört zum Beispiel, daß die Frau soweit als möglich von der ein26

Vgl. Obertreis (FN 15), S. 134. Es sollten 57.000 neue Kinderkrippen-, 130.000 neue Kindergärten- und 326.000 Schulhortplätze geschaffen werden. 28 Walter Ulbricht, Die Frau im sozialistischen Aufbau, Rede über den Siebenjahresplan der Volkskammer der DDR am 30. September 1959, in: Ders. (Hrsg.), Frauen – Miterbauerinnen des Sozialismus. Aus Reden und Aufsätzen, Leipzig 1968, S. 137. 29 Aus der Programmatischen Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR vor der Volkskammer der DDR am 4. Oktober 1960, in: Ders. (FN 28), S. 169. 27

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tönigen, aber keinesfalls leichten Hausarbeit befreit wird, daß also noch mehr gesellschaftliche Einrichtungen geschaffen werden, die das Leben der Frau erleichtern.“30 Erstaunlich an dieser Bemerkung Ulbrichts ist das Eingeständnis einer „ernsthaften Benachteiligung“ der Frau innerhalb der ehelichen Gemeinschaft. Diese Äußerung entspricht insofern nicht der Linie der Partei, als sich die Politik und ihre Repräsentanten ansonsten an einer – vermeintlich – vollendeten Gleichberechtigung orientierten. Aus der Perspektive der Rechtsetzung mag dies zutreffen, vor dem Gesetz waren Mann und Frauen bereits durch die Verfassung von 1949 formal gleichberechtigt. In der Realität war die Benachteiligung der Frau, wie Ulbricht selbst anführt, namentlich durch die Mehrbelastung mit Hausarbeit, in keiner Weise aus dem Wege geräumt. Gegen ein grundsätzliches Verständnis des Problems spricht allerdings sein Lösungsansatz, der Ausdruck der Frauen- und Familienpolitik ist, mittels öffentlicher Einrichtungen diese Konflikte zu beenden. Dazu kam, daß das viel beschworene Dienstleistungssystem nicht effizient genug arbeitete.31 Das im Dezember 1961 beschlossene Kommuniqué „Die Frau – der Frieden und der Sozialismus“ traf beruf-, bildungs- und familienpolitische Aussagen. Gleichberechtigung wurde nicht als Gleichbehandlung verstanden, sondern sinnvollerweise als gleiche Behandlung unter Rücksichtnahme der speziellen Lebenssituation. Leider funktionierte dieses Konzept nicht in den Betrieben. In einer Nachricht an das Politbüro konstatierte die Abteilung Frauen, daß von Frauen in leitenden Funktionen mehr erwartet werde als von Männern. Sie forderte: „Gleichberechtigung bedeutet jedoch nicht nur, sich den Frauen gegenüber höflich zu verhalten und ihre Arbeit, ganz gleich wo sie stehen, zu achten. [. . .] Ihr Leben, ihre Arbeit kann aber nicht mit der gleichen Elle gemessen werden, wie die Arbeit und das Leben des Mannes.“32 Mit dem Kommunique wollte das Politbüro Meinungen und Problembewußtsein von Partei, Massenorganisationen, Nationaler Front und den Gewerkschaften auswerten. „Die Frau – der Frieden und der Sozialismus“ war eine Aktion, die zu Gesprächen in der Bevölkerung anregen und durch Veranstaltungen in den Kulturhäusern ergänzt wurde. Bei der für die Familienpolitik so wichtigen Frage nach der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf kreiste lediglich die immer währende Forderung der Erleichterung des weiblichen Berufs- und Familienalltages. Praktikable Wege hin zu einer Lösung dieser Frage gab es nicht. „Das Politbüro schlägt vor, bei der Vorbereitung und Durchführung des Volkswirtschaftsplanes 1962 sowie der Betriebskollektivverträge und Frauenförde-

30 31 32

Ebd. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/17/2, S. 142 f. Ebd., S. 267.

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rungspläne alle Reserven und Möglichkeiten auszunutzen, die besonders das Leben der berufstätigen Frauen und Mütter erleichtern.“33 Zur Durchführung des Kommuniques faßte der Ministerrat 1962 einen Beschluß über die „Aufgaben der Staatsorgane zur Förderung der Frauen und Mädchen.“34 Schon kurz nach dem VI. Parteitag vom 15. bis 21. Januar 1963 konstatierte die Parteiführung, daß durch die Frauenausschüsse sich viele Frauen für eine weitergehende Qualifizierung entschlossen hätten.35 Im Programm der SED wurden infolgedessen neue Aufgaben und Ziele formuliert: „Die zusätzliche Belastung der werktätigen Frau wird schrittweise verringert. Der Anspruch der Frau auf schöpferische Arbeit und auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wird immer besser mit ihrer Stellung als Hausfrau und Mutter in Einklang gebracht.“36 Erwähnt wurde zudem die geplante Verlängerung des Schwangerschafts- und Wöchnerinnenurlaubs gemeinsam mit einer Verbesserung der Betreuung in Kindergärten, Krippen und Schulen. Auch an eine Erweiterung sozialstruktureller Einrichtungen zur Übernahme der Hausarbeit wurde gedacht.37 Infolge dieser programmatischen Ziele beschloß der Ministerrat 1963 die Verlängerung des Schwangerschaftsurlaubs auf 6 Wochen und die des Wochenurlaubs auf 8 Wochen.38 Das am 20. Dezember 1965 erlassene Familiengesetzbuch der DDR befürwortete die Institution Familie uneingeschränkt und machte es sich zur Aufgabe, sie als persönlichen Mittelpunkt der sozialistischen Gesellschaft zu setzen. Trotz dieser Vereinnahmung blieb die Familie als solche relativ eigenständig und abgeschlossen.39 Anita Grandke definierte das offizielle Verständnis von den Grenzen der Privatheit: „Wir meinen damit nicht die Isoliertheit, die für viele Familien in der kapitalistischen Gesellschaft typisch ist, die eine bewußte Abkapselung von der Gesellschaft und eine Art der Zuflucht darstellt. [. . .] Die Familien in der DDR entwickeln sich zu Gemeinschaften, die bewußt als Teil der sozialistischen Gesellschaft verstanden werden.“40 Mit dem Familiengesetzbuch begann eine neue Phase in der Familienpolitik der DDR: „Durch die politische und ökonomische Macht der Arbeiterklasse waren die gesell33

Ebd., S. 269. Beschluß über die Aufgaben der Staatsorgane zur Förderung der Frauen und Mädchen vom 19. April 1962, in: GBl. II Nr. 32, S. 295–301. 35 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der SED, Bd. IV, Berlin 1963, S. 270. 36 Ebd., S. 366. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. Karl-Heinz Günther, Das Bildungswesen der Deutschen Demokratischen Republik, 3. Aufl., Ostberlin 1989, S. 146; vgl. Verordnung über die Verlängerung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs vom 5. September 1963, in: GBl. II Nr. 82, S. 636–639. 39 Vgl. Hilde Benjamin, Das Familiengesetzbuch – Grundgesetz der Familie, in: Neue Justiz (1966) H. 1, S. 228. 34

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schaftlichen Voraussetzungen für neue Familienbeziehungen herangereift [. . .]. Die Familie konnte mehr und mehr einen spezifischen Beitrag für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Mitglieder leisten. Das neue Familiengesetzbuch erhob diese gegenseitige Mitwirkung an der Persönlichkeitsentwicklung zur wichtigsten Aufgabe der Eltern und machte die Gleichberechtigung zum Prinzip des gesamten Familienrechts.“41 Wichtig war dafür, herauszustellen, daß laut Familiengesetzbuch die Gleichberechtigung nur durch eine Arbeitsteilung innerhalb der Haushalte erreichbar sei. Damit offenbarte sich eine Änderung der politischen Strategie. Gesine Obertreis bezeichnet den Gesetzband als einen Beweis für das gewachsene Selbstbewußtsein des jungen Staates und für eine Konsolidierung der politischen Situation.42 Doch an einen Rückzug des Staates aus der Familie war nicht gedacht worden. Verstärkt sollte die Familie als Sozialisationsinstanz bei der Umformung zu sozialistischen Persönlichkeiten dienen. Die Familie existierte parallel zu den Einflußmöglichkeiten des Staates in Kinderkrippen und -gärten, Schulen und Massenorganisationen und sollte deshalb auf Linie gebracht werden, um den Jugendlichen ein einheitliches sozialistisches Bild vermitteln zu können. Eine Interesseneinheit von Bürger und Staat voraussetzend, vermittelte das Familiengesetzbuch somit viele Moralmaßstäbe, die sich durch den Gesetzgeber nicht überprüfen ließen und als symbolische Gesetzgebung eher ideeller Natur waren. Die Definition der Familie als Hort der Sozialisation war der Hauptaspekt der Familienpolitik bis zum VIII. Parteitag 1971: „Unter den Bedingungen des umfassenden Aufbaus des Sozialismus findet die zunehmende Übereinstimmung und Verschmelzung der gesellschaftlichen mit den persönlichen Interessen ihren Ausdruck auch in der Herausbildung sozialistischer Familienbeziehungen, ihren immer vollkommeneren Schutz und ihre immer bessere Förderung durch Staat und Gesellschaft.“43 Der Erlaß des Ministerrates der DDR vom 2. Juli 1965 über „Aufgaben und Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen“ machte die staatlichen Organe in den Kreisen verantwortlich für die Bereitstellung der im Familiengesetzbuch geplanten Ehe- und Familienberatungen, den Ausbau der Kinderbetreuung und auch für die Wohnraumlenkung.44 Trotz der in den 1960er Jahren begonnenen verstärkten Hinwendung zu den Familien entwickelte sich die demographische und soziale Situation in der DDR 40 Anita Grandke/Herta Kuhrig, Zur Situation und Entwicklung der Familien in der DDR, in: Neue Justiz (1965), S. 231. Anita Grandke leitete von 1964 bis 1967 die Forschungsgruppe Frauen an der Akademie der Wissenschaften der DDR. 41 Familiengesetzbuch der DDR vom 20. Dezember 1965, in: GBl. I Nr. 1 (66), S. 1–18. 42 Vgl. Obertreis (FN 15), S. 245. 43 Walter Ulbricht, Das Familiengesetzbuch – Teil des großen Gesetzeswerkes des neuen Deutschland, 22. Sitzung des Staatsrates der DDR am 26. November 1965, in: Ders. (FN 28), S. 237. 44 Vgl. Neues Deutschland vom 3. Juli 1965.

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gänzlich anders als von der Politik erwünscht: Die Zunahme an Scheidungen, wie die Abnahme der Geburtenzahlen waren nicht im Sinne des Familiengesetzbuches (FGB). Am deutlichsten zeigte jedoch der wachsende Wunsch von verheirateten Frauen und Müttern nach einer Teilzeitstelle, daß die Doppelbelastung bisher nicht erfolgreich bekämpft worden war. Die Tendenz zur Teilzeitarbeit verstärkte sich nach der 1967 eingeführten Fünf-Tage-Woche. Die damit einhergehende Verlängerung der täglichen Arbeitszeit machte die Vereinbarkeit von Haushalt und Beruf oft noch schwieriger.45 Diese Entwicklungen brachten Bewegung in die SED-Familienpolitik. Insbesondere die Neigung, verkürzt zu arbeiten, brachte kurzfristige, der Geburtenrückgang längerfristige wirtschaftliche Probleme mit sich. Den ersten Schritt zu einer Neuausrichtung machte der VII. Parteitag der SED vom 17. bis 22. August 1967. Er stellte die Aufgabe, „die Entwicklung und Festigung der Familien, vor allem den Schutz von Mutter und Kind, weiter zu fördern.“46 Dabei wurde vor allem an die Förderung kinderreicher Familien gedacht. Die Verordnung vom 3. Mai 1967 „Zur Verbesserung der Lebenslage von Familien mit vier und mehr Kindern“ sah die bevorzugte Bereitstellung von geeignetem Wohnraum und Mietzuschüssen sowie eine finanzielle Unterstützung vor, um die Teilnahme der Kinder an Ferienlagern und Jugendweihe zu ermöglichen. Die Unterstützung erfolgte aus den Fonds der örtlichen Volksvertretungen.47 Daneben erließ eine Verordnung „Über die Gewährung eines staatlichen Kindergeldes für Familien mit vier und mehr Kindern“ ebenfalls vom 3. Mai 1967 weitere finanzielle Leistungen für kinderreiche Familien. Bereits am 27. August 1969 erfolgte eine erneute Verordnung „Über die weitere Erhöhung des staatlichen Kindergeldes“. Damit wurde wiederum eine höhere monatliche Unterstützung ab dem 3. Kind gewährt. Hierbei handelt es sich um die ersten gezielt bevölkerungspolitisch motivierten Verordnungen der DDR. Systematisch gefördert wurden die kinderreichen Familien erst mit dem neuen sozialpolitischen Kurs in den 1970er Jahren.

45 1970 arbeiteten mehr als ein Drittel der Frauen (32,5 Prozent) in Teilzeit, in: Johannes Frerich/Martin Frey, Handbuch der Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 2, Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, 2. Aufl., München 1996, S. 410. 46 SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/16714. 47 Vgl. ebd., Aufgrund der unterschiedlichen finanziellen Situation in den einzelnen Städten fiel auch die Unterstützung der kinderreichen Familien sehr unterschiedlich aus. Zur einheitlichen Betreuung beschloß der Ministerrat am 22. November 1973 die Richtlinie zur Gewährung von Unterstützungen und Zuwendungen für Familien mit vier und mehr Kindern, in: Mitteilungen des Ministerrates Nr. 21/73 vom 19. Dezember 1973. Die finanziellen Mittel wurden aus dem zentralen Haushalt zur Verfügung gestellt.

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3. Bevölkerungspolitik – die 1970er bis 1980er Jahre Der politische Wechsel von Ulbricht zu Honecker im Mai 1971 bedeutete auch für die Sozialpolitik eine inhaltliche Neuordnung. Der VIII. Parteitag der SED vom 15. bis 19. Juni 1971 legte das Hauptziel der Bemühungen klar fest, nämlich eine „Intensivierung der Produktion als Hauptweg der weiteren Entwicklung der sozialistischen Volkswirtschaft.“48 Die Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik benannte schon in ihrem Titel die Hauptziele: Mit der Einheit von Wirtschaftspolitik auf der einen und Sozialpolitik auf der anderen Seite wurde die Abhängigkeit sozialer Programme von der Wirtschaft offiziell hergestellt. Bestanden hat sie auch schon vorher. Arbeitsmarktpolitische und demographische Bestrebungen dominierten die Familienpolitik in der Ära Honecker bis 1989. Der VIII. Parteitag der SED versprach, Maßnahmen zu ergreifen „die vor allem den werktätigen Frauen die Hausarbeit erleichtern und ihnen mehr Freizeit und Erholung ermöglichen“ sollten.49 Nach dieser Zielgabe richtete sich auch die Direktive des Fünfjahresplanes von 1971 bis 1975 aus. Zur Erleichterung und Verringerung der Hausarbeit wurde eine Verbesserung der Arbeiterversorgung und Schulspeisung, eine flächendeckende Versorgung mit elektronischen Geräten für den Haushalt und wiederum der Ausbau der Dienstleistungen festgelegt.50 Um die Bedeutung der neuen Richtlinien zu unterstreichen, erging nach dem VIII. Parteitag folgende Notiz an die Abteilung Frauen: „Die Sorge um die Familien- und Bevölkerungsentwicklung ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen und verlangt, auf diesem Gebiet verstärkt eine vom Staat koordinierte Arbeit zu leisten.“51 Auch die Abteilung Frauen hatte daran mitzuarbeiten, die Anzahl der Kindergarten und -krippenplätze zu erhöhen. In Zusammenarbeit mit dem DFD sollten die Arbeiterversorgung ausgebaut und die Dienstleistungen allgemein intensiviert werden.52 Die rückläufige demographische Entwicklung der Bevölkerung ließ die SED den Fokus auf Familien mit drei Kindern legen. Vielseitige Förderungen und Unterstützungen wurden für diese Klientel geplant: von Fahr-

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Heinz Heitzer, DDR. Geschichtlicher Überblick, Berlin (Ost) 1979, S. 212. Entschließung des VIII. Parteitages der SED, in: Protokoll des VIII. Parteitages der SED, Bd. 2, Berlin 1971, S. 49–52. 50 Aus der Direktive des VIII. Parteitages der SED zum Fünfjahresplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971 bis 1975, in: Protokoll des VIII. Parteitages der SED, Bd. 2, Berlin 1971, S. 326, 382–384. 51 SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/16714, Material über die Entwicklung des Arbeitsgebietes Frauen. Die Fruchtbarkeitszahl gibt Auskunft über die Anzahl der Lebendgeborenen je 1000 der weiblichen Bevölkerung im Alter von 15 bis 45 Jahren. Die Fruchtbarkeitsziffer sank in der DDR von 83,9 Prozent 1960 auf 58,6 Prozent 1972. 52 Vgl. SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/16714, Notiz an die Abteilung Frauen beim ZK nach dem VIII. Parteitag der SED. 49

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preisermäßigungen bis hin zur bevorzugten Wohnraumvergabe.53 Vor allem der zurückgegangene Wunsch nach einem zweiten oder dritten Kind wurde als Ursache für den Bevölkerungsrückgang ausgemacht. Das auf politischen Druck erlassene sozialpolitische Programm „Beschluß zur Förderung berufstätiger Mütter, junger Ehen und der Geburtenentwicklung“ vom 28. April 1972 räumte ein, daß nicht beide Ziele, eine Erhöhung der Geburtenrate und ganztägige kontinuierliche Erwerbsarbeit der Frauen, zu verwirklichen seien. Vielmehr wurde wiederum auf sogenannte Traditionen Bezug genommen, aufgrund derer die Last der Haus- und Familienarbeit als historisch gegeben den Frauen zufalle, da die Frau „bedingt durch die historische Entwicklung – nach wie vor in der Regel den größten Teil der familiären Aufgaben“ bewältige. Es sollte ihr deshalb geholfen werden, berufliche und gesellschaftliche Aufgaben mit der Mutterrolle zu verbinden.54 Die Minderung der Doppelbelastung interessierte den Staat nicht aus rein wirtschaftspolitischer Perspektive sondern auch aus bevölkerungspolitischen Gründen. Die Geburtenrate anzukurbeln, entwickelte sich für die DDR zur Existenzfrage. Der Staat widmete sich von nun an der Familienpolitik, die mit dem Begriff Bevölkerungspolitik für die 1970er und 1980er Jahre besser umschrieben werden kann. Die sozialpolitischen Maßnahmen in Folge des VIII. Parteitages 1971 beinhalteten von der Kürzung der Arbeitszeit über die Gewährung eines längeren Urlaubs bis hin zu finanziellen Lockungen in Form von zinsfreien Ehekrediten eine Fülle an sozialer Unterstützung für potentielle Eltern und Mehrkindfamilien. Vor allem die Ehekredite ermöglichten es jungen Paaren, das Elternhaus früh zu verlassen und gegebenenfalls auch früh eine eigene Familie zu gründen. Genau das hatte der Gesetzgeber intendiert. Und diese Rechnung ging zunächst auf: Ein weiteres Absinken der Geburtenziffer ließ sich so verhindern. Dennoch konnte von einer Entspannung keine Rede sein: Der Rückgang der Geburtenzahlen von 1963 an wurde von der Abteilung Frauen besorgt registriert. „Bei einer solchen Bevölkerungsentwicklung ist die Bevölkerungsreproduktion in den nächsten Jahren nicht mehr gewährleistet.“55 Gezielt wollten Partei und Staatsführung nun dieser Entwicklung entgegenwirken und eine „demographische Revolution“ herbeiführen. Den Geburtenrückgang begründete man mit dem hohen Beschäftigungsgrad der Frauen im gebärfähigen Alter. Dies zeigte deutlich die ungelösten Probleme bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, dem Kernproblem der Frauenund Familienpolitik. Als eine Ursache, die einer positiven Geburtenentwicklung im Wege stand, erkannte die Abteilung Frauen also abermals die Doppelbelastung an: „Und trotzdem [trotz Sozialleistungen, mehr Kindereinrichtungen, 53

Vgl. SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/36877. Vgl. Anita Grandke/Jutta Gysi, Die Familien- und Bevölkerungsentwicklung als Sache der ganzen Gesellschaft, in: Staat und Recht (1973) H. 1, S. 62. 55 SAPMO-BArch DY30/vorl. SED/16714, Ideologische Probleme bei der Geburtenentwicklung und Aufgaben unserer Grundorganisation. 54

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wachsendem Dienstleistungsangebot] hat sich die Geburtenentwicklung nicht positiv verändert. Wir müssen jetzt genauer untersuchen, wie diese Bedingungen wirken, welche erweitert werden müssen, um vor allem den Wunsch nach mehreren Kindern mit an erster Stelle der Bedürfnisbefriedigung rangieren zu lassen.“56 Die Lösung wurde, wie so oft, in einer Verstärkung der politischideologischen Agitation gesehen, da finanzielle Unterstützungen allein offensichtlich nicht ausreichten. Inhaltlich versuchten etwa DDR-Wissenschaftler den Sinn eines Lebens ohne Kinder infrage zu stellen. Anita Grandke äußerte dazu etwa die Bedenken, daß die beabsichtigte Planung eines einzelnen Kindes moralisch ungerechtfertigt und Ausdruck einer kleinbürgerlichen Haltung sei.57 Einem Leben ohne Kinder unterstellte die SED einen Verlust an persönlichkeitsfördernden Merkmalen. Angeführt, allerdings nicht inhaltlich vertieft, wurde hier auch der Wunsch nach einer besseren Arbeitsteilung bei der Kindererziehung und Hausarbeit. Auch in dem neuen sozialpolitischen Programm ging es nicht um eine wirkliche Gleichstellung der Frauen. Anstatt für eine Arbeitsteilung in der ehelichen Gemeinschaft einzutreten, wurde eher der berufliche Anspruch an die Frauen zurückgefahren und eine Umsetzung dieses Ansatzes von den Verantwortlichen der jeweiligen Betriebe gefordert. So kritisierte der Bericht zu den neuen Aufgaben der Grundorganisation die kinderfeindliche Atmosphäre in den Betrieben. Frauen bekämen Probleme, wenn die Kinder häufig krank seien: „Es gibt wohl nicht viele Leiter, die Verständnis für diese, eigentlich selbstverständlichen, Erscheinungen haben, ganz zu schweigen von einer moralischen Anerkennung der Leistung, die die Frau neben der Arbeitsleistung als Mutter vollbringt.“58 Die politische Entwicklung zwischen 1976 und 1980 war aus DDR-Perspektive durch wachsende Komplexität der Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik gekennzeichnet.59 Im Vorfeld des IX. Parteitages der SED 1976 dominierten weiterhin bevölkerungspolitische Zielsetzungen die familienpolitische Diskussion. Der bis 1975 andauernde Geburtenrückgang ließ am Erfolg der zahlreichen Vergünstigungen durch das sozialpolitische Programm zweifeln. Die Partei steigerte als Konsequenz die Vergünstigungen. Ab dem 1. Januar 1975 gab es weitere Arbeitszeitverkürzungen: Der Mindesturlaub für alle Werktätigen erhöhte sich von 15 auf 18 Tage und für Mehrschichtarbeiter auf 21 Tage.60 Daneben suchte und fand die SED neue Ansätze. Der Rückgang der Geburten wurde auf eine „Vielzahl sozialer, ökonomischer und ideologischer Faktoren“ 56

Ebd. Vgl. Anita Grandke, Festigung der Gleichberechtigung und Förderung bewußter Elternschaft, in: Neue Justiz (1972) H. 11, S. 316. 58 SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/16714, Ideologische Probleme bei der Geburtenentwicklung und Aufgaben unserer Grundorganisation. 59 Vgl. Winkler (FN 8), S. 192. 60 Vgl. ebd., S. 176. 57

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zurückgeführt. „Diese Entwicklung lag sowohl in der steigenden Berufstätigkeit der Frau, dem sprunghaften Anwachsen ihres Bildungsniveaus, aber auch in den gerade für junge Leute noch vorhandenen langen Wartezeiten auf eine Wohnung begründet.“61 Angesprochen wurden Fragen der Leitungstätigkeit verbunden mit einem zunehmenden Karrierebewußtsein von Frauen: „In allen Aussprachen wurde besonders von den jungen Müttern hervorgehoben, daß sie nie daran gedacht haben ihre Berufstätigkeit für längere Zeit aufzugeben, eher würden sie auf ein weiteres Kind verzichten.“62 Die Sekretariatsinformationen über den Inhalt der Frauenförderungspläne der Abteilung Frauen von 1976 bezogen sich hauptsächlich auf die politischen Ansätze zur Qualifizierung und Delegierung von Frauen zum Studium. Als Unterstützung sollte ihnen individuelle Hilfe beim Lernen und bevorzugte Betreuung der Kinder in öffentlichen Einrichtungen offeriert werden. Verstärkte Unterstützung war für die Mütter mehrerer Kinder vorgesehen. Damit war diese Maßnahme eine Fortsetzung der Förderung der Großfamilien ab Mitte der 1970er Jahre.63 Mit der Förderung der Großfamilien auf der einen Seite ging eine Vernachlässigung der Normalfamilien mit einem und zwei Kindern auf der anderen Seite einhehr. Das Sozialreformpaket betraf sie kaum.64 Auch von direkter Frauenförderung war keine Rede mehr. Fortan wurde die Familienpolitik offiziell als Bevölkerungspolitik bezeichnet. Dieser Begriff traf die Zielsetzungen seitens der Regierungen genau. Es ging nicht um Familie oder Frauen, sondern um das Erreichen einer positive Bevölkerungsbilanz: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands widmet der Förderung der Familie, der Fürsorge für Mutter und Kind sowie der Unterstützung kinderreicher Familien und junger Ehen große Aufmerksamkeit.“65 Frauen waren nicht mehr Inhalt des Parteiprogramms. Zur Lösung der Doppelrolle wird nur lapidar berichtet: „Die Bedingungen für die Berufstätigkeit der Mütter [. . .] werden planmäßig verbessert.“66 Der IX. Parteitag der SED vom 18. bis 22. Mai 1976 offerierte die Verlängerung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs von 18 auf 26 Wochen bei Zahlung des Nettodurchschnittsverdienstes. Dazu kam eine bezahlte Freistellung bis zum Ende des ersten Lebensjahres bei der Geburt des zweiten Kindes (Babyjahr).67 Das Netz der Kinderbetreuungseinrichtungen sollte wiederum erweitert werden. Im Ergebnis dieser Maßnahmen erhöhten sich die Geburtenzahlen 61

Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (Ost) 1981, S. 319. SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/26794/1. 63 Vgl. SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/26790, Sekretariatsinformationen über den Inhalt der Frauenförderungspläne 1976 der Abteilung Frauen vom 11. Februar 1976. 64 Vgl. Winkler (FN 8), S. 192. 65 SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/36877. 66 Ebd. 67 Dabei wurde ein Gehalt in Höhe des Krankengeldes gezahlt. 62

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bis 1980 bedeutend. 1979 gab es erstmalig nach 14 Jahren wieder einen Geburtenüberschuß. Diese positive Entwicklung war jedoch nur kurzlebig. Ab 1982 war die Geburtenzahl bereits wieder rückläufig. Bei den für die Frauen getroffenen Regelungen zeigte sich die Abteilung Frauen zufrieden mit den Ergebnissen des IX. Parteitages von 1976. Aus ihrer Sicht fokussierte sich die Frauenpolitik zunehmend auf die Rolle der Frau als berufstätige Mutter. Als Grund für diese Schwerpunktsetzung wurde die Gleichberechtigung angeführt: „In der DDR ist die Gleichberechtigung verwirklicht. Männer und Frauen haben die gleichen Rechte. Es gibt keinerlei Unterschiede mehr.“68 Fast im Gegensatz zu dieser Festlegung steht folgende Äußerung: „Auch die Bedingungen zur praktischen Anwendung und Nutzung dieser Rechte haben sich [. . .] stark angenähert.“ Eine Annäherung ist jedoch noch lange nicht als Gleichheit zu werten. Zugestanden wurden verstärkte Probleme von berufstätigen Müttern, „jedoch keine gleichen Bedingungen für berufstätige Mütter mit mehreren Kindern“.69 Das Zurückstehen arbeitender Mütter hinter den Möglichkeiten gleich qualifizierter Männer wurde euphemistisch als „Restproblem“ tituliert. Jedoch bildete genau diese Bezugsgruppe nahezu die Hälfte der Bevölkerung. Von einer Realisierung der Gleichberechtigung zu sprechen, entsprach keineswegs den faktischen Gegebenheiten. Dennoch argumentierte man wiederum nur mit ideologischen Phrasen: Der Übergang zum Kommunismus sei noch nicht vollzogen, die volle Gleichberechtigung nicht überall durchgesetzt. „Der Marxismus-Leninismus geht davon aus, daß mit der kommunistischen Gesellschaft erst wirklich die Geschichte der Menschheit beginnt. Das heißt, daß auch erst im Prozeß der Bewältigung der vom IX. Parteitag beschlossenen Etappe unserer gesellschaftlichen Entwicklung im umfassenden Sinne die Vorraussetzungen und Möglichkeiten heranreifen, schrittweise alle Erschwernisse zu überwinden, die sich für die Entfaltung der Fähigkeiten und Talente der Frauen aus der Mutterschaft ergeben.“70 Erschwerte Lebensbedingungen von berufstätigen Müttern zu beseitigen hatte weiterhin Priorität. Dies schloß die bevorzugte Behandlung bzw. Unterstützung mit Blick auf die Vergabe von Wohnraum, Schulspeisung, Arbeiterversorgung, Dienstleistungen, Handel und regelmäßige Teilnahme an Erholungsmöglichkeiten ein. In der politisch-ideologischen Arbeit sollte verstärkt die sozialistische Lebensweise und Erziehung der Kinder vermittelt werden. Trotz inhaltlicher Absurdität konstruierte die Partei einen Zusammenhang zwischen der Intensivierung der politisch-ideologischen Arbeit und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Also wurde hier wiederum versucht, den politischen Einfluß der SED durch die Ideologie als Bindeglied auszudehnen. 68 69 70

SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED/36877. Ebd. DY 30/vorl. SED/26794/1.

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Mittels der Unterstützungsleistungen für Familien wurde nur ein politisches Konzept verfolgt: Aus Angst vor wirtschaftlichen Konsequenzen war die Geburtenrate unbedingt anzukurbeln. Frauen und ihre Gleichberechtigung waren nicht wirklich von Interesse, wie die Arbeitspläne der Abteilung Frauen zeigen. An den familienpolitischen Prämissen änderte sich in den 1980er Jahren wenig. Für die Zukunft rechneten die Demographen, wegen des Absinkens der Zahl an Frauen im gebärfähigen Alter, mit einem weiteren Bevölkerungsschwund. Schwerpunkt der Familienpolitik war und blieb deshalb die Geburtenförderung. Die Politik erhob die Drei-Kinder-Familie zur politischen Norm. Die damit statuierte Aufwertung der Mehrkindfamilie korrespondierte allerdings nicht mit den Vorstellungen der DDR-Bürger. Diese gaben bei einer repräsentativen Erhebung zu zwei Dritteln an, sich zwei Kinder zu wünschen, ein Drittel wünschte sich nur ein Kind. Nur ein verschwindender Prozentsatz gab an, drei oder mehr Kinder haben zu wollen.71 Diese erste empirische Untersuchung zu den Ursachen des Geburtenschwundes deckte die Motive auf, die nach Angaben der Bevölkerung gegen ein drittes und weitere Kinder sprachen. Als erstes wurde der Wohnraummangel genannt, aber auch die Probleme der Frauen, den Beruf mit mehreren Kindern zu vereinbaren. Immer noch gab es die Sorge, für alle Kinder einen geeigneten Betreuungsplatz zu bekommen. Erwähnt wurde zudem die Angst vor finanziellen Einschränkungen.72 Der Staat reagierte auf diese Motive der Bevölkerung mit der sogenannten ökonomischen Strategie. Der X. Parteitag der SED vom 11. bis 16. April 1981 legte eine weitere finanzielle Unterstützung für Familien fest. Kinderreiche Familien begünstigte der Gesetzgeber im besonderen: 1981 wurde die finanzielle Unterstützung für Familien mit drei und mehr Kindern beschlossen. Dies geschah mit der Verordnung vom 29. Oktober 1981 über die Anhebung des Kindergeldes. Ab dem dritten Kind erhöhte sich das Kindergeld auf 100 Mark im Monat. Für das erste und zweite Kind erhielten die Eltern weiterhin nur 20 Mark im Monat. Der deutliche finanzielle Unterschied zwischen zweitem und drittem Kind sollte die Mehrkosten für eine große Familie abdecken helfen. Es ging also nicht mehr um die Förderung der Familien im allgemeinen, sondern die Tendenz von Ende der 1960er Jahre an, den Support auf Großfamilien zu beschränken, setzte sich mit dieser Verordnung fort.73 Die Kreditmöglichkeiten für junge Eheleute wurden nochmals erheblich erweitert.74 Wichtig waren dane71

Vgl. Frerich/Frey (FN 45), S. 418. Vgl. Dagmar Meyer/Wulfram Speigner, Bedürfnisse und Lebensbedingungen in der Entscheidung der Frau über ein drittes Kind, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik, Berlin (Ost) 1982, S. 131 ff. 73 Vgl. Verordnung über die Erhöhung des Kindergeldes vom 29. Oktober 1981, in: GBl. I., S. 381. 74 Vgl. 2. Verordnung über die Förderungsmaßnahmen zugunsten junger Ehen vom 21. Juli 1981. 72

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ben die Gewährung von eineinhalb Jahren bezahlten Urlaubs ab der Geburt des dritten Kindes und eine Arbeitsfreistellung von Müttern zwischen 8 und 13 Wochen bei Zahlung des Krankengeldes im Krankheitsfalle des Kindes. Nur in begründeten Ausnahmefällen konnte diese Freistellung von anderen Familienmitgliedern, Vätern oder Großmüttern, in Anspruch genommen werden. Obschon DDR-Wissenschaftler bestätigten, daß die Steigerung der Reproduktion durch finanzielle Anreize an Grenzen stieß, folgte die Familienpolitik der zweiten Hälfte der 1980er Jahre weiterhin dem bereits diskreditierten Konzept.75 Mit Blick auf den XI. Parteitag der SED vom 17. bis zum 21. April 1986 erließ der Ministerrat weitere sozialpolitische Maßnahmen. Dazu zählten die volle Entscheidungsfreiheit der Familien über die Inanspruchnahme des Babyjahres durch einen Ehepartner (bzw. die Großeltern) sowie die Gewährung eines Babyjahres auch bei dem ersten Kind. Um finanzieller Benachteiligung entgegenzuwirken, erhöhte der Staat das Kindergeld auf 50 Mark für das erste, 100 Mark für das zweite Kind und 150 Mark für jedes weitere Kind. Es wurde also ab 1986 bereits der Unterschied zwischen zwei und weiteren Kindern zurückgefahren. Weitere finanzielle Einbußen ersetzte die bezahlte Freistellung für verheiratete Werktätige mit zwei und mehr Kindern bei deren Erkrankung. Obwohl es sich bei den Regelungen des XI. Parteitages der SED nur um eine Weiterführung der bisherigen Strategie handelte, wurde die Familienförderung mit diesen Entscheidungen sozusagen „abgerundet“.76 Ein großer Schritt war die Einführung eines bezahlten Babyjahres ab Mai 1986, ein noch größerer die bezahlte Freistellung von der Arbeit schon ab dem zweiten Kind für verheiratete Werktätige. Gab es dieses Recht 1981 nur für Mütter, bedeutete diese Modifizierung 1986 eine langsame Aufweichung der staatlich unterstützten Rollenzuweisung.77

4. Schlußbetrachtung Die Familienpolitik in der DDR ist grob in zwei Phasen unterteilbar. Der Wandel stimmt mit der einen großen politischen Zäsur überein: Unter Ulbricht dominierte eine sehr auf die Position der Frauen ausgerichtete Familienpolitik. Mit dem Wechsel zu Honecker änderte sich der familienpolitische Fokus hin zur Bevölkerungspolitik. Die unterschiedlichen politischen Prämissen waren bedingt durch die Abhängigkeit der Familienpolitik von „relevanteren“ Staatszielen der DDR, insbesondere der Wirtschaftspolitik und der Gewährleistung einer 75 Vgl. Hartmut Wendt, Ein günstiges demographisches Klima, in: Spectrum (1983) H. 11, S. 30–32. 76 Vgl. Gisela Helwig, Einleitung, in: Dies./Hildegard Maria Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945–1992, Bonn 1993, S. 9–21, hier S. 17. 77 Wollte ein anderes Familienmitglied, Vater oder Großmutter die bezahlte Krankenpflege übernehmen, war dies nur bei Krankheit etc. der Mutter möglich.

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stabilen demographischen Entwicklung. Die Familienpolitik existierte nicht um ihrer selbst willen. Damit ist zu erklären, daß in den 1940er und 1950er Jahren ein Hauptaugenmerk auf die Eingliederung der Frauen in den Berufsprozeß gelegt wurde. Eine eigene Familienpolitik bestand insofern lediglich in der Anpassung von Familienpflichten an den Berufsalltag der Frauen. Daneben stellte das Gesetz über den Mutter- und Kindschutz von 1950 die zentrale Rolle der Familie für den Staat heraus. Die bipolaren Interessen, einerseits das Ziel, Frauen in den Beruf zu integrieren, sie auszubilden und zu fördern und andererseits intakte Familien als Grundlage des Staates zu statuieren, stießen zunächst auf wenig Konfliktbewußtsein bei der Partei. Die Familienpolitik war ein Mittel der diktatorischen Staatsführung, Einfluß auf die Bevölkerung auszuüben und sie zu lenken. Der Anspruch an die Frauen, ganztägig berufstätig zu sein, wurde zur Norm erhoben. Nur eine berufstätige Frau war nach Ansicht der Parteiideologen wirklich gleichberechtigt. Mit diesem Reglement wurde ein starker Druck auf die Frauen ausgeübt. Auch hier nutzte die SED ideologische Vorlagen als Legitimation. Zugleich blieb die Aufteilung der Familienarbeit auf der Strecke. Ein wirkliches Nebeneinander von Familie und Beruf war im Alltag nicht zu realisieren. Der gewählte Mittelweg bestand seitens der Frauen zumeist in einem Verzicht auf beruflichen Aufstieg. Dadurch gab es viele hochqualifizierte Frauen mit Kindern in mittleren Positionen bzw. bei belasteten Müttern nur eine zaghafte Motivation zur Weiterqualifizierung. Eine Belebung dieser Kernproblematik innerhalb der Familienpolitik wurde nicht erwogen. Dies zeigt mehrerlei: Es bestand offensichtlich kein Interesse an einer echten Gleichberechtigung der Frauen, denn es wären vielseitige Möglichkeiten gegeben gewesen, Familienarbeit auch durch staatliche Interventionen aufzuteilen. Der Prozeß der Gleichstellung der Frau tangierte keineswegs die Familienpolitik. Er galt mit der Einbeziehung der Frauen in den Beruf als abgeschlossen. An dieser Stelle wird der Widerspruch zwischen der Ideologie als Legitimation und wirklichem Interesse an der Gleichberechtigung der Frauen deutlich. Die ideologisch begründete Politik, Familienarbeit durch staatliche Institutionen (von Kinderkrippen bis Dauerheimen) und Dienstleistungen (wie etwa Schulspeisung und Wäschereien) zu ersetzen, hatte auch machtpolitische Vorteile. Denn hierbei eröffnete sich dem Staat die Möglichkeit, in Familienfunktionen einzugreifen und diese zu verstaatlichen. Mit der Übernahme von Familienfunktionen vergrößerte das System seine Zugriffsmöglichkeiten auf das Private. Die Vernachlässigung des Grundproblems Doppelbelastung wirkte sich jedoch negativ auf die intendierten Ziele aus. Doch auf beides, qualifizierte Arbeitnehmerinnen und eine positive Reproduktion der Bevölkerung, konnte die DDR nicht verzichten. Durch gesonderte Ausbildungsprogramme, die auf den weiblichen Familienalltag abgestimmt waren, nahm sich die Frauenpolitik in den 1960er Jahren dem Problem der Doppelbelastung an.

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Heike Schmidt

Mit der Verabschiedung des Familiengesetzbuches (FGB) vom Dezember 1965 begann die gänzliche Ausrichtung der SED-Frauenpolitik auf die Familie. Das FGB machte die Gleichberechtigung zum Prinzip des gesamten Familienrechts. Für ein gewachsenes Problembewußtsein sprach die Anmerkung, die Gleichberechtigung sei nur durch eine Arbeitsteilung innerhalb der Familie erreichbar. Die bedeutende Rolle der Familie innerhalb des Staates wurde vor allem durch ihre Funktion als Sozialisationsinstanz begründet. Ab den 1970er Jahren intensivierte sich die staatliche Hinwendung zur Familie. Politische Beweggründe für die sogenannte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ von 1971 an waren im Geburtenrückgang und daraus prognostizierten zukünftigen Engpässen an Arbeitnehmern zu suchen. Unter der Regierung Erich Honeckers wurde versucht, mit Hilfe finanzieller Anreize – vom Kindergeld bis zum Ehekredit – und einem Entgegenkommen bei der Familienzeit – von der Verlängerung des Jahresurlaubs bis zum Babyjahr – die Geburtenzahlen zu erhöhen. Durch gezielte Zuweisung von begehrten Gütern, wie zinslosen Darlehen oder einer Wohnung, gelang es teilweise, Verhaltensweisen der Bürger zu verändern. Um an die Vergünstigungen zu gelangen, heirateten junge Paare und entschlossen sich oft für Kinder. Mit dem sozialpolitischen Programm der SED gelang es der Partei vorübergehend, massiven Einfluß auf die Bevölkerung zu nehmen. Gegen Ende der 1970er Jahre erhöhten sich die Geburtenzahlen infolge derartiger Anreize signifikant. In den 1980er Jahren waren keine neuen familienpolitischen Prämissen zu verzeichnen. Vielmehr handelte es sich um einen Ausbau der mit dem VIII. Parteitag 1971 begonnenen Reformen. Die SED versuchte durch eine Intensivierung der Reformen, ihren Einfluß weiter auszubauen, stieß dabei aber auf Grenzen. Nur aufgrund der Wirkungslosigkeit der Maßnahmen begann Mitte der 1980er Jahre die Hinwendung zu den grundsätzlichen Kernproblemen. Mit dem XI. Parteitag 1986 wurden rechtliche Grundlagen für eine gemeinsame Übernahme der Elternpflichten geschaffen. So war die Freistellung im Krankheitsfalle der Kinder für beide Elternteile möglich. Wie weit die damit begonnene Aufweichung der Rollenzuweisung geführt hätte, ist Spekulation. Ein Zusammenhang mit den Ende der 1980er Jahre auch in den DDR-Sozialwissenschaften einsetzenden systemkritischen Debatten läßt eine Öffnung der DDR-Frauenund Familienpolitik vermuten. In dieser Weise beurteilt Gisela Helwig die Situation: „[L]angfristig wäre womöglich doch ein Prozeß allmählicher Überwindung von Rollenklischees in Gang gesetzt worden.“78 Die SED stieß Anfang der 1980er Jahre an ihre Herrschaftsgrenzen. Ihr politischer Einfluß ließ sich nicht länger durch finanzielle Zugeständnisse aufrechterhalten. Trotz eines Zuwachses an sozialen Offerten sank beispielsweise die Geburtenzahl, und die

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Helwig (FN 77), S. 18.

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Zahl der Scheidungen stieg. Der Einfluß der Diktatur auf die individuelle Ebene schrumpfte. Die aufgewühlte Stimmung in der Bevölkerung färbte kurz vor den politischen Umwälzungen von 1989 auch auf die Wissenschaft ab. Irene Dölling, eine in der DDR angesehene Frauenforscherin,79 stellte sich dem Thema „Zur kulturellen und sozialen Situation der Frau in der DDR“ in Duisburg 1987. Sie gestand auf dem Kongreß ein, daß die für die Gleichberechtigung notwendige Einstellungsänderung praktisch nicht nur nicht stattgefunden, sondern darüber hinaus diese einseitige Ausrichtung der Sozialpolitik die Rollen eher noch verfestigt hätte.80 In der Tat zeichnete Irene Dölling damit ein sehr realistisches Bild der Lage nach über 40 Jahren sozialistischer Familienpolitik. Mit der Charakterisierung „Gleiche Rechte – doppelte Pflichten“ beschreibt Gisela Helwig bereits in der Überschrift das Grundproblem der Frauen- und Familienpolitik.81 Gegeneinander wirkten moderne Gesetze einerseits und eine strikt auf Frauen ausgelegte Familienpolitik andererseits, die nicht umsonst den lächerlich anmutenden Namen „Muttipolitik“ trug. Erst infolge des letzten Parteitages der SED 1986 erfolgte eine zaghafte Verteilung der Rechte auf beide Elternteile. Die fast ausschließliche Konzentration auf die Frau als Bezugspunkt der Familienpolitik blieb bis 1989 bestehen.

79 Irene Dölling war von 1986 an Professorin am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. 80 Vgl. Duisburger Akzente, 1987, S. 11. 81 Vgl. Gisela Helwig, Gleiche Rechte – doppelte Pflichten. Frauen in der DDR, in: Dies. (Hrsg.), Rückblicke auf die DDR, Köln 1995, S. 197–208.

Antikapitalismus gleich Extremismus? Die wirtschaftspolitische Programmatik der PDS in den sächsischen Landtagswahlkämpfen 1990 bis 2004 Von Thomas Schubert

1. Einleitung „I wonder how many leftist intellectuals prefer the socialist blueprint over the capitalist blueprint over capitalist reality over socialist reality“.1 Das Dilemma zwischen Realität und Theorie entfaltet sich wohl nirgends besser als im Bereich wirtschaftlicher Ordnungsformen und wird in Deutschland von kaum einer größeren Partei stärker und grundlegender thematisiert als von der Linkspartei.PDS. So plädierten beispielsweise im Bundestagswahlkampf 2005 die damaligen thüringischen und sächsischen Landtagsabgeordneten Bodo Ramelow und Katja Kipping für eine Abkehr von der „altlinke[n] Ideologie des Staates“ und für einen „sozialpolitische[n] Realismus“. Der Ruf der „Altlinken“ nach einem „staatlich garantierten ,Recht auf Arbeit‘“ sei genauso verbraucht und unrealistisch wie jener der „Neoliberalen“ nach einer „,Pflicht zur Arbeit‘“. Wegweisend sei hingegen eine „Grundeinkommensversicherung“, die den Menschen eine Existenz sichere und sie von der „Arbeitspflicht“ entbinde.2 Dessen ungeachtet verfocht die Linkspartei.PDS zur gleichen Zeit genau diesen „altlinken“ wirtschafts- und sozialpolitisch restaurativen Kurs einer höheren Staatsquote und Arbeitszeitverkürzungen bei Lohnausgleich.3 Die ideellen Widersprüche in der Partei dauern folglich an. Ziel dieses Beitrages ist es, die ökonomisch-konzeptionelle Entwicklung der PDS zwischen 1990 und 2004 anhand ihres mitgliedsstärksten Landesverbandes, Sachsen, zu untersuchen. Dort standen vor allem die Landtagswahlkämpfe im Zeichen einer 1 Adam Przeworski, Democracy and the market. Political and economic reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991, S. 103. 2 Vgl. Katja Kipping/Michael Opielka/Bodo Ramelow, Sind wir hier bei Wünsch dir was? Thesen für einen Sozialstaat. Sozialpolitischer Realismus statt Markt- und Staatsideologie, o. O. August 2005. 3 Vgl. Wahlprogramm der Linkspartei.PDS, Für eine neue soziale Idee, beschlossen auf der 2. Tagung des 9. Parteitages am 27. August 2005.

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programmatischen Neu- bzw. Umorientierung, bei welcher die „altlinke“ Forderung nach einem verfassungsmäßigen Recht auf Arbeit durchweg von Bedeutung war. Die zentralen Fragen lauten daher: Welche wirtschaftspolitische Konzeption vertrat die sächsische PDS in den Landtagswahlkämpfen seit 1990? Wie äußerte sie sich gegenüber der DDR-Zentralverwaltungswirtschaft und der bundesdeutschen Sozialen Marktwirtschaft? Gefährden ihre wirtschaftspolitischen Mittel und Ziele, speziell ihr Eigentums- und Freiheitsverständnis, den demokratischen Verfassungsstaat? Kapitel 2 beleuchtet das Verhältnis von marktwirtschaftlicher Ordnung und demokratischem Rechtsstaat und prüft, inwieweit antikapitalistische Ausrichtungen zugleich extremistisch sind. Kapitel 3 rekonstruiert die wirtschaftspolitischen Konzeptionen der PDS in den vier sächsischen Landtagswahlkämpfen anhand ihrer Wahlkampfprogrammatik. Dabei plädiert das Unterfangen keinesfalls auf Vollständigkeit, da in der Betrachtung sowohl die realisierte Politik der Partei auf Landes- oder Kommunalebene als auch die kurz- und mittelfristigen programmatischen Details, etwa zur Struktur- und Arbeitsmarktpolitik, unberücksichtigt bleiben müssen. Dennoch sollten es die Landtagswahlkämpfe erlauben, die programmatische Entwicklung systematisch nachzuvollziehen, erfordert doch jede Wahl eine inhaltliche Standortbestimmung. Zudem drücken programmatisch orientierte Parteien wie die PDS in ihren Wahlplattformen deutlich politische Prinzipien aus.4 Hinzu kommt, daß die Wahlkampfargumentation einer strukturellen Oppositionspartei Parteipositionen weitgehend unverfälscht widerspiegelt.5 Abschnitt 4 vergleicht die programmatische Entwicklung und beantwortet die zentralen Fragen. Die Schlußbetrachtung faßt die wichtigsten Erkenntnisse zusammen.

2. Theoretische Vorbetrachtungen a) Die Symbiose von Demokratie und Marktwirtschaft So wie die enge Wechselbeziehung von Staat und Wirtschaft als ungeschriebenes Gesetz gilt, ist die Abhängigkeit zwischen Wirtschafts- und Politikform empirisch eindeutig belegt, theoretisch jedoch umstritten. Während demokratische Systeme eine prosperierende Wirtschaftsordnung benötigen,6 wirken, gleichsam im Gegenzug, politisch-institutionelle Variablen, wie Verfügungs4 Vgl. Hans-Dieter Klingemann/Andrea Volkens, Struktur und Entwicklung von Wahlprogrammen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1998, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, 2. Aufl., Bonn 2001, S. 509. 5 Siehe Klaus König, Der Regierungsapparat bei der Regierungsbildung nach Wahlen, in: Hans-Ulrich Derlin/Axel Murswieck (Hrsg.), Regieren nach Wahlen, Opladen 2001, S. 23.

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rechte über wirtschaftliches Eigentum (property rights), wirtschaftliche Freiheitsrechte sowie institutionelle Gewaltenteilung, positiv auf die ökonomische Entwicklung eines Gemeinwesens.7 Obwohl wirtschaftliche Freiheitsrechte nicht zwingend politische Freiheitsrechte erfordern, beweist die Staatenwelt die Symbiose zwischen demokratischem Rechtsstaat und Marktwirtschaft sowie die Unvereinbarkeit kollektivistischer Ordnungen mit einem demokratischen Rechtsstaat.8 Nicht nur, daß alle westlichen Demokratien ausschließlich über Wettbewerbsordnungen verfügen; es existieren klare Zusammenhänge zwischen demokratischer Staatsform und Privateigentum sowie zwischen Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftlicher Entwicklung. Auf den Punkt gebracht: „Marktwirtschaft ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Demokratie; umgekehrt ist die Demokratie eine hinreichende Bedingung der Marktwirtschaft“.9 Aus diesem Grund ist die Verbindung von freiheitlichem Verfassungsstaat und Marktwirtschaft „Vorbedingung für jede andere Freiheit“.10 Das „System des Privateigentums“ und die darauf basierende Wettbewerbsordnung trennen im Grundsatz, so Friedrich A. Hayek und Milton Friedman, wirtschaftliche und politische Macht und garantieren politische Freiheit.11 Daraus resultiere vor allem der zentrale Konflikt zwischen zentral-geplanter Wirtschaft und Demokratie, da mit einer totalen staatlichen Lenkung des Wirtschaftslebens die Unterdrückung der Freiheit und damit der Demokratie einhergeht.12 Eine sozialistische Gesellschaft könne nicht zugleich demokratisch sein und persönliche

6 Grundlegend: Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, New York 1963, S. 31; desweiteren exemplarisch Adam Przeworski, Democracy and Development. Political Institutions and Well-Being in the World, 1950–1990, Cambridge 2000; Johannes Berger, Die Wirtschaft der modernen Gesellschaft. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 131–154. 7 Vgl. Herbert Obinger, Politik und Wirtschaftswachstum. Ein internationaler Vergleich, Wiesbaden 2004, S. 89–130, 228 f. 8 Vgl. folgende Indizes: The Heritage Foundation (Hrsg.), 2006 Index of Economic Freedom (IEF), Washington 2006; Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2003. Politische Gestaltung im internationalen Vergleich, Gütersloh 2004. Wilhelm Röpke bestätigte bereits in den 1960er Jahren die bis heute gültige Unvereinbarkeit von Kollektivismus und freiheitlichem Rechtsstaat. Eine „ökonomische Diktatur“ ziehe zugleich eine „politische Diktatur“ nach sich. Vgl. Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, 13. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien 1994, S. 307–309, 323 f. 9 Gerhard Schwarz, Marktwirtschaft und Demokratie – ein Kuppelprodukt?, in: informedia-Stiftung. Gemeinnützige Stiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik (Hrsg.), Demokratie und Marktwirtschaft – ein Kuppelprodukt?, Köln 1989, S. 157 f. 10 Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 2003, S. 134. 11 Vgl. ebd., S. 138; vgl. Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, München 2004, S. 31 f. 12 Vgl. Hayek (FN 10), S. 99.

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Freiheiten garantieren.13 Besonders bei den Faktoren Eigentumsfreiheit und Handlungsfreiheit handelt es sich um existenzielle Prinzipien einer Wettbewerbsordnung, die jedoch in letzter Konsequenz der Kontrolle durch die Konkurrenz sowie der Begrenzung durch den Staat bedürfen.14 Daher, so Walter Eucken, komme der Steuerung in der Wettbewerbsordnung die entscheidende Funktion zu, da nur dort die Wirtschaftspolitik Garant und Regulator der freien Ordnung sein könne. Hingegen zerstöre die „Zentralverwaltungswirtschaft“ durch ihren politischen Dirigismus sowohl die „Freiheitssphäre“ von Unternehmen und Arbeitnehmern als auch den Rechtsstaat.15 Somit zeigt sich die Soziale Marktwirtschaft16, eine „konstruktive Synthese“ zwischen freiheitlicher Ordnung und sozialem Schutz, Lösungsformen wie dem „freiheitlichen Sozialismus“ oder dem „Liberalismus im alten Sinne“17 überlegen, so Alfred MüllerArmack. Ihre unerläßlichen Grundvoraussetzungen sind freie Konsumwahl, Wettbewerbsfreiheit, freie Nutzung des Eigentums, Berufsfreiheit sowie Koalitionsfreiheit.18 Deshalb benötigt „Demokratie Marktwirtschaft als die sie ergänzende Wirtschaftsordnung“.19 Neben der formellen Rechtssicherheit bildet, so ClemensAugust Andreae, vor allem der materielle Rechtsstaat den Nabel der Demokratie und die Bedingung für eine funktionierende marktliche Wirtschaftsordnung. Er garantiert zwei zentrale Grundwerte beider Ordnungsformen; Freiheit im Sinne der eigenständigen Auswahl der angestrebten Ziele und Mittel; Gleichheit in ihrer Ausprägung universal gültiger Gleichheitsrechte gegenüber dem Staat. Gleichheit als „Nivellierung der Menschen“ zerstöre hingegen jegliche demokratischen Freiheitsrechte.20 Dies berechtigt Andreae zu der Schlußfolgerung: „Da auf wirtschaftlicher Ebene Freiheit nur in einer auf Privateigentum basierenden Marktwirtschaft verwirklicht werden kann, braucht eine Demokratie Marktwirtschaft“.21 Dagegen beschneiden Forderungen nach einer egalisierten 13

Vgl. Friedman (FN 11), S. 30. Vgl. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl., Tübingen 2004, S. 190 f., 269–275. 15 Vgl. ebd., S. 126–129. 16 Ausführlich dazu Friedrun Quaas, Soziale Marktwirtschaft. Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts, Bern/Stuttgart/Wien 2000. 17 Alfred Müller-Armack, Die Soziale Marktwirtschaft nach einem Jahrzehnt ihrer Erprobung, in: Ders. (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg i.B. 1966, S. 261. 18 Vgl. dazu Christoph Heusgen, Ludwig Erhards Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft. Ursprünge, Kerngehalt, Wandlungen, Bern/Stuttgart 1981, S. 156–170. 19 Clemens-August Andreae, Demokratie und Marktwirtschaft – ein Kuppelprodukt?, in: informedia-Stiftung. Gemeinnützige Stiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik (Hrsg.), Demokratie und Marktwirtschaft – ein Kuppelprodukt?, Köln 1989, S. 22. 20 Vgl. ebd., S. 17–19. 14

Antikapitalismus gleich Extremismus?

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Gesellschaft die individuellen Freiheiten und führen zu einer Einschränkung bzw. Abschaffung der Wettbewerbsordnung, was sich, wie gezeigt, negativ auf den demokratischen Verfassungsstaat auswirkt.22 b) Antikapitalismus: Merkmal für politischen Extremismus? Auf dem Beziehungszusammenhang von Freiheit, Gleichheit und demokratischem Rechtsstaat fußt die normative Extremismustheorie. Sie definiert politischen Extremismus in seiner Totalität als Antithese zum Typus des demokratischen Verfassungsstaates.23 Als einen zentralen Bestandteil dieses Staates apostrophiert sie, in Anlehnung an Ernst Fraenkels Pluralismustheorie, den „Pluralismus der Interessen“, der u. a. die Möglichkeit zur Bildung wirtschaftlicher, untereinander konkurrierender Interessensgruppen beinhaltet. In einer konstitutionellen, gewaltenteilenden, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie bedingt der Schutz der bürgerlichen Freiheit die Anerkennung einer „naturgegebenen Vielfalt von Interessen, Meinungen und Überzeugungen“. Ein a priori festgelegtes Gemeinwohl ist mit dem konkurrenztheoretischen Grundgedanken unvereinbar, entsteht es doch erst aus dem demokratischen Prozeß heraus.24 So überträgt der Linksextremismus das Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und überlagert dadurch die individuelle Freiheit. Zum Ausdruck kommt dies u. a. in der „normative Überdehnung“ des Demokratiebegriffs und dem Verlangen nach einer „Demokratisierung aller Lebensbereiche“.25 Das Streben nach einer so definierten demokratischen Gesellschaftsform negiert daher unweigerlich den für den demokratischen Verfassungsstaat existentiellen Interessenpluralismus. Positiv determinieren sich extremistische Bestrebungen sowohl durch ein handlungsweisendes Spektrum „politischer Doktrinen“ (z. B. Kommunismus,

21

Ebd., S. 23. Vgl. Erich Weede, Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Zur Soziologie der kapitalistischen Marktwirtschaft und der Demokratie, Tübingen 1990, S. 129. 23 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten, Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 87 f.; zur Etymologie siehe ders., Politische Extremismen – Begriffshistorische und begriffssystematische Grundlagen, in: Ders./Eckhard Jesse (Hrsg.), Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2006, S. 17–40. 24 Ders./Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 38 f. Gemeinwohl ist nach Ernst Fraenkel „keine soziale Realität, sondern eine regulative Idee“. Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Aufl., Stuttgart u. a. 1974, S. 42. 25 Vgl. Backes/Jesse (FN 24), S. 45; dies., Demokratie und Extremismus. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar, in: Dies. (Hrsg.), Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, S. 60. 22

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Nationalismus) als auch anhand typischer Strukturmuster (Absolutheitsansprüche, Dogmatismus, Utopismus, Freund-Feind-Stereotype, Verschwörungstheorien, Fanatismus und Aktivismus).26 Dem Element des Utopismus obliegt vor allem in linksextremistischen Ideologien eine Kernfunktion.27 Utopistische Strömungen versuchen, so Uwe Backes, den gesellschaftlichen Wandel nicht als evolutionär und institutionell kanalisiert zu begreifen, sondern ihn „in Richtung auf ein bestimmtes Fernziel zu beschleunigen“. Entgegen der – vermeintlich – fehlerhaften und kriselnden realen Gesellschaft basiert die utopische Alternative auf „Zukunftsentwürfen eines glücklichen Idealzustandes“, den es zu realisieren gilt.28 Im Geiste von Friedrich A. Hayeks Mittel-Ziel-Unterscheidung beim Sozialismusbegriff erachtet Jürgen P. Lang weniger die Ziele utopistischer Doktrinen als vielmehr deren Mittel als „zutiefst undemokratisch“.29 Vor diesem Hintergrund zeichnet alle Linksextremisten eine antikapitalistische Grundhaltung aus, die in der „,kapitalistischen Klassengesellschaft‘ die Wurzel allen Übels“30 erkennt. Während die Auswirkungen, welche sich aus der Abschaffung der Wettbewerbsordnung für den demokratischen Verfassungsstaat ergeben eindeutig sind, ist es in der Politikwissenschaft umstritten, ob eine antikapitalistische Doktrin als extremistisch gelten kann. Zwar sei „die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft“ das erklärte „Ziel aller Linksextremisten“, daß „antikapitalistisch [. . .] zwangsläufig antidemokratisch bedeutet“ jedoch zu bezweifeln, so Tom Thieme.31 Für Gero Neugebauer ist fraglich, ob die „antikapitalistische Grundorientierung“ des Linksextremismus „per se mit demokratischen Strukturen unvereinbar ist“. Er hält eine „pauschale Charakterisierung der Kapitalismuskritik als antidemokratisch“ für ungerechtfertigt.32 Richard Stöss unterscheidet grundsätzlich in antidemokratische und antikapitalistische Parteien, wobei letztere nicht die Beseitigung der demokratischen Ordnung 26

Vgl. Backes (FN 23), S. 103 f., 289–318. Vgl. Jürgen P. Lang, Ist die PDS eine demokratische Partei? Eine extremismustheoretische Untersuchung, Baden-Baden 2003, S. 51. 28 Vgl. Backes (FN 23), S. 302–304. 29 Lang (FN 27), S. 51. Für Hayek bringen besonders die zur sozialistischen Zielerreichung vorgesehenen Mittel, wie Verstaatlichung der Produktionsmittel, und nicht die am Gerechtigkeits- und Gleichheitsideal orientierten Ziele den Sozialismus in scharfen Gegensatz zu freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen. Vgl. Hayek (FN 10), S. 54 f. 30 Eckhard Jesse, Art.: Linksextremismus, in: Everhard Holtmann, unter Mitarbeit von Heinz Ulrich Brinkmann und Heinrich Pehle (Hrsg.), Politik-Lexikon, 2. Aufl., München 1994, S. 340. 31 Tom Thieme, Jenseits politischer Richtungsbegriffe?, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 17, Baden-Baden 2005, S. 56 f. 32 Gero Neugebauer, Extremismus-Rechtsextremismus-Linksextremismus, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 13–37, hier S. 22. 27

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verfolgten. Sie strebten „lediglich“ nach einer „Beseitigung der Klassengesellschaft“ mit dem „Ziel der sozialistische[n] Transformation der Produktionsverhältnisse“ und seien daher reformorientiert; antikapitalistisch könne nicht als antidemokratisch gelten.33 Einen Zusammenhang zwischen antikapitalistisch und antidemokratisch meidet Stöss.34 Mit Blick auf die PDS ist deren Antikapitalismus wie eine damit verbundene extremistische Ausrichtung umstritten. Manfred Gerner bemerkt, daß das Grundgesetz keine Wirtschaftsordnung festschreibt, weshalb für die PDS ein Prädikat extremistisch aufgrund ökonomischer Vorstellungen „wenig überzeugend“ sei.35 Vielmehr verursache die innerparteiliche Heterogenität der Partei Widersprüche und konfuse Programmaussagen. Die frühe Programmatik zeuge nicht von einer bewußten antidemokratischen Haltung. Das fehlende Bekenntnis zu einer konkreten Wirtschaftsordnung und die „Gegnerschaft zur kapitalistischen Gesellschaft“ basierten in erster Linie auf innerparteilichen Flügelkämpfen.36 Während für Armin Pfahl-Traughber eine kapitalismuskritische Auseinandersetzung keinesfalls zwangsläufig gegen den demokratischen Verfassungsstaat steht, sei im Falle der Postkommunisten Vorsicht geboten. Sie erachteten den Kapitalismus „monokausal und stereotyp“ als ihren „Hauptfeind“ und machten ihn für alle Probleme verantwortlich.37 Ebenso sieht Viola Neu in der Kapitalismuskritik das „zentrale ideologische Band“ der Partei. Das Feindbild des Kapitalismus diene ihr als „zentrale Legitimationsbasis für die Überwindung des politischen Systems“.38 Die Partei negiere durch ihren Antikapitalismus die damit verbundene Gesellschaftsform. „Die ,herrschenden Verhältnisse‘ seien antidemokratisch, weil kapitalistisch, und müssen daher durch die ,sozialistische Demokratie‘ ersetzt werden“.39 Für Patrick Moreau führte die PDS in den 1990er 33 Vgl. Richard Stöss, Einleitung. Struktur und Entwicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik – Eine Theorie, in: Ders. (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 1: AUD bis CDU, Opladen 1986, S. 159–162. 34 So Isabelle Canu, Der Streit um den Extremismusbegriff in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, München 1997, S. 113 f. 35 Vgl. Manfred Gerner, Widerspruch und Stagnation in der PDS. Zu Politikfähigkeit der SED-Nachfolgeorganisation, in: Zeitschrift für Politik 45 (1998), S. 168 f. Zum Verhältnis Grundgesetz-Wirtschaftsordnung siehe Ernst Benda, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: Roland Vaubel/Hans D. Barbier (Hrsg.), Handbuch Marktwirtschaft, Pfullingen 1986, S. 144–149. 36 Vgl. Gerner (FN 35), S. 161, 169. 37 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Wandlung zur Demokratie? Die programmatische Entwicklung der PDS, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 367. 38 Viola Neu, Das Janusgesicht der PDS. Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, Baden-Baden 2004, S. 172 f. 39 Dies., Das neue PDS-Programm aus dem Jahr 2003, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 16, Baden-Baden 2004, S. 167.

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Jahren einen „Kampf gegen die Demokratie“40 und einen „Kampf gegen den Kapitalismus“.41 Zu ihrem linksextremistischen Credo zählte laut Moreau u. a. die Forderung nach Überwindung der kapitalistischen Herrschaftsordnung, weshalb die programmatischen Inhalte der PDS „undemokratische Zukunftsprojekte einer totalitären Vision“ darstellten.42 Ihre ökonomischen Forderungen liefen auf eine „schleichende Kollektivierung“ der Wirtschaft hinaus und machten die Partei in der Summe zu einer „linksextremistischen Anti-System-Partei“.43 Später kommt er zu dem Schluß, die PDS sei eine „radikale Antisystempartei mit extremistischem Ansatz“, deren „aktuelle[r] Antikapitalismus“ auf einem „marxistischen Verständnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte“44 basiere. Folglich kommt den Faktoren Eigentums- und Handlungsfreiheit aufgrund des erläuterten Kausalnexus von Wettbewerbsordnung und demokratischem Verfassungsstaat gesonderte Bedeutung zu. Speziell der Interessenpluralismus widerstrebt einem vorbestimmten Gemeinwohl oder einem nivellierten Gleichheitsanspruch. Utopistische Doktrinen erweisen sich im Falle einer vorsätzlich angestrebten Beseitigung der Wettbewerbsordnung zugleich als Eingriff in die Fundamente des demokratischen Verfassungsstaates. Die Ablehnung einer marktwirtschaftlichen Ordnung und die Überwindung der damit verbundenen Gesellschafts- und Staatsform zeigt sich nicht nur vor dem Interpretationshorizont, daß Kapitalismus zugleich gesellschaftliches Paradigma sei, sondern vor allem aufgrund der Negation essentieller Eigentums- und Freiheitsrechte als partielle Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates. Somit bemängelt eine kapitalismuskritische Haltung die pauperistischen Folgen eines monopolistischen Laissez-faire-Kapitalismus, hält allerdings an den Grundlagen der Wettbewerbsordnung fest und fordert Lenkungs- sowie Ausgleichsmechanismen. Eine antikapitalistische Grundhaltung hingegen lehnt die Konzeption einer Wettbewerbsordnung in weiten Teilen bzw. in Gänze ab und begründet dies neben praktischen Defiziten vor allem mit einer besseren, utopischen Ordnungsvorstellung. Hinterfragt die kritische Sichtweise lediglich immanente Schwächen und widrige Auswirkungen, attackiert die negierende Sichtweise die Ordnung selbst.

40 Patrick Moreau, Delegitimierung und Destabilisierung – Parteiapparat und Bündnispolitik der PDS, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 5, Bonn 1993, S. 155. 41 Ders., in Zusammenarbeit mit Jürgen P. Lang und Viola Neu, Was will die PDS?, Frankfurt a. M./Berlin 1994, S. 67. 42 Ders., Die PDS: Profil einer antidemokratischen Partei, München 1998, S. 54. 43 Ebd., S. 71, 283. 44 Ders., Politische Positionierung der PDS – Wandel oder Kontinuität?, München 2002, S. 309, 315.

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3. Die PDS im Landtagswahlkampf a) 1990 – „Existenzsicherung“ Im Vorfeld der ersten Landtagswahl 1990 fiel die ökonomische Bestandsaufnahme der Postkommunisten dürftig aus. Seit dem Herbst 1989 habe sich die Chance einer demokratischen Erneuerung ergeben, weshalb man „aktiv zur Überwindung der von der SED verschuldeten Mißstände“ und zur „Tilgung der Schuld der SED“ beitragen werde. Man wolle die „gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR kritisch aufarbeiten“ und die „Traditionen, Werte und Leistungen Sachsens“ weiterführen.45 Dabei warnte der PDS-Landesvorsitzende Klaus Bartl, ehemaliger Abteilungsleiter Staat und Recht der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, vor einer „Kolonialisierung der DDR-Bevölkerung“46 im Zuge der deutschen Einheit. Der Übergang von Plan- zu Marktwirtschaft gestalte sich als „Eroberung des DDR-Marktes durch westliche Monopole“.47 Um diese Umstellung nicht allein dem Markt zu überlassen, forderte der Spitzenkandidat Eberhard Langer von der Bundesregierung ein Konzept, „in welche Richtung die Wirtschaft [. . .] entwickelt werden soll“. Besonders die Kernindustriezweige der DDR, wie Werkzeugmaschinenbau oder Mikroelektronik, dürften „nicht dem absolut freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte überlassen werden“.48 Sie müßten effektiver als bisher arbeiten und seien zu „Hochtechnologiezentren“49 auszubauen. Zudem seien die neuen Bundesländer stärker an den Gewinnen zu beteiligen, welche die „westdeutsche Industrie“ auf ihre Kosten erziele.50 Nach Aussage Bartls bekannte sich die PDS zur Marktwirtschaft. Allerdings sei diese „von Natur aus weder sozial, noch demokratisch, noch ökologisch. Ein sozialer Charakter, das zeigt die Geschichte der BRD, muß ihr durch die starke

45 Wahlprogramm der sächsischen PDS zur Landtagswahl 1990, Für ein demokratisch und sozial gerechtes Sachsen, S. 1; Wahlkampfbroschüre: Auszüge aus dem Wahlprogramm der linken Liste-PDS; Redemanuskript des sächsischen Landesvorsitzenden der PDS Klaus Bartl für die Landesdelegiertenkonferenz vom 28. Juli 1990, S. 5 f., 10. 46 Interview mit Klaus Bartl, in: Hannes Haferkorn, Der objektive Bürger wird eine starke Opposition honorieren, in: Sächsische Zeitung (SZ) vom 20. August 1990. 47 Wahlprogramm (FN 45), S. 3. 48 Interview mit Eberhard Langer, in: Elke Schmidtke, Sachsen soll wieder ein sozial gerechtes Land werden, in: Neues Deutschland (ND) vom 11. Oktober 1990. 49 Vgl. Interview mit Eberhard Langer, in: Martin Fiedler/Harald Lachmann, In Sachfragen den Parteienzwist vergessen, in: Leipziger Volkszeitung (LVZ) vom 11. Oktober 1990. 50 Vgl. Interview mit Eberhard Langer, in: Heiko Hößler, Rolle der Basisdemokratie in Verfassung definieren, in: Freie Presse (FP) vom 10. Oktober 1990.

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Präsenz linker Bewegungen aufgeprägt werden“.51 Unter den zukünftigen Bedingungen von „bürgerliche[r] Demokratie und kapitalistische[r] Marktwirtschaft“ erfordere die Interessenvertretung der „Werktätigen“ „starke und kompetente linke Kräfte“. Nur dann könne Marktwirtschaft „sozial vernünftig“ gestaltet werden. Daher trat die PDS in einer „demokratisch mitbestimmten und ökologisch verträglichen Wirtschaft“ besonders für eine starke Rolle der Gewerkschaften und Betriebsräte ein.52 Da die Bundesgesetze „nicht in jeder Beziehung“53 einen Rückschritt darstellten, sondern auch Sicherheiten enthielten, wollte man mit den „Arbeitenden“ zusammen Lösungsvorschläge entwerfen.54 Der spätere Landesvorsitzende Peter Porsch stellte die ordnungspolitische Frage gezielter: „Sollte man da nicht gleich beim Wirtschaften so einsteigen, daß möglichst wenig abzufedern ist? Das könne auch derart getan werden, daß man dem privaten, dem genossenschaftlichen, dem gesellschaftlichen und dem kommunalen Eigentum gleichermaßen Chancen gibt.“55 Zwar sprach Porsch von einer motivierenden Rolle des Eigentums, jedoch sei es „illusionär, daß die einzige Form der Mitbestimmung darin besteht, daß wir alle Eigentümer sind. [. . .] Ein ordentliches, paritätisches Mitbestimmungsmodell würde einen sehr starken Motivationsschub ausüben – auch auf die Leute, die nicht Kapitaleigner sind.“56 Für die zukünftige sächsische Verfassung setzte die PDS daher folgende Schwerpunkte: „vielfältige politische Beteiligungsrechte“ für Bürger, die „Anerkennung der Öffentlichkeit als vierte Gewalt“ sowie die „Garantie aller Menschenrechte“, insbesondere ein „Recht auf Arbeit und Arbeitsförderung“.57 b) 1994 – „Recht auf Arbeit“ „Nach gewaltigem Versagen in eigener Regierungsverantwortung“58 sah sich die Partei 1994 als linke Oppositionspartei, mit dem Ziel, „die Kolonisation des Ostens“ zu korrigieren. Die „Ansprüche des Herbstes ’89“ seien eingefroren und die Demokratie „unter der Alleinherrschaft einer Partei entartet“.59 Daher 51 Interview mit Klaus Bartl (FN 46). In der Wahlprogrammatik fehlt indes eine explizite Haltung zur Marktwirtschaft. 52 Wahlprogramm (FN 45), S. 2. 53 Interview mit Eberhard Langer (FN 49). 54 Vgl. Wahlprogramm (FN 45), S. 4. 55 Peter Porsch in: Edith Gierth, Spitzenpolitiker für den sächsischen Landtag, in: SZ vom 24. September 1990. 56 Ebd. 57 Wahlprogramm (FN 45), S. 2. 58 Klaus Bartl zitiert nach: dpa/sn, PDS-Fraktionschef: Opposition tut uns gut, in: Dresdner Neueste Nachrichten (DNN) vom 27./28. August 1994. 59 Leben in Menschenwürde. Programm der PDS Sachsen (Kurzfassung), Dresden 1994; Programm der PDS Sachsen beschlossen am 6. März 1994 auf dem 3. Landesparteitag der sächsischen PDS in Markkleeberg. Leben in Menschenwürde, S. 1 f.

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erschöpfte sich die ökonomische Bestandsaufnahme der PDS in Fundamentalkritik an der Regierung. Die Politik der Staatsregierung sei nicht an der negativen „Hypothek der untergegangenen DDR“, sondern an deren Realitätsferne gescheitert.60 Sie habe „Vulgärökonomie in Reinkultur“ betrieben und mit ihrem Kabinett „große Teile des ehemaligen Wirtschafts- und Wissenschaftspotentials des Landes vernichtet“.61 Um diesen Kurs zu korrigieren, forderte die PDS „radikale Reformen“, wie zum Beispiel eine sogenannte „Investitionshilfeabgabe“ von westdeutschen Unternehmen zur Finanzierung der sächsischen Strukturentwicklung.62 In ihren Ordnungsvorstellungen zeigten sich die Postkommunisten nebulös.63 Laut Vorfeldplanung sollte im Wahlkampf u. a. die „Überwindung der ideologischen Marktillusionen und Durchsetzung einer aktiven staatlichen und gesellschaftlichen Struktur- [. . .] und Arbeitsmarktpolitik“ sowie die „Entwicklung des antikapitalistischen, sozialistischen Profils der PDS“ vertreten werden, und zwar mit dem langfristigen Ziel, „den kapitalistischen Charakter der BRD-Gesellschaft zu überwinden“.64 So verkündete die Partei: „Uns als PDS ist klar, daß wir linke Politik auf der Basis eines ökonomischen Systems versuchen, das in seiner Eigentums- und Verteilungsordnung ungerecht und in seinen Grundsätzen unsozial ist. Dies hat, trotz des demokratischen politischen Systems, gravierende Auswirkungen auf unsere politischen Möglichkeiten und unser politisches Handeln.“65 Porsch untermauerte die negative Sichtweise auf die amtierende Wirtschaftsordnung wie folgt: „Daß die soziale Marktwirtschaft in unserem Programm nicht auftaucht, kann ich weder leugnen noch bestätigen.“ Zwar mag das eine oder andere im Wahlprogramm „Illusion oder Vision“66 sein, jedoch könne nur eine phantasievolle Politik „der Wirtschaft ein konstruktiver Wider-

60 Programm (FN 59), S. 1. Die Landtagsfraktion vertrat die Ansicht: „Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit sind nicht primär das Ergebnis der Rückstände der DDR-Wirtschaft“, sondern vielmehr das einer „marktradikalen Politik“ der Bundesregierung. Vgl. Fraktion LL/PDS im Sächsischen Landtag (Hrsg.), Ein anderer Sozialreport, Dresden 1994, S. 5. 61 Rede von Klaus Bartl vor dem Sächsischen Landtag am 24. Juni 1994, in: Drucksache 1/4827 des Sächsischen Landtages, S. 7053 f. 62 Programm (FN 59), S. 2, 6. 63 Das interne Diskussionsangebot der Landtagsfraktion zur Erarbeitung eines Wahlprogramms brachte es auf den Punkt: „Die PDS verfügt über kein fertiges Gesellschaftsmodell“. Man wolle „grundsätzlich andere Wege und Gestaltungen einer demokratischen Gesellschaft“. Vgl. Fraktion LL/PDS im Sächsischen Landtag (Hrsg.), Diskussionsangebot zur Erarbeitung eines Wahlprogramms, Dresden 1993, S. 1 f. 64 Ronald Weckesser, Überlegungen zur Wahlvorbereitung, in: PDS-informationsdienst 9/1993, S. 6 f. 65 Brief des PDS-Landesverbandes an die Bürger und Bürgerinnen Sachsens, Dresden 1994. 66 Peter Porsch, in: Anita Kecke/Andreas Wassermann, Forum unserer Zeitung zur Landtagswahl, in: LVZ vom 1. September 1994.

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part sein“.67 Der Spitzenkandidat und Parteivorsitzende zeigte sich zudem sicher, „daß in einigen Jahren das Wirtschaften so nicht mehr möglich ist, und sich das Eigentum seiner sozialen Verantwortung bewußt wird“.68 Aus diesem Grund starteten die Postkommunisten pünktlich zu Beginn der heißen Wahlkampfphase ein Volksbegehren für ein verfassungsmäßiges „Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung“.69 Man habe zwar „durch den Anschluß der DDR an die BRD [. . .] politische Rechte und Freiheiten erworben, aber zugleich soziale Grundrechte verloren“.70 Die in der Verfassung als Staatsziel gehandhabten Rechte sollten so zu sozialen, für jedermann einklagbaren Grundrechten werden.71 Da Arbeit „Selbstverwirklichung“ sei, gelte es, durch einen „grundsätzlichen arbeits- und wirtschaftspolitischen Kurswechsel“ der zunehmenden Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit zu begegnen72 – daher lautete die Forderung: „Arbeit und gerechte Bezahlung für alle!“73 Im Gegensatz zu privater Arbeitsvermittlung und „staatlich verordneter Zwangsarbeit“ sollten mittels „Kontrolle, Regulierung und Förderung des Arbeitsmarktes“74 500.000 Arbeitsplätze in fünf Jahren geschaffen werden, finanziert durch höhere Neuverschuldung und Vermögenseingriffe.75 Eigentum sei schließlich sozialpflichtig. c) 1999 – „Partei des Demokratischen Sozialismus“ 1999 gab sich die PDS erstmals als regierungswillige Oppositionspartei und „zuvörderst für Kontrolle und Kritik“ an der CDU-Regierung zuständig. Dabei wollte Porsch „Fortschritte und Erfolge der letzten Jahre nicht leugnen“, jedoch erkenne er keine blühenden Landschaften.76 Vielmehr sei das bisherige „neoliberale“ Konzept der Staatsregierung für die Wachstumsschwäche der sächsischen Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich. Man könne 67 Peter Porsch, in: Kerstin Eckstein u. a., Wann wird Sachsen Irland überholen?, in: SZ vom 26. August 1994. 68 Ders., in: Kecke/Wassermann (FN 66). 69 Programm lautet die Forderung: „Recht auf Arbeit“ bzw. „Recht auf Arbeit und Arbeitsförderung“, S. 3, 5. 70 Leben in Menschenwürde (FN 59). Für die PDS war 1994 klar: „In der DDR war das Recht auf Arbeit verwirklicht.“ Fraktion LL/PDS im Sächsischen Landtag (FN 60), S, 5. 71 Vgl. dpa/sn, PDS startet Volksbegehren zur Verfassungsänderung, in: LVZ vom 10. August 1994. 72 Programm (FN 59), S. 5. 73 Handzettel der PDS zur sächsischen Landtagswahl 1994. 74 Programm (FN 59), S. 7. 75 „Wenn die Vermögen um zwei bis drei Prozent schrumpfen, dann merken das die Eigentümer gar nicht.“ Peter Porsch zitiert nach: Christian Kerl, Sachsens PDS auf Opposition eingestellt, in: FP vom 25. August 1994. 76 Rede von Peter Porsch vor dem Sächsischen Landtag am 24. Juni 1999, in: Plenarprotokoll des 2/105 des Sächsischen Landtages, S. 7734.

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heute kaum noch alles „Mangelhafte, Kritikwürdige“ auf die DDR schieben. Wer dies dennoch tue, täusche über „die selbst verursachten Probleme und Mängel hinweg, einzig mit Ideologie, ohne Konzept“.77 Um den Vergleich mit der Ausgangslage vor 1990 zu meiden, engte die PDS den Bilanzzeitraum auf die 2. Legislaturperiode ein. Die Politik der „herrschenden Partei“78 habe auf allen wichtigen Politikfeldern versagt, die CDU sei eine „Magd der Wirtschaft“.79 Die „staatlich betriebene Deindustrialisierung“ habe Sozialabbau und „den Rückzug aus der Beschäftigungspolitik“ zur Folge.80 Den „Kristallisationskern“ im „Widerstand gegen diese neoliberale Politik“ verkörpere die PDS.81 Insbesondere rechnete die Partei damit, daß sich das „Soziale zum entscheidenden Auseinandersetzungsfeld der kommenden Jahre“82 entwickelte und ins „Zentrum der Politik“83 gehörte. Nach Meinung der Postkommunisten hätten die Sozialdemokraten unter Gerhard Schröder viele ihrer sozialpolitischen Positionen verlassen, was der PDS eine inhaltliche Lücke biete. Sie forderten daher die „Modernisierung statt [den] Abbau des Sozialstaates“84 und standen für „die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit“ und „gleichwertige Lebensbedingungen in allen Regionen des Landes“.85 Man sei „eine sozialistische Partei“ mit dem „Ziel einer solidarischen Gesellschaft“.86 Während es 1990 um die „Rettung der Idee des demokratischen Sozialismus“ ging und die PDS wissen wollte, „wie man mit dieser Vision in der neuen Gesellschaft politikfähig“ wird, habe man inzwischen analysiert, „warum der Sozialismus beim ersten Mal so jämmerlich gescheitert“ sei und „wirkliche Alternativen“ erdacht.87 „Ein demokratischer Sozialismus müßte sich in der Dialektik von Eigeninteresse und Solidarität entwickeln [. . .] Der Schwerpunkt auf der Konkurrenzseite führt heutzutage zu massenhaften Verstößen gegen dieses Prinzip.“88 Darüber hinaus könne die Politik „auf der Basis des Grundgeset77 Rede von Peter Porsch auf der 3. Tagung des 5. Parteitages der PDS-Sachsen am 10. April 1999, S. 10. 78 Wahlprogramm der sächsischen PDS zur Landtagswahl 1999. Ein Land für die Menschen. Veränderungen beginnen vor Ort, S. 2. 79 Rede von Peter Porsch auf einer Wahlkampfveranstaltung in Wurzen am 11. September 1999. Tonbandmitschnitt zur Verfügung gestellt von Wolfgang Luutz. 80 Wahlprogramm (FN 78), S. 2. 81 Interview mit Peter Porsch, in: Ralf Hübner, „Ich hätte schon ein Konzept für Sachsen“, in: Lausitzer Rundschau vom 11. September 1999. 82 Opposition richtig machen! Für eine offensive Politik!, internes Diskussionspapier der sächsischen PDS anläßlich der Landtagswahl 1999, S. 7. 83 Interview mit Peter Porsch, in: Sven Siebert, „Bin optimistisch, daß die PDS als Zweite durchs Ziel geht“, in: LVZ vom 7. September 1999. 84 Sachsen gerecht werden. Wahlkampfartikel der PDS, in: Sächsischer Bote vom 15. September 1999. 85 Wahlprogramm (FN 78), S. 1–3, 7. 86 Ebd., S. 1, 7. 87 Interview mit Peter Porsch, in: Siebert (FN 83).

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zes locker in Richtung demokratischer Sozialismus“ gehen. Zum Beispiel eröffne der Passus Eigentum verpflichtet „Möglichkeiten bis hin zur Enteignung im Gemeinwohlinteresse“. Obwohl es, so Porsch, zunächst nicht um Enteignung ginge, sei man „beispielsweise der Meinung, daß Banken stärker staatlich kontrolliert werden sollten“.89 Weiter forderte er „die reale Gleichstellung aller Eigentumsformen“90, aber nicht „die Wirtschaft zu knebeln“ oder „kaputt zu machen“, sondern die Politik von der „Vormundschaft der Wirtschaft“ zu befreien.91 Vor diesem Hintergrund plädierte die PDS, wenn auch abgeschwächt, erneut für ein verfassungsmäßiges „Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung“92. Sie schlugen neben einem „öffentlich geförderten Beschäftigungssektor“ eine breite aktive Arbeitsmarktpolitik vor. d) 2004 – „Widerstand und Alternativen“ Der Wahlkampf 2004 gestaltete sich als Protestkampagne gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung. Der Slogan „Hartz IV das ist Armut per Gesetz“ überlagerte jedwede landespolitische Auseinandersetzung. In den Augen der PDS beinhaltete die Agenda 2010 keine Reformen, sondern „die gewollte Abkehr vom Sozialstaat zugunsten noch besserer Verwertung von Kapital zu Lasten breiter Bevölkerungsschichten“.93 Klaus Bartl sah darin die „Rückkehr zum Urkapitalismus“ und den „Versuch der Rückabwicklung von 150 Jahren Arbeiterbewegung [und] Gewerkschaftsbewegung“.94 Wie schon in den Jahren zuvor warfen die Postkommunisten der Landesregierung „offenkundiges Regierungsversagen“ und „technokratisches Herumdoktern an den Symptomen eines zerfallenden Sozialstaates“ vor.95 Vor allem sei die hohe Arbeitslosigkeit ein Armutszeugnis christdemokratischer Regierungspolitik, die weiterhin eine aktive Arbeitsmarktpolitik ablehne.96 Deren Rezepte verkörperten „Marktradikalität und Deregulierung“.97 Der Bezug zur DDR-Ver88

Interview mit Peter Porsch, in: Hübner (FN 81). Interview mit Peter Porsch, in: Siebert (FN 83). 90 Rede von Peter Porsch (FN 76), S. 7739. 91 Rede von Peter Porsch (FN 79). 92 Wahlkampfbroschüre der sächsischen PDS zur Landtagswahl 1999. Arbeitsplätze müssen her! 93 Wahlkampfflyer von Klaus Bartl. 94 Rede von Klaus Bartl zum Wahlkampfabschluß der PDS Chemnitz am 17. September 2004. Eigener Tonbandmitschnitt. 95 Rede von Peter Porsch im Congress Center Dresden am 23. August 2004 bei der Vorstellung von Aleksa, www.peter-porsch.de (Stand: 6. September 2004). 96 Vgl. Wahlprogramm der sächsischen PDS zur Landtagswahl 2004. Ein anderes Sachsen ist möglich!, S. 7. 97 Rede von Peter Porsch vor dem Sächsischen Landtag am 24. Juni 2004, in: Plenarprotokoll des 3/109 des Sächsischen Landtages, S. 8018. 89

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gangenheit spielte im Wahlkampf 2004 erstmals keine Rolle. Lediglich in ihrem Alternativen Landesentwicklungskonzept (Aleksa) sprach die Partei von einem „Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik bei den grundlegenden Indikatoren wirtschaftlicher Entwicklung“ und einem Zusammenbrechen der „einstigen industriellen Basis Sachsens unter dem Wettbewerbsdruck der Nachwendezeit“.98 Die ökonomischen Ordnungsvorstellungen der PDS waren weiterhin ein Bündel verschiedenster Ziele und Mittel. Man wolle nicht das „sozialistische Himmelreich“, sondern „das Menschenwürdige“, eine Alternative zum Kapitalismus.99 Jedoch ließen sich im Rahmen einer „kapitalistischen Gesellschaft“ die sächsischen Probleme nur teilweise bzw. gar nicht lösen.100 Daher brauche der Freistaat ein „gerechteres Gesellschaftskonzept“, getragen von einer Mehrheit der Gesellschaft. Gleichwohl proklamierte Aleksa keine „Einführung des Sozialismus“, sondern ein dem „Gemeinwohl“ verpflichtetes „modernes Transformationskonzept“.101 Dem Leitbild einer „solidarischen Gesellschaft“ entsprechend, ähnele es weder der Ordnung der alten Bundesrepublik, noch handle es sich um einen postmaterialistischen „Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft“. Die derzeitige Politik erliege dem Trugbild, „der allmächtige, ungezügelte kapitalistische Markt garantiere automatisch die beste Entfaltung der Individuen und der gesellschaftlichen Entwicklungspotentiale“. Hingegen stehe die PDS für eine totale Überordnung des Menschen über die Wirtschaft. Der Gestaltungswille des Staates, der Politik und der Gesellschaft seien gefordert, „um den sozialen, ökologischen und demokratischen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen der Markt wirken kann“.102 Das „Soziale“ war 2004 die alles beherrschende Komponente in der PDSProgrammatik. Die Partei zeigte sich überzeugt, im „Interesse der Mehrheit der Bevölkerung Sachsens“103 zu handeln und über den „Blick von unten“ zu verfügen.104 Sachsen benötige ein modernes „Konzept vom Sozialstaat, das diesen wieder zum Motor wirtschaftlicher Entwicklung“ mache.105 Die Finanzierung erfordere eine grundlegend andere Einnahmepolitik, zu deren Kernpunkten höhere Steuern auf Vermögen, Großunternehmen, hohe Einkommen und Wertpapierumsätze zählen.106 Daher reklamierte die PDS verstärkt eine „aktive Ar98 PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag (Hrsg.), Aleksa. Alternatives Landesentwicklungskonzept für den Freistaat Sachsen, Dresden 2004, S. 12, 49. 99 Wahlprogramm (FN 96), S. 5 f. 100 Aleksa (FN 98), S. 65. 101 Ebd., S. 64 f. 102 Ebd., S. 12 f., 19. 103 Wahlprogramm (FN 96), S. 20. 104 Rede von Peter Porsch (FN 95). 105 Rede von Peter Porsch (FN 97), S. 8021. 106 Wahlprogramm (FN 98), S. 20.

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beitsmarktpolitik“ und eine „soziale Grundsicherung“.107 Ihre bisherige Forderung nach einem Recht auf Arbeit interpretierte die Partei kurzerhand in die Staatsziele der sächsischen Verfassung hinein.108 Hingegen sei das Postulat „Arbeit für alle!“ aus dem Wahljahr 1994 in der derzeitigen Lage eine „realitätsferne Anmaßung“,109 so Porsch.

4. Vergleichende Analyse Der programmatische Längsschnitt verdeutlicht vor allem die in den Landtagswahlkämpfen nahezu fehlende Auseinandersetzung der PDS mit der DDRWirtschaft und ihren negativen Folgewirkungen. Obwohl einer Partei mangelnde Selbstkritik im Wahlkampf nicht zum Vorwurf reichen kann, galt diesbezüglich das Motto: „Nivellieren statt Differenzieren“.110 Forderte 1990 ein innerparteilicher Programmentwurf noch die „Beseitigung von Mängeln, Mißständen und Disparitäten infolge verfehlter, zentralistischer Wirtschaftspolitik“, so erwähnten die Postkommunisten im Wahlkampf lediglich ihre Bereitschaft zur Mithilfe an der Überwindung „der von der SED verschuldeten Mißstände“. Nach außen kommunizierte die Partei fortan, es habe sich 1990 lediglich um eine „komplizierte Ausgangslage“111 gehandelt, weshalb die Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft nicht primär Folge von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft sei, sondern in erster Linie auf das Konto der christdemokratischen Regierung gehe. Spätere Darstellungen zur DDR-Wirtschaft erwiesen sich als realitätsfern. Nach PDS-Lesart fällt daher die Schlußbilanz der DDR-Ökonomie in das Jahr 1989 unter protektionistische Rahmenbedingungen, nicht etwa in das Jahr 1991 unter Wettbewerbsbedingungen. Aus dieser Perspektive heraus bilanzierte die Partei fortan die wirtschaftliche Entwicklung, beschönigte folglich die Eröffnungsbilanz der sächsischen Ökonomie. 1990 betrachtete sie die ökonomische Transformation als eine Ausbeutung Sachsens durch westdeutsche Industrien und das ungehemmte Wirken des freien Marktes. 1994 und 1999 legte sie der CDU massive Fehlleistungen sowie den industriellen Niedergang zur Last, wobei 1999 die Kritik an den „neoliberalen“ Christdemokraten auch anerkennende Momente enthielt, was Porschs (im Vergleich zu Bartl) gemäßigterem Kurs geschuldet war. 2004 setzte die PDS auf populistische Polemik und verfocht eine Protestkampagne gegen jegliche Politik der „etablierten“ Parteien. Insgesamt verklären die Postkommunisten seit 1990 die Bürde der sächsischen

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Rede von Peter Porsch (FN 97), S. 8014; Wahlprogramm (FN 96), S. 7. Vgl. Aleksa (FN 98), S. 13. 109 Rede von Peter Porsch (FN 95). 110 Harald Bergsdorf, Ideologie und Programmatik rechts- und linksextremer Parteien im Vergleich, in: Backes/Jesse (FN 23), S. 179–204, hier S. 192. 111 Rede von Klaus Bartl (FN 61), S. 7055. 108

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Ökonomie und instrumentalisierten die negativen ökonomischen Folgewirkungen der SED-Mißwirtschaft als wirksames Werkzeug ihrer Kritik. Zentral für das Wirtschaftsverständnis der PDS war ihre kontinuierliche Forderung nach einem Recht auf Arbeit. Daß dieses Recht seit 1992 in der sächsischen Verfassung als objektives, übergeordnetes Staatsziel fungiert112 und das Grundgesetz die Berufsfreiheit sowie die freie unternehmerische Betätigung sichert, reichte für die Partei nicht aus. Mag es sich 1990 noch um ein eher unsystematisches Postulat gehandelt haben, welches wie die gesamte Partei in Kontinuität zum untergegangenen System stand, so belegt das Volksbegehren 1994, daß es ernsthafter, wenn auch utopischer Anspruch war. Offensichtlich ist in beiden Jahren der Bezug zur DDR-Verfassung von 1968, in der es in Art. 24 Abs. 1 hieß: „Jeder Bürger [. . .] hat das Recht auf Arbeit.“ Abs. 3 lautete: „Das Recht auf Arbeit wird gewährleistet durch das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln; durch die sozialistische Leitung und Planung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses“. Weitaus stärker als der „historische“ Bezug liegt die Forderung im Selbstverständnis der PDS von einer Gleichberechtigung individueller und sozialer Grundrechte begründet. Diese Sichtweise, so Bartl, resultiert aus der „ursozialistischen Programmatik der sozialen Grundrechte“. In der sächsischen Verfassung seien zwar ausreichend individuelle Grundrechte verankert, was allerdings „unter den Hammer gekommen war, war die Frage nach den sozialen Grundrechten. Das war für uns nicht nur Fahnen schwenken, sondern ein ganz rationaler Ansatz“.113 Daß diese Forderung 1999 und 2004 nahezu unter den Tisch fiel, lag im neuen ökonomischen Gesamtkonzept der PDS begründet, welches Arbeit neu definierte und ein Recht auf Arbeit als selbstverständlich ansah, wie im jüngeren Anspruch der Partei, einen seriösen Gestaltungsanspruch vermitteln zu wollen. Für Peter Porsch war die Reklamation dieses Rechtes zu jedem Zeitpunkt berechtigt: „Was unter den gegebenen Bedingungen eine Illusion ist, kann insofern durchaus visionär sein, als man sagt, dann muß ich eben die Bedingungen ändern, die nicht zulassen, daß es ein Recht auf Arbeit geben kann.“114 Somit wußte die PDS von der Unvereinbarkeit ihrer Forderung mit der existenten Wirtschaftsordnung. Bereits der Passus der DDR-Verfassung belegt den Rahmen für ein Recht auf Arbeit. Den Willen zur Verwirklichung vorausgesetzt, hat es entweder einen direkten und umfassenden staatlichen Eingriff in die Wirtschaft zur Folge (staatlich verordnete Vollbeschäftigung) oder nötigt den Staat zum Aufbau eines riesigen öffentlichen Beschäftigungssektors, finan112 Vgl. dazu Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: Dies./Christoph Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, hrsg. von Thomas Pfeiffer, Leipzig 1998, S. 91–93. 113 Interview mit Klaus Bartl vom 13. Januar 2005. 114 Interview mit Peter Porsch vom 7. Dezember 2005.

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ziert durch Steuererhöhungen, Neuverschuldung oder Vermögenseingriffe. Beide Lösungen schränken die individuelle unternehmerische Freiheit (vor allem Wettbewerbs- und Preisfreiheit) stark ein und verlangen staatlichen Dirigismus. Diese Luft atmet auch das Eigentums- und Freiheitsverständnis der PDS. So erachtete es die Partei 1990 für unerläßlich, soziale, nicht jedoch individuelle Grundrechte zu reklamieren. Erst 2004 findet sich das dünne Bekenntnis zu einer neuen „Kultur der Selbständigkeit und des Unternehmergeistes“115; ansonsten blieben Eigentums- und Handlungsfreiheiten ein Tabu. Hingegen war die Forderung nach Gleichberechtigung aller Eigentumsformen eine programmatische Konstante. Zwar strebte die PDS keine direkten Enteignungen oder Sozialisierungen an, gleichwohl wertete sie die Rolle des Privateigentums als für ihre Politikvorstellungen ungeeignet ab und liebäugelte mit Sozialisierungsvorstellungen. In erster Linie wollte die Partei dies durch mehr „Wirtschaftsdemokratie“ (Mitbestimmung durch Eigentumsverfügung) erreichen. Mit ständigen Forderungen nach Vermögenseingriffen und einer neuen staatlichen Einnahmepolitik enttabuisierte die Partei sozialisierende Maßnahmen, wie Hans-Georg Trost, Ökonom der sächsischen Rosa-Luxemburg-Stiftung, bestätigt. Eine stärkere „wirtschaftsdemokratische“ Ausrichtung bedeute zugleich einen erfolgreichen Eingriff in kapitalistisches Eigentum, so Trost. Die PDS sehe dabei in Art. 15 GG eine Pflicht zur Solidarisierung – keine Option.116 Ungeachtet dessen, daß die verfassungsmäßigen Eigentumsgarantien in Deutschland aufgrund der Sozialgebundenheit des Eigentums (Art. 14/15 GG) bei weitem weniger ausgeprägt sind als die Freiheitsrechte, bedeutet die Abkehr vom Privateigentum als bestimmende Eigentumsform einen essentiellen Eingriff in die Wettbewerbsordnung. Während folglich die Äußerungen der PDS zu Zustand und Ordnung der Wirtschaft ebenso eindeutig waren wie ihre zentralen Vorstellungen zu Eigentum, Freiheit und Arbeit, brachte keiner der vier Wahlkämpfe eine klare ökonomische Ordnungsvorstellung zum Ausdruck. Anthony Giddens’ Aussage, daß sozialistisches Denken besser zur Kritik denn zur Neugestaltung befähigt ist,117 bestätigte sich einmal mehr. Das Bekenntnis der Postkommunisten zur Marktwirtschaft 1990 war eine situationsbedingte Farce und von emotionaler Ablehnung geprägt. Die Warnungen vor den Gefahren überwogen. Ohne den Begriff Wirtschaftsdemokratie zu gebrauchen, strebte die Partei in Richtung „Demokratisierung“ der ökonomischen Ebene, besonders im Falle des wirtschaftlichen Privateigentums. Es folgten keine Vorschläge oder Konzepte, um die Marktwirt115

Aleksa (FN 98), S. 68. Vgl. Hans-Georg Trost, Die Eigentumsfrage in der Programmdebatte der PDS, in: http://portal.pds-sachsen.de (Stand: 10. September 2005). 117 Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt a. M. 1997, S. 96. 116

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schaft in Sachsen umzusetzen und unternehmerische Freiheit sowie Wettbewerb zu fördern. Die ehemalige Staatspartei war 1990 in den Vorstellungen vergangener Jahre verfangen, wollte staatliche Unterstützung, staatliche Wirtschaftslenkung, ein staatliches Konzept zur Entwicklung der Wirtschaft. Bernd Rump, langjähriger „Chef-Programmatiker“ der sächsischen PDS, begründete die fehlende Konzeption wie folgt: „Eine richtige wirtschaftspolitische Konzeption kann man zu dem Zeitpunkt gar nicht schreiben, weil ja die Prozesse liefen. Das einzige was wir machen konnten, war zu fragen, was passiert jetzt mit dem Volkseigentum. Man lief der Entwicklung programmatisch hinterher.“118 1994 machte die Partei aus ihrer Gegnerschaft zur Sozialen Marktwirtschaft, speziell zur existierenden Eigentums- und Verteilungsordnung, keinen Hehl. Das Wirtschaftssystem sei in seinen Fundamenten unsozial, von Verteilungsungerechtigkeit geprägt und beeinträchtige das Handlungsfeld der PDS erheblich. Die alternativ angestrebte Ordnung war indes utopisches, sozialistisches Stückwerk und wies lediglich auf eine starke Rolle des Staates hin. Die Postkommunisten waren sich nach wie vor ihres Weges unklar. Die Bundespartei bewertete 1997 die wirtschaftspolitische Ausrichtung des Landesverbandes in diesen Jahren als nicht „politikreif“. Die sächsische PDS verfüge über einen „theoretisch eher ökologischen“ wirtschaftspolitischen Ansatz. Ihren großflächigen Umverteilungsvorhaben stünde faktisch keine solide Finanzpolitik entgegen.119 Im Landtagswahlkampf 1999 bündelte die PDS ihre wirtschaftspolitische Konzeption im Begriff der „solidarischen Gesellschaft“; das gesamte Programm war äußerst detailliert und daher wenig wegweisend. Die soziale Komponente rückte mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit ins Zentrum aller Bestrebungen. Man bezeichnete sich erstmals bewußt als sozialistisch. Neben den angesprochenen Eigentumsbeschränkungen wandte sich die Partei vor allem gegen die Dominanz der „Konkurrenzseite“ in der existierenden Ordnung. Porschs Ausführungen über „Dialektik von Eigeninteresse und Solidarität“ bedeuteten letztlich nichts weiter als die Überordnung des Solidaritätsprinzips über das Wettbewerbsprinzip, des Sozial- über das Individualprinzips und damit die Negation der Wettbewerbsordnung. 2004 kristallisierte sich die „solidarische Gesellschaft“ vollends als Leitbild heraus. Dennoch blieb die Konzeption selbst weiterhin äußerst unpräzise. Deutlich wurde nur, die Wettbewerbswirtschaft berge keine Zukunft, mangele es ihr doch an sozialer Problemlösungskapazität. Deshalb wandte sich die PDS mit einer „sozial-ökologisch orientierten Wirtschaft“ gegen die „kapitalistische Gesellschaft“. Der von Porsch geforderte Sozialstaat als „Motor wirtschaftlicher 118

Interview mit Bernd Rump vom 24. Januar 2006. Jochen Weichold, Die PDS im Parteienvergleich auf Länderebene in Ostdeutschland, in: Parteivorstand der PDS (Hrsg.), Studien. Zur inneren Verfaßtheit der PDS, Berlin 1997, S. 7–9. 119

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Entwicklung“ überhöht die sozialen Belange der Bevölkerung zur einzig legitimen Basis des Wirtschaftens und nivelliert Wettbewerb, Konkurrenzfähigkeit und Gewinnsteigerung. De facto kommt dies einer Unterordnung der Wirtschaft unter alle sozialen Belange der Menschen gleich. Damit wird die individuelle Handlungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte grundlegend negiert. Insgesamt zielt die sächsische PDS in den Landtagswahlkämpfen seit 1990 mehr oder weniger konkret in Richtung demokratischer Sozialismus, scheut sich aber des Begriffs und nutzt stattdessen den der solidarischen Gesellschaft. Anders als Anthony Giddens’ dritter Weg120 verfolgt sie weiterhin konzeptionelle Grundlagen des Sozialismus. Im Unterschied zu evolutionären Sozialismustheorien121 soll der Übergang über eine Veränderung der Wirtschafts- und Eigentumsordnung erfolgen. Sieht Thomas Meyer demokratischen Sozialismus als eine „Alternative zum illiberalen Kommunismus und zum unsozialen Liberalismus“122, bilden Kommunismus und Soziale Marktwirtschaft die ideologischen Pole, zwischen denen die Konzeption der PDS siedelt. Neben einer „wirtschaftsdemokratischen“ Ausprägung, die vor allem die Eigentumsbeteiligung betont, und dem Pendeln zwischen Marktwirtschaftlichkeit und massivem staatlichen Dirigismus zeichnet sich die PDS vor allem durch ihre Ablehnung der Wettbewerbsordnung aus. Charakteristisch für die Partei ist ferner eine seit 1990 zunehmende Betonung von Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit gegenüber den individuellen Freiheitsrechten. Sie überhöht diese Prinzipien zu einem „Menschenrechts-Fundamentalismus“123, der Freiheitsrechte entweder ignoriert oder ihnen entgegenstrebt. Besonders 2004 sah sich die ehemalige Staatspartei als Verfechterin des Gemeinwohls. Das von Müller-Armack bereits 1946 formulierte Paradoxon, die Furcht vor der „Macht privater Kapitalinteressen“ überwiege jene vor der „viel bedenklicheren Herrschaft“ einer eingeschränkten Wirtschaftsordnung,124 spiegelt sich in der PDS-Programmatik wider. Vor dem Hintergrund der eingangs hergestellten Beziehungszusammenhänge stehen vor allem das fehlende Bekenntnis zu ökonomischen Freiheitsrechten und einem Pluralismus der Interessen sowie die Forderung nach einer Egalisierung der Gesellschaft im Widerspruch zum demokratischen Verfassungsstaat. Zudem unterlaufen die „demokratische“ Ausdehnung der Staatlichkeit in den ökonomischen Bereich sowie die sogenannte „Demokratisierung“ 120 Vgl. Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999. 121 Etwa Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl., Tübingen 1993. 122 Thomas Meyer, Demokratischer Sozialismus – Soziale Demokratie, 3. Aufl., Bonn 1991, S. 123. 123 Patrick Moreau/Jürgen P. Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996, S. 19. 124 Vgl. Alfred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, München 1990, S. 70 f.

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des Eigentums Freiheits- und Eigentumsrechte als grundlegende Säulen einer Wettbewerbsordnung. Sie greifen damit substantielle Elemente des demokratischen Verfassungsstaates an.

5. Schlußbetrachtung Manfred Hättich formulierte den grundlegenden Zusammenhang zwischen Zustand und Ordnung mit folgendem Leitsatz: „Zustand ist die Gesellschaft, insofern der Mensch sie antrifft und erfährt; Ordnung ist sie, insofern der Mensch sie bewußt gestaltet. Für die Ordnungsentwürfe sind die Zustände Anlaß, genauer gesagt: die Unzufriedenheit mit den Zuständen.“125 Politik sei deshalb der „permanente Versuch, das Ordnungsproblem zu lösen“126, getrieben von den Zuständen einer Gesellschaft. Während eine kritische Sichtweise Zustand und Ordnung der Wirtschaft immanent beanstandet, um so zu einer Verbesserung beider Faktoren beizutragen, spricht sich die Sichtweise der PDS sowohl gegen den Zustand als auch gegen die Ordnung aus. Geleitet von einer übersteigerten Wahrnehmung innergesellschaftlicher Spannungsverhältnisse, führt sie diese nicht auf Fehler in der Ordnung zurück, sondern betrachtet sie als Ergebnis eines inadäquaten Ordnungsansatzes. Dabei lehnt sie praktische Ausprägung und theoretischen Ansatz der Sozialen Marktwirtschaft gleichsam ab. Hinzu kommt, daß ihre Absage an die Ordnung nicht allein auf den gesellschaftlichen Zuständen basiert, sondern sich gleichermaßen auf ihren utopischen Vorstellungen einer besseren Konzeption gründet. Die grundlegende Ausrichtung der PDS ist damit eher antikapitalistisch denn kapitalismuskritisch; den Ergebnissen von Neu und Moreau ist eingeschränkt zuzustimmen. Ob 1990 in der Kontinuität einer ehemaligen Staatspartei oder später als stärkste Oppositionspartei, die Ablehnung einer auf Wettbewerb und Marktkoordination basierenden Wirtschaftsordnung bildet bei der sächsischen PDS die Konstante. Hingegen befindet sich ihre wirtschaftspolitische Konzeption seit 1990 in einem anhaltenden Ausformulierungsprozeß, der 2004 mit dem Programm Aleksa seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Während ihr Verhältnis zwischen „capitalist reality“ und „socialist reality“ fragwürdig ist, gibt die Partei keinen Anlaß zum Zweifel, daß sie ein „socialist blueprint“ über ein „capitalist blueprint“ setzt, um die eingangs verwendete Formulierung aufzugreifen. Jedoch verhindern fehlende Ordnungsvorstellungen und die ungenaue Mittelbeschreibung eine klare Einschätzung der Landespartei. Vor dem Hintergrund der theoretischen 125 Manfred Hättich, Das Ordnungsproblem als Zentralthema der Innenpolitik, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg i. B. 1962, S. 215 f. 126 Ebd., S. 227.

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Prämissen kollidiert sowohl ihre ablehnende Haltung gegenüber dem marktwirtschaftlichem Ordnungsprinzip als auch ihre ökonomische Konzeption vor allem in Fragen der Eigentums- und Handlungsfreiheit, übersteigerter, egalitärer Gleichheitsvorstellungen, überdehnter Demokratievorstellungen sowie durch einen fehlenden Interessenpluralismus mit zentralen Elementen des demokratischen Verfassungsstaates.

Sozialdemokratischer Verräter oder politischer Selbsttäuscher? Der Konvertit Carl Moltmann Von Solveig Simowitsch

1. Einleitung Carl Moltmann, ein im Mecklenburg der Weimarer Republik bedeutender Sozialdemokrat, übernahm 1945/46 im Fusionsprozeß mit der KPD eine Schlüsselfunktion und versuchte in der SED zur politischen Autorität zu werden.1 Warum wurde ein gestandener Sozialdemokrat wie Moltmann zu einem „Aushängeschild“ des SED-Regimes? Welche politischen und persönlichen Motive hatte er, sich von seinen Ursprüngen zu lösen? War er ein Verräter an den eigenen Genossen und ihren sozialdemokratischen Traditionen, oder zog er sowohl aus der jüngsten deutschen Geschichte als auch aus der Bedeutung der eigenen politischen Rolle falsche Schlußfolgerungen? Der Aufsatz ist anhand Moltmanns biographischer Daten chronologisch aufgebaut und in die politischen Systeme Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Diktatur und SBZ/DDR untergliedert. Der Schwerpunkt liegt aufgrund der Fragestellung vor allem nach der Zäsur von 1945.

2. Soziale Herkunft und politischer Anfang im Deutschen Kaiserreich Carl Franz Martin Moltmann wurde als drittes von vier Kindern am 23. September 1884 in Brüz bei Goldberg, Mecklenburg-Schwerin, geboren.2 Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater war Zieglergeselle – politisch und gewerkschaftlich nicht organisiert –, seine Mutter Hausfrau. Moltmann trat 1903 während seiner Tischlerlehre in der Kleinstadt Parchim in die SPD ein. 1 Vgl. ausführlich Solveig Simowitsch, „. . . Werden als Wortbrüchige in die Geschichte der SPD eingehen.“ Sozialdemokratische Konvertiten. Wilhelm Höcker, Carl Moltmann, Otto Buchwitz und Heinrich Hoffmann, Berlin 2006. 2 Vgl. Lebenslauf vom 8. Februar 1950, Ms, LHAS, Bestand Familien- und Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/1, Bl. 5.

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Ein sozialdemokratisch organisierter Geselle machte ihn mit den Ideen und Zielen vertraut. Im gleichen Jahr wurde Moltmann SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Parchim.3 Seine Mitgliedsnummer 0.000059 verdeutlicht, daß sich die SPD in Mecklenburg zu dieser Zeit in der Aufbauphase befand.4 Der schnelle Aufstieg des sehr jungen Moltmann in der mecklenburgischen SPD verwundert demnach nicht. 1903 war die SPD offiziell noch nicht legitimiert und deutlicher als in anderen deutschen Staaten gesellschaftlich diskriminiert. Jedes neue aktive Mitglied wurde begrüßt und in die vielen unbesetzten Funktionen gewählt. Doch nach der Gesellenprüfung ging Moltmann zunächst von 1903 bis 19055 auf Wanderschaft nach Österreich, in die Schweiz und nach Italien. Nach seiner Rückkehr arbeitete er zunächst als Tischler in Parchim, anschließend als Konsumgenossenschaftsangestellter in Neustadt-Glewe. 1911 zog Moltmann mit seiner Frau und den drei Kindern nach Schwerin. Anfänglich als Tischler, später als Arbeiter einer Klavierfabrik beschäftigt, wurde er beide Male nach Streikbeteiligungen entlassen. Damit endete seine handwerkliche Laufbahn und Moltmann widmete sich von nun an ausschließlich der Parteiarbeit. Auch in Schwerin fungierte er als SPD-Ortsvereinsvorsitzender. Der Erste Weltkrieg beendete vorerst seine politische Tätigkeit. Moltmann wurde im März 1915 eingezogen und diente bis 1918 zunächst in Polen, dann in Frankreich. 1919 kehrte er nach Schwerin zurück und gehörte dem lokalen Arbeiter- und Soldatenrat an. Mit welchen Aufgaben Moltmann dort betraut oder in welchen Aktionen er involviert war, ist nicht bekannt. Ebensowenig ist über seine Einstellung zur vorangegangenen Spaltung der SPD und über mögliche Sympathien für die USPD überliefert. Mit Sicherheit hätte ein Übertritt seinen politischen Werdegang stark behindert. Außerdem war die USPD in Mecklenburg kaum etabliert; es gab nicht einmal eine reguläre Parteispaltung. Moltmann verblieb bei den Mehrheitssozialdemokraten und begann in der Weimarer Republik eine bilderbuchhafte Parteikarriere.

3 Vgl. Ohne Titel, undatiert, Ms, LHAS, Bestand Familien- und Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/3, Bl. 7. 4 In Mecklenburg-Schwerin begann eine sozialdemokratische Tätigkeit erst nach Beendigung des Sozialistengesetzes 1890. Offiziell agieren konnte die SPD erst nach dem Reichsvereinsgesetz 1908. Im Agrarland Mecklenburg hatte die SPD kaum eine Chance, sich zu profilieren. Die konservativ geprägten Gutsherren übten direkten Einfluß auf die Wähler aus, den von ihnen abhängigen Landarbeitern. Jegliche parlamentarische Tätigkeit wurde verhindert. Selbst ein Landtagswahlrecht gab es noch nicht in Mecklenburg, genausowenig wie einen Landtag als parlamentarisches Gremium. Bis 1918 war die gültige Verfassung der landesgrundgesetzliche Erbvergleich vom 18. April 1755. Hauptantriebskräfte bei der regionalen Gründung der SPD waren Rostock, Schwerin, Güstrow und Wismar. 5 Vgl. Lebenslauf vom 8. Februar 1950 (FN 2), Bl. 5.

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3. Politischer Aufstieg in der Weimarer Republik 1919 fand sich Carl Moltmann in Mecklenburg in der Regierungsverantwortung wieder. Er avancierte zu einem einflußreichen SPD-Funktionär, der bereits auf Erfahrungen von mehr als zehn Jahren Parteiarbeit zurückgreifen konnte. Dementsprechend umfangreich gestalteten sich seine Aufgaben. Er war von 1918 bis 1928 SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Schwerin, gehörte von 1919 bis 1932 dem Mecklenburg-Schwerinschen Landtag an und fungierte von 1928 bis 1932 als Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion.6 Im selben Zeitraum war Moltmann Direktor des Schweriner Arbeitsamtes. 1932 wurde Moltmann als Abgeordneter Mecklenburg-Lübecks in den Deutschen Reichstag gewählt. Herausragend in seiner Arbeit war der konsequente Einsatz für die Demokratie und die strikten Auseinandersetzungen mit konservativen Gutsbesitzern, Kommunisten und aufstrebenden Nationalsozialisten. Er scheute keine innerparteiliche Konfrontation: Bereits im Mai 1920 forderte Moltmann auf dem außerordentlichen Parteitag des MSPD-Bezirksverbandes in Güstrow einen tatsächlich „arbeitsfähigen“ Landtag; bei der Kandidatenauswahl sollte auf ausreichend Kompetenz geachtet werden.7 Als Herausgeber und Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Das freie Wort“ – die bissig und kritisch die Tagespolitik analysierte – setzten sich Moltmann und seine Mitarbeiter mit den Gegnern der Demokratie auseinander. In allen Funktionen prägte Moltmann maßgeblich die sozialdemokratische Politik im Land. Er vertrat die Position der Durchführbarkeit des „Weimarer Modells“ sozialer Wandlungen in Richtung größere Gerechtigkeit. Als eine der schwierigsten Aufgaben sah er die Durchsetzung des Wahlrechts in Mecklenburg. In der Gutsgemeinde hatte theoretisch jede Tagelöhnerin und jeder Tagelöhner genauso viel Stimmrecht wie der Gutsbesitzer. In der Praxis bedeutete das wenig, weil er durch seine nach wie vor bestehenden Machtansprüche das Stimmrecht der Tagelöhner nicht gelten ließ. Tagespolitisch setzte Moltmann seine Kraft dafür ein, die geplanten Verfassungs-, Schul-, Justiz- und Verwaltungsreformen so zügig wie möglich umzusetzen. Ihm lag eine völlig umstrukturierte Gesellschaft, vor allem auf seinem politischen Aktionsgebiet in Mecklenburg-Schwerin, am Herzen. Getragen von rasch durchgeführten Reformen auf der Basis einer strikt eingehaltenen Demokratie sollte aus dem rückständigen Agrarland ein parlamentarisches und wirtschaftlich erblühendes Mecklenburg werden, in dem die Bevölkerung die politi6 Vgl. Ohne Titel, undatiert, Ms, LHAS, Bestand Familien- und Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/2, unpaginiert. 7 Vgl. Außerordentlicher Parteitag für den Bezirk Mecklenburg-Lübeck (Schluß), in: Mecklenburger Volkszeitung vom 5. Mai 1920, S. 2.

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schen Wegmarken bestimmte. Diese Politik vertrat Moltmann konsequent bis zum Niedergang der Weimarer Republik. Der aufsteigenden NSDAP galt Moltmanns Hauptaugenmerk im Kampf für den Erhalt der Demokratie. Moltmann wußte um die Gefahr, in welche er sich und seine Familie brachte. Wiederholt wurden nachts die Fensterscheiben seiner Wohnung eingeworfen. Die Familie erhielt Drohbriefe, und an einer Mauer stand geschrieben: „Tötet Moltmann“.8 Auch mit der KPD führte er hitzige Auseinandersetzungen: Bereits 1920 griff Moltmann den mecklenburgischen KPD-Landtagsabgeordneten Herbert von Meyenburg an: „Wenn Sie hier eine solche unsachliche Politik in das Parlament hineintragen, dann sage ich: das ist Verrat an der Arbeiterklasse, das ist Strauchrittertum für den Sozialismus, das ist Buschklepperei an der Revolution. Wenn Sie in dieser Form und mit diesen unsachlichen Debatten hier den Parlamentarismus schädigen zu können glauben, dann werden wir Mittel und Wege finden, um unser Recht hier im Parlament zu wahren.“9 Über das Ziel „Sozialismus“, sein Hauptargument gegen die KPDPolitik, sagte Moltmann, er wolle den Sozialismus „wenn die Verhältnisse und wenn die Mehrheit des Volkes dafür reif ist. Das haben wir [die Sozialdemokraten] hundertmal gesagt, eher wollen wir den Sozialismus nicht, wir wollen den Sozialismus nicht gewaltsam“10. Mit der KPD arrangierte sich Moltmann nur, wenn es für seine politischen Zwecke nützlich war.11 Moltmann gehörte im Mecklenburg-Schwerinschen Land- wie im Deutschen Reichstag lange zu den Gegnern jeglicher Kooperation mit den Kommunisten und versäumte nicht, sie sowohl direkt vom Rednerpult als auch durch „Das freie Wort“ zu attackieren. Erst als die Demokratie nicht mehr zu retten war, stimmte Moltmann gemeinsamen Aktionen zu. Von einem kontinuierlichen Weg in Richtung Zusammenarbeit kann bei ihm nicht gesprochen werden. Im Gegenteil: Bis zum Beginn des Dritten Reiches gab es nur eine minimale Annäherung an die KPD.

8 Vgl. Aus dem Leben meines Vaters Carl Moltmann von Luise Höppner, undatiert, Ms, LHAS, Bestand Familien- und Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/2, Bl. 30. 9 Zit. in: Marko Michels, Einheitszwang oder Einheitsdrang?! Der Vereinigungsprozeß von KPD und SPD zwischen 1945 und 1950 in Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 1999, Dissertation, Universität, Philosophische Fakultät, S. 26 f. 10 Zit. in: Klaus Schwabe, Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in Mecklenburg-Vorpommern, 3. Aufl., Schwerin 1996, S. 46. 11 Vgl. z. B. Gemeinsame kommunistisch-sozialdemokratische Interpellation betr[eff] Entlassung von Arbeitern und Angestellten der Neptunwerft in Rostock vom 4. November 1921, Ms, LHAS, Bestand Familien- und Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/4, Bl. 3.

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4. Politisches Verbot im Nationalsozialismus Am 22. Juni 1933 verbot NSDAP-Innenminister Wilhelm Frick die SPD. Am 21. Mai 1933 hatte noch einmal der SPD-Vorstand getagt, dann seinen Sitz zunächst nach Prag und schließlich nach London ins Exil verlegt. Er nannte sich fortan SoPaDe, die letzte Reichskonferenz der Partei fand am 19. Juni 1933 statt. Den meisten Sozialdemokraten blieben nur die Möglichkeiten: Illegalität, Emigration oder Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit. Mit dem SPD-Verbot verlor Carl Moltmann seine politischen Ämter und seine Stellung als Arbeitsamtsdirektor. 1934 eröffnete Moltmann ein Tabakwarengeschäft in Schwerin, welches er bis 1945 unterhielt. Dieses Geschäft war der konspirative Treffpunkt ortsansässiger Sozialdemokraten und nun auch Kommunisten.12 Ihre Arbeit beschränkte sich auf das Abhören ausländischer Rundfunksendungen sowie das Lesen und gelegentliche Verteilen von illegalem Schriftmaterial. Im August 1944 wurde Moltmann im Zuge der Aktion „Gewitter“ infolge des Attentates auf Adolf Hitler am 20. Juli 194413 eingesperrt. Die Verhaftung kam für Moltmann überraschend; den Grund der Inhaftierung, auch nach der Entlassung, kannte er nicht. Zusammen mit zwanzig anderen Personen, darunter der Kommunist und spätere SED-Innenminister Mecklenburgs Hans Warnke, wurde Moltmann in das Zuchthaus Bützow-Dreibergen gebracht.14 Im Gefängnis erfolgte Moltmanns politische Weichenstellung für die Zeit nach 1945, indem er bereits dort versprach, sich nach der Zerschlagung der NS-Diktatur für eine, wenn auch nicht organisatorische, so doch aktionistische Einheit beider Arbeiterparteien einzusetzen.

5. Politische Konversion in der SBZ/DDR a) SPD-Landesvorsitzender in Mecklenburg 1945/46 Nach der Wiederzulassung der Parteien und Gewerkschaften in der SBZ durch den SMAD-Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 war Moltmann maßgeblich an der Gründung der SPD in Mecklenburg beteiligt. Er baute den Landesverband als Sammelbecken ehemaliger Sozialdemokraten in dem Glauben wieder 12 Vgl. Die schönste Stunde seines Lebens. Erinnerungen an Genossen Carl Moltmann, ehemaliger paritätischer Vorsitzender des Landesvorstandes der SED Mecklenburg von Luise Höppner, in: Schweriner Volkszeitung vom 6. April 1966, S. 5. 13 Zur Aktion „Gewitter“ vgl. Ulrike Hett/Johannes Tuchel, Die Reaktionen des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 377–391. 14 Vgl. SED. Fragebogen vom 21. März 1953, Ms, LHAS, Bestand Familien- und Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/1, Bl. 10.

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auf, daß eine Vereinigung mit der KPD dennoch irgendwann zwangsläufig erfolgen müßte. Allerdings war sein gedanklicher Ausgangspunkt, daß es nach den zwölf Jahren Nationalsozialismus sowohl keine SPD als auch keine KPD alter Tradition mehr geben könne; beide sollten sich auf einer gemeinsamen Ebene ideell annähern. Begünstigt wurde sein Gedankengang durch das Demokratiebekenntnis der KPD in ihrem Gründungsaufruf vom 11. Juni 194515. Moltmann bemühte sich nach Kriegsende weiter um ein neues Verhältnis zur KPD. Ein Begrüßungsgespräch mit anderen Sozialdemokraten, die nach 1945 in seinen Zigarrenladen – der zunächst als lokales SPD-Parteibüro diente – kamen, spiegelte das wider: „Carl, wir sind da, und wir sind die alten“, „Die alten? Ich bin nicht mehr der alte.“16 Moltmann unterlag der Illusion zu glauben, daß die alte Sozialdemokratie genauso wie der alte Kommunismus überwunden werden müßten, damit die Fehler, die einen Aufstieg der NSDAP möglich gemacht hatten, sich nicht noch einmal wiederholten. Er war zwar nicht der einzige, der diese Meinung vertrat, aber die Mehrheit der Sozialdemokraten, besonders in den ehemaligen Arbeiterhochburgen wie Magdeburg oder Leipzig, war stolz, nach den zwölf Jahren des Nationalsozialismus wieder die „alten“ zu sein. Moltmann strebte zunächst ein sachliches Arbeitsverhältnis zur KPD an. Es ist auszuschließen, daß er sich bereits im Sommer 1945 für die Vereinigung einsetzte, zumal ihm „verbündete Kommunisten“ fehlten. Sein konsequentes Engagement begann im Herbst 1945. Am 4. Juli 1945 beantragten Carl Moltmann und Xaver Karl die Zulassung des mecklenburgischen SPD-Landesverbandes und deren Vorstand bei der örtlichen sowjetischen Militärkommandantur in Schwerin. Bis dahin hatten in der sozialdemokratischen Struktur Landesvorstände nicht existiert. Sie waren von der KPD und der SMAD gefordert worden mit der Begründung, den Parteiaufbau der neu geschaffenen Verwaltungsstruktur anzugleichen. An die Spitze der Landesvorstände setzte die Besatzungsbehörde SPD-Funktionäre, die ihr – und ab Herbst 1945 der Vereinigung beider Parteien – positiv gegenüberstanden. Die Zulassung der mecklenburgischen SPD verzögerte sich, weil die Kommandantur Rostock als Sitz des Landesvorstandes nicht anerkennen wollte. Die KPD-Bezirksleitung konnte so fast einen Monat alleine agieren.17 Als neuen 15 Für die Öffentlichkeit als Deklaration im „Aufruf des Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945“. Der vollständige Text ist nachzulesen bei: Andreas Herbst u. a. (Hrsg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 530–535. Das Demokratiebekenntnis der KPD war von Anfang an eine formale Sache, an dessen Umsetzung sie aufgrund taktischer Vorgaben Stalins nicht interessiert war. Sie wollte sich dadurch den Boden für den eigenen und alleinigen Machtanspruch bereiten. 16 Vgl. Höppner (FN 8), Bl. 31. 17 Vgl. Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, 1. Nachdruck, Bonn 1996, S. XXXIII.

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Sitz des SPD-Landesvorstandes bestimmte die Sowjetische Militäradministration Mecklenburg (SMAM) Schwerin. Nach der Zulassung des Landesverbandes erstellten Moltmann und Karl ein kurzes Parteiprogramm für Mecklenburg.18 Als weiteres Problem kristallisierte sich die Zusammensetzung des mecklenburgischen Landesvorstandes heraus. Moltmann, zunächst wieder SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Schwerin, wurde im August 1945 zum SPD-Landesvorsitzenden gewählt, nachdem es eine SMAM-Intervention gegen Albert Schulz als Landesvorsitzenden gegeben hatte. Die Mehrheit der mecklenburgischen Sozialdemokraten hatte Mitte Juli 1945 für Schulz votiert. Diese Liste wurde am 27. Juli 1945 der SMAM übergeben, die das Ergebnis der Wahl ablehnte. Die am 4. August 1945 erneut eingereichte Liste bestätigte die SMAM Ende August. Erster Vorsitzender war nun Moltmann.19 Welche Qualitäten hatte dieser Sozialdemokrat, die ihn aus Sicht der KPD und SMAD für die Funktion des Landesvorsitzenden prädestinierten? Erstens brachte er eine langjährige Erfahrung in der politischen Arbeit mit, kannte die meisten der alten ehemaligen Sozialdemokraten in Mecklenburg, ihre Stärken, Schwächen und vor allem ihre Einstellung zur KPD. Bei ansässigen Sozialdemokraten war Moltmann beliebt. Darüber hinaus hatte er gute persönliche Kontakte zum SPD-Zentralausschuß in Berlin, namentlich zu Erich W. Gniffke, einem der drei Vorsitzenden. Dieses Wissen nutzten die Kommunisten bei der Suche nach Multiplikatoren für die Durchsetzung ihrer Ziele. Zweitens stammte Moltmann aus Mecklenburg, war in der Bevölkerung beliebt und wußte, wie in diesem Agrarland effektiv zu arbeiten war, um das Nachkriegschaos zu beseitigen. Drittens hatte er seine antifaschistische Haltung in den zwölf Jahren des Dritten Reiches bewahrt und sie durch seine Inhaftierung unterstrichen. Allerdings reichte eine antifaschistische Gesinnung allein für die Besetzung der für ihn vorgesehenen Position nicht aus. Sie wird als positiver Zusatz gewertet. In der Frage der Vereinigung war Moltmann in den Augen der Kommunisten ein eher wackeliger Kandidat. Zwar konnte er glaubhafte Referenzen aus seiner Haftzeit vorweisen, die seine „politische Läuterung“ bestätigten. Vor allem die Moskauer Exilkommunisten zweifelten den Richtungswechsel zunächst an, beugten sich aber letztlich dem Willen der Besatzungsmacht, die die Position des SPD-Landesvorsitzenden mit Moltmann besetzt sehen wollte. Für Moltmann war es undenkbar, nach 1945 nicht wieder in die Politik zurückzukehren, und es war für ihn folglich eine Selbstverständlichkeit, sich an gehobener Position wieder für die Sache der Demokratie – dieses Mal nicht gegen, sondern mit

18 Vgl. Werner Müller u. a., Die Geschichte der SPD in Mecklenburg und Vorpommern, Bonn 2002, S. 196. 19 Vgl. Genehmigung zur Bildung des Landesvorstandes (2. Version), August 1945, Ms, LHAS, Bestand SPD-Landesvorstand, Nr. 2a, Bl. 7 f.

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den Kommunisten – einzusetzen. Durch die Ausübung der politischen Funktionen stieg auch Moltmanns Sozialprestige und sein Lebensstandard. Im Rundschreiben Nr. 1 vom 17. August 1945 berief der SPD-Landesvorstand die erste Sitzung zum 26. August nach Schwerin ein, mehr als zwei Monate nach der Parteienzulassung. Der Landesvorstand eröffnete ein Parteibüro und nahm neue Mitglieder auf. Erst zur Jahreswende 1945/46 entstand eine feste Zusammenarbeit zwischen dem SPD-Zentralausschuß in Berlin und den Landesverbänden. Der mecklenburgische SPD-Landesverband arbeitete insgesamt wenig professionell; der erste und einzige Landesparteitag fand im Zuge der Vereinigung am 7. April 1946 statt. Moltmann gehörte ab Herbst 1945 zu den strikten Befürwortern einer schnellen Vereinigung mit der KPD. Fast alle mecklenburgischen SPD-Landesvorstandsmitglieder kannten sich aus der Zeit vor 1933 und waren zunächst freundschaftlich miteinander verbunden, bis sie sich an der Frage der Einheit spalteten. Dazu äußerte sich der SPD-Landessekretär Hermann Witteborn: „[Die Freundschaft] hielt solange an, bis die Frage der Vereinigung akut wurde. Befürworter der Vereinigung war vor allem Karl [sic!] Moltmann, und als er sich offen dafür aussprach – offen vor allem im internen Parteikreis –, trennten sich die Geister der Partei. Es kam zu starken Konfrontationen mit dem Landesgeschäftsführer der Partei, Hermann Lüdemann [. . .].“20 Je intensiver sich Moltmann für die Vereinigung aussprach, um so mehr zerstritt sich der mecklenburgische Landesvorstand. Besonders die Rostocker Sozialdemokraten um Albert Schulz votierten gegen eine Verschmelzung. Letztlich stellte sich der Landesvorstand – er hatte keine andere Wahl – hinter Moltmann, der am 14. Januar 1946 äußerte: „Die Einheit muß auch dann kommen, wenn eine Vereinigung im Reichsmaßstab vorläufig noch nicht vollzogen werden kann.“21 Die Zwangsvereinigung läßt sich in vier Phasen einteilen.22 In die erste Phase von Mai bis August 1945 fielen die Wiedergründung und der -aufbau der SPD ohne eine zentrale Leitung und regional übergreifende Koordination. Eine Bereitschaft zur engen Kooperation mit der KPD war sichtbar. Im Frühsommer machte der SPD-Zentralausschuß, insbesondere Otto Grotewohl und Gustav Dahrendorf, Angebote an die KPD, eine Einheitspartei zu bilden. Auf der ersten Besprechung zwischen Vertretern der KPD und SPD am 19. Juni 1945, auf der erneut ein Vorschlag zur Vereinigung unterbreitet wurde, lehnte Walter Ulbricht mit der Begründung ab, daß die Zeit noch nicht reif dafür und ein 20

Zit. in: Müller u. a. (FN 18), S. 184 f. Zit. in: Hans-Joachim Krusch/Andreas Malycha, Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung? Die Sechziger-Konferenzen der KPD und SPD 1945 und 1946, Berlin 1990, S. 24. 22 Vgl. Werner Müller, SED-Gründung unter Zwang – Ein Streit ohne Ende? Plädoyer für den Begriff „Zwangsvereinigung“, in: Deutschland Archiv 24 (1991), S. 52– 59. Die folgenden allgemeinen Ausführungen beziehen sich auf diesen Aufsatz. 21

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längerer Zeitraum der intensiven Zusammenarbeit erforderlich sei. Bereits im August 1945 ging dann Grotewohl auf einer Konferenz in Leipzig zum Vorschlag der Vereinigung auf Distanz. In der zweiten Phase von September bis November 1945 festigte sich die SPD-Parteiorganisation, die Mitgliederzahlen erreichten den Stand vor 1933 und überschritten ihn sogar. Die ostzonalen Sozialdemokraten erhoben nun ihrerseits einen Führungsanspruch für den Neuaufbau der Demokratie in der SBZ. Des weiteren betonten sie ihre parteiliche Autonomie.23 Die KPD änderte die Generallinie, forderte eine verstärkte Zusammenarbeit und eine Vereinigung in absehbarer Zeit. Die SPD selbst war in der Frage der Einheit zerstritten. Die meisten Sozialdemokraten erteilten der Herstellung einer organisatorischen Einheit nun eine Absage, da sie zu Recht eine Liquidierung der SPD in der Einheitspartei befürchteten. Gleichwohl gab es Sozialdemokraten wie Moltmann, die an ihrem Vorhaben festhielten und von den Kommunisten oder der sowjetischen Besatzungsmacht in taktisch gut ausgewählte Funktionen gesetzt worden waren. Dort konnten sie Entscheidungsmechanismen in der Frage der Einheit in Gang setzen. In der dritten Phase von Dezember 1945 bis Februar 1946 verloren der Zentralausschuß in Berlin und die SPD in der SBZ ihre Handlungsfreiheit. Bestimmend für diesen Zeitraum waren die 60er Konferenzen im Dezember 1945 und im Februar 194624. Im Anschluß konnte eine Vereinigung faktisch nicht mehr abgelehnt werden. Die SPD-Landesvorsitzenden Carl Moltmann, Otto Buchwitz (Sachsen), Heinrich Hoffmann (Thüringen) und unter Vorbehalt Bruno Böttge (Sachsen-Anhalt) nahmen Schlüsselrollen im Vereinigungsprozeß ein. Sie konnten ohne Zustimmung ihrer Vorstände den SPD-Zentralausschuß mit der Forderung unter Druck setzen, wenn „ihr hier die Vereinigung nicht beschließt, dann führen wir sie ohne euch durch“25. In der Wissenschaft wird Moltmann politisch differenzierter bewertet als die Landesvorsitzenden Buchwitz und Hoffmann. Harold Hurwitz zufolge hatte Moltmann resigniert.26 Der Zeitzeuge Albert Schulz schätzte ihn ebenfalls nuanciert ein: „Die Russen hatten in der Partei auch eine Reihe von Genossen politisch korrumpiert. Ich denke dabei an 23 Eine klare Absage an die Einheit und einen Führungsanspruch der SPD formulierte Grotewohl am 14. September 1945 in Berlin. Vgl. Otto Grotewohl, Wo stehen wir, wohin gehen wir? Der historische Auftrag der SPD. Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Otto Grotewohl, am 14. September 1945 vor den Funktionären der Partei in der „Neuen Welt“, Berlin 1945. 24 30 Sozialdemokraten und 30 Kommunisten nahmen an beiden Konferenzen teil. Deshalb werden sie die 60er Konferenzen genannt. 25 Vgl. die Aussage von Fritz Schreiber (S. F.), in: Beatrix Bouvier/Horst-Peter Schulz, „. . . die SPD aber aufgehört hat zu existieren“. Sozialdemokraten unter sowjetischer Besatzung, Bonn 1991, S. 73. 26 Vgl. Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstandes, Teil 2: Zwischen Selbsttäuschung und Zivilcourage: Der Fusionskampf, Köln 1990, S. 842.

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[Heinrich] Hoffmann in Thüringen und [Otto] Buchwitz in Sachsen. [. . .] Wenn ich an den Landesvorsitzenden der Partei in Mecklenburg denke, Karl [sic!] Moltmann, an sich ein untadeliger Sozialdemokrat, aber er würde dem Druck der Russen erlegen sein, weil er sich innerlich schon mit der Unvermeidbarkeit der Vereinigung abgefunden hatte.“27 Am 10. und 11. Februar 1946 fiel auf der Tagung des Zentralausschusses mit den Vertretern der SPD-Landesverbände die Entscheidung, den KPD-Forderungen in Fragen der Vereinigung nachzukommen. Eine Entscheidungsfreiheit gab es nicht mehr. Die Alternative, die SPD aufzulösen, schien nicht praktizierbar. In der Sitzung stellte sich heraus, daß der Zentralausschuß die Landesverbände nicht mehr unter Kontrolle hatte: Vier von fünf Landesvorsitzenden der SBZ – Moltmann, Buchwitz, Hoffmann und Böttge – sprachen sich für eine sofortige Vereinigung aus. Von nun an gab es gemeinsame Mitgliederversammlungen und Schulungsveranstaltungen. Auf der zweiten 60er Konferenz am 26. Februar 1946, auf der bereits Entwürfe zum Programm und zum Statut der „neuen“ Partei verabschiedet wurden, beschloß man, die Vereinigung am 21./22. April 1946 durchzuführen. In der vierten Phase von Februar bis April 1946 kann die SPD nicht mehr als gleichberechtigter aktiver Partner im Fusionsprozeß angesehen werden. Für viele Sozialdemokraten schien nun die SED der einzige Weg, um weiterhin politisch aktiv zu sein. Am 21./22. April 1946 vereinigten sich im Berliner Admiralspalast KPD und SPD zur SED. Bereits am 7. April 1946 wurde Moltmann neben Kurt Bürger SED-Landesvorsitzender in Mecklenburg. Er blieb es bis zur Beendigung der paritätischen Besetzung 1949. Zur Begrüßung der Delegierten auf dem Vereinigungsparteitag in Schwerin sagte Moltmann: „Wir haben uns wiedergefunden und werden mit ganzer Kraft in der geeinten sozialistischen Partei den Kampf aufnehmen. Alle politischen und wirtschaftlichen Fragen werden in dieser geeinten Partei schneller und besser zum Wohle des gesamten Volkes gelöst werden können. Jeder Sozialist weiß, diese Vereinigung bedeutet kein Aufgeben seiner Partei, sondern erst die Vollendung seiner Lebensaufgabe als Sozialist.“28 b) SED-Landesvorsitzender und Landtagspräsident in Mecklenburg 1946 bis 1949/51 Mit der Gründung der SED befand sich Moltmann auf dem Zenit seiner Nachkriegskarriere. Danach verlor er langsam, aber stetig an Bedeutung für die Partei. Seine Funktion als paritätischer SED-Vorsitzender war lediglich formaler 27 Vgl. Albert Schulz, Erinnerungen eines Sozialdemokraten, Oldenburg 2000, S. 110. 28 Vgl. Die schönste Stunde seines Lebens (FN 12), S. 5.

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Natur. Hauptsächlich füllte der Kommunist Kurt Bürger die Position aus. Moltmann trat in diesem Amt öffentlich kaum in Erscheinung.29 In der Anfangsphase der SED hatten Partei und ehemalige Kommunisten allerdings kein Interesse an einer Konfrontation mit den ehemaligen Sozialdemokraten.30 Außerdem brauchte man ihre in der Bevölkerung bekannten Namen zur Durchsetzung jeder aktuellen SED-Linie. Nach den Kreis-, Gemeinde- und Landtagswahlen im Herbst 1946 wählte der mecklenburgische Landtag Moltmann zum Landtagspräsidenten. Diese Funktion übte er bis 1951 aus. Zu seiner Wahl äußerte sich Moltmann später: „Als ich zum Landtagspräsidenten vorgeschlagen wurde, hatte ich zunächst große Bedenken, die Wahl anzunehmen, weil ich mir sagte, dort wirst Du [sic!] dann wohl etwas auf die Seite geschoben werden. Du kannst Dich [sic!] dann nicht mehr so politisch betätigen wie Du [sic!] es gern möchtest. Aber in dieser kurzen Zeit meiner Tätigkeit habe ich feststellen müssen, daß ich dort eine große politische Aufgabe zu erfüllen habe, die darin besteht, daß ich als Präsident in vernünftiger und kluger Weise die Dinge so beeinflusse und leite, daß der Landtag eine Politik betreibt, die heute notwendig ist, und zwar unsere Linie.“31 Mit den ersten Sätzen seiner Aussage lag Moltmann richtig; er wurde von der SED auf diese Position, die fast ausschließlich repräsentativer Art war, abgeschoben. Die Politik „beeinflussen“ konnte Moltmann nur, wenn die ehemaligen Kommunisten in der mecklenburgischen Landesregierung und im Landtag seinen Anliegen positiv gegenüberstanden. In anderen Angelegenheiten waren ihm die Hände gebunden. Doch zum Amtsantritt hatte Moltmann noch die Illusion, eine wichtige politische Aufgabe zu übernehmen, die über Macht verfüge. Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache, daß Moltmann für die Durchsetzung der SED-Politik erpreßbar war: Zum einen hatte er nach 1945 noch einmal – seine Sekretärin – geheiratet32, zum anderen mußte sich Moltmann permanent für das schlechte Benehmen seines Sohnes Karl rechtfertigen. Karl Moltmann war Leiter der Regierungsfahrbereitschaft gewesen, führte aber einen so schlechten Lebenswandel, daß er auf Anweisung des Ministerpräsidenten Wilhelm Höcker entlassen wurde. Durch seine engagierte Arbeit im Sinne der SED 29 Auffallend ist, daß Moltmann sukzessive ab zweiter Hälfte des Jahres 1947 aus der „Landeszeitung“, dem Zentralorgan der mecklenburgischen SED, „verschwand“. 30 Andreas Malycha stellte sogar die These auf, daß die Ausschaltung von SEDLandesfunktionären erst ein wesentliches Element im Stalinisierungsprozeß der SED wurde. Vgl. Andreas Malycha, Die Illusion der Einheit – Kommunisten und Sozialdemokraten in den Landesvorständen der SED 1946–1951, in: Michael Lemke (Hrsg.), Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ/DDR (1945–1953), Köln u. a. 1999, S. 81–119, hier S. 82. 31 Vgl. 4. Landesvorstandssitzung am 25. Januar 1947, Ms, LHAS, Bestand SEDLandesleitung Mecklenburg, Nr. 9, Bl. 137. 32 Seine erste Frau war 1932 verstorben. Seine zweite Frau, mit der Moltmann auch zwei Kinder hatte, war 34 Jahre jünger als er.

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hatte Moltmann seinen Sohn lange in dieser Position halten können. Ähnlich funktionierte es nach Bekanntwerden seiner Verbindung mit der um viele Jahre jüngeren Frau, die Moltmann später durch die Ehe legitimierte. In den Augen vieler Kollegen und der Bevölkerung galt das langjährige Verhältnis als unmoralisch. Um diese Zeit war Moltmann noch von dem Gedanken besessen, daß die SED-Politik auf der Grundlage von Demokratie, Humanität und Gerechtigkeit basiere. Auch setzte er sich sehr für die Belange der mecklenburgischen Bevölkerung ein. Doch schon im Laufe des Jahres 1947 änderte Moltmann seine Meinung: „Und wenn von der Besatzungsmacht hier und da wirklich jemand verhaftet ist, von dem viele annehmen, es sei zu unrecht geschehen, so glaube ich, es ist besser, so zu verfahren, denn mancher ist uns dadurch abgenommen worden, der sonst auch diesen Dreck geworfen hätte, darum sehe ich es lieber, einmal härter zuzugreifen, als zu milde zu sein.“33 Mit der Stalinisierung der SED wurde Moltmann nicht mehr benötigt. Bis zu diesem Punkt hatte er sich zum großen Teil bzw. ganz von seinen ehemaligen sozialdemokratischen Traditionen distanziert. Er funktionierte als Rädchen im großen SED-Getriebe. Die Umwandlung in eine „Partei neuen Typus“ bahnte sich recht früh an. Harold Hurwitz machte erstmals darauf aufmerksam, daß die Stalinisierung keine Reaktion auf die Anfänge des Kalten Krieges 1948 war, sondern unmittelbar nach der Parteigründung im Sommer 1946 begann.34 Der sich zuspitzende Ost-West-Konflikt führte zu immer größeren Spannungen zwischen den ehemaligen Alliierten und verstärkte das Interesse der KPdSU, die SED zu einer kommunistischen Partei im Sinne Stalins zu verändern und sie gleichzuschalten. Die von Anton Ackermann herausgearbeitete These vom „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ wurde verworfen. Mit der „Partei neuen Typus“ sollte eine neue staatliche und ökonomische Ordnung eingeführt werden. Die SED verstaatlichte den Großteil von Handel und Industrie und ging zu den Zweijahresplänen über. Sie machte den demokratischen Zentralismus zum Parteiprinzip, der eine Fraktions- und Gruppenbildung strikt untersagte. Das Studium der „Geschichte der KPdSU“ wurde für alle Mitglieder Pflicht. Analog zur KPdSU erhielt die Parteispitze im Januar 1949 ein Politbüro und im Juli 1950 ein Zentralkomitee. Im September 1948 richtete die SED eine Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) und untergeordnete Landes- und Kreisverbände ein.35 Am 29. Juli 1948 folgte der Beschluß des Parteivorstandes 33

Vgl. 4. Landesvorstandssitzung vom 25. Januar 1947 (FN 31), Bl. 139. Vgl. Harold Hurwitz, Zwangsvereinigung und Widerstand der Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone, Köln 1990, unpaginiert. Vgl. auch ders., Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946–1949, Opladen 1997. 35 Vgl. alle Angaben bei Hermann Weber, Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands 1946–1971, Bremen 1971, S. 14. 34

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zur „Säuberung“ der Partei von „feindlichen und entarteten Elementen“36. Die SPD in den westlichen Besatzungszonen galt fortan als parteifeindlich. Überzeugte Sozialdemokraten, die für eine autonome SPD und gegen eine Vereinigung mit der KPD eingetreten waren, wurden politisch und juristisch gemaßregelt oder inhaftiert. Viele überlebten die Haft nicht. Nach dem Zusammenschluß verfolgte die SED diejenigen, die die sozialdemokratischen Traditionen in der Einheitspartei bewahren wollten. Mit wenigen Ausnahmen konnten die ehemaligen Sozialdemokraten aus den Vorständen gedrängt werden. Des weiteren wurde die Besetzung der paritätischen Funktionen abgeschafft. Während sich die SED vorher am Marxismus orientierte, nannte sich die neue Ideologie Marxismus-Leninismus. Eine weitere umfassende Säuberung des gesamten Parteiapparates erfolgte 1951/52.37 Die II. Parteikonferenz der SED 1952 bildete den Höhepunkt der Stalinisierung der SED.38 Im April 1948 nahm Carl Moltmann im Zentralhaus der Einheit in Berlin an einer Sitzung der Landtagspräsidenten teil, die Fragen der Gesetzgebung und der systematischen Koordination der Arbeit auf dem Gebiet der „Partei neuen Typus“ erörterten.39 Moltmann setzte sich im Zuge der Stalinisierung der Partei – im persönlichen Widerspruch zu seiner beschriebenen Einstellung zu den zahlreichen Verhaftungen – für Mitarbeiter und Kollegen ein. Er hatte die Illusion, daß es sich bei Inhaftierungen von Bekannten um Irrtümer handeln mußte. Moltmann versuchte z. B. gegen die drohende Verurteilung von Albert Schulz etwas zu unternehmen: „Wir haben den Vorschlag der Kommission im Sekretariat beraten, aber keine Entscheidung gefällt. Jetzt liegt diese Entscheidung vor. Ich habe in der Sekretariatssitzung auch dazu Stellung genommen und habe gesagt, daß mir die Entschließung etwas weit geht. Ich nehme das zunächst vorweg. Wir sind 1946 als eine Einheitspartei zusammengekommen, haben uns bemüht, uns in unserer Arbeit zu wandeln, um die Dinge richtig zu sehen. Wir haben nun seit der letzten Konferenz nach den Reden der Genossen [Otto] Grotewohl und [Walter] Ulbricht eine Partei neuen Typus. Genossen, das ist noch keine lange Zeit. Wir werden noch hier und da viele Schwierigkeiten haben. Können wir da nun immer gleich jetzt schon mit diesen Maßstäben messen,

36 Vgl. Helga Grebing u. a., Zur Situation der Sozialdemokratie in der SBZ/DDR 1945–1950. Gutachten für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Schüren 1992, S. 25 f. 37 Vgl. dazu z. B. Ulrich Mählert, „Die Partei hat immer recht!“ Parteisäuberungen als Kaderpolitik in der SED (1948–1953), in: Hermann Weber/ders. (Hrsg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 1998, S. 351–459. 38 Vgl. Weber (FN 35), S. 16. 39 Vgl. Stenographische Niederschrift über die Sitzung der Landtagspräsidenten usw. zu Berlin am Dienstag, dem 27. 4. 1948 im Zentralhaus der Einheit, Ms, SAPMOBArch, Bestand Konferenzen und Beratungen des Parteivorstandes der SED, DY/30/ IV 2/1.01 86, unpaginiert.

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wie das hier in dem Vorschlag gemacht wird?“40 Moltmann wurde nun aus der Partei verdrängt. Er hatte sich in der vorangegangenen Zeit aktiv in die SED eingebracht, aber die Distanz zur eigenen sozialdemokratischen Vergangenheit reichte nicht, um in der Einheitspartei Fuß zu fassen und zur politischen Autorität zu werden. Der Illusion von der Richtigkeit der Politik hing er bis zu seinem Tod an. Angst vor einer drohenden Verhaftung hatte Moltmann nicht. Am 27. Januar 1951 trat Moltmann im Alter von 67 Jahren von seiner Funktion als Mitglied des Sekretariats der SED-Landesleitung Mecklenburg und als Landtagspräsident zurück.41 Er konnte sich nicht damit abfinden, keine führende Rolle in der Politik mehr zu spielen. Moltmann, der sein gesamtes Leben der Politik gewidmet hatte, war in dem Land, in dem er seine Karriere begonnen hatte, überflüssig geworden. Er zog sich in dem Moment zurück, als wahrscheinlich – früher oder später – die Gefahr der vorzeitigen Absetzung drohte. Auf repräsentative, aber unbedeutende Positionen wie beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) abgeschoben, starb Carl Moltmann am 5. Februar 1960 im Alter von 75 Jahren in Schwerin.

6. Schlußbetrachtung Moltmanns politischer Bruch datiert im Nationalsozialismus. Nach der Zerschlagung des Dritten Reiches wollte er die sozialdemokratische Politik zusammen mit einer kommunistischen fortführen. Diese neue Politik mußte als Ergebnis der jüngsten Geschichte in seinen Augen zwangsläufig radikaler gegenüber der Bevölkerung wie in den eigenen Reihen durchgeführt werden. Die Politik war für ihn ein Konglomerat aus den Ideen und Vorstellungen sowohl der SPD als auch der KPD, angepaßt an die Bedürfnisse der neuen Zeit. Es hatte für ihn nach 1945 nur noch marginale Unterschiede zwischen der KPD und der SPD gegeben. Anfänglich versuchte er, sich sozialdemokratisch bis zu einer gewissen Grenze treu zu bleiben, aber daneben die politischen Ziele der SED umzusetzen. Er paßte sich äußerlich der Partei an. Das innerliche Zurückziehen ist schwer einzuschätzen. Moltmann ging von dem irrtümlichen Gedanken aus, daß auf ihn, einen führenden Sozialdemokraten Mecklenburgs, in der neuen Partei nicht verzichtet werden könne, um einen reibungslosen Ablauf der SED-Politik zu garantieren. Er glaubte an den Einfluß von Sozialdemokraten in der Landespolitik. Dafür spricht, daß sich Moltmann länger und wesentlich intensiver für verhaftete Sozialdemokraten einsetzte als andere Konvertiten. Er sah sich als Vertreter einer „geläuterten“ Sozialdemokratie, die sich darum bemühte, zu ei-

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Zit. in: Schwabe (FN 10), S. 21. Vgl. Ohne Titel vom 27. Januar 1951, Ms, Abschrift, LHAS, Bestand Familienund Personennachlässe Carl Moltmann, Nr. V 6/8/1, Bl. 6. 41

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nem Konsens mit den Kommunisten zu gelangen, vor 1946, im Zuge der Vereinigung, und danach, auch in dem Bewußtsein, gegen eigene Genossen zu handeln. Bestärkt wurde er durch ein analoges Denken anderer SPD/SED-Landesvorsitzender wie Buchwitz und Hoffmann. Moltmann sah sich als „Retter der Demokratie“ und wollte in diesem Sinne vereinigungsunwillige Sozialdemokraten zu „ihrem Glück zwingen“. Der „unmittelbare Nachkriegssieger“, wie Marko Michels in einem Essay behauptet, war Moltmann jedoch nicht.42 Das Bild, wie er sich selbst innerhalb der mecklenburgischen SED wahrnahm, steht in Widerspruch zu dem, wie Zeitzeugen ihn beurteilten: „Das lag aber sicher an der Mentalität der Leute, der [Moltmann] bildete sich tatsächlich ein, er sei nun Landedelmann.“43 Innerhalb der Sozialdemokratie, über die mecklenburgische Landesgrenze hinaus, galt Moltmann als jemand, der sich mit Alkohol und Frauen korrumpieren ließ: „[D]ie haben ja nicht als Korrupte angefangen, sondern die meisten sind als Korrupte geendet, so muß man es sehen.“44 Sicherlich war Moltmann für gewisse Annehmlichkeiten empfänglich, doch greift der Vorwurf der Korruption zu weit. Es wurde dabei vergessen, daß er aufgrund des negativen Verhaltens seines Sohnes und seiner über 30 Jahre jüngeren Frau, die für ihn als Sekretärin gearbeitet hatte, von der SED erpreßbar war. Moltmann erkannte zu spät, daß er sich der Partei mit seiner ganzen Person und Persönlichkeit „verkauft“ hatte. Für einen Rückzug aus rein politischen Gründen war es zu spät und nur durch die Vorgabe von Krankheitsgründen legitimierbar. Daß er „keine Wahl“ hatte, als für eine Fusion mit der KPD zu stimmen und sich aktiv in der SED-Politik zu engagieren, wie Michels45 es verdeutlichen will, kann trotzdem so nicht akzeptiert werden. Die meisten der ostdeutschen Sozialdemokraten standen vor der gleichen Situation wie Moltmann, aber nicht alle entschieden sich für diesen politischen Weg. Bei Betrachtung der politischen Ebenen fungierte die mittlere Ebene als Mediator zwischen Führung und Basis. Diese Positionen besetzten meist Sozialdemokraten, die bereits in der Weimarer Demokratie führende Rollen in den Landtagen, Landesverbänden oder im Reichstag übernommen hatten und nach Kriegsende 1945 die SPD wieder aufbauten. Auf dieser Ebene waren geeignete Sozialdemokraten mit Führungsqualitäten bald „Mangelware“. Viele von ihnen hatten negative Erfahrungen mit den Kommunisten oder der sowjetischen Besatzungsbehörde gemacht oder waren sogar verhaftet worden und verhielten sich dem Vereinigungsprozeß gegenüber ablehnend. Zu diesen Politikern gehörte Carl Moltmann nicht. Er hatte politische und persönliche Qualitäten, die 42 Vgl. Marko Michels, Er hatte keine Wahl: Ein Essay zur Erinnerung an den Schweriner Politiker Carl Moltmann (1884–1960), in: Mecklenburg. Zeitschrift für Mecklenburg-Vorpommern, Land und Leute – Kultur – Geschichte 43 (2001), S. 19. 43 Vgl. die Aussage von Fritz Schreiber (S. F.), in: Bouvier/Schulz (FN 25), S. 77. 44 Vgl. ebd., S. 88. 45 Vgl. Michels (FN 42), S. 19.

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die Kommunisten und die SMAD von Anfang an für die Durchsetzung ihrer politischen Linie nutzten. In Moltmann fanden die neuen Machthaber einen kooperationswilligen Wegbereiter ihrer Politik. Mit ihm in einer Führungsposition im mecklenburgischen SPD-Landesverband konnte fast im Vorbeigehen parallel ein kommunistischer Apparat in den Verwaltungen und Institutionen installiert werden. Als Zäsur wird die Zwangsvereinigung gewertet. Ohne einen Zusammenschluß wäre es für KPD und SMAD deutlich schwieriger geworden, die Sozialdemokratie auszuschalten. Es hätte nach wie vor kooperationswillige Politiker innerhalb der SPD gegeben, aber sie hätten sich als Minderheit in den meisten Fällen ihrer Partei beugen müssen, nicht die politische Rolle spielen können, die sie in der Einheitspartei spielten. Durch die Konvertiten46 kann die berechtigte Frage aufgeworfen werden, ob der Begriff der Zwangsvereinigung treffend ist oder es einer stärkeren Differenzierung bedarf, wenn es doch Sozialdemokraten gab, die sich bis zum Ende für sie aussprachen. Der Terminus „Zwangsvereinigung“47 ist präzise, wenn der Weg zur oktroyierten Einheit als Gesamtprozeß betrachtet wird. Eine Homogenität innerhalb der SPD in der Frage des Zusammenschlusses mit der KPD hatte es von Beginn an nicht gegeben. Die Gruppe, die sich gegen den zentralen Führungsstab und gegen die eigene Basis stellte, befand sich deutlich in der Minderheit. Allerdings agierte diese Minderheit in sozialdemokratischen Führungsämtern. Sie konnte so über die Köpfe ihrer Basis hinweg eigene Beschlüsse und Vorhaben umsetzen. Die Sozialdemokratie in der SBZ als Ganzes hatte spätestens ab Herbst 1945 keine Option mehr für oder gegen eine Vereinigung. Die KPD und mit ihr im Schlepptau diejenigen Sozialdemokraten, die politisch auf der gleichen Linie lagen, ließen keine Alternative zu. Es wurden mit Politikern wie Moltmann Sozialdemokraten ausgewählt, die Wegbereiter für den Fusionsprozeß mit der KPD waren. Die Kennzeichen der Sozialdemokratie (Sozialismus und freiheitliche Demokratie) waren von Moltmann schon vor der Zwangsvereinigung mißachtet worden. Carl Moltmann vollzog somit einen regelrechten politischen Bruch. Bis Mitte der 1920er Jahre wäre sein politischer Übertritt wahrscheinlich schlicht eingeordnet worden als Verschiebung von demokratisch über mäßig radikal zu radikal. Nach der Stalinisierung der KPD 1928/29 konnte diese Position nicht

46 Die Konversion soll die „Umkehrung“ der politischen Tradition verdeutlichen, indem sich Sozialdemokraten aus einer Partei mit pluralistischen Meinungsbildern, Plattformen und einer repräsentativ-demokratischen Struktur kommend, für eine zentralistisch-diktatorische Kaderpartei entschieden. Vgl. ausführlich Simowitsch (FN 1), S. 19–21. 47 Vgl. zum Begriff „Zwangsvereinigung“ vor allem: Werner Müller, Die Gründung der SED – Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946, in: Hermann Weber u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (1996), S. 163–181 und ders. (FN 22).

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mehr vertreten werden. Ohne die Stalinisierung der KPD und ohne die Zwangsvereinigung 1946 hätte es das Problem der sozialdemokratischen Konvertiten wahrscheinlich nicht gegeben, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Das Konvertitenproblem in der ostzonalen SPD ist eine historisch einmalige Konstellation, zumal Moltmann nie zur radikalen Linken innerhalb der SPD zu rechnen war. Er gehörte der reformerischen Mitte an, auch über die Brüche von 1914 und 1917/19 hinweg. Carl Moltmann als Person und Politiker, sein Leben und sein Wirken zu beleuchten, bedeutet vor allem, ihn vor dem umfangreichen historischen Hintergrund seiner Zeit zu betrachten. Die Motive für seinen Weg vom Sozialdemokraten zu einem Instrument des SED-Regimes waren vielschichtig: die unter den Zeitereignissen gewonnenen Einsichten nach einer historischen Notwendigkeit der Zusammenarbeit, Karrieredenken, Glaube, daß zum einen die Besatzungszeit von kurzer Dauer, zum anderen die Besatzungsmacht keine Schuld an den Fehlern der KPD/SED-Politik habe, sondern wohl kontraproduktive Politiker in den eigenen Reihen, moralischer Druck durch persönliche Verhältnisse und auch einfach zufällige politische Situationen, denen er sich nicht entziehen konnte. Er wollte aus den alten „Fehlern“ lernen, übersah häufig die neuen, konnte sich ihnen nicht widersetzen oder war von der aktuellen politischen Situation überfordert. Warum wurde ein gestandener Sozialdemokrat wie Carl Moltmann zu einem SED-Parteigänger? Er stammte aus dem sozialdemokratischen Milieu, trat bereits 1903 der SPD bei. Nach dem Ersten Weltkrieg avancierte er zum führenden Politiker der Region. In der Weimarer Republik war Moltmann ein radikaler Gegner der kommunistischen und nationalsozialistischen Politik. Die Einstellung zur KPD veränderte sich schlagartig mit dem Jahr 1933. Dieses Jahr wird als der Zeitpunkt seiner Konversion bewertet. Zum einen verlor er seine regional bedeutende politische Position, er wußte nicht, was ihn erwartete und er erlebte täglich – mit dem Höhepunkt der Verhaftung – eine latente Bedrohung. Zum anderen eröffnete er, aus allen Funktionen entlassen, in Schwerin ein Tabakwarengeschäft, das als Ort für konspirative Treffen genutzt wurde. Dorthin kamen nicht nur ehemalige Genossen, sondern auch Parteilose und Kommunisten, mit denen er leidenschaftlich über die begangenen Fehler diskutierte und nach politischen Lösungen im Anschluß an die Zerschlagung des Nationalsozialismus suchte. Ein Schlüsselerlebnis war seine kurze Haft in BützowDreibergen. Dort hielt er den Kontakt zu den Kommunisten aufrecht. Während dieser Zeit setzte sich in ihm die Illusion fest, daß eine Zusammenarbeit von KPD und SPD den Aufstieg der NSDAP möglicherweise hätte verhindern können. In dieser Phase hatte für die meisten Kommunisten und Sozialdemokraten – so auch für Moltmann – die Gemeinsamkeit des Verbots der politischen Tätigkeit und der Verfolgung Vorrang vor allen ideologischen Differenzen. Nach 1945 baute Moltmann den mecklenburgischen SPD-Landesverband wieder auf,

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konzentrierte seine Kraft aber ab Herbst 1945 auf eine Vereinigung mit der KPD. Durch Moltmann konnte die KPD die „Schwesterpartei“ in Mecklenburg kontrollieren und lenken. Auch wenn es einen politischen Bruch gab, war Moltmann dennoch kein absoluter Konvertit. Sicher löste er sich von seinen sozialdemokratischen Traditionen und arbeitete aktiv mit der KPD zusammen. Er konvertierte aufgrund anderer ideologischer Maßstäbe als beispielsweise der sächsische SPD-Landesvorsitzende und „Vorzeigesozialdemokrat der SED“ Otto Buchwitz. Es gab für Moltmann keine „traditionelle“ SPD und KPD Weimarer Art mehr, sondern es sollte eine völlig neue partnerschaftliche Bewegung mit gleichberechtigten Ausgangsbedingungen entstehen. Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches machten ihn blind für die realen Absichten der Kommunisten. Daß Moltmann eine gewisse Zeit nicht durchschaute, welche Art Politik in der KPD/SED gemacht wurde, zeigte vor allem sein Einsatz für inhaftierte (ehemalige) Sozialdemokraten wie den Rostocker Oberbürgermeister Albert Schulz oder den früheren SPD-Landesgeschäftsführer und Nachfolger Lüdemanns Willi Jesse. Er ging davon aus, daß auch die Kommunisten offen für einen Meinungsaustausch auf demokratischer Ebene votierten, analog der Zeit der Illegalität 1933 bis 1945. Angst vor den Kommunisten und der sowjetischen Besatzungsmacht hatte Moltmann nicht. Er war ein Illusionist über die eigene Rolle in der Einheitspartei. Die Zusammenarbeit mit der KPD und in der SED war zwar idealistisch fundiert, aber auch von der Hoffnung getragen, im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen eine ähnlich gute Position zu erhalten wie in der Weimarer Republik. Diese sollte ihm nicht nur seinen alten Status wiedergeben, sondern ihn auch materiell absichern. Nicht außer acht zu lassen ist die Tatsache, daß Moltmann sich den energischen sächsischen und thüringischen SPD-Landesvorsitzenden Otto Buchwitz und Heinrich Hoffmann nur schwer entziehen konnte. Beide waren sehr ehrgeizig und ließen ihr Einheitstempo in einen regionalen Konkurrenzkampf ausarten. Der Aspekt, daß er „von Gnaden“ der Sowjetischen Militäradministration in Mecklenburg Landesvorsitzender wurde, spielte bei seiner Entscheidung für einen Zusammenschluß ohne Zustimmung seiner sozialdemokratischen Basis ebenso eine bedeutende Rolle. Moltmann war nur ein Beispiel für eine bestimmte Anzahl Sozialdemokraten, die sich durch die Zusammenarbeit mit der KPD und in der SED neue politische Impulse versprachen. Da keine vollständige Biographie vorliegt, müssen viele Fragen und abschließende Antworten offen bleiben. Das betrifft umfangreichere Interpretationen über Verhaltensmuster und Motivausleuchtungen. – Carl Moltmann war ein Verräter an den Idealen der traditionellen SPD; er unterlag aber auch einer fatalen politischen Selbsttäuschung über die Rolle der Sozialdemokratie als Partei in der SBZ und der eigenen tragischen Rolle im mecklenburgischen Landesverband.

„Mit APO immer, gegen Sowjets nimmer“ Über die Beziehungen zwischen der SED-W und der APO in West-Berlin Von Olav Teichert

1. Einleitung In West-Berlin stieß die Studentenbewegung der 1960er Jahre und die sich daraus entwickelnde Außerparlamentarische Opposition1 (APO) in weiten Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis oder gar Ablehnung. Die SED-W (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Westberlin) gehörte zu den wenigen, die beharrlich den Schulterschluß mit den Studenten suchten. Um so mehr überrascht es, daß diesem Aspekt in wissenschaftlichen Debatten bislang kaum Beachtung geschenkt wurde.2 Die SED-W wurde 1962 aus den Westberliner Kreisorganisationen der SED gegründet. Es sollte der Anschein erweckt werden, als handele es sich bei der SED-W um eine unabhängige und politisch selbständige Parteiorganisation. Tatsächlich aber blieb die SED-W, die sich 1969 in SEW3 (Sozialistische Einheitspartei Westberlins) umbenannte, über die Jahrzehnte hinweg ein Vehikel der

1 Die APO bildete den Sammelbegriff für zahlreiche verschiedene Gruppierungen und Organisationen. Hierzu gehörten der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der Republikanische Club (RC), der Sozialistische Hochschulbund (SHB), der Liberale Studentenbund Deutschlands (LSD), die Humanistische Studentenunion (HSU) sowie viele andere mehr. Vgl. Eric Waldman, Die SEW und die sowjetische Berlinpolitik, Boppard am Rhein 1972, S. 177–180. 2 Neben Eric Waldmann, erfolgt eine Thematisierung der Zusammenarbeit zwischen der SED-W und der APO u. a. bei: Peter Müller, Die Sozialistische Einheitspartei Westberlins, in: Richard Stöss (Hrsg.): Parteienhandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Opladen 1984, S. 2258–2261; Katharina Riege, Einem Traum verpflichtet: Hans Mahle – eine Biographie, Hamburg 2003, S. 407–414; Eberhard Schröder, . . . und nicht vergessen . . . Ein persönlicher Beitrag zur Bewahrung der Geschichte der SEW, Berlin 2005; Bernd Rabehl, Die drei Anti-SpringerKampagnen 1967/68. Kommentar zu den Arbeiten von Hubertus Knabe, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2002) 11, S. 143–150. 3 In diesem Kapitel wird die im historischen Kontext korrekte Bezeichnung SED-W verwandt. Nur bei einem zeitlich direkten Bezug (ab Februar 1969) wird der Name SEW benutzt.

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SED in West-Berlin und wurde von ihr gesteuert und finanziert.4 Den Westberliner Kommunisten gelang es nicht, bei Wahlen die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Die SED-W war für das taktische Vorgehen der SED unter den speziellen Bedingungen in West-Berlin verantwortlich.5 Eine der grundsätzlichen Zielvorstellungen war, dort den Sozialismusgedanken zu popularisieren bzw. den, wie die Kommunisten es nannten, „grassierenden Antikommunismus“ stetig abzubauen. In der konkreten Umsetzung für die SED-W, die als „Mauerpartei“ verschrien und Anfang der 1960er Jahre politisch und gesellschaftlich vollkommen isoliert war, stellte sich als vordringlichste Aufgabe, Verbindungen zur Bevölkerung aufzubauen bzw. Gesprächspartner zu finden. Die zu dieser Zeit einsetzende Studenten- und Protestbewegung war für sie eine günstige Gelegenheit, aus dem Schattendasein herauszutreten. In diesem Aufsatz wird untersucht, auf welche Weise und inwieweit es den Kommunisten gelang, sich in die APO zu integrieren. Um das Beziehungsverhältnis beider Seiten einzuschätzen, erfolgt eine Darstellung der gegenseitigen Berührungspunkte in den politischen Zielen. Daran angeschlossen ist eine Analyse gemeinsamer Aktivitäten und Aktionen, wodurch sich die Einbindung der SED-W in die APO konkretisieren läßt. Um die Hintergründe für die partielle Zusammenarbeit nachzuvollziehen, wird schließlich das methodische Vorgehen der Kommunisten bei der Kontaktanbahnung zur Studentenbewegung analysiert, um sodann eine Bewertung der Rolle der SED-W innerhalb der APO vorzunehmen.6

2. Gemeinsamkeiten und Gegensätze zwischen SED-W und APO Eine genaue Betrachtung des Verhältnisses zwischen der SED-W und der Studentenbewegung zeigt, daß dieses über den gesamten Zeitraum der 1960er Jahre hinweg äußert gespalten war. Bei Themen wie der Ablehnung der durch die Bundesrepublik verabschiedeten Notstandsgesetzgebung, die Verurteilung der amerikanischen Vietnampolitik sowie die Forderungen nach Anerkennung der DDR, der Oder-Neiße-Grenze und des eigenständigen Status West-Berlins

4 Vgl. Jenny Niederstadt, „Erbitten Anweisung!“ Die West-Berliner SEW und ihre Tageszeitung „Die Wahrheit“ auf SED-Kurs, Berlin 1999, S. 43–51. 5 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Die SED diesseits der Mauer. Reorganisation der Sozialistischen Einheitspartei in Westberlin, in: SBZ-Archiv 14 (1963), S. 374. 6 Dieser Aufsatz beruht auf einem Dissertationsvorhaben des Autors zur Geschichte und Tätigkeit der SEW unter Einbeziehung der Einflußnahme durch die SED. Vgl. Olav Teichert, Die SEW. Eine kommunistische Partei in West-Berlin, unveröffentlichtes Manuskript 2007.

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korrespondierten die Ziele von Teilen der Studentenschaft mit denen der SED bzw. SED-W.7 Ebenso finden sich in der APO Überschneidungen mit der von der SED-W vertretenen marxistisch-leninistischen Ideologie und Programmatik. Dazu zählte beispielsweise der propagierte Antifaschismus, der „Kampf für die Zurückdrängung der Herrschaft der Monopole“ oder die Forderung für eine „erweiterte und qualifizierte Mitbestimmung“.8 Um zusätzliche Übereinstimmungen zu erzielen, veröffentlichte die SED-W Mitte 1968 einen Programmentwurf für eine „demokratische Bildungs- und Hochschulreform“ in Anlehnung an die von der APO erhobenen Forderungen. Nach Ansicht von Gerhard Danelius, dem Vorsitzenden der SED-W, sollte dies dazu beitragen, eine „Plattform für das gemeinsame Vorgehen aller demokratischen und sozialistischen Kräfte zu schaffen“.9 Der Entwurf erschien als Sonderdruck und wurde in einer großen Aktion an Universitäten und Schulen verteilt sowie gezielt an Lehrkräfte verschickt.10 Abgesehen von der punktuellen Übereinstimmung bestand in Teilen der APO eine allgemein skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der SED-W.11 Einigen Anhängern der Bewegung war die Partei entweder zu autoritär oder zuwenig revolutionär, anderen hingegen war der Einfluß Ost-Berlins zuwider; manche wiederum bezeichneten die Westberliner Kommunisten gar als „Rotfaschisten“. Die Bandbreite der Kritik an der SED-W und ihrer Politik entsprach dem Konglomerat der in der APO entstandenen Strömungen und Positionen, die sich in der Phase der Radikalisierung der Bewegung herauskristallisiert hatten.12 Insbesondere maoistische und anarchistische bzw. antiautoritäre Gruppierungen innerhalb der APO waren es, die sich verstärkt direkt gegen den orthodoxen Kommunismus und gegen die SED-W aussprachen. In z. T. scharfer Form verurteilten sie die Politik des „realen Sozialismus“ sowjetischer Prägung und beschuldigten die Stellvertreter der „imperialistischen“ Sowjetunion des Verrats an der Revolution.13 Die zum Teil erheblich divergierenden Meinungen in ideologischen und taktischen Fragen, die immer wieder hervortraten, bestanden nicht nur zwischen der APO und der SED-W, sondern sie kennzeichneten die Bewegung insgesamt. Aufgrund dessen sah sich die SED-W im Laufe der Zeit ihrerseits gezwungen, zwischen den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der APO bei der Zusammenarbeit zu differenzieren. Zur Vermeidung der Gefahr, Zielscheibe von „antisowjetischen Angriffen“ zu werden, verweigerte sie die Beteiligung an Aktionen der APO, die Kritik am System der Sowjet7

Vgl. Waldman (FN 1), S. 178. Vgl. ebd., S. 190 f. 9 Senator für Inneres (Hrsg.), Einflußnahme der SED Westberlin auf die sogenannte außerparlamentarische Opposition, West-Berlin 1968, S. 15. 10 Vgl. Waldman (FN 1), S. 190 f. 11 Vgl. ebd., S. 184. 12 Vgl. ebd., S. 191. 13 Vgl. ebd., S. 180, 190 f. 8

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union und ihrer Verbündeten beinhalteten. Außerdem versuchte sie sich von den ab Ende 1966 eskalierenden Gewaltaktionen des linksextremistischen Teils der APO fernzuhalten. In einigen Fällen distanzierte sich die SED-W öffentlich von derartigen „Kampfmethoden“ oder versuchte gar, die Beteiligten davon abzubringen. Diese abwehrende Haltung der Westberliner Kommunisten hatte einerseits den Grund, Konflikte mit der Polizei möglichst zu vermeiden. Andererseits führte die zunehmende Dauereskalation dieser Zeit dazu, daß die Empörung bei den Westberlinern anwuchs. Das war nicht im Interesse der SED-W, gefährdete es doch ihre Bemühungen, ihren Einfluß über die APO innerhalb der Bevölkerung zu vergrößern.14 Trotz dieser Abgrenzung fand die SED-W innerhalb der Bewegung immer wieder „gemäßigte“ Gruppen für eine befristete Zusammenarbeit. Diese Verbindungen gründeten zumeist auf der gemeinsamen Überzeugung, daß bei der Vorbreitung für eine erfolgreiche Revolution zunächst eine Massenbasis geschaffen werden müsse.15 Hinzu kam, daß die Westberliner Kommunisten, entgegen aller Widersprüche und Konflikte, ständig bestrebt waren, „die APO-Gruppen zu überzeugen, das ,Gemeinsame und Einigende‘ zu suchen und Fragen zu diskutieren, ,die die Einheit in der politischen Aktion und die Durchsetzung der gemeinsamen Kampfziele fördern.‘“16 Insgesamt begünstigte gerade die Heterogenität der APO, daß die SED-W mit ihrer relativ klaren Positionierung und straffen Organisation zu einer „Abteilung in der Bewegung“ wurde.17

3. Aktionen Nach dem Mauerbau 1961 war es für die SED-W zunächst äußerst mühsam, mit Organisationen der Studentenbewegung in Kontakt zu kommen. Indirekt bestätigte dies die Behauptung der SED-W-Funktionärin Gisela Giessler auf der Delegiertenkonferenz der SED-W am 22. November 1962, „daß die Studenten in der Mehrheit so gut wie gar kein Wissen über die Entwicklung in Deutschland und in Berlin nach 1945 hätten. Die SED [-W] müsse sich immer wieder Vorwürfe gefallen lassen wie, sie sei Schuld am Bau der Mauer und an der Spaltung Deutschlands“.18 Mit dem Jahr 1964 veränderte sich diese Situation. Es begann sich abzuzeichnen, daß einige der Zielvorstellungen in Teilen der Studentenschaft sich punktuell denen der SED-W annäherten. Infolgedessen erklärte sich beispielsweise der Liberale Studentenbund Deutschlands (LSD) im Februar 1964 erstmals bereit, mit der SED-W zu diskutieren.19 Den Damm14 15 16 17 18 19

Vgl. ebd., S. 184 f., 191. Vgl. ebd., S. 195. Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 194 f. Senator für Inneres (FN 9), S. 3. Vgl. ebd.

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bruch bildeten die Demonstrationen am 18. Dezember 1964 gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé. Es war wohl die erste Aktion, an der Mitglieder der SED-W und ihrer Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend – Westberlin (FDJ-W) gemeinsam mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dem LSD und dem Sozialistischen Hochschulbund (SHB) offen auftraten.20 An dieser „machtvollen Einheitsdemonstration“, so wurde das Ereignis am nächsten Tag vom Parteiorgan der SED-W „Die Wahrheit“ bezeichnet, waren rund 650 Personen beteiligt.21 Es folgten weitere gemeinsame Aktionen. Hierzu gehörte u. a. die vom Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) am 1. Juli 1965 durchgeführte Protestkundgebung gegen den „Bildungsnotstand“ mit etwa 300 Funktionären und Mitgliedern der SED-W und FDJ-W, die Demonstrationen gegen die Vietnampolitik der USA am 5. Februar und 10. Dezember 1966 mit 300 bzw. 80 Mitgliedern sowie die Podiumsdiskussion über das Thema „Notstand für alle“ am 10. Oktober 1966 im Auditorium maximum der Freien Universität Berlin (FU).22 Im Gegenzug traf die Aufgeschlossenheit gegenüber der SED-W auch auf Widerstand. Beispielsweise wurden am 26. Oktober 1965 die von den Westberliner Kommunisten als „progressive Kräfte“ eingeschätzten Vorsitzenden des AStA (Allgemeiner Studentenausschuß) der FU Wolfgang Lefèvre und Peter Damerow (beide SDS-Mitglieder) vom Konvent abgewählt, als bekannt geworden war, daß beide Mitte August 1965 einen „Vietnam-Appell“ des von der SED-W gesteuerten ,Ständigen Arbeitsausschusses für Frieden, nationale und internationale Verständigung, West-Berlin‘ unterschrieben hatten.23 In einem anderen Fall wurde am 29. Juli 1966 FDJ-W-Mitgliedern der Zutritt zu einem von rund 1.000 Studenten besuchten Teach-in über Fragen der Zwangsexmatrikulation, Studienreform usw. verweigert.24 Insgesamt änderte dies jedoch nichts an der Tatsache, daß die SED-W ihr vordringlichstes Ziel erreicht hatte: Es gelang ihr, eine Gesprächsplattform innerhalb der APO zu finden, „auf der sie – wenn auch nur geduldet – verhältnismäßig ungestört agitieren konnte“.25 Besondere Bedeutung erlangte die Protestaktion anläßlich des Schah-Besuches am 2. Juni 1967. Bei dieser Kundgebung, die zu schweren Ausschreitungen zwischen der Polizei und den Studenten führte, kam der FU-Student Benno Ohnesorg durch Schüsse des Polizeiobermeisters Karl-Heinz Kurras ums Leben. Die offiziellen Vertreter der SED-W und ihren Nebenorganisationen waren dieser Demonstration ferngeblieben – wahrscheinlich aufgrund der relativ guten 20 Vgl. Rudi Dutschke zur Tschombé-Demonstration „als Beginn unserer Kulturrevolution“, in: http://www.glasnost.de/index.html (Stand: 10. April 2006). 21 Vgl. Waldman (FN 1), S. 178. 22 Vgl. ebd., S. 183. 23 Vgl. Senator für Inneres (FN 9). 24 Vgl. Waldman (FN 1), S. 183 f. 25 Senator für Inneres (FN 9), S. 9.

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Beziehungen zwischen der UdSSR und dem Iran.26 Anwesend war hingegen Jürgen Henschel, Fotograf des SED-W-Parteiorgans „Die Wahrheit“. Sein Foto vom getöteten Studenten Benno Ohnesorg, aufgenommen vor der Deutschen Oper, wurde weltbekannt.27 Durch die Intensivierung von Kampagnetätigkeiten versuchte die SED-W die Folgen der Ereignisse nach dem Schah-Besuch für sich zu nutzen. Zuvor hatte sie sich wiederholt mit dem „Kampf der Studenten und Professoren an den Westberliner Hochschulen und Universitäten“ in wesentlichen Punkten solidarisch erklärt; die Forderung nach der seit jeher angestrebten „Aktionseinheit“ in Form eines Zusammenschlusses „aller Arbeiter und Studenten“ zu einer „demokratischen Front“ erhob sie jedoch erstmals nach dem 2. Juni 1967. Entsprechende Flugblätter wurden am 5. Juni 1967 und in den folgenden Wochen in hoher Auflage vor zahlreichen Großbetrieben und vor den Hochschulen verteilt. Als Beispiel für ein „einheitliches Handeln“, so sagte der SED-W-Vorsitzende Gerhard Danelius auf einer Beratung des Parteivorstandes am 12. Juli 1967, „würden sich die am 21./22. Oktober 1967 stattfindenden sog. Vietnam-Tage anbieten, an denen sich die SED-Westberlin ,mit allen zur Verfügung stehenden Kräften‘ beteiligen wolle“.28 Die Initiative für diese Demonstration gegen den Krieg in Vietnam war von der „Kampagne für Abrüstung, Regionalausschuß Berlin“ ausgegangen. Ein entsprechender Teilnahmeaufruf an die Westberliner Bevölkerung wurde verfaßt und von 35 Organisationen und Institutionen unterzeichnet. An den besagten „Vietnam-Tagen“, deren Abschlußkundgebung auf dem Wittenbergplatz stattfand, nahmen schätzungsweise 8.000 Personen teil, unter ihnen die SED-W mit mehreren Hundert Anhängern.29 Die mit der SED-W sympathisierende Zeitschrift „Extra-Dienst“ berichtete über die Veranstaltung mit folgenden Worten: „Einige Tage vor dem 21. Oktober hatte die SED-Westberlin ihre Mitglieder aufgerufen, sich an der Demonstration zu beteiligen. Das wäre vor einigen Jahren noch Anlaß für viele der anderen Organisationen gewesen, sich unter Hinweis auf die kommunistische Mitbeteiligung zurückzuziehen. Am 21. Oktober geschah nichts dergleichen. SPD-Landesvorstandsmitglieder, die auf dem Kraterrand zwischen SPD und außerparlamentarischer Opposition wandeln, der Parteivorstand der SED [-W], Professoren der FU, Falken, Naturfreunde, liberale, sozialistische und christliche Studenten marschierten in einem Zug und nahmen an einer Kundgebung teil.“30 26

Vgl. Waldman (FN 1), S. 183. „Henschel, Jürgen: geb. 1923 in Berlin. Frühjahr 1967–1988 Festangestellter Fotograf der ,Wahrheit‘. Arbeitete auch im Auftrag der Gewerkschaften. Wurde durch die große Stehleiter stadtbekannt, die er zu Demonstrationen mitschleppte. Das Foto des verwundeten Ohnesorg erschien erstmals am 4. Juni 1967 in der ,Wahrheit‘.“ Zit. nach Riege (FN 2), S. 408. 28 Zitiert nach Senator für Inneres (FN 9), S. 14. 29 Vgl. Waldman (FN 1), S. 185–187. 30 Zitiert nach ebd., S. 186 f. 27

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Motiviert von dieser, über die Studentenbewegung hinausgehenden, parteiübergreifenden Demonstration wuchs in der SED-W die Planung einer Aktion für die Anerkennung der DDR. Hierzu trafen sich die Westberliner Kommunisten mit verschiedenen Gruppen der APO zu einem Koordinierungsgespräch in den Räumen des Republikanischen Clubs (RC). Ebenso gab es zwischen dem SED-W-Vorsitzenden Gerhard Danelius und Rudi Dutschke Vorbesprechungen.31 Der Aufruf an die APO sowie die Westberliner Bevölkerung, sich am 16. Dezember 1967 auf dem Kurfürstendamm an einer „Anerkennungsdiskussion“ zu beteiligen, erfolgte durch die SED-W und FDJ-W wie auch u. a. durch den SDS und den RC, dessen Appell zusätzlich mehrmals im Parteiorgan „Die Wahrheit“ veröffentlicht wurde. Auch der „Extra-Dienst“ warb in der Ausgabe vom 9. Dezember 1967 auf den Rückseiten, die im SED-W-Druckhaus Norden hergestellt worden waren, für die Veranstaltung. Die SED-W hatte etwa 8.000 Plaketten mit der Inschrift „Auch ich gehöre zur Anerkennungspartei“ herstellen lassen, um sie für 50 Pfennig das Stück zu verkaufen. Tatsächlich erschienen am 16. Dezember nur rund 350 Personen, von denen etwa 250 der SED-W angehörten, sowie etliche Gegendemonstranten.32 Die Enttäuschung über diese mißlungene Aktion versuchte die SED-W herunterzuspielen. Im Parteiorgan „Die Wahrheit“ (19./20. Dezember 1967) hieß es in Übereinstimmung mit einem Artikel im „Neuen Deutschland“ (17. Dezember 1967), daß Tausende Westberliner für die Anerkennung der DDR demonstriert hätten. Die bei der „Anerkennungsdiskussion“ in Erscheinung getretenen Gegner wurden in der „Wahrheit“ als „8-Groschen-Jungen“, ihre Argumente als „abstoßend und provozierend“ bezeichnet. Das „Neue Deutschland“ ging weiter und schrieb: „Neonazistische Elemente, die mit Billigung des Schütz-Senats auch in Westberlin ihre Umtriebe verstärkt haben, versuchten, die Aktionen durch übelste revanchistische Kriegshetze gegen die DDR, die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten zu stören.“33 Weitaus erfolgreicher gestaltete sich die am 17./18. Februar 1968 vom SDS in West-Berlin durchgeführte „Internationale Vietnam-Konferenz“, an der sich auch die SED-W beteiligte. Hierfür hatten wiederholt Vorbereitungsgespräche zwischen Vertretern der SED-W, der FDJ-W und maßgeblichen Vertretern der APO wie Walter Barthel, Gaston Salvatore, Johannes Agnoli und Rudi Dutschke stattgefunden. Ebenso zur Teilnahme an der Konferenz aufgefordert wurde die FDJ Ost-Berlins, die ihre offizielle Einladung am 20. Januar 1968 vom SDS-Mitglied Salvatore erhielt.34 Die Führungsspitze des Politbüros der 31

Vgl. Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik, Berlin 2001, S. 219. Vgl. Senator für Inneres (FN 9), S. 16, 19. 33 Neues Deutschland vom 17. Dezember 1967, zitiert nach: Senator für Inneres (FN 9), S. 19. 34 Einen Tag zuvor hatten sich bereits Gaston Salvatore und das SDS-Mitglied Christian Semler mit Vertretern des Zentralrates der FDJ getroffen. Ein weiteres Tref32

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SED, namentlich Albert Norden, stand der Einladung zwiespältig gegenüber, da sie befürchtete, daß „Ultra-Linke“ die Konferenz nutzen könnten, um die sozialistischen Länder zu kritisieren. Die FDJ Ost-Berlins sollte den SDS zu einer Terminverschiebung für die Konferenz drängen sowie ihn davon überzeugen, weitere „befreundete“, realsozialistisch linientreue Organisationen einzuladen, um den kommunistischen Einfluß auf die Veranstaltung zu sichern.35 „Die FDJVertreter konnten ihre Position gegenüber dem SDS nicht durchsetzen. Die ,Umfunktionierung‘ der Konferenz mißlang.“36 Wie ursprünglich geplant, begann am 17. Februar 1968 die Vietnam-Konferenz, der schätzungsweise 3.000 Personen beiwohnten. Neben der APO beteiligten sich Vertreter der FDJ OstBerlins, der illegalen KPD und ihrer Bündnisorganisationen. Die Tagung selbst soll – laut Darlegung des damaligen SDS-Mitglieds Bernd Rabehl – eher einer Propagandashow entsprochen haben, „auf der Resolutionen verlesen wurden, Beifallskundgebungen vorherrschten [. . .] und die einzelnen Beiträge eher auf den Kompromiß mit dem ,sozialistischen Lager‘ zielten“.37 Einer der daran beteiligten Redner war der FDJ-W-Vorsitzende Walter Rudert. Seine Ausführungen wurden immer dann durch Zwischenrufe und Mißfallensbekundungen unterbrochen, „wenn er die sowjetische Vietnam-Politik unterstützte und lobte“.38 An der am folgenden Tag angeschlossenen Vietnam-Demonstration beteiligten sich ca. 20.000 Menschen, unterschiedlichste Gruppen und Organisationen nahmen teil. Die SED-W und die FDJ-W waren mit etwa 500 Mitgliedern vertreten, darunter der Vorsitzende Danelius sowie weitere führende Funktionäre. Den Abschluß bildete eine Kundgebung vor der Deutschen Oper, auf der eine Resolution des SDS verlesen wurde. Im Vorfeld war es dem Stadtvorstand der FDJW in mehrstündigen Verhandlungen gelungen, den SDS zu überzeugen, die ursprüngliche Fassung der Resolution, die Angriffe auf die Sowjetunion enthielt, fallen zu lassen.39 Ein gravierendes Ereignis war der am 11. April 1968 verübte Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Durch das Attentat auf den Studentenführer verlor die Bewegung eine ihrer wichtigsten Symbolfiguren. Am gleichen Tag – nach Bekanntwerden des Anschlages – erklärte der Parteivorstand der SED-W seine Solidarität mit den Studenten und ließ in wörtlicher Übereinstimmung mit der APO verlautbaren, „das Attentat sei Ergebnis und Folge der maßlosen Hetze der Springer-Presse und der Politik des Senats von Berlin“.40 Ergänzend dazu fen unter Beteiligung von Dutschke, Semler und Salvatore erfolgte am 30. Januar 1968. Vgl. Bernd Rabehl, Feindblick: Der SDS im Fadenkreuz des „Kalten Krieges“, Berlin 2000, S. 55–57, 59. 35 Vgl. ebd., S. 58, 60. 36 Ebd., S. 60. 37 Ebd. 38 Senator für Inneres (FN 9), S. 22. 39 Vgl. ebd., S. 24.

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veröffentlichte die SED-W später ein in großer Auflage hergestelltes Extrablatt ihrer Zeitung „Die Wahrheit“, mit der sie eine „faschistische Blutlinie“ unterstellte, die „von Plötzensee über den Mord an Benno Ohnesorg bis zum feigen Mordanschlag auf Rudi Dutschke“ reiche. Die Postille spielte auf das Widerstandsrecht zur „Verteidigung der demokratischen Grundrechte“ an und behauptete, daß dieses Widerstandsrecht „ebenso gelte gegenüber der Polizeiwillkür und den Angriffen von [Klaus] Schütz [Regierender Bürgermeister] und [Kurt] Neubauer [Senator für Inneres] auf die Bürgerrechte wie gegen den Machtmißbrauch, den Axel Cäsar Springer mit seinem Pressemonopol“ ausübe.41 Einen Tag nach dem Anschlag auf Dutschke, am 12. April 1968, teilte Bruno Kuster (Sekretariatsmitglied der SED-W) der Vollversammlung der APO mit, daß der Parteivorstand die SED-Mitglieder aufgefordert habe, sich an der APO-Demonstration am Nachmittag des 12. April 1968 zu beteiligen. Diese Aufforderung war bereits am Vormittag im SED-W-Parteiorgan „Die Wahrheit“ veröffentlicht worden. Des weiteren hieß es dort: „Das ist durch die Schuld der Politiker geschehen, die seit Jahr und Tag in Antikommunismus machen und alle Warnungen vor der Gefahr des Neofaschismus in den Wind schlagen [. . .]. Jetzt ist es dringender denn je, daß alle antifaschistischen, alle demokratischen, alle sozialistischen Kräfte unserer Stadt sich noch enger zusammenschließen. Nur durch die Einheit der Aktion kann den neofaschistischen Umtrieben mit Erfolg begegnet werden.“42 Die SED-W hatte damit erstmalig ihre Mitglieder aufgefordert, an einer nicht genehmigten Demonstration der APO teilzunehmen. Der Demonstrationszug der APO setzte sich am Nachmittag des 12. April 1968 in Bewegung und führte vom Lehniner Platz durch die Innenstadt zum Kurfürstendamm in Richtung Joachimstaler Straße. Teilnehmer dieser Demonstration waren die Mitglieder der SED-W bzw. FDJ-W sowie deren führende Funktionäre, wie beispielsweise Gerhard Danelius, Erich Ziegler, Bruno Kuster und Klaus Feske. In Höhe der Leibnizstraße wurde die Demonstration schließlich nach schweren Zusammenstößen mit der Polizei aufgelöst. In der Ausgabe der „Wahrheit“ vom 13./14. April 1968, von der an den folgenden Tagen mehrere tausend Exemplare verkauft wurden, berichtete die SED-W in Wort und Bild ausführlich über das Ereignis. Zuvor waren zahlreiche Flugblätter verteilt worden, die verdeutlichten, daß die SED-W nach dem Attentat auf Dutschke die Forderung nach einer „antifaschistischen Einheitsfront“ weiter in den Mittelpunkt ihrer Agitation stellte.43 In Vorbereitung auf die Veranstaltung des 1. Mai 1968 erreichte die Zusammenarbeit zwischen der APO und der SED-W eine hohe Intensität, wenngleich 40 41 42 43

Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 31.

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Differenzen nicht ausblieben. Beispielsweise zog die APO ihren an die SED-W übergebenen Druckauftrag für eine Mai-Zeitung zurück, als herauskam, daß die eingereichten Manuskripte von den Westberliner Kommunisten eigenmächtig abgeändert worden waren. Das Ansinnen der SED-W, einen eigenen Redner für die Kundgebung am 1. Mai aufstellen zu können, stieß auf den Widerstand der APO.44 Die Westberliner Kommunisten ihrerseits weigerten sich – wohl auch aus Platzgründen – die APO, die für die Maiveranstaltung Räumlichkeiten suchte, an der traditionellen SED-W-Maifeier in den Veranstaltungsräumen der „Neuen Welt“ zuzulassen. Abgesehen von diesen Unstimmigkeiten liefen die Vorbereitungen der SED-W auf Hochtouren. Ein erster Aufruf zur Teilnahme an der Maikundgebung der APO erfolgte auf einer Funktionärskonferenz der SED-W in der „Neuen Welt“ am 23. April 1968. Um die Bevölkerung zu erreichen, wurden neben Veröffentlichungen im Parteiorgan „Die Wahrheit“ in großer Zahl Flugblätter gedruckt und verteilt. Am Abend des 30. April 1968 referierte das Mitglied des Sekretariats des SED-Parteivorstandes, Dietmar Ahrens, auf einer Veranstaltung des „Sozialistischen Mai-Komitees“, das sich aus verschiedenen APO-Gruppierungen zusammensetzte, die Position der SED-W zur Lage in West-Berlin und erhielt von den etwa 3.000 Teilnehmern starken Beifall.45 An der Maidemonstration am nächsten Tag beteiligten sich rund 12.000 Personen, unter ihnen befanden sich u. a. Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Studenten.46 Zu den größeren Gruppen gehörte die SED-Westberlin (u. a. Danelius mit Sekretariatsmitgliedern), der SDS, die Falken und die Jungsozialisten. „In der ersten Reihe des Demonstrationszuges marschierten die SDS-Funktionäre Bernd Rabehl und Wolfgang Lefèvre, die SDS-Mitglieder Walter Weller und Clemens Kuby, der Landessekretär der ,Falken‘ Heinz Beinert, die SEDFunktionäre Bruno Kuster und Klaus Feske sowie Rechtsanwalt Horst Mahler [. . .]. Als Ordner waren Angehörige des Ordnerdienstes des Republikanischen Clubs (RC) und der SED-Westberlin eingesetzt. Die SED-Westberlin forderte auf ihren Transparenten und Plakaten vor allem die Herstellung einer ,antifaschistischen Einheitsfront‘“.47 Die Losung vom 1. Mai 1968 lautete „Vereint siegen – nicht getrennt unterliegen“ und wurde später des öfteren von den SED-W-Funktionären bemüht, um die Aktionseinheit mit der APO zu beschwö44 „Die SED West-Berlin durfte auf der Abschlußkundgebung keine Sprecher stellen, da die zuständigen Behörden der DDR Wolf Biermann, der den Teilnehmern der sozialistischen Maidemonstration sein Lied ,Drei Kugeln auf Rudi Dutschke‘ vortragen wollte, keine Ausreisegenehmigung erteilt hatten.“ Zit. nach Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Macht und Ohnmacht der Studenten. Kleine Geschichte des SDS, Hamburg 1998, in: Siegward Lönnendonker, Archiv „APO und soziale Bewegungen“ Online-Publikationen, in: http://userpage.fu-berlin.de/~archapo/Index.htm (Stand: 10. April 2006). 45 Vgl. Senator für Inneres (FN 9), S. 36. 46 Vgl. Waldman (FN 1), S. 188. 47 Senator für Inneres (FN 9), S. 37.

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ren. Nach Abschluß der Demonstration fand am Nachmittag des 1. Mai 1968 in der „Neuen Welt“ die offizielle Mai-Feier der SED-W statt, „auf der Danelius ,mit Stolz und Freude‘ auf die ,machtvolle Mai-Demonstration‘ hinwies und erklärte, die ,antifaschistische Einheitsfront‘ verkörpere die Zukunft West-Berlins. Gegen Schluß der Veranstaltung erschien eine Delegation der APO mit Rechtsanwalt Horst Mahler, den SDS-Funktionären Christian Semler, Wolfgang Lefèvre und Hans-Joachim Hameister und dem RC-Geschäftsführer Walter Barthel“.48 Die Westberliner Kommunisten verzeichneten ihre Beteiligung an diesem 1. Mai als einen großen Erfolg. Ermutigt stellten sie fest, daß erstmals seit 20 Jahren die Maidemonstration wieder den Charakter eines Kampftages gegen Imperialismus und Krieg getragen habe.49 Aufbauend auf diesen Erfahrungen eines gemeinsamen Handelns der „antiimperialistischen Kräfte“ waren viele innerhalb der SED-W der Hoffnung, daß sich dies günstig auf die weitere Zusammenarbeit mit der APO auswirken würde. „,Es gilt jetzt, alles zu tun, was die Aktionseinheit der antiimperialistischen, demokratischen und sozialistischen Kräfte voranbringt im Kampf gegen die Allmacht der Monopole, gegen Notstandspolitik und -praxis [. . .]‘ hieß die Parole in der ,Wahrheit‘“.50 Die Ereignisse wurden sogleich in der Öffentlichkeit kommentiert. Die Zeitungen und Stellungnahmen von Politikern problematisierten insbesondere die Beteiligung der SED-W an der Veranstaltung des 1. Mai. Innerhalb der Anhängerschaft der APO, die sich vielleicht über das Ausmaß der Zusammenarbeit mit der SED-W nicht im klaren war, führte dies zu lebhaften Reaktionen und Diskussionen. Infolgedessen mußte am 9./10. Mai 1968 die Studentenvertretung der Technischen Universität Berlin aufgrund eines Mißtrauensantrages zurücktreten, da sie nach Auffassung des Konvents nicht in ausreichender Form konfrontativ der Politik der SED-W gegenüberstand. Auf einer Klausurtagung des SDS am 21. und 22. Juni 1968 stimmten viele der Teilnehmer dem SDS-Funktionär Christian Semler zu, „daß man der SED [-W] bei der Mai-Demonstration Gelegenheit gegeben habe, ,aus ihrer Isolation, in der sie sich innerhalb der APO befand, auszubrechen‘. Damit habe diese ,pseudo-sozialistische und stalinistische Partei‘ eine Plattform gefunden, die ihr nicht zustehe“.51 Andere führende Vertreter der APO hingegen (u. a. Klaus Meschkat, ehemaliger RC-Vorsitzender, Rechtsanwalt Mahler und der SDS-Funktionär Peter Gäng) versuchten, das Zusammengehen zwischen SED-W und APO „auf die Klärung von ,Modalitäten vorwiegend technischer Art‘ herunterzuspielen“.52 Überdies plädierte Meschkat in dem Rechenschaftsbericht des RC vom 25. Mai 1968 für eine wei-

48 49 50 51 52

Ebd. Vgl. Riege (FN 2), S. 411. Waldman (FN 1), S. 188. Senator für Inneres (FN 9), S. 42. Ebd., S. 41.

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terhin differenzierte Vorgehensweise. Er stellte heraus, daß die SED/SED-W mitverantwortlich sei „für viel Negatives und sogar Verwerfliches in der DDR – von der Kulturpolitik bis zur Frage der Grenzsicherung“.53 Insgesamt – so Meschkat – gäbe es jedoch „keinen Grund, die SED [-W] pauschal anders zu behandeln als andere politische Gruppen auch“.54 Die SED-W reagierte auf die Auseinandersetzungen in der APO mit verschiedenen Stellungsnahmen in der „Wahrheit“ vom 14./15. Mai. Sie bekundete darin erneut ihre Prinzipientreue zur sowjetischen Politik und hob die herausragende Bedeutung und Vorbildfunktion der DDR für den „Kampf“ in West-Berlin hervor. Sie erklärte die Bereitschaft für den Ausbau einer weiteren Zusammenarbeit mit der APO, deren Anhänger sie dazu eindringlich aufforderte. Zugleich zeigte sie auf, was sie von der Bewegung erwartete. Nach Ansicht der SED-W sei es „erforderlich, die Massen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten, nicht aber sich von ihnen durch ausgeklügelte ,linke‘ Losungen abzusondern“.55 Der Vorsitzende der SED-W sprach überdies „die Hoffnung aus, die APO möge sich nach entsprechender ,Klärung in ihren eigenen Reihen‘ dazu entschließen, sich mit Hilfe der SEDWestberlin ,Sprecher im Parlament‘ zu schaffen“.56 Er stellte zugleich heraus, daß sich die SED-W „von der APO keine Diskussionspunkte aufzwingen lasse“.57 Danelius bezog sich damit vor allem auf eine seit längerem aus den Reihen der APO erhobene Forderung, die SED-W solle Stellung beziehen zu ˇ SSR und in Polen. Zu dieser Thematik den Demokratisierungsprozessen in der C hatte sie sich bisher lediglich ausweichend geäußert. Als Anfang August 1968 die Cˇ SSR von Militärstreitkräften der WarschauerPakt-Staaten besetzt wurde und die sowjetische Aggression fast alle Gruppen der APO auf das Schärfste verurteilten, begrüßte und verteidigte die SED-W, deren gesamter Parteivorstand zunächst in Moskau seine weiteren Instruktionen abgeholt hatte, das sowjetische Vorgehen als eine ,brüderliche Hilfsaktion‘.58 Auf einer außerordentlichen Tagung des Parteivorstandes der SED-W, auf der Hans Mahle (Chefredakteur der „Wahrheit“) den Standpunkt der Partei verlas, ˇ SSR hätten die internahieß es sinngemäß: „Den Nutzen am Einmarsch in die C tionale revolutionäre Arbeiterbewegung, das sozialistische Weltsystem und die nationale Befreiungsbewegung der Völker [. . .]. Was sich in Prag abgespielt hat, sei ,Ausdruck des wahren Internationalismus‘“.59 Im Protokoll dieser Taˇ und der gung wurde weiter festgestellt, daß die Passivität der Leitung der KPC 53

Ebd., S. 42. Ebd. 55 Zit. nach Die Wahrheit vom 14./15. Mai 1968, in: Senator für Inneres (FN 9), S. 43. 56 Zit. nach Die Wahrheit vom 15. Juni 1968, in: Senator für Inneres (FN 9), S. 44. 57 Ebd. 58 Vgl. Waldman (FN 1), S. 189; vgl. Riege (FN 2), S. 412. 59 Riege (FN 2), S. 412. 54

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tschechoslowakischen Staatsführung gegenüber „antisozialistischen Kräften“ ˇ SSR, aufs Äußerste zu verurteilen ist: „Das ist keine innere Angelegenheit der C 60 wenn der Sozialismus gefährdet ist“. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Farce bildete das „Kommuniqué über die sowjetisch-tschechoslowakischen Verhandlungen“ in Moskau, das am 27. August 1968 als Extrablatt der „Wahrheit“ kostenlos verteilt wurde.61 Die eindeutige Positionierung der SED-W hatte abschreckende Wirkung. Viele der APO-Anhänger gingen auf Distanz zur Partei und die verbalen Attacken einzelner Gruppierungen nahmen an Härte zu. Eine der Parolen lautete: „Lieber getrennt siegen, als vereint mit der SED-W unterliegen.“62 Kennzeichnend für die Folgezeit waren die vergeblichen Bemühungen, die Aktionseinheit wieder zu beleben. Weder die SED-W war bereit, sich von den militärischen Maßnahmen der sozialistischen Länder zu distanzieren, noch wollten oder konnten die APO-Funktionäre die verbindliche Zusage abgeben, daß auf Veranstaltungen nicht auch gegen die „autoritäre und imperialistische Sowjetunion“ Stellung bezogen würde. Tatsache ist, daß sich im Dezember 1968 die Verbände der APO erneut mit der SED-W zu verschiedenen Veranstaltungen zusammenfanden, um eine Demonstration gegen das freisprechende Urteil des Berliner Schwurgerichts für den Beisitzer am ehemaligen NS-Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse vorzubereiten. Einen Tag vor der angekündigten „Kampfdemonstration“, am 13. Dezember 1968, fand ein öffentliches Teach-in im Auditorium maximum der TU statt, bei dem Emil Redmann, Mitglied des Sekretariats des Parteivorstandes der SED-W, erneut vor APO-Anhängern die Bildung einer „antifaschistischen Einheitsfront“ beschwor. Am 14. Dezember erfolgte der Protestmarsch gegen das Rehse-Urteil, dem sich mehrere tausend Anhänger der APO und Mitglieder der SED-Westberlin anschlossen. An der Spitze der Demonstration wurden Spruchbänder der Westberliner Kommunisten wie „Gebot der Stunde: antifaschistische Einheitsfront“ und „Mit APO immer, gegen Sowjets nimmer“ mitgeführt. Ebenso gab es vereinzelte Aufrufe von APO-Gruppen, die sich gegen die SEDW richteten, Flugblätter wurden verteilt, die beispielsweise die Überschrift trugen: „Weg von der faschistischen SED!!!“ Die Veranstaltung endete mit einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, bei der erstmalig die SED-W mit einem eigenen Redner auftrat. Am 15. Februar 1969 wandelte die SED-W auf ihrem Außerordentlichen Parteitag ihren Namen in Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) um. Zeitgleich begann die Initiierung einer massiven Protestkampagne gegen das Abhal-

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Ebd., S. 412. Vgl. ebd., S. 411 f. 62 Zit. nach Gerd Friedrich Nüske, „Mehr Niederlagen als Siege“ – Das Ende der SEW, einer deutschen kommunistischen Partei, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 4, Bonn 1992, S. 125. 61

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ten der Bundesversammlung am 5. März 1969 in West-Berlin. Diese Amtshandlung, bei der Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt wurde, stand konträr zu den ureigensten Bemühungen der SED, die Anbindungen West-Berlins an Westdeutschland zu lockern. In Ost-Berlin wurde daher im Vorfeld der gesamte Apparat mobilisiert, um das „völkerrechtswidrige Vorhaben“ zu verhindern. Die SED legte in einer offiziellen Note gegenüber der Bonner Regierung „schärfsten Protest“ ein. Die DDR verbot zeitweilig „allen Mitgliedern und Mitarbeitern der Bundesversammlung sowie Generälen und Offizieren der Bundeswehr die Durchreise“.63 Drohgebärden wurden in Form von militärischen Übungen und Tiefflügen über den Reichstag veranstaltet.64 Parallel dazu erarbeitete das MfS einen umfangreichen Maßnahmenplan, der darauf hinaus lief, die zur Verfügung stehenden Instrumentarien und Agenten zu nutzen, um einen einheitlich koordinierten, politischen Widerstand gegen die Bundesversammlung in die APO hineinzutragen. Eingebunden in diese Kampagne war u. a. die Zeitschrift „Extra-Dienst“.65 Als weitere Arbeitsebene agierte die SEW. Sie bezeichnete die Bundesversammlung als „heimtückischen Anschlag auf die Sicherheit und Lebensfähigkeit“ West-Berlins. Über die „Wahrheit“ und zahlreiche Flugblätter wurde die Bevölkerung zu Demonstrationen gegen die Wahlveranstaltung aufgerufen. In ihrer Haltung unterstützt wurden die Westberliner Kommunisten von der APO, einschließlich des Republikanischen Clubs, des AStA der FU und der TU, des SDS, des SHB und der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“.66 Entsprechend gewarnt, reagierten die Westberliner Behörden mit unterschiedlichen Maßnahmen wie der Verhängung eines generellen Demonstrationsverbotes am 4. und 5. März, diversen Kontrollen und Absperrungen. Ein erhebliches Polizeiaufgebot bestimmte in jenen Tagen das Stadtbild.67 Trotzdem kamen am 4. März etwa 200 Personen zu einer Demonstration zusammen, welche die Polizei umgehend auflöste. Später „versammelten sich zwischen 1.000 und 2.000 Menschen in der Mensa der Technischen Universität [. . .]. Im Anschluß an die Versammlung zogen mehrere hundert Studenten dann im Laufschritt zum Kurfürstendamm, wo es vor der Hotelunterkunft führender Teilnehmer der Bundesversammlung zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam“.68 Im weiteren Verlauf des Jahres 1969 war die SEW an verschiedenen Aktionen der Studentenbewegung beteiligt, doch die Aktivität, Bedeutung und der 63

Knabe (FN 31), S. 222. Vgl. Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg, München 1997, S. 234. 65 Vgl. Knabe (FN 31), S. 223–225. 66 Vgl. Waldman (FN 1), S. 193. 67 Vgl. Abschrift eines Kommentars der ZDF-Sendung „heute“ zur Bundesversammlung vom 5. März 1969 um 19:45 Uhr, angefertigt durch das Staatliche Komitee für Rundfunk – Abteilung Information, in: Bundesversammlung III vom 3.3.1969, Sig. E001-00-01/0002/009, Die digitalisierten Sendemanuskripte ,Der schwarze Kanal‘, Deutsches Rundfunkarchiv, in: (Stand: 10. April 2006). 68 Knabe (FN 31), S. 226. 64

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direkte Einfluß der APO in der politischen Landschaft West-Berlins und Westdeutschlands nahm sichtlich ab. Innerhalb der APO setzte aufgrund unterschiedlichster Faktoren ein genereller Zerfallsprozeß ein.69 So kam es zwar erneut zu einer Maikundgebung, bei der sich jedoch diesmal die APO-Gruppen – im Gegensatz zum Vorjahr – im Rahmen des „Sozialistischen Mai-Komitees“ nicht auf eine gemeinsame Grundlinie einigen konnten. In der Folgezeit beteiligte sich die SEW an mehreren Aktionen wie beispielsweise den Vietnam-Demonstrationen am 15. November und 13. Dezember 1969 sowie den ihnen vorausgegangenen Teach-ins.70

4. Methoden Die SED-W beobachtete und analysierte genau die Entwicklungen im studentischen Bereich.71 Zur Informationsbeschaffung nahmen einzelne FDJ-W- und SED-W-Funktionäre an einer Vielzahl von Veranstaltungen (Konventssitzungen, Fakultätsversammlungen etc.) teil. 1960 wurde zur Kontaktaufnahme ein Studentenkreis der FDJ-W konstituiert, der ab 1961 eine hektographierte Schrift „Kommilitone – Mitteilungsblatt des Studentenkreises der FDJ-W“ veröffentlichte. Die Resonanz auf dieses Blatt war mäßig, 1964 bezogen es lediglich ca. 100 Studenten. Mit den von der Kreisleitung der SED-W in Zehlendorf durchgeführten Studentenforen verhielt es sich ebenso, sie wurden zunächst kaum besucht.72 Im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung der Studentenbewegung beschloß die SED-W im März 1965 die Gründung von Hochschulgruppen, deren Aufgabe darin bestand, zielgerichtet Aussprachen, Gesprächsabende, Seminare und Veranstaltungen mit den Studenten zu organisieren.73 Zu den ersten Vorsitzenden und Mitbegründern dieser Organisationsgliederung der SED-W zählten der FDJ-W-Funktionär Peter Gramse (SED-W-Funktionär und Mitarbeiter der „Wahrheit“) und das Mitglied der FDJ-W-Reinickendorf Angelika Gossa. Die Hochschulgruppen waren „organisatorisch den SED[-W]-Kreisverbänden Charlottenburg (für den Bereich der Technischen Universität) und Zehlendorf (für den Bereich der Freien Universität) angeschlossen“.74 Ihre Mitglieder rekrutierten sich teils aus dem vormals bestehenden Studentenkreis der FDJ-W, der vermutlich in die Hochschulgruppen integriert wurde. Zwei weitere Vorgehensweisen ergänzten diese Maßnahmen. Zum einen nutzte die SED-W ab Mitte der 1960er Jahre verstärkt ihre Zeitung „Die Wahr69 70 71 72 73 74

Vgl. Waldman (FN 1), S. 181; vgl. Rabehl (FN 32), S. 68 f. Vgl. Waldman (FN 1), S. 193. Vgl. ebd., S. 182 f. Vgl. Schröder (FN 2), S. 16, 24 f. Vgl. Waldman (FN 1), S. 183. Senator für Inneres (FN 9), S. 4.

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heit“ sowie ihre anderen Parteipublikationen, um die Studentenbewegung propagandistisch zu begleiten. Neben einer unterstützenden und zugleich herausfordernden Kommentierung der APO bemühte sich die SED-W, in ihren Veröffentlichungen einzelne Übereinstimmungen mit der Bewegung herauszuarbeiten oder aber zu suggerieren.75 Beispielsweise veröffentlichte „Die Wahrheit“ im Juli 1967 20 „Leserzuschriften von Studenten“, die ausnahmslos der politischen Linie der SED-W entsprachen. Zudem bediente sich die SED-W verschiedener APO-Veranstaltungen, um den Studenten die Standpunkte der Partei näherzubringen. Funktionäre der SED-W bzw. FDJ-W traten als Diskussionsredner auf oder waren als Referenten beteiligt, beispielsweise bei Podiumsdiskussionen zu Themen wie „Brauchen wir eine neue KPD?“ oder aber „Die Zukunft Westberlins und die Politik der DDR“.76 Im Verlauf der 1960er Jahre zeigte das beharrliche und hartnäckige Vorgehen der SED-W insgesamt Erfolg. Es gelang ihr, diverse, zum Teil intensive und zumeist inoffizielle Einzelkontakte zu APO-Funktionären aufzubauen. Ansprechpartner auf Seiten der SED-W waren vor allem der Vorsitzende Gerhard Danelius sowie die Sekretäre des Parteivorstandes Dietmar Ahrens, Karl-Heinz Kniestedt und auch Hans Mahle. Diese wurden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend häufiger für Gespräche und Absprachen über Aktionen von beispielsweise Wolfgang Lefèvre (Vorsitzender des studentischen Konvents), Rudi Dutschke77 (SDS-Vorsitzender), Dirk Müller (Stellvertretender SDS-Vorsitzender), Horst Mahler, Walther Barthel und Knut Nevermann aufgesucht.78 Durch ihre konstanten Bemühungen und die Herauskristallisierung persönlicher Kontakte gelang es der SED-W, sich in Gremien bzw. Institutionen der APO einzubringen. Hierzu gehörte der am 30. April 1967 gegründete Republikanische Club, dessen Ziele darin bestanden, linken Intellektuellen wie Gewerkschaftern eine Organisations- und Diskussionsplattform zu bieten.79 Zu den Mitbegründern gehörten der Westberliner FDP-Vorsitzende William Borm, der Po-

75 Dies zeigt sich beispielhaft in der folgenden Äußerung des Vorsitzenden Danelius im Juni 1968 in der „Wahrheit“: „Ich erinnere daran, daß wir in unserer Zeitung ,Die Wahrheit‘ zahlreiche Reden und Artikel veröffentlichten über die Rolle der Arbeiterklasse und der Intelligenz im Kampf für Demokratie und gesellschaftlichen Fortschritt, über die Funktion des primitiven und verfeinerten Antikommunismus, über elitäre Bestrebungen in der Studentenschaft, über unser Verhältnis zur Deutschen Demokratischen Republik und zur Sowjetunion und über andere Fragen und Probleme.“ Zitiert nach Waldman (FN 1), S. 191. 76 Vgl. Senator für Inneres (FN 9), S. 22. 77 Nach Ansicht einiger Mitglieder der SED-W hatte mit Rudi Dutschke zu der Zeit vor dem Attentat eine „wirkliche ehrliche Zusammenarbeit“ bestanden, „wo Dutschke der Träger dieser Zusammenarbeit war“. Vgl. Teichert (FN 6). 78 Vgl. Waldman (FN 1), S. 195 f.; vgl. Rabehl (FN 34), S. 40, 52–54, 88; vgl. Knabe (FN 31), S. 191, 197, 215 f. 79 Vgl. Knabe (FN 31), S. 208.

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litologe Ossip K. Flechtheim, der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der Kabarettist Wolfgang Neuss, der Rechtsanwalt Horst Mahler und andere. Die Mitgliederzahl des Clubs, der rasch zu einem organisatorischen Zentrum der APO in West-Berlin avancierte und in zahlreiche politische Aktionen involviert war, stieg von anfänglich etwa 200 bis auf rund 1.000 an.80 Somit war für die SED-W die Teilnahme an diesem Koordinierungsgremium äußerst interessant. Die Funktionäre der SED-W hielten sich regelmäßig im Republikanischen Club auf; es bestand eine Anordnung, daß alle Vorstandsmitglieder der SED-W „jederzeit und ohne weitere Formalitäten“ den Republikanischen Club betreten durften. Einerseits stand innerhalb des Clubs das Verhältnis zur SED-W immer wieder zur Debatte.81 Andererseits soll zumindest im März 1968 „der Vorstand des Clubs die Frage der Aktionseinheit mit der SED-Westberlin ,uneingeschränkt bejaht‘“82 haben. Der SED-W wohlgesonnen waren wahrscheinlich u. a. Horst Mahler und Knut Nevermann.83 Einen Eindruck über die Beteiligung der SED-W im Republikanischen Club vermittelte ein Artikel der Zeitschrift „Die Rote Presse Korrespondenz“ vom 23. Mai 1969, die zum Sprachrohr des maoistischen Flügels der APO wurde. Darin hieß es: Die SEW-Mitglieder und „ihre Anhängerschaft (bekannt als Fraktion der Traditionalisten) sind zwar zahlenmäßig im Club nicht sehr stark (etwa 50), jedoch haben sie es verstanden, sich zu organisieren und vor allem der Arbeitskreis Agitation und Propaganda konnte häufig, zuletzt durch die Unterstützung der SEW-Maidemonstration, die Aufmerksamkeit auf sich lenken“.84 Ebenso wird festgestellt, daß letztlich „die Bemühungen dieser Fraktion, [. . .] den Club auf ihre konzeptionellen Vorstellungen zu verpflichten, vergeblich waren und sie auch bei den letzten Vorstandswahlen faktisch erfolglos waren“.85 In dem Artikel heißt es weiter, daß viele Mitglieder des Republikanischen Clubs der Politik der SED-W nur deshalb naheständen, weil ihnen selbst eine geeignete Organisationsform fehle.86 Gleichwohl bot die Beteiligung der Westberliner Kommunisten im Republikanischen Club der SED-W eine günstige Gelegenheit, Verbindungen zur Bewegung und den APO-Funktionären zu knüpfen und auszubauen. Neben dem Republikanischen Club gab es weitere Gremien der APO, in denen die SED-W Fuß faßte. Gelungen war ihr dies in der Zeit nach dem Attentat auf Dutschke und im Hinblick auf die Vorbereitungen des 1. Mai 1968. Diese Phase dürfte einen Höhepunkt der organisatorischen Zusammenarbeit zwischen der SED-W und der APO markieren. Am 5. April 1968 gründeten verschiedene 80 81 82 83 84 85 86

Vgl. Waldman (FN 1), S. 196–198; vgl. Knabe (FN 31), S. 219. Vgl. Knabe (FN 31), S. 227. Ebd., S. 210. Vgl. ebd. Waldman (FN 1), S. 198 f. Ebd., S. 199. Vgl. ebd.; vgl. Knabe (FN 31), S. 227.

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Gruppen der APO das „Sozialistische Mai-Komitee“. Nach den Osterfeiertagen spätestens nahm die SED-W – mit wahrscheinlich zumindest zwei Funktionären – an den Sitzungen und Beratungen dieses Komitees aktiv teil. Das Maikomitee war personell eng verflochten und weitgehend identisch mit dem in der Nacht vom 12. zum 13. April 1968 in der TU gegründeten „Aktionsausschuß der Arbeiter, Schüler und Studenten“.87 Auch dieses rund 30 Personen umfassende Gremium setzte sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen der APO zusammen, wobei wiederum die Fraktion des SDS am stärksten war. Neben zwei Vertretern des Vorstandes der FDJ-W waren Bruno Kuster und Dietmar Ahrens als Vertreter des Vorstandes der SED-W ebenso Mitglied; beide wurden vom Aktionsausschuß am 13. April 1968 einstimmig kooptiert.88 Der Ausschuß war eine Zeitlang ein recht aktives Koordinierungsorgan, der „fast täglich zu Besprechungen, die abwechselnd an der T[echnischen] U[niversität], F[reien] U[niversität], Pädagogischen Hochschule und der Kirchlichen Hochschule stattfanden“89, zusammenkam. Aktionen und Maßnahmen erfolgten jeweils durch Absprachen und Abstimmungen, ein einheitliches Programm gab es nicht. In diesem Rahmen war es der SED-W gelungen, den Gedanken einer antifaschistischen Aktionseinheit bzw. Einheitsfront in den Ausschuß hineinzutragen und durchzusetzen.90 Zudem weiteten die zahlreich gebildeten Arbeitsgruppen des Ausschusses die Kontaktmöglichkeiten der SED-W u. a. zu den Basisgruppen aus. Für die Westberliner Kommunisten stellten die Basisgruppen ein weiteres wichtiges Aktionsfeld dar. Sie waren seit längerem geplant gewesen und entstanden innerhalb weniger Wochen nach dem Dutschke-Attentat in allen Stadtbezirken. Ihre Zielrichtung bestand darin, den Kontakt zur Arbeiterschaft aufzubauen. Hauptsächlich herrschte in ihnen der Einfluß von SDS- und RCVertretern vor. Da „sich die Basisgruppen weitgehend aus den örtlichen ,Sozialistischen Mai-Komitees‘ entwickelten“91, in denen die SED-W „entweder direkt vertreten war oder zu denen sie zumindest engen Kontakt unterhielt“92, erleichterte dies die Absicht der Westberliner Kommunisten, Einfluß zu nehmen. Auf der örtlichen Ebene der Basisgruppen soll die Beziehung zwischen der APO und der SED-W den Umständen entsprechend gut gewesen sein. Die einzelnen Gruppen bemühten sich vor allem, die technische und materielle Hilfe 87 Es finden sich in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen für den „Aktionsausschuß der Arbeiter, Schüler und Studenten“: „Aktionskomitee der Arbeiter, Schüler und Studenten“, „Zentralausschuß der außerparlamentarischen Opposition“, Zentralkomitee oder Generalrat. Vgl. Rabehl (FN 34), S. 66 f.; Waldman (FN 1), S. 199–201. 88 Vgl. Rabehl (FN 34), S. 66. 89 Waldman (FN 1), S. 199. 90 Vgl. Rabehl (FN 34), S. 67 f. 91 Senator für Inneres (FN 9), S. 37, 39. 92 Ebd., S. 39.

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der Westberliner Kommunisten in Anspruch zu nehmen. Offensichtlich war die SED-W ihrerseits bestrebt, die örtlichen Gruppen durch eigene Mitglieder zu erweitern. So erklärte die Zehlendorfer SED-W-Funktionärin Gisela Giessler „unter Bezugnahme auf eine bestimmte Basisgruppe, da sind ,eine ganze Menge von uns‘ vertreten“.93

5. Schlußbetrachtung Die Studentenbewegung entstand losgelöst von den Westberliner Kommunisten. Ebenso steht fest, daß der SDS ein wesentlicher, wenn nicht gar der entscheidende Motor war, mit dem die Bewegung ihren Weg nahm.94 Diese Untersuchung zeigt jedoch, daß es der SED-W im Laufe der Zeit gelang, zu einem festen, wenn auch nicht unumstrittenen Bestandteil der APO zu werden und ihre Stellung – trotz z. T. erheblicher Auseinandersetzungen – zu behaupten. Diese Entwicklung war im Hinblick auf den noch nicht lange zurückliegenden Mauerbau des SED-Regimes und die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ bemerkenswert. Daß die SED-W sich der Studentenbewegung annähern konnte, war u. a. ihren personellen wie materiellen Ressourcen geschuldet, auf die in Teilen der APO nicht selten zurückgegriffen wurde.95 Darüber hinaus hatten es die Kommunisten verstanden, zumindest zeitweise ihren dogmatischen SED-Kurs hinter einer flexiblen Fassade verständnisvoller Gesprächsbereitschaft zu verschleiern. Mit ihrer umwerbenden „Wahrheit“ setzten sie einen deutlichen und für die linken Studenten interessanten Kontrapunkt zur „bürgerlichen“ Presse. Insgesamt zeigte diese Verführung ihre Wirkungen, und nicht zuletzt Rudi Dutschke dürfte ab und an der Vorstellung erlegen gewesen sein, die Westberliner Kommunisten über die Einbindung in die APO auf seine Seite ziehen zu können.96 Tatsächlich jedoch hatte man sich mit der SED-W einen Bündnispartner ins Boot geholt, dessen konzessionslose Positionen die Richtungsdebatten innerhalb der Bewegung zusätzlich verschärften. Der Handlungsrahmen der SED-W war von Beginn vorgegeben. Sie war den Studenten lediglich in Bereichen entgegengekommen, die nicht im Gegensatz 93

Ebd., S. 40. Vgl. Manfred Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2002, S. 193–211. 95 Vgl. beispielsweise Knabe (FN 31), 182–231; ders., Der lange Arm der SED. Einflußnahme des Ministeriums für Staatssicherheit auf politische Protestbewegungen in Westdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 38/1999, S. 11–15. 96 Vgl. Bernd Rabehl, Die Provokationselite: Aufbruch und Scheitern der subversiven Rebellion in den sechziger Jahren, in: http://people.freenet.de/visionen/home.htm (Stand: 10. April 2006). 94

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zur Politik der DDR bzw. der Sowjetunion standen. Von vornherein wollten und konnten die Westberliner Kommunisten nur diejenigen längerfristig an sich binden, die wie sie das Sozialismusmodell des Ostblocks in West-Berlin verwirklicht sehen wollten. Für die SED-W machte sich ihr Engagement im Hinblick auf die APO in zweifacher Weise bezahlt: Zum einen war es den Kommunisten gelungen, über die Studentenbewegung ihre Isolation zu durchbrechen und zu einem zumindest tolerierten – wenngleich weitgehend unbedeutenden – Akteur im politischen Geschehen West-Berlins zu werden. Zum anderen verzeichnete die SED-W einen beachtlichen Mitgliederzuwachs, wobei sie von den sich aufschaukelnden Widersprüchen innerhalb der APO ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre profitierte. Hatte die SED-W 1965 schätzungsweise 5.200 Mitglieder, stieg deren Zahl 1966 auf rund 6.200 an. Anfang der 1970er Jahre erreichte die Partei schließlich mit deutlich über 7.000 Mitgliedern den höchsten Stand in ihrer Geschichte.97

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Vgl. Niederstadt (FN 4), S. 70–73.

Durchmischung von Rechts- und Linksextremismus Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa Von Tom Thieme

1. Einleitung Die Betrachtung des (Rechts-)Extremismus1 in Osteuropa2 ist in der internationalen Politikwissenschaft und Osteuropaforschung in den letzten Jahren ins Hintertreffen geraten. Das liegt für Rußland einerseits daran, daß die Aufmerksamkeit der Beobachter seit Amtsantritt Wladimir Putins sich größtenteils dessen dominanter Machtpolitik widmet. Für die Staaten Ostmitteleuropas anderseits fielen deren Bemühungen zum EU-Beitritt und erste Schritte auf dem europäischen Parkett ins Licht der Analyse. Den Verhältnissen wird das Desinteresse an der Thematik jedoch aus mehreren Gründen nicht gerecht. Zum einen ist der Anteil antidemokratischer Parteien in einigen Parlamenten, zum Beispiel der russischen Duma und dem polnischen Sejm, mit zusammengerechnet jeweils über 30 bzw. knapp 20 Prozent erheblich, was in Zusammenhang mit den zahlreichen Problemen der Transformation im osteuropäischen Raum steht. Zum anderen handelt es sich bei den meisten osteuropäischen Extremismuserscheinungen um Parteien und Bewegungen, die offenbar aufgrund einer sowohl nationalistischen als auch kommunistischen Vergangenheit in den jeweiligen Ländern nicht immer dem nach allgemeinem Extremismuskonzept rechtsbzw. linksextremistischen Spektrum eindeutig zuzuordnen sind. Vielmehr enthalten die meisten extremistischen Parteien Elemente des Rechts- wie des 1 An dieser Stelle muß einschränkend angemerkt werden, daß die Beobachtung des Extremismus in Osteuropa ausschließlich die Rechtsextremismusperspektive umfaßt und Arbeiten zum Linksextremismus bislang nicht vorliegen. 2 Der Begriff „Osteuropa“ bezieht sich im folgenden auf das gesamte postsozialistische Europa, analog zu dem Begriff „Westeuropa“ für die Staaten Nord-, West- und Südeuropas. Der Begriff Ostmitteleuropa umfaßt hingegen ausschließlich Polen, Ungarn, die Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei, Tschechien und die Slowakei, sowie den aus der jugoslawischen Föderation hervorgegangenen ehemaligen Teilstaat Slowenien. Dieser wird jedoch aufgrund der speziell jugoslawischen Historie und den speziell postjugoslawischen Transformationsbedingungen nicht in das Extremismusmodell für die anderen ostmitteleuropäischen Staaten aufgenommen; vgl. Timothy Garton Ash, Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa, München 1999, S. 425– 432.

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Linksextremismus. Es reicht also nicht aus, jene Kräfte oberflächlich als „neue Nationalisten“ und „alte Kommunisten“ zu bezeichnen, da diese einseitig rechts- bzw. linksextremen Merkmale nicht die Positionen von vielen extremistischen Parteien in Osteuropa widerspiegeln. Neben Größe und Umfang ergeben sich gerade aus dem andersartigen Charakter der osteuropäischen Extremismen verschiedene Perspektiven und veränderte Gefahren für das Verhältnis von Extremismus und Demokratie. Aus diesen hier knapp skizzierten Voraussetzungen folgt eine zentrale Problemstellung: Gibt es aufgrund der vergleichbaren historischen und transformationsbedingten Entstehungsursachen spezifische Erscheinungsformen und damit einen besonderen Typus von Extremismus in Ostmitteleuropa? Daraus lassen sich weiter differenzierte Teilfragen ableiten: Welche Faktoren begünstigen einerseits, hemmen aber andererseits die Entstehung und Etablierung von Extremismus in Transformationsgesellschaften? Lassen sich nach der empirischen Überprüfung von extremistischen Parteien hinsichtlich ihrer Ideologien, Programme und Aktivitäten tatsächlich spezifische osteuropäische Extremismusformen nachweisen? Wie sind diese zu charakterisieren und in einem weiteren Schritt zu typologisieren? Wie ist dabei die Vielfalt der extremistischen Bewegungen in den verschiedenen Ländern zu veranschaulichen? Wie sind schließlich die, wenn auch wahrscheinlich schwierig anwendbaren, Rechts-Links-Kriterien in die Typologisierung einzubeziehen? Sind demnach Einordnungen auf der Rechts-Links-Skala überhaupt möglich bzw. sinnvoll? Der Beitrag untersucht und vergleicht extremistische Parteien der vier ostmitteleuropäischen Staaten und EU-Neumitglieder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn mit dem parteipolitischen Extremismus im defekt-demokratischen3 politischen System Rußland. Für die vier ostmitteleuropäischen Staaten werden jeweils zwei extremistische Parteien analysiert, für Rußland aufgrund der Vielzahl und Vielfalt an antidemokratischen Kräften sechs. Die Analyse unterteilt sich in vier zentrale Abschnitte. Zunächst wird geklärt, welche Bedingungen für die Entstehung von Extremismus in Osteuropa ausschlaggebend sind. Dabei lassen sich die Ursachen in historische und aktuelle Faktoren unterscheiden. Im Mittelpunkt steht ein Typologisierungsmodell zur Erklärung und Einordnung extremistischer Parteien und Gruppierungen für Osteuropa. Historische und aktuelle Entstehungsgründe werden unabhängig voneinander verallgemeinert und unter Einbeziehung von Rechts-Links-Kategorien in das Klassifizierungskonzept integriert. Sowohl Besonderheiten für Osteuropa als auch Differenzierun3 Für weiterführende Fragestellungen im Rahmen der Dissertation, die das Verhältnis von Extremismus und halb- bzw. teildemokratischen Systemen beleuchten, wird mit der Theorie zur defekten Demokratie der Heidelberger Politikwissenschaftlergruppe um Wolfgang Merkel gearbeitet, vgl. Wolfgang Merkel u. a., Defekte Demokratien. Bd. 1: Theorie, Opladen 2003; Wolfgang Merkel u. a., Defekte Demokratien. Bd. 2: Empirie, Opladen 2006.

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gen zu Westeuropa sollen gleichsam in das Modell eingebunden werden. Der theoretischen Konzeption folgt eine knappe Darlegung der Ergebnisse. Die Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse kann in diesem Aufsatz nur exemplarisch und zusammenfassend erfolgen. Welche Resultate sich daraus jeweils für Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Rußland ergeben, inwieweit die angebotene Typologisierung sinnvoll ist, wie sich nach ihr extremistische Gruppierungen in Ostmitteleuropa einordnen lassen und ob sich daraus Schlüsse auf ein mögliches, typisch osteuropäisches Extremismus-Phänomen ziehen lassen, ist Gegenstand von Kapitel 4. Die Schlußbetrachtung (Kapitel 5) wird die Ausführungen aus der Gesamtperspektive der Untersuchung zusammenfassen und einen Ausblick auf die mögliche weitere Entwicklung des Extremismus, seine eventuell besonderen Erscheinungsformen und damit auf die künftige Gefährdung der Demokratien Osteuropas wagen.

2. Ursachen für Extremismuserscheinungen in Osteuropa a) Historische Ursachen Da das Auftreten von Extremismus in Zusammenhang mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft und den Folgen des Transformationsprozesses steht,4 scheint es zweckmäßig, zwischen historisch-ideologischen und aktuelltransformationsbedingten Extremismusursachen zu unterscheiden. Die historische Dimension untersucht die Wurzeln von heutigem extremistischen Denken und Verhalten zum einen für die vorsozialistische Epoche, zum anderen für die realsozialistische Vergangenheit. Es liegt nahe, die Leitbilder für Rechtsextremismus in Ostmitteleuropa im Nationalismus vor 1945 bzw. für Rußland vor 1917 sowie für Linksextremismus in den Erfahrungen mit dem Sozialismus zu vermuten. Es wird aber auch auf den Umgang mit dem nationalistischen Erbe im Realsozialismus eingegangen und auf die Folgen für die postkommunistischen Systeme Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Rußlands. Die Entstehung des Nationalismus ist in allen fünf Staaten eng mit den jeweiligen historischen Besonderheiten und der daraus folgenden Interpretation der Regierenden und Nationalisten verbunden. Die Entstehung des Nationalbewußtseins in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn vollzog sich Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst ohne Staat. Im Gegensatz zu vielen westlichen Nationsbildungsprozessen stand am Beginn keine bürgerliche Revolution, sondern die Neuaufteilung der zerfallenden habsburgischen und russischen Reiche nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die neuen Nationen Ostmitteleuropas waren 4 Vgl. Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, S. 124 f.

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also von Beginn an den Ambitionen der europäischen Nachbarn ausgesetzt.5 Auch wenn es sich in Ostmitteleuropa, mit Ausnahme der Tschechoslowakei, um weitgehend ethnisch homogene Staaten handelte, entstanden Konflikte um Minderheiten und territoriale Protektionsansprüche. Antisemitismus in allen Ländern, Phobien der Polen gegenüber den mächtigen Nachbarn in Ost und West, Sudeten und deutsche Protektion in der Tschechoslowakei, ungarische Minderheiten als Opfer nationalistischer Anfeindungen in Rumänien und der Slowakei und damit wiederum verbundene Schutzansprüche sowie Fremdenfeindlichkeit in Ungarn beeinflußten individuell die jeweils nationale Identität. Damit waren in allen diesen Ländern Angriffsflächen für aggressive Nationalisten geschaffen, wenngleich sich die historischen und geographischen Gründe dafür unterscheiden. So ist der religiös motivierte Nationalismus Polens nicht so begründet wie der tschechische bzw. slowakische Irredenta-Nationalismus gegenüber den Nachbarstaaten; wiederum anders legitimierten sich die Vorstellungen des ungarischen Nationalismus von einem geeinten, homogenen Ungarn. Der Nationalismus in Rußland galt zwar mit der Revolution 1917 als beendet, tatsächlich erfuhr er jedoch spätestens ab der Ära Stalin eine Instrumentalisierung („Sowjetpatriotismus“). Die Zentralisierung des Staates wurde mit Bezug auf Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen legitimiert, die russische Nationalgeschichte damit direkt in die Sowjetpropaganda integriert.6 Und wenn damit auch der Nationalismus Osteuropas in unterschiedlicher Gestalt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, ergeben sich dennoch aus der weiteren Entwicklung des Nationalismus in Osteuropa Gemeinsamkeiten, die für die Ausprägung eines speziellen osteuropäischen Extremismus relevant sein können. In allen fünf Staaten vollzog sich der Übergang von nationalen bzw. nationalistischen zu kommunistischen Staaten – in Rußland drei Jahrzehnte früher, in Ostmitteleuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Erbe der jeweils nationalen Historie blieb jedoch vorhanden und wurde für weitere vier Jahrzehnte in die einzelnen Kommunismen integriert. Während die Oktoberrevolution 1917 in Rußland aus dem Inneren entstand, war die kommunistische Machtübernahme in Ostmitteleuropa nicht auf Prozesse innerstaatlicher Willensbildung oder gar einer kommunistischen Revolution zurückzuführen, sondern in erster Linie durch die Politik Stalins bestimmt. Als Ergebnis der Verhandlungen in Jalta 1945 zwischen Sowjets, Amerikanern und Briten kam es zur regionalen Teilung Europas, mit der Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn in den sowjetkommunistischen Einflußbereich fielen.7 5 Vgl. Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt a. M. 2002, S. 29–34. 6 Vgl. Jutta Scherer, Das Erbe: Geschichte und Gesellschaftskultur, in: Hans-Hermann Höhmann/Hans Henning Schröder (Hrsg.), Rußland unter neuer Führung. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts, Münster 2001, S. 21– 31.

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Die Nachkriegsregierungen der Ostblockstaaten zeichneten sich daher durch Moskauhörigkeit aus. Die ehemaligen kommunistischen Parteien, welche nach dem Ersten Weltkrieg und mit dem Rückenwind der Oktoberrevolution besonders unter der Arbeiterschaft als Hoffnungsträger galten, jedoch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges meist verboten, unterdrückt und gesellschaftlich isoliert waren, übernahmen die Schlüsselpositionen im Staat. Unter sowjetischer Agitation vollzog sich in allen osteuropäischen Ländern der Übergang von Koalitionsregierungen zu reiner kommunistischer Herrschaft. Mit Hilfe des staatlichen Gewaltapparates, verwaltet und unterstützt von der sowjetischen Regionalmacht, durch Isolierung politischer Gegner, Manipulationen und Fälschungen bei Wahlen und letztlich durch die erzwungene Verschmelzung kommunistischer, sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien, gelang es den Kommunisten, sämtliche politischen Kräfte gleichzuschalten und jenen totalitären Staatssozialismus zu etablieren, auf dessen Grundlage die Utopie kommunistischer Gesellschaftsmodelle verwirklicht werden sollte.8 Doch schon die auf Gewalt basierende Machtübernahme der neuen Eliten zeigte die unüberwindlichen Gegensätze von theoretischer Sozialismusutopie und Realsozialismus. Das Ideal des Sozialismus, als Gegenentwurf zum Nationalismus eine breite gesellschaftliche und politische Emanzipation durch die Veränderung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu schaffen und damit die Grundwerte Freiheit und Gleichheit für alle Teile der Gesellschaft zu verwirklichen, war in Osteuropa weder von einer gesellschaftlichen Mehrheit getragen, noch gelang es den Regimes, diese in 40 Jahren Staatssozialismus zu gewinnen. Die Umsetzung marxistisch-leninistischer Ideen führte zwar zu einer Verstaatlichung der Produktionsmittel, doch die versprochene klassenlose Gesellschaft mit ihrem allumfassenden Gleichheitsanspruch stellte sich durch die Entstehung neuer Machtkasten in Staatsämtern und Partei nicht ein. Noch weniger als die Umsetzung des Postulats der Gleichheit gelang den Sozialisten die Verwirklichung gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Die Unterdrückung von Meinungsvielfalt und Opposition, manipulierte Wahlen bzw. gar keine Wahlen, wenig Entfaltungsmöglichkeiten der persönlichen – künstlerischen wie intellektuellen – Selbstverwirklichung, fehlende Reisefreiheit usw. zeigten, wie heterogen die Ideen von Marx und Lenin zu den Machtinteressen und Politikmethoden der kommunistischen bzw. sozialistischen Parteien waren. Mit Hilfe des Staats- und Sicherheitsapparates gelang es zwar, die eigene Position zu verteidigen, doch die Unzufriedenheit – nicht zuletzt mit den materiellen Lebensbedingungen – führte besonders in den drei Ländern Ostmitteleuropas zu teilweise systemimmanenten, aber auch zu systemablehnenden Reformbewegungen. In

7 Vgl. George Schöpflin, Politics in Eastern Europe 1945–1992, Oxford/Cambridge 1993, S. 57. 8 Vgl. Segert (FN 5), S. 69–87.

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Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei während des Prager Frühlings 1968, in Polen mit den Streiks der Werftarbeiter 1980 kam es immer wieder zu Protesten gegen die Machthaber, die mit sowjetischer „Schützenhilfe“ niedergeschlagen wurden, in weiten Teilen der ostmitteleuropäischen Gesellschaften aber nur noch größeren Antikommunismus hervorriefen.9 Hauptverantwortlich für den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa war nicht das Engagement mutiger Dissidenten, sondern die marode Situation der Zentralverwaltungswirtschaften, welche teilweise kaum noch den notwendigsten Ansprüchen genügten und eine immer größere Kluft zu den prosperierenden Markwirtschaften Westeuropas aufrissen. Mit dem Machtwechsel Michael Gorbatschows 1985 an die Spitze der KPdSU und seinem Programm, das die Reformierung des sozialistischen Wirtschaftssystems und die Umgestaltung der Politik in Richtung Demokratisierung einleitete, endete nicht nur die sozialökonomische und kulturelle Stagnation des Ostblocks, sondern auch dessen gesamte staatssozialistische Existenz. Der gewaltige Einfluß der Sowjetunion auf die Ostblockstaaten zeigte sich bis zuletzt, paradoxerweise bis zu deren Zusammenbruch 1989. Nicht nur der Sachverhalt, daß es ohne die Veränderungen in der Sowjetunion nie zu einem friedlichen Wechsel gekommen wäre und daß die anderen kommunistischen Machthaber nun ohne sowjetische Protektion ihre Macht innerhalb kürzester Zeit einbüßten, sondern auch die Tatsache, daß es in fast allen osteuropäischen Ländern plötzlich kaum noch echte Kommunisten gab, bestätigen die These eines militärisch importierten Sowjetkommunismus. Aus der doppelten Erfahrung mit Nationalismus und Sozialismus folgt eine Reihe von Besonderheiten für den Charakter osteuropäischer Extremismusvarianten. Für Teile der Extremisten in den untersuchten Staaten gilt die jeweils entgegengesetzte rechts- bzw. linksextremistische Alternative als akzeptabler im Vergleich zu einer liberalen Demokratie. Daraus ergibt sich für die zugleich postnationalistischen wie postkommunistischen osteuropäischen Demokratien die Situation, daß extremistische Bestrebungen Positionen einnehmen, die eigentlich dem erbitterten Gegner zuzurechnen wären, aber nun der eigenen Popularität und erneuerten Legitimität dienen. So firmieren Rechtsextremisten mit linken Themen, fordern soziale Gerechtigkeit, loben die Militanz und Sicherheit im Sozialismus und wenden sich gegen die Bedingungen und Methoden des „Raubtierkapitalismus“.10 Umgekehrt setzen Linksextremisten aufgrund einer (wenn auch skeptischen) Westeuropaorientierung großer gesellschaftlicher Teile 9 Siehe dazu Jerzy Holzer, Der Kommunismus in Europa. Politische Bewegung und Herrschaftssystem, Frankfurt a. M. 1998. 10 Vgl. Andrezj Szczypiorski, Der Nationalismus als Folge des Endes der kommunistischen Utopie, in: Dietrich Schlegel (Hrsg.), Der neue Nationalismus. Ursachen, Chancen, Gefahren, Schwalbach 1994, S. 129–136.

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nicht mehr auf klassisch-sozialistische Ideen, sondern verstärkt auf nationale und nationalistische Aspekte. Allerdings bestanden trotz der offiziellen Unvereinbarkeit von Nationalismus und Kommunismus auch im Realsozialismus Tendenzen zur Instrumentalisierung und Übernahme von nationalen Ideologien.11 Zum Teil war es gerade der Realsozialismus, der den Nationalismus lebendig gehalten und Ressentiments vor allem gegenüber westlichen Nachbarn geschürt hatte, was aktuelle Kompromisse und Kooperationen von nationalen und sozialistischen Bestrebungen faktisch erleichtert.12 Die Tendenz zur Durchmischung rechts- und linksextremistischer Elemente schließt natürlich nicht aus, daß auch klassisch – im Sinne von eindeutig – rechts- bzw. linksextreme Kräfte mit ihren wirren Ideologien und Demagogien existieren. Gerade bei äußerst extremen Gruppen überwiegen missionarischer Fanatismus und offenkundige Rechts- bzw. Linksfeindseligkeit gegenüber einem „gemäßigten“ Wahlkampfpragmatismus. Bei den populistisch und damit teilweise erfolgreich agierenden extremen Parteien, die sich häufig in der Grauzone zwischen extremistisch und demokratisch befinden, scheint hingegen der offensichtliche Widerspruch von rechts- und linksextremen Elementen kein großes ideologisches Hindernis zu sein. b) Aktuelle Ursachen Die transformations- und modernisierungsbedingten Faktoren für das Auftreten von Extremismus in Osteuropa lassen sich ebenfalls weiter differenzieren, was angesichts der gewaltigen Veränderungen, nicht nur der politischen und wirtschaftlichen Systeme Ostmitteleuropas, sondern nahezu aller Lebensbereiche auch sinnvoll ist. Die fünf zentralen Aufgaben einer erfolgreichen Etablierung von Demokratie und Marktwirtschaft waren und sind: 1. die Schaffung von politischen Institutionen, die eine Basis für Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz gewährleisten; 2. verschiedene Stabilisierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen zur Freisetzung marktwirtschaftlicher Strukturen; 3. die Neuordnung der sozialen Sicherheit infolge des wirtschaftlichen Umbaus; 4. der Wandel von Denk- und Verhaltensweisen und 5. die Anpassung an ein sich wandelndes globales Ausland.13

11 Vgl. Pierre Hassner, Neue Strukturen in Europa und die neuen Nationalismen, in: Magridisch A. Hatschikan/Peter R. Weilemann (Hrsg.), Nationalismen im Umbruch. Ethnizität, Staat und Politik im neuen Osteuropa, Köln 1995, S. 14–28. 12 Vgl. Hilde Weiss/Christoph Reinprecht, Demokratischer Patriotismus oder ethnischer Nationalismus in Ost-Mitteleuropa. Empirische Analysen zur nationalen Identität in Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen, Wien u. a. 1998, S. 33–36. 13 Vgl. Kai-Olaf Lang, Systemtransformation in Ostmitteleuropa: Eine erste Erfolgsbilanz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 15/2001, S. 13–21.

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Infolge des gewaltigen Umfangs und des enormen Tempos der Transformation entstanden gleichwohl zahlreiche Konfliktfelder, die eben nicht den erhofften Wohlstand für alle, sondern gravierende Unterschiede zwischen Transformationsgewinnern und -verlierern als Ergebnis der marktwirtschaftlichen Demokratisierung brachten. Es besteht eine erstaunliche Übereinstimmung jener Faktoren, die einerseits eines gelungenen Systemwandels bedürfen und andererseits das Auftreten von Extremismus begünstigen, je nachdem wie erfolgreich bzw. erfolglos sie zur Verwirklichung der politischen Ziele beitragen. Gilt die Änderung von sozialistisch geprägten Mentalitäten hin zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft als vorrangige Transformationsaufgabe, bildet gerade das Fehlen von demokratischem Verständnis eine Chance zur extremistischen Etablierung. Erbringt der politische Output der Transformation nicht die erhofften Leistungen, stärkt dies extremistische Protestler mit ihren vermeintlichen Alternativen zu politischen Institutionen und marktwirtschaftlichen Bedingungen. Sollen die sozialen Nachteile des Wandels zum Gelingen der Transformation durch solidarischen Ausgleich und Verteilungsgerechtigkeit korrigiert werden, schaffen diese Spannungen Angriffsflächen für Extremisten. Diese knappen Beispiele offerieren, daß zwischen der erfolgreichen Lösung der zentralen Transformationsaufgaben und den Mobilisierungsmöglichkeiten des Extremismus ein Zusammenhang besteht und daß sich trotz aller Fortschritte der Transformation, aufgrund der Tiefe und Gleichzeitigkeit des Systemwandels, vielfältige Mobilisierungspotentiale für Extremismus in Ostmitteleuropa ergeben. Der zusammengebrochene Realsozialismus hinterließ nicht nur eine gescheiterte politische Ordnung und ein marodes Wirtschaftssystem, sondern auch kulturelle und sozial-strukturelle Eigenheiten, die nicht reibungslos mit den neuen Idealen von Freiheit und Demokratie vereinbar waren. Mehrere Jahrzehnte Staatssozialismus beeinflußten über Generationen hinweg die Bevölkerung mit ideologischen Zielvorstellungen und idealistischen Utopien. Der umfassende politische Gestaltungsanspruch verhinderte zugleich die Entstehung von klassischen Milieus, in denen sich beispielsweise bürgerliche oder sozialdemokratische Parteien fest hätten etablieren können, und die Entwicklung in Richtung einer Zivilgesellschaft, deren Vorhandensein 1989/90 zur Demokratieetablierung hilfreich gewesen wäre.14 Daß die moralischen Grundlagen, auf die sich die alte Gesellschaft berief, so nicht mehr galten und an ihre Stelle westliche Werte und Kultureinflüsse treten sollten, konnten viele Menschen angesichts der materiellen Mißstände und der politisch-kulturellen Verwirrung nicht begreifen. Die neuen bzw. reformierten politischen Eliten vermochten es ebenso nicht, die „kulturelle Krise“ um Fragen des Daseins und nationaler Identität für alle Bürger ihrer Länder ausreichend zu 14 Vgl. Gerd Joachim Glaeßner, Demokratie nach dem Ende des Kommunismus, in: Welttrends (1994) H. 3, S. 9–28, hier S. 11 f.

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beantworten. Stattdessen nutzen extremistische Strömungen die günstigen Gelegenheitsstrukturen von wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit, um sich ideologisch gegenüber einer Verwestlichung von Staat und Gesellschaft zu positionieren.15 Fast in der gesamten osteuropäischen Region kam es nach dem Ende des Sozialismus zu einem Erstarken von nationalistisch geprägten, rechtsextremen Bewegungen. Die Form der kollektiven Identität, welche nach der Auflösung früherer politischer und sozialer Bindungen eine Identifizierung mit einer Gemeinschaft schafft und den verunsicherten Menschen Sicherheit bietet, ist für Teile der Bevölkerungen ein einfacherer Zugang ideologischer Orientierung, als sich den scheinbar ungehemmten und unüberschaubaren Demokratieideen zuzuwenden. Das gilt besonders, wenn zum Teil soziale bzw. sozialistische Elemente aufgenommen werden.16 Von dieser Unsicherheit und Ungewißheit profitierten auch die kommunistischen Nachfolgeparteien. Deutete sich zunächst ein schnelles Ende der alten Eliten nach 1989 an, zeigt sich heute, daß sie, wie in Rußland und Tschechien, mehr als nur eine marginale Rolle spielen. Die Erinnerung an eine aus ihrer Sicht bessere Zeit, verbunden mit neuen, national orientierten Legitimierungsversuchen, ist nicht nur für einige ehemalige Funktionäre aus der zweiten und dritten Reihe nach wie vor mit dem Ideal einer sozialistischen Utopie verbunden. Doch in erster Linie sind es Zukunftsängste und Enttäuschung über den bisherigen Verlauf der Transformation, die extremen Gruppen neuen Zulauf verschaffen und von denen sie sich eine verlangsamte, national orientiertere und zugleich sozialgerechtere, also eine in gewisser Weise „national-sozialistische“ Transformation versprechen.17 Der Übergang vom Staatssozialismus zur liberalen Demokratie war für die osteuropäischen Reformer verbunden mit der Vision einer bürgerlichen Gesellschaft, demokratischer politischer Kultur und öffentlicher Partizipation. Bereits kurze Zeit nach der Installierung neuer politischer Institutionen zeigte sich ein erschreckendes Desinteresse an Politik und eine Gefährdung durch populistische bzw. extremistische Kräfte. Zum einen sind es fehlende demokratische Grundüberzeugungen und alte kulturelle Prägungen, zum anderen die unzureichenden – oder zumindest so empfundenen – Ergebnisse der neuen Politik, die für diese Entwicklung verantwortlich sind. An der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment sind die etablierten politischen Kräfte nicht schuldlos. Innerparteiliche Querelen, Postenkungelei und Korruption verstärken den Vertrauensverlust in die Demokratien und forcieren den Aufschwung von Extre15 Vgl. Christopher Williams, Problems of Transition and the Rise of the Radical Right, in: Sabrina P. Ramet (Hrsg.), The Radical Right in Central and Eastern Europe since 1989, Pennsylvania 1999, S. 29–48. 16 Vgl. József Bayer, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, in: Ostmitteleuropa, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 31 (2002), S. 265–280. 17 Vgl. Heinz Timmermann, Die KP-Nachfolgeparteien in Osteuropa: Aufschwung durch Anpassung an nationale Bedingungen und Aspirationen, Köln 1994, S. 10–13.

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men. Zudem tragen die internen wie parteiübergreifenden Streitigkeiten um solche Themen zu einer Verrohung des politischen Klimas bei, was sich im Diskurs der Öffentlichkeit fortsetzt. Daß political correctness in der Mentalität der Wähler nicht entstehen kann, wenn kein basisdemokratischer Konsens in Form von politischer Kultur existiert, ist ein Ergebnis der öffentlichen Parteienfeindlichkeit. Nicht zuletzt wegen der eigenen Unfähigkeit gelang es den demokratischen ostmitteleuropäischen Parteien nicht, eine feste Mitgliederbasis an sich zu binden. Lediglich die demokratisch-reformierten ehemaligen kommunistischen Parteien können durch „alte“ Mitgliedschaften auf ein größeres Anhängerpotenzial verweisen, aber sonst fehlt größtenteils die politische Partizipation von Parteimitgliedern in den politischen Systemen dieser Staaten. Damit hapert es an ihrem sozialen Beitrag zur Konsolidierung der jungen Demokratien. Nur wenige demokratieüberzeugte Parteianhänger vermitteln jenen Grundkonsens an politischen Inhalten und Werten in der Gesellschaft, der zur breiten Verankerung von Demokratieprinzipien notwendig wäre. Somit entsteht eine Lücke für extremistische Ideologien, wirre Demagogien und populistische Anfeindungen von Rechts und Links.18 Entscheidend für die gesellschaftliche und politische Stabilisierung und damit für das gesamte Gelingen der osteuropäischen Transformation ist die Umstrukturierung und das Wachstum der Wirtschaft, um so die Armut großer Teile der Bevölkerung zu besiegen. Die Schwierigkeiten beim Übergang von staatlich gelenkter Planwirtschaft zu freier Marktwirtschaft stellten sich schnell größer heraus als angenommen, denn ein nicht wettbewerbsfähiges, marodes Wirtschaftssystem und die hinterlassenen hohen Staatsschulden verschlechterten die Startbedingungen. Nach dem Beginn der Reformen kam es zunächst in allen osteuropäischen Staaten zu drastischen Einbrüchen der Sozialprodukte.19 Auch die Realeinkommen sanken stark und haben bis heute nicht überall den Stand von vor 1990 erreicht; zudem sind sie wesentlich ungleicher verteilt als im Sozialismus. Gerade in Rußland, wo während der Ära Jelzin durch die Privatisierungen im Energiesektor eine kleine, aber äußerst wohlhabende Oberschicht entstand, klafft die Wohlstandsschere extrem auseinander. Die aus der sozialen Ungerechtigkeit und der objektiven wie subjektiven Verarmung resultierenden Frustrationen können problemlos für die Demagogien von Extremisten und Populisten mißbraucht werden. Die Verantwortlichen für die Verschuldungskrise und westlich finanzierte Privatisierungen sind für Extreme jeder Couleur leicht auszumachen: Liberale Demokraten, internationales Kapital, bevorzugt das der erklärten „Lieblingsfeinde“ (Europäische Union, Amerikaner und Juden), und seine Institutionen von IWF und Weltbank bzw. alle, auf welche die Schuld des wirtschaftlichen und sozialen Verfalls abgewälzt werden kann.20 Hohe Arbeits18 19

Vgl. Bayer (FN 16), S. 270. Vgl. Williams (FN 15), S. 42 f.

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losenzahlen, Armut und der Wegfall von Minimalsicherheiten des Sozialismus schufen somit in Osteuropa nach 1989 Konflikte, nicht nur unter einigen sozialen Randgruppen, sondern auch in breiten Bevölkerungskreisen. Unter kommunistischer Herrschaft hatten viele Menschen das Gefühl, in einem modernen Sozialismus zu leben, und tatsächlich waren die osteuropäischen Gesellschaften in einigen Faktoren, wie Urbanisierung (hier eher die ostmitteleuropäischen Staaten) und Säkularisierung, weit entwickelt. Die sozialistische Ökonomie wurde über Jahrzehnte als hochentwickelt propagiert und durch einen Ostblock-Protektionismus konserviert. Mit der Öffnung gen Westen brachen nicht nur die nationalen Wirtschaften ein, sondern auch die Illusionen einer sozialistischen Modernisierung. Der Zusammenbruch dieser scheinbaren Modernisierung nach 1989 war umso radikaler. Die Folge ist heute eine riesige Koalition an objektiven und subjektiven Transformationsverlierern. Große Teile von kaum ausgebildeten Arbeitern, Kleinunternehmern, in Polen und Rußland millionenstarke Bauernschaften und vor allem Frauen schaffen es nach wie vor nicht, sich unter den neuen Bedingungen des Marktes zu behaupten. Unter dem riesigen Heer an ehemaligen mittleren Angestellten und Funktionären, deren Kontroll- und Agitationsaufgaben mit dem Systemwechsel endeten und die nun teilweise einfachen Tätigkeiten nachgehen müssen, ist das Verliererbewußtsein besonders stark ausgeprägt.21

3. Modell zur Einordnung von Extremismus in Osteuropa Die Untersuchung der entstehungsrelevanten Ursachen von Extremismus in Osteuropa hat gezeigt, daß die verbreitete These, Extremismus in Osteuropa sei eine Folge der Probleme bei der Modernisierung und Transformation, zwar grundsätzlich richtig ist, aber zu kurz greift. Zweifellos begünstigen die Schwierigkeiten des politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels das Erstarken von Extremismus. Sie sind der Hauptgrund für dessen Auftreten. Diese einseitige Erklärung für Extremismus ist allerdings fraglich, denn selbst im Idealfall einer allseitig gelungenen, vollendeten und reibungslosen Transformation wäre es vermutlich zum Auftreten von Extremismus gekommen. Die offizielle Unterdrückung bzw. Denunzierung des Nationalismus nach der Teilung Europas und die ideologische Leere nach dem Ende des Sozialismus führten zu jenem ideologischen Vakuum, das für Teile der Osteuropäer neu und fremd war. Die tatsächliche Instrumentalisierung des Nationalismus durch den 20 Vgl. Rudolf Hermann, Tiefe Wunden der Vergangenheit – Intellekt und Emotion liegen in Polen und Tschechien im Wettstreit, in: Das Parlament vom 19./26. August 2002, S. 1. 21 Vgl. von Beyme (FN 4), S. 190 f.

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Kommunismus fördert nun am rechten Rand die Renaissance der nationalen Identität und des Nationalismus. Am linken Rand bleiben zumindest die Überzeugten bzw. Unverbesserlichen ihrer kommunistischen Utopie einer klassenlosen Gesellschaftsform treu, und selbst das Arrangement von Links und Rechts bildet für viele Identitätslose eine ideologische Alternative. Wie sind nun die verschiedenen extremismusrelevanten Faktoren – 1. historische und aktuelle Dimensionen einzubeziehen, 2. Vergleichbarkeit und Differenzierung zu erzielen sowie 3. eventuelle Spezifizierungen darzulegen – in ein Typologisierungsmodell für Extremismus in Osteuropa integrierbar? Zunächst bilden die beiden Dimensionen „historischer Bezug“ und „aktuelle Konflikte“ Überkategorien, an denen sich extremistische Bewegungen orientieren. Innerhalb dieser Kategorien stehen sich jeweils typische Wesensmerkmale von Links- und Rechtsextremismus gegenüber. Auf der historischen Ebene wird zwischen autokratisch-nationalistischen und kommunistisch-internationalistischen Bezugspunkten für Extremisten unterschieden. Die Differenzierung innerhalb aktueller Konflikte erfolgt zwischen rassistisch-ethnozentrisch und sozialistisch-antikapitalistischen Parteien. Damit ist die Einbeziehung der beiden Dimensionen gewährleistet und neben klassischen Rechts-Links-Extremismen die Möglichkeit von extremistischen Mischtypen aus Ideologie und Aktionismus berücksichtigt. Da aber nicht nur eine Durchmischung von Ideologie und Aktionismus, sondern auch die Überlappung rechts- und linksextremistischer Elemente innerhalb der historischen bzw. aktuellen Bezüge denkbar ist, wird hier die Möglichkeit einer doppelten Zugehörigkeit eingeräumt. Daraus ergibt sich für die vorgeschlagene Typologisierung folgendes Raster: Tabelle 1 Typologisierung von Extremismus in Ostmitteleuropa nach historisch-aktuellen Dimensionen unter Berücksichtigung von Rechts-Links-Kriterien Historisch

autokratischnationalistisch

beides

kommunistischinternationalistisch

rassistischethnozentrisch

(1)

(2)

(4)

beides

(3)

(5)

(7)

sozialistischantikapitalistisch

(6)

(8)

(9)

Aktuell

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Aus dem Schema ergeben sich neun Kategorien. Das Prinzip ist einfach: Lediglich Typ (1) für Rechtsextremismus und Typ (9) für Linksextremismus sind reine Rechts- bzw. Linksextremismusformen in eindeutiger Übereinstimmung historischer Bezüge und aktueller Programmatik. Dazwischen liegen Mischformen, die links- und rechtsextreme Elemente beinhalten. Sie weisen spezifische Tendenzen auf. Da die Untersuchung entstehungsrelevanter Faktoren für Extremismus zwar die Bedeutung sowohl historischer als auch aktueller Gründe feststellt, aber transformationsbedingte Extremismusursachen größeres Gewicht haben, sind jene Gruppen, die sich aktuell nur rechts- bzw. linksextremistisch verhalten, am nahesten an der jeweiligen Reinform (Typ 2 für Rechtsextremismus, Typ 8 für Linksextremismus). Dem folgen die Kategorien (3) und (7) für historisch eindeutigen, aber aktuell durchmischten Rechts- und Linksextremismus. Dazwischen liegen die Klassen (4), (5) und (6). Bei Typ (4) würde es sich um jene Gruppen handeln, die sich zwar eindeutig auf linke Vorbilder berufen, sich aktuell aber ebenso eindeutig rassistisch-ethnozentisch gebärden. Umgekehrt ist Typ (6), bei dem nationalistische Vorlagen zwar den historischen Bezug bilden, aktuell aber nur sozialistisch und antikapitalistisch argumentiert wird. Da auch hier dem aktuellen Bezug größere Bedeutung zugerechnet wird, tendiert Kategorie (4) mehr zu Rechtsextremismus, Kategorie (6) mehr zum Linksextremismus. Den „durchmischtesten“ Typ bildet Gruppe (5). In diesem Fall sind sowohl die ideologische Basis wie der tagespolitische Aktionismus von links- und rechtsextremen Tendenzen gleichermaßen gekennzeichnet. Was kann das Modell zur Erforschung von Extremismus in Osteuropa leisten, und wo stößt seine Anwendbarkeit an Grenzen? Im Rahmen einer normativen Extremismusforschung lassen sich mit Hilfe dieser Klassifizierung Parteien, Gruppen und Bewegungen hinsichtlich ihrer historischen und aktuellen Ausrichtung einordnen und bewerten. Die Differenzierung der jeweiligen extremistischen Bewegungen gibt Aufschluß über deren ideologische wie programmatische Charaktere und Ziele, aber auch darüber, welche Gefahren daraus für die Demokratie entstehen. Die Erkenntnisse dürften damit für die Beantwortung weiterer Fragestellungen – Warum gibt es Extremismus? Warum ist die Ausbreitung so groß bzw. so klein? Gibt es Unterschiede der Extremismen zwischen den konsolidierten Demokratien der neuen EU-Mitglieder und dem Typus defekter Demokratie, wie er in Rußland vorzufinden ist? Welche sozialen Gruppen und Schichten neigen zum Extremismus? – im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Extremismus in Ostmitteleuropa nicht nur nützlich, sondern auch erweiterbar sein.

4. Ergebnisse Die Analyse der Entstehungsbedingungen wie die Untersuchung von 14 extremistischen Parteien zeigt, daß übliche Rechts-Links-Kategorien der Extremis-

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musforschung für Osteuropa nicht vorbehaltlos angewendet werden können. Aufgrund der doppelt diktatorischen Vergangenheit Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und sieben Jahrzehnten Staatssozialismus in Rußland sowie der umfassenden gesellschaftlichen Transformation im osteuropäischen Raum seit 1989 durchmischen sich rechts- und linksextremistische Elemente. Das auf dieser Grundlage entwickelte Modell soll die extremistischen Mischformen weiter differenzieren und zugleich gewisse Tendenzen nach rechts oder links berücksichtigen. Ebenso sind Unterschiede zwischen den ostmitteleuropäischen Staaten und ihrem Erbe als sowjetische Satellitenstaaten sowie dem einstigen Mutterland des Kommunismus, Rußland, auszumachen. Daher werden an dieser Stelle nur die Ergebnisse, in welche der neun Kategorien die einzelnen Parteien einzuordnen sind, dargelegt.22 Dem Typ (1) mit eindeutig rechtsextremistischen Parteien entsprechen die ungarische Wahrheits- und Lebenspartei (MIÉP), die Nationale Partei der Slowakei (NPS) die Liberaldemokratische Partei der Russischen Förderation (LDPR) sowie die neomonarchistische russische Partei Pamyat. Ideologisch berufen sie sich ausschließlich auf ihren jeweiligen Nationalismus der vorsozialistischen Epochen. Sie verbinden dies mit rigorosem Antikommunismus. Die Überbetonung der eigenen Nation bestimmt die gegenwärtigen Parteiprogramme. Innere Minderheiten werden diskriminiert, andere Staaten als äußere Bedrohung wahrgenommen und angefeindet, so daß alle vier Parteien als nationalistisch-rassistisch zu bezeichnen sind. Dem historisch eindeutig nationalistischen, aber aktuell rechts- wie linksextrem durchmischten Typ (3) sind die Parteien Polnische Familienliga (LPR) sowie die tschechischen Republikaner zuzuordnen. Beide Parteien entsprechen zwar aufgrund ihrer nationalistisch überhöhten Rückbesinnung, der autokratischen Führungsstrukturen und der rassistischen Vorurteile rechtsextremen Parteien, versuchen allerdings die transformationsbedingten Schwierigkeiten mit linksextremen Forderungen für die eigene Popularität und Legitimität auszunutzen. Bei der LPR handelt es sich zudem trotz rechts- und linksextremistischer Tendenzen in erster Linie um eine religiös fundamentalistisch-extremistische Partei. Typ (4), historisch eindeutig kommunistischer und aktuell klar rassistischer Positionen, ist keine Partei zuzuweisen; ebenso ist umgekehrt für Typ (6) keine Partei ideologisch rein nationalistisch, wenn sie programmatisch nur linksextremistische Ziele anpeilt. Typ (5) mit sowohl historischer Durchmischung von nationalistischer und kommunistischer Ideologie als auch aktueller rechts- wie linksextremistischer 22 Vgl. für Einzelheiten Tom Thieme, Politischer Extremismus in Ostmitteleuropa. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2006, S. 321–358.

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Inhalte findet sich bei den russischen Parteien Rodina, der Kommunistischen Partei der russischen Förderation und der National-Bolschewistischen Partei, ferner bei der polnischen Partei Samoobrona. Letztere ist das Musterbeispiel einer rechts-links-extremistisch durchmischten neugegründeten Nachwendepartei. Mit Populismus und Pragmatismus pur wählt Samoobronas Spitzenmann Lepper aus linken und rechten Themen die massenwirksamsten aus und verpackt das alles als pro-polnisch, sozial bzw. sozialistisch gerecht und latent fremdenfeindlich. Damit gewinnt er im riesigen Heer von polnischen Transformationsverlierern Wählerstimmen an beiden Enden des politischen Spektrums, ohne rechten oder linken Ideologiegrundsätzen verhaftet zu bleiben. Für die russischen Extremisten ist die nationalistisch-kommunistische Fusion noch einfacher zu bewerkstelligen. Die sowjetisch-sozialistische Vergangenheit wird mit heutigen russisch-nationalistischen Hegemonialansprüchen verbunden, die Ablehnung der freien Marktwirtschaft von rechtsextremen, antiwestlichen und vor allem antisemitischen Positionen begleitet. In den zum Linksextremismus tendierenden Kategorien sind unter Typ (7) drei Parteien zu finden. Die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens ˇ M), die Kommunistische Partei der Slowakei sowie die Ungarische Sozia(KSC listische Arbeiterpartei (MSZMP) sind Nachfolgeparteien der ehemaligen kommunistischen Parteien. An deren ideologischer Hinterlassenschaft hat sich in den nur wenig reformfähigen Parteien kaum etwas geändert. Marxismus und angestrebte sozialistische Gesellschaftsordnungen bilden noch immer das geistige Fundament der Parteien. Doch um trotzdem überleben zu können, bedienen sich angesichts der breiten antikommunistischen Haltung in den Ländern die (Ex-)Kommunisten nationalistischer und fremdenfeindlicher Argumentationen. In den Programmen der Parteien wird Antikapitalismus mit westlicher Bevormundung und fremdenfeindliche Bedrohung mit sozialistisch-nationalen Interessen verknüpft, um so die fehlende Legitimität des Kommunismus zu kompensieren. Keine der 14 untersuchten Parteien ist Typ (8) des fast reinen Linksextremismus zuzuordnen. Dem reinen Typ (9) entspricht nur die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPS). Das bedeutet allerdings nicht, daß es nicht solche Parteien auch in Ostmitteleuropa gibt. Die Tschechische Partei des Demokratischen Sozialismus (SDS) ist weder nationalistisch noch rassistisch, sondern ausschließlich links. Da bei der SDS, ähnlich wie bei der PDS in Deutschland, jedoch kaum bzw. nur sehr begrenzt von einer linksextremistischen Kraft gesprochen werden kann, fand die Untersuchung der Partei keinen Eingang in diese Analyse. Übertragen auf das Typologisierungsmodell ergibt sich für die Einordnung der extremistischen Parteien Ostmitteleuropas folgendes Bild:

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Einordnung extremistischer Parteien in Osteuropa nach historisch-aktuellen Dimensionen unter Berücksichtigung von Rechts-Links-Kriterien Historisch Aktuell rassistischethnozentrisch

beides

sozialistischantikapitalistisch

autokratischnationalistisch

beides

kommunistischinternationalistisch

MIÉP (HU) NPD (SK) LDPR (RU) Pamyat (RU)

———

———

LPR (PO) ˇ (CZ) SPR/RSC

Samoobrona (PO) KPRF (RU) Rodina (RU) NBP (RU)

ˇ M (CZ) KSC KPS (SK) MSZMP (HU)

———

———

KPS (RU)

Die Ergebnisse der Untersuchung entstehungsrelevanter Faktoren für Extremismus, die Analyse von 14 extremistischen Parteien und deren Einordnung in den Klassifizierungsvorschlag lassen sich in zehn Thesen zusammenfassen: (1) Klassischer Rechtsextremismus ist in Osteuropa vorhanden, wie MIÉP, LDPR, NPS und rechtsextreme Gruppierungen wie die Patriotische Front, Nationaler Widerstand, Nationale Allianz und zahllose kleine faschistische Skinheadgruppen beweisen.23 Außer der russischen LDPR ist keine einzige rein rechtsextreme Kraft in einem nationalen Parlament vertreten, der Rechtsextremismus somit trotz der gewaltigen Transformationsanstrengungen und -probleme in Osteuropa ausgesprochen schwach ausgeprägt. (2) Reiner Linksextremismus tritt in Osteuropa so gut wie nicht auf. Abgesehen von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPS) und einigen „autonomen“ Gruppen, wie der Antifaschistischen Aktion, der Tschechoslowakischen anarchistischen Föderation und der Sozialistischen Solidarität 24, sind eindeutig linksextreme Parteien in den osteuropäischen Gesellschaften weitestgehend isoliert und noch unwichtiger als unvermischt rechtsextreme Bewegungen. Nach 70 totalitären Jahren in Osteuropa scheint stereotype rechts- bzw.

23 Vgl. Report of the Issue of Extremism in the Czech Republic in 2000, in: Ministry of Interior of the Czech Republic, in: http://www.mvcr.cz/extremists (Stand: 10. Januar 2005). 24 Vgl. ebd.

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linksextremistische Politik, die nach bekannten Vorbildern agiert und an vergangene Zeiten anknüpfen will, delegitimiert. (3) Die meisten tendenziell linksextremen Parteien bekennen sich zwar ideologisch zum Marxismus, mixen aber in ihrer Politik kommunistische mit nationalistischen Inhalten. Sie neigen damit insgesamt zum Linksextremismus, sind durch rechtsextreme Passagen freilich nicht per se als solche zu bezeichnen. Die Zuwendung zu Nationalismus und die Verbindung rechts- und linksextremer Programmatik sollen einerseits die verlorene Legitimation der Kommunisten wieder aufpolieren, anderseits nicht nur im Lager der Altsozialisten, sondern vielmehr auch in jeder Klientel von Wendeverlieren für Stimmenzuwächse sorgen. (4) Die tendenziell rechtsextremen Parteien berufen sich zwar eindeutig auf nationalistische Vorbilder, verbinden aber in aktuellen Fragen national übersteigerte Forderungen mit sozialistischen – vor allem antikapitalistischen – Lösungen. Wie bei den vormals linksextremen Parteien, die auch in nationalistischen Gewässern fischen, versuchen Teile der Rechten, die mit wachsender zeitlicher Distanz immer positiver beurteilte linkstotalitäre Vergangenheit für den eigenen Erfolg zu instrumentalisieren. (5) Bei zwei tendenziell rechts- und drei mehr linksextremen Parteien ist der historische Bezug relativ eindeutig. Nicht die Auflösung fester historischer Bindungen ist bei den fünf Parteien ausschlaggebend für ihren durchmischten Charakter, sondern die Aufgabe aktuell-programmatischer Eindeutigkeit zugunsten einer Rechts-Links-Mixtur. (6) Die historisch wie programmatisch durchmischte Partei Samoobrona bildet für Ostmitteleuropa (noch) den Sonderfall. Für die meisten extremistischen Parteien Rußlands stellt die geschichtlich-ideologische Vermischung hingegen keinerlei Schwierigkeit dar. Neben einigen Ereignissen der vorkommunistischen Epoche wird gerade der Sozialismus als herausragender Teil der nationalen Historie wahrgenommen. Im heutigen Rußland ist die Geschichte des Kommunismus eben nicht die Geschichte des Internationalismus, sondern die Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und der Sowjetunion als Supermacht, deren Schaltzentrale stets Moskau war und Rußlands Einflußsphäre in unerreichte Dimensionen erweiterte. (7) Auffällig ist weiterhin, daß die meisten ostmitteleuropäischen Extremisten zwar ihre aktuellen rechts- bzw. linksextremen Positionen durchmischen, ihrer entweder nationalistischen bzw. internationalistischen Ideologie aber treu bleiben. Demgegenüber ist für die Hälfte der russischen Extremparteien die kommunistische eine zugleich nationalistische Geschichte. Nicht die Ablehnung des Nationalismus, sondern die bewußte Instrumentalisierung des einstigen Sowjetpatriotismus erklärt den heutigen Charakter dieser extremistischen Mischformen in Rußland.

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(8) Gerade die erfolgreichen extremistischen Parteien in Osteuropa sind nicht den eindeutigen Kategorien Rechts- und Linksextremismus zuzuordnen. Zwar trifft diese Durchmischung auch für kleinere Parteien wie die National-Bolschewistische Partei (NBP) und die in letzter Zeit schwachen tschechischen Republikaner zu, aber auch deren Ziel ist es, mit der Loslösung von klassischen ˇ M, rechten bzw. linken Werten jene Wahlerfolge zu feiern, wie sie die KSC KPRF, Rodina, Samoobrona und die LPR verzeichnen. (9) Die Mixtur von Positionen, welche nach westlichen Vorstellungen unvereinbar scheinen und extremistische Parteien Osteuropas jüngst zu großen Erfolgen führten, hängt zusammen mit dem Phänomen des Populismus. Das doppelte Erbe von Nationalismus und Sozialismus wirkt dabei in zweierlei Hinsicht nach. Zum einen kreieren populistische Extremisten aus den vermeintlichen Annehmlichkeiten und Vorteilen der diktatorischen Epochen vereinfachte Lösungen und erhöhen dadurch die eigene Legitimität. Zum anderen sprechen sie mit der rechts-links-durchdrungenen Melange auch ein doppeltes Potential von Sympathisanten und Wählern an.25 (10) Die Kunst erfolgreicher Populisten bzw. „gemäßigter“ Extremisten besteht darin, die Gratwanderung zwischen vergangenen Errungenschaften und totalitärer Herrschaftspraxis zu meistern. Radikal antidemokratische Politik ist in Osteuropa seit 1989 größtenteils delegitimiert.26 Wer dogmatisch die vollständige Systemalternative proklamiert, hat keine Chance auf gesellschaftliche Mehrheiten. Jene „gemäßigten“ Extremisten, die eine Alternative sowohl zur Diktatur als auch zum demokratischen Ist-Zustand darstellen, sind es, die angesichts der gravierenden Transformationsprobleme Hoffnung und Zukunftschance für zahlreiche objektive und subjektive Verlierer des Wandels darstellen.

5. Schlußbetrachtung Wie die Differenzierung der Extremismusursachen in historische und aktuelle Faktoren verdeutlicht, ist die Situation, in der Extremisten in Osteuropa ihre Ablehnung gegenüber Modernisierung und Demokratie profilieren, anders gewachsen als in Westeuropa. Während sich in Rußland nach der Oktoberrevolution eine spezifische Form des Nationalismus, der Sowjetpatriotismus, entwikkelte, folgte in Ostmitteleuropa der Epoche des Nationalismus nahtlos der Übergang zum Kommunismus. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn waren also in ihrer jeweils nationalen Historie beiden zentralen Ideologien des 20. 25 Vgl. Cas Mudde, Populism in Eastern Europe, in: http://www.rferl.org/reports (Stand: 30. November 2004). 26 Vgl. Dieter Segert, Viel weniger Rechtsradikalismus als zu erwarten wäre. Kritische Anmerkungen zu einem interessanten Vergleich, in: Osteuropa 52 (2002), S. 621– 625.

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Jahrhunderts ausgesetzt, deren geistige Grundlagen heutigen Rechts- und Linksextremismus definieren. Dies hat nachhaltige Auswirkungen auf die extremistischen Bewegungen – positive wie negative. Einerseits ist ein gewaltiges Heer an objektiven und subjektiven „Wende“Verlierern empfänglich für Alternativen zur Demokratie. Nationalistische Rückbesinnung, ethnozentrische Überbetonung, Diskriminierung von Minderheiten, an sie gerichtete Schuldzuweisungen für die aktuelle Misere sowie die Ablehnung internationaler Kooperationen sind scheinbar plausible Lösungen für die Benachteiligten des Wandels. Auch sozialistische Planwirtschaft statt kapitalistischem Ausverkauf und alte diktatorische Rechts- und Ordnungsvorstellungen werden mit zeitlichem Abstand von immer mehr Osteuropäern als wünschenswerter empfunden im Vergleich zum gegenwärtigen demokratischen System. Andererseits haben sieben Jahrzehnte diktatorischer bzw. totalitärer Herrschaftsausübung extreme Politik in beide Richtungen delegitimiert. Trotz des Unmutes angesichts kultureller Verunsicherung und sozioökonomischer Unwägbarkeiten besitzen extremistische Parteien, die einen radikalen Systemwechsel fordern, kaum Chancen, mehr als marginale Minderheiten für sich zu gewinnen. Die meisten Akteure des extremistischen Spektrums sind sich dieser paradoxen Ambivalenz von Zu- und Abneigung extremer Politik bewußt und ziehen daraus ihre Schlüsse. Auf den ersten Blick klassische Rechts- bzw. Linksextremisten verbinden ihre Ideologien und Forderungen mit denen des gegensätzlich extremen Lagers. Bei den ehemaligen kommunistischen Parteien liegt der Grund für die Aufnahme nationalistischer Positionen vor allem in der Suche nach neuer, variierter Legitimität. Die in Verruf geratene linke Ideologie wird zum eigenen Macht- bzw. Statuserhalt kompensiert und durch nationale Betonung erweitert. Für traditionelle oder vormals rechtsextreme Parteien ist es weniger fehlende Legitimität, sondern vielmehr Machtpragmatismus, der sie zur Involvierung linker Themen und Thesen veranlaßt. Mit ein wenig „Ostalgie“, sozialistischer Produktionsweise, d.h. der Arbeit für alle, sozialer Gerechtigkeit und das alles in einen nationalistisch legitimierten Kontext eingebettet, sind nicht nur Kommunismusgegner, sondern auch ehemalige überzeugte bzw. halbüberzeugte Sozialisten zu gewinnen. Für Extremisten ergeben sich daraus einerseits vielfältigere Möglichkeiten, Alternativen zur Demokratie zu präsentieren, andererseits doppelte Mobilisierungsmöglichkeiten von Wählern am rechten wie am linken Rand. Aufgrund der Tendenz zur Durchmischung von Rechts- und Linksextremismus sind in das Modell zur Einordnung extremistischer Parteien und Bewegungen diese Überlegungen eingeflossen. In der Unterscheidung von historischideologischen und aktuell-programmatischen Dimensionen des Extremismus sind die eindeutigen Positionen von Rechts- und Linksextremismus wie die Durchmischung Rechts/Links enthalten. Daraus ergeben sich neun Kategorien –

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von eindeutig rechtsextrem über mehrere durchmischte Abstufungen bis hin zu eindeutig linksextrem (vgl. Tabelle 1). Das Modell verrät weiterhin, daß außer der Durchmischung von Rechts und Links auch eine Tendenz von Stärke und Schwäche extremistischer Parteien besteht. Die durchmischte Richtung der erfolgreichen Parteien hat, wie angesprochen, vor allem den pragmatischen Grund, gewählt zu werden. Das gelingt nicht mit radikalen systemablehnenden Einstellungen, sondern mit eher moderaten Systemalternativen. Die extremistischen Parteien sind oder geben sich zumindest nicht per se antidemokratisch, vielmehr antielitär und populistisch. Sie rufen weder zur offenen Revolution auf, noch attackieren sie den Staat mit gewaltbereiten Garden, von wiederkehrenden Verbrechen einzelner gegenüber Minderheiten abgesehen. Die populistisch-extremistischen Parteien Osteuropas bekennen sich nach eigenen Aussagen alle zur demokratischen Grundordnung. Ob dies bei einer – wiewohl nicht realistischen – Regierungsübernahme ebenfalls so wäre, darf mit Blick auf die wirren und widersprüchlichen Aussagen ihrer Protagonisten bezweifelt werden. Sind die Kategorien Rechts- und Linksextremismus für Osteuropa dann überhaupt sinnvoll? Die Antwort lautet: ja und nein. Einerseits ist es angesichts rechts- und linksextremer Positionen kaum möglich, die verschiedenen Parteien mit nur einem der beiden Synonyme zu bezeichnen. Sie sind eben nicht nur rechts- oder linksextrem, sondern oft auch beides. Andererseits bilden beide Begriffe, in der Wissenschaft wie im allgemeinen Sprachgebrauch, Kategorien, die Orientierung geben und nicht wegzudenken sind. Es sind also nicht die extremistischen Parteien als rechts- oder linksextrem zu bezeichnen, sondern ihre jeweiligen Politikvorstellungen. Wenn eine Partei Ausländerhaß schürt, ist das sehr wohl rechtsextrem. Fordert sie die Verstaatlichung aller Betriebe, ist das eindeutig linksextrem. Betont sie beides, ist dies rechts- und linksextrem. Das macht sie zu einer extremistischen Partei, mit rechts- und linksextremen Inhalten. Eine genaue Prognose für die weitere Entwicklung des Extremismus in Osteuropa ist nahezu unmöglich. Für Rußland gilt nicht einmal die generelle Entwicklung in Richtung Demokratie als gesichert, während für die ostmitteleuropäischen Staaten eine Umkehr des demokratischen Weges ausgeschlossen werden kann. Außerdem stürzen Extremisten und Populisten nicht selten und unvorhersehbar über die eigenen Widersprüche und Eitelkeiten. Ebenso kann nicht ausgeschlossen werden, daß extremistische Parteien in Osteuropa, die heute Wahlerfolge feiern, sich morgen schon nach internen Rivalitäten und Verstrickungen selbst zu Grabe tragen. Umgekehrt besteht für neue Akteure die Chance, mit Demagogie und Charisma sich in den Parlamenten der osteuropäischen Staaten zu etablieren. Sehr wohl können Vermutungen dazu angestellt werden, was das Auftreten und Erstarken von Extremismus begünstigen oder unterdrücken dürfte. Die ent-

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scheidende Frage, ob Extremismus weiter wachsen, stagnieren oder eingehen wird, hängt wesentlich mit der künftigen sozioökonomischen Entwicklung zusammen. Auch hier ist es schwierig, eine Wachstumsprognose mit hoher Plausibilität zu stellen. Auf lange Sicht werden sich die nationalen Volkswirtschaften Osteuropas festigen und die Staaten im Wohlstandsniveau weiter zu Westeuropa aufschließen. Dauer und Ausmaß der Verbesserungen sind jedoch kaum vorhersehbar. Der Prozeß könnte unter dem Einfluß möglicher weltweiter Rezessionen einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, in Anspruch nehmen. Es bleibt die Hoffnung, daß die Menschen in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rußland nicht die Geduld verlieren. Da jedoch nicht mit allzu schneller und signifikanter Verbesserung zu rechnen ist, dürften schlechte Beispiele in zweierlei Hinsicht Schule machen. Zum einen werden Nachahmer den Erfolg aktueller Extremismuserscheinungen wohlweislich beobachten und nur darauf warten, bis die eine oder andere Partei ihren Selbstzerfleischungsprozeß beginnt, um dann deren Stimmen einzusammeln. Zum anderen besitzt der Extremismus zwar keine unmittelbare Kraft zur Gefährdung der osteuropäischen Demokratien, aber dafür beeinflußt er sie indirekt negativ. Je näher die „gemäßigten“ Extremisten in die Mitte rücken, um so schwieriger ist es für die demokratischen Parteien, sich substantiell von ihnen abzuheben und dennoch gewählt zu werden. Aus Machtpragmatismus wenden sich so auch einige Volksparteien dem Populismus zu. Das politische Klima verschärft sich und wenn dadurch auch nicht die Gefährdung demokratischer Institutionen entsteht, so scheint der Verlust an kaum ausgebildeter politischer Kultur Entscheidungsprozesse zu behindern. Die Entwicklung und Verankerung einer liberalen, demokratischen Identität in den Gesellschaften Osteuropas würde einen entscheidenden Beitrag leisten, extremistische Ideologien aus den Köpfen der Menschen zu verbannen. Nur wenn die demokratischen Kräfte in Osteuropas Staaten mit gutem Beispiel vorangehen und nicht dem Echo nationalistischer Mißtöne folgen, nur wenn sie vehement die demokratischen Vorzüge repräsentieren und sich nicht im Sumpf von Korruption und Affären verfangen, nur wenn dieser Prozeß von Westeuropa mit Nachsicht und nicht mit dem erhobenen Zeigefinger begleitet wird, kann dies zur Überwindung der Schatten der Vergangenheit führen.

Die Bekämpfung des Internationalen Islamistischen Terrorismus Der Fall Deutschland Von Johannes Urban

1. Einleitung New York, Washington, Bali, Casablanca, Djerba, Istanbul, Madrid, London – seit den September-Anschlägen 2001 rückt das Phänomen eines gewalttätigen, islamistisch motivierten Terrorismus aus deutscher Sicht immer näher. Bereits unmittelbar nach „9/11“ setzte die Bundesregierung eine Kampagne gegen den „Internationalen Terrorismus“ in Gang. Der Anführer der Terrorzelle, die 3.000 Menschen ermordete, hatte längere Zeit in Hamburg gelebt, studiert und konspiriert. Über Nacht war deutlich geworden: Deutschland ist Operationsbasis für international agierende islamistische Extremisten. Seither sucht die Politik nach Wegen, wie sie der so gravierenden wie unkonventionellen Sicherheitsbedrohung beikommen kann. Was der Akteur „Bundesrepublik Deutschland“ seit den September-Anschlägen gegen die Gefahren des Internationalen Islamistischen Terrorismus unternommen hat, ist Thema dieses Beitrags. Im Vordergrund steht die Frage, ob das deutsche Vorgehen der extremistischen, ja totalitären Ideologie des Islamismus als Triebfeder islamistischer Gewalt ausreichend Rechnung trägt. Der Beitrag verspricht indes keine letzten Antworten, wie Deutschland diese Form von Terrorismus besser bekämpfen könnte. Vielmehr liefert er eine Charakterisierung des deutschen Bekämpfungsansatzes sowie einige – operative und organisatorische – Optimierungsvorschläge. Zuvor bedarf es inhaltlicher Vorüberlegungen: Welche Gefahren gehen vom Internationalen Islamistischen Terrorismus aus? Auf welchen normativen Grundlagen können die demokratischen Institutionen gegen sie vorgehen? Und: Wie läßt sich „Terrorismusbekämpfung“ überhaupt analysieren, wo doch bereits das Phänomen des Terrorismus begrifflich kaum zu fassen scheint? Nur wer plausible Antworten auf diese Fragen gibt, wird den normativen und den methodischen Anforderungen an die Analyse von Terrorismusbekämpfung gerecht.

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2. Gefahren des Internationalen Islamistischen Terrorismus Auch wenn selbst prominente Stimmen es längst aufgegeben haben, eine allgemeinverbindliche Definition für das Phänomen Terrorismus zu finden:1 Wer sich mit den Gefahren einer speziellen Form von Terrorismus befaßt, muß sein Verständnis des Phänomens offen legen. Ob gewollt oder nicht, prägt es die Analyse. Bisher dominieren zwei Denkschulen, die jeweils das strategische Kalkül abzubilden hoffen. Die Anhänger der „Kommunikationsstrategie-Definition“ sehen den Zweck von Terrorismus in der Kommunikation einer politischen Botschaft.2 Sie folgern daraus eine geringe Wahrscheinlichkeit massiver Gewaltanwendung. Skeptischer sind Forscher, die Terrorismus als Methode zur Durchsetzung politischer Forderungen begreifen.3 Sie kommen damit der politischen Realität näher, das zeigen die auf kommunikative und auf möglichst große Vernichtungswirkung zielenden Anschläge des 11. September 2001. Die Ziele von Terroristen können indes recht unterschiedlich sein. Selbst religiös motivierte Terroristen verfolgen oft eine politische Agenda, etwa wenn sie die Vertreibung „Ungläubiger“ fordern.4 Sie wenden sich mit ihrer Gewaltkampagne meist gegen einen Staat – und versuchen die zu treffen, die nur schlecht zu schützen sind: seine Bürger. Terrorismus ist damit weder als moralisch gerechtfertigte Gegenwehr, noch als Kunstobjekt oder Theaterveranstaltung zu begreifen. Ebenso irreführend ist der Terminus eines „Krieges gegen den Terrorismus“, der Terrorismus begrifflich als Akteur erscheinen läßt. Zu verstehen ist Terrorismus als Methode, die politische und kommunikative Kalküle strategisch verknüpft. Es handelt sich um eine Strategie zur Erreichung politischer Ziele mittels der bewußten Erzeugung und Ausbeutung medial vermittelter Angst durch Gewalt und Gewaltdrohung gegen Nichtkombattanten. Eingesetzt wurde und wird diese Methode von einer Vielzahl von Akteuren – aus nicht weniger vielfältigen Motivlagen heraus. Neben der Motivation empfiehlt es sich, bei der Klassifikation unterschiedlicher Terrorismus-Formen das Aktionsmuster der Akteure zu beachten – ihren modus operandi. Zusammengenommen erlauben beide Kriterien eine präzise Einordnung des auf den ersten Blick unfaßlichen Vorgangs, daß Menschen im „Namen Allahs“ tausendfach

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Vgl. Walter Laqueur, Terrorismus, Kronberg 1977, S. 5. So u. a. Martha Crenshaw, Brian M. Jenkins und Peter Waldmann, vgl. statt vieler Jenkins, International Terrorism: A New Mode of Conflict, in: David Carlton/Carlo Schaerf (Hrsg.), International Terrorism and World Security, London 1975, S. 16. 3 So u. a. Bruce Hoffman, Paul Wilkinson, Boaz Ganor und David C. Harmon, vgl. statt vieler Bruce Hoffman, Terrorismus – der unerklärte Krieg, Frankfurt a. M. 2001, S. 56. 4 Vgl. Mark Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, Freiburg 2004, S. 256–337. 2

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Zivilisten töten.5 Es handelt sich um international agierende, islamistisch motivierte Terroristen – also um Internationalen Islamistischen Terrorismus. Welche Gefahren gehen von diesem Akteursgemenge aus? Die erste, unmittelbar wirkende und jedem bekannte Gefahr ist die der Gewalt, meist gegen Zivilisten. Sie kann sich überdies direkt und indirekt auswirken, beispielsweise durch die psychologischen und ökonomischen Folgewirkungen von Anschlägen. Weniger offensichtlich ist die Gefahr, daß es terroristischen Akteuren – oder extremistischen Vorfeldorganisationen – gelingt, politische Forderungen und Machtansprüche durchzusetzen. Das demokratische Gemeinwesen trifft außerdem eine dritte Gefahr: Durch staatliche Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung können substantielle Grundelemente der Demokratie – z. B. die bürgerlichen Freiheitsrechte und die Verantwortlichkeit der demokratischen Institutionen, insbesondere des Rechtsstaats – Schaden nehmen.6 Von den Akteuren des islamistischen Terrorismus gehen im engeren Sinne nur die beiden ersten Gefahren aus. In welchem Maße, das hängt zum einen natürlich von den Akteuren ab; eine Rolle spielen allerdings auch drei weitere Variablen: Die Ideologie der Terroristen, welche weitgehend ihr Handeln bestimmt; Beschaffenheit und Einstellungsmuster der Bezugsgruppe, in deren Namen Terroristen zu handeln vorgeben; die Rahmenbedingungen, innerhalb derer beide Seiten operieren. Berücksichtigt man diese vier Variablen, für die sich jeweils spezifische Gefahrenfaktoren identifizieren lassen, offenbart sich ein nuanciertes Gefahrenbild. Was die Gefahr terroristischer Gewaltanwendung angeht, deuten beinahe alle Faktoren auf eine dauerhaft hohe Gefährlichkeit des Internationalen Islamistischen Terrorismus hin: Die Ziele der Bewegung sind sehr weitreichend; sie verfügt über enorme strategische und operative Fähigkeiten; ihre hohe Gewaltpräferenz wird durch keinen anderen Faktor merklich gebremst. Allerdings kann das Netzwerk wegen des hohen internationalen Bekämpfungsdrucks nicht mehr in gewohnter Weise operieren. Bedeutende Rückzugs- und Vorbereitungsräume sind verloren gegangen. Die Führungsstruktur ist geschwächt und in ihren Operationsmöglichkeiten eingeschränkt. Dafür, daß die islamistische Terrorbewegung dennoch nicht an Kraft verloren hat, gibt es Gründe: Neben ihrer hohen Anpassungsfähigkeit sorgt die Ideologie der Bewegung für eine Art Metastasenbildung; die Ideologie ist vergleichbar zum genetischen Code eines Krebsgeschwürs, das in immer mehr Zellen die Botschaft der Gewalt verbreitet. Zahlreiche Faktoren begünstigen diesen Prozeß. So baut die islamistische Ideologie auf einer weitverbreiteten, kulturellen und religiösen Philosophie auf: dem Is5 So das politische Testament Mohammed Attas, vgl. Hans G. Kippenberg/Tilman Seidensticker (Hrsg.), Terror im Dienste Gottes. Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September 2001, Frankfurt a. M. 2004. 6 Für eine umfassende, komparative juristische Aufarbeitung dieser Problematik siehe Christian Walter u. a. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge for National and International Law: Security versus Liberty?, Berlin 2004.

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lam. Er dient quasi als „Trägersystem“, das in der Bezugsgruppe – der Ummah als Gemeinschaft der Muslime – tief verankert ist. Islamistische Prediger deuten den toleranten, kulturellen und religiösen Universalitätsanspruch dieser Religion in einen intolerant-totalitären politischen Universalitätsanspruch um – und verankern so eine totalitäre Ideologie im Denken und Fühlen ihrer angeblich Schutzbefohlenen. Dabei wird selbst das negiert, was andere Totalitarismen an Menschlichem zumindest fiktiv aufrechterhalten: die Volkssouveränität. Beide elementare Bezugspunkte liberal-demokratischer Staatsphilosophie, das Ganze und der einzelne, verlieren im Islamismus Gestalt und Bedeutung zugunsten einer einzigen legitimen Instanz, dem politisierten Gott. Sowohl die konstituierenden Prinzipien (z. B. Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip) des Ganzen, als auch die sich aus ihnen ergebende Stellung des einzelnen (z. B. Schutz der Menschenwürde, Religionsfreiheit) negiert der Islamismus vollständig. Er ist totalitär. Die Autorität dieser Botschaft und ihrer Propagandisten profitiert in hohem Maße von den allgemeinen Rahmenbedingungen. Insbesondere die teils tatsächlich erlebte, teils medial vermittelte soziale, ökonomische und politische Diskriminierung gegenüber Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften trägt zum Gefühl des Angegriffenseins bei. Islamistische Akteure sind zudem geschickt darin, Ereignisse zu instrumentalisieren und ihre Bezugsgruppe zu radikalisieren – Stichwort „Karikaturenstreit“. All dies nährt den Wunsch nach Wiedererrichtung des Kaliphats als Symbol islamischer Einheit und Vormacht in der von „Juden und Kreuzfahrern“ geknechteten Welt. Sie gilt es hinwegzufegen, ihre Herrschaft der Amoral durch eine moralische, muslimische Herrschaft zu ersetzen. Des Universalitätsanspruchs des Islams wegen darf dieses Ziel nicht auf die islamische Welt beschränkt bleiben. Auch in den bisher von „Juden und Kreuzfahrern“ bewohnten Gebieten soll der Islam islamistischer Prägung als allumfassendes, sprich totalitäres, Gesellschaftssystem errichtet werden. Der Kampf der „Heiligen Krieger“ richtet sich damit nicht nur gegen Israel und die USA; es ist ein ideologischer, von einer kosmischen Vision getriebener Kampf gegen die liberale(n) Demokratie(n). Die Bundesrepublik ist sicherlich nicht so stark gefährdet wie andere westliche Staaten, erfreut sich die deutsche Kultur doch in vielen arabischen Staaten großer Sympathie. Aber: Wie die Anschläge in Madrid und London zeigen, geht eine gänzlich neue Bedrohung von jungen, durch die Kampfhandlungen im Irak und in Afghanistan radikalisierten Muslimen aus. Deshalb ist auch Deutschland nicht nur abstrakt, sondern konkret gefährdet. Dies gilt insbesondere für jüdische bzw. israelische, britische und US-amerikanische Einrichtungen.7 Deutschland war bereits mehrfach intendiertes Ziel solcher Anschläge, die 7 Begünstigt wird dieser Trend von den Rahmenbedingungen: Steigende Abwehrfähigkeit und sinkende Verwundbarkeit der USA machen Europa als weniger geschütz-

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jedoch verhindert werden konnten. Dies dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht immer gelingen, zumal islamistische Strukturen für den bewaffneten Kampf werben und damit als Inkubatoren der Metastasenbildung wirken (dürfen). Derzeit rund 30.000 Mitglieder in islamistischen Vorfeldorganisationen und rund 180 laufende Strafverfahren gegen islamistische Terrorverdächtige illustrieren: Für die Bundesrepublik ist mit einer schwerwiegenden Gefährdung durch terroristische Gewalt zu rechnen. Selbst wenn es nicht zu Anschlägen kommen sollte, begründet die Bedrohung durch Gewalt einen starken Imperativ für Gegenmaßnahmen. Zu hoch sind alleine die ökonomischen Folgewirkungen, die beispielsweise die Anschläge des 11. September 2001 für die deutsche Volkswirtschaft hatten. Ebenfalls oft unterschätzt wird die politische Gefahrendimension, also daß es islamistischen Terroristen und Extremisten gelingen könnte, ihre Forderungen gegen die Interessen des Gemeinwesens und der Bevölkerung durchzusetzen. Selbst wenn dies lediglich andere Staaten – z. B. die USA, Irak oder die Türkei – betreffen sollte, bliebe es nicht ohne empfindliche Auswirkungen auf die Bundesrepublik: Ölpreisanstieg, Destabilisierung der Finanzmärkte, Wirtschaftskrise, Massenmigration, gewaltsame Auseinandersetzungen mit islamistischen Kräften im In- und Ausland sind nicht nur mögliche, sondern bereits spürbare Folgewirkungen. Die Durchsetzung politischer Forderungen und Machtansprüche islamistischer Organisationen bedroht die Bundesrepublik aber auch direkt: Die Ausrichtung vieler muslimischer Verbände und Gemeinden an islamistischen Positionen ist nur als Gegnerschaft zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu begreifen. Die Konsequenzen einer zunehmenden Durchsetzung islamistischer Positionen, insbesondere die Einführung der Scharia als Parallelrechtsordnung, sind beträchtlich. Es kommt zu einer schleichenden Entrechtung der Bezugsgruppe, vor allem der weiblichen Mitglieder islamistisch dominierter muslimischer Gemeinschaften. Dieser Prozeß treibt die Entwicklung von Parallelgesellschaften voran, führt zur Aushöhlung der demokratischen Rechtsordnung und lokal sogar zur Durchsetzung eines totalen politischen Machtanspruchs islamistischer Führer. Die inzwischen verbotene Vereinigung „Kalifatsstaat“ des selbsternannten „Kalifen von Köln“, Metin Kaplan, ist ein gutes Beispiel dafür. Allerdings wäre es falsch, alleine die Aktivitäten islamistischer Organisationen als Ursache zu identifizieren. Eine ganze Reihe von Faktoren trägt zur Verschärfung der Entwicklung bei. Dazu zählt als wichtigster die relative Abschottung vieler muslimischer Gemeinden von der deutschen Mehrheitsbevölkerung, die es islamistischen Organisationen und Agitatoren erleichtert, gläubige Muslime und andersgläubige („ungläubige“) Bewohner Deutschlands gegeneinander tes Operationsgebiet attraktiv. Dieser Verdrängungseffekt ist analog zur Verdrängung terroristischer Gewaltakte auf „weiche Ziele“, z. B. Nachtclubs oder Hotels, zu verstehen.

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in Stellung zu bringen. Diese Abschottung hängt eng mit den – in Jahrzehnten verpaßter Integrationspolitik – schwierigen Beziehungen zwischen muslimischer Minderheit und deutscher Mehrheitsgesellschaft zusammen. Jede Ausgrenzung von Muslimen – ob selbst gewählt oder Folge von Ängsten, erlebter Diskriminierung oder Vorurteilen – dient islamistischen Agitatoren als Treibstoff eines primär legalistischen, den islamistischen Terrorismus jedoch begünstigenden Kampfes gegen die deutsche Demokratie. Angesichts der in vielen Ballungszentren hoch entwickelten islamistischen Strukturen, ihrer Aktivitäten, ihres Einflusses auf die Bezugsgruppe und den negativen Auswirkungen der Rahmenbedingungen ergibt sich folgendes Gefahrenbild: Die direkt wirkenden Gefahren der Durchsetzung islamistischer Forderungen sind als mittel, in den von islamistischen Organisationen dominierten urbanen Räumen jedoch als erheblich einzuschätzen. Die indirekt wirkenden Gefahren haben in den letzten Jahren stark zugenommen; sie bedrohen mit der Golfregion die globale Energieversorgung – und damit Frieden und Wohlstand, auch in der Bundesrepublik.

3. Normative Grundlagen der Bekämpfung durch die Bundesrepublik Im Kampf gegen zum Äußersten entschlossene Terroristen und ihre extremistischen Unterstützer ist indes nicht „alles erlaubt“. Sonst würde die „dritte Gefahr“, daß die Demokratie sich selbst untergräbt, akut. Wo liegen die Grenzen der Rechtmäßigkeit im Kampf gegen Terroristen, worin bestehen und wie weit tragen die normativen Grundlagen der Terrorismusbekämpfung? Wie schwer diese Frage zu beantworten ist, zeigt schon die Vielfalt von Normen und Vereinbarungen, die es zu berücksichtigen gilt. Die normativen Grundlagen lassen sich nämlich nicht gemäß dem traditionellen Verständnis Innerer Sicherheit allein auf das deutsche Rechtssystem beschränken: Terrorismusbekämpfung in der „post 9/11-Welt“ verwischt die Trennung zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit; sie umfaßt – definiert als die Gesamtheit aller Maßnahmen gegen eine bestimmte Form von Terrorismus – weit mehr als nur die klassischen staatlichen sicherheitspolitischen Mittel. So wie mit der Terrorismusbekämpfung ein neues Politikfeld entstand, verbinden sich unterschiedliche Rechtsgrundlagen zu einer breiten normativen Grundlage. Sie besteht aus: 1. den grundrechtlichen Schutzpflichten der Staatsorgane; 2. der grundgesetzlichen Garantie eines freiheitlichdemokratischen Verfassungsstaates und 3. den Internationalen Verpflichtungen, die aus Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen resultieren, deren Mitglied Deutschland ist. Jede dieser normativen Grundlagen – es würde an dieser Stelle zu weit führen, ihre Wirkungsweise en detail zu erläutern – eröffnet spezifische Handlungsspielräume für den Staat und seine Sicherheitsorgane. Sie begründen teils gar eine Pflicht zum Handeln, um Staat und Bürger zu schützen – und zwar gegen jede der drei Gefahren: Gewaltanwendung,

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Durchsetzung politischer Forderungen, Aushöhlung von Demokratie und Bürgerrechten. Aus guten Gründen setzt dabei die „Rechtsstaatlichkeit dem staatlichen Streben nach absoluter innerer Sicherheit Grenzen“.8 Sie verhindert so, daß der demokratische Rechtsstaat sich in einer von Terroristen angeheizten Eskalationsspirale selbst untergräbt. Jene Grenzen bestehen in den rechtlichen Schranken, die das Grundgesetz bzw. nachrangige Gesetze definieren, etwa für die Befugnisse der Sicherheitsbehörden oder die Reichweite strafrechtlicher Pönalisierung politischer Straftaten. Beschränkende Wirkung entfalten zudem die einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts, z. B. die Genfer Konvention. Diese Schranken – bzw. ihre richterliche Auslegung – bestimmen letztlich, wie weit Auftrag und Handlungsspielraum der mit dem Schutz von Verfassung, Staat und Bürger beauftragten Institutionen reichen. Dies gilt für alle drei der diskutierten normativen Grundlagen, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur (verfassungswidrigen) Umsetzung des „Europäischen Haftbefehls“ in das deutsche Recht illustriert.9 Das Beispiel steht stellvertretend für diverse Fälle, in denen neue bzw. die Ausweitung bisheriger Präventionsmaßnahmen Betroffene wie Gegner von Freiheitseingriffen zu juristischem Widerstand provozieren. Als Ergebnis dieser Konstellation ist vieles im Fluß, von der Auslieferung deutscher Verdächtiger über das sogenannte „Luftsicherheitsgesetz“ bis zur Auslegung des „Trennungsgebots“ im Verfassungsschutz. Am weitesten reicht die staatliche Entscheidungsprärogative im Bereich der Gefahrenabwehr. Wenn Leben unmittelbar und erkennbar bedroht ist, muß der Staat handeln – notfalls zu Lasten der Rechte des „Störers“. Dabei geht es nicht nur um den Schutz des betroffenen Opfers, sondern auch um den des Geltungsanspruchs der Rechtsordnung, also letztlich des staatlichen Gewaltmonopols als Existenzberechtigung des Verfassungsstaats.10 Jeder Eingriff in die Rechte des „Störers“ kann allerdings nur verhältnis- und damit rechtmäßig sein, wenn er geeignet, erforderlich und angemessen zum Erreichen des Schutzziels ist: „Als Faustregel gilt: Je enger der Bezug eines Eingriffes zur Wahrung der körperlichen Sicherheit ist, desto leichter fällt seine Rechtfertigung.“11 Auch wenn die Wahl der Mittel weitgehend in den Händen des Gesetzgebers liegt: Er ist „von Verfassung wegen verpflichtet, zwecktaugliche Mittel bereitzustellen, die der Art und Größe 8 Kirsten Schmalenbach, Administrativer Verfassungsschutz: Bürger unter Beobachtung, in: Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, Tübingen 2003, S. 415–445, hier S. 435. 9 Vgl. „Europäischer Haftbefehl in Deutschland nichtig“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19. Juli 2005, S. 1. 10 So Paul Kirchhof und Josef Isensee, zitiert nach Josef Isensee, Der Verfassungsstaat als Friedensgarant (II), in: Die politische Meinung 49 (2004) H. 5, S. 66–72, hier S. 69. 11 Ebd.

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der Gefahr“ entsprechen. Unzulässig ist dagegen der Einsatz solcher Mittel, die „unvereinbar mit der Würde des Menschen sind“.12 Die so definierte Verhältnismäßigkeit der Mittel ist die zentrale Richtschnur, an der es die Verfassungsmäßigkeit einer konkreten Bekämpfungsmaßnahme zu messen gilt. Daß diese Schranke indes keine klar umrissene Grenzziehung liefert, liegt auf der Hand. Welche rechtlichen Probleme sich daraus für die Praxis der Terrorismusbekämpfung ergeben, zeigt die Debatte zum sogenannten „Luftsicherheitsgesetz“. Was verhältnismäßig ist, mußte in einer höchstrichterlichen Entscheidung festgestellt werden, die nun zu einer Grundgesetzänderung führen könnte. Nicht minder kompliziert festzulegen sind die Grenzen der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit in der Strafverfolgung. Allgemein gesprochen kommt es auf die Legitimität des Zwecks einer Norm sowie auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Grundrechtseingriffs an.13 Ausschlaggebend ist damit das Verhältnis von Schutzgut und Grundrechtsbeeinträchtigung und folglich die Frage, ob der Grundsatz „in dubio pro libertate“ zu greifen hat. Wäre dem so, müßte dem Rechtsgut der Freiheit des einzelnen Vorrang vor der Sicherheit der Vielen eingeräumt werden. Aus der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten, im Grundgesetz festgeschriebenen weitgehenden Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Wahl der Mittel ergeben sich indes in zweierlei Richtungen Handlungsspielräume.14 Weder ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zur Strafbewehrung bislang straffreien Verhaltens verpflichtet, noch zur Entkriminalisierung bisheriger Straftatbestände, etwa des § 129a StGB, der die Mitgliedschaft in einer deutschen terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt. Will der Staat angesichts neuer Gefahren neue Strafnormen einführen, „besitzt der Gesetzgeber im Zweifelsfall eine weitreichende Entscheidungsprärogative“.15 Das erste, im Dezember 2001 vom Bundestag beschlossene Anti-TerrorPaket – das u. a. in Form des § 129b StGB eine ausweitende Ergänzung des erwähnten Terrorismusparagraphen vorsieht – ist ein „Musterfall“ dafür.16 Befürworter wie Gegner einer intensiveren strafrechtlichen Terrorismusbekämpfung sind deshalb auf die politische Willensbildung verwiesen. Freilich öffnet sich keine Pforte für staatliche Willkür; alles staatliche Handeln bleibt an das Grundgesetz – und selbstverständlich auch an relevante internationale Normen, etwa den Schutz der Menschenrechte betreffend – gebunden.17 Auch die strengen Anforderungen des Strafprozeßrechts, die den Strafverfolgungsbehörden in 12

Ebd., S. 69 f. Vgl. Volker Brähler, Herleitung, Inhalt und Grenzen des staatlichen Strafanspruchs, in: Thiel (FN 8), S. 251–290, hier S. 271–279. 14 Vgl. ebd., S. 288. 15 Ebd., S. 289. 16 Ebd. 13

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beinahe jedem der bisherigen Islamisten-Prozesse Niederlagen bescherten, schränken die von Kritikern monierte, vermeintliche Allmacht des Staates ein.18 Angesichts der insgesamt weitgefaßten Grenzen der Verfassungsmäßigkeit verlagert sich indes die Verantwortung für die Verhältnismäßigkeit der Strafverfolgung in den Bereich der politischen Willensbildung. Eine vorausschauende, nicht von dramatischen Ereignissen überschattete und von sachlichen Erwägungen geleitete parlamentarische Entscheidungsfindung tut deshalb not. In besonderem Maße stellt sich die normative Frage für den vorgelagerten Verfassungsschutz. Nicht nur betrifft er eine weitaus größere Zahl an Menschen; selbst legale Handlungen von Bürgern, für die zunächst die Unschuldsvermutung zu gelten hat, geraten ins „Fadenkreuz“ staatlicher Grundrechtseingriffe. Es sind vor allem verdachtsunabhängige Ermittlungsmethoden wie z. B. die „Rasterfahndung“, die im Zentrum liberaler Kritik stehen. Dessen ungeachtet hat der Gesetzgeber mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 die Vorfeldverlagerung weiter in Richtung Prävention gestärkt. Nicht aufgehoben sind die rechtlichen Schranken nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Seit langem bestehende rechtliche Probleme gewinnen an Brisanz, weil „der klassische Konflikt zwischen staatlichen Sicherheitsversprechen und Abwehrrechten eine neue Dimension [bekommt]“.19 Viele Verfassungsrechtler lehnen die ausgeweiteten Maßnahmen des vorgelagerten Verfassungsschutzes deshalb ab, weil sie vor allem „Geschützte, nicht potentielle Störer“ träfen und dabei um der Sicherheit willen in ihre Freiheitsrechte eingriffen.20 Wie Erhard Denninger sieht Christoph Gusy in den Gesetzen eine bedenkliche Stärkung der Exekutive bis hin zur Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit.21 Diese Argumentation übersieht allerdings, daß der Rechtsschutz der Betroffenen nicht nur ex post, sondern auch ex ante gewährleistet wird. Die Regeln des sogenannten „Artikel 10Gesetzes“ und die Kontrolle ihrer Einhaltung wurden durch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen – u. a. zum sogenannten „Großen Lauschangriff“ und zur „Rasterfahndung“ – noch verschärft. In die Gegenrichtung weist wiederum die Aufweichung des „Trennungsgebotes“ zwischen Polizei und 17 Vgl. American Institute for Contemporary German Studies AICGS (Hrsg.), Oliver Lepsius, The Relationship Between Security And Civil Liberties In The Federal Republic Of Germany After September 11, Washington D.C. 2002, S. 7. 18 Beispiele sind insbesondere die Prozesse gegen Abdelghani Mzoudi und Mounir al Motassedeq, die in beiden Fällen zur Freiheit in hohem Maße tatverdächtiger und gefährlicher Islamisten führten, vgl. u. a. „Freispruch Mzoudis bestätigt“, in: FAZ vom 10. Juni 2005, S. 1. 19 Vgl. Gert-Joachim Glaeßner, Sicherheit und Freiheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 10–11/2002, S. 3–13, hier S. 13. 20 Christoph Gusy, Geheimdienstliche Aufklärung und Grundrechtsschutz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 44/2004, S. 14–20, hier S. 17. 21 Ebd.

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Nachrichtendiensten. Die Einrichtung des gemeinsamen „Terrorismus-Abwehrzentrums“ der Sicherheitsbehörden in Berlin ist ein Indiz dafür, daß sich die praktische Anwendung stärker in Richtung einer formalen Trennung entwickeln wird. All dies illustriert: Die normativen Grenzen der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus und Extremismus sind im Fluß. Dennoch sind normative Schlußfolgerungen zu ziehen, wie Terrorismusbekämpfung verantwortungsvoll analysiert werden sollte – vor allem, wenn am Ende verantwortliche Politikempfehlungen stehen sollen. Erste Folgerung: Es gilt wann immer möglich grundrechtneutrale Bekämpfungsmaßnahmen einzubeziehen. Zweitens: Die zu schützenden Rechtsgüter sollten sachlich abgewogen werden – inhaltlich wie auch im Ton der Debatte. Jene Abwägung sollte, drittens, die Zeitachse einbeziehen, also die Wahrscheinlichkeit künftiger Rechtsverletzungen als Folge staatlichen Handelns (oder Unterlassens) einkalkulieren. Sie sollte zudem – vierte Forderung – in Händen spezialisierter, rechtsstaatlicher Gremien liegen, damit es nicht in der Hitze des Gefechts zu Präzedenzentscheidungen kommt. Daß Bekämpfungsmaßnahmen – fünftens – regelmäßig evaluiert und kontrolliert werden sollten, setzt sich zunehmend durch. Ein neuerer Gedanke dagegen ist sechstens, mit Hilfe von Ausgleichsmaßnahmen für Betroffene das Handeln des Staates aktiv zu legitimieren. Legitimität ist nämlich in der Auseinandersetzung mit Terroristen und Extremisten das höchste Gut. Deshalb lautet die siebte und letzte Schlussfolgerung wie folgt: Alle Maßnahmen und ihre Rechtsgrundlagen gilt es differenzierend, nicht diskriminierend zu gestalten. Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus, zwischen Religion und Ideologie, ist dafür zentral. Zusammengenommen formulieren diese normativen Schlußfolgerungen einen Erwartungshorizont, an dem sich Analyse und Optimierungsvorschläge orientieren müssen. Allerdings ist er nur ein Teil des Bewertungsmaßstabs; er soll die Verhältnismäßigkeit der Politikempfehlungen sichern, ohne jene schon im vorhinein zu determinieren.

4. Der Bekämpfungsansatz – und wie man ihn analysiert Welche Methode für eine Analyse von Bekämpfungsmaßnahmen angemessen ist, hängt von der Forschungsfrage ab. In den meisten Arbeiten stehen wichtige Einzelaspekte, vor allem die Neben- und Folgewirkungen staatlichen Handelns – z. B. für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – im Vordergrund. Mancher Autor übersieht dabei, daß wertende Schlußfolgerungen eine Vorstellung vom Ganzen erfordern. Eben deshalb versucht diese Studie, den Bekämpfungsansatz Deutschlands – verstanden als Muster empirisch feststellbarer Maßnahmen gegen den Internationalen Islamistischen Terrorismus – zunächst zu charakterisieren und dann zu evaluieren. Dafür muß die Methode drei Anforderungen erfül-

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len: Sie muß erstens der Vielfalt möglicher Bekämpfungsmaßnahmen Rechnung tragen, von A wie Afghanistan bis Z wie Zuwanderung. Daraus Schlußfolgerungen auf aussagefähige Charakteristika des Bekämpfungsansatzes zu ermöglichen, ist die zweite Anforderung. Drittens schließlich sollte die dafür notwendige Systematik auf andere Fälle übertragbar sein. Die Systematik muß also möglichst alle denkbaren Bekämpfungsmaßnahmen umfassen. Die meisten der bisherigen Studien zum Thema heben indes auf einen der drei „klassischen“ Bekämpfungsansätze ab: terroristische Akteure und Strukturen, Ursachen und Triebkräfte von Terrorismus oder Verwundbarkeit und Abwehrfähigkeit des angegriffenen Gemeinwesens (Homeland Security). Einzig Paul R. Pillar hat bisher eine um ganzheitliches Erfassen der Problematik bemühte, wenn auch unvollständige, strategische Analyse vorgelegt.22 Wegweisend ist sein Herangehen, weil Pillar zielorientiert analysiert und strategische Empfehlungen entwirft. Eben dieser Logik einer Strukturierung nach logischen Ebenen folgt auch die im März 2003 veröffentliche „National Strategy To Combat Terrorism“ der USA.23 Wie das auf Anfrage der Opposition im Deutschen Bundestag im Mai 2004 veröffentlichte „halboffizielle“ deutsche Strategiedokument,24 bemüht sich die US-Strategie um einen umfassenden Ansatz. Sie stellt Bezüge zwischen Zielen, Strategien und Mitteln der Umsetzung her. Entsprechend dieser Logik läßt sich eine nicht nur umfassende, sondern auch aussagekräftige Systematik entwickeln. Ihre Kategorien – Ziele, Strategien und Mittel – eignen sich hervorragend, um Zielsetzung, Umsetzung und Ergebnis von Politik im Kontext zu analysieren.25 Die oberste logische Ebene, den Zweck des Handelns, an dem sich alles weitere ausrichtet, bilden die Ziele der Terrorismusbekämpfung. Sämtliche Bekämpfungsmaßnahmen eines Staates lassen sich jeweils einem, in vielen Fällen mehreren Zielen zuordnen. So entsteht ein Muster verfolgter Ziele, das den Bekämpfungsansatz in gewissem Grade charakterisiert. Was aber sind diese Ziele – und woraus leiten sie sich ab? Oberstes Ziel aller Sicherheitspolitik ist es, die Sicherheit der Bürger und der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten oder wiederherzustellen. Unterhalb dieser Metaebene bilden vier Ziele den höchsten Bezugspunkt aller wesentlichen Bekämpfungsmaßnahmen. Sie sind eine direkte 22

Paul R. Pillar, Terrorism and U.S. Foreign Policy, Washington D.C. 2001. Vgl. The White House (Hrsg.), National Strategy To Combat Terrorism, Washington D.C. 2003. 24 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 15/3142 vom 14. Mai 2004, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion der CDU/ CSU – Drucksache – Fortführung der Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, Berlin 2004. 25 Für eine detaillierte Herleitung siehe Johannes Urban, A wie Afghanistan, Z wie Zuwanderung. Terrorismusbekämpfung im Licht einer umfassenden Systematik, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 16, Baden-Baden 2004, S. 169–186. 23

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Ableitung der drei Ansatzpunkte der Terrorismusbekämpfung. Aus ihrer Gewichtung läßt sich folglich in gewissem Maße auf die Schwerpunkte des Bekämpfungsansatzes schließen. Vier Ziele definieren die Bandbreite möglicher Zielsetzungen: 1. Verhinderung von Anschlägen. Dieses Ziel ist stark auf terroristische Akteure bezogen und impliziert einen akteursorientierten Ansatz, der zugleich das 2. Ziel beinhaltet, die Konsequenzen terroristischer Gewaltanwendung zu begrenzen. Es kann sowohl zu Maßnahmen im Vorfeld terroristischer Aktionen führen – z. B. zum Schutz vor Anschlägen hoher Zerstörungswirkung – als auch zu Maßnahmen, die deren direkte und indirekte Folgen für die Opfer reduzieren sollen; 3. Schwächung und Beseitigung terroristischer und extremistischer Strukturen. Hier sollen terroristische Organisationen aufgelöst, zumindest aber ihre Handlungsfähigkeit möglichst weit eingeschränkt werden; 4. Beseitigung struktureller Ursachen und Triebkräfte. Dieses Ziel drückt ein präventives Bekämpfungsverständnis aus. Auch wenn es schwer fällt, Ursachen und Triebkräfte verläßlich zu bestimmen, lassen sich einige konkrete Teilaspekte ausmachen. Die US-Anti-Terror-Strategie etwa nennt u. a. das Versagen staatlicher Strukturen in islamisch geprägten Staaten, Armut und Unterentwicklung, politische Repression und regionale Konflikte – hier vor allem der Konflikt zwischen Israel und dem palästinensischen Volk.26 Ursachen und Triebkräfte sind dabei längst nicht nur ein Phänomen der islamischen Welt. Die Bundesregierung stellt in ihrem Strategiedokument klar, daß sie auch der „Radikalisierung und Rekrutierung für Terror-Netzwerke“ sowie der „Ausbreitung islamistischen Gedankengutes“ in Deutschland entgegenwirken will.27 Jedem dieser Ziele dient eine Reihe von Maßnahmen, bei denen jeweils ein Mittel staatlichen Handelns – z. B. Entwicklungshilfe, das Strafrecht oder die Streitkräfte eines Landes – zum Einsatz kommt. Deshalb ist der Mitteleinsatz auch nicht aus dem Mittel heraus zu erklären, sondern muß von der Zielsetzung her betrachtet werden. Hier greift die logische Ebene der Strategien, verstanden als „Anwendung von Mitteln zur Erreichung festgelegter Ziele“.28 Erst dieser „logische Transmissionsriemen“ zwischen den Ebenen der Ziele und der Mittel ermöglicht eine präzise Zuordnung und Analyse der Maßnahmen. Schnell sichtbar wird dabei auch das Verhältnis zwischen einzelnen Zielen und Strategien: Jedem der vier Ziele läßt sich mindestens eine Strategie zuordnen. Ebenso offenbaren sich Berührungspunkte und Schnittmengen zwischen den Strategien. Einige haben grundlegende Bedeutung, weil sie sich nachhaltig auf andere Strategien – und damit auf die Erreichung unterschiedlicher Ziele – auswirken. Dies gilt zumal für 1. die Strategie der Delegitimierung. Häufig setzt sich diejenige Seite durch, die in den Augen relevanter Gruppen über ein größeres 26 27 28

Vgl. The White House (FN 23), S. 22. Vgl. Deutscher Bundestag (FN 24), S. 6. Vgl. David C. Harmon, Terrorism Today, Portland 2000, S. 44.

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Maß an Legitimität verfügt. Besonders wichtig ist die Wahrnehmung durch die Bezugsgruppe der Terroristen, auf deren Unterstützung jene angewiesen sind.29 Delegitimierung reicht dabei über politische Erklärungen und über interkulturellen Dialog mit Muslimen hinaus. Ohne eine Auseinandersetzung mit denjenigen Fragen, die den Kampf der Terroristen in den Augen ihrer Bezugsgruppe legitim erscheinen läßt, dürfte ihr kein dauerhafter Erfolg beschieden sein. Die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bezugsgruppe und die Förderung von Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – also Maßnahmen gegen ökonomische Depression und politische Repression – sind deshalb wichtige Teilstrategien. Gelingt es durch Delegitimierung, die Zahl der Aktivisten und Unterstützer zu reduzieren, trägt dies zugleich zur 2. Strategie der Vorenthaltung wichtiger Ressourcen und Zugänge bei.30 Schwerpunkte der Strategie bilden neben der Vorenthaltung von Rückzugs- und Mobilisierungsräumen eine effektivere Kontrolle des transnationalen Verkehrs von Personen, Daten und Gütern sowie die Identifikation und Beseitigung der Finanzierungsquellen des internationalen islamistischen Terrorismus. Deutschland wendet jede dieser Umsetzungsstrategien an.31 Heiß umstritten ist dagegen die Teilstrategie, die Proliferation konventioneller und unkonventioneller Kampfstoffe zu unterbinden – notfalls auch mit Waffengewalt. Eine Vielzahl rechtlicher, nachrichtendienstlicher, polizeilicher und militärischer Maßnahmen setzt 3. die Strategie der Ausforschung und Auflösung terroristischer und extremistischer Strukturen um. In der historischen Diskussion ist sie Ausgangspunkt und Hauptelement eines akteurszentrierten Bekämpfungsansatzes, wie ihn einst Samuel B. Griffith in der Trias „Lokalisierung der Bedrohung, Isolierung der Akteure und Auslöschung der Akteure“ zusammenfaßte.32 In der aktuellen politischen Praxis reicht die Bandbreite möglicher Instrumente von Kommunikationsüberwachung über Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit der Sicherheitsbehörden bis zu speziellen Ausstiegsprogrammen (Stichwort „Kronzeugenregelung“).

29 Vgl. Jack A. Goldstone, States, Terrorists, And the Clash of Civilizations, in: Craig Calhoun/Paul Price/Ashley Timmer (Hrsg.), Understanding September 11, New York 2002, S. 139–158, hier S. 157. 30 Vgl. The White House (FN 23), S. 17. 31 Deutschland kommt damit seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UN Resolution 1373 nach. Für eine ausgiebige Darstellung der Maßnahmen siehe Peter El-Samalouti, Finanzierung des Terrorismus und Gegenstrategien, in: Kai Hirschmann/ Christian Leggemann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus. Strategien und Handlungserfordernisse in Deutschland, Berlin 2003, S. 201–234. 32 James D. Kiras, Terrorism And Irregular Warfare, in: John Baylis/James J. Wirtz (Hrsg.), Strategy in the Contemporary World, Oxford 2002, S. 221.

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Die gewonnenen Erkenntnisse sind eine notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Umsetzung der 4. Strategie, Anschlagspläne möglichst frühzeitig zu identifizieren und zu vereiteln.33 Mit wachsender Komplexität und Größenordnung der Anschlagspläne sehen sich Staaten gezwungen, umfangreiche Kapazitäten für die Gefahrenabwehr einsetzbar zu halten. Angesichts begrenzter Ressourcen versuchen sie dabei, die wahrscheinlichsten Angriffsziele und -pläne zu identifizieren. Konventionelle Maßnahmen – z. B. die Bereithaltung von Sondereinsatzkommandos – ergänzen zunehmend unkonventionelle Methoden, z. B. der Einsatz von Abfangjägern oder ABC-Sensoren in gefährdeten Ballungsräumen. Eine wichtige Rolle spielt 5. die Strategie, die am meisten gefährdeten Ziele und die für Funktionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft wichtigsten Systeme zu schützen. Besondere Bedeutung kommt sogenannten kritischen Infrastrukturen zu, deren Ausfall vielen Menschen Schaden zufügen und hohe Kosten verursachen würde: Transport und Verkehr, Information und Kommunikation (IuK), Energieversorgung, Gesundheitsversorgung sowie die Infrastruktur der inneren und äußeren Sicherheit.34 Seit den September-Anschlägen stellt sich zudem die Frage, ob bzw. wie Staat und Gesellschaft durch Notstandsbestimmungen und Maßnahmen gegen ökonomische Kettenreaktionen präventiv vor einem folgenreichen Systemzusammenbruch geschützt werden können. Um nach einem Anschlag die schlimmsten Folgen lindern zu können, müssen in ausreichender Stärke geeignete Kapazitäten zur 6. Versorgung der Opfer und zur Beseitigung der Schäden bereit stehen. Zentral dafür ist ein bedarfsgerechtes Zivil- und Katastrophenschutzsystem. Als wichtige Aufgaben bzw. Teilstrategien gelten die Warnung und Information der Bevölkerung über Gefahren und Gegenmaßnahmen, die Gewährleistung ausreichender Selbstschutz-Fähigkeiten der Bürger, schneller medizinischer Versorgung, der öffentlichen Ordnung und Güterversorgung in Krisengebieten, schließlich die Bereithaltung von Kapazitäten zur Beseitigung von Gefahren und Schäden und die effektive Planung und Koordination aller Abläufe.

33 Vgl. hierzu auch Ashton B. Carter, The Architecture of Government in the Face of Terrorism, in: Russel D. Howard/Reid L. Sawyer (Hrsg.), Terrorism and Counterterrorism. Understanding The New Security Environment, Guilford 2002, S. 428–441. 34 Für eine genauere Erläuterung siehe: Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (Hrsg.), Kritische Infrastrukturen in Staat und Wirtschaft, Präsentation von Stefan Ritter vom 26. Februar 2002, Bonn 2002.

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5. Schwerpunkte, Asymmetrien und Symmetrien des „deutschen“ Ansatzes In ihrer Gesamtheit decken diese Ziele und Strategien alle wesentlichen Ansatzpunkte der Terrorismusbekämpfung und damit das weite Spektrum möglicher Maßnahmen ab. Um alle wesentlichen Bekämpfungsmaßnahmen einordnen und in ihrem Kontext analysieren zu können, bedarf es allerdings eines diese Systematik operationalisierenden Modells. Das „Ziele-Strategien-Modell“ der Terrorismusbekämpfung (vgl. folgende Tabelle) dient genau diesem Zweck, indem es Ziele und Strategien so anordnet, daß Bekämpfungsmaßnahmen entlang der verschiedenen Phasen terroristischer Gefährdungslagen – von ihrer Entstehung bis zur Bewältigung ihrer Folgeschäden – untersucht werden können und auch Mehrfachzuordnungen möglich sind. Ein weiterer Vorteil besteht darin, operative wie organisatorische Aspekte bzw. Maßnahmen abzubilden. Denn auch strukturelle Reformen lassen sich präzise einem oder mehreren Zielen bzw. Strategien zuordnen. Das Modell erfaßt schließlich auch solche Maßnahmen, die offiziell gar nicht unter dem Etikett der Terrorismusbekämpfung firmieren, aber einen wichtigen Beitrag leisten, zum Beispiel in der politischen Bildung, der Entwicklungshilfe oder der Integrationsförderung. Schon auf den ersten Blick verdeutlicht die Zuordnung der Bekämpfungsmaßnahmen, daß Deutschland – wie von der Bundesregierung in ihren „konzeptionellen Überlegungen“ und in zahlreichen Verlautbarungen behauptet – einen umfassenden Bekämpfungsansatz verfolgt. Jedes der vier möglichen Ziele findet sich in der Empirie wieder, ebenso jede der sechs möglichen Strategien. Wie immer steckt der Teufel indes im Detail. Wer die Schwerpunkte des Bekämpfungsansatzes betrachtet, dem offenbart die Maßnahmenanalyse erhebliche Abweichungen von der regierungsamtlichen Darstellung deutscher Terrorismusbekämpfungs-Politik. Viele Inkonsistenzen der Umsetzung – also Entscheidungen, die sich als nicht zweckmäßig erwiesen – relativieren die tatsächliche Ausprägung der Schwerpunkte teils erheblich. Dies gilt besonders für den Schwerpunkt der „Beseitigung struktureller Ursachen und Triebkräfte“ und in abgeschwächter Form für die „Begrenzung und Bewältigung der Konsequenzen terroristischer Anschläge“. Dabei hatte die Bundesregierung doch gerade in diesen Bereichen für entschiedenes Handeln und erhebliche Investitionen geworben, etwa mehr Entwicklungshilfe oder verstärkte Bemühungen um die Integration in Deutschland lebender Muslime gefordert. Allerdings, die Analyse zeigt: Die gesetzten Ziele wurden gerade im Bereich der Ursachenbekämpfung verfehlt, quantitativ wie qualitativ. Vergleichsweise stark gewichtet wurde dagegen der Schwerpunkt der Bekämpfung terroristischer und extremistischer Strukturen sowie der Verhinderung von Anschlägen. Wie erwartet kam es auch hier zu erheblichen Inkonsistenzen bei der Planung und Umsetzung der Maßnahmen. Allerdings flossen weit mehr

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Bekämpfungsmaßnahmen der Bundesrepublik Deutschland nach Zielen und Strategien Bereithaltung ausreichender Kapazitäten zur Opferversorgung und Schadensbeseitigung

Schutz von wichtigen Zielen und Systemstabilität

Identifikation und Vereitelung von Anschlagsplänen Ausforschung und Auflösung terroristischer und extremistischer Strukturen

Vorenthaltung strategischer Ressourcen

Militärische Auflösung von Al-Qaida und Taliban (KSK) Verschärfung von Straftatbeständen und deren Anwendung (§ 129a/b StGB) Verschärfung des Aufenthaltsrechts und dessen Anwendung (Zuwanderungsgesetz) Zusätzliche Ressourcen, Abhör- und Auskunftsbefugnisse für Geheimdienste (BfV-/BND-/ MAD-Gesetz) Verbesserung der zwischenbehördlichen Kommunikation (Terror-Abwehrzentrum) Befriedung Afghanistans (ISAF und KSK) Wiederaufbau Afghanistans (Entwicklungshilfe) Erschwerung illegaler Finanztransfers (GwG/ KWG/FIU)

Befriedung Afghanistans (ISAF und KSK) Wiederaufbau Afghanistans (Entwicklungshilfe) Erschwerung illegaler Finanztransfers (GwG/ KWG/FIU) Verbesserung Ausweisdokumente (ePass/Biometrie) Zusätzliche Abhör- und Auskunftsbefugnisse der Geheimdienste (BfV-/BND-/MAD-Gesetz) Verstärkte Export- und Güterkontrolle (CSI) Non- und Counterproliferation (EU-3 Initiative)

Delegitimierung der Politische Verurteilung von Terror und Gewalt terroristischen Bewegung Interkultureller Dialog mit Muslimen im In- und und ihrer Unterstützer Ausland (Goethe-Institut Inter Nationes e. V.) Politische Bildung zu Islamfragen (BPB) Wiederaufbau Afghanistans (Entwicklungshilfe) Demokratieförderung (Politische Stiftungen) Integrationsförderung (Zuwanderungsgesetz) Diplomatische Krisenprävention (z. B. Israel– Palästina) Völkerrechtliche Ächtung (Konventionen)

Politische Verurteilung von Terror und Gewalt Interkultureller Dialog mit Muslimen im In- und Ausland (Goethe-Institut Inter Nationes e. V.) Politische Bildung zu Islamfragen (BPB) Wiederaufbau Afghanistans (Entwicklungshilfe) Demokratieförderung (Politische Stiftungen) Integrationsförderung (Zuwanderungsgesetz) Diplomatische Krisenprävention (z. B. Israel– Palästina) Völkerrechtliche Ächtung (Konventionen)

Strategien:

Schwächung und Beseitigung terroristischer und extremistischer Strukturen

Beseitigung struktureller Ursachen und Ziele: Triebkräfte von Terrorismus

Quelle: Eigene Darstellung.

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Warn- und Informationssystem (deNIS) Stärkung der Selbstschutz-Fähigkeiten (Zuschüsse für Erste-Hilfe-Kurse) Ausbau Medizinischer Notfallvorsorge (Notfalldepot Pockenimpfstoff) Aufstockung von Schadenbeseitigungs-Kapazitäten (THW) Verbesserung Bund-Länder Zusammenarbeit im Krisenmanagement (GMLZ und deNIS II) Verstärkter polizeilicher Personenschutz Verstärkter polizeilicher Objektschutz Verbesserter Schutz für Atomanlagen (SiÜG) Verstärkter Sabotageschutz (SiÜG) Verstärkter Schutz vor Angriffen aus der Luft (Luftsicherheitsgesetz) Verstärkter Schutz Kritischer Infrastrukturen (BSI)

Verstärkter polizeilicher Personenschutz Verstärkter polizeilicher Objektschutz Verbesserter Schutz für Atomanlagen (SiÜG) Verstärkter Sabotageschutz (SiÜG) Verstärkter Schutz vor Gefahren aus der Luft (Luftsicherheitsgesetz) Verstärkter Schutz Kritischer Infrastrukturen (BSI) Absicherung existentieller Risiken (EXTREMUS)

Aufklärung möglicher Angriffsziele und -Strategien (SIZ/AKIS) Wissenschaftliche Politikberatung (SK) Erweiterung einsetzbarer Abwehrmittel (Luftsicherheitsgesetz) Einrichtung von Abwehr-Lagezentren (MSZ) Militärische Auflösung von Al-Qaida und Taliban (KSK) Verschärfung von Straftatbeständen und deren Anwendung (§ 129a/b StGB) Verschärfung des Aufenthaltsrechts und dessen Anwendung (Zuwanderungsgesetz) Zusätzliche Ressourcen, Abhör- und Auskunftsbefugnisse für Geheimdienste (BfV-/BND-/MAD-Gesetz) Verbesserung der zwischenbehördlichen Kommunikation (Terror-Abwehrzentrum)

Erschwerung illegaler Finanztransfers (GwG/KWG/FIU) Verstärkte Export- und Güterkontrolle (CSI) Non- und Counterproliferation (EU-3 Initiative)

Verhinderung von Anschlägen

Begrenzung und Bewältigung der Konsequenzen terroristischer Anschläge

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Ressourcen in diese Schwerpunkte, insbesondere in die diversen Auslandseinsätze der Bundeswehr und den Ausbau der Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern. So ergibt sich – bereinigt um Inkonsistenzen der Politikformulierung und -implementierung – ein realistischeres Bild der Schwerpunkte des deutschen Bekämpfungsansatzes: Es dominieren die Ziele 2. und 3.; nachrangiger ist die Begrenzung und Bewältigung der Konsequenzen terroristischer Anschläge; letzte Priorität hat wider alle Rhetorik die Beseitigung struktureller Ursachen und Triebkräfte des islamistischen Terrorismus. Es handelt sich folglich um einen zwar umfassenden, aber primär akteurszentrierten Bekämpfungsansatz. Für diese Ausrichtung könnte es durchaus gute Gründe geben – etwa wenn die für Deutschland entscheidenden Gefahrenfaktoren des Internationalen Islamistischen Terrorismus in der Akteursdimension angesiedelt wären. Dem ist auch so – wie die Gefahrenanalyse offenbarte –, aber eben nicht nur. Die Eigenschaften der Ideologie, der Bezugsgruppe und der Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Gefahrenlage, gerade in Deutschland mit seinem prozentual hohen Bevölkerungsanteil gläubiger Muslime, von denen mehrere Zehntausend unter dem Einfluß islamistischer Organisationen stehen. Hätte es eines Belegs für die Notwendigkeit eines energischeren Vorgehens gegen die Ursachen und Triebkräfte bedurft, so haben ihn spätestens die Selbstmordattentäter in Londons Bussen und U-Bahnen geliefert. Die Tatsache, daß es in mehreren europäischen Städten zu schweren Anschlägen kam, zeigt überdies: Auch in der Begrenzung und Bewältigung der Folgen solcher Anschläge gibt es verstärkten Handlungsbedarf. Die Schwerpunktsetzung des deutschen Bekämpfungsansatzes läßt sich folglich als symmetrisch zur Quantität und Qualität der bekannten islamistischen Strukturen bezeichnen; asymmetrisch ist sie in den Zielkategorien der Ursachen und Triebkräfte sowie der Vorbereitung auf immer wahrscheinlicher werdende Anschläge in der Bundesrepublik. Diese Asymmetrie35 zu den Merkmalen des Internationalen Islamistischen Terrorismus ist nicht nur überraschend, sondern auch problematisch, nicht zuletzt weil von einer eher noch wachsenden Radikalisierung muslimischer Jugendlicher in den europäischen Demokratien auszugehen ist – und mit Anschlägen in Deutschland gerechnet werden muß.36

35 In der Dissertation des Autors findet der Maßstab der Asymmetrie bzw. Symmetrie Anwendung, um prinzipielle Disparitäten zwischen Bekämpfungsmaßnahmen und bekämpften Gefahren aufzuzeigen. 36 So u. a. der ehemalige Geheimdienstkoordinator und BND-Präsident Ernst Uhrlau, vgl. ders., The German Perspective on Counterterrorism and the impact on Germany’s national security, Vortrag am International Policy Institute for Counterterrorism des Interdisciplinary Centers Herzlia (Israel), 12. September 2005 (Transkribiertes Audioprotokoll).

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6. Operative und organisatorische Optimierungsvorschläge Was also könnten Politik und Sicherheitsbehörden in Deutschland besser machen? Problemorientierte Antworten verspricht eine Anwendung des Ziele-Strategien-Modells auf einzelne, aktuelle operative und organisatorische Maßnahmen. Aus Platzgründen empfiehlt es sich, diejenige Ziel-Kategorie zu behandeln, für die quantitativ wie qualitativ der größte Handlungsbedarf besteht: Ursachen und Triebkräfte. Dabei sollen zugleich die Verknüpfungen zur Akteursproblematik deutlich werden. Worin liegt die Problematik des deutschen Vorgehens – und wie ließe es sich verbessern,37 operativ wie organisatorisch? Im Inneren spielt die Integration in Deutschland lebender Muslime mit Migrationshintergrund eine entscheidende Rolle. Ebenso notwendig ist eine proaktive, die freiheitliche demokratische Grundordnung als Grundprinzip der deutschen Rechts- und Werteordnung vermittelnde geistig-politische Auseinandersetzung mit islamistischen Positionen und Organisationen. Beides fand bisher nur ungenügend statt. Statt nach dem Weckruf des 11. September 2001 eine ganzheitliche Politik der politischen, sozialen und kulturellen Integration zu entwerfen, verhandelte die Politik jahrelang über ein „Zuwanderungsgesetz“. Nur auf Druck der unionsregierten Bundesländer wurden Bestimmungen aufgenommen, welche die Integration von in Deutschland lebenden Ausländern verbessern und zugleich staatliches Vorgehen gegen islamistische Agitatoren erleichtern sollen. Das Gesetz ist deshalb zugleich den Strategien der Delegitimierung (durch Einbindung der Muslime in die Gemeinschaft der Bundesbürger) und der Vorenthaltung strategischer Ressourcen (durch Verringerung der Rückzugs- und Wirkungsmöglichkeiten islamistischer Terroristen und Extremisten) zuzuordnen. Der Beitrag des Gesetzes zur Umsetzung dieser Strategien besteht vor allem darin, daß künftig alle in Deutschland lebenden Ausländer verpflichtet sind, an kostenlosen Integrationsangeboten teilzunehmen.38 Daß die Nichtteilnahme mit einer Kürzung der Sozialleistungen um bis zu 10 Prozent sanktioniert werden kann, zeigt: Der Gesetzgeber meint es ernst mit der Forderung nach Integration und berichtigt ein schwerwiegendes Versäumnis. Doch leider ist längst nicht geklärt, ob Bund und Länder angesichts knapper Kassen die vereinbarten, ohnehin geringen Mittel zur Integrationsförderung ausgeben werden. Verbindliche Regelungen fehlen. Auch ob der Staat künftig der Forderung nach Integration tatsächlich Ausdruck verleihen wird, ist fraglich. Alle Sanktionen sind optional und mit zahlreichen Ausnahmeregelungen versehen. 37 Die Optimierungsvorschläge haben durchweg strategischen Charakter. Sie beziehen sich auf die Zweckmäßigkeit grundlegender Richtungsentscheidungen, nicht auf die taktischen Details der Umsetzung. 38 Vgl. Rainer Münz, Wir bleiben lieber unter uns, in: Die Zeit vom 24. Juni 2004, in: http://zeus.zeit.de/text/2004/27/Zuwanderung (Stand: 12. Februar 2005).

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Was also ließe sich besser machen? Da im Gesetz offenbar sowohl positive als auch negative Anreize unterentwickelt sind, gilt es eben dort anzusetzen, also Förderung und Forderung von Integration zu verstärken. Zur Förderung klaffen große Lücken im staatlichen Angebot, die von privaten Organisationen nicht aufgefangen werden können. Dem könnte der Bund abhelfen, indem er die Mittel für „nachholende Integration“ deutlich erhöht und mit strengen Auflagen für die Durchführung von Kursen verknüpft. Eine nachhaltige Förderung der Integrationsfähigkeit ist nur mit detaillierten, zu überwachenden Vorgaben für einen politische und kulturelle Werte vermittelnden staatsbürgerlichen Unterricht zu erreichen. Eben solche fehlen, selbst im eigentlich dafür gedachten „§ 3 Inhalt des Integrationskurses“ der „Integrationskursverordnung-IntV“. Sprachunterricht ist eine notwendige, nicht aber hinreichende Grundlage für Integration – zu stark sind die kulturellen und sozialen Prädispositionen für eine politische und damit extremistische Interpretation des Islam. Über die staatliche Integrationsförderung hinaus können Politik und Behörden vieles tun, um Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der Muslime in Deutschland zu fördern. Eine verstärkte Frühförderung nichtmuttersprachlicher Schulanfänger oder die stärkere Einbindung der muslimischen Bevölkerung in kommunale Entscheidungsprozesse sind höchst wünschenswert. Den interkulturellen Dialog gilt es auf der Grundlage des Grundgesetzes zu institutionalisieren, Muslime direkt und zielgruppengerecht anzusprechen. Allerdings wäre es angesichts der starken Position islamistischer Multiplikatoren naiv, alleine auf Integrationsförderung zu setzen. Die ausgestreckte Hand des Staates muß sich, wenn andere Mittel versagen, zur Faust ballen können, dürfen und sogar müssen. Dies ist zuvorderst im Interesse der großen Mehrheit der muslimischen Bevölkerung, die sich als Teil der bundesdeutschen Gesellschaft identifizieren möchte und von jener zu Recht Schutz vor Extremisten wie vor Diskriminierung erwartet. So wie zur Förderung der Integrationsbereitschaft der Muslime auch der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung Verhaltensänderungen abverlangt werden müssen (Stichwort „Anti-Diskriminierungsgesetz“), besteht die Notwendigkeit, Verhaltensänderung der nicht integrationswilligen Muslime notfalls zu erzwingen. Dafür bedürfte es nicht nur einer Verschärfung der bisher mit wenig Aufwand zu umgehenden Integrationsanforderungen und -sanktionen, sondern auch einer verbindlichen und hinreichend konkreten Ausführungsvorschrift. Regelungen über die Ausweisung von „Haßpredigern“ sollten auf Funktionäre von Organisationen Anwendung finden, die Infrastruktur für islamistische Propaganda bereitstellen. Spezifische Straftatbestände, wie z. B. derjenige der Zwangsverheiratung oder der gewaltsamen religiösen Züchtigung, müssen unter Strafe gestellt und streng geahndet werden. Angehörige der Minderheit muslimischen Glaubens benötigen Ansprechpartner bei Gemeinden und Sicherheitsbehörden, damit sich die demokratische und friedliebende Mehrheit unter den Muslimen gegen die extremistische Minder-

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heit durchsetzen kann. Zugleich gilt es Beamte und Richter in Bund und Ländern spezifisch fortzubilden, damit sie sachgemäßere Entscheidungen treffen können. Ebenso muß die Bedeutung von Integrationspolitik in der Zusammensetzung sicherheitspolitischer Entscheidungsgremien angemessen Niederschlag finden. Die Zuordnung der Migrationsbeauftragten zum Bundeskanzleramt ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Ohne solche operativen und organisatorischen Maßnahmen muß jede Integrationspolitik, und damit die Bekämpfung der Ursachen und Triebkräfte des Internationalen Islamistischen Terrorismus, an der sozial, religiös und kulturell verankerten Machtstellung islamistischer Funktionäre scheitern. Sie schränken überdies demokratische Bürgerrechte nicht ein, sondern verhelfen jenen im Gegenteil erst zum Durchbruch, etwa indem sie der religiös-kulturell verbrämte Entrechtung von Frauen und Mädchen entgegenwirken.

7. Schlußbetrachtung Deutschland ist durch den Internationalen Islamistischen Terrorismus bedroht und bekämpft dessen Gefahren auf vielfältige Weise. Zahlreicher Inkonsistenzen wegen kommt es zu einer Abschwächung einiger Schwerpunkte, insbesondere der Ursachenbekämpfung. Die Folge ist ein zwar umfassender, aber weit stärker akteurszentrierter Ansatz als die regierungsamtliche Rhetorik vermuten ließe. Jener erweist sich als teilweise asymmetrisch zu den Gefahrenmerkmalen des Internationalen Islamistischen Terrorismus. Er geht etwa an der gerade in Europa virulenten Radikalisierung muslimischer Jugendlicher vorbei; sie erfordert eine wesentlich engagiertere Bekämpfung der islamistischen Ideologie und wesentlich stärkere Maßnahmen zur Integration in Deutschland lebender Muslime. Auch wenn in jeder der vier Zielkategorien erhebliche Umsetzungsdefizite fortbestehen: Das Bemühen der Bundesrepublik um einen ganzheitlichen Politikansatz stellt einen begrüßenswerten Versuch dar, eine brisante sicherheitspolitische Herausforderung unaufgeregt und mit einer großen Bandbreite an Mitteln einzudämmen. Das erinnert an die Strategie des „Westens“, den Kalten Krieg zu gewinnen – und reicht doch darüber hinaus. Die religiöse Aufladung des Konflikts als „kosmischem Krieg“ durch islamistische Propagandisten beschwört einen brandgefährlichen, da entrationalisierten Zivilisationskonflikt herauf. Einst begrenzte die nuklear erzwungene Rationalität des Kalten Kriegs jenen auf eine über weite Strecken kalkulierbare Auseinandersetzung zwischen Staaten. Heute bedroht die Irrationalität eines privatisierten, pseudoreligiösen Totalitarismus das friedliche Zusammenleben nicht nur zwischen christlicher und islamischer Welt, sondern auch innerhalb westlicher Gesellschaften. Aus dem gegen Zivilisten geführten „Heiligen Krieg“ soll die islamistische „Gottesherrschaft“ siegreich hervorgehen – als unbezwingbare Autorität, quasi als göttlicher Leviathan.

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Es hilft nicht, jene zugleich religiöse und totalitäre Komponente der islamistischen Herausforderung negieren zu wollen.39 Die wichtigste Strategie gegen islamistische Gewalt ist, die islamistische Ideologie nachhaltig zu delegitimieren und die freiheitliche Demokratie durch ebenso konsequentes wie angemessenes Handeln zu legitimieren. Vielleicht gelingt es künftig, Terrorismusbekämpfung stärker an den spezifischen Gefahrenmerkmalen und damit am strategischen Zweck auszurichten – ohne die Werte und Errungenschaften des freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsmodells preiszugeben.

39 Nicht zu Unrecht mahnt Jeffrey Herf die Deutschen, daß gerade ihnen das „paradoxe Konstrukt“ von moderner Technik und totalitärer Ideologie bekannt sein sollte. Vgl. ders., Revolte gegen die Moderne, in: Internationale Politik 60 (2005) H. 11, S. 6–13.

Grenzen der Politisierung im Schulalltag des SED-Staates Katholisches Eichsfeld und protestantisches Erzgebirge im Vergleich Von Kirstin Wappler

1. Einleitung Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, beklagte 2002 „Defizite bei der Thematisierung von DDR-Geschichte und SED-Unrecht. Grund seien Ängste, Unsicherheiten und teils auch Unwillen von Lehrern mit einer DDR-Biographie.“1 2006 kommt sie, nach Analyse der Ergebnisse einer Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, zu einem ähnlichen Schluß. Zu den Defiziten gehörten eine zunehmende „Trivialisierung der DDR als politisches System“ sowie Versuche, den Diktaturcharakter zu negieren. Es sei wichtig, einer „drohenden Verinselung der DDR-Geschichte im Geschichtsbewußtsein entgegenzutreten“.2 Der notwendige Vergleich der beiden deutschen Diktaturen erregt oftmals Empören. Die Verbrechen des SED-Regimes sind großen Teilen der Bevölkerung nicht bekannt oder werden verharmlost. Dabei wird vor allem damit argumentiert, daß die DDR im Maß des Terrors weit hinter dem des NS-Systems zurückblieb, wobei die vollständige Abhängigkeit des „Bruderstaates“ von der Sowjetunion mit ihrem völkermörderischen Hintergrund unbeachtet bleibt.3 Die Verweigerung, sich mit beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts „scheuklappenfrei“ auseinanderzusetzen, birgt Gefahren. Trägt doch Demokratie dann zu Extremismus bei, „wenn versäumt wird, die Demokratie als wertvolles Gut von Generation zu Generation weiterzugeben.“4 Die DDR war gekennzeichnet 1 Marianne Birthler, Schulen haben Probleme mit der DDR, in: Sächsische Zeitung vom 17. Januar 2002. 2 Expertenkommission, Aufarbeitung der SED-Diktatur neu ordnen, in: http:// www.sz-online.de (Stand: 12. Mai 2006). 3 Jürgen Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 23. 4 Barbara Ludwig, Redebeitrag: Trägt Demokratie zu Extremismus bei? Foren zu Extremismus. Runder Tisch gegen Gewalt, Dresden 1999, S. 39.

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durch „die systematische Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten, mangelnde Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit und die fehlende Begrenzung der Staatsmacht.“5 Ebenso wie die nationalsozialistische Diktatur charakterisierten eine Ein-Parteien-Herrschaft, der Hegemonialanspruch einer institutionalisierten Ideologie und die Ablehnung von Pluralismus auch die zweite deutsche Diktatur.6 Die Dogmen des SED-Regimes bilden somit einen Antagonismus zu den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates.7 Am absoluten „Anspruch auf exklusiven Zugang zur historisch-politischen Wahrheit“8 läßt sich die extremistische Doktrin des SED-Staates erkennen. Wie das SED-Regime insgesamt, rückt dessen Erziehungssystem zunehmend „in eine neues und eigentümliches, nicht selten nostalgisch verklärtes Licht, als habe es den Zugriff des Staates so wenig gegeben wie die manifeste Indoktrination, als sei die politisch gesteuerte Selektion der Schüler und die neue Form schulisch erzeugter Ungleichheit eine Erfindung böswilliger Außenbeobachter“.9 Die Tendenz der Verharmlosung wird verstärkt durch die spätestens seit der PISA-Studie als unbefriedigend wahrgenommene Bildungssituation einerseits und die den Alltag im SED-Staat weichzeichnende mediale Ostalgie-Welle andererseits. Zwar geben inzwischen einige Studien ein differenziertes Bild zum Alltag im Erziehungswesen ab; das „Desiderat an ,ungeschminkten Darstellungen des Schulalltags‘“10 ist noch nicht abgearbeitet. Einen Teil dieser Rekonstruktion zu leisten, ist das Ziel dieses Beitrages. Die Kirchen – aufgrund ihrer Mitgliederstärke besonders die protestantische Volkskirche – stellten für die SED das größte Hindernis bei der geplanten Überstülpung ihrer Ideologie dar. Da Kinder und Jugendliche die wichtigste Zielgruppe der Politisierung waren, diese aber noch stark unter kirchlichem Einfluß standen, bildeten die Schulen die vorderste Front im Kampf gegen die Kirchen. Das repressive Vorgehen der SED gegen Christen in der Schule hatte enormen Erfolg: Während die in der Diaspora lebenden Katholiken versuchten, das 5

Kocka (FN 3), S. 23. Die DDR erfüllte damit die Merkmale der modernen totalitären Diktatur. Zum Totalitarismus vgl. Wolfgang-Uwe Friedrich, Formen des Totalitarismus. Zur Phänomenologie ideologischer Herrschaft im 20. Jahrhundert, in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, München 1997, S. 251–283. Zum SED-Staat als bürokratisch-totalitäres System vgl. ebd., S. 274 f. 7 Zur Etymologie und Begriffsbestimmung des demokratischen Verfassungsstaates vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 30–50. 8 Ebd., S. 40. 9 Heinz-Elmar Tenorth/Sonja Kudella/Andreas Paetz, Politisierung im Schulalltag der DDR. Durchsetzung und Scheitern einer Erziehungsambition, Weinheim 1996, S. 11. 10 Ebd., S. 12. 6

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System zu „überwintern“, verlor die evangelische Kirche über die vierzig Jahre bestehende Diktatur fast sechzig Prozent ihrer Mitglieder. Wenige Gebiete der DDR erwiesen sich jedoch als relativ resistent, was die Ausmerzung der Religiosität ihrer Bevölkerung anbelangt. Hierzu zählen das Obereichsfeld, das größte geschlossene katholische Gebiet der DDR, sowie das Erzgebirge als protestantische Hochburg. Daraus leitet sich die zentrale Fragestellung der Arbeit ab: Wie gingen christliche Lehrer, Schüler und deren Eltern in den untersuchten Gebieten mit den politischen Zumutungen um; wie gelang es ihnen, den Einfluß der SED im Erziehungsbereich zu begrenzen? Im folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse für beide Gebiete aufgeführt.

2. 1945–1954 a) Erzgebirge Die erzgebirgischen Neulehrerkandidaten der ersten Nachkriegsjahre entsprachen nur in wenigen Fällen den Vorstellungen der KPD/SED. Da die Anwärter grundsätzlich in ihren Heimatorten rekrutiert wurden, spiegelten sich die protestantischen Mehrheitsverhältnisse in der neuen Lehrerschaft wider. Allein in den wenigen stärker säkularisierten durch die Arbeiterbewegung geprägten Ortschaften konnten „hoffnungsvolle“ Aspiranten angeworben werden. Während der Zeit der SED-Gründung und Machtformierung blieben den Lehrern – nicht zuletzt wegen der extremen Mangelsituation an den Schulen – relativ große Handlungsspielräume, wurden christliche Einflüsse wie reformpädagogische Konzepte weitgehend geduldet, Personalentscheidungen teilweise unpolitisch gefällt. In Zschopau konnte sich unter der Leitung des Christen und Sozialdemokraten Dr. Kurt Schumann eine durch die Oberschüler verwaltete Versuchsschule etablieren.11 Die rigorosen Beschlüsse des II. Parteitags im September 1947 gegen „feindliche Elemente in der demokratischen Schule“ änderten dies. Die Phase des Übergangs zur „sozialistischen Schule“ begann.12 Christliche Lehrer und Schüler wurden zur Zielscheibe eines äußerst repressiven Vorgehens. Die Maßnahmen waren darauf ausgerichtet, christliche Lehrer aus den Schulen zu entfernen und durch zuverlässige Kader zu ersetzen sowie die christliche Schülerschaft so stark einzuschüchtern, daß sie sich von der Kirche – vordringlich von 11 Vgl. Andreas Pehnke, „Ich gehöre auf die Zonengrenze!“ Der sächsische Reformpädagoge und Heimatforscher Kurt Schumann (1885–1970), Beucha 2004, S. 207. 12 Vgl. Siegfried Baske, Schulen und Hochschulen. Kapitel IV in: Christoph Führ/ Carl-Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 6: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilb.: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 159–202, hier S. 167.

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der aufgrund ihres Einflusses zentral bekämpften Jungen Gemeinde – abwandte. Der Kirchenkampf gipfelte im Frühjahr 1953 in einer Direktive des Ministeriums für Volksbildung, welche die Überprüfung „sämtlicher Oberschüler“ sowie der Lehrerkader der Oberschulen durch die Bezirks- und Kreisschulinspektoren anordnete. Es folgte eine Welle von Entlassungen christlicher Schüler sowie von Relegierungen christlicher Oberschüler.13 Die Lehrerentlassungen wurden nicht nur „öffentlichkeitswirksam“ inszeniert; sie waren darüber hinaus dazu angetan, die Betroffenen zu erniedrigen und hatten weitere negative Konsequenzen zur Folge: Den Gemaßregelten wurde der Zutritt zur Schule untersagt; die fristlose Kündigung bedrohte die Entlassenen in ihrer wirtschaftlichen Existenz – verstärkt durch „negative Akteneinträge“, die eine Neubeschäftigung im SED-Staat außerhalb des kirchlichen Raums bzw. privater Kleinbetriebe verhinderten. Wie von den Machthabern beabsichtigt, zeitigten die repressiven Maßnahmen eine starke Einschüchterung unter den Lehrern. Den Machthabern war damit zweierlei gelungen: Zum einen solidarisierte sich die Mehrzahl der Lehrer nach außen nicht mit den betroffenen Kollegen, so daß die SED in der Öffentlichkeit gewissermaßen berechtigt von „einzelnen Abweichlern“ sprechen konnte, währenddessen die Kollegien prinzipiell hinter der „Idee des Sozialismus“ stünden. Zum anderen existierte bereits eine hohe Hemmschwelle, christliches Bekenntnis in der Schule zu zeigen bzw. sich politisch zu positionieren. Wie die selbstanklagenden Entschuldigungen zahlreicher Lehrer nach den Entlassungen und Berichte aus den Folgejahren zeigen, war dieser Prozeß nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer Abkehr von der Kirche. Es zeichnete sich jedoch eine Tendenz ab, in der Kirchenzugehörigkeit zur „konspirativen Aktivität“14 geriet. Obwohl die evangelischen Schüler des Erzgebirges Nachteile bis hin zu Verfolgung in Kauf nehmen mußten und das Bekenntnis damit zur bewußten Entscheidung wurde, blieb die erzgebirgische Jugend der Kirche mehrheitlich verbunden. Dies dokumentiert einerseits die tiefe Verwurzelung der Bevölkerung mit ihrem Glauben, läßt sich andererseits zurückführen auf die noch „weit verbreitete Erwartung eines baldigen Endes der DDR und vor allem die Möglichkeit, sich den Drangsalierungen und Benachteiligungen durch Flucht in den Westen zu entziehen“.15 13 STAC, BT/RdB, Abt. Volksbildung, 30413/438, Ministerium für Volksbildung, streng vertrauliche Anleitung für die Schulung der Bezirks- und Kreisschulinspektoren zu Überprüfung der Oberschulen vom 29. April 1953. 14 Ellen Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt. Evangelische Jugendarbeit in SBZ und DDR 1945–1961, Stuttgart 2003, S. 273. 15 Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirche in der DDR, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, S. 122.

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Die evangelische Kirche war nach dem Krieg davon ausgegangen, daß sie – den Mehrheitsverhältnissen entsprechend – Einfluß auf die „neue Schule“ würde nehmen können. Nachdem sich die kirchenfeindliche Programmatik der SED abgezeichnet hatte, nahmen Landeskirche und Synoden eine „Protestationsfunktion“ ein – gepaart mit einer „Hoffnungs- und Trostfunktion“.16 Da die SED alles unternahm, um die Kirche zu bekämpfen, blieb dieser nur die Möglichkeit, christlichen Lehrern Beistand zu leisten und ihnen Argumentationshilfen an die Hand zu geben. Dies tat sie etwa mit Handreichungen, die, von der Synode erarbeitet, über die Gemeindepfarrer weitergegeben wurden. Zahlreiche der aus dem Schuldienst entlassenen Lehrer stellte die Kirche als Katecheten ein. Damit leistete sie einerseits wichtigen Beistand für die durch Negativeinträge in ihrer Existenz bedrohten Pädagogen und sicherte zugleich einen Katechetennachwuchs, der, mit der Situation an der sozialistischen Schule vertraut, selbst als Beistand für christliche Schüler agieren konnte. b) Eichsfeld Die geographische Abgeschiedenheit des Eichsfelds trug dazu bei, daß die Machthaber das Gebiet als nachrangiges Ziel bei der Diktaturdurchsetzung betrachteten. Zudem kam die zentralistische SED-Politik, welche auf die Diasporakirche zugeschnitten war und der eine Strategie für ein mehrheitlich katholisches Territorium fehlte, dem katholischen Milieu zugute. Die katholische Kirche nutzte die Handlungsspielräume, um leitende Positionen in den Behörden, vor allem aber Schulleiterposten mit Katholiken zu besetzen. Vor repressiven Maßnahmen im Schulbereich scheuten die politisch Verantwortlichen zurück, fürchteten sie doch noch stärkere Ablehnung der Bevölkerung. Die o. g. Direktive zur Überprüfung aller Lehrer und Oberschüler wurde nicht umgesetzt. Weder fanden Lehrerentlassungen noch Relegierungen von Oberschülern statt.17 Die Autoritätsverhältnisse waren gegenteilig denen in der restlichen DDR. So hatten SED-Genossen Angst, sich als solche zu erkennen zu geben, weshalb sie ihre Parteiabzeichen nicht trugen. Die Berichte der SED über das Eichsfeld klingen nahezu durchweg resigniert. So konstatierte die Partei 1954 für Rengelrode eine traditionelle Gebundenheit „aller Genossen an die Kirche“18. In zahlreichen Dörfern gab es keine SED-Mitglieder, in anderen 16

Ebd., S. 119. Vgl. ThHStAW, RdB, Abt. Volksbildung, V 21, Bl. 353, Protokoll über die Konferenz mit den Direktoren der Ober- und Zehnklassenschulen des Bezirkes Erfurt am 16. Juni 1953, Bericht von der Oberschule Heiligenstadt. 18 ThHStAW, BPA SED Erfurt, IV/4.06/143, Ergänzung zu der Analyse über Rengelrode, Kreis Heiligenstadt, undatiert, zit. n. Jürgen Gruhle, Ohne Gott und Sonnenschein, Bd. 3. Altkreise Eisenach, Heiligenstadt und Mühlhausen. Eine Dokumentation, Books on Demand GmbH 2002, S. 95. 17

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keine Handvoll. Die großen Stärken der Eichsfelder ergaben sich aus der Milieuspezifik19 und dem damit verbundenen tiefen christlichen Glauben: Um die Geschlossenheit zu wahren, grenzten sie diejenigen aus, die ihnen Fremdes überstülpen wollten, boten ihnen aber zuvor in christlicher Manier die Chance, durch Konversion Aufnahme zu finden.20 Tatsächlich kam es öfter zu Kircheneintritten von SED-Mitgliedern. Dank des stabilen katholischen Milieus konnten katholische Lehrer und Schüler im Eichsfeld auf ein rückhaltstiftendes System zurückgreifen, das nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche umfaßte. Der ausgeprägte Netzwerkcharakter führte im Gegenzug dazu, daß die auf Verordnung der neuen Machthaber ins Eichsfeld strömenden Einflüsse starke Ausgrenzung erfuhren. Die SED zog hieraus den Schluß, daß ihre Kinder- und Jugendarbeit ansprechender werden mußte; an richtungsweisenden Ideen mangelte es ihr jedoch. Ebenso zeigte sich die Partei ratlos, wie der starke Einfluß des Klerus auf Schüler, Eltern und Lehrer zurückzudrängen sei. So mahnten die Berichterstatter immer wieder Geduld bei Kreis- und Bezirksleitung an. Der „Absterbeprozeß“ sei langwierig, schnelle Erfolge seien nicht zu erwarten.21 Nur durch Aufklärungsarbeit bei zugleich umsichtigem Umgang mit der Kirche sei die Bevölkerung langfristig zu überzeugen. c) Resümee Im ersten Jahrzehnt der SED-Diktatur unterschieden sich die politischen Verhältnisse im Eichsfeld deutlich von denen im Erzgebirge. Während im Erzgebirge, das Teil des Zentrums der Diktaturdurchsetzung war, der totalitäre Charakter des Systems klar zutage trat, blieb das Eichsfeld mangels eines „Eroberungsplans“ und angesichts seiner strategisch geringen Bedeutung von repressiven Übergriffen der Machthaber weitgehend verschont. Für den Bereich der Schule bedeutete dies Lehrerentlassungen und Relegierungen von Oberschülern hier, die Gewährung der Besetzung leitender schulischer Positionen mit 19 Das Eichsfeld bildet den idealtypischen Fall eines „Sozialmilieus“. Vgl. Rainer M. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Ders. (Hrsg.), Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 25–50. Infolge der Enklavensituation schotteten sich die Eichsfelder von äußeren Einflüssen ab. Die Bevölkerung hatte sich über Jahrhunderte in einem Insulanerdasein eingerichtet, woraus eine grundsätzliche Skepsis gegenüber „Eindringlingen“ resultierte. Die Abwehr fremder Einflüsse diente dem Milieuschutz. Vgl. Hans-Georg Wehling, Das katholische Milieu im Eichsfeld, in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Das Eichsfeld. Ein deutscher Grenzraum, Duderstadt 2002, S. 109–117, hier S. 112. 20 Ebd. 21 Vgl. Dietmar Klenke, Das Eichsfeld unter den deutschen Diktaturen. Widerspenstiger Katholizismus in Heiligenstadt, Duderstadt 2003, S. 57.

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Katholiken, die Tolerierung einer kirchlichen Neulehrerausbildung und weitgehende Rücksichtnahmen auf die Bedürfnisse der katholischen Lehrer und Schüler dort. Aus den verschiedenen Ausgangspositionen resultierte unterschiedliches Verhalten. Besonders wird dies bei den Lehrern deutlich. Vom Klerus dahingehend instruiert, betrachteten sich die katholischen Lehrer des Eichsfelds als Kämpfer gegen die kommunistischen „Eindringlinge“ und waren bemüht, ihr Terrain zu verteidigen. Die evangelischen erzgebirgischen Lehrer befanden sich dagegen in der Defensive und mußten um ihre berufliche Existenz kämpfen. Der Zusammenhalt der nahezu geschlossen katholischen Eichsfelder Lehrerschaft war vorbildlich, wurde allerdings auch nicht auf nennenswerte Bewährungsproben gestellt. Im Erzgebirge waren die Lehrerkollegien von vornherein nicht homogen evangelisch; gleichwohl existierte analog zu den volkskirchlichen Verhältnissen eine evangelische Mehrheit. Die Politik der öffentlichen Verhöre und fristlosen Entlassungen ließ deren Solidarität – wie von den Machthabern intendiert – rasch brüchig werden. Die Erfahrungswelt der Eichsfelder Schüler entsprach nicht der einer Diktatur. Von politischem Druck war an den Schulen wenig zu spüren; erste Tendenzen wurden von den Katholiken in den Kreisschulbehörden sowie den katholischen Schulleitern und Lehrern abgemildert. Angriffe auf den katholischen Glauben blieben aus. Die evangelischen Schüler des Erzgebirges mußten Nachteile bis hin zu Verfolgung in Kauf nehmen. Das Bekenntnis wurde damit zur bewußten Entscheidung.

3. 1955–1971 a) Erzgebirge Der Untersuchungszeitraum war durchgängig gekennzeichnet vom Bemühen der SED, die Kirche als gesellschaftlichen Faktor auszuschalten, ohne dabei den Anschein eines neuerlichen Kirchenkampfes zu erwecken. Der V. Parteitag der SED im Juli 1958 stellte den „Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Schule zur sozialistischen Schule“ fest und definierte die „sozialistische Erziehung“ auf der Grundlage der „einzig wissenschaftlichen Weltanschauung, dem dialektischen Materialismus“.22 Da es im Erzgebirge noch zu viele Lehrer gab, die sich weigerten, diese Maxime zu vertreten, wurden weitere Lehrerentlassungen vorgenommen. 1958 erklärten die Machthaber die Jugendweihe zur „Pflicht“ für Lehrerkinder. Von deren Erfüllung (durch Anmeldung der Kinder

22 Gert Geißler/Ulrich Wiegmann, Pädagogik und Herrschaft in der DDR, Frankfurt a. M. 1996, in: Paedagogica Historica 33 (1997), S. 567–570, hier S. 140.

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der Pädagogen bzw. durch aktive Werbung für die Weihe) hing nun das Verbleiben der Lehrer im Schuldienst ab.23 Der Austausch- und „Erziehungsprozeß“ der Lehrerschaft erwies sich dennoch als mühsam. Waren christliche Lehrer aufgrund ihres kirchlichen Engagements oder ihrer ablehnenden Haltung zur Jugendweihe leicht zu „enttarnen“, so trat ein Teil der Pädagogen zwar nicht offen „negativ“ auf, war aber dennoch nicht bereit, den Wahnsinn der SED-Schulpolitik uneingeschränkt mitzutragen. Noch befanden sich zahlreiche Neulehrer im Schuldienst, die diesen einst mit hehren Vorstellungen angetreten hatten. Humanistisch-pädagogisches Selbstverständnis, christlich-bürgerliche Wurzeln, Festhalten am Leistungsprinzip und Unmut über den Despotismus der SED waren Ursachen für verborgenen Ungehorsam. Diese Merkmale trafen auch auf manche Genossen zu. Ein besonderes Problem stellten dabei SED-Schulleiter dar, die die Zügel gegenüber ihrem Personal relativ locker ließen und den Kontrollfluß an einer Stelle unterbrachen. Pädagogen der „alten Schule“ – im Sinne der genannten Merkmale – waren es auch, denen es mittels wohlwollender Beurteilungen und reichhaltiger Informationen den Eltern gegenüber mitunter glückte, leistungsstarke christliche Jugendliche zur Oberschule zu bringen. 1958 kristallisierte sich die Jugendweihe als Kriterium für die Zulassung zur Oberschule heraus. Angesichts unbefriedigender Teilnehmerzahlen baute die SED darauf, das protestantische Bildungsbürgertum derart von der „Notwendigkeit“ der Weihe zu „überzeugen“. Die Strategie der SED war von Erfolg gekrönt; wenngleich sie schwächer griff als in anderen Gebieten der DDR: 1959 sanken die Konfirmationszahlen in den Ephorien Annaberg, Aue und Marienberg im Vergleich zum Vorjahr um rund 50 Prozent.24 b) Eichsfeld Bis zum Mauerbau änderte sich die politische Situation im Eichsfeld nur geringfügig. Die Einführung der Jugendweihe blieb nicht nur resonanzlos; mit dem energisch gegen das sozialistische Ritual protestierenden Klerus im Rükken riefen sogar „einige Schulleiter, die Angehörige der CDU [waren]“ dazu auf, „etwas gegen die Jugendweihe zu tun“.25 Die SED sah in den CDU-Schulleitern das schwierigste Hindernis bei der Politisierung.26 Aufgrund des gefürch23 So etwa die Lehrerschaft der Schule in Wolkenstein. Kreisarchiv MEK, ohne Numerierung, Schreiben des Bezirksausschusses für Jugendweihe an den Kreisausschuß vom 20. Februar 1958. 24 Landeskirchenarchiv Dresden 2/502. 25 ThHStAW, BPA SED Erfurt, IV/4.13/153, SED-Kreisleitung Worbis: Bericht über die Vorbereitungen zur Durchführung der Jugendweihe im Kreis Worbis, Januar 1955, zit. n. Jürgen Gruhle, Ohne Gott und Sonnenschein, Bd. 4, Altkreis Worbis. Eine Dokumentation, Books on Demand GmbH 2003, S. 71.

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teten „Volkszorns“ wagten es die Behörden jedoch nicht, sie von ihren Posten zu entheben. Eine langfristige Perspektive sahen die politisch Verantwortlichen darin, „CDU-Lehrer nicht mehr als Schulleiter [einzusetzen]“.27 Solcherart Beschlüsse stellten Versuche der SED dar, die aus Sicht der Partei „katastrophale“ Situation an den Eichsfelder Schulen zu verändern. Nach wie vor bereiteten nicht nur die eine Mehrheit innerhalb der Lehrerschaft bildenden „festen Katholiken“ Probleme; auch die SED-Mitglieder erfüllten nicht die Erwartungen ihrer Partei. So hielten viele Genossen „Partei und Religion für grundsätzlich miteinander vereinbar“. Der Großteil der SED-Mitglieder war katholisch und zog angesichts erwarteter „Schwierigkeiten in der Familie“, die ein Kirchenaustritt mit sich brachte, einen solchen nicht in Erwägung.28 Nicht nur folgten Jugendliche und Eltern den Mahnungen der Kirche, sich dem atheistischen Ritual zu widersetzen; die öffentliche Meinung ächtete auch Teilnehmer an diesem „frevelhaften Akt“, so daß selbst Kinder von Genossen ihre Anmeldung zurückzogen oder schamhaft im Verborgenen feierten. Somit verfehlte das DDR-weit wichtigste Instrument zur Politisierung und Entkirchlichung seine Wirkung. Erfolg versprachen sich die zuständigen Behörden von der „Lenkung“ – tatsächlich oder vermeintlich – ideologisch zuverlässiger Lehrer ins Eichsfeld, die langfristig einen grundlegenden Austausch der Lehrerschaft zum Ziel hatte. Die größten Hoffnungen jedoch setzte die SED in den „Eichsfeldplan“, der die strukturschwache Enklave industrialisieren und die landwirtschaftliche Produktion dahingehend steigern sollte, daß sie die vollständige Versorgung der Eichsfelder Bevölkerung sicherte.29 Der Bedarf an Arbeitskräften wurde durch Ansiedlung vornehmlich aus dem Raum Karl-Marx-Stadt stammenden „Proletariats“ gedeckt, von dem die SED sich „positiven“ Einfluß auf die einheimische Bevölkerung erhoffte. Infrastrukturelle Verbesserungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, der Bau von Wohnungen, Schulen, Kindertagesstätten und Kultur-

26 Alle Zitate: ThHStAW, Bezirkstag und RdB Erfurt, V 25, Bericht des Bezirksschulinspektors vom 3. Mai 1958 über die Schulleitertagung in Heiligenstadt vom 29. April 1958, Einschätzung der Direktorenkonferenz im Kreis Heiligenstadt vom 1.– 2. Juli 1959, undatiert, Einschätzung der Direktorenkonferenz im Kreis Worbis vom 23. Juni 1960. 27 ThHStAW, BPA SED Erfurt, B IV/2/14-001, SED-Bezirksleitung Erfurt, Beratung über Kirchenfragen am 23. Mai 1958 in der BL Gera mit dem Genossen Fritz Naumann vom ZK und den verantwortlichen Genossen für Kirchenfragen aus den Bezirken Gera, Suhl und Erfurt, Mai 1958, zit. n. Gruhle (FN 25), S. 109. 28 Alle Zitate: ThHStAW, BPA SED Erfurt, IV/4.13/153, SED-Kreisleitung Worbis, Bericht über die Einschätzung der Situation bei uns im Kreis Worbis in bezug auf Kultfragen, Mai 1958, zit. n. Gruhle (FN 25), S. 115. 29 Vgl. Markus Krüsemann, Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (FN 19), S. 80–108, hier S. 88.

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einrichtungen sollten ein Heimatgefühl und Dankbarkeit gegenüber den „sozialistischen Errungenschaften“ wecken. Mit der gelenkten Zuwanderung gelang es den Machthabern, die Situation an den Schulen in den expandierenden Orten Leinefelde, Bischofferode und Deuna zu verändern. Die Beteiligung der zugezogenen Jugendlichen an der Jugendweihe wirkte zwar nicht vorbildstiftend; mit jährlich wachsenden Teilnehmerzahlen erhielt die SED jedoch ein wichtiges Druckmittel in die Hand: Zum einen geriet die Jugendweihe zum Zulassungskriterium für die Oberschule, zum anderen drohten die Funktionäre, Katholiken in leitenden Positionen bei Nichtteilnahme ihrer Kinder an der Weihe durch staatstreues Personal zu ersetzen. Mit vereinzelten katholischen Jugendweihlingen Mitte der sechziger Jahre zeigte diese Methode erste Erfolge. Die Dörfer blieben Jugendweihe-Diasporagebiet. Durch das Bekenntnis zum Staat „abtrünnig“ gewordene Katholiken trafen auf wenig Verständnis in der Bevölkerung. So bedingte der Eichsfeldplan eine Kluft zwischen den neu geschaffenen Industriegebieten und den übrigen Ortschaften. Vor allem Leinefelde spaltete sich im Bewußtsein der Katholiken ab. Ein „roter“ Ort war im Eichsfeld nicht denkbar.30 Dennoch machte der Politisierungsprozeß Fortschritte. Ein Zuwachs an linientreuem Lehrpersonal ging einher mit weitgehenden Anpassungserscheinungen bei einigen katholischen Lehrern. An den Oberschulen geriet „gesellschaftliches Engagement“ zur Voraussetzung für bestimmte Studienrichtungen. c) Resümee Noch immer stand die SED im Eichsfeld vor schwierigen Verhältnissen. An Entlassungen von Schulpersonal wagte sie sich aufgrund des festen Milieus nicht heran. Daher setzte sie auf altersbedingten Austausch der katholischen Lehrer durch „zuverlässiges“ Personal. Ein besonderes Problem stellten Lehrer dar, die der SED angehörten und dennoch der Politisierung an den Schulen de facto entgegenarbeiteten. Oft waren sie selbst noch Kirchenmitglieder und zeigten daher kein Interesse an politischen Auseinandersetzungen. Mit den im Rahmen des Eichsfeldplans angesiedelten Tausenden von Arbeitern gelang den Machthabern ein Teilerfolg. In den neu geschaffenen Industriestandorten Leinefelde, Bischofferode und Deuna nahm der Anteil linientreuer Lehrer erheblich zu. Hier konnte sich – im Gegensatz zum übrigens Eichsfeld – die Jugendweihe etablieren. 30 Die Animosität zwischen dem „schwarzen“ Heiligenstadt und dem „roten“ Leinefelde wirkt noch heute nach. Vgl. Thomas Klemm, Vom Armenhaus Preußens zum Kurort Heiligenstadt im Eichsfeld. Der Mittelpunkt der Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Oktober 1996.

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Im Erzgebirge hatte sich das künstlich installierte atheistische Ritual infolge der aggressiven Agitationsmethoden weitgehend durchgesetzt, wenn die Teilnehmerzahlen auch deutlich unter DDR-Durchschnitt lagen. Die zuständigen Behörden kamen hier mit der Säuberungspolitik im Schulwesen voran: Die wenigen bewußt christlichen Lehrer waren aufgrund ihres kirchlichen Engagements oder ihrer Haltung gegenüber der Jugendweihe leicht zu erkennen und zu entfernen. Schwierige Gegner waren Pädagogen, die sich nach außen hin bedeckt hielten, aber nicht bereit waren, den Widersinn der DDR-Schulpolitik widerstandslos mitzutragen. Dies betraf vor allem Neulehrer, die mit hohen humanistisch-pädagogischen Zielsetzungen in den Schuldienst eingetreten waren und galt auch für manchen Genossen. Enttäuscht wurden die zuständigen Funktionäre auch durch SED-Schulleiter, welche – ebenfalls aus einem menschlichem Grundverständnis heraus – die Zügel in ihrem Bereich relativ locker ließen und sich nicht für das von ihnen erwartete Denunziantentum hergaben.

4. 1971–1978 a) Erzgebirge Anfang der siebziger Jahre vollzog sich an den DDR-Schulen ein tiefgreifender Generationswechsel.31 Ein Großteil der nach der Entnazifizierung wieder eingestellten Altlehrer sowie Teile der Neulehrerschaft wurden durch universitär ausgebildete Lehrer ersetzt. Angesichts der damit einhergehenden „Kaderlenkung“, der jahrzehntelangen „Säuberungsmaßnahmen“ sowie der ausgebauten Kontroll- und Berichtssysteme konnte die SED nun überwiegend auf „politischzuverlässiges“ Schulpersonal zurückgreifen. Von den verbleibenden christlichen Lehrern wagten nur die wenigsten, ihr Bekenntnis offen zu leben; war dies für die zuständigen Behörden doch unverändert Anlaß zu verstärkter Überwachung und Repressalien. Gegen Lehrer, die ihre Kinder nicht zur Jugendweihe schickten, wurde mit psychologischen Brachialmethoden vorgegangen, die nur mit starkem Beharrungsvermögen zu ertragen waren. Vor weltanschaulich motivierten Lehrerentlassungen scheute die SED nach der Aufnahme der DDR in die UNO allerdings zurück, wie sie in allen Bereichen zu subtileren Verfolgungsund Unterdrückungsmethoden überging. Noch immer entzogen sich zahlreiche, dem protestantischen Bildungsbürgertum entstammende Jugendliche den Politisierungsinstrumenten, am häufigsten der Jugendweihe sowie – Jungen – einem längeren Wehrdienst. Um weiterhin ein Druckmittel in der Hand zu haben, setzten die zuständigen Behörden die Behinderung christlicher Schüler auf dem Bildungsweg systematisch fort, wenngleich erste der neuen Entspannungspolitik geschuldeten Aufweichungen auftra31

Vgl. Geißler/Wiegmann (FN 22), S. 158.

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ten. Nichtteilnahme an der Jugendweihe und Nichtmitgliedschaft in der FDJ waren ungeachtet des Notendurchschnitts prinzipiell Gründe für die Nichtzulassung zu den Oberschulen; die erklärte Absicht bei Jungen, den Wehrdienst bei den Bausoldaten abzuleisten, bedeutete immer das Ende der Bildungskarriere. In den Ablehnungsschreiben durften diese „Gründe“ nicht benannt werden; hier war von „mangelnden Kapazitäten“ die Rede, von „noch fehlenden gesellschaftlichen Voraussetzungen im Vergleich zu den Mitschülern“, „Rückständen in der Persönlichkeitsentwicklung“ und „genügend geeigneteren Bewerbern [sic!]“.32 b) Eichsfeld Mit Beginn der Honecker-Ära hatte die SED im Eichsfeld den Elitenaustausch im Schulbereich weitestgehend vollendet; die CDU-Schulleiter, welche vormals den Prozeß der Politisierung maßgeblich gestört hatten, waren durch SED-Genossen ersetzt worden. Die ursprünglich als Erfolgsrezept betrachtete Ansiedlung ideologisch fester Lehrer aus anderen Landesteilen erwies sich hingegen vielerorts als Fehlschlag. Ein großer Teil der Zugezogenen erlebte die abwartende bis ablehnende Haltung der Eichsfelder als so schwierig, daß er sich um Orts- oder Berufswechsel bemühte. Daher waren die Funktionäre gezwungen, aus der Region stammende Absolventen vor Ort einzusetzen. Dies stellte zugleich einen – mehr oder weniger unbewußt erzeugten und wohl auch nicht als solchen wahrgenommenen – Erfolg für die Einheimischen dar, die damit die Erziehung ihrer Kinder weiterhin zum Teil in katholischen Händen wußten. Dennoch bewirkte der Generationswechsel von Neulehrern zu universitär ausgebildeten Lehrern einen Bewußtseinswandel. Katholische Lehramtsstudenten erfuhren an den „Kaderschmieden“ das SED-Regime in voller Härte und bekamen erstmals offene Religionsfeindlichkeit zu spüren. Erst hier wurde den Zeitzeugen deutlich, welche Gratwanderung es darstellte, Christ zu sein und sich zugleich in der übergestülpten Rolle von Multiplikatoren der SED-Politik zu befinden. Partielle Anpassung, trickreiches Agieren, große Umsicht sowie das Bestreben, sich fachlich und pädagogisch nichts zu Schulden kommen zu lassen, waren einige Aspekte dieser Gratwanderung. Prinzipiell agierten die universitär ausgebildeten Lehrer deutlich befangener und vorsichtiger als ihre Neulehrervorgänger. Vor diesem Hintergrund sah die SED die Lehrerschaft zwar nicht als ideologisch gefestigt, jedoch als ausreichend eingeschüchtert an, um im Herbst 1970 eine Jugendweihe-Offensive zu starten.33 Die Tatsache, daß sich die Jugend-

32 Vgl. STAC, BT/RdB, Abt. Volksbildung, 30413/067556, Beschwerde einer Familie an den Rat des Kreises Stollberg vom 12. März 1974. Die Ablehnungsbegründungen glichen sich grundsätzlich bis auf wenige Formulierungsvarianten. 33 Vgl. Klenke (FN 21), S. 84 f.

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weihe noch immer nicht hatte etablieren können, veranlaßte die zuständigen Funktionäre, in einer rabiaten Aktion nachzuholen, was über anderthalb Jahrzehnte „versäumt“ worden war. In den „Maßnahmenkatalog“ fielen „die langfristige und kompromißlose Auseinandersetzung mit Staats- und Wirtschaftsfunktionären“, insbesondere mit Genossen, die eine schlechte Vorbildwirkung abgaben, indem sie ihre Kinder nicht zur Jugendweihe schickten, sowie mit allen pädagogischen Mitarbeitern.34 Jugendweiheunwillige Kinder – die Agitation begann bereits in der 6. Klasse – mußten nun damit rechnen, keine Delegierung zur EOS zu erhalten bzw. nicht die gewünschte Lehrstelle. Für Kinder, deren Eltern in staatsabhängigen Berufen arbeiteten, erhöhte sich der psychologische Druck noch, da den Eltern mit Verlust ihrer Position gedroht wurde. In manchen Betriebskollektiven war es zudem gängig, die Jugendweihe als Teil des Arbeitsplans zu deklarieren, dessen Erfüllung prämiert wurde. Diejenigen „Werktätigen“, deren Kinder nicht an der Weihe teilnahmen, wurden somit zu Sündenböcken, da sie das Kollektiv um den finanziellen Vorteil brachten. Angesichts solcher Maßnahmen brach die Jugendweihefront Anfang der siebziger Jahre allmählich auf: Im Kreis Heiligenstadt lag die Teilnahme-Quote 1972 bei 21,6 Prozent, 1974 bereits bei 40,1 Prozent und 1975 bei 59,4 Prozent.35 Anders vollzog sich die Entwicklung im landschulgeprägten Kreis Worbis: Zwar stiegen die Teilnehmerzahlen von 21,4 Prozent 1972 auf 29,6 Prozent 1974; 1975 sank die Zahl jedoch wieder auf 29,4 Prozent und stagnierte dann.36 Der Hauptteil der Jugendweihlinge ging hier zudem auf das als „Zentrum der Arbeiterklasse“ deklarierte Leinfelde zurück, das, 1969 zur Stadt erklärt, die 100-Prozent-Marke nur knapp verfehlte.37 In den Dörfern war die Jugendweihesituation für die SED weiter unbefriedigend. c) Resümee Im Eichsfeld hatte sich der geplante Austausch der Lehrerschaft dank der trotzig ablehnenden Haltung der Bevölkerung sowie der Abgelegenheit des Eichsfelds als nicht konsequent durchführbar erwiesen. Angesichts der Abwanderung ins Eichsfeld gesandter Lehrer waren die zuständigen Funktionäre gezwungen, Eichsfelder Lehramtsabsolventen in ihrer Heimat einzusetzen. Dies stellte einen beachtlichen Erfolg im Hinblick auf die Begrenzung der Politisie-

34 Alle Zitate: ThHStAW, RdB, Abt. Volksbildung, 027842, Bl. 42, Bericht über den Stand der Jugendweihe in den Kreisen Worbis, Heiligenstadt und Mühlhausen (eichsfeldischer Anteil) und kirchlichen Aktivitäten vom 4. Dezember 1974. 35 Vgl. Klenke (FN 21), S. 85. 36 Vgl. Dietmar Remy, „Wir haben den längeren Atem.“ Die Durchsetzung der Jugendweihe auf dem Eichsfeld, in: Heinrich Best/Heinz Mestrup (Hrsg.), Die 1. und 2. Sekretäre der SED, Weimar 2003, S. 317–324, hier S. 318. 37 Vgl. ebd., S. 319.

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rung dar, der allerdings gemindert wurde durch die Tatsache, daß die junge Lehrergeneration aufgrund der Erfahrung politischen Drucks an den Pädagogischen Hochschulen angepaßter agierte als die Neulehrergeneration. Im Erzgebirge hatten die politisch Verantwortlichen den Lehreraustausch nahezu vollendet. Stärker als im Eichsfeld konnten die Machthaber damit auf überwiegend zuverlässiges Personal zurückgreifen – unabhängig davon, ob diese Staatstreue auf Überzeugung, Taktik oder auf Angst um die persönliche Karriere bzw. die der eigenen Kinder beruhte. Eine Grenze dieser Zuverlässigkeit lag im Festhalten zahlreicher Lehrer am Leistungsprinzip sowie an humanistischen Idealen. Dank dieser Lehrer gelangten im Erzgebirge wie bereits in den Jahrzehnten zuvor einzelne christliche Schüler gegen die Intention der Funktionäre zur Oberschule. Die erzgebirgische Jugend galt insoweit als „gefestigt“, als Mitgliedschaften in Pionierorganisation und FDJ nahezu selbstverständlich geworden waren und die Jugendweihe als wichtigstes Politisierungsinstrument ein stabiles – wenn auch unterdurchschnittliches – Niveau erreicht hatte. Die Strategie der Machthaber bestand weiterhin darin, Druck auf „Abweichler“ auszuüben. Der Untersuchungszeitraum war insofern von Kontinuität gekennzeichnet. Im Eichsfeld hingegen setzte ein Umdenkprozeß ein: Hatten die Katholiken die Politisierung der Schule bis dahin als abwehrbar eingeschätzt, manifestierte sie sich unausweichlich mit der Jugendweihekampagne und der Vertreibung der Katholiken aus leitenden Positionen. Die Eichsfelder mußten zur Kenntnis nehmen, daß das katholische Milieu an Stabilität verlor. Nachdem die Vorbilder in der Frage der Jugendweihe gefallen, und die Gläubigen auf sich selbst gestellt waren, brach die Anti-Jugendweihe-Front gegen Ende des Untersuchungszeitraums zusammen. Gleichwohl blieb die Teilnehmerquote weit unter DDR-Durchschnitt, was sich vor allem auf die Resistenz der ländlichen Bevölkerung mit traditionell geringeren Bildungsambitionen zurückführen läßt.

5. 1979–1989 a) Erzgebirge Nachdem der Austausch der Lehrerschaft Mitte der siebziger Jahre grundsätzlich abgeschlossen war; befanden sich bekennend christliche Lehrer in einer kleinen Minderheit. Die SED tolerierte diese im Blick auf ihre Außenwirkung – nicht ob ihrer zahlenmäßigen Größe. Da es sich bei den wenigen „Abweichlern“ größtenteils um ehemalige Neulehrer handelte, war deren altersbedingtes Ausscheiden absehbar. Unter den Lehramtsabsolventen der achtziger Jahre befanden sich nur noch wenige Christen; insofern kam die SED gegen Ende ihrer Herrschaft ihrem Ziel einer atheistischen Lehrerschaft nahe. Was deren Loyali-

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tät gegenüber der DDR anbelangte, erlebte die SED zugleich ihre größte Enttäuschung: In im Hinblick auf die Personalsituation beängstigendem Ausmaß beantragten vor allem junge Lehrer in den achtziger Jahren die Ausreise nach dem Westen, darunter hoffnungsvolle Kader.38 Neben individualistischer und materieller Motivation und dem Ärger darüber, daß Lehrer grundsätzlich keine Genehmigungen für Westreisen erhielten39, dürfte für viele die Kluft zwischen staatlichem Anspruch an die Lehrerschaft und den gesellschaftlichen Verfallserscheinungen, die sich u. a. im Verhalten der Schülerschaft widerspiegelten, Beweggrund für die Antragstellung gewesen sein. Während die Jugend zunehmend kritisch dachte, war das Erziehungswesen angehalten, mit noch stärkerer politischer Überfrachtung dem Trend entgegenzuarbeiten. Ihrem nach außen kirchenfreundlichen Kurs geschuldet, konnte es sich die SED nicht länger erlauben, Beteiligung am kirchlichen Leben im Bildungsbereich zu sanktionieren. Dies im Zusammenhang mit der Attraktivität der evangelischen Kirche der achtziger Jahre führte zu einem Aufschwung der kirchlichen Jugendarbeit, der mancherorts an die Blüte der unmittelbaren Nachkriegszeit erinnerte. Aufgrund ihres sozialen und umweltpolitischen Engagements und zunehmend wegen ihrer Wahrnehmung als oppositionelle Kraft wuchs das Ansehen der Institution Kirche auch unter Nichtchristen, was vielfältige Unterstützungsleistungen nach sich zog. Die Kirche nutzte diese komfortable Situation konsequent und nahm sich Freiheiten heraus, die noch wenige Jahre zuvor unvorstellbar gewesen wären. Daß diese ungestraft blieben, trug wiederum dazu bei, daß Schüler und Elternhäuser das System als gemäßigt wahrnahmen und infolgedessen selbstbewußter und kritischer auftraten. Eltern sahen sich nicht mehr so stark in der Rolle der Beherrschten, was sich in Forderungen an die Schule artikulierte. Die Beteiligungszahlen an der Jungen Gemeinde kamen denen der fünfziger Jahre nahe. So schätzte etwa der Kreisschulrat von Hohenstein-Ernstthal ein, daß bis zu sechzig Prozent der Schüler der oberen Klassen des Kreises kirchlich gebunden seien.40 Nach wie vor in ihrer Bildungskarriere behindert wurden Schüler, die sich dem Wehrdienst oder dem Wehrunterricht entzogen bzw. eine von der SEDDoktrin abweichende Meinung artikulierten. Nichtteilnahme an der Jugendweihe führte hingegen nicht mehr grundsätzlich zu Behinderungen. Angesichts 38 Vgl. STAC, BT/RdB, Abt. Volksbildung, 30413/129082, auch 30413/137218, außergewöhnliche Vorkommnisse, zig Ausreiseanträge von Lehrern und Erziehern aus allen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. 39 Vgl. STAC, BT/RdB, Abt. Volksbildung, 30413/129079 „Für Lehrer besteht prinzipiell keine Möglichkeit, Besuchsreisen in die BRD durchzuführen.“ Mitteilung des Kreisschulrats von Werdau zur Eingabe einer Crimmitzschauer Lehrerin vom 12. Dezember 1986. „Prinzipiell“ bedeutete im SED-Jargon „stets polemische und unnachgiebige Härte“. Vgl. Pollack (FN 15), S. 308. 40 Alle Zitate: STAC, BT/RdB, Abt. Kirchenfragen, 30413/12009, Information an den Rat des Kreises Hohenstein-Ernstthal vom 30. August 1989.

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eines stark rückläufigen Interesses der Jugendlichen an Abitur und Studium, waren die politisch Verantwortlichen ironischerweise teilweise gezwungen, Nichtjugendgeweihte zum Abitur zuzulassen. Die Bereitschaft unter Lehrern, leistungsstarke Schüler unabhängig von ihren politischen Anpassungsleistungen zu fördern, war ausgeprägter als in den Jahrzehnten zuvor. b) Eichsfeld 1985 konstatierte die SED: „Alle 33 Direktoren des Kreises Worbis gehören der SED an“.41 Die Lehrerschaft wurde von der SED zu Beginn der achtziger Jahre als „gefestigt“, die katholischen Lehrer nicht mehr als Gefahr eingeschätzt. Auch der Klerus nahm die Lehrerschaft nunmehr grundsätzlich als „dem Staat gewogen“ wahr.42 Die eigenen Kinder nicht zur Jugendweihe zu schicken, wurde von den befragten Lehrern als die berufliche Existenz gefährdendes Risiko wahrgenommen. Die SED nährte diese Angst, indem sie in entsprechenden Fällen repressiv durchgriff.43 Mitte der achtziger Jahre konnte die SED für das Eichsfeld eine kontinuierlich gewachsene Jugendweihebeteiligung konstatieren; zugleich trat die Kluft zwischen Städten und kleinen Gemeinden mit zwischen 89 und 98 Prozent Katholikenanteil44 an der Gesamtbevölkerung stärker zutage als in den Jahrzehnten zuvor. Die Prozentzahlen reichten 1980 von 97 Prozent Beteiligung an der POS Leinefelde, einer inzwischen säkularisierten Stadt mit ca. 55 Prozent Katholikenanteil und Null Prozent Jugendweihebeteiligung in den Gemeinden Küllstedt und Effelder.45 Die Stimmung unter den Lehrern war ein Konglomerat unterschiedlichster Tendenzen. Während die kirchliche Erwachsenenarbeit weitgehend offene Diskussionen über den Realsozialismus anregte und Prozessionen und Wallfahrten Vorboten des gesellschaftlichen Umbruchs darstellten, war Margot Honeckers Schulpolitik fundamentalistischer und militaristischer als zuvor. Dies führte bei katholischen Lehrern, die aufgrund ihrer politischen Dauerbeanspruchung kaum Möglichkeiten des Rückzugs besaßen, zu einem belastenden Dilemma. Einer41 ThHStAW, RdB, Abteilung Volksbildung, 037418, Bl. 140, Kaderprogramm Kreis Worbis 1985–90, undatiert. 42 Interview der Verfasserin mit Paul Julius Kockelmann vom 11. Februar 2003. 43 Vgl. Dietmar Remy, Opposition und Verweigerung in Nordthüringen (1976– 1989), Duderstadt 1999, S. 203 f. 44 Vgl. ders., „Staaten kommen und gehen – Gott bleibt!“ Zur Verweigerungshaltung der katholischen Bevölkerungsmehrheit des Eichsfeldes im letzten Jahrzehnt der DDR, in: Günther Heydemann/Gunther Mai/Werner Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999, S. 211–227, hier S. 218. 45 Vgl. ders., „Wir haben den längeren Atem.“ Die Durchsetzung der Jugendweihe auf dem Eichsfeld, in: Best/Mestrup (FN 36), S. 317–324, hier S. 318 f.

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seits empfanden sie Überdruß und Verzweiflung angesichts des Auseinanderklaffens zwischen politischen Worthülsen und Realität; andererseits war die Furcht vor einem repressiven Zugriff der SED-Machthaber zu stark, um ein klares Abweichen von der vorgegebenen Linie zu riskieren. Permanent befanden sich katholische Lehrer in einem „Prozeß zwischen Anpassung und Selbstbehauptung“46. Ein Zeichen widerständischen Denkens war u. a. die wachsende Zahl von Lehrern, die ihre Kinder nicht zur Jugendweihe schickten. Die Divergenz zwischen Städten und Gemeinden hinsichtlich der Jugendweihebeteiligung führte für Schüler zu unterschiedlichen Erfahrungswelten. Während die SED in vielen Dörfern mangels ausreichend Jugendgeweihten zwangsläufig Nichtgeweihte zur EOS delegieren mußte, handhabte sie deren Zulassung in den Städten wie in der DDR generell willkürlich: Überwiegend erfolgten trotz sehr guter schulischer Leistungen Ablehnungen, in wenigen Fällen Delegierungen. In den „jugendweiheresistenten“ Dörfern fehlte der SED mithin ein wichtiges Druckmittel, die Schüler politisch zu disziplinieren. An manchen Dorfschulen konnten Kinder – abhängig vom politischen Eifer des Schulpersonals, insbesondere des Direktors – die Atmosphäre beinahe als eine des Laisserfaire wahrnehmen. In solchen Gemeinden war das Selbstbewußtsein des katholischen Milieus wesentlich stärker ausgeprägt als in Städten bzw. in Gemeinden mit starker Zuwanderung. Als den Zusammenhalt stärkend nahm die Bevölkerung auch die traditionellen Wallfahrten wahr, die mit politischen Predigten und Massenbeteiligung oppositionellen Charakter erhielten. c) Resümee Im Erzgebirge deutlicher noch als im Eichsfeld prägten Widersprüche den Untersuchungszeitraum. Für christliche Lehrer beider Gebiete gilt, daß die politischen Ansprüche an die Lehrerschaft innerhalb dieser – über die Kirchenzugehörigkeit hinaus – zu großem Verdruß führten. Im Kontrast zum politischen Kurs im Erziehungswesen stand der gesellschaftliche Aufweichungsprozeß. Gestärkt durch Rückhalt in Pfarrgemeinden, Lehrerkollegien und der Elternschaft entwickelte sich unter Eichsfelder katholischen Lehrern eine Tendenz, Widerstand gegen die politischen Zumutungen zu leisten. Ein solcher Trend ist für die erzgebirgischen evangelischen Lehrer nicht nachweisbar. Im Gegenteil hatten die Machthaber hier eine starke Einschüchterung erreicht, die Lehrer sogar von eigentlich gefahrlosen Gottesdienstbesuchen abhielt. Im Widerspruch dazu steht die hohe Anzahl von Ausreiseanträgen von Lehrern beider Gebiete, deren Einreichung einen unwiderruflichen Schritt in die Opposition bedeutete. 46 Thomas W. Neumann, Schule in der DDR: Erinnerungen zwischen Herrschaft und Alltag. Lebensgeschichtliche Erfahrungen und kollektive Erinnerungsbilder, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Erinnerung an einen untergegangenen Staat, Berlin 1999, S. 359–378, hier S. 367.

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Schüler beider Gebiete erlebten das System als wenig repressiv. Dem lagen verschiedene Ursachen zugrunde: So kannten Schüler das System in seiner sichtbar repressiven Ausprägung allenfalls aus Berichten der Elterngeneration. Sanktionen im Falle christlicher Bekenntnisleistungen blieben weitgehend aus; Nichtjugendgeweihte wurden nicht mehr grundsätzlich mit Nichtzulassung zum Abitur bestraft. Zudem erleichterten zahlreiche Lehrer christlichen Schülern die Aufnahme an den Erweiterten Oberschulen. Grundsätzlich gaben wenige Lehrer den politischen Druck ungefiltert weiter; viele neigten aus Verdruß heraus dazu, politische Inhalte nur pro forma zu vermitteln. Christliche Schüler konnten im Raum der Kirche freiheitlich anmutende Erfahrungen sammeln, die wiederum ungestraft blieben.

6. Schlußthesen Erstens: Die stark differierenden Ausgangsbedingungen in den beiden Gebieten hatten langfristige Auswirkungen auf die Intensität der Politisierung.

Im ersten Jahrzehnt der SED-Diktatur unterschieden sich die politischen Verhältnisse im Eichsfeld deutlich von denen im Erzgebirge. Während im Erzgebirge, das Teil des Zentrums der Diktaturdurchsetzung war, der totalitäre Charakter des Systems klar zutage trat, blieb das Eichsfeld mangels eines „Eroberungsplans“ und angesichts seiner strategisch geringen Bedeutung von repressiven Übergriffen der Machthaber weitgehend verschont. Für den Bereich der Schule bedeutete dies Lehrerentlassungen und Relegierungen von Oberschülern hier, die Gewährung der Besetzung leitender schulischer Positionen mit Katholiken, die Tolerierung einer kirchlichen Neulehrerausbildung und weitgehende Rücksichtnahmen auf die Bedürfnisse der katholischen Lehrer und Schüler dort. Die Erfahrungswelt der Eichsfelder Schüler entsprach bis zum Mauerbau nicht der einer Diktatur. Von politischem Druck war an den Schulen ohnehin wenig zu spüren; erste Tendenzen wurden von den Katholiken in den Kreisschulbehörden sowie den katholischen Schulleitern und Lehrern abgemildert. Angriffe auf den katholischen Glauben blieben aus. Die evangelischen Schüler des Erzgebirges mußten Nachteile bis hin zu Verfolgung in Kauf nehmen. Das Bekenntnis wurde damit zur bewußten Entscheidung. Dank des stabilen katholischen Milieus konnten katholische Lehrer und Schüler im Eichsfeld auf ein rückhaltstiftendes System zurückgreifen, das nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche umfaßte. Der ausgeprägte Netzwerkcharakter führte im Gegenzug dazu, daß die auf Verordnung der neuen Machthaber ins Eichsfeld strömenden Einflüsse starke Ausgrenzung erfuhren. Im Erzgebirge zeigte sich ein Gegentrend: Der Widerstand gegen den allumfassenden Machtanspruch brach Stück für Stück weg und damit der Rückhalt in gesellschaftlichen Teilbereichen.

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Die evangelischen Christen des Erzgebirges wurden von den rasch greifenden Maßnahmen überrollt und fielen in eine Art Schockzustand. Die Mehrheitskirche, die sich nach Kriegsende selbstbewußt als bedeutende gesellschaftliche Kraft definiert und in diesem Kontext Forderungen an die „neue Schule“ gerichtet hatte, mußte rasch erkennen, daß sie das erste Ziel der Bekämpfung war. Evangelische Lehrer, die christliche Werte vermitteln und am Aufbau einer Demokratie mitwirken wollten, sahen ihre Existenz in Frage gestellt. Alle christlichen wie demokratischen Kräfte befanden sich schlagartig in der Defensive und erlebten stalinistische Machtpolitik in voller Härte. Der Staat lehnte Gespräche mit Kirchenvertretern ab. In der Auseinandersetzung mit der SED-Willkür waren Christen weitgehend auf sich allein gestellt. Der verzögerte Diktaturdurchsetzungsprozeß ließ den Eichsfeldern hingegen Zeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. So gelang es, Katholiken in leitende schulische Positionen zu bringen. Der Eichsfelder Klerus, dessen Autorität selbst Genossen nicht in Frage stellten, verstand sich während der gesamten Diktatur als Unterhändler in Einzelfragen, zugleich als Widerpart zu den Machthabern und als Beschützer der Gläubigen. Zweitens: Die während der stalinistischen Ära gegen von der Doktrin abweichende Lehrer gerichtete Repression im Erzgebirge spaltete die Lehrerschaft in irreparabler Weise, während das vergleichsweise milde Vorgehen im Eichsfeld der sich als Solidargemeinschaft wahrnehmenden katholischen Lehrerschaft nichts anhaben konnte.

Die katholischen Lehrer des Eichsfelds betrachteten sich als Einheit und als Abwehrfront gegen die neuen Machthaber. Aufgrund des im Vergleich zum Erzgebirge deutlich schwächeren Repressionsgrades blieb die katholische Lehrerschaft nicht nur zahlenmäßig relativ stabil, sondern konnte auch ihrer Zielsetzung weitgehend gerecht werden und ihre Geschlossenheit bewahren. Gleichwohl ging das Selbstverständnis der katholischen Lehrerschaft spätestens nach dem Mauerbau weg von einer Instanz der „Gegenpolitisierung“ hin zu einer der „Milderung politischen Drucks“. Als die Politisierung des Eichsfelds infolge der verstärkten Bemühungen der Machthaber voranschritt, geschah dies den außenpolitischen Zwängen entsprechend gemäßigt und ging erneut nicht mit einer Dezimierung der Anzahl katholischer Lehrer einher. Demgegenüber sah sich die evangelische Lehrerschaft des Erzgebirges von Beginn der Diktaturdurchsetzung an mit willkürlichen Angriffen konfrontiert. Das Instrument der Entlassung aus dem Schuldienst erwies sich im Hinblick auf die Entzweiung der christlichen Lehrer-Solidargemeinschaft als äußerst wirksam. Die Furcht um die berufliche Existenz zwang zahlreiche christliche Lehrer im entscheidenden Moment zu opportunistischem Verhalten. Dabei besaß die perfide Strategie des erzwungenen öffentlichen Bekenntnisses ausschlaggebende Wirkung: In öffentlichen Tribunalen verließ selbst sonst unangepaßt agierende Lehrer meist der Mut. Das Verständnis, eine Solidargemeinschaft zu bilden, war mithin bereits Anfang der fünfziger Jahre zerschlagen. Die fort-

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schreitende Dezimierung des Anteils evangelischer Lehrer tat ein übriges, um den verbliebenen das Gefühl zu vermitteln, allein dazustehen und der Politisierung entsprechend wenig entgegenzusetzen zu können. Die wenigen nachkommenden christlichen Lehrer waren infolge der politischen Drucksituation an den pädagogischen Hochschulen stark verängstigt und daher eingeschränkt in der Lage, der Politisierung Gegenimpulse zu setzen. Drittens: Lehrer, welche die SED-Zugangskriterien zu höherer Bildung dem Leistungsprinzip unterordneten, waren die wichtigsten Förderer christlicher Schüler.

Über den gesamten Diktaturzeitraum erwiesen sich für christliche Schüler Lehrer als rückhaltstiftend, die nicht bereit waren, vom Leistungsdenken abzurücken und sich weigerten, „gesellschaftliches Engagement“ als obersten Bewertungsmaßstab für die Bildungskarriere von Schülern anzuerkennen. Dieses Phänomen trat in beiden Gebieten auf, besaß jedoch im Erzgebirge aufgrund der sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Benachteiligung christlicher Schüler sowie der Dezimierung der christlichen Lehrer größere Relevanz. Die zuständigen Funktionäre waren davon ausgegangen, daß mit der Verdrängung christlicher bzw. bürgerlicher Lehrer aus den Schulen dieses den christlichen Einfluß stützende Element wegbrechen würde. Tatsächlich ließ sich der typisch deutsche Leistungsgedanke, der zudem paradoxerweise von den bildungsbeflissenen SED-Machthabern genährt wurde, aus den Köpfen auch dem System zugeneigter Lehrer nicht vertreiben. Im Gegenteil stieg die Tendenz zu einem solchen Verhalten mit der wachsenden Unzufriedenheit der Lehrerschaft. Viertens: Während die katholischen Schüler des Eichsfelds Glaubenszuspruch an vielen Stellen des Alltags fanden, lag die Verantwortung hierfür im Erzgebirge allein bei Kirchgemeinden und Familien.

Nach einigen niederschmetternden Erfahrungen mit dem Kampfgeist der Eichsfelder hatten die zuständigen Behörden die Unmöglichkeit der Umsetzung der Idee des raschen Absterbens der Religion erkannt. Die Machthaber hofften auf eine allmähliche Schwächung des Katholizismus. Katholisch zu sein, war und blieb im Eichsfeld der Normalzustand. In keiner Phase der Diktatur mußten sich Schüler für ihren Glauben rechtfertigen. Dieser Umstand erschwerte zugleich die Jugendweiheagitation. Als psychologisch hilfreich erwies sich in diesem Zusammenhang, daß es der SED vor Ort nicht einmal gelang, den beträchtlichen Anteil katholischer Genossen zum Kirchenaustritt zu bewegen. Sogar an Wallfahrten und der Heiligen Messe nahmen Funktionäre teil. Ursachen hierfür lagen in den Verwandtschaftsbeziehungen einerseits und der fest verankerten katholischen Heilslehre andererseits. Gegen beide Phänomene kamen die Funktionäre mit ihren rationalen Überzeugungsversuchen nicht an. Im Zuge des aggressiven Kirchenkampfs im Erzgebirge vertrieben die politisch Verantwortlichen nicht nur christliche Lehrer von den Schulen, sondern kriminalisierten zugleich jegliche Form christlicher Glaubensäußerung bis in

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den persönlichen Bereich hinein. Christliches Bekenntnis zu äußern, verlangte bis in die siebziger Jahre hinein für christliche Schüler Mut und Stärke, da es neben der geringeren Aussicht auf eine Bildungskarriere bedeutete, sich permanent für vermeintliche „Unwissenschaftlichkeit“ oder „Aberglauben“ verteidigen zu müssen. Rückhalt fanden sie in den aktiven, von der Laienbewegung getragenen Kirchgemeinden, die neben den Familien als eigentliche Heimat wahrgenommen wurden. Hier gewannen die Jugendlichen Stärke, Anfeindungen des Glaubens zu widerstehen. Fünftens: Im Eichsfeld traf die Politisierung der SED auf wesentlich stabilere und zudem auf eine größere Anzahl von Grenzen als im Erzgebirge. Für die Beharrungskraft des Protestantismus im Erzgebirge spricht, daß die Grenzen, nachdem sie in den sechziger, siebziger Jahren zu verschwinden drohten, von Mitte der siebziger Jahre an wieder deutlicher sichtbar wurden.

Die Situation im Eichsfeld generell und an den Schulen im speziellen war für die SED immer unbefriedigend, wenngleich die Politisierung über die Jahre vorankam. Unzuverlässige – da im Milieu verankerte – Genossen, Ausgrenzung der ins Eichsfeld delegierten „Unterstützer“, in der Folge ein beachtlicher Anteil katholischer Lehrer und die über allem stehende Autorität der Kirche stellten unüberwindbare Probleme dar. Erfolge erzielte die SED mit der allmählichen Vertreibung von Katholiken aus einflußreichen Positionen und dem Eichsfeldplan mit seinem Zuzugsprogramm. Beide Maßnahmen verhalfen der Jugendweihe zum Durchbruch. Indem die dem Ritual zugrundeliegende Absicht, die Jugend von der Kirche abzubringen, kaum Entsprechung fand, konnte die SED nur bedingt einen Sieg feiern. Immerhin sah die Statistik besser aus: ein Kriterium, das die „von oben“ stets wegen Nichterfüllung gescholtenen Eichsfelder Behörden zu schätzen wußten. Dies ist symptomatisch für die Situation von Anfang der siebziger Jahre an: Während die örtlichen Funktionäre bemüht waren, mäßig befriedigende Zahlen „nach oben“ zu melden, hatten sie längst Abstand genommen von der Idee eines entkirchlichten, politisierten Eichsfelds. Dabei standen das Beharrungsvermögen der Katholiken und der fehlende ideologische Eifer der Machthaber in einer wechselseitigen Beziehung. Letztere schienen bereits zufrieden zu sein, wenn die Wallfahrten mit ihrer Massenbeteiligung „reibungslos“ verliefen. Politische Predigten zu diesen Anlässen wurden hingenommen. Die Wallfahrten bildeten das deutlichste Symbol eines „stillen“ allmählichen Sieges des katholischen Milieus über einen kontinuierlich schwächer werdenden Staat. Die Politisierung des Erzgebirges verlief nach einer für die SED schwierigen Anfangsphase erfolgreich. Es gelang, die Jugendweihe bereits Anfang der sechziger Jahre fest zu etablieren. 1945 deutlich erkennbare Grenzen – die protestantische Volkskirche, die Junge Gemeinde als Jugendbewegung, eine engagierte christliche Lehrerschaft – erfuhren innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren eine nachhaltige Schwächung – im Fall der Lehrerschaft nahezu bis zur

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Unkenntlichkeit. Diese Entwicklung ähnelte der in der übrigen DDR; der Säkularisierungsprozeß schien vorgezeichnet. Die Kerngemeinden blieben jedoch stabiler als anderswo und reagierten auf die Erleichterungen der SED-Kirchenpolitik unmittelbar, indem sie wieder in die Gesellschaft einwanderten. Einer nahezu hundertprozentigen FDJ-Mitgliedschaft und der im DDR-Vergleich niedrigen – in Gegenüberstellung zum Eichsfeld hohen – Jugendweihebeteiligung stand eine starke Kirchenbindung gegenüber. Die kirchgemeindlichen Bindungen begrenzten somit erstaunlich stark die Erfolge der „sozialistischen Schule“, die im Erzgebirge ihre radikale Ausprägung erhalten hatte.

Kommunistin, Journalistin, Terroristin Zur politischen Biographie von Ulrike Marie Meinhof Von Kristin Wesemann

1. Einleitung U.M.M. – Ulrike Marie Meinhof – berühmte deutsche Kommunistin, Journalistin, Terroristin. 1958 war Meinhof in die verbotene Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) eingetreten. Die Mitgliedschaft durfte gemäß Parteistatut nur aus zwei Gründen enden: dem Tod oder dem Ausschluß. Meinhof wurde nie aus der Partei ausgeschlossen, weshalb manch ein Wegbegleiter behauptet, sie sei bis zu ihrem selbstbestimmten Abschied vom Leben eine sogenannte Panzerschrankkommunistin geblieben. Allein für die Zeitschrift konkret hat Ulrike Meinhof mehr als 100 Artikel verfaßt, die meisten davon als Kommentar. Von 1964 an arbeitete sie auch für den Rundfunk. In den Jahren 1965, 1966 und 1967 gab sie die Linie von konkret vor. Während dieser Zeit stammten fast alle Leitartikel aus ihrer Feder. Viele Zeilen, mitunter viele Seiten lang, berichtete sie ihre Sicht auf politische Ereignisse. Sie war unversöhnlich, immer getrieben von der Frage: „Was sagen wir unseren Kindern, wenn sie uns fragen, warum habt ihr einen neuen Hitler nicht aufgehalten?“1 Ihren Lesern drängte sie die eigene Empörung über alles auf, was sie als nicht antifaschistisch, antiautoritär und antiimperialistisch einstufte. Die Themen suchte sie sich aus der Realität der sechziger Jahre: mangelhafte Aufarbeitung des Nationalsozialismus, Anti-Kommunismus, Spiegel-Affäre, Notstandsverfassung, Imperialismus. Bonn sei nicht Weimar, aber Weimar halle in Bonn nach, hieß es damals. Meinhof richtete ihren Blick in die Vergangenheit und ergriff das Wort als Waffe. Im Gefühl, gleichermaßen ausgewiesen und abgewiesen zu sein, erwachte ihr politisches Bewußtsein. Früher als andere ihrer Generation, die später einmal als eine sogenannte linke Bewegung die Gesellschaft verändern sollte, suchte sie Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart. In der Wahrnehmung und Einschätzung des Nachkriegsdeutschlands von den Leiden 1 Zitiert nach Jürgen Seifert, Dieses harte Entweder-Oder, in: Der Spiegel, Nr. 30/ 1995.

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ihrer Ziehmutter Renate Riemeck an der Bundesrepublik eingeschränkt, wirkt es, als sei Meinhofs Lebensweg vorherbestimmt gewesen und manche spätere Tat nahezu zwangsläufig geschehen. Riemeck lehrte sie, den Staat Adenauers als Fortsetzung von Hitlers Regime zu begreifen, getragen und gelenkt von Eliten, die schon bis 1945 den Nationalsozialismus getragen und gelenkt hatten. Wie Riemeck glaubte Meinhof, daß die Kommunisten, die einzig wahren Unschuldigen im Dritten Reich, es sich mit ihrem Widerstand gegen Hitler verdient hätten, Verantwortung im neuen Staat zu übernehmen. Doch eine Mehrheit von Sündern, die ihre Verbrechen vergessen hatte oder bestritt, machte die Kommunisten in den Augen der beiden Frauen nun abermals zu Verfolgten. „Der Leitartikel handelt, kann eine Tat sein“, sagen Zeitungsforscher.2 Zum Ende ihrer Zeit bei konkret glaubte Meinhof das Gegenteil; in ihrem „Kolumnismus“-Artikel denunzierte sie die eigene Zunft. „Damit aus der Theorie keine Praxis wird, leistet man sich Kolumnisten“, schrieb sie.3 Kolumnisten waren für sie nunmehr Werkzeuge der Zeitungsverlage, originelle, nonkonforme und eigensinnige Druckablasser des Dampfkessels Gesellschaft. Längst berühmt für ihre Texte, eine Institution geworden, eine publizistische Opposition in der Bundesrepublik der Großen Koalition, schaffte sie es dennoch nicht, ihre Wut mit Worten zu schlichten. Das „progressive Moment“,4 das ihr als Journalistin fehlte, fand sie zunächst in der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders aus der Haft und hernach im Terror gegen das sogenannte System. Baader hatte im April 1968 mit seiner Freundin Gudrun Ensslin und zwei anderen ein Frankfurter Kaufhaus angezündet, um gegen den Krieg in Vietnam ein Feuerzeichen zu setzen. In einer ihrer meistzitierten Kolumnen erklärte Meinhof die kriminelle „Warenhausbrandstiftung“ als progressives Moment.5 Baader und Ensslin hätten das Gesetz gebrochen, das die Zerstörung von Waren kriminalisiert. Das Strafgesetzbuch schütze aber nicht die Menschen, die die Waren herstellten, sondern nur den Reichtum derer, die „ihn sich gemäß der Gesetzgebung im kapitalistischen Staat rechtmäßig aneignen“.6 Mit Baaders Befreiung am 14. März 1970 schwor Meinhof dem Journalismus ab und setzte den Kampf gegen die Bundesrepublik fort, den sie schon Ende der fünfziger Jahre begonnen hatte. Fortan versuchte sie, in der Roten Armee Fraktion (RAF) die ihrer Meinung nach vom Staat zur Unmündigkeit erzogenen Bundesbürger im Sinne der kommunistischen Volksfronttaktik aufzuklären. An Gewaltlosigkeit, vor allem die „ungeheure Macht gewaltloser Emanzipa2 Emil Dovifat/Jürgen Wilke, Zeitungslehre I. Theoretische und rechtliche Grundlagen. Nachricht und Meinung. Sprache und Form, Berlin/New York 1976, S. 177. 3 Ulrike Meinhof, Kolumnismus, in: konkret (1968), Nr. 21. 4 Dies., Warenhausbrandstiftung, in: konkret (1968), Nr. 14. 5 Ebd. 6 Ebd.

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tion“, glaubte sie nicht mehr.7 Nicht mehr? Schon als Journalistin hatte sie staatliche Gewalt im Ostblock wissentlich übersehen. Jetzt, in der RAF, fühlte sie sich als Berufsrevolutionärin. Von Lenin hatte sie gelernt, daß nur ein „Komitee aus Berufsrevolutionären“8 der Arbeiterklasse, der es in erster Linie um ökonomische und nicht politische Ziele gehe, den „Anstoß von außen“ geben könne. Nach dem „Anstoß“ würde die Volksfront gegen das „System“ Wirklichkeit. Das „System“ war der „Feind“, der Abstand von Vorstellung und Wirklichkeit deutlich. Am 7. Oktober 2004 wäre Ulrike Meinhof 70 Jahre alt geworden. Am 8. Mai 1976, dem Jahrestag der Befreiung, hatte sie sich in ihrer Stammheimer Gefängniszelle erhängt. Sie war 41 Jahre alt. Zum Mythos war Meinhof schon vorher geworden, als Götzenbild für die einen und als skrupellose Terroristin für die anderen. Selbst ihre nun offenbar gewordene Mitgliedschaft in der illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) hat daran nichts geändert. Meinhof eignet sich noch immer, anderen Biographien die Absolution zu erteilen; freilich ergeht es ihr da nicht besser als allen berühmten Toten dieser Welt. Jeder kann sich aus ihrem Leben bedienen, es bewerten, verteidigen und anzweifeln, jeder, der mit ihr gekämpft hat, darf mit ihrem Ruhm nach eigener Bekanntheit streben und Geld verdienen. Die Aussteigerin ist letztlich eine mißbrauchte Heldin ihrer Jünger. Nicht Meinhof, die sprachgewaltige Journalistin und Terroristin, hat das letzte Wort, sondern bis heute die Vielzahl ihrer Freunde und Feinde, die den Nachlaß verwalten und plündern. Jillian Becker, Chronistin der Baader-Meinhof-Gruppe, vermutet, daß Meinhof geistig nie selbständig war.9 Ihr Lebenslauf weist in eine andere Richtung. Viele Wegbegleiter schubsten sie auf einen bestimmten Pfad, den sie dann allein ging. Wann immer es ihr notwendig erschien, brach sie mit der Vergangenheit und riß so alle Brücken hinter sich ab. Umso wichtiger ist es, vor allem die Entwicklung ihres politischen Denkens und Handelns nachzuvollziehen und so ihren Weg in die Radikalität verständlich zu machen.

2. Frühe Politisierung – von Renate Riemeck zum Widerstand erzogen Vier Monate nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlag Ulrike Meinhofs Vater, ein Kunsthistoriker, seinem Krebsleiden. Im Frühjahr 1949 starb auch ihre Mutter Ingeborg Meinhof an Krebs. Ulrike Meinhof war 14, Renate 7 Jürgen Seifert, Trügerischer Mythos Meinhof, in: Berliner Zeitung vom 8. Mai 1996. 8 Wladimir Iljitsch Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, Berlin 1954 (1907), S. 161 f. (Hervorhebung im Original). 9 Vgl. Jillian Becker, Hitlers Kinder?, Frankfurt a. M. 1978, S. 137.

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Riemeck 28 Jahre alt. Riemeck, die schon länger mit ihrer Freundin Ingeborg Meinhof zusammengelebt hatte, übernahm die Vormundschaft für das junge Mädchen und dessen ältere Schwester. Der Kalte Krieg war in der Zwischenzeit Tatsache geworden. An der Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik, die sich 1949 gegründet hatten, teilte sich die Welt in zwei Machtblöcke: den sowjetischen und den amerikanischen. Nach Jahren des Reisens ließen sich Riemeck und Meinhof in Weilburg nieder. Riemeck, seinerzeit Deutschlands jüngste, wenngleich nie habilitierte Professorin, hatte einen Ruf an das dortige Pädagogische Institut erhalten. Drei Jahre später legte Meinhof am Weilburger Philippinum das Abitur ab. Koreakrieg, Rüstungswettlauf, Westbindung Bonns und Wiederbewaffnung bestimmten den politischen Alltag der Bundesrepublik. Meinhofs Lebensweg läßt sich weder nachzeichnen noch erklären, ohne Riemeck zu Wort kommen zu lassen. Schließlich war es die Professorin, die sie lehrte, die Bundesrepublik als revisionistischen Staat zu begreifen, dessen Regierung den Nationalsozialismus wieder beleben wollte, wenngleich in einem anderen Gewand. Riemeck, die für Meinhof bis in die sechziger Jahre, also die Jahre, die die spätere Terroristin besonders prägten, eine richtungweisende Instanz war, gehörte zu jenen, die die Wahlergebnisse der bundesdeutschen Demokratie nie akzeptierten. Der Vergleich der Bundesregierung mit der Diktatur der Nationalsozialisten gehörte zu ihrem rhetorischen Repertoire und griff schnell auf jene über, die sich nicht nur in Opposition gegen die bundesdeutsche Regierung stellten, sondern sich auch, wissentlich oder unwissentlich, auf die politische Linie der Ost-Berliner Regierung begaben. Wie viele ihrer Mitstreiter verschwieg die Professorin den Unterschied zwischen einer längst beschlossenen totalitären Diktatur und einer parlamentarischen Demokratie, die immer im Entstehen war. Unter Hitlers Regime hatte die ehemals stramme Nationalsozialistin wohlweislich nicht zu leiden gehabt; möglicherweise scheute sie deshalb nicht davor zurück, die Bundesrepublik am politischen Horizont als „autoritären Rechtsstaat“ zu malen, „der dem gleichgeschalteten Bürger nur noch die Pflege einer biedermeierlichen Individualität garantiert“.10 Es ist schwierig, Renate Riemecks Denken nachzuvollziehen. Ihre publizistischen Äußerungen deuten darauf hin, daß sie versucht war, mit den Instrumenten der Demokratie ein totalitär-kommunistisches System in der Bundesrepublik zu etablieren. Anders als viele ihrer Zeitgenossen, die sühnen wollten, indem sie nach 1945 Kommunismus und Nationalsozialismus gleichermaßen bekämpften, lag Riemeck mit ihren Äußerungen auf der Linie derer, die dem Ostblock alle machtpolitischen Freiheiten zugestanden, dem Westen aber nicht. Sie engagierte sich nicht für die allgemeine Abrüstung, sondern vor allem gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik. 10 Renate Riemeck, Nach der Wahl, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (1957).

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Es verwundert, daß Meinhof, die bereits in jungen Jahren ein Mißtrauen gegen Autoritäten entwickelt hatte, wie eine Tochter ohne jeden familiären Ungehorsam erscheint. Betrachtet man ihr Verhältnis zu Riemeck, wirkt sie geradezu brav, unkritisch und überangepaßt. Es ist nicht vollends klar, ob sie je erfahren hat, daß ihre Ziehmutter – vorsichtig ausgedrückt – im Dritten Reich keineswegs dem Widerstand angehört hatte. Es ist in gewisser Weise auch unerheblich. Der Verzicht, die Legende Riemecks zu prüfen, ihr Vertrauen in das einwandfreie Verhalten der Ziehmutter unter Hitler, obwohl sie doch fortwährend die Lüge und bereinigte Lebensläufe witterte – dies irritiert an Meinhof.

3. Erste Versuche des Widerstands – Kampf gegen die Atombewaffnung Zum Studium ging Ulrike Meinhof nach Marburg. Ausgestattet mit einem Stipendium, schrieb sie sich für Philosophie, Pädagogik, Soziologie und Germanistik ein. Die Fächerwahl begründete sie mit dem Vorbild der Ziehmutter und dem Wunsch, „in die tieferen Probleme der Menschenbildung einzudringen“.11 Nach zwei Jahren wechselte sie an die Westfälische Wilhelms-Universität nach Münster. Kaum an der neuen Lehrstätte eingeschrieben, ging Ulrike Meinhof auf alle Studentenorganisationen zu, um sie gegen die Atomrüstung in Stellung zu bringen. Es liegt sehr nahe, daß Riemeck sie über die üblichen langen Streitgespräche dazu veranlaßt hatte. Über Riemeck erhielt Meinhof nicht nur Zugang zu finanziellen Hilfen und Publikationen wie den Blättern für deutsche und internationale Politik oder der Stimme der Gemeinde, die Professorin war auch eine intellektuelle Quelle. So wie sich Riemeck öffentlich darstellte, als Widerständlerin gegen das Hitler-Regime, als geistreiche Professorin und unermüdliche Gegnerin jeglicher Restauration, schwebte sie stets über dem Handeln der bislang politisch unbedarften Meinhof. Meinhofs erste Schriften erschienen zwischen dem Rapacki-Plan im Oktober 1957 und dem Chruschtschow-Ultimatum im November 1958. Obschon sie an der Marburger Universität politisch nicht sonderlich aktiv gewesen war, fiel sie Jürgen Seifert, ihrem Kommilitonen und wichtigen Wegbegleiter in Münster, schon als ein fellow traveller auf, als er sie im Frühjahr 1958 kennen lernte. Für die Studentin Ulrike Meinhof standen jene Jahre im Zeichen der AntiAtombewegung. Wie ihre Ziehmutter Riemeck hatte sie gehofft, daß schon die Bundestagswahl im September 1957 die neutralistisch gestimmte SPD an die Regierung bringen würde. Aber die Partei hatte Abrüstung und Friedenspolitik nicht zu ihren vornehmlichen Wahlkampfthemen auserkoren. Das über der Diskussion zur atomaren Bewaffnung entstandene Sammelsurium von Initiativen 11 Alois Prinz, Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof, Weinheim 2003, S. 80.

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und Aktionskreisen, die sogenannte Anti-Atom-Bewegung, erlebte nach Massenkundgebungen im Mai 1958 einen ersten Einbruch und schien auseinanderzufallen. Wo sich allerdings Gewerkschafter und Kirchenanhänger nicht weiterbewegten, setzten sich viele Studenten in Gang. Auch Ulrike Meinhof hatte in dieser Zeit in Münster einen Studentischen Arbeitskreis für ein atomwaffenfreies Deutschland gegründet. Kurz vor Ende des Wintersemesters – der Atombeschluß im Bundestag stand noch aus – war sie zum SDS gegangen und hatte einige sozialistische Studenten überzeugt, im Arbeitskreis mitzuarbeiten. Was Meinhof sagte, als sie versuchte, ihre Mitstudenten für die Anti-Atombewegung zu gewinnen, lag auf Linie der SPD. Während das Bundesamt für Zivilschutz im Sommer 1958 damit warb, daß im Atomernstfall „jeder eine Chance [hat]“, wenn er sich nur flach auf den Boden werfe, „möglichst längsseits einer starken Wand“, sich von der Lichterscheinung abwende und die Augen schließe, Gesicht, Nacken und Hände schütze, stellte Meinhof den Ernstfall ganz anders dar. Für eine Kundgebung auf dem Münsteraner Hindenburgplatz am 20. Mai 1958 warben sie damit, daß sie aus „staatsbürgerlicher Verantwortung [. . .] vor den verhängnisvollen Folgen des Bundestagsbeschlusses vom 25.3.58 warn[t]“.12 Daß andernorts an diesem Tag Aktionen gegen den Bundestagsbeschluß vom 25. März stattfinden sollten, wußte sie genauso wie die Mitglieder des Arbeitskreises, die den Brief einzeln und mit Studienfach unterzeichneten. Darin hieß es: „Man sagt uns, der Protest gegen die atomare Aufrüstung sei demokratisch illegal [. . .] und daß unser Parlament repräsentativ sei für die Mehrheitsverhältnisse des Volkes. Was aber ist, wenn das Parlament in einer lebenswichtigen Frage nicht mehr die Meinung des Volkes repräsentiert? Da gibt es nur zwei Antworten: Entweder wir schweigen, wir geben zu, daß wir nicht mehr demokratisch regiert werden. Oder aber wir sprechen und treten für das, was an Verantwortung auf uns liegt, ein.“ Wenn das Grundgesetz verkünde, „daß in unserer Demokratie alle Gewalt vom Volke ausginge“, erlaube es Widerstand. Wer sich an diese grundgesetzliche Prämisse halte, müsse sich notfalls auch gegen die gewählten Repräsentanten stellen, sobald sie verantwortungslos handelten. „Die Frage der atomaren Aufrüstung geht jeden von uns an, insofern jeder von einem Atomkrieg betroffen wäre, jeder von einer friedlichen Lösung der Spannungen zwischen Ost und West, jeder von einer Diktatur östlicher Prägung. Man tut uns bitter unrecht, wenn man uns vorwirft, wir hätten vor der Drohung des Ostens kapituliert und betrieben nun das Geschäft mit ,Atompanik‘. Tatsachen zur Kenntnis nehmen und daraus seine Konsequenzen ziehen, hat nichts mit Panikmache zu tun.“13

12

Flugblatt, Sammlung von Jürgen Seifert. Ulrike Meinhof, Brief an die Studentenschaft. Wir Studenten und die atomare Aufrüstung der Bundeswehr vom 15. Mai 1958, Sammlung Seifert. 13

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Gestärkt vom Erfolg ihrer öffentlichen Aktion, konzentrierte sie sich nun auf den Atomkampf. Mit Seifert organisierte sie Veranstaltungen, schrieb Flugblätter und verkaufte konkret auf dem Gelände der Universität; am 21. Juni 1958 erschien das erste argument. Der Berliner Arbeitskreis gegen die atomare Aufrüstung hatte in einem Flugblatt aufgerufen, das argument überall herauszugeben. Meinhof sagte, sie werde sich um die Finanzierung des Münsteraner arguments kümmern, später hieß es, sie habe das Geld von Riemeck erhalten.14 Derweil attackierte der christdemokratische Bundesinnenminister Gerhard Schröder die Arbeit „kommunistischer Hilfsorganisationen“ und „kommunistisch beeinflußter neutralistischer und nationalistischer Kreise“ im Kampf gegen die Atombewaffnung, die er für eine „kommunistisch gelenkte Großaktion hielt“.15 Meinhof fühlte sich als Mitglied einer neuen Weißen Rose und strebte nach öffentlichem Aufsehen, der angehende Jurist Seifert berief sich auf die Verfassung und konzentrierte sich auf „die Chance eines Erfolges“.16 An die Studentenschaft schrieb sie: „Ich muß ehrlich sagen, wer eine russische Diktatur mehr fürchtet als einen Atomkrieg, den wird niemand daran hindern können, in einem solchen Fall Selbstmord zu begehen; mich aber und Millionen andere soll er leben lassen und die Sünde des Selbstmords nicht durch die Sünde des Kollektivmords unter der Bezeichnung ,Schicksal‘ beschönigen.“17 In einem der letzten argumente behandelte sie „den neuen Erbfeind“, den „Antikommunismus“. Eingeleitet von dem damals noch nicht umstrittenen Satz Hitlers zu Hermann Rauschning – „Wenn es keinen Juden gäbe, dann müßte er erfunden werden“ –, fand Meinhof zur Analogie: „Das deutsche Volk hatte ,Mein Kampf‘ überlesen, es begriff nicht, daß Hitler – inthronisiert – die Juden wirklich vernichten würde. [. . .] Millionen wählten Adenauer und merkten nicht, daß sein Antikommunismus Völkerhaß erzeugt und Völkerhaß nicht der Weg ist, den Weltfrieden zu erhalten und zu sichern.“18 Für Meinhof und Seifert öffneten sich jedoch die Türen zur Redaktion der Blätter für deutsche und internationale Politik. Unter der Überschrift „Unruhe in der Studentenschaft“ lobten sie im Juni 1958 die „Bereitschaft zur politischen Aktion“, die die noch vor kurzem als „unpolitisch gescholtene“ Studentengeneration nun beweise.19 Aus dem „Kampf gegen die atomare Aufrüstung“ sei bereits „ein Kampf gegen die Totalität derer“ geworden, die mit ihrer Mehrheit im Parlament „ihre Rüstungs14

Interview der Verfasserin mit Jürgen Seifert im April 2004. Zitiert nach Seifert, in: Jürgen Seifert, Erinnerungen. Unveröffentlichtes Manuskript, Hannover 2004, S. 8. 16 Ebd., S. 10. 17 Meinhof (FN 13). 18 Dies./Gerhard Johannes Stratenwerth, Der neue Erbfeind, in: argument (1958), Nr. 8. 19 Dies./Jürgen Seifert, Unruhe in der Studentenschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (1958). 15

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politik gegen den Willen des Volkes“ durchgesetzt hätten. Meinhof und Seifert erkannten sogleich ein „Symptom [der] geistigen Aushöhlung der Demokratie“ und sprachen von einer „Unruhe“, die die „allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse“ widerspiegele. Nach Kriegsende begegne die Studentenschaft „heute zum ersten Male faschistischem und rechtsradikalem Terror“. Gegen solche „Strömungen [. . .] im Gewande der Demokratie“ wollten die beiden ihre Kommilitonen aufrütteln.20 Noch verkörperte Meinhof ein aktives Demokratieverständnis. Dem Volk übertrug sie nicht nur das Recht, seinen Willen zu erringen, sondern auch die Pflicht, sich nicht unterdrücken zu lassen. Politische Partizipation und persönlichen Widerstand siedelte sie schon in dieser Zeit außerhalb des Parlaments an – als öffentlichen und veröffentlichten Protest, auf der Straße und in Zeitungen. Demokratie schützten die Bürger nicht allein, indem sie am Wahltag ihre Stimme abgaben, Politikern Macht erteilten oder entzogen, sondern als ständige, aufmerksame Begleiter des politischen Prozesses, die Konflikte nicht scheuten. Ihre Skepsis gegenüber dem parlamentarischen System, aus dem Meinhof Jahre später aussteigen sollte, deutete sich Ende der fünfziger Jahre an. Sie suchte die Nähe der Deutschen, die Demokratie nicht als Zuschauer erleben, alle vier Jahre ihre Wünsche ankreuzen und die Macht des Souveräns ans Parlament übertragen wollten. Sie war unter den Akteuren, die mitbestimmten oder dies wenigstens probierten, weil sie nicht genügend Vertrauen in die deutsche Nachkriegspolitik besaßen, um die Volksgewalt delegieren zu können. Meinhofs früher Rigorismus fällt auf. Es scheint, als habe ihr das Verständnis gefehlt – oder gar das Wissen, die Erfahrung –, daß nicht jede moralische Frage immer eindeutig zu beantworten ist, daß viele zu Kompromissen neigen, daß der Mensch abwägt, wann er für Überzeugungen kämpft, daß er nicht für jedes Bedürfnis alles zu riskieren bereit ist. Schon in dieser Lebensphase – Meinhof war Mitte 20 – ist kaum vorstellbar, daß irgendwer oder irgendetwas, sei es eine Begegnung, sei es ein Ereignis, sie zu einer Umkehr hätte bewegen können. Selbst wenn man das Wissen von heute ausblendet, also Meinhofs Lebensweg einen Augenblick vergißt, irritiert, wie geschlossen und abgeschlossen zugleich ihre Ideale in dieser Zeit bereits waren. Zweifel und Unsicherheit der Jugend, die Unbestimmtheit der Motive, die vielen Taten in diesem Alter vorangehen, der Hang, sich gelegentlich verführen zu lassen – auf nichts davon stößt man bei dieser jungen Frau. Entscheidungen, die sie einmal getroffen, Überzeugungen, die sie einmal angenommen hatte, korrigierte sie nicht, sondern vertiefte im Gegenteil das eine wie das andere. In ihrem Absolutheitswahn erscheint sie plötzlich ihren Gegnern, denen sie doch fortwährend vorwarf, sich über den Willen anderer hinwegzusetzen und den Protest einer Mehrheit gar zu mißachten, ganz nah. 20

Ebd.

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Zeitlebens gefiel sich Meinhof in der Rolle des Opfers, der Verfolgten, die eine Mehrheit gegen sich hat. Mit dem Blick von heute fällt auf, wie engstirnig, kalt und berechnend sie an die Ermordeten des Dritten Reiches erinnerte. Das Gedenken an die Juden, deren planmäßige Vernichtung den Nationalsozialismus wesentlich zum Schreckensregime macht, diente ihr vor allem als Folie für den falschen Umgang der Bundesrepublik mit den Kommunisten. Hitlers Antisemitismus brachte sie nicht dazu, Wiedergutmachung für das jüdische Volk zu fordern; sie benutzte ihn nur als Drohkulisse in der Gegenwart. Sympathie entwickelte sie einzig für den kommunistischen Widerstand und dessen Opfer, deren Mitstreiter und Nachfolger sie abermals zu Unerwünschten erklärte, was letztlich auch ihr – dem illegalen Mitglied der KPD – den Status eines Helden verschaffte, der immerfort verfolgt war. Dabei verschwieg die Studentin, daß der Ostblock unter der Führung der Sowjetunion seine Menschen in die Diktatur des Kommunismus zwang. Diese Stummheit läßt sich nur mit zwei Konstruktionen erklären: zum einen mit ihrer Angst vor einer neuen Schuld, zum anderen mit dem Einfluß, den Renate Riemeck ausübte, indem sie die eigene, wahrhaftige Schuld der Jahre 1933 bis 1945 dadurch verdeckte, daß sie sich der DDR anbiederte und ihre Ziehtochter so in dem Glauben ließ, ihr Weg sei der einzig richtige, um sich jeglicher Schuld zu verwehren.

4. Erste Kontakte mit der Illegalität – die Zeitschrift konkret Als Gegnerin der Atombewaffnung war Meinhof oft unterwegs. Ende Juni 1958 vertrat sie ihren Arbeitskreis auf einer Pressekonferenz in Bonn, wo sie zum ersten Mal dem Herausgeber von konkret, Klaus Rainer Röhl, begegnete. Am Tag darauf berichtete sie Riemeck vom „fiesen“ Röhl. Die Ziehmutter, von der sich Meinhof umso mehr löste, je politischer sie selbst wurde, erwiderte, mit Pragmatismus, das Unbehagen der Stieftochter abkühlend: „Na ja, aber wir müssen mit ihm zusammenarbeiten.“21 Auch wenn sich konkret anschickte, das Sprachrohr der studentischen AntiAtombewaffnungsbewegung zu werden, vertrauten längst nicht alle Anti-Atomgruppen der Zeitschrift. Röhl und seine Mitarbeiter galten als kommunistisch gesteuert; zu Recht glaubten Kritiker, das Blatt schreibe im Auftrag der DDRFührung. Der Widerstand gegen die atomare Aufrüstung war für viele keineswegs gleichbedeutend mit einer Zustimmung zur Politik der SED. Röhl, Herausgeber und Chefredakteur in Personalunion, der mit dem Eintritt in die KPD auch seinen Protest gegen ihr Verbot hatte ausdrücken wollen, gab sich Mühe, 21

Zitiert nach Seifert (FN 15), S. 18.

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dies zu ändern. Meinhof, für ihn eine „Schlüsselfigur“ dieser „skeptische[n] Linke[n]“22, die nicht die Absicht hatten, sich mit konkret zu identifizieren, wollte er auf die Seite seiner Zeitschrift ziehen. Als Teil der ostdeutschen Strategie gegen die bundesdeutsche Atombewaffnung hatten die konkret-Redakteure von ihrer Partei, der KPD, den Auftrag erhalten, Einfluß auf die Atomausschüsse der Universitäten zu gewinnen. Röhl blieb für Meinhof „nach wie vor ein Fatzke“.23 Er selbst sah das freilich anders. Seiner Erinnerung nach hatte sich Meinhof schon im Juni in ihn verliebt. Er sei ihr als Brautwerber für Opitz erschienen, doch sie habe nur Augen und Ohren für ihn, Röhl, gehabt – und für den Kommunismus, den er ihr pries in den Worten von „Brecht, Busch, Lenin, Christus und Mao und Platon“ als „größten Traum der Menschheit“, als „Gerechtigkeit“.24 Tatsächlich war Meinhof spätestens im Oktober auf die Linie von konkret eingeschwenkt; von ihrer einstigen Abneigung gegen Röhl war nichts mehr übrig geblieben. Nachdem die Antipathie zwischen der Studentin und dem Herausgeber verschwunden war, bewunderte Meinhof die Redakteure; „sie haben einen guten Blick für das ,Konkrete‘“, schrieb sie an Seifert.25 Sie hatte großen Respekt davor, daß die jungen Kommunisten für die Sache und nicht für sich arbeiteten. Röhl ist seither davon überzeugt, daß er Meinhof zur Kommunistin gemacht habe, legt aber Wert darauf, daß „am Anfang nicht das Lob des Kommunismus [stand] oder die Einsicht in die Notwendigkeit und die Solidarität, sondern etwas ganz Privates, etwas Unpolitisches“.26 Meinhof gehörte fortan zu konkret, arbeitete jedoch noch nicht als Redakteurin. konkret war schließlich nicht nur eine Zeitschrift, sondern auch eine kommunistische Tarnorganisation. Wer hier mitarbeitete, gehörte zur Partei oder wußte zumindest von ihr. Niemand besaß ein Parteibuch oder sonst irgendein Dokument, das ihn als Mitglied der illegalen KPD auswies, weil alles auf mündlichen Absprachen basierte, denn in der Konspiration gelten Tinte und Papier als Werkzeuge des Verrats. Im Herbst 1958, erinnert sich Röhl, „schleppten wir [Ulrike Meinhof] schon nach Ostberlin, wie eine kostbare Beute“.27 Manfred Kapluck, im Politbüro zuständig für konkret, kannte sie bereits; hatte sie, die sich als Gegnerin von „Parteibüchern“ ausgab,28 doch darauf gedrängt, endlich in die Partei eintreten zu dürfen.29 Röhl dagegen sei aus taktischem Kalkül zur Partei gekommen, er 22 23 24 25 26 27 28 29

Klaus Rainer Röhl, Fünf Finger sind keine Faust, Köln 1974, S. 129. Ebd. Ebd., S. 131. Brief Ulrike Meinhof an Jürgen Seifert vom 15. September 1958. Röhl (FN 22), S. 132. Ebd., S. 132. Brief Ulrike Meinhof an Jürgen Seifert vom 14. Oktober 1958. Interview der Verfasserin mit Manfred Kapluck im Juni 2004.

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habe eine Zeitung machen wollen.30 Für Meinhof war die Parteimitgliedschaft konsequent. Kapluck erklärte sie damit, daß die Kommunisten in der Bundesrepublik verfolgt würden. In ihren Augen waren die Genossen die einzigen, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten.31 Meinhof gehörte nicht zu denen, die die Vergangenheit nachträglich rechtfertigten, indem sie die Schuld anderswo suchten als bei sich selbst. Sie schloß sich jenen an, die diese Vergangenheit hatten verhindern wollen – ganz unabhängig davon, daß sich das Programm der KPD und die Staatsidee der Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren zumindest nicht vereinbaren ließen.

5. Bekenntnis zum Kampf gegen die Bundesrepublik – Eintritt in die KPD Was bewegte Ulrike Meinhof, mit der KPD in die Illegalität zu gehen? Mit der Bundesrepublik hatte Ulrike Meinhof 1958 binnen weniger Monate abgeschlossen. Erst Renate Riemeck, die in den Blättern unermüdlich gegen das Land anschrieb, und später die Gruppe um Röhl, hatten sie bewegt, den „Kampf“ gegen das eigene Land aufzunehmen. Meinhof sah im Sozialismus die „positive Alternative zur westlichen Politik“.32 Schon im Herbst 1958 hätte sie nicht einmal mehr ein Regierungswechsel dazu bringen können, die politischen Gründungsideen der Bundesrepublik zu verteidigen. So wie sie eine mögliche neue Regierung allenfalls mit „personelle[n] Veränderungen“ gleichsetzte, so erhoffte sie sich auch nichts von der SPD und den „wirklich echten bzw. ehrlichen Gegnern der Aufrüstung“.33 Wandeln wollte sie die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ – vor allem die Wirtschaftsordnung des westdeutschen Teilstaates, die auf der sogenannten sozialen Marktwirtschaft gründete –, um das „Grundübel“ abzuschaffen.34 Meinhof bekämpfte den „Kapitalismus“ zugunsten einer sozialistischen Wirtschaftsordnung.35 Als Beispiel hierfür diente das System des östlichen Nachbarstaates. Wie sie ihren Kampf gestalten wollte, wußte sie noch nicht. Sollte man dem Sozialismus den bundesdeutschen Boden bereiten, indem man ihn anpries und „hochtrieb“, oder war es an der Zeit, die „westdeutsche Politik ohne Umschweife zu bekämpfen“? Sie machte sich auf die Suche nach den „besten Ansatzpunkten“ für diesen „Kampf“, weil sie meinte, daß es mehr Bundesbürger gebe, die die Politik ihrer Regierung ablehnten, als solche, die im Kapitalismus 30 31 32 33 34 35

Interview der Verfasserin mit Manfred Kapluck im April 2005. Ebd. Brief Ulrike Meinhof an Jürgen Seifert vom 1. Oktober 1958. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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den Auftraggeber dieser Politik erkennen würden.36 Die Mehrheit derjenigen, die an der Regierung zweifelten, lehne deshalb nicht die „Gesellschaftsordnung“ ab; es sei ihr letztlich auch egal, ob man sie, „mit Recht“, als inkonsequent geißle. Folglich setzte Meinhof darauf, auf „breiterer Ebene“ gegen die westdeutsche Politik vorzugehen, „die Gegnerschaft allem vorziehen“ und zunächst das „Mißtrauen nach links“ abzubauen.37 Für sie, die sich mittlerweile dem Kanon der kommunistischen Untergrundarbeit verschrieben hatte, bedeutete das, daß diejenigen, die sowieso schon unter Kommunismusverdacht standen, eher im Hintergrund wirken sollten. Nach dem Sommersemester 1959 kehrte Ulrike Meinhof nicht mehr an die Universität zurück. Ohne ein Abschlußzeugnis zog sie auf Wunsch der Partei nach Hamburg, um dort als verantwortliche Auslandsredakteurin für konkret zu arbeiten. Die vorangegangenen Monate hatte sie oft mit anderen Redakteuren verbracht. Bei Besuchen in der DDR, vor allem in Caputh nahe Potsdam, wo schon Albert Einstein ein Sommerhäuschen bewohnt hatte, ließ sie sich von den Parteigenossen verwöhnen und beriet mit ihnen das jeweils weitere Vorgehen oder wen man als nächstes in die Partei holen könnte. Wer für konkret schrieb, konnte dies frei tun, solange er sich an die „Kapluck-Quote“ hielt. Der Sekretär für Massenarbeit, Meinhof und Opitz hatten errechnet, daß jedes Heft mindestens „20 Prozent Antikommunismus“ brauche, damit konkret einigermaßen glaubwürdig erschien.38 Noch heute freut sich Kapluck, daß er von Meinhof nie ein kritisches Wort über den Ostblock zu lesen und zu hören bekam.39 Er erklärt sich die Treue der jungen Frau aus dem Westen mit ihrem „KommunistenFaible“.40 Meinhof war sich des sogenannten Antikommunismus in der Bundesrepublik bewußt und verlangte, niemandem „gleich auf die Nase“ zu binden, daß die Sozialisten ihn mit seiner politischen Haltung im Prinzip schon als einen der ihren sahen.41 Für sie stand fest, daß sich der Antikommunismus erst abnutzen müsse, bevor sich die Menschen freimütig als Linke zu erkennen gäben. So lange die große Mehrheit links und kommunistisch für ein und dasselbe hielte, müsse man sich gegen den Antikommunismus verwahren. Die beste Strategie habe, wer sich nicht negativ über den „Osten“ äußere, da ein ablehnendes Wort über die Verhältnisse dort, sei es auch noch so begründet und differenziert, „Wasser auf die Mühlen des Antikommunismus“ gieße.42 36 37 38 39 40 41 42

Ebd. Ebd. Interview der Verfasserin mit Manfred Kapluck im April 2005. Vgl. ebd. Interview der Verfasserin mit Manfred Kapluck im Juni 2004. Vgl. ebd. Ebd.

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Tatsächlich war der Antikommunismus eine wichtige Charaktereigenschaft der jungen Bundesrepublik. Antikommunismus und Anti-Nationalsozialismus bildeten die konstitutiven Elemente der Bundesrepublik, da ihnen das Land nicht nur das Grundgesetz verdankte, sondern auch die Westbindung und die Wiederaufnahme in die Staatengemeinschaft. Die politische Idee der DDR dagegen speiste sich aus „Antirevanchismus, Antimilitarismus und Antiimperialismus“.43 Diese jeweiligen Bestandteile der offiziellen Haltung wirkten für beide Länder als „Integrationsvehikel“ in ihren jeweiligen Lagern,44 so daß keine politische Kraft davon abgehen konnte und wollte, die nach Macht im eigenen Staat strebte. Das geschah niemals ohne Blick auf den jeweils anderen Staat. So war es möglich, daß sich die jeweiligen „Integrationsvehikel“ und vor allem ihre Konsequenzen längst überlebt hatten, als sie noch von einem propagandistischen Höhepunkt zum nächsten aufstiegen.

6. Manifestation des Kampfes – Gründung der DFU Die Gründung einer neuen Partei hatte die KPD schon länger geplant, allerdings wähnten sich die Genossen vor allem vor dem Godesberger Programm vom Dezember 1959 immer dann auf einer Gratwanderung, wenn sie sich zwischen einer Aktionsgemeinschaft mit der SPD, die sie noch stets für möglich hielten, und einem parteipolitischen Alleingang entscheiden mußten. Als Chruschtschow Ende 1958 seine Noten verlauten ließ, gedachte die KPD noch, die Bevölkerung von zwei Seiten über die „wahren“ Ziele des sowjetischen Staatschefs einzunehmen, zumal vor allem die Arbeiterklasse nicht wisse, welche Staaten den Frieden bedrohten und welche für den Frieden stünden.45 Denn, so die Parteistrategen, „der Antikommunismus [ist] leider eine wirkungsvolle Waffe der Reaktion“.46 Für die KPD ergaben sich daraus schon Ende 1958 zwei Folgen, die die Unsicherheit über die eigene Positionierung in der Bundesrepublik deutlich machen: Zum einen wollte sie gemeinsam mit ihren „progressiven Kräften“, wie dem Fränkischen Kreis, dem Deutschen Club, den Friedenskomitees, SPD-Genossen und Gewerkschaftern, „[allseitig] über den wahren Inhalt der Note“ aufklären. Zum anderen plante sie, die „positiven Kräfte“ in einer „Sammlungsbewegung“ zusammenzuschließen.47 Damit gingen die Kommunisten nicht in Frontstellung zur gesamten SPD, sondern nur zu deren „rechten Führern“, wie sie unter anderem Willy Brandt und Fritz Erler nannten. Um zu verhindern, daß „rechte SPD“ und Bundesregierung die Arbeiterklasse 43 Ulrich Pfeil, Die DDR und der Schuman-Plan (1950–1952), in: Heiner Timmermann (Hrsg.) Deutsche Fragen. Von der Teilung zur Einheit, Berlin 2001, S. 118. 44 Ebd. 45 Vgl. SAPMO-BArch, BY/1/2422. 46 Ebd. 47 Ebd.

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auf ihre Seite bringen, mußten sie einerseits die Eintracht der Sozialdemokraten stören und andererseits die „gemeinsame Interessen von Kommunisten und Sozialdemokraten zum Vorschein kommen“ lassen.48 So sollte die SPD gezwungen werden, sich von der CDU zu unterscheiden. Das Godesberger Programm zeigte, daß die herbeigesehnte „Einheitsfront von unten“ gescheitert war, weshalb eine eigene Partei nicht mehr nur ein Gedankenspiel bleiben durfte. Damit änderte sich die Bündnispolitik der KPD. Sie forderte ihre Mitglieder und Sympathisanten nicht mehr auf, die SPD zu wählen, sondern die eigenen Leute in einer neuen Partei. Kapluck überzeugte zuerst Meinhof von der Idee einer neuen Partei, die die Kommunisten in Ostberlin erdacht hatten. Meinhof sei schnell überzeugt gewesen, daß die Deutsche Friedens Union (DFU) in ihrem Sinne sei, und habe auf den Vorsitz für Riemeck gedrängt. Kapluck fuhr daraufhin nach Wuppertal, fing Riemeck auf dem Hochschulgelände ab und erklärte ihr „mit schönem Gruß von Max Reimann und Ulrike“: „Es hilft nichts, du übernimmst den Vorsitz der DFU.“49 Mit der DFU entstand „eine von Anfang an getarnte kommunistische Frontorganisation“.50 Das Rationale der Parteigründung beschreibt Udo Baron: „Als eine Art ,Transmissionsriemen‘ nahm sie die Interessen der verbotenen KPD bis zur Neugründung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik Deutschland wahr.“51 Allein die Tatsache, daß die DFU existierte und derart überwacht wurde, machte sie zu einem wichtigen Spielball der Kommunisten; mit ihr versicherten sie sich ihres Einflusses auf die partei- und wahlpolitischen Entwicklungen links von der SPD.52 Offizielles Ziel der DFU war ein wiedervereintes und neutrales Deutschland sowie die internationale Abrüstung; die politische Achse bildete die Anerkennung der DDR, deren Interessen die Partei in der Bundesrepublik vertrat. Die DFU, deren Wahlkampf Meinhof und konkret so sehr unterstützt hatten, zog mit ihrem Wahlergebnis von 2,2 Prozent nicht in den Bundestag ein. Nicht nur der Mauerbau hatte der Partei die Chance genommen, die Fünf-ProzentHürde zu überspringen. Ulrike Meinhof blieb ihren Lesern eine Meinung zu den Geschehnissen an der innerdeutschen Grenze schuldig. Mit der DFU beteiligten sie und Riemeck sich das einzige Mal an demokratischen Wahlen – und scheiterten dabei. Nach der Wahl erklärten sie die gewählten Machthaber zu ihren Feinden. Indem sie für eine neue, nur in den Parametern des sogenannten Friedenskampfes näher definierte Gesellschaft eintraten, stellten sich die Frauen 48

Ebd. Interview der Verfasserin mit Manfred Kapluck im Juni 2004. 50 Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluß der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ,Die Grünen‘, Münster 2003, S. 38. 51 Ebd. 52 Vgl. Manfred Rowold, Im Schatten der Macht. Zur Oppositionsrolle der nichtetablierten Parteien in der Bundesrepublik, Düsseldorf 1974, S. 145. 49

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gegen die Ordnung des Grundgesetzes. Daß sie sich hierbei in ihre Grenzen verweisen lassen mußten, beispielsweise vom Verfassungsschutz, akzeptierten sie nicht; daß sich das System gegen sie schützen wollte, empfanden sie als antidemokratisch. Allein die Kommunisten versuchten in Meinhofs Augen, den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zu verhindern. Allerdings war die Journalistin durchaus opportunistisch im Sinne Lenins, wenn sie darauf drängte, der KPD so viele neue Mitglieder zuzuführen wie möglich.53 Dabei verfolgte die Partei eine andere Strategie, die vor allem der Illegalität geschuldet war. Nach dem Mauerbau hatte sich zwar ihre Strategie geändert – statt Wiedervereinigung galt es vorerst, die Deutschen in zwei Völker zu spalten, damit sie sich gegenseitig anerkannten und dann von den politischen Zielen des Kommunismus überzeugt werden konnten –, aber die Vorgehensweise blieb bestehen und hieß fürderhin: Volksfront von unten. Dafür fehlte Meinhof das Verständnis. Sie wollte die KPD so schnell wie möglich in die Legalität zurückführen und glaubte, dies gelinge nur, indem die Partei immer neue Leute an sich binde. Die Genossen, die sich dagegen wehrten, wissend, daß die Legalisierung Anfang der sechziger Jahre ganz und gar utopisch war, beschimpfte sie als Sektierer.54 Am Ende des Jahrzehnts, als sich die politischen Zustände der Bundesrepublik für die Kommunisten günstiger darstellten, sollte sich dieses Verhältnis umkehren. Da agierte Meinhof als Sektiererin, die nur geschulte und überzeugte Kommunisten in die Partei lassen wollte; die Partei dagegen öffnete sich breiten Schichten der bald sogenannten Neuen Linken.55

7. Journalistische Erfolge im bekämpften Staat – Schuld als Antrieb Meinhof lebte einerseits für konkret, andererseits für Klaus Rainer Röhl, den sie nach anfänglicher gegenseitiger Abneigung Ende 1961 heiratete. 1962 kamen die Zwillingstöchter zur Welt. Sofort nach der Geburt mußte sie sich einer Gehirnoperation unterziehen. Aus dieser Zeit rühren die Gerüchte, Meinhofs Radikalisierung könnte auch physisch bedingt gewesen sein. 1964 kam es zum Bruch mit der KPD, die bis dahin das Geld für das Blatt verteilt hatte, nun aber keine DDR-kritischen Artikel mehr duldete. Röhl war der Meinung, daß antikommunistisch anmutende Artikel den Vorwurf der kommunistischen Unterwanderung von konkret abwenden würden. Im Juli 1963 beschloß das Politbüro, die Zeitschrift ohne Röhl herauszugeben, den knapp ein 53 54 55

Interview der Verfasserin mit Manfred Kapluck im Juni 2004. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Jahr später die Zentrale Parteikontrollkommission aus der KPD ausschloß.56 Nachdem der Putsch, der Röhl den Posten des Herausgebers streitig machen sollte, mißlungen war, stellten die Genossen aus dem Osten ihre finanzielle Hilfe ein, so daß die Juli-Ausgabe nicht in Druck ging. Unterstützt von SternGesellschafter John Jahr, wohlwollenden Beiträgen des Spiegel und erotischen Themen und Bildern, schaffte das Blatt neue Auflagenhöhen. Hinzu kam ein Aufsehen erregender und öffentlichkeitswirksamer Prozeß, den Franz Josef Strauß gegen Meinhof führte, weil sie ihn in einer Kolumne vom November 1964 als den „infamsten deutschen Politiker“57 bezeichnet hatte. Das Urteil: 600 DM Schadensersatz. Als Einzige in der Redaktion von konkret hielt sie noch fest an den nicht mehr existenten Vorgaben des früheren Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Zeitschrift und KPD. Anders als Röhl hatte sie die Verbindung zur Partei und damit zum kommunistischen Nachbarn nie opportunistisch wahrgenommen. Von Riemeck früh indoktriniert, galt ihr die Bundesrepublik jeher – schon vor dem Anfang bei konkret – als zu bekämpfender Feind. Ihre politische Urteilskraft war mithin nicht schlicht privat, das heißt entweder von Röhl abhängig oder vom jeweiligen Budget der Zeitschrift. Meinhof besaß weder Sinn für die Spielregeln und Institutionen der in der Bundesrepublik existierenden Demokratie, noch sah sie sich in der Verantwortung, Demokratie zu definieren oder etwa die DDR an den Anforderungen von Freiheit und Gleichheit zu messen. Ebenso blendete sie in den deutsch-deutschen Beziehungen alles aus, was die Teilung zementierte. Ihr eigenes Land reduzierte sie zum Lebensende auf zwei Eigenschaften, die sie mit den Parametern der deutschen Schuld gleichsetzte: antikommunistisch und faschistisch. Meinhof kritisierte die Bundesrepublik unaufhörlich, was bedeutete, daß sie die Existenz des Staates anerkannte; sie hatte es nicht verstanden, daß sie sich irgendwann entscheiden mußte, ob sie diesen Staat wollte oder nicht. Sie machte nicht einmal halbherzige Vorschläge, wie sich das Land verbessern ließe. Aber sie war klug genug zu erkennen, daß sie diesen Staat nie wirklich gewollt hatte. Allein vor den Konsequenzen, vor Revolution und Hochverrat, schreckte sie noch einige Jahre und versteckt hinter journalistischer Revolutionsvorbereitung zurück. Meinhof widersetzte sich auf diese Weise nicht nur der Kollektivschuldthese, sondern auch der kollektiven „politischen Haftung“, wie Jaspers sie beschrieben hatte.58 Sie unterschied zwischen Herrschenden und Beherrschten und trennte sie so voneinander, als stünden sie in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Das Volk galt ihr als beherrscht und zur Gefolgschaft verpflichtet. Es sei 56 Vgl. Alexander Gallus, Zeitschriftenporträt: konkret, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 233. 57 Ulrike Meinhof, Krach in Bonn, in: konkret (1964), Nr. 10. 58 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, in: Ders. (Hrsg.), Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979 (1946), S. 25.

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schwach gewesen und habe sich belügen lassen, bis 1945 von Hitler, nach 1945 von der Union. Seit ihrer ersten politischen Arbeit überzeugt, sie müsse verhindern, daß sich das Volk noch einmal betrügen lasse, hatte sie die Schuldigen, vor allem CDU und CSU, bekannt zu machen – „wer die Täter nicht denunziert, denunziert aber die Völker“.59 Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende widmete sich die Journalistin zu Recht der Schuldfrage, wenngleich sie sie mit unterschiedlichem Maß beantwortete. Die Unschuld der Ostdeutschen setzte sie gleich mit der Schuld der Westdeutschen. Die Große Koalition veranlaßte Meinhof, endgültig mit der bundesdeutschen Demokratie zu brechen. Fortan schrieb sie kaum mehr über deutsche Themen, sondern widmete sich mehr und mehr vor allem genuin westdeutschen und internationalen Fragen. Unterstützt von konkret und den Sendeanstalten der ARD, wurde sie zur Vordenkerin jener Debatten, die eine ganze Generation, die sogenannten Achtundsechziger, zu ihren Themen machte: Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und Hochschulreform, Pressekonzentration, Entwicklungsländer, Feminismus und Antiautoritarismus, Antizionismus und Antifaschismus. Von 1964 an arbeitete Meinhof auch für den Hörfunk und wurde bis 1966 landesweit als „streitbare politische Publizistin“ und „Anwältin der sozial Benachteiligten“ bekannt.60 Die Röhls hielten Einzug in Hamburgs „erotische Schickeria“, die fast deckungsgleich war mit der „Schicken Linken“ der Hansestadt. Meinhof nannte sich selbst ein „Revolutionskasperle“ und ließ sich dennoch zum Liebling der „SchiLi“ küren. Wenige Monate nachdem die Röhls 1966 ein Haus in Blankenese gekauft hatten, verließ Meinhof ihren Mann, nahm die Kinder mit und zog nach Berlin. Von Röhl, der sich in Herzensangelegenheiten anderweitig umgesehen hatte, wurde sie im Februar 1968 geschieden.

8. Annäherung an die Gewalt – Studentenproteste in Berlin Berlin stand im Zeichen der Studentenbewegung. Während Jürgen Habermas schon von einem „linken Faschismus“ sprach, ließ Meinhof keinen Zweifel daran, daß sie auf der Seite der Hochschüler bliebe. Anfang 1968 erschien ihr Artikel „Gegen-Gewalt“.61 Fortan stand nicht mehr „der Frieden“ an erster Stelle, fortan war Gewalt für Meinhof auch eine Tugend. Ein solches Unterfangen bedeute für sie „die Gleichstellung von Unterdrückung und dem Protest gegen Unterdrückung“.62 Meinhof versuchte, sich in Berlin zurechtzufinden. 59 60 61 62

Ulrike Meinhof, Kriegsverbrechen Dresden, in: konkret (1965), Nr. 3. Vgl. Becker (FN 9), S. 128. Ulrike Meinhof, Gegen – Gewalt, in: konkret (1968), Nr. 2. Ebd.

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Am Institut für Publizistik der Freien Universität nahm sie einen Lehrauftrag an, lernte vor allem im Republikanischen Club die Achtundsechziger kennen, über die sie eigentlich nur hatte schreiben wollen, und ließ sich zögernd auf die revolutionären Abenteuer dieser Studenten ein. Zumindest physische Gewalt war zu dieser Zeit noch nicht ihre Sprache. 1968 traf sie zum ersten Mal mit den späteren Untergrundkämpfern der Stadtguerilla um Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Berlin zusammen. Von da an radikalisierte sie sich rasch. Der aufsässige Bohemien Baader, seine Freundin Ensslin und zwei Helfer hatten im April 1968 im Frankfurter Warenhaus Schneider einen Brand gelegt – als Feuerzeichen gegen den Krieg in Vietnam und die Konsumgesellschaft. Die Täter wurden verhaftet und verurteilt. In konkret verteidigte Meinhof das Quartett und riet selbst von Brandstiftung ab – mit dem Hinweis auf die „ungeheure Gefährdung der Täter, wegen der Drohung schwerer Strafen“.63 Die Journalistin bekundete nicht nur ihre Solidarität, sondern signalisierte auch ihre Bereitschaft, Straftaten durch Gewalt gegen Sachen zu begehen. Das war ein klarer Bruch mit vergangenen Texten. Vorübergehend auf freien Fuß gesetzt, flohen Baader und Ensslin vor der Polizei. Mit der Verantwortung für die Kinder schien Meinhof nicht zurechtzukommen. Sie bezahlte andere dafür, daß sie ihr den Haushalt führten und auf die Töchter aufpaßten. Dafür machte sie sich einen Namen als Enthüllungsjournalistin und veröffentlichte vornehmlich Reportagen über soziale Mißstände. Sie rechtfertigte in konkret die Springer-Blockade, empörte sich kaum über die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und lehnte schließlich den Posten des Chefredakteurs ab, den Röhl ihr abermals angeboten hatte. Ihren Artikel zur „Warenhausbrandstiftung“ verteidigte sie auf einer Podiumsdiskussion in Hamburg, wo sie sich auf die Pflicht zum Ungehorsam berief. Am 28. September 1968 gründete sich die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Das Programm klammerte alles aus, was zum Verbot der KPD geführt hatte. Meinhof war die Partei nicht radikal genug, sei „ihr doch die Legalität zum Fetisch geworden“.64 Ende April 1969 kündigte sie ihre Mitarbeit bei konkret. Am 7. Mai 1969 machte sich ein Konvoi von Berlin nach Hamburg auf. Den Sturm junger Radikaler auf die Büroräume der Zeitschrift, geplant unter Meinhofs Ägide, verhinderte die Polizei. Stattdessen überfielen sie das Haus, das Meinhof mit Röhl, der dort noch wohnte, gekauft hatte. Obwohl Meinhof zu spät gekommen war, brüstete sie sich im Republikanischen Club mit der Aktion und diffamierte wortgewaltig die Zeitschrift, für die sie kurz zuvor noch geschrieben hatte. So wie sie einst plötzlich die Anti-Atombewegung für konkret eingetauscht hatte, bereitete sie sich nun auf ein neues Wirkungsfeld vor.

63 64

Ebd. Dies., Sozialdemokratismus und DKP, in: konkret (1968), Nr. 15.

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Die Geschichte der Roten Armee Fraktion begann im Nachgang des wilden Treibens in Hamburg.

9. Rückzug in den Untergrund – Gründung der RAF Anfang 1970 standen die Gesuchten Baader und Ensslin als Hans und Grete vor Meinhofs Schöneberger Haustür. Wenig später nahm die Polizei Baader fest. Meinhof zeigte sich von Ensslin beeindruckt, die selbst längst gegen die sogenannten Verhältnisse handelte, während sie noch immer mit Worten für ihre Überzeugungen kämpfte. Von Ensslin, die die Befreiung ihres Geliebten vorbereitete, ließ sie sich problemlos rekrutieren. Waffen kamen ins Spiel. Die Gruppe, zu der nun auch Horst Mahler gehörte, plante Baaders Flucht aus dem Gefängnis Berlin-Tegel. In Frankfurt hatten Ensslin, Baader und andere Erziehungsprojekte für randständige Jugendliche ins Leben gerufen. Meinhof gab vor, mit dem Inhaftierten ein Buch zur „Organisation randständiger Jugendlicher“ schreiben zu wollen, das im Verlag von Klaus Wagenbach erscheinen solle. Nachdem sie einen Autorenvertrag vorgelegt hatte, erhielt Baader die Erlaubnis, gemeinsam mit ihr im Zentralinstitut für Soziale Fragen der Freien Universität zu recherchieren. Baader wurde befreit, Schüsse fielen, alle Beteiligten entkamen und tauchten unter. Fortan fahndete die Polizei nach „Meinhof, Ulrike, geschiedene Röhl“. Die sogenannte Baader-Meinhof-Bande war geboren. Ihr Taufspruch lautete: „Nur in der Illegalität kann man die Illegalität erlernen.“ Peter Homann, Mitbegründer der RAF, nennt diese kurze Phase der Entstehung des terroristischen Bündnisses, „den Anfang vom Ende der Persönlichkeit Ulrike Meinhofs“ und beschreibt, wie schon der kurze Ausflug der Gruppe in ein jordanisches Trainingscamp für Guerillakämpfer zur „totalen Unterwerfung“ der bekannten Journalistin unter das Regime der Baader-Ensslin-RAF führte.65 Für die Medien war Meinhof der Motor der Gruppe, von dem alle kriminelle Energie ausgehen sollten, obwohl in Wahrheit Baader und Ensslin Regie führten, auf deren Befehl fortan alles „unkontrollierbare Private“ beendet werden mußte. Die Unterordnung in „tiefster Freiwilligkeit“, die Ensslin allen Neuzugängen einschärfte,66 verinnerlichte auch Meinhof. Sie verließ ihre Töchter – Ensslin und Baader hatte sich längst von ihren Kindern losgesagt – und übergab der RAF ihre Ersparnisse. Nach den Jahren der „antiautoritären“ Achtundsechziger-Revolte gründete sich nun eine Gruppe, die eine Revolution durch bewaffneten Kampf propagierte. 65 Vgl. Peter Homann, Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, in: Der Spiegel, Nr. 43/2002. 66 Ebd.

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Für Kritik und Unbeugsamkeit hatte diese geschlossene Gesellschaft des Terrorismus keinen Platz. Meinhof, „die Stimme der RAF“, wie Ensslin sie nannte, schrieb vom „Geschwätz“ der Linken, von „Schleimscheißern“, von Sozialarbeitern, „diesem Lumpenpack“.67 Ihr bekanntestes Zitat stammt aus einem Tonband, das sie der französischen Journalistin Michele Ray nach der Befreiung Baaders gab.68 Teile dieses – wenn man so will – ersten Programms der RAF veröffentlichte später der Spiegel: „Wir sagen natürlich, Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“69 Ersetzt man hier Polizisten mit Juden und Uniform mit Kaftan, dann erinnert der Text an das Vokabular des Stürmer im Dritten Reich. Während die RAF vorgab, dem Proletariat mit solchen Aussagen ein Solidaritätsband zu reichen, eignete sich Meinhof bald einen Goebbelsschen Wortschatz an und redete von „Vernichtung, Zerstörung, Zerschlagung“; Baader hielt den „brutal-obszönen“ Jargon der Kriminalität für „proletarisch“. Nach der Befreiung Baaders, einem Moment der Gruppenmoral, der den Einsatz des eigenen Lebens für einen anderen verlangte, gab es für Meinhof kein Zurück mehr. Die Aktion wurde zur besten Gelegenheit für das Abtauchen in den Untergrund. Homann schreibt, daß Meinhof Zweifel hegte und Ende 1970, nach dem Jordanien-Camp, „raus aus dem Terrorismus und rein in die DDR“ wollte. Ost-Berlin bot sogar Hilfe an, doch Baader zog die Pistole und sagte: „Du nicht, Du bleibst hier.“70 So blieb Meinhof und vertiefte sich gänzlich in die Rhetorik von Verfolgungs- und Größenwahn. Die Geiselnahme israelischer Sportler bei den Olympischen Spielen in München im September 1972 und die Israelis, die bei der Befreiungsaktion starben, feierte sie als „materielle Vernichtung von imperialistischer Herrschaft“, als „Akt der Befreiung im Akt der Vernichtung“.71 Klingt wie Goebbels, klingt wie Bin Laden, ist aber von Meinhof. Es folgten zwei Jahre im Untergrund – mit Banküberfällen und Stadtguerilla, mit bewaffnetem Kampf und Konspiration. Meinhof verfaßte Selbstbezichtigungsschreiben für die mörderischen Taten. Immer gab die RAF vor, zum Wohle der Menschheit gehandelt zu haben. Die Polizei faßte schließlich die RAF-Terroristen der ersten Generation, es folgte der Stammheimer Prozeß, der die Bundesrepublik in Lager spaltete – Abscheu gegenüber den Terroristen auf der einen Seite, Romantik und Märtyrertum für die Terroristen auf der anderen. 67

Ebd. Bis irgendwohin, in: Der Spiegel, Nr. 25/1970. 69 Ulrike Meinhof, Natürlich kann geschossen werden, in: Der Spiegel, Nr. 25/ 1970. 70 Homann (FN 65). 71 Zitiert nach ebd. 68

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Neue Kader wuchsen nach, brutaler als die alten, und versetzten mit skrupelloseren Aktionen die Republik in Angst. Sie erreichten, was sich der Terrorismus selbst abverlangt – eine kleine Gruppe zwang einen mächtigen Staat in die Knie, wenn auch nur wenige Augenblicke lang. Rückhalt bekamen sie aus dem Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Dort bastelten Baader und Ensslin an ihrer Märtyrerlegende. Ensslin unterstrich in Bertolt Brechts Maßnahme den Satz: „Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es Not tut.“ Fortan war der Körper die einzige Waffe der Inhaftierten, die den Staat mit Hungerstreiks politisch bekämpfen wollten. Meinhof siechte in der Haft dahin, bald ohne Kraft für glühende Worte und ihre Sprachpeitsche; sie hörte Ensslin und Baader klagen, daß sie die Revolution verrate. Meinhof wurde klar, daß sie dem bürgerlichen Teil ihres Vorlebens nicht mehr entkommen konnte. War der bewaffnete Kampf zu kurz, nicht erfolgreich genug? Sie verurteilte sich selbst: „[Ich bin] eine scheinheilige Sau aus der herrschenden Klasse, das ist einfach die Selbsterkenntnis.“72 So klingt die Ankündigung ihres Selbstmordes in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1976.

10. Umkehr ausgeschlossen – Selbstmord als Ausweg Der kollektive Irrsinn, gesalbt mit Avancen an das Proletariat, das freilich nur negativ reagierte, galt weiter als politisch. Die Sympathisantenszene lebte dort fort, wo sich die Exponenten von 1968 heute wieder finden – in den Medien, der Kunst, den Hochschulen und Großkonzernen. Niemand stößt schließlich gerne die Götter der eigenen Jugend vom Podest. Meinhof war die verirrte Gefangene in der terroristischen Glitzerwelt. In der Zeit der RAF dachte und sprach sie noch kategorischer, löschte das bißchen Grau aus ihren Gedanken, färbte das Weiß noch weißer und das Schwarz noch schwärzer, bis letztlich keine Widersprüche, kein Sowohl-als-auch ihre Meinungen umstimmen und ihre Entscheidungen kippen konnten. Endlich am Ziel, angekommen im bewaffneten Kampf, entledigt der wohlklingenden Worte, ganz und gar verstummt außer dem Gebrüll der Pistolen und Bomben, das sie noch übersetzte, wirkte sie, als sei sie auf der Suche nach einem letzten Vorwurf an sich selbst. Es schien, als finde sie unverzeihlich, daß sie als Kind und als junge Erwachsene die Welt nicht mit den Augen einer Terroristin gesehen hatte, daß es für sie überhaupt jemals einen Kompromiß zwischen schwarz und weiß hatte geben können. Niemals, so auch jetzt nicht, erkannte sie an, daß Fehler das Leben begleiten. Die eigene Ohmacht projizierte sie auf die Gesellschaft, die sich – genauso machtlos – gar nicht ändern konnte. Ihren Freitod verbinden die einen bis heute

72

Zitiert nach Stefan Aust, Der Baader Meinhof Komplex, München 1998, S. 299.

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mit dem Eingeständnis des eigenen Scheiterns, die anderen wollen darin den Ansporn für die Nachfolger spüren. Sie wollte Platz für die machen, die weiterkämpfen sollten und wert waren, gehört zu werden. Eine frische linke Kraft bahnte sich derweil den Weg durch die Gesellschaft. Während sich Meinhof und die anderen Terroristen an Menschenleben vergriffen, postulierten die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen die Menschenrechte. Aber diesen Gestaltungswillen verstand Meinhof nicht mehr.

Autoren Michael Böhm (Berlin) hat eine Dissertation über Kontinuität und Wandel des französischen Rechtsintellektuellen Alain de Benoist verfaßt. Alexander Dassen (Berlin) schreibt an einer Studie zur Frage nach den Gründen für den Erfolg der PDS im Osten des Landes. Lars Flemming (Chemnitz) hat eine Dissertation zum Verbotsverfahren gegen die NPD publiziert (Nomos Verlag). Ralf Grünke (Erlangen) hat eine Dissertation zum Verhalten der Union und der SPD gegenüber der Partei der „Republikaner“ vorgelegt (Nomos Verlag). Sophie Guggenberger (Freiburg) prüft am Beispiel der Schweiz die Frage, ob und inwiefern direktdemokratische Elemente die Chancen des politischen Extremismus schwächen. Henning Hansen (München) hat eine Dissertation zur Geschichte der Sozialistischen Reichspartei publiziert (Droste Verlag). Florian Hartleb (Chemnitz) hat eine Dissertation zum Populismus der PDS und der Schill-Partei verfaßt (VS Verlag für Sozialwissenschaften). Jana Kausch (Chemnitz) hat in ihrer Dissertation die Rolle der Freien Deutschen Jugend bei der Dritten Hochschulreform am Beispiel von Chemnitz erörtert. Frank König (Erlangen) hat sich mit der institutionalisierten „Erinnerungslandschaft“ im vereinigten Deutschland auseinandergesetzt (Tectum Verlag). Verena Küstner (Erlangen) schreibt an einer vergleichenden Diskursanalyse über den Umgang mit dem Linksterrorismus in den siebziger Jahren und der Fremdenfeindlichkeit in den neunziger Jahren in den Debatten des Deutschen Bundestages. Anita Maaß (Chemnitz) hat die Arbeit des Dresdner Stadtverordnetenkollegiums vom Ende des Kaiserreiches bis zum Beginn des Dritten Reiches analysiert. Stefan Mayer (Berlin) schreibt an einer Dissertation über die Deutsche Volksunion und ihr kommerzielles Netzwerk. Andreas Morgenstern (Bonn) hat in seiner Dissertation Unterschiede wie Gemeinsamkeiten zwischen extremistischen und radikalen Parteien herausgearbeitet (Wissenschaftlicher Verlag Berlin).

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Autoren

Tim Peters (Brüssel) hat eine Dissertation zur Rolle des Antifaschismus bei der PDS vorgelegt (VS Verlag für Sozialwissenschaften). Jörg Pfeifer (Chemnitz) hat die Frage untersucht, ob sich bei der friedlichen Revolution 1989/90 ein „Berliner Weg“ von einem „Dresdner Weg“ unterscheiden läßt. Sebastian Prinz (Berlin) analysiert die Programmdebatte in der PDS bis zur Verabschiedung des Grundsatzprogramms im Jahr 2003. Heike Schmidt (Rostock) hat in ihrer Dissertation die Familienpolitik der SED bis 1989 untersucht (Wissenschaftlicher Verlag Berlin). Thomas Schubert (Chemnitz) hat eine Dissertation über Wirtschaftspolitik in den sächsischen Landtagswahlen von 1990 bis 2004 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der PDS im Vergleich zur CDU und SPD geschrieben. Solveig Simowitsch (Rostock) hat in ihrer Dissertation den Wechsel von vier deutschen Sozialdemokraten hin zum Kommunismus untersucht (Wissenschaftlicher Verlag Berlin). Olaf Teichert (Kassel) schreibt eine Dissertation über die Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins. Tom Thieme (Chemnitz) hat eine Dissertation zu parteipolitischen Formationen des Extremismus in Ostmitteleuropa und Rußland vorgelegt (Nomos Verlag). Johannes Urban (Chemnitz) hat eine Dissertation zur Bekämpfung des Internationalen Islamistischen Terrorismus durch die Bundesrepublik Deutschland publiziert (VS Verlag für Sozialwissenschaften). Kirstin Wappler (Dresden) hat eine Dissertation zum Verhalten des SED-Staates gegenüber Christen im katholischen Eichsfeld und im protestantischen Erzgebirge veröffentlicht (Mecke Verlag). Kristin Wesemann (Schwerin) hat eine Biographie über Ulrike Meinhof verfaßt (Nomos Verlag).

Personenverzeichnis Ackermann, Anton 418 Adenauer, Konrad 129, 132, 512, 517 Adler, Hans-Henning 293 Agnoli, Johannes 431 Ahrens, Dietmar 434, 440, 442 Albes, Andreas 95, 106 Almond, Gabriel Abraham 235 Amaudruz, Gaston-Armand 117 Andreae, Clemens-August 388 Apfel, Holger 83 Aristoteles 107 f. Assmann, Aleida 201 Assmann, Jan 201 Baader, Andreas 215, 226 f., 512 f., 528–531 Backes, Uwe 37, 39 f., 90–92, 116, 128, 258 f., 261 f., 280, 390 Badura, Peter 318 Balzer, Monika 353 Bardèche, Maurice 30 Baron, Udo 524 Barthel, Walter 431, 435, 440 Bartl, Klaus 393, 401 Bartsch, Dietmar 349 Baum, Hans 141 Bebel, August 363 Beck, Kurt 206 Becker, Jillian 513 Beckstein, Günther 70, 73 f., 77, 81, 198, 208 Behrend, Katharina 94, 100 Behrens, Fritz 75 Beinert, Heinz 434 Benjamin, Hilde 366 Benjamin, Michael 361 Benoist, Alain de 13 f., 23 f., 27–43

Benz, Wolfgang 192, 198 Berghofer, Wolfgang 328–330, 333 f., 336 Bergsdorf, Harald 90, 105, 359 Berlusconi, Silvio 147, 151 Beust, Ole von 156 Bickhardt, Stephan 327 Birthler, Marianne 489 Bisky, Lothar 45, 59, 158, 161–163, 165, 167, 346, 349, 353 f. Blocher, Christoph 15, 110, 119 f., 123, 147 Böhm, Franz 315 Böhm, Michael 14, 23 Bonaparte, Charles Louis 149 Bonaparte, Napoleon 149 Borm, William 440 Bosbach, Wolfgang 77 Bossi, Umberto 147 Böttge, Bruno 415 f. Brandt, Tino 77 Brandt, Willy 523 Brasillach, Robert 30 Brecht, Bertolt 520, 531 Brie, André 159, 161, 289 f., 309, 348 f., 352–254 Brie, Michael 301, 311 f., 349, 352, 354, 359 Brombacher, Ellen 361 Broß, Siegfried 79 Brüning, Heinrich 241 Brussig, Thomas 347 Bubis, Ignaz 198, 208 Buchwitz, Otto 415 f., 421, 424 Bulling-Schröter, Eva 315 Bürger, Kurt 416 f. Busch, Wilhelm 320 Bush, George Walker 12 Butterwegge, Christoph 279, 313

536

Personenverzeichnis

Canu, Isabelle 212 Carstens, Karl 215 Christiansen, Sabine 160 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 515, 523 Clement, Wolfgang 71 Dahrendorf, Gustav 414 Damerow, Peter 429 Danelius, Gerhard 427, 430–436, 440 Danker, Uwe 106 Dassen, Alexander 14, 45 Deckert, Günter 69, 76 Dehm, Dieter 293, 358 Dienel, Thomas 77 Diepgen, Eberhard 72 Dietzel, Horst 345 Dietzfelbinger, Eckart 195, 198, 206 Di Fabio, Udo 80 Distler, Jürgen 78 Ditfurth, Christian von 346 Diwald, Hellmut 98 Döllig, Irene 383 Dorls, Fritz 134, 138, 141 f., 144 f. Dorna, Alexandre 152 Dutschke, Rudi 431–433, 440, 442 f. Dybowski, Günter 184 f. Eisenecker, Günter 81 Engels, Friedrich 355 Ensslin, Gudrun 512, 528–531 Enzensberger, Hans Magnus 441 Eppelmann, Rainer 324 Erhard, Ludwig 316 Erler, Fritz 523 Ernst, Klaus 314 Eucken, Walter 315, 388 Everts, Carmen 100, 104, 351 Falter, Jürgen 347 Fascher, Eckhard 101 Feske, Klaus 433 f. Festge, Hans-Henning 134

Fichter, Tilman 350, 353 Fijalkowski, Jürgen 110 Flechtheim, Ossip K. 280, 441 Fleck, Roland 206 Flemming, Lars 14 f., 67 Förster, Karl Theodor 139, 141 Fortuyn, Pim 147 Foucault, Michel 17, 213 f., 229 Fraenkel, Ernst 389 Frenz, Wolfgang 74–77, 85 Frey, Gerhard Michael 17, 86, 99 f., 103 f., 255–257, 263–265, 267 f., 274–277, 293, 297 Frick, Wilhelm 411 Friedman, Milton 387 Frischknecht, Jürg 114, 120 Fromm, Heinz 75 Fuchs, Anke 156 Gäng, Peter 435 Gaulle, Charles de 24 f., 28–30 Gehlen, Arnold 33 Geißler, Rainer 366 Gerner, Manfred 391 Giddens, Anthony 402, 404 Giessler, Gisela 428, 443 Glaser, Hermann 194 Gniffke, Erich W. 413 Gorbatschow, Michael 450 Gossa, Angelika 439 Gramsci, Antonio 23, 308–311 Gramse, Peter 439 Grandke, Anita 365, 371, 376 Greiffenhagen, Sylvia 200 Griffith, Samuel B. 479 Grimm, Dieter 284 Grotewohl, Otto 414 f., 419 Grube, Michael 77 Grünke, Ralf 15, 21, 89 Guevara, Ernesto 285 Guggenberger, Sophie 15, 107 Gysi, Gregor 16, 148, 158–167, 295, 298, 333, 344, 346–348, 350, 353, 357 Gysi, Klaus 158

Personenverzeichnis Habermas, Jürgen 527 Hagen, Carl 147 Haider, Jörg 147 Hameister, Hans-Joachim 435 Handlos, Franz 89, 92–96, 99 f., 106 Hansen, Henning 15, 127 Hartleb, Florian 16, 147 Hassemer, Winfried 79 Hättich, Manfred 405 Haug, Wolfgang Fritz 312 Hayek, Friedrich A. 314, 387, 390 Heckert, Fritz 182 Hefty, Georg Paul 94 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 107 Hein, Rosemarie 289 Heitmann, Steffen 334 Heller, Fritz 145 Helwig, Gisela 382 f. Henke, Klaus-Dietmar 346 Hennig, Eike 21, 101 Henschel, Jürgen 430 Herder, Johann Gottfried 98 Herger, Wolfgang 187 Hermet, Guy 149 Heuer, Uwe-Jens 361 f. Hiksch, Uwe 293 Hirsch, Burkhard 216 Hitler, Adolf 77, 192, 511 f., 514 f., 517, 527 Hobbes, Thomas 107, 283 Hoffmann, Heinrich 415 f., 421, 424 Hoffmann, Karl-Heinz 194 Hoffmann-Riem, Wolfgang 154 Holter, Helmut 349 Holtmann, Udo 76 f., 85 Homann, Peter 529 f. Honecker, Erich 374, 380, 500 Honecker, Margot 504 Hurwitz, Harold 418 Inglehart, Ronald 48–50, 61 Jäckel, Hans 176 Jahr, John 526

537

Jaspers, Karl 526 Jelpke, Ulla 302 Jelzin, Boris 454 Jentsch, Hans-Joachim 75 f., 80 Jesse, Eckhard 11, 90, 94, 100, 105 f., 116, 155, 258 f., 280, 297, 319 Jesse, Willi 424 Joanni, Heinz 142 Jungmann, Erich 142 Junod, Pascal 117 Kaase, Max 212 Kailitz, Steffen 94, 100 f., 104 Kaplan, Metin 471 Kapluck, Manfred 520–522 Karl, Xaver 412 f. Käs, Christian 105 Katzenstein, Robert 313 f. Kausch, Jana 16, 169 Kieserling, Manfred 101 Kipping, Katja 385 Kirchner, Rolf 101 Kirkpatrick, Ivone 132 Kjärsgaard, Pia 147 Klaus, Manfred 186 Klein, Dieter 349, 352 Klönne, Arno 358 Kniestedt, Karl-Heinz 440 Koch, Roland 72 Kohl, Helmut 335 Kohl, Rudolf 142 König, Frank 16, 191 König, Jens 159 Krenz, Egon 336 Kreutzmüller, Christoph 200 Kriesi, Hanspeter 116 Kuby, Clemens 434 Kühnl, Reinhard 313 Külz, Wilhelm 231, 241, 253 Küpper, Mechthild 347 Kurras, Karl-Heinz 429 Kusch, Roger 156 Kuster, Bruno 433 f., 442 Küstner, Verena 16, 21, 211

538

Personenverzeichnis

Lafontaine, Oskar 163, 167, 294, 298 Lang, Jürgen 344, 354, 356, 390 Langer, Eberhard 393 Langguth, Gerd 354 Layer, Mike 77 Lefévre, Wolfgang 429, 434 f., 440 Lehr, Robert 129, 133 Leithäuser, Johannes 345 Lenin, Wladimir Iljitsch 107, 308, 449, 513, 520, 525 Le Pen, Jean Marie 147 Lieberam, Ekkehard 353 Liedtke, Gerhard 195 Lijphart, Arend 113 Limbach, Jutta 79 Lipset, Seymour Martin 37 f. Lorenz, Kerstin 89, 105 Lorenz, Konrad 23 Lötzer, Ulla 353 Löw, Konrad 347 Lüdemann, Hermann 414, 424 Luppe, Hermann 205 Lutz, Thomas 209 Maaß, Anita 17, 231 Machiavelli, Niccoló 107 Mahle, Hans 436, 440 Mahler, Horst 74, 81, 434 f., 440 f., 529 Maly, Ulrich 198, 203, 206 Mann, Heinrich 283 Mannheim, Karl 282 Mao Tse-tung 520 Marquardt, Angela 361 Marx, Karl 107, 289, 355, 449 März, Peter 207 f. Maurer, Ueli 119 Maurras, Charles 27, 35 Mayer, Stefan 17, 255 McCarthy, Joseph Raymond 138 Meckel, Markus 202, 325 Meier, Lüder 279 Meier, Mathias 77 Meinhof, Ingeborg 513 f.

Meinhof, Ulrike 13, 21, 215, 226 f., 511–522, 524–532 Mellinghoff, Rudolf 80 Menzner, Dorothée 353 Merz, Friedrich 72, 77 Meschkat, Klaus 435 Mettbach, Mario 156 f. Meyenburg, Herbert von 410 Meyer, Thomas 352, 404 Michels, Marko 421 Milbradt, Georg 82 Minkenberg, Michael 280 Modrow, Hans 328, 331–334, 336, 338 Möller, Horst 198 Moltmann, Carl 19 f., 407–424 Moltmann, Karl 417 Moreau, Patrick 160, 162, 354, 391 f., 405 Morgenstern, Andreas 17 Morlok, Martin 260 Müller, Dirk 440 Müller, Peter 72, 77 Müller, Werner (Professor) 21 Müller, Werner (Minister) 75 Müller-Armack, Alfred 388, 404 Mußgnug, Martin 76 Neu, Viola 319, 347, 391, 405 Neubacher, Bernd 100 Neubauer, Harald 99 Neubauer, Kurt 433 Neubert, Ehrhart 325 f., 340 Neubert, Frank 336 Neubert, Harald 309 f. Neugebauer, Gero 90, 347, 357, 390 Neuss, Wolfgang 441 Nevermann, Knut 440 f. Nida-Rümelin, Julian 198 Niebuhr, Reinhold 281 Niedermayer, Oskar 297 Nietzsche, Friedrich 14, 27–31, 42 Niggli, Peter 120 Nolte, Paul 317 Norden, Albert 432

Personenverzeichnis Obertreis, Gesine 372 Obszerninks, Britta 104 Ohnesorg, Benno 429 f., 433 Opitz, Reinhard 522 Osterloh, Lerke 79 Pätzold, Kurt 313 Pau, Petra 306 Peters, Tim 18 Pfahl-Traughber, Armin 94, 100 f., 104, 391 Pfeifer, Jörg 18 Pflugbeil, Sebastian 325 Pillar, Paul R. 477 Platon 520 Plessner, Helmut 33 Poppe, Gerd 338 Porsch, Peter 82, 394–396, 398, 400 f., 403 Prinz, Sebastian 18 Probst, Lothar 346 Ptak, Ralf 314 Putin, Wladimir 445 Raab, Earl 37 f. Rabehl, Bernd 432, 434 Ramelow, Bodo 163, 385 Raschke, Joachim 153 Rau, Johannes 203 Rauschning, Hermann 517 Ray, Michele 530 Redmann, Emil 437 Rehse, Hans-Joachim 437 Reimann, Max 524 Remer, Otto Ernst 134, 137 f., 141, 145 Richter, Frank 328 Richter, Franz 134 Richter, Frithjof 105 Richter, Michael 339 Riege, Gerhard 361 Riemeck, Renate 21, 512–515, 517, 519, 521, 524, 526 Ritter von Lex, Hans 145 Roeder, Manfred 138 f.

539

Rohe, Karl 236 Röhl, Klaus Rainer 519 f., 525–527 Rollet, Maurice 26 Romanow, Peter Alexejewitsch 448 Rößler, Fritz 134 Rousseau, Jean Jacques 23, 107, 282 Rudel, Hans-Ulrich 138 Rudert, Walter 432 Rump, Bernd 356, 403 Rürup, Reinhard 198 Salvatore, Gaston 431 Schäfer, Hermann 198 Schapper, Claus Henning 76 Schill, Ronald Barnabas 16, 148, 152– 157, 164–168 Schily, Otto 71, 73, 76, 81 Schirmer, Gregor 359 Schlesinger, Klaus 196 Schlierer, Rolf 89, 101–106, 275 Schmidt, Heike 19, 21 Schmitt, Alexander 200 Schnapauff, Klaus-Dieter 75 Schneider, Oskar 198 f., 206, 208 Schnell, Bruno 201 Schöllgen, Gregor 197 f. Scholz, Ludwig 197, 203, 207 Schönhuber, Franz 89, 95, 99–101, 105 f., 275 Schönlein, Peter 195 Schröder, Gerhard 68 f., 71, 397 Schröder, Richard 346 Schubert, Thomas 19 Schumacher, Kurt 137 Schumann, Kurt 491 Schütt, Peter 281 Schutz, Albert 413–415, 419, 424 Schütz, Klaus 433 Schwanitz, Wolfgang 332 Seifert, Jürgen 515, 517 f. Semler, Christian 435 Simowitsch, Solveig 19, 21 Sobeslavsky, Erich 339 Sommer, Bertold 79 f.

540

Personenverzeichnis

Sonnenberger, Franz 195–197, 199, 201 f., 207 f. Spehr, Christoph 301 Springer, Axel 433, 528 Stalin, Josef 418, 448 Sternberger, Dolf 107 Stiegler, Ludwig 77 Stöss, Richard 95, 101, 357, 390 f. Strauss, Claude-Levi 23 f., 33, 35 Strauß, Franz Josef 526 Sturm, Roland 21 Szczepanski, Carsten 77 Taguieff, Pierre-André 33 Täubrich, Hans-Christian 203, 209 Teichert, Olav 20 f. Thadden, Adolf von 145 Thaysen, Uwe 330 Thieme, Tom 20, 390 Thomczyk, Stephan 104 Thompson, Harold Keith 138 Tils, Ralf 153 Tixier-Vigancourt, Jean-Louis 24 Trittin, Jürgen 70 Tsatsos, Dimitris Th. 260 Tschersich, Hermann 172 Tschombé, Moise 429 Ulbricht, Walter 171, 369 f., 374, 380, 414, 419 Ullmann, Wolfgang 159, 337 Urban, Johannes 20 Vaatz, Arnold 330, 335 f. Veen, Hans-Joachim 279

Verba, Sidney 235 Villiger, Kaspar 113 Vogel, Hans-Joachim 202, 206 Voigt, Eckehard 95 Voigt, Udo 69, 83, 86, 276 Wagenbach, Klaus 529 Wagenknecht, Sahra 160, 358, 360 Wagner, Herbert 336 Wagner, Ingo 359 Wappler, Kirstin 21 Warnke, Hans 411 Wassiljewitsch, Iwan IV. 448 Weber, Max 147 f., 151 Weiss, Christina 208 Weiß, Konrad 321, 341 Weller, Walter 434 Wellinghausen, Walter 155 f. Werner, Harald 359 Wesemann, Kristin 21 Westarp, Wolf Graf von 134, 138 f., 141 Wilke, Manfred 346, 348 Winters, Peter Jochen 346 Witteborn, Hermann 414 Wolf, Markus 332 Wolf, Winfried 352 f., 360, 362 Wolfrum, Edgar 191 Zeiss, Carl 182 Zeller, Eduard 107 Zetkin, Clara 363 Ziegler, Erich 433 Ziemer, Christof 328 Zimmer, Gabriele 162, 167, 352, 355