Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung: Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik [1 ed.] 9783428473175, 9783428073177

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Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung: Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik [1 ed.]
 9783428473175, 9783428073177

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DAVID BOSSHART

Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 63

Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik

Von

Dr. David Bosshart

Duncker & Humblot . Berlin

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Sommersemester 1990 auf Antrag von Prof. Dr. Hermann Lübbe als Dissertation angenommen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bosshart, David: Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung : Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik / von David Bosshart. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 63) Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07317-7 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-07317-7

Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................

5

A. Bemerkungen zur Totalitarismusthematik: Politische Philos~phie, methodische Skizzen und differenzierende forschungstechnische Uberlegungen

12

I. Das Problem der intellektuellen Kultur ...................................

15

11. Die Methode der Schlüsselbegriffe und der Totalitarismus ..............

21

III. Fragestellungen, begriffliche Untersuchungen und Klassifikationen.....

41

1. Argumentationstypen und Thesen ......................................

42

2. Formal-k1assifikatorische Typen ........................................

54

3. Begriffliche Ergänzungen...............................................

60

4. Überleitungen ............................................................

64

B. Die Herausbildung von vier totalitarismuskritischen Hauptströmungen in den dreißiger Jahren........................................................

66

p?litische ~nd p~i1osophische Kontext der dreißiger Jahre: Zwischen "cnse und "cIoture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

1. Krisenbewußtsein und Brüche ..........................................

66

2. Der intellektuelle Generationenwechsel und die Führungsleere ......

73

3. Die Neudefinition des intellektuellen Engagements und Bendas frühe Warnung .................................................................

74

4. Der Einfluß der deutschen Philosophie und die unüberschätzbaren Konsequenzen der Hegel-Seminare von Kojeve ......................

76

5. Überleitungen: Hauptströmungen und Hauptphasen ............ ......

81

I.

De~

11. Der linke Antitotalitarismus: Boris Souvarine und der Weg von der fallibi-

listischen Linken zur Desillusionierung gegenüber der Reformfähigkeit des Totalitarismus ..........................................................

83

1. Der Weg über die stalinistischen Erfahrungen ........................

85

2. "Kritisch-rationalistischer Marxismus" als lemfähige politische Linksintellektualität ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

3. Faschismus und Kommunismus: Ein komplexes Wechselverhältnis zwischen zwei Totalitarismen ..........................................

97

4. Interessante Einzelbeobachtungen ......................................

100

5. Zusammenfassung............... ........................................

103

Inhaltsverzeichnis

6

III. Die liberale Totalitarismuskritik: Raymond Aron und die stets neu zu gewinnende Liebe zur politischen Demokratie ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

1. Das Gesamtwerk: Die Skizze eines differenzierten totalitarismuskritischen Programms ........................................................

105

IV.

2. Halevy und der Totalitarismus .........................................

111

3. ,,Religions seculieres" ...................................................

118

4. Liberalismus und Sozialismus und zusammenfassende Bemerkungen..

124

~ie literari~~~-philosophisc~e Totalitarismuskritik: Georges Bataille und dIe DestabIhsIerung von Prasenz ..........................................

127

1. Hegel-Kojeve und Nietzsehe oder das Ende des Systems und die Subsistenz einer arbeitslosen Negativität ..............................

128

2. Vom traditionell politischen Engagement zum Heiligen und Ästhetischen als irrekuperablem transzendentem Gegenpol in einer nachgeschichtlichen Präsenzgesellschaft ....................................

134

3. Bataille, der Faschismus und der Kommunismus .....................

144

a) Die Distanz zum Marxismus und die Unversöhnbarkeit zwischen Marx und Freud .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . ..

144

b) Die unproduktive "depense" ........ ................................

145

c) "l'etat totalitaire" ....................................................

147

4. Die Ambivalenz des Faschismus und das Heterogene................

149

5. Zusammenfassung............... ................. .......................

156

V. Die sozialkatholische Totalitarismuskritik: Emmanuel Mounier und die distanzierte Annäherung an die Modeme durch den Dritten Weg.......

158

1. Wider,,Le desordre etabli": Der kulturkritische Ausgangspunkt .....

162

2. Primat des Spirituellen und die notwendige Dritte Revolution .......

166

3. Politische Philosophie, Demokratie und Totalitarismus ...............

172

a) Demokratiebegriffe ............ :.....................................

173

b) Faschismus und Konservative Revolution und die Frage nach dem antitotalitären Potential ..............................................

175

c) Die Linke, der Marxismus und der Kommunismus ...............

178

4. Zusammenfassung........ .................. ............ .................

181

VI. Souvarine, Aron, Bataille und Mounier: Ein Vergleich der vier traditionsbildenden totalitarismuskritischen Hauptströmungen .....................

182

1. Hauptpunkte und Konvergenzen: Staat und Religion .................

182

2. Entstehung und Leitdifferenzen ........................................

185

3. Klassikerreferenz, Methoden und Stärken ...... ... ................. ...

188

4. Konklusionen...... .................. ......... ... ......... ...... .........

191

C. Die Kontinuitätslinien der vier Hauptströmungen .........................

193

I. Anhang zu B.II.: Das Spektrum des linken Antitotalitarismus ..........

193

1. "Socialisme ou Barbarie" , Comelius Castoriadis und Claude Lefort ....

194

a) Socialisme ou Barbarie ..............................................

194

Inhaltsverzeichnis

7

b) Claude Lefort und die Suche nach einer linken antitotalitären Demokratietheorie ..........................................................

194

c) Comelius Castoriadis und die Entwicklung des Totalitarismus zum stratokratischen Nihilismus ..........................................

200

2. ,,Arguments" und Edgar Morin .........................................

204

a) ,,Arguments" und die anthropologische Öffnung der exstalinistisehen Linken .........................................................

204

b) Edgar Morin und die Entwicklung einer komplexen Systemtheorie als Analyseinstrument für den Totalitarismus ......................

206

3. Das totalitarismuskritische Potential des "Gauchismus" ..............

209

4. Claude lulien: "Tiers-Mondisme" und Antitotalitarismus ............

212

II. Anhang zu B.l/I.: Das Spektrum der liberalen Totalitarismuskritik .....

213

1. ,,Preuves": Die sozial-liberale Totalitarismuskritik ....................

214

2. "Commentaire": Die volliberale Totalitarismuskritik ........... ......

217

Revel: Demokratie und Kritik oder Totalitarismus und französische Philosophie ................................................

223

3.

lean-Fran~ois

4. Luc Ferry und Alain Renaut: Politischer Neoneukantianismus und die transzendental-dialektisch methodisierte Kritik totalitärer Denkungsart 225

5. Raymond Polin versus Claude Polin: Mit der liberalen Wertephilo-

sophie von Hobbes und Nietzsehe gegen den totalitären Geist . . . . . .

230

6. Totalitarismus und Individualismus ....................................

240

a)

~~uis Dumont: Totalitarismus als Resultat mißlungener IndividualiSierung .............. ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

b) Alain Laurent: Totalitarismus als primärer Antiindividualismus III.

243

~nhang ~~ B.

N.: Das Spektrum der literarisch~philosophischen Totalitansmuskritlk ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. lules Monnerot und die Abtrünnigkeit zur alten politischen Welt ...

246

2. Michel Foucault und die sozial-kulturelle Elargierung der Totalitarismuskritik auf der Basis eines resubstantialisierten Machtbegriffs ....

248

3. Gilles Deleuze und Felix Guattari: Eine Einführung in das nicht faschistische Leben ............................................................

251

Lyotard: Narrativer Libidogauchismus gegen die totalitäre Versuchung der Faszination des Kapitals.........................

255

IV. Anhang zu B. V.: Bemerkungen zur sozialkatholischen Totalitarismuskritik .........................................................................

260

D. Verspätete Normalität und illiberale Totalitarismuskritik mit liberalisierender Wirkung ................................................................

262

Literaturverzeichnis

274

4.

lean-Fran~ois

Einleitung "Totalitarismus" wird in der vorliegenden Arbeit weder nur als empirischwissenschaftliches Arbeitskonzept verstanden, das für die Analyse politischer Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts auf seine positivistische Tauglichkeit hin zu überprüfen wäre. Aber "Totalitarismus" wird ebensowenig nur in seiner Bedeutung als philosophisch-spekulativer Begriff untersucht und als einer der vielen Beiträge zur modernen Metaphysik(kritik) oder Aufklärungs(kritik) eingereiht. "Totalitarismus" wird auch nicht nur auf seine - zweifellos interessante Funktion hin analysiert, die er als Kampfbegriff in intellektuellen Debatten oder direkt in der politischen Arena der Politiker spielt. "Totalitarismus" wird schließ~ lich auch nicht nur als ein bedenkenswertes Phänomen verstanden, das sich vorwiegend in literarischen Texten reflektiert und in Erzählform wiedergegeben wird. Und "Totalitarismus" kann auch nicht nur dort gesichtet werden, wo der Begriff wörtlich immer wieder auftaucht. Man kann auch Totalitarismus meinen, ohne ihn so zu nennen. Die vielfach bestehende Distanz zum Begriff des Totalitarismus läßt sich allerdings nur historisch erklären. Für die Zwecke der Arbeit wichtig ist nur: zu rigide (fachliche) Verengungen der Sichtweise würden die Sichtweite vorschnell einschränken, die eine Übersichtsarbeit zu bieten hat. Und damit wäre der Sache nicht gedient. Der Begriff oder das Wort "Totalitarismus" scheint seine Unabdingbarkeit und Nützlichkeit einem intellektuellen Mehrwert zu verdanken, der sich weder empirisch-wissenschaftlich (angemessene Deskription eines Phänomens), noch philosophisch-konzeptuell (Spekulationen über einen Neologismus), aber auch nicht nur literarisch-narrativ (in Form von z. B. Romanen oder Science Fiction) einfangen läßt. Daß Orwell und Solschenizyn, oder auch Sinowjew und Huxley etwas über den Totalitarismus zu sagen haben, dürfte unbestreitbar sein. Daß Hannah Arendt oder earl J. Friedrich klassische politische Analysen des Phänomens formuliert haben, wird jedem deutlich, der sich mit der Thematik beschäftigt. Und daß sich der Begriff oder das Wort vollständig entpolitisieren und so neutralisieren ließe, dürfte kaum zu erwarten sein - und zwar unabhängig von geschichtlichen Entwicklungen und empirischen Tatsachen. Eine seiner Stärken liegt in der Unmöglichkeit, ihn definitiv zuzuordnen. "Totalitarismus", so könnte man sagen, besetzt viele Schnittstellen zwischen Philosophie und Politik, und er interessiert verschiedenste Bereiche des Wissens und des Handeins. Die spezielle Stellung der Thematik läßt sich auch daran ablesen, daß derjenige, der sich auf sie einläßt, sich zumeist direkt oder indirekt auf ein philosophisch oder philosophisch-politisch begründetes Engagement be-

10

Einleitung

zieht (wie z. B. auf die Menschenrechte oder eine Demokratietheorie oder negativ auf bestimmte politische oder soziale Mechanismen oder historische Fehlentwicklungen, die nach Korrekturen rufen). Totalitarismus hat praktisch etwas bewirkt. Das besagt: die Thematik reflektiert verschiedene Formen politischer Intellektualität. So ist es das erste Ziel dieser Arbeit, das Problem bewußtsein für eine differenzierte Betrachtung der Totalitarismusthematik zu schärfen. Der Totalitarismus - das Phänomen des Totalitären, die totalitäre Erfahrung, die totalitäre Logik, die totalitäre Ideologie, die methodischen Affinitäten zwischen Faschismus und Kommunismus, um nur einige Stichworte zu indizieren - ist ein, wenn nicht das Jahrhundertphänomen. Daher wurde versucht, möglichst viele Beiträge, die sich mit Totalitarismus beschäftigen, mitzuberücksichtigen. Dabei konnte die Erfahrung gemacht werden, daß es eine sehr große Zahl von Texten gibt, die in Frankreich selbst, geschweige denn außerhalb von Frankreich, selten oder gar nie Erwähnung finden in Arbeiten zum Totalitarismus. Diese einmal in einen größeren Zusammenhang zu stellen - trotz den damit unvermeidlicherweise verbundenen Verkürzungen - dürfte daher eine nützliche Arbeit sein. Ursprünglich war beabsichtigt, das Interesse speziell solchen Texten zu widmen, die einen Beitrag zu einer aktuellen politischen Philosophie liefern könnten, die sich als Reflexion des Politischen aufgrund von Auseinandersetzungen mit Totalitärem verstehen. Im Verlaufe der Entwicklung der Arbeit zeigte sich immer deutlicher, daß es vier Hauptströmungen gibt, dank denen systematische Vereinfachungen möglich werden. Dabei wurde ebenfalls immer deutlicher, daß sich die Arbeit mit der französischen Thematisierung des Totalitarismus beschäftigt. Das hat erhebliche Konsequenzen, denn der Kontext ist ein anderer als etwa der deutsche oder der amerikanische. Je mehr man den politisch-kulturellen und historischen Kontext mitberücksichtigt, desto unbefriedigender werden bloß abstrakte Untersuchungen. Das kann z. B. die Beobachtung von Autoren aus verschiedenen politischen Kulturen zeigen: das Selbstverständnis, die Klassikerreferenz, die politischen Erinnerungen, die Bezugnahme auf die nationale Geschichte, die thematischen Schwerpunkte, die normativen Leitideen, das intellektuelle Milieu sind jeweils ganz anders. Nochmals schwieriger wird es, wenn man etwa die Situation von intellektuellen Emigranten mitbeobachtet, bei denen verschiedene Denkrnilieus und -erfahrungen Sozialisationseffekte hervorriefen, und die dann auf das eher homogene Milieu der Pariser Intellektuellen mit seinen Ein- und Ausgrenzungen prallen (man denke etwa an die vielen überaus einflußreichen griechischen oder russischen Intellektuellen, die sich in Paris niederließen). Totalitarismus erweist sich so als ein stark kontextgebundenes Thema. Mit der Thematisierung des Totalitarismus ist immer ein Mix von Faktoren vorausgesetzt, der für bestimmte Formen politischer Intellektualität von konstitutiver Bedeutung ist. Bei fast allen Autoren des Totalitarismus ist die intellektuelle und politische Biographie von Interesse. Wer über Totalitarismus schreibt, hat zumeist guten

Einleitung

11

Anlaß dazu. Zumeist spielen politische Erfahrungen eine wesentliche Rolle. Davon kann nicht beliebig abstrahiert werden. Ginge es hier einzig um metaphysische Fragen nach dem Einen und dem Vielen, so wäre eine solche Abstraktion vielleicht legitim, sie ist es aber kaum mehr, wenn es um politische Erfahrungen geht. Je weiter die Arbeit sich fortentwickelte, desto stärker trat die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen politischer Erfahrung und politischer Philosophie in den Vordergrund. Für Solschenizyn wie für Souvarine oder Aron oder Lyotard ist die totalitäre Erfahrung eine absolute Erfahrung, die all das politische Denken mitbegleiten muß. Und in diesen Zusammenhang gehören auch die verschiedenartigen Engagements - oder eben die "Desengagements" . Das heißt generell, daß der Kontext eine enorm wichtige Rolle spielt. Das heißt aber auch, daß die Gefahr besteht, daß der Text nach langem Hinsehen in den Kontext sich aufzulösen droht. Den Sinn für eine Balance zwischen Text und Kontext und somit für eine angemessene Darstellung mußte auch die vorliegende Arbeit finden.

A. Bemerkungen zur Totalitarismusthematik: Politische Philosophie, methodische Skizzen und differenzierende forschungstechnische Überlegungen Man kann Bilanz ziehen. Das Phänomen des Totalitarismus hat in Frankreich in den achtziger Jahren denjenigen allgemein akzeptierten Stellenwert erreicht, den es längst hätte haben müssen. So verteilt sich die Interpretationsgeschichte in die Zeit von den dreißiger bis etwa Mitte der siebziger Jahre, in der die große Mehrheit der politischen Intellektuellen blind, apathisch oder selbstgefällig abweisend sich verhielten, und in die Zeit von etwa Mitte der siebziger bis gegen Ende der achtziger Jahre, in der die Zahl der differenzierenden Arbeiten bis etwa nach der Mitte der achtziger Jahre ständig zunahm, I um dann gegen Ende der achtziger Jahre wieder abzuklingen - sieht man von der Frage nach den totalitären Gehalten der französischen Revolution 2 und von der für einige französische Philosophen kapitalen Frage nach der Beziehung Heideggers zum Nationalsozialismus ab. 3 Das Phänomen des Totalitarismus scheint heute also genügend distanzierungsfähig zu sein, um es in verschiedensten analytischen Zugriffen aufzuschlüsseln und um sich eine angemessene Übersicht anzueignen. Kritische Töne bezüglich thematischem Gegenstandsbereich sind zwar noch nicht verklungen, und konsequenzträchtige Emotionen können auch noch immer geschürt werden. 4 Aber insgesamt ist es doch langsam aber stetig zu einem Phänomen geworden, zu I Zwei hervorragende, in ihrer Art und Absicht völlig verschiedene Übersichtsarbeiten sollen erwähnt werden: Hassner (Miroir totalitaire) und Howard (French rhetoric and political reality). 2 Anhand des Beispiels der französischen Revolution kann man zeigen, wie "Geburtstage" die Interpretationsgeschichte von Themen und Autoren beeinflussen können, indem sie ein programmierbares Interesse auf sich lenken. Nach 1989 interessiert das Thema für eine Weile kaum mehr jemanden. Auf jeden Fall aber dürfte es schwierig sein, sich einen Überblick über die zwischen Mitte der achtziger Jahre und 1989 erschienenen Arbeiten zu verschaffen, wenn man nicht weiß, welche Traditionslinien jeweils dahinter stehen. 3 Kapital in dem Sinne, als Heidegger nach Marx für viele zur ersten Klassikerreferenz avancierte, weil sie die Aufrechterhaltung einer Totaldistanz zur politischen und philosophischen Modeme ermöglichte. Passiert mit Heidegger dasselbe wie mit Marx, so kompromittiert sich ein gutes Stück französische Philosophie der letzten zwanzig Jahre. Die Frage Heidegger wirft mehr noch als auf die deutschen Großklassiker auf die französische Philosophie selbst zurück. 4 Insbesondere natürlich, wenn es sich um innerfranzösische Intellektuellendebatten handelt, bei denen der politische und intellektuelle Ursprung im eigenen Land auf dem Spiel steht.

A. Bemerkungen zur Totalitarismusthematik

13

dem man sich mit historisierendem Blick verhalten kann. Es wäre allerdings ein Fehler, daraus die Relativierung seines Gewichts zu lesen: der Totalitarismus ist das Hauptphänomen des 20. Jahrhunderts für so verschiedene Autoren wie den Exkommunisten, systemtheoretischen Wissenschaftsphilosophen und Europadenker Edgar Morin, 5 den Extrotzkisten, Merleau-Ponty-Schüler und politischen Theologen Claude Lefort, 6 die linksheideggerianischen Poststrukturalisten Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc N ancy 7 oder den energischen politischen 5 Vgl. z. B. Morin (* 1921), (Complexe totalitaire et nouvel Empire) über den Totalitarismus der UdSSR und dessen Bedeutung für die persönliche Erfahrung und intellektuelle Entwicklung einerseits sowie die konstitutive Bedeutung des Bolschewismus für die Entstehung des Totalitarismus andererseits: L'aventure de I'U. R. S. S. est la plus grande experience et la question majeure de I'Humanite moderne. Le communisme est la question majeure et I' experience principale de ma vie. [ ... ] L' experience la plus forte de ma vie tient dans mes dix annees de parti, dans la c1andestinite, puis dans l' officialite, enfin dans la guerre froide. [ ... ] Depuis lors, 1'U. R. S. S. reste 1'objet premier de mon attention, la source constante de mes reflexions. Plus encore, c'est en reference au communisme et a 1'U. R. S. S. que je me pose non seulement les interrogations fondamentales de notre siec1e et du destin planetaire de I'humanite, mais aussi la question de la verite et de la complexite. En meme temps, tout ce que je crois acquerir dans d' autres champs d' etudes y revient et me suscite de nouvelles questions sur la nature de 1'U. R. S. S.", p. 9 f. Über diese persönliche totalitäre Erfahrung und deren Bedeutung für die Bestimmung der eigenen methodischen und philosophischen, mehr noch wissenschaftstheoretischen Interessen hinaus - vgl. dazu (Totalitarisme) - , erlangt das Phänomen der UdSSR auch für die Erklärung der Entstehung des Totalitarismus die konstitutive Bedeutung: "Le bo1chevisme joue un röle initial et fondateur pour la formation et le developpement du Parti/Etat totalitaire", p. 41. - Vgl. C. 1. 2. 6 Von Lefort (* 1924) könnte das Gesamtwerk zitiert werden; kaum ein zweiter französischer politischer Philosoph hat so intensiv und unnachgiebig das Thema Totalitarismus bearbeitet. Höchst interessant ist der Weg Leforts vom trotzkistisch inspirierten Sartre- und Stalinkritiker nach 1945 über den Bruch mit dem Marxismus und der vertieften Bürokratiekritik (vgl. z. B. die Aufsatzsammlung Critique de la bureaucratie) zur politischen Hermeneutik anhand des Beispiels Machiavelli (Le travail de 1'oeuvre: Machiavel. Paris (Gallimard) 1972), schließlich über eine für den französischen Kontext sehr wichtige Reflexion des Archipel Gulags (Un homme en trop) und dem für die antitotalitäre Linke so wichtig gewordenen Stichwort "invention democratique" (so auch ein Buchtitel von Lefort) bis zur Wiederholung der politisch-philosophischen Grundfragen anhand von Klassikern wie Arendt oder Tocqueville und zuletzt die theologischpolitischen Erörterungen (Le politique). Die Leitdifferenz von Demokratie und Totalitarismus hat ihre konstitutive Bedeutung beibehalten. 7 Diese beiden aus dem Schülerkreis von Jacques Derrida (* 1930) stammenden Philosophen können zu einer Richtung des sog. Poststrukturalismus gezählt werden, für die die Abarbeitung an der Philosophie Heideggers und dann der Versuch einer Radikalisierung seiner Fragestellung, insbesondere der ontologischen Differenz, zum zentralen Problem der gegenwärtigen Philosophie geworden ist. Für sie ist eine Mentalität des Philosophierens wichtig, die eine bestimmte Textpädagogik auszeichnet (vgl. z. B. Lacoue-Labarthe, Le sujet de la philosophie. Typographies 1. Paris (Flammarion) 1979). Nicht zuletzt dank der opaken Rolle, den das Politische in der Heideggerschen Philosophie spielt, sind Nancy und noch stärker Lacoue-Labarthe (* 1940) auf das Problem des Verhältnisses von Politik und Philosophie gestoßen. Man lese z. B. den gemeinsamen Aufsatz von 1983 (in: Le retrait du politique) mit dem bezeichnenden Titel "Le ,retrait' du politique", der den "soup