Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation 9783848742776, 9783845285405

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Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation
 9783848742776, 9783845285405

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Sebastian Huhnholz Eva Marlene Hausteiner [Hrsg.]

Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation

Leviathan Sonderband 34 | 2018

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4277-6 (Print) ISBN 978-3-8452-8540-5 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Leviathan Jahrgang 46 · Sonderband 34 · 2018

Inhaltsübersicht

Einleitung Sebastian Huhnholz und Eva Marlene Hausteiner Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation ..........................................

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I. Figuren der Demokratie Paula Diehl Die Symbolisierung des Volkes in der Demokratie: Eine ikonografische Spurensuche..............................................................................................

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Marcus Llanque Die ikonographische Vermittlung von Differenz in Selbstregierungsregimen .............

48

Daniel Schulz Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats .......................................................................................

71

Maria Jakob Visuelle Grundmuster einer Ikonografie der Gesellschaft: Fotografische Konstruktionen von Einheiten und Vielfalten bei Einbürgerungsfeiern ....................

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II. Medien und Formen Vincent August Ikonologie der Transparenz: Demokratie im Zeichen von Rationalität und Reinheit .. 117 Michael Minkenberg Hauptstadt und Repräsentation: Politik und Architektur im Regimevergleich ........... 148 Philip Manow Die National Mall in Washington D.C. – Einheit und Differenz des demokratischen Souveräns................................................................................................. 182 Sebastian Huhnholz Politischer Wohnen. Die Ikonographie kollektiver Identitäten am Beispiel urbaner Großwohnbauten im 20. Jahrhundert ............................................................. 196

6 Lisa Bogerts »Deutschland sprüht vor Ideen« – Street Art als ikonographische Herrschaftspraxis .. 231

III. Konstellationen kollektiver Differenz Iris Därmann Damnatio ad bestias in Nordamerika. Gehorsamsproduktionen in der kolonialen Philosophie und politischen Zoologie Thomas Hobbes’....................................... 261 Elisabeth Haas Eidgenössische Selbstdarstellungen zwischen Differenz und Konsens (1798-1913) ..... 287 Anna Chwialkowska und Lena Sophia Schacht Drei Epochen, drei Regime, ein Symbol. Ikonographische Übernahme und Abgrenzung zur Legitimierung von Herrschaft am Beispiel der römischen Obelisken ................................................................................................. 308 Felix Steilen Zur politischen Ikonologie der Palmach .......................................................... 336 Siegfried Weichlein Blickumkehr: Differenzikonographie im Kalten Krieg ......................................... 361

AutorInnenverzeichnis ................................................................................. 383

Einleitung

Sebastian Huhnholz und Eva Marlene Hausteiner

Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation

Die visuelle Repräsentation von politischer Herrschaft ist seit der Antike mehrheitlich durch Darstellungen von Macht und Einheit geprägt. Die Varianten, in denen politische Identität als eine Funktion der einenden Integration von Großgruppen dargestellt werden, sind bestens untersucht – von autoritärer Einschüchterungsikonographie über elitäre Repräsentationsästhetik bis zu selbstherrlicher Glorifizierung freier Bürgerverbände. Weit weniger gut erforscht als derlei primär den Willen und die Macht des Souveräns abbildende Identitätsrepräsentation ist die politisch oft besonders produktive Seite von Differenzrepräsentation. Die Artikulation von Andersheit, Verschiedenheit und Vielfalt muss die Identitätsrepräsentation nicht zwangsläufig dementieren, sondern vermag deren Gestalt vielmehr überhaupt erst zu konturieren und zu konkretisieren. Ein zwingender Antagonismus zwischen Identitäts- und Differenzrepräsentation ist also nicht anzunehmen. Sogar komplementäre Repräsentationen sind denkbar, denn Einigkeit und Eintracht symbolisch zu repräsentieren ist häufig gerade dort nötig, wo eigentlich Dissens besteht – wo Differenzen oder Unterschiede also offenkundig sind und nicht einfach unterdrückt oder kanalisiert werden können. Dies gilt insbesondere für demokratische Ordnungen. So hat Ernst Vollrath – von dem die kontrastierende Begrifflichkeit der Identitäts- und der Differenzrepräsentation übernommen ist – eine Kritik an Carl Schmitt mittels normativer Umwidmung vollzogen. Während für den Antiliberalen Schmitt politische »Repräsentation« im Sinne von Stellvertretung den Gegenpol zur substantialistischen »Identität« bildete und Repräsentation für ihn gewissermaßen synonym mit einem denunziatorischen Differenzbegriff war,1 stellt Vollrath lapidar fest: »Die Differenzrepräsentation ist konstitutiv für den Typus der Verfassungsdemokratie«. Vollrath begreift die visuelle, formale, sei es prozedurale oder spontane Repräsentation von Differenz als »eine Weise der Machtteilung«. 2 Um dieses normative, organisatorische wie institutionelle Qualitätsmerkmal soll es uns mit dem vorliegenden Schwerpunkt gehen. Eingedenk der zwei hauptsächlichen semantischen Bedeutungen von Repräsentation – dem Handeln für jemanden (Stellvertretung; Fürsorge; Sachwaltung; Institution) und dem Handeln an Stelle von jemandem (delegierte Artikulation;

1 Politiktheoretisch besonders radikalisiert in Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923/26 (Schmitt 1985), rechtstheoretisch systematisiert vor allem in der Verfassungslehre von 1928 (Schmitt 1993). 2 Vollrath 1993, S. 76, 78.

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Mandat; symbolische Identität; Performation) – ließe sich mit Paula Diehl festhalten, dass »symbolische Repräsentation kein Gegenkonzept zur Vertretung [ist], sondern ihr zwingendes Komplement, denn politische Repräsentation hat immer eine Handlungs- und eine symbolische Dimension. Institutionell betrachtet macht symbolische Repräsentation politische Repräsentation für den Bürger sinnlich erfahrbar, gibt politischen Prinzipien und Werten einen Ausdruck und bringt die Rolle politischer Repräsentanten zur Geltung. Symbolische Repräsentation vermittelt Selbstverständnisse, Überzeugungen und Vorstellungen von Politik, aber sie drückt auch die Transformation des politisch Imaginären aus. Sie wird von kollektiven Vorstellungen von politischer Rolle, Institutionen und Werten geleitet, verändert aber zugleich diese Vorstellungen. Dadurch erhält die politische Repräsentation ein dynamisches Moment, das vor allem für Demokratie besonders wichtig ist.«3

Unter den derzeitigen, mit Termini wie »postdemokratisch«, »populistisch« oder »postpolitisch«4 charakterisierbaren Bedingungen des Gestaltwandels politischer Repräsentation ist Diehls Unterscheidung von besonders hoher Plausibilität. Gerade die Darstellbarkeit des Demokratischen, die demokratische Selbstdarstellung und die politische Performanz in der Demokratie zwischen Einheit bzw. Stabilität und Differenz bzw. Pluralität sind in den vergangenen Jahren in derart ungeahnte Schwingung geraten, dass einerseits von Arabellion und Tea Party Movement über Occupy Wall Street, Black Life Matters und Pegida bis #NotMyPresident eine neue »Politik der Straße« zu konstatieren ist, die die repräsentative Demokratie wie das demokratische Versprechen überhaupt unter Druck setzt.5 Andererseits wird just wegen solcher performativ wirkungsvoller Repräsentationsansprüche immer fraglicher, ob die »Marke« der »Demokratie den Stellenwert einer überaus prominenten, positiv besetzten Leitkategorie« errungen hat, »an der sich mittlerweile nahezu alle politischen Systeme in der Welt orientieren« –6 oder ob die Anfechtung bestehender demokratischer Ordnungen und für allgemeingültig gehaltener bestimmter Demokratievorstellungen nicht alleine schon an diesen performativen Umbrüchen ablesbar ist. So werden derzeit außerordentlich symbolstarke Auseinandersetzungen um beide Leitdimensionen der politischen Repräsentation ausgetragen, sowohl um die Frage der Identität wie auch um die der Differenz. Regelrechte Repräsentationskämpfe herrschen beispielsweise über die Legitimität der symbolischen Reklamation des »Wir sind sind das Volk«-Slogans in der demographisch zunehmend heterogenen Bundesrepublik Deutschland, aber auch über die institutionelle Integrität der Repräsentationswürde des US-amerikanischen Präsidentenamtes. Vor dem Hintergrund dieser und vieler weiterer Phänomene erscheint es uns angebracht und sogar überfällig, Varianten und Strategien symbolischer Repräsentation für das Spannungsfeld zwischen Identitäts- und Differenzrepräsentation zu Rate zu ziehen – und zwar gerade in ihren visuellen und performativen Manifesta-

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Diehl 2015, S. 41. Dazu insb. Crouch 2011; Streeck 2013; Müller 2016. Siehe nur Butler 2016. Richter 2016, S. 7.

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tionen und deren Wechselwirkungen. Nicht nur hat das Forschungsfeld der Politischen Ikonologie in den vergangenen Jahren einige bedeutende Fortschritte erzielt7 und versteht es die nunmehr konstituierte Bildwissenschaft, ihre Bedeutung für die politische Ideengeschichte über die Kriegs- und Memorialforschung bis zur Pädagogik umfassend zu beglaubigen.8 Auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften einschließlich der politischen Theorie und Philosophie wird wieder mehr Gewicht auf symbolische Dimensionen politischer Kommunikation, gesellschaftlicher Bildsprache und ikonischer Codes gelegt,9 wohl auch, da unter Globalisierungsbedingungen – die gouvernementale Überwachungseffekte neuer »Sichtbarkeitsregime«10 einschließen – vieles auf eine »ikonozentrische« Transformation von einer schrift- zu einer bildlastigen lingua franca hindeutet.11 So wird heute, was beispielsweise für öffentliches Erinnern oder für die politische Geographie schon immer als kennzeichnend galt,12 auch für die Gestaltung des Sozialen durch Visualisierung insgesamt angenommen: dass in erster Linie Imaginationen und kollektive Autosuggestionen die Welt des Politischen prägen und dass in zweiter Linie politische Akteure versuchen, solche Bildwelten zu erzeugen, zu manipulieren oder mit Gegenbildern zu bekämpfen.13 Forciert von einer zunehmend semiotisch und graphisch agierenden ›wissenschaftlichen‹ Politik-, Medien- und Unternehmensberatung14 wird heute Vergesellschaftung selbst als ein maßgeblich performativ geformter, bildlich ausgedrückter und von visuellen ›Beglaubigungen‹ getragener Integrationsvorgang begriffen. Nicht zuletzt deshalb ist Bildern bereits eigenes Leben im Sinne eines womöglich sogar autonomen Akteursstatus zugesprochen worden.15 Für die terroristische Bildproduktion bzw. die für den Terrorismus konstitutive Bedeutung des Bildes ist das unmittelbar evident –16 Bilder sind »Waffen«.17 Analog zum »Sprechakt« ist der »Bildakt« daher

7 Bredekamp 2010ff.; Fleckner et al. 2011; Lochner/ Markantonatos 2013; Mitchell 2008a. 8 Siehe nur Probst/Klenner 2009; Bestandsaufnahme bei Bohnsack 2016; Drechsel 2005; Müller 2004. 9 Därmann 2009; Diehl 2005; Hofmann 1999ff.; Huhnholz 2017; Manow 2008f.; Manow et al. 2012; Koschorke 2000ff.; Rzepka 2013. 10 Hempel et al. 2010; Hitzler 2009. 11 Hofmann 1999; 2006. 12 Jureit 2012; Huhnholz 2018; Schneider 2006. 13 Baberowski 2008; von der Heiden/Vogl 2007; Hofmann/Leske 2005; Huhnholz 2016f.; Huhnholz/Hausteiner 2015; Koschorke 2005; Koschorke et al. 2007; Latour/ Weibel 2005; Münkler/Hacke 2009 sowie die Reihe Studien zur visuellen Politik (Hofmann 2005ff.). 14 Beck 2013; Raab 2008. 15 Insb. durch Mitchell 2008b und Bredekamp 2010. 16 Siehe Beuthner et al. 2003; Frankenberg 2010; Werckmeister 2005. 17 Siehe nur Münkler 2006.

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konsequent als kommunikatives Handeln interpretiert worden, aus der die Forderung nach einer »politischen Theorie« des Bildhandelns zwingend resultiert.18 Konstatiert werden kann überdies eine allgemeine Annäherung politikwissenschaftlicher Themensetzungen an Fragen der Ästhetik, da mittlerweile außer Frage steht, dass das ästhetische Mechanismen und Effekte (einschließlich des Antiästhetischen und des Hässlichen) von den Akteuren des Politischen nicht einfach nur zur Inszenierung genutzt, sondern als Argument gebraucht werden.19 So erweisen sich vermeintliche »Nebensächlichkeiten« der Politik – groteske Frisuren oder zu kleine Anzüge und schrullige Schuhe ebenso wie geschmacklose Familienportraits –20 als »zentrale« Instrumente einer systematischen Bedeutungsfabrikation, ohne die sowohl Mehrheitsbeschaffungen und demokratische Konsensfindungsprozeduren wie auch ›spontane‹ politische Entscheidungen zumindest scheinbar unmöglich (geworden) sind. Doch wiewohl die Selbstinszenierung des Politischen und die professionelle Verlogenheit der Kulturindustrie regelmäßig beklagt werden, bleiben breite Forderungen nach Ausbildung größerer bildsprachlicher Kritikkompetenz und das Aufzeigen politischer Gegenhandlungsoptionen weitgehend aus.21 Im Anschluss an diese Diagnosen soll der vorliegende Sonderband weniger auf politisierte und vermachtete Identitätsrepräsentation eingehen als auf Dimensionen von deren tendenziell massenpolitischer öffentlicher Brechung, Erweiterung oder Umkämpftheit. Wir gehen davon aus, dass sich die im Zeichen der Moderne und Postmoderne ohnehin wachsenden politischen Bedürfnisse für zunehmend komplexere Arrangements von Differenz- als Identitätsrepräsentation auch in den etablierten ikonographischen Formen politischer Kommunikation reflektieren. Die dadurch erzeugte und genutzte Ambivalenz und mimetische Rivalität wird dabei aber gleichzeitig im Rahmen der Integrations- und Innovationsfähigkeit der politischen Bild- und Zeichensprache erweitert und vertieft – mit einem Wort: pluralisiert. Gerade die visuelle Integration von Differentem, Apartem oder vordem Exkludierten in ein vermeintlich festes Identitätsensemble stellt dessen vorgebliche Geschlossenheit produktiv in Frage und öffnet den politischen Reflexionsraum mittels Zugriff auf stärker affektive, emotionale und imaginäre Repräsentationsmuster. Dadurch werden Rationalität, Formalität und Prozeduralität politischer Prozesse gleichsam unterlaufen wie ergänzt und intensiviert.22

18 Bredekamp 2010, S. 212; dazu Huhnholz 2014. 19 Zum Komplex siehe nur Rebentisch 2012; Vorländer 2003. 20 Dazu Manow 2017. Wenige Blicke auf politische Figuren wie Karl den Großen (Bredekamp 2014), Disraeli (zu seiner Inszenierung Maurois 1952), Obama (Haltern 2009) und Hitler (Pyta 2015) beglaubigen inszenierte Marotten wie diejenigen Donald Trumps (dazu Seeslen 2017). 21 Siehe daher auch das besonders eklatante Beispiel des Barons von und zu Guttenberg, in dessen politischem Sturz ikonische und textuelle Wahrheitsansprüche diffundierten (Lepsius/ Meyer-Kalkus 2011). 22 Dazu abermals Diehl 2015.

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Diese Vermutung ist umso relevanter, als die politische Ikonologie des Demokratischen in der Tat noch immer am Spannungsverhältnis zwischen verfestigten und revitalisierenden Formsprachen laboriert. Dies betrifft unmittelbar Darstellungen des Volkes, das mangels Identitätseinheit, so Hans Vorländer, »sich kaum angemessen repräsentieren« lässt, insofern es nicht »als Kollektivsubjekt oder direkt als einheitlicher politischer Körper in Erscheinung«23 treten kann. Die notorisch schwere Darstellbarkeit bzw. repräsentative Verkörperung des Volkes setzt sich in jenen politischen Ikonographien fort, die den Staat, das demokratische System und dem zugeordnete politische Normen in bildlicher und unter anderem auch baulicher Form repräsentieren sollen. Die unaufhebbare »Konkurrenz zwischen der auf Dauer gestellten, das heißt auch baulich verfestigten formalen Repräsentation und der spontanen politischen Versammlung« zeige sich, so Philip Manow, auch in den Demokratien unserer Zeit immer, wenn die »versammelte Menge« auf die staatlichen Vorzeigebauten und deren Bannmeilen stoße. Womöglich hatte deshalb schon John Quincy Adams postuliert, die »Demokratie besitzt keine Monumente«, ihre »wahre Essenz« sei »ikonoklastisch.«24 Gerade die geordnete Übergabe von Macht und ihre stets gegebene Austauschbarkeit als verweist ritualisierte demokratische Symbolik verweist auf jene berühmtermaßen von Claude Lefort benannte »Leerstelle«, die der »König« lasse, nämlich die Idee, dass »der Ort der Macht […] nicht darstellbar« sein soll, wenn das Versprechen der Demokratie offen bleiben wolle.25 Weil das Volk in der Demokratie im Sinne Pierre Rosanvallons nicht nur schwer darstellbar, sondern sogar »unauffindbar« bleibe, seien gerade seine repräsentativsten Orte – wie Horst Bredekamp am Beispiel der begehbaren Reichstagskuppel Norman Fosters zeigte – dynamisch, flüchtig und mehrdeutig.26 »Die eigentliche Inszenierung ist nicht mehr der herrschaftliche Bau, sondern sie findet innerhalb und außerhalb der Architektur statt.«27 Entsprechend pointierte Manow, die »zwei Cadillacs des Präsidenten« – die Nutzung verdunkelter Wagenkolonnen – seien als eine Variante der »demokratische[n] Lösung« der monarchischen Unsterblichkeitssymbolik in Anspielung auf Ernst Kantorowicz’ The King’s Two Bodies zu deuten: Die Vorstellung, dass selbst die demokratische Spitze nicht recht greifbar, prinzipiell ersetzbar und gewissermaßen unverletztlich ist, symbolisiert jene Flexibilität, Variabilität und Kontinuität, aber eben auch Fragilität und Alterität demokratisch konstituierter und legitimierter Machtentfaltung.28 23 24 25 26 27

Vorländer 2003, S. 23. Adams zit. n. Bredekamp 2012, S. 152. Lefort 1999, S. 49. Rosanvallon 1998; Bredekamp 2012, S. 156f. Von Beyme 2004, S. 370; zum Komplex ferner Ockman 2011. Dies gilt im Übrigen insbesondere angesichts der Komplexitätssteigerung der Frage, wo in großräumigen, mehrebenenhaften, föderalen Gebilden wie der Europäischen Union der demos oder die demoi zu situieren und wie also überhaupt zu repräsentieren seien (vgl. Hein 2006a und 2006b). 28 Manow 2008, S. 128; ders. 2017, passim.

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Überdies erscheint es uns lohnend, die Hypothese produktiver Differenz- als Identitätsrepräsentation auch anhand älterer und tradierter visueller Ausdrucksund Gestaltungsmittel zu untersuchen, anhand von Beispielen also, die einerseits tendenziell bereits seit der Antike im Repräsentationsrepertoire politischer Herrschaft entwickelt worden sind, andererseits aber im Zuge des langen historischen Wandels zur politischen Moderne ihrerseits transformiert wurden. In ihrer jeweiligen Offenheit gegenüber der Integration von Differenzen ist ein wesentlicher Erklärungsfaktor für ihre erfolgreiche Beharrungsstärke, also ihre Verwendung und Popularität zu vermuten. Gerade an Transformationen der Repräsentation zwischen Antike und Moderne lässt sich dann beispielsweise auch die Spannung zwischen demokratischer Diversitätsikonographie und undemokratischen, wenn nicht autoritären Vorspiegelungen von Zugeständnissen an heterogene Bevölkerungsgruppen systematisieren. Dies gilt nicht zuletzt für Kontexte gewollter Ungleichheit: Aus der empirischen Beobachtung, dass Differenzrepräsentation immer wieder zur Stigmatisierung von Abweichung missbraucht worden ist und bisweilen auch heute entsprechend benutzt wird, ergibt sich die Frage, ob Differenzrepräsentation, die Diversität abbildet oder gar affirmiert, von jener zu unterscheiden ist, durch deren Visualisierung Abweichung erst erzeugt wird – man denke nur an den bizarren Streit um die mittels Flächenausmessung geschätzten Besucherzahlen bei der Präsidenteninauguration Donald Trumps im Washington D.C. des Jahres 2017. In solchen Zusammenhängen gilt es auch zu prüfen, ob in symptomatischen Fällen bestimmte ikonische Medieneigenschaften erkennbar sind, die im Zuge ihrer Anwendung intuitiv anverwandelt oder intentional manipuliert werden konnten – in affirmativer oder in oppositioneller Absicht, etwa mit dem Ziel, Widerstand zu signalisieren, Herrschaftspraktiken zu unterlaufen oder Konkurrenzansprüche anzumelden. Generalisierend gefasst lässt sich darum vermuten, dass auch im Umgang mit bestehenden Traditionen und Symbolen eine große Flexibilität möglich ist, die es erlaubt, vordergründig eindeutige politische Formsprachen vergangener Zeiten und überkommener Regime für neue Herrschafts-, Machtund Repräsentationszwecke anzuverwandeln. Zum Heft Einige Ausarbeitungen des vorliegenden Sonderbandes gehen auf Beiträge zurück, die auf der von den Herausgebenden im Dezember 2015 an der Berliner Humboldt-Universität veranstalteten Tagung »Politische Ikonographie zwischen Differenz und Konsens. Transformationen politischer Ausdrucksmittel seit der Antike« präsentiert worden sind. Diese unter dem Dach des – hiermit ausdrücklich bedankten – DFG-finanzierten Sonderforschungsbereichs 644 »Transformationen der Antike« organisierte Tagung hatte zum Ziel, einzelne ikonographische Sujets der politischen Ideengeschichte, seien dies Materialien und Symbole – etwa Glas oder Spiegel –, Formen und Formate – etwa Hausfassaden, Nationaldenkmale, Landschaftsgärten –, oder konkrete Praktiken – etwa Sklaven- und Eigentumstä-

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towierungen, Barbareninszenierungen, föderale Versammlungen etc. –, zu identifizieren und ihre historischen Verwendungszusammenhänge sowie etwaige Bedeutungswandel zu untersuchen. Für den hiesigen Sonderband wurden nun ausgesuchte Beiträge besagter Tagung herangezogen und der Themenkern durch offene Ausschreibung substantiell erweitert. Hierfür möchten wir allen Beitragenden ebenso danken wie all jenen, deren Vorschläge nicht berücksichtigt werden konnten. Zudem gebührt für die ebenso aufwändigen wie engagierten Begutachtungen aller Einzelbeiträge sowie des gesamten Bandes Markus Dauss und dem Herausgeberkreis des Leviathan unser größter Dank. Wie demokratische Ordnungen in ihrer Repräsentation mit dem für sie konstitutiven »Strukturelement« des Pluralismus (Ernst Fraenkel) umgehen, ist Gegenstand des ersten Teiles des Bandes, Figuren der Demokratie. Im Mittelpunkt steht hier der Einsatz zentraler ikonographischer Figuren der Demokratie – von der Volkssouveränität bis zur Verfassung – in Fragen der inneren Differenz demokratischer Ordnungen, also der Pluralität innerhalb der Bürgerschaft wie auch der Differenz (oder ihrer Überbrückung) zwischen Regierenden und Regierten. Zunächst widmet sich Paula Diehl der konstituierenden Größe demokratischer Repräsentation, nämlich der ikonographischen Darstellbarkeit des »Volkes«. Spannungen zwischen Wandlung und Festigkeit der Gesellschaft, aber auch zwischen Differenz und Identität befördern, wie Diehl zeigt, ein demokratisches Symbolregime, das sich fixierten Ikonographien verwehrt, gleichzeitig aber auch Einheit herzustellen versucht. Marcus Llanque zeigt in seinem Beitrag zur Vermittlung von Differenz in Selbstregierungsregimen die ideenhistorische Dimension republikanischer Differenzikonographie auf: In der Darstellung von Schlüsselmotiven, aber auch Institutionen und kooperativen Handlungsabläufen seit der Renaissance zeigt Llanque, wie Republiken und Demokratien die Differenz zwischen Bürgern und Amtsträgern – also die Figur der Selbstherrschaft – ikonographisch fassen. Daniel Schulz schließt hier an und und widmet sich der symbolischen Dimension der Verfassung als politisch konstitutiver und bildnerisch dargestellter Textmaterialität – und ihrem Wandel von monarchischen hin zu demokratischen Verfassungskonstellationen. Verfassungsbilder verkörpern den Kern politischer Ordnungsvorstellung, so Schulz; im Mittelpunkt seiner Analyse steht die bildgeschichtlich wiederholt markierte, aber auch überbrückte Differenz zwischen Verfassungstext einerseits und Herrscher- oder Volkskörper andererseits. Maria Jakobs Beitrag schließlich untersucht einen zentralen Modus aktueller demokratischer Selbstbestimmung und -vergewisserung. Ihre Analyse demokratischer Einbürgerungsfeiern und deren bildlicher Darstellung zeigt auf, wie unterschiedlich moderne Demokratien – und exemplarisch insbesondere die Bundesrepublik Deutschland – ikonographisch auf die Erweiterung des demos selbst und auf die darin enthaltene fortschreitende Diversifikation eingehen.

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Der zweite Schwerpunkt des Sonderbandes, Medien und Formen, richtet den Blick auf mediale – insbesondere bildnerisch-künstlerische und architektonische – Formen und Effekte der Differenzmarkierung. Zunächst analysiert Vincent August die für Demokratien typische Ideologie der Transparenz anhand der Ikonologie des Glases. Da Bauen mit Glas immer wieder als die natürliche Bauweise der Demokratie präsentiert worden ist, fragt August nach der Beziehung demokratischer Normen mit dem Werkstoff Glas und argumentiert, dass das politische Programm der Transparenz aus der Assoziationskraft des Materials gewonnen wird. Eine auf spezifische Probleme der Moderne reagierende Verbindung von Rationalität, Reinheit und Sakralität sei dem Glas schon ideengeschichtlich immer wieder zugeschrieben worden. Spätestens der Funktionalismus und die Sachlichkeit der Bauhaus-Moderne hätten der Transparenzidee dann zu einem auch politikästhetischen Sieg verholfen. Michael Minkenbergs Beitrag widmet sich sodann regimevergleichend ausgesuchten Repräsentationsfunktionen politischer Hauptstadtarchitektur und zeigt, dass Identitäts- und Differenzrepräsentation nicht eindeutig regimespezifisch sind. Immerhin ließen sich im Vergleich von Rom und Astana auf der einen und Washington D.C., Canberra, Brasília, Paris und Berlin auf der anderen Seite gezielte Rückgriffe auf vor- bzw. nichtdemokratische Symbolarchitekturen nachweisen – jegliche triviale Dichotomie zwischen differenzverweigernder autokratischer Monumentalität und demokratisch inklusiver Pluralität entkräftet Minkenberg. Das Beispiel der U.S.-amerikanischen politischen Hauptstadtarchitektur vertieft der Beitrag Philip Manows. Denn die komplexe und teils bizarre Geschichte der politischen Bauten Washingtons gibt Gelegenheit, das politische Bilderprogramm einer der ersten modernen Demokratien aufzuzeigen, dabei darzulegen, dass und wie sich das bauliche Verhältnis zwischen der Stein gewordenen Repräsentation und den Repräsentierten über die Zeit entwickelt hat, und insbesondere zu fragen, inwiefern die nationale Epochen und gesellschaftliche Pluralität aufgreifende Versammlungsarchitektur der U.S.-Hauptstadt die je konkreten und gesellschaftlich dynamischen Ansprüche und Massenartikulationen kanalisiert und domestiziert. Einem demgegenüber nur vermeintlich privaten Aspekt architekturpolitischer Differenzartikulation widmet sich Sebastian Huhnholz vermittels der Formensprache des urbanen Großwohnbaus im 20. Jahrhundert. Nicht nur die berüchtigten Großwohnbauten des zumal östlichen Totalitarismus setzten auf identitätspolitische Differenzproduktion: An exemplarisch gewählten zivilen Identitäts- und ihren Gegenbauten könne gezeigt werden, dass sich auch in Demokratien sowohl durch gewollte wie auch durch getilgte bzw. einfallsreich kaschierte politische Merkmale, parteiliche Gebrauchsaspekte und ideologische Assoziationen Großwohnbauten als politische Architektur begreifen. Lisa Bogerts Beitrag schließlich untersucht das subversive, aber auch herrschaftsstabilisierende Potential von Street Art – einer Darstellungsform, die besonders mit Diversität und Pluralismus assoziiert wird. Gerade in aktuellen Beispielen wie underARTconstruction am Bauzaun des EZB-Neubaus in Frankfurt am Main wird dabei deutlich, dass die Repräsentation von Vielfalt und Subversion ihrer-

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seits politisch und privatwirtschaftlich vereinnahmt werden können – das Instrumentalisierungspotential der Differenz wird hier ikonographisch realisiert. Der dritte Teil des Bandes befasst sich schließlich mit Konstellationen kollektiver Differenz. Anstelle der Unterschiedlichkeit zwischen Individuen und gerade BürgerInnen, die für moderne Demokratien leitend ist, stehen hier die Differenz zwischen Gruppen innerhalb einer politischen Ordnung oder die Abgrenzung von Ordnungen nach außen im Vordergrund: Mit welchen Mitteln und mit welchem Ziel wird die Differenz oder auch der Zusammenhalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen markiert? Wann und inwiefern dient die Ikonographie der Differenz nach außen zur Herstellung von Identität im Inneren? Iris Därmanns Kapitel zur kolonialen Philosophie und politischen Zoologie des Thomas Hobbes erkundet die Produktion von Gehorsams- und Herrschaftskonstellationen anhand der Differenzfigur Mensch/Tier. Wie Därmann zeigt, bereitet die von Hobbes entworfene Mensch-Tier-Konstellation einen Begründungsboden für koloniale Herrschaft und kriegerische Gewalt. Durch die hierarchische Gegenüberstellung Herrschender und Beherrschter mittels metaphorischer Operationen wirkt Differenzrepräsentation hier weniger als Gleichheits- und Versöhnungsoperation, sondern als Rechtfertigung von Ungleichheit. Mit der innergesellschaftlichen Koexistenz und Gleichheit differenter Bevölkerungsgruppen befasst sich dagegen Elisabeth Haas’ Beitrag zur Ikonographie des eidgenossenschaftlichen Föderalismus im 19. Jahrhundert – einer Phase tiefgreifender ordnungspolitischer Umwälzungen. Föderale Ordnungen sind ganz besonders vom Spannungsverhältnis zwischen Differenz und Konsens bestimmt. Ausgehend von dieser Diagnose zeigt Haas anhand des Schweizer Beispiels, wie Differenz zwischen diversen Gruppen als gleiche Beteiligte im Bund je nach politischföderaler Herausforderungslage ikonographisch verfestigt und versöhnt wird. In ihrer Spurensuche nach dem politischen Einsatz von Obelisken in verschiedenen Phasen der römischen Geschichte verdeutlichen Anna Chwialkowska und Lena Sophia Schacht dagegen, dass ikonographisch markierte Differenz – in regimeabhängigen Variationen – durchaus ähnlichen Funktionslogiken folgt. Ihr diachroner Vergleich beleuchtet die Bedeutung der Obelisken über drei Epochen hinweg und zeigt, wie trotz kontextuell markanten Unterschieden Obelisken für ein erstaunliches Kontinuum regimeübergreifender Machtrepräsentation Verwendung fanden. Felix Steilen untersucht die Repräsentation von Differenz und Identität im Palästina der 1930er und 1940er Jahre – einer Phase der, so Steilen, engen Verschränkung von politischer Ikonographie und politischer Geschichte. Die Selbstdarstellung des paramilitärischen Palmach zeigt Verbindungen in die Zukunft eines Staates im Mittleren Osten und zurück nach Europa auf, wo Staatsdenken und Identitätsrepräsentation zur gleichen Zeit einen logischen wie realhistorischen Endpunkt erreichen. Siegfried Weichlein schließlich untersucht Dimensionen politischer Identitätsdiffusion anhand des Mediums Film im und über den Kalten Krieg. Entgegen vielen Klischees verdeutlicht sein Aufsatz, dass die westliche Filmproduktion zur Ost-

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West-Konfrontation keineswegs im plumpen Modus binärer ideologischer Gegensätze operierte, sondern vielmehr tragisch verfuhr und mit starken Inversionen des starren Gegensatzes von Gut und Böse arbeitete, ja den Konflikt zwischen West und Ost allmählich als Konflikt zwischen ›wir‹ und ›uns‹ rekodiert. Die Repräsentation der Differenz wandere nach innen – eine hochgradig selbstkritische Differenzikonographie also, die zumal seit 9/11 gezeigt habe, dass unsere Bilderwelt immer noch von der Bildsprache des Kalten Krieges bestimmt ist. Literaturverzeichnis Baberowski, Jörg et al. (Hrsg.). Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel. Frankfurt a.M. u. New York, NY: Campus 2008. Beck, Gerald 2013. Sichtbare Soziologie. Visualisierung und soziologische Wissenschaftskommunikation in der zweiten Moderne. Bielefeld: transcript. Beuthner, Michael et al. (Hrsg.) 2003. Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September. Köln: von Halem. Von Beyme, Klaus 2004. »Politische Ikonologie der modernen Architektur« (1998), in Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, hrsg. v. Schwelling, Birgit, S. 351-372. Wiesbaden: VS. Bohnsack, Ralf 2016. Bildinterpretation. Sozialwissenschaftliche Methoden im Kontext von Kunstgeschichte, Bildwissenschaft und Semiotik, in http://www.soziopolis.de/verstehen/wa s-tut-die-wissenschaft/artikel/bildinterpretation/ (Zugriff 01. März 2017). Bredekamp, Horst 2010. Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bredekamp, Horst 2012. Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651-2001. 4. Aufl. Berlin: Akademie. Bredekamp, Horst 2014. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers. Berlin: Wagenbach. Bredekamp, Horst 2016. Der Behemoth. Metamorphosen des Anti-Leviathan. Berlin: Duncker & Humblot. Crouch, Colin 2011. Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus – Postdemokratie II. Berlin: Suhrkamp. Därmann, Iris 2009. Figuren des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Butler, Judith 2016. Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin: Suhrkamp. Diehl, Paula 2005. Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer. Berlin: Akademie. Diehl, Paula 2015. Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie. Eine Theorie politischer Repräsentation. Baden-Baden: Nomos 2015. Drechsel, Benjamin 2005. Politik im Bild. Wie politische Bilder entstehen und wie digitale Bildarchive arbeiten. Frankfurt a. M. u. New York: Campus. Fleckner, Uwe et al. (Hrsg.) 2011. Handbuch der politischen Ikonographie, 2 Bde. München: C.H. Beck. Frankenberg, Günter 2010. Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haltern, Ulrich 2009. Obamas politischer Körper. Berlin: BUP. Von der Heiden, Anne; Vogl, Joseph (Hrsg.) 2007. Politische Zoologie. Berlin u. Zürich: diaphanes. Hein, Carola 2006a. In Search of Icons for an United Europe, in City, 10, 1, S. 71-89. Hein, Carola 2006b. European Spatial Development, the Polycentric EU Capital, and Eastern Enlargement, in Comparative European Politics, 4, 2/3, S. 253-271. Hempel, Leon et al. (Hrsg.) 2010. Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS (= Leviathan-Sonderband 25).

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I. Figuren der Demokratie

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Die Symbolisierung des Volkes in der Demokratie: Eine ikonografische Spurensuche1

1. Volksrepräsentation ohne Volksbild: Umriss eines Problems Wie kann das Volk als politischer Souverän in Erscheinung treten? Von Rousseau bis Rosanvallon hat sich die Demokratietheorie immer wieder die Frage gestellt, wie das Volk als Subjekt der Macht eine Form annehmen kann. Schaut man sich die ikonografische Symbolisierung des Volkes in der Demokratie an, wird aber schnell deutlich, dass eine solche visuelle Repräsentation ein schwieriges Unternehmen ist. Das Prinzip der Volkssouveränität stellt zwar das Volk ins Zentrum des politischen Imaginären2 und macht es zum politischen Subjekt, doch seine ikonografische Fixierung scheint nicht recht zu gelingen.3 Dabei ist die Konstituierung eines kollektiven Subjekts bzw. einer politischen Einheit für die Handlungsfähigkeit einer Gruppe unabdingbar. Oder anders gesagt, damit das Volk zum politischen Subjekt wird, müssen die Einzelnen ein Ganzes bilden. Manche Autoren gehen davon aus, dass dafür ein Prozess von Identitätskonstruktion notwendig ist.4 Das Volk ist auf die Identifikation der Einzelnen mit der Gruppe angewiesen und benötigt, dass die Einzelnen eine gemeinsame Auffassung und gemeinsame Vorstellungen über das Volk teilen. Daher ist das Volk auch das Ergebnis von Auseinandersetzungen, symbolischen und diskursiven Konstruktionen innerhalb einer Gesellschaft.5 Erst wenn sich die Vielen zu einer Einheit organisieren, kann eine Verbindlichkeit zwischen den Individuen hergestellt werden, die kollektives Handeln ermöglicht.6 Man kann aber das Problem auch anders formulieren: der Schlüssel für die Herstellung eines politischen Subjekts ist seine Repräsentierbarkeit. Wenn das Volk 1 Ich danke Eva Hausteiner, Sebastian Huhnholz und dem Gutachter Markus Dauss für Kritik und Kommentare. 2 Der Begriff des politischen Imaginären ist vor allem in der französischsprachigen Literatur geläufig (z.B.: Lamizet (2012). Der hier verwendete Begriff orientiert sich an Cornelius Castoriadis Konzept des sozialen Imaginären und adaptiert es für das Politische. Siehe Diehl 2015. 3 U.a. Kemp 1972; Falkenhausen 1993. Diese Schwierigkeit erklärt auch die Tatsache, dass die systematische wissenschaftliche Anstrengung in Deutschland, ein Handbuch der Politischen Ikonographie zu erstellen, anstatt des Begriffs »Volk« das Wort »Volksmenge« wählt. Mit »Volksmenge« wird allerdings nicht das Volk als politisches Subjekt, sondern eine diffuse Ansammlung Vieler behandelt, auch wenn der Artikel den Übergang zur »handelnden Masse« herstellt. Fleckner et al. 2011. 4 Laclau 2005. 5 Berghoff 1997, S. 62. 6 Llanque 2011.

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eine Repräsentation von sich selbst findet, kann es das Prinzip der Volkssouveränität geltend machen und seine eigene aktive Rolle verlangen. Allerdings geht es in der Demokratie nicht um eine prä-existierende Volksidentität, die durch eine essentialistische Form der Repräsentation hervorgebracht wird, wie sie von Carl Schmitt beschrieben wurde.7 Die Betonung liegt auf der Konstruktion einer Einheit und nicht auf ihrer Widerspiegelung. Dabei heißt Repräsentation auch nicht zwangsläufig Personalisierung, wie in der Schmitt’schen Auffassung.8 Das Volk kann sich durchaus selbst repräsentieren, der Fall von Massenveranstaltungen und Protesten zeigt es. Versteht man Repräsentation im weitesten Sinne, d.h. auch als symbolisch-performativen Konstruktionsprozess eines politischen Subjekts, kann man Lisa Disch zustimmen, dass »[i]t is only through representation that a people comes to be as a political agent, one capable of putting forward a demand«.9 Angesichts dessen muss man sich fragen, warum demokratische Staaten, die mühelos eine Ikonografie der Nation hervorbringen, im Fall des Volkes als politisches Subjekt kein bildliches Symbol entwickeln konnten. Die Nation wird meistens als Frauenallegorie dargestellt, etwa wie die Marianne für die Französische Republik oder die Columbia für die Vereinigten Staaten von Amerika. Und für den Staat gibt es allerlei Symbole wie Pflanzen, Blumen oder Tiere – etwa den Adler für USA und Deutschland oder den Hahn für Frankreich, wobei die Bedeutung dieser Symbole als Staat oder Nation fließend ist. Nur das Volk als Akteur der Demokratie ist selten Gegenstand staatlicher Ikonografie. Diese Tatsache ist interessant, denn das Volk findet durchaus seinen Platz in der Symbolik demokratischer Institutionen, allerdings nicht als Bild, sondern in politischen Reden und Erklärungen und natürlich auch in seiner machtvollsten Symbolisierung: in der Benennung als politischer Souverän in der Verfassung. Die berühmte Präambel der US-amerikanischen Verfassung von 1787, ratifiziert 1788, setzt sogar das Volk als Autor des Textes fest: »We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America«.10 Obwohl die Präambel meistens ohne bindenden legalen Status interpretiert wird,11 erfüllt sie eine zentrale symbolische Funktion, indem sie das Volk als politischen Akteur und Souverän performativ einführt und bestätigt. Die Französische Verfassung und die Menschenrechtserklärung von 1793 machten einen ähnlichen Schritt, als sie das Volk als »Quelle der Souveränität« vor-

7 8 9 10

Schmitt 1925. Ebd., S. 29. Disch 2011, S. 104. National Archives: https://www.archives.gov/founding-docs/constitution (Zugriff 12. Januar 2017). 11 Orgad 2010, S. 715.

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schrieben und damit die Legitimität der Macht, die in der Menschenrechtserklärung von 1789 »ihrem Wesen nach bei der Nation« lag, explizit auf das Volk übertrugen.12 Bis heute ist die Eintragung des Volkes in der Verfassung, sei es als explizite Quelle der Macht, als Autor oder als Instanz, die die Gesetze legitimiert, Gegenstand der demokratischen Symbolik. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland setzt das Volk symbolisch als Autor seiner politischen Ordnung. In der Präambel heißt es, dass »sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben« hat.13 Wenn aber die Volksrepräsentation eine so entscheidende Rolle in der Demokratie spielt, warum ist sie in visueller Form so schwer zu fassen? 2. Die Indeterminiertheit demokratischer Symbolik und die Repräsentation des Volkes 2.1 Demokratische Symbolisierung nach Claude Lefort Eine erste Erklärung für das Verständnis demokratischer Repräsentation und die Abwesenheit eines Bildkanons für die Darstellung des Volkes kann mit Hilfe von Claude Lefort gefunden werden. Seine Demokratietheorie erkennt Repräsentation als Hauptvorgang der Gesellschaftsinstitutierung und Herstellung des Politischen an und versteht Repräsentation als »mise en scène« des Politischen. Für Lefort ist die Inszenierung – und damit ist auch jegliche Art der Symbolisierung gemeint – ein Mechanismus, durch den sich eine Gesellschaft Form gibt, indem sie die Strukturen der menschlichen Koexistenz festlegt. Politische Ordnungen bekommen somit einen Sinn.14 Daher ist die Art und Weise, wie politische Symbolisierung erfolgt, keine Nebensache, sondern konstituierend für das Politische. Die Demokratie, so Lefort weiter, ist durch eine besondere Form der Symbolisierung geprägt. Sie hat die absolutistische Verkörperung der Macht, des Staates und der Nation durch den König abgeschüttelt und anstatt dessen das Volk zum Souverän und zum politischen Akteur erhoben. Das Volk als politischen Akteur gab es im Absolutismus nicht, es wurde unter der Nation subsumiert, und ihm stand keine eigene Repräsentation, geschweige denn eine Ikonografie zu. Der Körper des Königs absorbierte in Hobbesscher Manier den Staat und die Nation und ließ keinen Raum für die Etablierung eines anderen politischen Subjekts als des Königs selbst.15 Der Staat, der mittlerweile den Status einer juridischen Person erlangt hatte, wurde im Verkörperungsvorgang vom König absorbiert und dementsprechend symbolisiert. Repräsentation bedeu12 Diehl 2015, S. 204; http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/franca is/la-constitution/les-constitutions-de-la-france/constitution-du-24-juin-1793.5084.htm l (Zugriff 12. Januar 2017). 13 https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_00/24 5200 (Zugriff 12. Januar 2017). 14 Lefort 1990, S. 284. 15 Diehl 2015, S. 143; Pollak 2005, S. 221.

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tete hier zwangsläufig die Verkörperung politischer Einheit. Daher waren die Bilder des Königskörpers zugleich die Bilder des Staates, der Macht und der Nation, die das Volk enthielt. Erst nach den Revolutionen des 18. Jahrhunderts wurde aus dem Volk der Souverän. Das Volkssouveränitätsprinzip etablierte sich dann als »Hauptlegitimationsformel«16 und »symbolisches Dispositiv« der Demokratie17. Es bildete die »primäre Referenz der demokratischen Repräsentation«, eine normative Orientierung für politisches Handeln und symbolische Praxis in der Demokratie gibt.18 Das Volkssouveränitätsprinzip ermöglicht eine neue politische Symbolnutzung, Inszenierung und Diskursproduktion, bei der das Volk als politisches Subjekt überhaupt repräsentiert werden kann.19 Allerdings veränderte die Volkssouveränität nicht unbedingt das Symbolrepertoire, sondern vor allem die gesamte Struktur der Symbolnutzung. Es gab viele neu komponierte Bilder, wie die weiblichen Allegorien, die die Prinzipien der Revolutionen visualisierten. Aber es gab auch den Rekurs auf die Antike, der eine zusätzliche visuelle Vorlage lieferte, und vor allem die Architektur der jungen Republiken inspirierte. Das, was sich radikal änderte, war die Art und Weise, in der die Symbole und Bilder in der politischen Repräsentation eingesetzt wurden. Es handelt sich um einen radikalen Bruch, und nirgends wurde dieser Bruch so deutlich wie in Frankreich, wo die Revolution anders als in Amerika in direkter Konfrontation20 mit den Personen, Institutionen, und Symbolen des Ancien Régime stand. 2.2 Die Vernichtung des Königskörpers Zentral in der neuen Repräsentationsstruktur war die Tatsache, dass der Körper des Königs seine absorbierende symbolische Kraft verlor, bis er sogar physisch beseitigt wurde. Die Personalisierung der Macht sowie die Verkörperung der Einheit erodierten im revolutionären Prozess und fanden ihr endgültiges Ende mit der Enthauptung des französischen Königs am 21. Januar 1793. Die bildlichen Zeugnisse dieses Geschehens sind erschreckend. Neben einer Fülle von Darstellungen der GuillotineSzenerie existiert eines der gewalttätigsten Bildmotive der Französischen Revolution, das vermutlich von Louis-Jules-Frédérique Villeneuve angefertigt wurde: Aus dem vom Körper getrennten Haupt tropft das Blut. Eine Hand hält es siegreich hoch. Der Kupferstich wurde unmittelbar nach der Enthauptung von Ludwig XVI. in mehreren Kopien veröffentlicht (genaue Datierung unbekannt) und zirkulierte in

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Kielmansegg 1977, S. 373. Lefort 1999, S. 284. Diehl 2015, S. 116ff. Ebd., S. 35, S. 106. Richard Sennet identifiziert auch eine weitere Form der direkten Konfrontation, die für Explosionsstoff sorgte: die sozio-ökonomische. Seit dem 17. Jahrhundert teilten sich in Paris die armen und elenden Schichten der Bevölkerung und die aufgestiegene Bourgeoisie den städtischen Raum. »In den Fugen des Reichtums nisteten Elend und Armut« (Sennett 1994, S. 345).

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zwei Versionen: in der ersten hat der tote König den Mund zu, in der zweiten ist der Mund halbgeöffnet und verleiht der Leiche einen realistischen Charakter.21 Beide Vorlagen des Bildes tragen die Inschrift »Matière de réflexion pour les jongleurs couronnés« (Abb. 1),22 der untere Teil des Bildes wird mit einem Zitat aus der Marseillaise geschmückt, das dem Gewaltakt die Bedeutung als Gründungsmythos für die neue Republik verleiht: »que le sang impur abreuve nos Sillons«.23 Lefort interpretiert die Enthauptung des Königs als radikalen symbolischen Bruch und Neubeginn. Danach sei die Demokratie auf eine neue Form der Repräsentation angewiesen, die keine Verkörperung mehr dulden kann.24

Abb. 1: »Matière à reflection pour les jongleurs couronnés« (unbekannt, 1793).

21 Duprat 1992, S. 52. 22 »Gegenstand der Reflexion für die gekrönten Jongleure/Gaukler« (eigene Übers.). Das Bild befindet sich in der Bibliothèque National de France und wurde in Duprat 1992 und in Diehl 2015 veröffentlicht. 23 »[D]ass das unreine Blut unsere Felder durchtränke« (eigene Übers.). 24 Lefort 1990, S. 292f.

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Die Effekte der neuen demokratischen Repräsentationsstruktur sind nicht unproblematisch, denn an die Stelle des Königskörpers tritt keine andere Instanz, die die Macht und das Volk symbolisch in sich einschließen könnte. Im Gegenteil, eine der Zumutungen der Demokratie liegt darin, dass der Ort der Macht symbolisch leer gehalten werden muss.25 Diesen Ort symbolisch zu besetzen, stünde nicht nur in Widerspruch zu der Tatsache, dass die Volkssouveränität die Macht aller bedeutet und damit verbunden keine Beanspruchung der Macht durch eine Person oder eine Gruppe möglich wäre. Den symbolischen Ort der Macht zu besetzen, Staat und Volk zu verkörpern, wäre vor allem das Ende der Macht aller und somit auch der Demokratie. Die politische Repräsentation als Einheit verliert somit eine kraftvolle bildliche Vorlage und muss auf Visualisierungsvorgänge ausweichen, die viel abstrakter wirken als der Königskörper. Lefort spricht deshalb von »Entkörperung« der politischen Repräsentation, die eine Determiniertheit der Gesellschaft verhindert.26 2.3 Verkörperung als totalitäre Versuchung Das Erkennen einer solchen körperlosen Gesellschaft setzt die Vorstellung einer organischen Totalität außer Kraft.27 Nur totalitäre Bewegungen bringen Egokraten hervor, die in der Lage sind, als bildliche Verkörperung des Volkes zu fungieren.28 Der Bilderkult von totalitären Führern ist dafür bekannt. Ihre Körper dienen als Ort der Macht und absorbieren das Volk und den Volkswillen. Mussolini bietet wahrscheinlich die komplexeste Ikonografie der totalitären Verkörperung und pflegte eine ungewöhnliche Bildpolitik. Anderes als Hitler inszenierte er sich nicht nur als Verkörperung der Volkseinheit, sondern auch ihrer Teile. Mithilfe der Fotografie nahm der »Duce« das prototypische Aussehen unterschiedlicher Regionen Italiens an, indem er sich in Tracht kleidete oder sich in unterschiedlichen Berufen, etwa als Pilot, Bauer oder Mechaniker inszenierte. Als Mussolini sich als Erntehelfer mit bloßem Oberkörper abbilden ließ, kommentierte die Zeitung La Stampa am 10. Juli 1934: »Die erste Stunde ist vorbei, aber Er ist unermüdlich. Er wird noch bis Mittag arbeiten und lächelt vor Freude als man Ihm zuruft: ›Es lebe der Duce als Bauer‹.«29 Solche Bilder – sowohl die piktoralen als auch die durch den Diskurs produzierten mentalen Bilder –30 gehörten zu einem Repertoire, das eine Projektionsfläche für jedes Mitglied der Gesellschaft bieten 25 Ebd. 26 Lefort 1990, S. 280ff. In einer ähnlichen Richtung argumentiert Judith Butler, wenn sie schreibt, dass die Visualisierung des Volkes immer an Grenzen des Darstellbaren stößt. Butler 2015, S. 165. 27 Dies ist aber keineswegs eine Immunisierung gegen die Sehnsucht nach der Verkörperung durch einen politischen Führer oder durch eine Gruppe. Zum Phantasma der Verkörperung siehe: Manow 2008. 28 Lefort 1981, S. 101. 29 Zitiert in Cavazza 2012, S. 253. 30 Zur Unterscheidung zwischen »pictures« and »images« siehe Mitchell 1983.

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konnte, und haben vielschichtige symbolische Bedeutungen. Von Bedeutung für die Volksrepräsentation ist aber ihr absorbierender Effekt. Horst Bredekamp hat einen ähnlichen ikonografischen absorbierenden Mechanismus in einer der Vorlagen zum Bildtitel von Hobbes’ Leviathan festgestellt. In einer der Zeichnungen Abraham Bosses aus dem Jahr 1651 sind die Gesichter der Menschen, die den Körper des Leviathans formen, erkennbar. Die Menschen, die den Leib des Leviathans ausmachen, »sind »aneinandergerückt«, ihre Gesichter sind auf das Gesicht des Leviathans gerichtet. Zu erkennen sind unterschiedliche Gruppen von Männern, die verschiedene Lebensalter und sogar Jungen darstellen. In der Bauchpartie des Leviathans sammeln sich bürgerlich Gekleidete und füllen den Körper des politischen Monstrums. »Die erschöpfende Menschenfülle des Leviathan und die Leere von Stadt und Landschaft ergeben somit einen komplementären Sinn«.31 Damit wird die Übergabe der Willen der Einzelnen an den Leviathan symbolisiert.32 Von Bedeutung für die politische Ikonografie ist vor allem die Tatsache, dass das Bild die absorbierende Repräsentation als Verkörperung darstellt und zugleich die Unterschiede zwischen den verkörperten Individuen und Gruppen erkennbar macht. Der Souverän, hier sowohl die Person als auch der Staat als Institution, verkörpert nicht nur die Macht, sondern auch alle Individuen. Die Menge wird somit »zu einer Person gemacht«, allerdings ist es »die Einheit des Vertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die bewirkt, daß eine Person entsteht«.33 Die entstandene Person ist nicht das Volk, sondern der Staat bzw. das »Common Wealth«. Der Fall der totalitären Verkörperung ist komplexer. Gerade weil totalitäre Führer das Prinzip der Volkssouveränität aus dem politischen Imaginären nicht mehr verbannen können, müssen sie symbolische Vorgänge finden, die die Absorption des Volkes als politisches Subjekts ermöglichen. Es handelt sich deshalb nicht um eine bloße Wiederholung der absolutistischen Repräsentation. Vielmehr erzeugten Mussolinis Bilder, wie die Historikerin Luisa Passerini zurecht erkennt, »einen Wunschkörper der Italiener«, bei dem es zu einem »Kurzschluss zwischen Macht und Massen« kam.34 Wie der Leviathan absorbierte Mussolini alle Individuen. Aber anders als der Leviathan symbolisiert Mussolinis Körper nicht die einzelnen Individuen, sondern das Volk als Ganzes. Die totalitäre Verkörperung verschiebt die Idee der Volkssouveränität insofern, als dass sie den Willen des Volkes als denjenigen des Führers gestaltet. Wenn der Leviathan keinen Volkskörper hervorbringt, schafft der Kurzschluss, den Mussolinis Inszenierungen verursachen, eine Vereinigung aller im Körper des Führers. Man kann Susanne von Falkenhausen zustimmen, wenn sie von einem »legitimatorischen Kreislauf zwischen Volk und

31 Bredekamp 1999, S. 110. 32 Bredekamp interpretiert diesen Moment als Vertrag aller mit allen, aber man kann durchaus Hanna Pitkin folgen und darin die reine Autorisierung des Souveräns erkennen (Pitkin 1972, S. 39). 33 Hobbes 1966, S. 125. 34 Passerini 1991, S. 70.

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Führer«35 spricht. Die Volkssouveränität wird vom Führer absorbiert und ist nicht mehr die Souveränität des Volkes, sondern die des Führers. 2.4 Das dynamische Moment des Volkes und seine Symbolisierung Lefort erkennt ein zweites Problem in der totalitären Repräsentation. Nicht nur die Verkörperung ist für die demokratische Repräsentation ungeeignet, auch die Herstellung des Volkes als ein einziger Körper bringt die demokratische Symbolisierung und somit ihre Sinndeutung des Politischen in Gefahr. Folgt man diesem Ansatz, wird eine demokratische symbolische und bildliche Fixierung des Volkes schon dadurch verhindert, dass es zu plural und veränderbar ist. Anstatt eines Einheitsbildes geht Lefort von Prozessen aus, die die politischen und sozio-kulturellen Veränderungen miteinschließen. Das Volk ist nichts Statisches, sondern ein momentanes sozio-historisches Produkt. Anstelle des Volkskörpers empfiehlt Lefort deshalb das Bild eines Netzwerkes, eines Ensembles, in dem Kooperation und Reibung zwischen den Individuen und Gruppen herrschen. Dieses Ensemble verändert sich ständig und bildet fluide Prozesse, die nicht darstellbar sind. Es ist der Gegenpol zur totalitären Repräsentation, die das Volk im Prozess der symbolischen Einverleibung und in sozio-politischen Organisationen zu homogenisieren versucht.36 Es gibt daher kein unveränderbares Volk der Demokratie. Mehr noch, die Symbolisierung der Demokratie steht immer vor dem Problem, ihre Offenheit und Veränderbarkeit darstellbar zu machen.37 In der Demokratie sind einerseits die Trennung zwischen Zivilgesellschaft und Staat und andererseits die Pluralität und Heterogenität der Zivilgesellschaft grundlegend. Damit wird die politische Einheit zum Gegenstand der Auseinandersetzung und muss sich permanent konstituieren. Sie ist abhängig »von einem politischen Diskurs und einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Ausgestaltung, die ihrerseits stets an die ideologische Auseinandersetzung gebunden sind«.38»Eine organische Repräsentation der Gesellschaft als Volkskörper wird dabei aufgelöst, stattdessen treten Prozesse und Dynamiken der gesellschaftlichen Selbstrepräsentation in den Vordergrund«.39 Für Judith Butler ist gerade dieses indeterminierte Moment, das jede Anrufung und jedes Abbild des Volkes strittig macht.40 Wie kann man also das Volk als politisches Subjekt überhaupt darstellen, wenn es sich im ständigen Transformationsprozess befindet? Die Antwort von Lefort ist: Es ist nicht darstellbar. 35 Falkenhausen 1993, S. 1022. 36 Lefort 1981, S. 105. Diese Homogenisierung bedeutet in der Praxis keineswegs die Gleichsetzung aller Individuen. Hannah Arendt hat zurecht bemerkt, dass der Totalitarismus eine totale Erfassung der Gesellschaft anstrebt, diese Erfassung jedoch durchaus in Hierarchien und Organisationen gliedert (Arendt 2003, S. 769ff.). 37 Diehl 2015, S. 26. 38 Lefort 1990, S. 295. 39 Diehl 2015, S. 180. 40 Butler 2015, S. 164.

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3. Das Bild des Volkes: Ikonografische Versuche der Französischen Revolution Die Effekte des demokratischen Dispositivs auf die symbolische Praxis und ikonografische Produktion fallen nicht so radikal aus wie seine theoretischen Konsequenzen. Die Französische Revolution liefert wieder die exemplarischen Vorgänge dafür. Einer der ersten post-revolutionären Versuche der Einheitsvisualisierung entstand mit der Massenversammlung in den revolutionären Feiern. 3.1 Die Volksmenge Schon 1790 trat die Menge zu einem Ritual zusammen. Die Revolutionsfeier ein Jahr nach dem Sturm auf die Bastille41 stand unter dem Motto der Einheit und sollte die Versöhnung der Nation ermöglichen. An der Spitze saß der König auf einem Thron und wurde wie im Ancien Régime zum Empfänger des Spektakels. Doch der Eindruck täuscht, denn es hatte sich eine grundlegende Bedeutungsveränderung ereignet: der König selbst musste einen Eid auf die Nation schwören und das Volk war hier Zeuge.42 Die Präsenz des Volkes war noch nicht seine Symbolisierung als Souverän aber immerhin seine Darstellung als kollektives Subjekt, das die Anerkennung durch den König suchte. Diese neue Bedeutung des Volkes wurde teilweise ikonografisch als Zuschaueraktivität dargestellt, etwa wie die kolorierte Gravur von Charles Monnet, der das Bild mit »Peintre du roi« unterschrieb.43 Hier nimmt der Künstler die Perspektive der Zuschauertribüne ein. Das Geschehen selbst erscheint weit weg, wird aber vom Publikum bejubelt. Fünf Jahre später schuf der Maler Charles Thévenin eine Perspektive, die eine stärkere Inklusion des Volkes in das Ritual suggeriert.44 In diesem Ölgemälde erkennt man immer noch die Ordnung der Tribünen, aber der Maler platziert ein anderes Geschehen im Vordergrund: Soldaten und bürgerlich gekleidete Männer umarmen sich. Dies dürfte eine affirmative Geste zur Herstellung der Einheit sein und wird in den Inszenierungen der Revolutionsfeiern, vor allem in der radikalen Phase der Revolution zwischen 1791 und 1794, zum zentralen Bestandteil des Rituals. Deutlich markiert das Bild auch die Präsenz von Frauen, was auch im Bild von Monnet durch ihre Hüte zu erkennen ist. Damit wird die Kategorie »Volk« visuell auf das weibliche Geschlecht erweitert, und zwar unabhängig davon, dass Frauen keine politischen Rechte besaßen. Im Gegensatz zu Monnets Darstellung löst Thévenins Bild die Trennung zwischen passiven Zuschauern und aktiven TeilnehmerInnen auf. 41 Der Sturm auf die Bastille prägte das politische Imaginäre massiv. Daraus entstanden unzählige Bilder, die in verschiedenen diskursiven und piktoralen Formen zirkulierten. Ich danke Markus Dauss für die Erinnerung an diesen Punkt. Siehe Diehl 2011. 42 Siehe Baxmann 1989. 43 Das Bild von 1790 trägt den Titel »Féderation générale des Francais« und befindet sich in der Bibliothèque Nationale in Paris. 44 Das Gemälde von Charles Thévenin (1764-1838) La Fête de la Fédération, le 14 juillet 1790, au Champ-de- Mars, wurde 1795 angefertigt und befindet sich im Musée Carnavalet in Paris.

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Die Zusammenkunft der Masse als Volk in der ersten Revolutionsfeier von 1790 markierte eine wichtige Etappe zur Konstituierung des Volkes als politisches Subjekt: die Souveränität, die einst dem König gehörte und von ihm verkörpert wurde, gehörte jetzt zur Nation. Im Artikel 3 der französischen Menschenrechtserklärung vom August 1789 heißt es: »Der Ursprung aller Souveränität liegt ihrem Wesen nach bei der Nation; keine Körperschaft und kein einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich aus dieser Souveränität hervorgeht.«45 Auch wenn man noch nicht vom Volke als Souverän sprechen konnte, lieferte die versammelte Masse die erste visuelle Vorlage, die das Gedächtnis der werdenden Demokratie prägen würde und viele Maler inspirierte. Später, als der König nicht mehr lebte, erhob die radikale revolutionäre Regierung diese Art der Volksrepräsentation zur staatlichen Aufgabe und übte sich in der choreografischen Organisation des Volkes. Der Maler Jean-Louis David, der dem Nationalkonvent angehörte, fertigte mehrere Skizzen dieser Inszenierung an und ließ sich von Rousseaus Vorstellung eines Kollektivkörpers46 inspirieren. Wie eine Prozession sollte die Menge an den Hauptsymbolen der Republik haltmachen, dabei ging es vor allem darum, die Vielen zu einer Einheit zu bringen. Das berühmteste Bild dieser Art dürfte die »Fête de l’Etre Suprême au Champ de Mars«, von Pierre-Antoine Demachy gestaltet, sein. Demachy nimmt eine weite Perspektive des Geschehens vom 8. Juni 1794 ein und zeigt die Menge in friedlicher Interaktion. Davids Choreografie ist noch erkennbar: umringt von der Menge sind die republikanischen Symbole sichtbar. Auf der rechten Betrachtungsseite des Bildes steht die Statue des Herkules, die das Volk als Souverän repräsentiert; an der höchsten Stelle, auf dem heiligen Hügel, kommt das Volk endlich zum Freiheitsbaum mit der phrygischen Mütze an der Spitze zusammen. Die Organisation der Masse ist eine grundlegende Komponente der republikanischen Symbolik. Sie gibt den versammelten Individuen einen Sinn und bringt sie in einem Kollektiv zusammen. Dass damit grundlegende Konflikte mit der Pluralität der symbolischen Ausdrücke des Volkes entstehen, zeigten sowohl Richard Sennett47 als auch Judith Butler48.

45 http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/la-constitution/laconstitution-du-4-octobre-1958/declaration-des-droits-de-l-homme-et-du-citoyen-de-1 789.5076.html (Zugriff 12. Januar 2017). 46 Siehe Rousseau 2005, 155f., 163 und 181. 47 Sennett 1994, S. 368. Ich danke Markus Dauss für den Hinweis auf Sennett an dieser Stelle. 48 Butler 2015, S. 160ff.

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Abb. 2: »Fête de l’Etre Suprême au Champ de Mars« (Pierre-Antoine Demachy, ca. 1794).49 An Demachys »Fête de l’Etre Suprême au Champ de Mars« ist eine symbolische Doppelung erkennbar: das Volk als Menge schafft nicht nur durch Präsenz seine Symbolisierung als Kollektiv, es begegnet seiner eigenen Symbolisierung als Herkules. Diese Begegnung ist das Zusammentreffen von zwei unterschiedlichen Symbolisierungsformen des Volkes: Die erste Symbolisierungsform zieht ihre Kraft aus der Performativität der Präsenz, die abgebildet wird. Bis heute ist das Zusammenkommen der Vielen die machtvollste Symbolisierung des Volkes als politisches Subjekt. Die zweite Darstellung des Volkes im Bilde zieht ihre Symbolkraft aus der allegorischen Tradition, die sich zur abstrakten und ideellen Repräsentation eignet. Zu dieser Tradition gehört die Visualisierung von Prinzipien, die von der revolutionären Symbolik auf beiden Seiten des Atlantiks übernommen wurden. Auf diese Weise wurden die Freiheit, die Gleichheit, die Gerechtigkeit als zentrale Prinzipien, aber auch die Republik als neue Staatsform und die Nation dargestellt. Die Begegnung des Volkes als Menge mit seiner Symbolisierung als Herkules in Demachys Gemälde antizipiert die Unterscheidung zwischen Volk als politischem Ideal und Volk als konkreter sozialer Gegebenheit, die Pierre Rosanvallon in der modernen Demokratie identifiziert hat. Denn das Volk als soziale Gegebenheit ist der Volksmenge implizit, während seine Idealisierung in der Herkules-Allegorie deutlich hervorsticht. Wenn also das Volk als Präsenz gegenüber der Allegorie des Volkes als Souverän im Bild des Malers Demachy tritt, handelt es sich keineswegs um eine symbolische Doppelung. Vielmehr treffen sich zwei Bilder, die auf unterschiedliche Bedeutungsdimensionen des Volkes aufmerksam machen. 49 Das Bild befindet sich im Musée Carnavalet, Paris.

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Demachys Bild stellt die Betrachter vor folgende Fragen: Auf welche Weise symbolisiert die Herkules-Allegorie das Volk und welche imaginären Implikationen hat diese Allegorie im revolutionären Kontext? In welcher Beziehung standen das Herkules-Motiv und die visualisierte Volkspräsenz? 3.2 Die gescheiterten Bilder des Volkes als politisches Subjekt In einer kurzen Periode der französischen Geschichte fungierte Herkules als offizielles Symbol des Volkes in seiner Rolle als politischer Souverän. In der US-amerikanischen Symbolik tauchte Herkules schon 1776 als John Adams Vorschlag für das »U.S. Great Seal« auf, allerdings nicht explizit als Ikonografie des Volkssouveräns, sondern als Darstellung der Einheit der Nation. Herkules musste aber dem Adler und der Inschrift »E pluribus unum« weichen, auch wenn 1778 der Marquis de Barbis-Marbois das Motiv zu seinem »Allegory of the American Union« wählte.50 In der französischen Geschichte aber wurde die mythische Figur zum Symbol des Volkes als politischer Akteur und Souverän. Allerdings dauerte diese symbolische Funktion nicht lange, Herkules als Darstellung des souveränen Volkes existierte nur in der radikalen Phase der Französischen Revolution zwischen 1793 und 1794. Will man die Bedeutung des Herkules als Visualisierung des Volkes, sein Erscheinen und Scheitern in der demokratischen Symbolik verstehen, ist die Analyse seiner imaginären Implikationen grundlegend. Nach der Enthauptung des Königs 1793 war der Weg nicht nur für die Republik, sondern auch für die Etablierung des Volkssouveränitätsprinzips geebnet. Zu diesem Kontext gehört, dass die danach erarbeitete Französische Verfassung von 1793 die Formel festlegte: »Die Souveränität ruht im Volke, sie ist einheitlich und unteilbar, unverjährbar und unveräußerlich«.51 1792 diskutierte der Nationalkonvent das Bildmotiv für das neue Staatssiegel. Anstelle des Königs wählten sie eine weibliche Allegorie (noch nicht als Marianne gekennzeichnet). Doch im Oktober 1793 widerrief der Konvent diese Entscheidung und optierte für Jean-Louis Davids Vorschlag, die mythische Figur des Herkules als Darstellung des Volkes auf dem nationalen Siegel abzubilden. Dazu kam es allerdings nicht. Nicht nur der Regierung durch die Thermidorianer, die 1794 folgte, widerstrebte eine solche symbolische Ermächtigung des Volkes, auch Robespierre stand dieser ambivalent gegenüber und versuchte ein pädagogisches Konzept in Gang zu bekommen, das das Volk bändigen könnte. Was ist der Grund für eine solche Skepsis gegenüber der Symbolisierung des Volkes als Souverän in der post-revolutionären Republik? Vermutlich liegt der störende Faktor weniger in der Symbolisierung des Volkes selbst, sondern eher in seiner Bedeutung als Souverän. Im französischen Fall enthielt das Herkules-Motiv eine deutliche Pointe: In der Monarchie symbolisierte Herkules die Souveränität, Macht und Tugend der Monarchen. Die Figur wurde deshalb in mehreren Königsporträts verarbeitet, und seine Attribute wie die Keule und das Löwenfell 50 Herzogenrath 2010, S. 11. 51 Siehe dazu Anm. 2.

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schmückten die Darstellungen der Monarchen. Ausgerechnet dieses Motiv für die Symbolisierung des Volkes zu wählen, war ein revolutionärer Akt, er markierte die Eroberung der Souveränität durch das Volk. Doch das Volk als unbesiegbaren Herkules darzustellen, ist für Regierungsvertreter eine heikle Angelegenheit. Es macht auf die Gefahr aufmerksam, dass das Volk sich tatsächlich wie der Souverän verhalten und seine Regierung gegebenenfalls mit Hilfe der Gewalt beseitigen kann.52 Frankreich war Schaubühne für ein solches Verhalten gewesen, die Erinnerungsbilder der gewalttätigen Masse im September 1793 waren noch nicht verblasst. Es ist daher nicht überraschend, dass diejenige Regierung, die die radikale Phase der Revolution beendete, das Herkules-Motiv in den Hintergrund drängte. Der Umgang der radikalen Regierung zuvor war ambivalenter. Sie betonte die Macht des Volkes, aber bändigte sie durch ein Erziehungsprogramm, das auch in der Bildpolitik der Zeit zum Ausdruck kam.53 Die Angst vor der Symbolisierung des Volkes als Souverän liegt gerade darin, dass das konkrete Volk sich durch diese Idealisierung tatsächlich als Souverän verhalten und die Macht der Regierenden in Frage stellen kann.54 4. Zwei Dimensionen des Volkes 4.1 Idealvolk und Gesellschaftsvolk Pierre Rosanvallon hat auf zwei Dimensionen des Volkes in der Demokratie aufmerksam gemacht. Er unterscheidet zwischen dem Volk als politische Abstraktion und dem Volk als soziale Realität, also als konkrete Sammlung der Individuen. Zwischen beiden, so Rosanvallon, entsteht eine Grundspannung, die mit dem Volkssouveränitätsprinzip erklärt werden kann. Die Volkssouveränität schafft ein neues politisches Subjekt und begründet einen politischen und einen soziologischen Imperativ: Sie geht vom Volk als Autoritätsprinzip (»un régime d’autorité«) aus und erkennt in ihm zugleich einen konkreten Autor (»un sujet exerçant«).55 Dementsprechend spaltet sich das Volk in politisches Prinzip und soziale Gegebenheit.56 Die Spannung entsteht zwischen dem politischen Moment der Demokratie und ihrer sozialen Verwirklichung.57 In seiner ideellen Dimension repräsentiert das Volk das Einheitsprinzip, Rosanvallon verwendet hier den Ausdruck »peuple-nation«. Es handelt sich um ein abstraktes Volk, das symbolisiert werden muss, um existieren zu können. Die ganze Symbolik der Französischen Revoluti52 Diehl 2011, S. 152ff. 53 Ebd., S. 157ff. 54 Für Butler liegt hier nicht nur eine Spannung, sondern eine Opposition zwischen Volkssouveränität und Staatssouveränität vor. Butler 2015, S. 170. 55 Rosanvallon 2000, S. 15. 56 In weiteren Schriften entdeckt Rosanvallon weitere Dimensionen des Volkes wie »Wahlvolk« oder »demografisches Volk« (Rosanvallon 2010, S. 162). Dafür Diehl 2016. 57 Rosanvallon 2000, S. 14.

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on fokussiert auf die Herstellung des Einheitskörpers, die von Rosanvallon als »Prinzip und Verheißung der Demokratie« gelesen wird.58 In der zweiten Dimension findet man das Volk als Gesellschaftsvolk (»peuplesociété«), also das Ensemble konkreter Individuen, die keine Einheit konstituieren, da sie plural und historisch veränderbar sind.59 Als soziale Gegebenheit ist das Volk amorph, ausweichend und unwahrscheinlich (»sans formes, corps fuyant et improbable«).60 Dieses Volk nähert sich Leforts Beschreibung der entkörperten Gesellschaft, es ist pluraler Natur und befindet sich in ständiger Veränderung, daher ist es »unauffindbar«,61 ergo undarstellbar. Erfassen kann man die konkrete und plurale Dimension des Volkes nur mithilfe soziologischer Kategorien. Deswegen ist die Entdeckung dieser Volksdimension eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, also jenes Moments, in dem die Sozialwissenschaften hervortreten. Könnte man Rosanvallons Unterscheidung zwischen der ideellen und der konkreten Dimension des Volkes auf die Begegnung von Visualisierung der Volkspräsenz und Volksallegorie in Demachys Bild übertragen? Das wäre ein riskanter, aber nicht uninteressanter Gedankengang. Es fällt nicht schwer, Herkules als Idealisierung des Volkes zu verstehen. Das Motiv stellt einen einzigen Akteur dar, der nicht nur die Souveränität im abstrakten Sinne, sondern im revolutionären Symbolprogramm die Souveränität des Volkes zum Ausdruck bringt. Hier ist die Diversität des konkreten Volkes zugunsten der Herstellung eines einzigen Körpers schlichtweg ignoriert worden. Das Bild stellt eine Volkseinheit dar, die zur Handlung fähig ist. Anders verhält es sich mit dem Bild der Volksmenge. Gewiss, Rosanvallon vertritt die These, dass die konkrete Dimension des Volkes wegen seiner Veränderbarkeit und Pluralität nicht darstellbar sei. Die Darstellung der Menge – nicht nur in Demachys Bild, sondern in jeder bildlichen Form – müsste dann als Ausdruck des ideellen Volkes verstanden werden. Ähnlich argumentiert Judith Butler: »Any photograph, or any series of images, would doubtless have a frame or set of frames, and those frames would function as a potentially exclusionary designation, including what it captures by establishing a zone of the uncapturable«.62 Das heißt, jedes Bild von etwas ist immer nur eine Auswahl seiner Möglichkeiten und setzt bestimmte Konnotationen und Wahrnehmungsmuster voraus. Aber man könnte es riskieren, das Potenzial der Vielfaltsymbolisierung zu erörtern, das im Bild der Menge steckt, auch wenn jedes Bild einen Rahmen (frame) aufweist und dadurch bereits einen interpretativen Blick auf die Menge wirft. Die Volkpräsenz und die Darstellung des Volkes als Menge haben das Potenzial, auf die Gesellschaftsvielfalt zu verweisen. Ausnahmen sind hier identitäre und totalitäre Symboliken, aber bei solchen Darstellungen kann man nicht mehr von der

58 59 60 61 62

Ders. 1998, S. 40. Ders. 2000, S. 40ff. Ebd., S. 40,. Ebd., S. 419. Butler 2015, S. 165.

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Menge, sondern muss von der geordneten Masse sprechen.63 In der Demokratie dagegen haben die Bilder der Volksmenge die Funktion, das Volk symbolisch zu ermächtigen, um aus ihm ein politisches Subjekt zu machen. Je inkludierender sie wirken, desto machtvoller das Volk. Hinter der Volksmenge kann man deshalb die Vielheit des Volkes und die »uncapturable zone« vermuten. Im Demachys Bild wird diese Vielfalt durch die unterschiedliche Bekleidung und Gestik der einzelnen markiert, Geschlecht und Schicht sind dabei hervorgehoben. 4.2 Zum Verhältnis von Einheit und Vielheit Es bleibt noch die Frage nach den möglichen Verhältnissen zwischen Einheit des Volkes als Prinzip einerseits und der Vielheit seiner sozialen Komposition andererseits. Wie gesehen, war das Volk trotz seiner Zentralität in der demokratischen Symbolik nur für eine kurze Dauer Gegenstand der institutionellen Ikonografie. Es sieht so aus, als ob dem Volke ein Einheitsbild zu geben und es damit zum politischen Akteur zu erheben, eine riskante Angelegenheit für Regierende wäre. Zugleich scheint die Symbolisierung des Volkes als Präsenz der Menge vor allem dann institutionell gefördert zu sein, wenn es darum geht, aus der Menge eine kontrollierbare Einheit zu machen. Die Vorstellung einer erzieherischen Funktion kollektiver Rituale und ihrer zivilreligiösen Wirkung prägte die post-revolutionären Gesellschaften in Frankreich und Amerika. Sowohl zur französischen als auch zur US-amerikanischen politischen Tradition gehört das Zusammenkommen des Volkes zu der Zelebration patriotischer Gefühle und den Einheitsinszenierungen. Der 14. Juli für Frankreich und der 4. Juli für die USA bieten die Gelegenheit, in einer Mischung aus Volksfest und politischem Zeremoniell die patriotische Einheit zu feiern. Doch Rosanvallon hat zurecht eine andere Tendenz aufgespürt, die zwar der modernen Demokratie inhärent ist, jedoch mit den fortschreitenden sozialen Veränderungen im 19. Jahrhundert und zunehmender Individualisierung immer wichtiger wird: die Anerkennung sozialer Partikularitäten. Damit kehrt das Konzept der deskriptiven Repräsentation, das die Ständerepräsentation im Feudalismus garantierte, in neuer Funktion wieder. Denn der Politik drängt sich die Aufgabe auf, die Diversität der Gesellschaft zu repräsentieren,64 ja sogar ihr ein Bild zu geben. Die intrinsische Spannung zwischen der Repräsentation des Volkes als Einheit und Vielheit nimmt damit zu. Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Einheit zu Vielheit sowie die Herstellung eines politischen Subjekts zur Anerkennung der Gesellschaftsheterogenität stehen. Wie kann dieses Verhältnis visualisiert werden? Ist es überhaupt möglich, ein plurales politisches Subjekt zu schaffen? Und wenn ja, welche sind die geeigneten Bilder dafür? Für Rosanvallon ist vor allem die Differenz, ja die Distanz, zwischen ideellem und konkretem Volk konstitutiv für die Demokratie. Dieses Argument soll im 63 Elferding 1987. 64 Rosanvallon 1998, S. 139ff.

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Hinblick auf die Konstruktion des Volkes als politisches Subjekt ergänzt werden. Das heißt: Nicht nur sind ideelles und konkretes Volk unterschiedlich, sie interagieren auch miteinander. »Demokratische Repräsentation«, schreibt Ernst-Wolfgang Böckenförde, »bedeutet die Aktualisierung und Darstellung des in den Bürgern angelegten eigenen Selbst des Volkes sowie des Bildes, das in der Vorstellung der Bürger von der Art der Behandlung der allgemeinen Fragen sowie der Vermittlung der Bedürfnisse und Interessen auf das Allgemeine hin lebendig ist.«65 Die Konstituierung des Volkes als politisches Subjekt der Demokratie entsteht aus einem dynamischen Prozess, aus der Interaktion zwischen ideellem und konkretem Volk. Damit ist gemeint, dass die konkreten Bürger und Bürgerinnen sich aufgrund ihrer Vorstellungen des ideellen Volkes und aufgrund ihrer politischen Praxis als politisches Subjekt begreifen und sich somit konstituieren können. Sie teilen Vorstellungen über das ideelle Volk miteinander und auch darüber, wie das politische Subjekt sein soll. Daraus entstehen Vorbilder mit normativem Charakter, die sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Vergangenheit und Zukunft beziehen – dazu können durchaus Bilder der pluralen Gesellschaft gehören. Das Volk schafft sich somit Vorstellungen, die seine eigene Existenz transzendieren und das ideelle Volk ermöglichen. Das politische Subjekt ist immer das Ergebnis der Interaktion von konkretem und ideellem Volk. Und diese Interaktion findet in vielfältigen und dynamischen Konstruktionsprozessen – etwa diskursiven Konstruktionen, symbolischen Repräsentationen und deliberativen Prozessen – statt. 5. Drei Beziehungen zwischen Einheit und Vielheit im Bild Politische Institutionen erzeugen selten ikonografischen Produkte, die die Aushandlung zwischen Einheit und Vielheit sichtbar machen. In der Kunst aber erfahren sie eine Interpretationsstufe durch den Künstler bzw. die Künstlerin und können unterschiedliche Verhältnisse zwischen Einheit und Diversität zum Ausdruck bringen. Die Ikonografie des Volkes kann die Vielheit als Voraussetzung für das Funktionieren der Einheit markieren, sie kann aber auch Vielheit als Merkmal der Einheit darstellen, und schließlich kann die Visualisierung des Volkes Vielheit als dynamisches Moment des Volkes zeigen. Drei ikonografische Beispiele bringen diese unterschiedlichen Beziehungen zum Ausdruck. Keines von ihnen diente als institutionelle Darstellung des Volkes, zwei davon sind Gemälde und unterliegen dadurch der Künstlerinterpretation, das letzte Beispiel aber ist durch den performativen Einsatz der BürgerInnen selbst entstanden und geht zurück auf die Darstellung des Volkes als Präsenz. Was sie alle gemeinsam haben: Sie sind Ausdrücke des politischen Imaginären und zugleich symbolische Mittel politischer Intervention in das Imaginäre.

65 Böckenförde 1983, S. 25f.

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5.1 Vielheit als Voraussetzung für das Funktionieren der Einheit Das erste Beispiel ist ein Gemälde des US-amerikanischen Künstlers Thomas Hart Benton. Benton war politisch links orientiert und widmete sich der Darstellung unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten. Berühmtheit erlangte der Maler vor allem mit seinem Projekt »Mural of Indiana«, bei dem er 75 Panels zwischen 1918 und 1928 schuf. Als Vertreter der Regionalismus-Bewegung hatte Benton versucht, die Verschiedenheit der Gesellschaft zu visualisieren. Sein Bild »The People of Chilmark«66 (Abb. 3) von 1920 stellt eine Gruppe dar, die unterschiedliche Körperformen, Geschlechter und Kleider aufweist. Die abgebildeten Körper sind auch mit verschiedenen Aktivitäten beschäftigt. Doch auf den zweiten Blick entdeckt man, dass diese unterschiedlichen Teile der Gesellschaft nicht in autarke Aktivitäten vertieft sind. Vielmehr bilden sie ein Ensemble, in dem Kooperation die Beziehungen zwischen den Individuen kennzeichnet. Formal gesehen gilt, dass »the painting resolves an oversupply of visual information […] into an integrated surface, one made dynamic by ›bumps and hallows’ but held together by graceful rhythms«.67 Symbolisch betrachtet repräsentiert das Bild die Interaktion der Organismen mit der Umgebung, die, »when it is carried to the full, is a transformation of interaction into participation and communication«.68 Der Kunsthistoriker Justin Wolff meint sogar, dass die Protagonisten der Szenerie nicht einmal miteinander sprechen müssen, da die Kommunikation zwischen ihnen auf »natürliche« Weise geschieht. Schließlich geht es im Bild um die Rettung der Chilmark-Inselbewohner vor der Flut. In dieser Situation ist die Gesamtheit auf das ergänzende Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Individuen angewiesen. Die Vielheit wird hier zur Einheit arrangiert, jeder Teil erfüllt eine Funktion im Ganzen, und dies geschieht auf eine fast organische Weise. Das Schiffsmotiv wird oft als Metapher des Staates verwendet,69 kommt aber hier ohne Steuermann aus. Das Motiv erinnert an Théodore Géricaults »Das Floß der Medusa«, zeigt aber dynamischere Prozesse und die Integration der Protagonisten in einem Ensemble. Anders als das »Floß der Medusa« zeigt »The People of Chilmark« lebendige und aktive Körper, es gibt keine Toten, und die Körper sind vital dargestellt. Wolff betont, dass das Bild Bentons Sicht auf den Ort als »integrated community« zur Geltung bringt.70 Einheit wird ikonografisch als funktionale Koordination und non-verbale Kommunikation der Vielheit präsentiert.

66 Ich danke der Hirshhorn’s Collection für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Bildes. Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution. Gift of the Joseph H. Hirshhorn Foundation, 1966. Photography by Cathy Carver. 67 Wolff 2012, S. 171. 68 Ebd., S. 171. 69 Münkler 1994. 70 Wolff 2012, S. 174.

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Abb. 3: The People of Chilmark (Thomas Hart Benton, 1920). Politiktheoretisch hat diese Auffassung ihre Vorbilder in der Kombination von Uhrwerk und Organ, die im Modell der Körpermaschinen zum Ausdruck kam.71 Dieses Modell war seit der Frühneuzeit bekannt, beeinflusste aber das demokratische Denken erst durch Jean-Jacques Rousseau. Im Buch IV des Gesellschaftsvertrags zeichnet Rousseau das Bild des Staates als Körper, in dem alle Teile in einem holistischen Prinzip miteinander interagieren. In Rousseaus eigenartigem Körperbild wird Souveränität durch den ganzen »politischen Körper« verteilt.72 5.2 Vielheit als Merkmal der Einheit Die zweite Art der Beziehung zwischen Vielheit und Einheit kann bei dem Gemälde der brasilianischen Künstlerin Tarsila do Amaral beobachtet werden. Das Bild »Operários« (die Arbeiter) von 1933 (Abb. 4) zeigt ein heterogenes Ensemble und antizipiert die Vorstellung von Diversität des Volkes in der Einwanderungsgesellschaft. Das Bild liefert bis heute die visuelle Vorlage für die Vorstellung des brasilianischen Volkes und erscheint in Schulmaterial, Werbung oder Buchillustrationen – unter anderem als Titelbild des Bestsellers O povo brasileiro (Das brasilianische Volk) des Anthropologen Darcy Ribeiro. Die Gesichter visualisieren unterschiedliche Herkunft und markieren somit die inkludierende Haltung angesichts 71 Zur historischen Entwicklung dieser Metapher siehe Stollberg-Rilinger 1986. 72 Diehl 2015, S. 197.

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von Einwanderung und ethnischer Vermischung. Doch nicht nur die verschiedenen Physiognomien, Haut- und Augenfarben sind hier Zeichen der Diversität der Bevölkerung. Auch die Kleider haben eine Bedeutung: Sieht man sich das Gemälde näher an, entdeckt man Zeichen, die unterschiedliche Milieus andeuten, wie etwa das rote Kopftuch der Landarbeiterin (auf der linken Betrachtungsseite), die Brille als Zeichen des intellektuellen Berufs des Mannes in der Mitte des Bildes oder die Wahl zwischen Hemd oder Pullover der männlichen Protagonisten.73 Symbolisch umrahmt werden die Porträts durch die Fabrikschornsteine im Hintergrund; sie geben den unterschiedlichen Körpern eine einzige Identität als Arbeiter, die, marxistisch gesehen, stellvertretend für das Volk steht. In den 1930er Jahren war Tarsila do Amaral Mitglied der Kommunistischen Partei und im Austausch mit sowjetischen Intellektuellen und Künstlern. In dieser Phase widmete sie sich der sozialen Kritik. Dies erklärt auch, warum die Abgebildeten einen etwas müden bzw. traurigen Eindruck machen. Keine und keiner von ihnen lächelt – dies erinnert an Engels’ Beschreibungen der inhumanen Arbeitsbedingungen der englischen Arbeiter zu Beginn der Industrialisierung. Die Bedingungen der Arbeiter in Brasilien in den 1930er Jahren waren hier Gegenstand der Kritik. Die Kunsthistorikerin Aracy Amaral macht darauf aufmerksam, dass die Künstlerin eine Homogenisierung der Gesichter mittels der chromatischen und Formreduktion vornimmt, um ihre Sozialkritik zum Ausdruck zu bringen.74

Abb. 4: Operários (Tarsila do Amaral, 1933). 73 Die brasilianische Kunstgeschichte schenkt diesen Unterscheidungen keine Aufmerksamkeit und betont die homogenisieren Darstellung im Bild (Aracy Amaral 2006). 74 Amaral 2006, S. 62.

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Anders als Bentons Darstellung bilden Amarals Arbeiter keine integrative, geschweige denn organische Einheit. Im Vordergrund steht lediglich ihre Diversität, die Kooperation zwischen ihnen fehlt gänzlich. Was kulturell und physiognomisch divers ist, wird aber innerhalb der Arbeiterklasse homogenisiert. Amarals Bild ist insofern Ausdruck einer sozio-politischen marxistischen Kritik, als die Homogenisierung des Volkes als Ergebnis der ökonomischen und Arbeitsbedingungen erscheint, das Volk wird jedoch in den dargestellten Verhältnissen nicht zum politischen Subjekt, dafür hätte es einer eigenen symbolisch-diskursiven Artikulation bedurft, wie es etwa die Theorie von Ernesto Laclau nahelegt. Für das Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit ist das Bild jedoch von Interesse, weil es die Heterogenität des Volkes in den Kern der brasilianischen nationalen Identität platziert. 5.3 Vielheit als dynamisches Moment des Volkes Die dritte Beziehung zwischen Einheit und Vielheit in der Volksikonografie gehört zu einem ganz anderen Medium, der Fotografie, und verdankt seine Bekanntheit der medialen Übertragung von Selbstsymbolisierung als Präsenz. Wenn politische Bewegungen und Protestierende auf die Straße gehen, rechnen sie immer mit dem Medialisierungseffekt der Bilder, die durch ihre Präsenz produziert werden. Eine konkrete historische Situation ist hier von Bedeutung. Nach den Attentaten auf die Redaktionsmitglieder der Satirezeitung Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 und auf den koscheren Supermarkt am Tag danach, beide in Paris, markierten die folgenden Demonstrationen am 11. Januar das zentrale Moment der Rekomposition einer geschockten Gesellschaft. Auf der Place de la République versammelten sich 1,5 Millionen Menschen. Sie alle bekundeten ihre Zugehörigkeit zur französischen demokratischen Gesellschaft, die jetzt gegen Intoleranz auf die Straße ging. Die Demonstration stand in der Tradition der Herstellung von Einheit, die bereits die »Fête Revolutionnaire« von 1790 bekundete und knüpfte schon örtlich an die revolutionäre Tradition an. Die erste Reaktion auf das Attentat kam sowohl von Regierenden als auch von den Medien. Beide appellierten an die Einheit des französischen Volkes und an republikanische Werte. Die linksliberale Zeitung »Libération« titelte ihre Ausgabe vom 8. Januar mit »Nous sommes tous Charlie«. Die Kollektivform »Wir« hatte sich bis dahin in der republikanischen Tradition als Zeichen der Herstellung des politischen Subjekts und der Zusammensetzung des Volkes etabliert und diente auch als Vorlage für die Solidarisierung mit den Opfern des 11. September mit dem Satz »Nous sommes tous américains«. Das »Wir« markiert auch die Solidaritätsbekundung in unterschiedlichen Protestbewegungen bis heute. Als die französische Regierung dem jüdischen deutschen Aktivisten Daniel Cohn-Bendit die Einreise verwehrte, organisierte sich die 68er-Bewegung und bekundete ihre Solidarität mit dem Satz »Nous sommes tous des juifs allemands« (»Wir sind alle deutsche Juden«). In symbolischer Hinsicht ist ein solcher Satz nicht uninteressant. Es handelt sich um einen metonymischen Satz: Ein Teil, die deutschen Juden, wird zum Symbol für die Gesamtheit der Unterdrückten, die der Solidarität bedürfen. Der Satzteil »nous sommes tous« (Wir

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sind alle) signalisiert die Identifikation aller mit dem Unterdrückten. Damit mutiert der Identifikationsgegenstand »die deutschen Juden« bzw. »Daniel CohnBendit« zu einem, in Ernesto Laclaus Terminologie, »empty signifier«.75 Der Name Daniel Cohn-Bendit wird aber keineswegs zum leeren Wort, sondern fungiert als »empty signifier« und wird zu einem Symbol, das offen genug ist, um die Identifikation unterschiedlicher Gruppen und Individuen mit »dem deutschen Juden, Daniel Cohn-Bendit« zu ermöglichen. Cohn-Bendit selbst wird als deutscher Jude zum Symbol der Unterdrückung, wogegen sich die Mobilisierung der Einzelnen richtet. Für Laclau liegt in solcher diskursiver Äquivalenz die Geburt des politischen Subjekts, des Volkes.76 Es ist die Identifikation mit einem gemeinsamen Nenner, die es den Einzelnen ermöglicht, sich zusammen zu schließen. Doch am 11. Januar passierte etwas Anderes. Das Volk konnte sich nicht auf Charlie als »empty signifier« einigen. Uneins waren Gruppen und Individuen darüber, ob sie im Namen der kontroversen Zeitung Charlie Hebdo demonstrieren sollten, entzweit waren sie auch darüber, was dies genau für den Status der Muslime im Lande bedeutete. Im Internet wurde das Motto gleich geändert und erschien als »Je suis Charlie«. Diese Formulierung wurde auch am 11. Januar von »Libération« und anderen Zeitungen aufgegriffen und diente als Motto der Demonstration. Der Eintritt des individualisierenden »ich« in die Geschichte kollektiver Symbolisierung Frankreichs ist eigenartig, aber gerade deswegen von Interesse. Er bleibt als Ausnahme in der politischen Kultur Frankreichs und wurde gleich von impliziten oder expliziten identitären Vorschlägen verdrängt. Doch die Bilder, die daraus entstanden sind, entfalten ein symbolisches Potenzial, das als Demokratisierungsquelle und für die Reformulierung der Volkssymbolik angesichts zunehmender sozialer Diversität fungieren kann. Auf der Straße markierte das Volk seine Heterogenität durch physische Präsenz und bekundete die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Identitäten innerhalb der republikanischen Einheit. Viele der VeranstaltungsteilnehmerInnen trugen Plakate mit unterschiedlichen Variationen des Mottos »Je suis Charlie«, die aber additiv verwendet wurden.77 Wenn »Je suis Charlie« als Demonstrationsmotto in irgendeiner Weise als umstrittener »empty signifier« für das Volk fungierte, wurde dieses Motto mit zusätzlichen Differenzierungen ergänzt. Unter »Je suis Charlie« schrieb eine Demonstrantin auf ein selbstgebasteltes Plakat »Je suis juive«, »Je suis musulmane«, »Je suis française« (alles in weiblicher Form). In manchen Pariser Bezirken nutzten die Behörden die Verkehrsbeschilderung, um diesen additiven symbolischen Vorgang zu wiederholen, jetzt in männlicher 75 Laclau 2005, S. 96, 98. Für Laclau sind »empty signifiers« keineswegs komplett leer, sondern entleert und können dadurch als Symbol für etwas anderes fungieren. 76 Ebd., S. 183. 77 Entsprechende Bilder konnten in mehreren Internetseiten und Blogs gesehen werden. Inzwischen sind sie schwer zu finden. Hier ein Beispiel: France Info, »La France a-t-elle manqué son rendez-vous avec l’islam?« http://www.francetvinfo.fr/faits-divers/attaqueau-siege-de-charlie-hebdo/la-france-a-t-elle-manque-son-rendez-vous-avec-l-islam_793 219.html (Zugriff 1. Oktober 2017).

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Form mit dem Zusatz »Je suis policier«, in Erinnerung an die getöteten PolizistInnen. Andere Bilder zeigten auch verschiedene Nationalfahnen, die die Herkunftsländer muslimischer Migranten darstellten. Weitere wiederum zeigten die Selbstrepräsentation eines Individuums als Mitglied einer spezifischen Gruppe, oft einer religiösen wie »Ich bin Jude«, »Muslim«, »Katholik«, etc., aber auch »Je suis Pd« für »Ich bin Schwul«. Mache bekundeten sogar »Ich bin nicht Charlie«. Das Neue dabei war, dass die TeilnehmerInnen der Veranstaltung die Volkspräsenz nicht nur als Performativität der Einheit, sondern auch als Bekundung von Diversität nutzten. Eine solche Selbstinszenierung des Volkes als Präsenz kann als »Orchestrierung des porösen Charakters des Volkes«78 verstanden werden. Butlers Position ist radikaler als das hier vorgebrachte Argument. Für sie gehört zum demokratischen Inszenierungspotenzial auch, dass sich die Rahmung teilweise selbst zerstören kann. Das hier vertretene Argument geht einen anderen Weg und erkennt an der Verknüpfung der Vorstellung von Einheit mit der Inszenierung von Vielheit ein dynamisches Moment der Demokratie. Wenn also Rosanvallon die Differenz, ja die Distanz zwischen ideellem und konkretem Volk und die Spannung zwischen ihnen vordergründig behandelt, liegt die Innovation der Volkssymbolik der Pariser Demonstration darin, dass beide Dimensionen des Volkes miteinander interagieren und füreinander konstitutiv sind. Die Konkurrenz zwischen der Repräsentation des Volkes als Einheit und der Repräsentation der Gesellschaftsdiversität operiert hier in einem dialektischen Verhältnis. Diese Dialektik kann in Anlehnung an John Grant als »simultaneously dependent on and antagonistic towards each other« beschrieben werden. Grant hat den Mechanismus als Erklärung eines etwas anders gelagerten Problems – das Problem des Souveränitätsimaginären und des demokratischen Imaginären – angewandt, aber seine Beschreibung ist auch für das Verständnis von Volkssymbolisierung als Einheit und als Diversität in modernen und globalen Gesellschaften erhellend. Abhängigkeit und Antagonismus »are therefore productive insofar as they contribute to the terrain of political contestation«.79 Dies eröffnet wiederum die Perspektive auf Leforts Vorstellung der Gesellschaft als dynamisch und offen, ohne jedoch die Möglichkeit der Herstellung eines politischen Subjekts einbüßen zu müssen. 6. Schluss Diese kurze Auseinandersetzung mit der Ikonografie des Volkes, mit ihren Schwierigkeiten und Möglichkeiten in der demokratischen politischen Kultur erhebt nicht den Anspruch, universal gültig zu sein. Vielmehr wird damit die Aufmerksamkeit auf ein Problem gelenkt: die visuelle Repräsentation des Volkes als politisches Subjekt. Sie zeigt, welche Symbolisierungsmöglichkeiten die demokratische Spannung zwischen Einheit und Vielheit bietet, und weckt das Bewusstsein 78 Butler 2015, S. 165. 79 Grant 2014, S. 584.

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dafür, wie die Ikonografie des Volkes unterschiedliche Auffassungen von Demokratie, Vorstellungen über Inklusion und Exklusion sowie über die Rolle der BürgerInnen zum Ausdruck bringt. Wenn sich die Gesellschaft durch Inszenierung und Symbolisierung eine Form gibt und die politische Ordnung dadurch Sinn erhält, wie es Leforts Demokratietheorie besagt, dann sind die Arten und Weisen, wie das politische Subjekt der Demokratie, also das Volk, visualisiert wird, keine ausschließlichen kunsthistorischen oder kulturwissenschaftlichen Gegenstände. Im Gegenteil, die Tatsache, dass das Volk im Laufe der demokratischen Geschichte nur selten durch politische Institutionen als Souverän visualisiert wurde, und die vielfältigen Visualisierungsverhältnisse zwischen Einheit und Vielheit müssten die Politikwissenschaft beschäftigen. Das Volk und die Volkssouveränität stehen im Kern der Demokratie. Die Visualisierung des Volkes ist ein außerordentliches politisches Repräsentationsmedium. Doch jede Visualisierung ist zugleich eine Reduzierung und Fixierung des repräsentierten Gegenstandes. Die Versuche, dies trotzdem zu tun, bleiben unvollständig, aber sie sind Zeugnisse von Transformationen des Politischen und sind untrennbar von der Geschichte der politischen Ideen und ihrer Konzepte. Die Bilder des Volkes, ob piktorale oder mentale, bieten aufschlussreiche Gegenstände für die politiktheoretische Reflexion. Sie gehören zum politischen Imaginären und zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion. Sich mit ihnen auseinander zu setzen, eröffnet nicht nur einen neuen Blick auf politische Institutionen und auf die politische Kultur, die Bilder des Volkes zeigen auch, was denkbar und was vorstellbar war und ist. Das Volk kann als Allegorie abstrahiert werden, als Präsenz der Menge oder organisierte Masse auftreten, als organische Komposition erscheinen, als Summe der ausgebeuteten Individuen dargestellt werden oder sich selbst als konstitutive Diversität der Einheit repräsentieren. Solche visuellen Variationen in der Demokratie zeigen den unterschiedlichen politischen Umgang einerseits mit der Notwendigkeit, das Volk als einheitliches politisches Subjekt zu konstituieren, und andererseits mit dem immer stärker werdenden Drang nach Anerkennung seiner Pluralität. Vor diesem Hintergrund bekommen die Bilder der Volkspräsenz und ihrer Diversitätsdarstellung am 11. Januar 2015 eine besondere Pointe: sie markieren ein dialektisches Verhältnis zwischen Volkseinheit und Volksdiversität, zwischen dem, was Rosanvallon »ideelles Volk« und »konkretes Volk« nennt. »E pluribus unum« bekommt damit eine ganz neue Bedeutung. Literaturverzeichnis Amaral, Aracy 2006. »A gênesis de Operários de Tarsila«, in dies.: Textos do Trópico de Capricórnio. Artigos e Ensaios (1980-2005), Bd. 1, S. 57-62. São Paulo: Editora 34. Arendt, Hannah 2003. Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper. Baxmann, Inge 1989. Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Berghoff, Peter 1997. Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse. Berlin: Akademie Verlag. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 1983. Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion. Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Aus Diehl 2015, S. 212. Abb. 2: Musée Carnavalet, Paris. Abb. 3: Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution. Gift of the Joseph H. Hirshhorn Foundation, 1966. Photography by Cathy Carver. Abb. 4: Das Bild gehört zum Archiv des brasilianischen Bundesstaates São Paulo und befindet sich im Boa Vista Palast.

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Die ikonographische Vermittlung von Differenz in Selbstregierungsregimen

1. Einleitung Im Folgenden soll das Problem der bildnerischen Verarbeitung der Differenzrepräsentation in Selbstregierungsregimen kursorisch von der Antike bis zum 19. Jahrhundert verfolgt werden, und zwar anhand von drei Darstellungsvarianten, erstens der Verwendung symbolischer Zeichen (wie zumal des Fasces-Bündels), zweitens der Darstellung der institutionellen Komponenten einer politischen Ordnung und drittens der Darstellung von kooperativen Handlungsabläufen. Von Selbstregierungsregimen (im Unterschied zu Alleinregierungssystemen) soll hier die Rede sein, um auf eine Gemeinsamkeit aufmerksam zu machen, die Demokratien, Republiken und andere Formen politischer Ordnungen teilen, nämlich die Frage beanworten zu müssen, wie die Adressaten von politischen Anweisungen (Subjekte, Untertanen) zugleich als Autoren dieser Anweisungen (Bürger) agieren. Selbstregierungsregime haben das Problem zu meistern, wie die freien Bürger sich selbst so beherrschen, dass gemeinsames Regieren möglich wird und nicht jeder Dissens, jede Differenz, jede Heterogenität innerhalb der Bürgerschaft zum Zerfall der politischen Ordnung führt. Die Repräsentation der politischen Einheit war von jeher eine der Aufgaben der politischen Ikonographie. Bilder werden zu Hoheitszeichen, darin stimmen Fürstentümer und Republiken und nun Demokratien überein. Die Frage nach dem generellen Verhältnis von Demokratie und Ästhetik ist vertraut.1 Am bekanntesten sind die Überlegungen zum politischen Körper und seiner sinnlichen Anordnung, sei es als Metapher,2 als räumliche Anordnung etwa der parlamentarischen Sitzordnung,3 oder bezüglich der Architektur demokratischer Institutionen.4 Das Bild der Demokratie führt auch zum grundsätzlichen Problem der (sinnlichen) Repräsentation der Demokratie im Allgemeinen.5 Im Unterschied zu Fürstentümern haben Selbstregierungsregime jedoch auf der Ebene des politischen Handelns ein spezifisches Problem: Anders als die Personalunion von hoheitlichem und handelndem Körper des Fürsten suggeriert, können Selbstregierungsregime nicht voraussetzen, dass die Personifikation der Republik identisch ist mit dem politischen Akteur. In Republiken handeln mehrere und oft sehr unterschiedliche Akteure (die Bürger). Die in der Person des Fürsten erkennbare, wenn auch meist nur unter1 2 3 4 5

Vorländer 2003. Koschorke 2007. Manow 2008. Sennett 1998. Diehl 2015, S. 183-258.

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stellte politische Einheit bedarf in Selbstregierungsregimen anderer Weisen der Selbstdarstellung. Bildern kommt hier eine besondere Funktion zu. Begreift man Bilder als Teil der Politischen Ideengeschichte, so steht vor allem die Rekonstruktion der durch Bilder vermittelten Argumentation im Fokus der Analyse, wie etwa in Quentin Skinners umfangreicher Beschäftigung mit Ambrogio Lorenzetti.6 Gerade bei Bildern der politischen Ikonographie tritt also zur ästhetischen Dimension die argumentative hinzu und steht zu dieser keineswegs in einem Verhältnis der Nachrangigkeit. Eine Parallele zwischen textlicher Ideengeschichte und kunstgeschichtlicher Bildwissenschaft könnte in dem Umstand gesehen werden, dass beide mit der Idee der Text-Handlung bzw. der Bild-Handlung operieren. Das Modell des Sprechaktes als Ausdruck des linguistic turn wirkte maßgeblich auf die führende methodische Schule der Politischen Ideengeschichte, die Cambridge School, ein. Nun zieht die Theorie des Bildaktes selbst die Parallele zur Sprechakttheorie.7 Die gesteht jedoch dem Sprechakt keinen eigenständigen Charakter zu und folgt darin den Überlegungen des Begründers der Sprechtakttheorie, John Austin. Dieser hatte hervorgehoben, dass für den Erfolg eines Sprechaktes die Umstände passen müssen.8 Um dessen eigenes Beispiel aufzugreifen: Der Eheschluss wird nicht durch das Sprechen (»Ich will«) vollzogen, sondern durch das Sprechen vor dem Standesbeamten, zum Sprechakt gehören also die institutionellen Kontexte hinzu, welche erst dem Sprechen einen Handlungscharakter verleihen. Insofern ist die Analogisierung des Sprechaktes mit dem Bildakt, den Horst Bredekamp mit Blick auf Austin vornimmt, nicht vollständig vollzogen,9 wenn nicht auch die Kontexte des Aktes berücksichtigt werden. Keineswegs schaffen Sprechakte aus sich heraus Fakten, es sind die Kontexte und darin agierende Menschen, die Sprechakte zu Fakten machen (und andere nicht oder sie ignorieren, umdeuten, ihnen andere Sprechakte zur Seite stellen und damit marginalisieren usf.). Im Weiteren werden also die in Bildern transportierten Argumentationen in den Mittelpunkt gerückt. Ein solcher Ansatz liegt auf dem ersten Blick quer zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bildwissenschaft. Die moderne Bildforschung10 geht weitaus grundsätzlicheren Fragen nach, die in die Bereiche von Erkenntnistheorie, Wahrnehmungstheorie, sogar Anthropologie reichen. Das hat mit den neuen Anforderungen zu tun, welche die Vielfalt der Bildtypen, mehr oder weniger singuläre bis hin zu massenhaft reproduzierbaren, stehende und bewegte Bilder, an die Theoriebildung stellt. Zu den Konsequenzen der im Werden befindlichen umfassenden Bildwissenschaft und der sie begleitenden Bildtheorie gehört der Verzicht auf die Deutungshoheit nur einer Disziplin zu Gunsten einer interdisziplinären

6 Skinner 2002a, die Verarbeitung eines älteren Beitrags: Skinner 1987; ferner Skinner 2002b. 7 Bredekamp 2010. 8 Austin 1979, S. 31, 1. Vorlesung. 9 Bredekamp 2010, S. 57-58. 10 Günzel/Mersch 2015; Netzwerk Bildtheorie 2014.

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Forschung.11 Wenn die Bildwissenschaft sich tatsächlich an ihrem Gegenstand orientiert, so wird sie um der Vollständigkeit der Analyse willen alle Aspekte zu einer Gesamttheorie verarbeiten müssen, darunter auch sozialwissenschaftliche Faktoren. Mit den einzelnen Disziplinen ist nämlich die Expertise verbunden, mit den jeweiligen Kontexten umzugehen, in welchen derselbe Gegenstand gestellt sein kann. Das Bild ist Gegenstand rechtlicher, ökonomischer und schließlich auch politischer Kontextualisierung. Ob eine völlig entkontextualisierte Bildanalyse möglich ist, ob Bildern eine Art Eigenleben zugesprochen werden kann, wie es die Bildakttheorie unternimmt,12 muss bezweifelt werden. Dann müssten Bilder zu jedem Zeitpunkt, in jeder räumlichen Anordnung, und auf jeden Betrachter dieselbe Wirkung entfalten. Das ist bislang noch nicht gezeigt worden. Die Berücksichtigung politischer Kontexte ist insbesondere dann als Deutungsrahmen angebracht, wenn die Bilder selbst Elemente und Motive benutzen, die aus politischen Kontexten, wie sie auch in anderen Vermittlungen von Argumentationen vertraut sind, aufgreifen und verarbeiten. Umgekehrt wirken Bilder aber auch auf politische Kontexte maßgeblich ein. Insofern Handlungen und zumal aufeinander abgestimmtes gemeinsames Handeln auf Argumenten beruhen und Bilder die Möglichkeit bieten, komplexe Argumentationen anschaulich zu vermitteln, etwa mittels der Verwendung von bestimmten Motiven und ihrer spezifischen kompositorischen Anordnung, sind Bilder immer schon für die politische Kommunikation geeignet gewesen, und zwar auch für eine sehr große Menge an Personen. Das Potential zur Verknüpfung und Verdichtung von Argumenten weist Bilder als wirksame Mittel der politischen Kommunikation aus, sie orientieren Deutungen und können dadurch politische Handlungen beeinflussen. Einen methodischen Brückenschlag zur weiterhin stark textlich fixierten Ideengeschichte bietet die sich in der Bildwissenschaft allmählich etablierende Bildrhetorik,13 die nicht alleine die Zeichenhaftigkeit oder die Erscheinung des Bildes in den Mittelpunkt stellt, sondern zusätzlich ihren interaktiven Handlungscharakter hervorhebt. Rhetorik kann hier aber Unterschiedliches heißen. Die Rezeption der Rhetorik in der Bildwissenschaft greift häufig auf eine gedankliche Linie zurück, die von Platon zu Heidegger reicht.14 Für ein analytisches Verständnis der Rhetorik erscheint dagegen der Rückgriff auf Aristoteles angemessener und ist zugleich in Abhebung zu metaphysischen Ansätzen erstrebenswerter.15 Es ist nicht erforderlich und auch nicht zu erwarten, dass die an sprachlicher Kommunikation ausgerichtete klassische Rhetorik eins zu eins auf die Analyse von Bildern übertragen werden kann. Die Vorbildlichkeit der Rhetorik besteht zunächst einmal darin, neben den Figuren und Zeichen auch die Argumente und Emotionen zu thematisieren sowie das Verhältnis von Redner und Hörer, also die 11 12 13 14 15

Etwa bei Günzel/Mersch 2015. Bredekamp 2010; äußerst kritisch hierzu Hornuff 2010. Knape 2005, 2007; Brassat 2005. Wyss 2015; Bredekamp 2010, S. 44-55. Der aristotelischen Rhetorik folgen Knape 2005, 2007 und jüngst auch Koch 2017.

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vollständige und konkrete Sprechsituation. Ob die Ebenenunterscheidung nach logos, ethos und pathos übertragbar ist und ob die herkömmlichen rhetorischen Begriffe für Entstehung und Aufbau der Rede passend sind, ob also beispielsweise der Aufbau der Rede der Komposition des Bildes entspricht usf., ist eine zunächst nachrangige Frage der weiteren methodischen Ausführung. Für die Frage der Argumentation ist die künstlerische Umsetzung im Falle des Bildes von weitaus größerer Bedeutung als im Falle des Textes. Während die im Text umgesetzte sprachliche Argumentation nur in einem geringen Maße von der künstlerischen Ambition der Drucktype, des Satzes, des Buchpapieres oder der digitalen Aufarbeitung und Anordnung beeinflusst wird, gehören die Technik und Stilistik der Bildverarbeitung unmittelbar zur Überzeugungskraft der in Bildern transportierten Argumentation. Eine vollständige Interpretation der visuellen Textur eines Bildes kann daher nicht auf die stilistischen Bildmittel und die verwendeten künstlerischen Techniken verzichten. Sie haben einen analogen Status zu der Sprachanalyse in der Rhetorik, wenn etwa die Tropen einer Rede erörtert werden, also die sprachlichen Mittel der Umsetzung des Gedankenganges in gesprochene Rede, von der Farbauswahl bis zum Farbauftrag, vom Pinselstrich bis zum Verhältnis von Licht und Schatten usf. Der argumentative Aspekt von Bildern zeigt sich besonders in der Verwendung von Symbolen, Bildern, Figuren. Dies und die gelegentliche Hinzunahme von Wortkombinationen oder auch nur Buchstabensequenzen macht es möglich, komplexe Argumentationen stark verdichtend zu einem Bild zu verknüpfen. Auf die Art und Weise der Verknüpfung wirken visuelle, ästhetische, mediale Faktoren ein, die gesondert, in der Regel kunstwissenschaftlich erörtert werden müssen. Hinzu kommt die Titulierung, aber auch die Platzierung der Bilder: für welche Räume sind sie konzipiert?, was wiederum auch die Frage klärt, welche Betrachter vorgesehen sind. Bilder können in Hinblick auf das Pathos zudem die Funktion der Identifizierung übernehmen, der Kenntlichmachung politischer Kollektivsubjekte etwa und der an den (zeitgenössischen) Betrachter adressierten Aufforderung, hierzu Stellung zu beziehen, insbesondere sich mit der Bildaussage zu identifizieren. Bilder als Formen politischer Argumentationen zu verstehen heißt demnach auch, die politischen Kontexte ihrer Interventionen berücksichtigen zu müssen. Bilder sind Teil von Deutungskämpfen, die in Konkurrenz zu anderen Bilderstrategien operieren. Es ist zwar verständlich, ein Bild wie das Frontispiz des Hobbes’schen Leviathan genealogisch an den Anfang eines neuen Diskurses zu stellen, den Diskurs moderner Staatlichkeit etwa. Aber aus dem Entstehungszusammenhang heraus wäre es ebenso aufschlussreich, den »Leviathan« in Konkurrenz zu etablierten Bildersprachen vergleichbarer politischer Zusammenhänge zu verstehen, zeitgenössisch also zum Schiff, der Stadt oder der Darstellung politischer Institutionen durch die räumliche Anordnung ihrer Akteure. Das führt zur Frage des Verhältnisses von Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation. Man kann nicht davon ausgehen, dass es Bildergruppen gibt, die politische Identität vermitteln im Unterschied zu anderen Bilder, die politische Differenz thematisieren. Eine solche Unterscheidung ist schon deswegen nicht möglich, weil es

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keine Identität ohne Differenz und auch keine Differenz ohne Identität gibt. Identität setzt Differenz voraus, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen die Differenz zu anderen Identitäten oder wenigstens zur Umwelt der Identität, also beispielsweise zu anderen Staaten oder zur (anarchischen) Natur ungeordneter Zustände, wie sie zwischen Staaten imaginiert werden kann. Zum anderen setzt Identität aber auch eine Differenz in der Ebene voraus, also zu den Teilen, die sich zur Identität vereinen. Diese Teile müssen bei aller Unterschiedlichkeit etwas Gemeinsames haben, das sie zu einer Identität ordnet. Umgekehrt setzt auch die Differenz Identität voraus, denn sonst könnte man nicht die Merkmale erkennen und klassifizieren können, welche das eine vom anderen unterscheiden hilft. Wie bildliche Darstellungen des Verhältnisses von Identität und Differenz erörtern und ihre Vermittlung thematisieren, steht hier im Mittelpunkt. Wird die Vermittlung von politischer Identität und Differenz statisch oder dynamisch konzipiert? Das meint, ob die Vermittlung Ausdruck unveränderlichen Daseins unter Referenz auf ontologisch unverfügbare Ordnungsstrukturen bzw. eine solche statische Vermittlung durch entsprechende ikonographische Strategien insinuiert wird einerseits, oder ob andererseits die Vermittlung selbst als politische Aufgabe und Leistung formuliert wird. Im ersteren Fall wird die Einheit der Differenz betont, im anderen die Verknüpfung der Vielheit zur Einheit. Mit Blick auf die bildliche Verarbeitung von politischer Einheit reicht die allegorische Verkörperung des Ganzen aus, die bildliche Repräsentation politischer Vielheit muss hinter die Ganzheitsdarstellung zurück gehen und den Prozess der Einheitsbildung in den Fokus nehmen. Die Frage ist immer, zumal bei politischen Bildern, welche Art von Identität unterstellt wird: die unveränderliche, mit sich selbst identische, nicht variable Einheit, oder die zusammengesetzte Einheit, die immer wieder erst aufs Neue hergestellt werden muss und aus differenten Komponenten besteht, die nicht mit der Einheit identisch sind, sondern erst vereinheitlicht, zu einer Einheit verknüpft werden müssen. Körperbilder zur Darstellung der politischen Ordnung zu benutzen, legt eine organologische Verknüpfung nahe, die nach internen, gleichsam natürlichen Abfolgen vorgestellt und zugleich gerechtfertigt wird. Die Verwendung des Körpers als einer Denkfigur und als inszenatorische Praxis16 wie als Kompositionsmittel in der politischen Ikonographie17 unterstellt die Einheit als Notwendigkeit oder Ziel der Verknüpfungen der Handlungen, ohne klar anzugeben, wie diese Verknüpfung vor sich geht. Zumindest wird unterstellt, dass der Körper nicht gestört werden darf, will man nicht die Einheit der politischen Ordnung gefährden. Das Körperbild dient also in der Regel einer konservierenden Legitimation des status quo bzw. status quo ante.

16 Diehl/Koch 2007; Musloff 2010. 17 Gamboni, 2005; Pfisterer 2011.

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2. Hobbes’ Leviathan-Bild und die statische Vermittlung von Differenz Hobbes’ Leviathan ist die vielleicht berühmteste Darstellung des politischen Körpers und das entweder von Abraham Bosse oder Wenceslaus Hollar gestochene Titelkupfer18 eine inspirierende und vielfach zitierte Darstellung des im Leviathan begründeten politischen Ordnungsmodells.19 Hier scheint mit der unterkomplexen Vorstellung einer statischen Einheit des politischen Körpers gebrochen zu sein. Es wird nicht unterstellt, dass es sich beim Körper um die natürliche Anordnung handelt, die sich etwa von alleine einstellt, wenn sie nicht von außen oder innen gefährdet wird. Das organologische Körperbild weicht dem mechanischen, und es sind individuelle Menschen, welche Existenz und Handlungsfähigkeit des politischen Körpers garantieren müssen. Daher sind im Körper des Leviathan befindlich Individuen abgebildet. Die Einheitlichkeit ihres individuellen Verhaltens ist durch die Ausrichtung der Individuen auf den Kopf des Leviathan, dem Souverän dargestellt (Abb. 1).

Abb. 1: Frontispiz von Thomas Hobbes’ »Leviathan« (Abraham Bosse, 1651 (Ausschnitt)). Die Komposition verbleibt damit aber im Modus der Statik, denn an Stelle des Körpers tritt nun der Kopf des Körpers in den Mittelpunkt. Es wird nicht klar, wie sich die Individuen untereinander verhalten. Die politische Handlungsfähigkeit, verkörpert durch die beiden Arme mit Schwert und Bischofsstab, scheint beweglich geworden zu sein durch die in ihnen sich befindenden Individuen, doch wie erfolgt die Koordination selbst? Der Souverän ist von jeder Kontrolle der Subjekte entbunden, doch wie kommt er zu den in sich schlüssigen, koordinierenden Anweisungen? Das Titelkupfer des Leviathan thematisiert damit zwar die Differenz, nämlich jene des Gesamtkörpers des Staates zu den in ihm befindlichen Individuen. Die mecha18 Für Bosse als Urheber vgl. Bredekamp 2003. 19 Zu den unterschiedlichsten Deutungsmöglichkeiten vgl. die Sammlung Manow/Rüb/ Simon 2012.

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nische Vermittlung tritt an die Stelle der organologischen, verbleibt aber statisch, die Transformation von Vielheit zur Einheit konzentriert sich auf die Entstehung des Staates, also den Gesellschaftsvertrag. Nach dessen Abschluss soll nur noch sichergestellt werden, dass der Staat einheitlich tätig werden kann. Das Bildmotiv des Schiffes tritt nicht nur in Konkurrenz zu Körperbildern wie dem Leviathan, es vermittelt auch eine funktionale und nicht statische Vermittlung von Einheit und Vielheit. Zu den ältesten ikonographischen Mitteln, Staatlichkeit zu thematisieren, gehört die Verwendung der Metapher des Staats-Schiffes.20 Als argumentativer Topos ist das Schiff ein fester Bestandteil der Politischen Ideengeschichte21 und auch die Ikonographie ist mit diesem Motiv vertraut.22 Die feindliche See ist für alle Akteure auf einem Schiff bedrohlich und zwingt zu einer quasi militärischen-Anordnung der Befehlsgewalt, die Besatzung des Schiffes ist dabei funktionalnotwendig in Steuerung und Mannschaft aufgeteilt. Das Bild des Schiffes und die Verwendung von Schiffsmetaphern legen eine funktionale Logik der Verknüpfung zur Einheit nahe, welche die Notwendigkeit der internen Verknüpfung der einzelnen Handlungen zu einer gemeinsamen Anstrengung unter einem Kommando nahe legt angesichts der äußeren, durch das Meer drohenden Gefahren. Die Schlüssigkeit der Anweisungen und zugleich die Legitimation der Kommandogewalt der Steuerungspersonen beruht auf der Logik des Handlungskontextes, diktiert durch die Technik der Schifffahrt selbst. Nicht zufällig verwendete Platon das Bild des Schiffes,23 um die Notwendigkeit politischer Experten zu illustrieren und um gegen die demokratische Herrschaft der Laien zu protestieren. Hobbes dagegen macht keine Angaben zu den politischen Fähigkeiten des von jeder Kontrolle durch die Subjekte entbundenen Souveräns. Hobbes stellte sich auch bewusst gegen dynamische Modelle der politischen Einheit, die aus mehreren, gleichrangigen Akteuren bestehen wie zumal das Modell des King-in-Parliament: Die göttliche Trinität sei schon schwer vorstellbar, es sei aber schlechthin unmöglich sie politisch zu praktizieren, so lautete seine Kritik an der Funktionsweise des englischen Parlaments mit seinen relativ autonomen Gliedern König, Unterhaus und Oberhaus, die erst gemeinsam zur einheitlichen und verbindlichen Gesetzgebung gelangen.24 Hobbes’ Lösungsversuch, das dynamische Problem der Kooperation durch die Reduktion auf einen politischen Körper zu lösen, verlegt das Handlungsproblem, wie aus Vielheit Einheit werden kann bzw. hergestellt wird, in das Arkanum des Kopfes des Körpers. Dabei ist ja nicht ausgemacht, dass die Problematik der Vielheit nur darin besteht, dass es verschiedene Akteure sind, die verbunden werden müssen. Sie können ihrerseits unterschiedliche Prinzipien, kollektive Interessen oder politische Ziele repräsentie-

20 21 22 23 24

Meichsner 1983; Peil 1983,. Schäfer 1972; Thompson 2001. Vgl. die Sammlung in Henkel/Schöne 1996, S. 1453-1470. Politeia 488a-489c. Hobbes, Leviathan, S. 192-201 (ch. 29).

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ren, weshalb das Problem ihrer Vermittlung auch bei einem uni-personalen Staatsoberhaupt bestehen bleibt. Der Leviathan konkurriert somit mit der Ikonographie institutioneller Ordnungen, die mittels der Darstellung des Parlaments in Anwesenheit aller drei Akteursgruppen – König, Lords und Commons – das Erfordernis der Vermittlung anzeigt (Abb. 2). Die bildliche Repräsentation der politischen Institutionenordnung ist daher als dynamische Konkurrenz in der Ikonographie von Identität und Differenz angelegt und hebt sich von der Strategie ihrer statischen Personifizierung ab. Die modernste ikonographische Strategie zur Repräsentation einer Institutionenordnung liegt in der schematischen Darstellung der politischen Ordnung als eines bildlichen Arrangements interagierender Felder (ob Kreise, Rauten, Rechtecke usf.) oder Symbole (Krone, Paragraphenzeichen, Richtermütze usf.), die solche Institutionen und die in ihnen wirkenden Individuen verkörpert. Die Dynamik wird

Abb. 2: King James I of England and VI of Scotland in Parliament (Renold oder Reginold Elstrack (Elstracke)).

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meist durch die Verwendung von Pfeilen und ähnlichen Symbolen zwischen diesen Feldern dargestellt. Diese Schemata werden in der Politischen Ikonographie nicht mehr als ihr Thema wahrgenommen, vermutlich mangels ästhetischer Relevanz.25 3. Die Ikonographie von Selbstregierungsregimen Es besteht ein spezifischer Zusammenhang von Malerei und städtischer politischer Kultur.26 Eine nicht geringe Rolle spielte die Frage der Markierung politischer Verbindlichkeit. So wurde bereits gezeigt, dass auf alten Darstellungen Sienas darauf Wert gelegt wurde, dass die Türme des Rathauses und des Domes gleich hoch abgebildet waren, um so die Gleichrangigkeit von weltlicher und geistlichem Regiment in den Mauern der Stadtrepublik zu demonstrieren.27 Liegt nun die Personifizierung der monarchischen bzw. personal-souveränen politischen Ordnung auf der Hand, auch wenn damit die Frage der Verknüpfung der Vielheit bildlich zum Verschwinden gebracht wird, ist eine entsprechende ikonographische Darstellungen des vergleichbaren Problems bei Selbstregierungsregimen wie namentlich Republiken weniger plausibel. Der Ausgangspunkt von Selbstregierungsregimen liegt in der Vielheit, Diversität, Nichtidentität oder Differenz, sei es der Bürger oder der verbundenen Familien, Stände oder Städte. Politische Einheit muss hier immer erst hergestellt werden. In der Selbstdarstellung von Städten wurde dieser wunde Punkt der eigenen politischen Ordnung gerne vermieden. Man kann immerhin auf die frühen Stadtdarstellungen verweisen, die mit der Betonung der umfassenden Stadtmauer die Einheit als Geschlossenheit und als Schutzwall ebenso darstellen konnten wie mit dem Motiv der Mauerkrone die Möglichkeit hatten, die fürstliche mit einem Symbol der städtischen Autorität zu ersetzen. Mauerkronen sind beispielsweise auf städtischen Münzen weit verbreitete Möglichkeiten der Dokumentation der politischen Unabhängigkeit.28 Oft wird das Resultat des Vereinigungsprozesses präsentiert, die Macht der Republik, die sich mit der territorialer Fürsten und Könige misst, oder die Freiheit als Merkmal des Unterschieds zu den Fürstentümern. Zur ikonographischen Darstellung eignen sich hierzu auch Personifikationen, vor allem Allegorien, insbesondere weibliche. Die von Republiken benutzten Symbole der Macht, der kollektiven Freiheit und Unabhängigkeit sind bekannt: sie reichen von der Verwendung antik-mythologischer29 (und antik-historischer30) sowie biblischer31 Heroengestalten bis zu Em-

25 26 27 28 29 30 31

Lutz/Jerjen/Putzo 2014. Belting/Blume 1989. Steinhoff 2012. Matthaei 2013; Martin 2013, S. 129-134. Herkules: vgl. Eissenhauer 2011. Brutus: vgl. Bredekamp 2011. David: vgl. Krüger 2011.

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blemen und Allegorien der Libertas.32 Mit Hilfe solcher Personifikationen wird Macht im Sinne wirkungsvoller Handlungsfähigkeit nach außen dargestellt, in Auseinandersetzung mit den Feinden. In diesen Fällen wird nicht der politische Prozess der Schaffung von Macht repräsentiert, sondern das Ergebnis oder sogar nur das gewünschte Resultat. Der politische Prozess liegt auch hier im Bild verborgen oder wird sogar von ihm verdeckt. Der Wunsch der Verdeckung des Problems politischer Einheit liegt bei Republiken deutlich näher als bei Fürstentümern, da deren Personalunion von Macht und Akteur fehlt und dafür durch die Prozesshaftigkeit der Herstellung republikanischer Einheit ersetzt werden muss, was Gefahren der Instabilität, wenigstens der Störanfälligkeit birgt. Die stadt-republikanische Ikonographie lässt sich nicht auf einzelne Bilder und Symbole reduzieren. Republiken im Spätmittelalter und der Frühneuzeit wie Florenz oder Venedig setzten wesentlich auf Gebäude und Plätze, die dann wiederum einzelne Kunstwerke in sich vereinten, ob Statuen oder Fresken bzw. Wandgemälde.33 Solche öffentlichen Orte waren ferner Schauplatz zeremonieller An-Ordnung der Bürgerschaft, wo kollektive Handlungsfähigkeit demonstriert werden konnte. Solche Zeremonien und Prozessionen als Mittel der Veranschaulichung republikanischer Einheit ist in allen Stadtrepubliken ein vertrautes Element der Identitätsbildung, so die Verheiratung der Stadt Venedig mit der See, das Libro cerimoniale in Florenz34 oder der Palio in Siena.35 Die Tradition wurde in den revolutionären Festivitäten der französischen Revolution wieder aufgegriffen. Bedroht wird diese Handlungsfähigkeit im Innern, wenn die nötige Eintracht fehlt und Feindschaft innerhalb der Bürgerschaft besteht, der Bürgerkrieg. Die Forderung nach Eintracht wurde in zentralen Bezugstexten des Republikanismus immer wieder erhoben, insbesondere Ciceros Schriften bildeten hierfür eine herausragende Referenz.36 Neben die nach innen gewandte concordia der Bürger untereinander trat auch die machtpolitische Variante, wenn thematisiert wurde, welche internationalen Chancen auch kleine politische Ordnungen besaßen, wenn sie nur einträchtig sind. Für Republiken wie die Niederlande, die aus dem Kampf gegen übermächtig erscheinende, jedenfalls deutlich größere Monarchien wie Spanien entstanden waren und in Kriegen gegen England bestehen konnten, wurde Sallust bedeutsam, der gesagt hatte, durch Eintracht würden kleine Sachen groß werden.37 Doch die Eintracht der Bürger, ihre Freundschaft oder die Harmonie ihrer Gesinnung sind keine Garantien der Handlungsfähigkeit, sie sind Vorstellungen darüber, wie es nicht zu Störungen der kollektiven Handlungsfähigkeit kommen kann. Wie wird aber kollektive Handlungsfähigkeit vorgestellt und wie kommt sie 32 33 34 35 36 37

Gamboni/Germann 1991; Woldt 2011. Allgemein hierzu vgl. Fröschl; beispielsweise für Venedig vgl. Muir 1979. Brucker 1977; Trexler 1980. Falassi 1975. Cicero, De Officiis 2, 22, 78; Cicero De finibus 2,35,117; Cicero, De republica II 69. Sallust, Bellum Jugurthinum 10,6. Zur niederländischen Republikanismus-Rezeption und ihrer Vergleichbarkeit mit der Schweiz vgl. Halenstein/Maissen/Praak 2008.

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zustande, wenn nicht von einer Einheitlichkeit der Bürger untereinander und damit einer Einheitlichkeit des bürgerschaftlichen Körpers der Republik je schon ausgegangen wird? 4. Fasces Einen ersten Hinweis gibt eines der berühmtesten Motive bei der Darstellung republikanischer Macht, die Fasces oder Rutenbündel der Amtsträger, die ihnen vorausgetragen wurden. Das Motiv der Fasces stellt einen symbolischen Zusammenhang mit der römischen Republik her. Vermutlich nach etruskischem Vorbild und wohl bereits von den Königen benutzt, werden die Fasces in der römischen Republik zum Symbol der Amtsgewalt der höchsten Amtsträger und sollten die Strafgewalt der Züchtigung und der Hinrichtung darstellen. Die Beile wurden innerhalb der Stadt aus den Bündeln entfernt, wo die magistratische Kompetenz zur Hinrichtung ausgesetzt war.38 Ungeachtet der Frage des Umfangs der Amtsgewalt und der damit verbundenen Kompetenzen ist für den hier interessierenden Zusammenhang der Differenzrepräsentation der Umstand von Relevanz, dass es sich um Bündel handelt, das heißt um den Zusammenschluss von einzelnen Handlungssträngen in der Hand des Amtsträgers. Das erinnert daran, dass die magistratischen Amtsträger ihre gegenseitigen Anweisungen durch Interzession unterbinden konnten, sie also gezwungen waren, ihr Handeln zu koordinieren, was zumal im Senat, dem Sitz der ehemaligen und amtierenden Magistrate geschah. Eine Ausnahme hierzu war nur die Diktatur. An Stelle der Eintracht tritt die Möglichkeit der Handlungsfähigkeit unter besonderen Bedingungen. Kann die Eintracht als Problem der inneren Gesinnung der Bürger verstanden werden, akzentuieren die Fasces die Koordination des Handelns der hierzu berufenen Amtsträger. Die ikonographische Tradition der Fasces reicht bis in die Neuzeit und Moderne hinein. Bevor die italienischen Faschisten die Fasces zu ihrer Selbstbezeichnung erhoben und damit den republikanischen Sinnbezug für die weitere Tradierung dauerhaft unterbrachen, waren es die französischen und amerikanischen Republiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts und viele Republikgründungen des 19. Jahrhunderts, die das Motiv aufgriffen, u.a. in Haiti 1846.39 Insbesondere die französische Republik verwendete das Fasces-Motiv in zentraler Weise.40 Mit Dekret vom 21. September 1792 wurde das erste Siegel der Republik festgeschrieben, das u.a. die Verwendung der Fasces vorsah, wie es bereits der Vorentwurf des Abbé Gregoire vorgesehen hatte (Abb. 3).41 Laut Agulhon repräsentiert das Siegel die Freiheit als ewige Tugend und zugleich die französische Republik als neues Regime in ihrem Geiste.42 Die Fasces werden nur als symboli38 39 40 41 42

Plutarch, Publicola 10, 5. Gamboni/Germann 1991, S. 342-345. Agulhon 1979; Hunt 2009, S. 92-119. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29.

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sches Mittel der Herstellung der Kontinuität von antiker zu moderner Republik angesehen.

Abb. 3: Le premier sceaux de la république 1792.

Abb. 4: Allegorie der französischen Verfassung (Charles Meyniers, 1793).

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Ein weniger bekanntes, in seiner Komposition aber sehr aufschlussreiches Beispiel ist Charles Meyniers Allegorie der französischen Verfassung von 1793 (Abb. 4):43 Das berühmte Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war das Dreigestirn des normativen Programms der Französischen Revolution. Ihr politisches Problem konzentrierte sich auf die Erringung und Bewahrung der Einheit. Die Allegorie der Freiheit in Meyniers Bild ruht auf einem Fels, auf dem in drei Zeilen die Worte »Unité. Indivisibilité de la république« gehauen sind. Erst darunter und in kleineren Lettern folgt das bekannte Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, jedoch mit dem Zusatz versehen »ou la mort«. Die Verfassung dient als Schild zur Abwehr teuflisch anmutender Kräfte von außen, die Fasces (mit einer herkulischen Keule an Stelle des Beils) symbolisieren nach innen die durch Bindung erzielte Eintracht. Die Bildkomposition thematisiert die kollektive Handlungsfähigkeit nach innen und außen und macht Angaben darüber, wie Freiheit agieren muss, um zu entstehen wie zu bestehen. Auch im Wappen des 1803 von Napoleon gegründeten Kantons St. Gallen wurden die Fasces aufgenommen. Die entsprechende Gesetzessammlung verordnete als Wappen: »Silberne Fasces, mit einem breiten, glatten, grünen Bande umwunden; in grünem Feld« und fügt an gleicher Stelle erörternd hinzu: »Die Fasces, als Sinnbild der Eintracht und Souveränität, enthalten 8 zusammengebundene Stäbe, nach der Zahl der 8 Districte, mit oben hervorstehendem Beil«.44 Auch hier werden also die Fasces als Symbol des Zusammenhandelns angesehen. Noch 1919, kurze Zeit bevor die italienischen Faschisten sich des römisch-republikanischen Motivs bemächtigten, erschien die Gedenkmedaille auf die Weimarer Nationalversammlung (Abb. 5). Die Vorderseite ziert ein weibliches Profil, die Rückseite die Fasces mit Flammen an Stelle des Beils. Die Umschrift der Rückseite lautet: »Das Deutsche Reich ist eine Republik. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«. Diese wenig bekannte Darstellung zu Beginn der Weimarer Republik, gestaltet vom Münchener Künstler Heinrich Wadere, zeigt, wie nahe es für Republiken noch im 20. Jahrhundert lag, an die ikonographische Tradition der Fasces anzuknüpfen. Das weibliche Profil ist motivisch der Marianne nachgeahmt, hat aber eine Abgeordnete der Weimarer Nationalversammlung zum Vorbild, Marie Juchacz von der SPD.45 Die Verwendung einer Frauengestalt für die Personifizierung des auch im Deutschen femininen Genus des Wortes Republik lag nahe. Marie Juchacz als Vorbild aufzugreifen war hingegen programmatisch. Sie hielt am 19. Februar 1919 die erste Rede einer Frau vor einem deutschen Parlament als gleichberechtigtes Mitglied, und zwar mit der Anrede »Meine Herren und Damen!«.46 Erst mit dem Stimmrecht für die Frauen in der Weimarer Nationalver-

43 Ellenius 1998, S. 272f. 44 Gesetzessammlung des Kantons St. Gallen 1842, S. 148. Ich bin hier einem Hinweis von Philip Manow nachgegangen. 45 Rößner 2015, S. 107, dort auch die Abbildung der Münze. 46 Verhandlungen 1920, S. 177.

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sammlung war das »Volk« vollständig vertreten. Das Problem ihres Zusammenhandelns war damit freilich weder gelöst noch erleichtert.

Abb. 5: Gedenkmedaille Weimarer Nationalversammlung 1919. 5. Das Band der Bürger: Lorenzetti Nachdem das Problem der Einheitsdarstellung für die bildliche Darstellung von Selbstregimen diskutiert wurde, soll nun die Darstellung des Zusammenhandelns der Akteure erörtert werden. Das einschlägige Beispiel und zugleich das vielleicht berühmteste Beispiel politischer Ikonographie in der Politischen Ideengeschichte ist der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzettis (1338/39) in der Sala dei Nove (oder Sala della Pace) im Rathaus von Siena.47 Wenngleich sich in anderen stadtrepublikanischen Rathäusern auch umfangreiche Bildprogramme finden,48 bleibt Lorenzetti aufgrund der Qualität seiner Arbeit und der Dichte seiner verarbeiteten Motive zentraler Bezugspunkt aller einschlägigen Diskussion. Entsprechend ist die Forschungsliteratur hierzu umfangreich, zumal zum Fresco der »Guten Regierung« (Abb. 6).49

47 Zu der räumlichen Ordnung solcher Orte politischer Kommunikation in der Frühneuzeit vgl. Llanque 2012, Sp. 1113-1115. 48 Wartenberg 2015, u.a. zu Ferrara, San Gimignano, Bergamo, Asciano. 49 Rubinstein 1958: Starn 1987; Starn/Partridge 1992; Kempers 1989 sowie die im Weiteren zitierte Literatur.

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Abb. 6: Gute Regierung (Ambrogio Lorenzetti, 1338/39).

Abb. 7: Gute Regierung (Ausschnitt). Für die hier interessierende Frage dynamischer Differenzrepräsentation sei die Konzentration auf die 24 Gestalten im unteren Zentrum des Frescos der »Guten Regierung« erlaubt (Abb. 7). Die Gestalten werden durch ein Seil verbunden, das sie gemeinsam in Händen halten. Das Band nimmt seinen Ausgang von der Allegorie der Concordia, welche wiederum die Fäden des Seils von der Justitia erhält (und zwar die getrennten Fäden der einerseits kommutativen und andererseits distributiven Gerechtigkeit) und miteinander verknüpft. Die Gerechtigkeit ist also als normativer Ursprung verstanden, der von den genannten Gestalten aufgegriffen in die Politik transformiert wird und das Handeln der die Stadt verkörpernden thronenden Gestalt bindet.50 Es ist nicht ganz klar, ob es sich bei den abgebildeten Personen um Amtsträger handelt, um Ständevertreter oder um die Bürgerschaft im Ganzen. Siena kannte keine Institution, die 24 Mitglieder besaß. Da die Zahl 24 zwei Dutzend umfasst, was im Sprachgebrauch der Zeit auch eine unbestimmte aber erhebliche Menge bedeuten konnte, wurde erörtert, ob die abgebildeten 24 Bürger nicht die Bürger50 Llanque 2016.

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schaftsvertretung darstellen sollen, aus welcher der Rat der Neun gewählt wurde.51 Skinner dagegen sieht in den 24 Gestalten die Bürger selbst verkörpert, ohne eine institutionelle oder korporative Gliederung. Aus der Farbgebung des Seils, dessen Zwirne rot und weiß sind, die Farben des popolo, könnte auch geschlossen werden, dass es das (politisch berechtigte) Volk ist, das hier dargestellt werden soll.52 Das Band wird einhellig als Band der Eintracht gedeutet, als vinculum concordiae samt der ciceronianischen und auf ihr fußenden Tradition.53 Die Darstellungen der concordia gehören zu den Standardmotiven stadtrepublikanischer Ikonographie, wie das Bild »Nürnberg als Republik« zeigt (Abb. 8).54 Hier finden sich auch die bekannten Merkmale der Allegorie der Republik: Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden (zu Füßen der weiblichen Figur der Republik). Links oben im Bild befindet sich die concordia: Die Republik stützt sich mit linkem Arm auf die Bürgerschaft der Freien, die nach Verdienst differenziert sind, aber gleichen Herzens kooperieren. Die Thematisierung der Eintracht ist, wie wir bereits sahen, ein typisch republikanisches Anliegen, unterstellt es doch als Problem die Möglichkeit des Dissenses, was bereits Differenz unterstellt. Im Unterschied hierzu begnügte sich Hobbes auf der Suche nach dem »concord of people« mit dem Hinweis auf den Gehorsam der Untertanen.55 Doch handelt es sich bei Lorenzetti um eine statische oder dynamische Darstellung der Eintracht? Interpretiert man die Bürger als Teil einer Prozession,56 so folgte dies eher einer statischen Auslegung: Die Bürger sind in Eintracht, das Seil symbolisiert diesen einträchtigen Zustand. Aber man kann auch einer dynamischen Interpretation folgen. Dann steht und fällt das Seil der Eintracht, die Stränge der Gerechtigkeit zur Gesetzgebung der Republik verzwirnend, mit der Aktivität der Bürger: Lassen sie das Seil fallen, kann Gerechtigkeit nicht wirken. In diesem Sinne machte Skinner darauf aufmerksam, dass die Bürger das Seil halten, nicht durch es gehalten werden, was auf das Erfordernis der Freiwilligkeit schließen lässt. Das freiwillige Handeln wiederum macht die Handlungsfähigkeit von den Eigenschaften der Akteure abhängig. Aufschlussreich für das hier gestellte Thema der Differenzrepräsentation ist jedenfalls, dass die 24 Gestalten alle unterschiedlich dargestellt sind. Sie verkörpern die Vielheit der Bürgerschaft, sei diese als nach Stadtteilen oder Ständen gegliedert oder als repräsentativ gedacht für die Vielgestaltigkeit der Bürgerschaft insgesamt. In ihrer Vielheit muss es ihnen gelingen, die Prinzipien der Gerechtigkeit zu verknüpfen, und zwar in einer handlungs51 Dahlberg 2013, S. 45. 52 Campbell 2012, S. 102. 53 Skinner 2002, S. 48f. nennt Cicero De finibus 2,35,117 und Augustinus De civitate Dei 2,21. Vor Skinner verwies Starn 1992, S. 35f. auf Ciceros De republica II 69, Isidors Etymologiae 3,22,6 sowie Dantes Paradiso 26,45-51. 54 Allgemein zur stadtrepublikanischen Ikonographie in Deutschland vgl. Meier 1998. 55 Hobbes, Leviathan, S. 192-201(ch. 29). 56 Hofmann 1997, S. 20.

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orientierten Weise. Das löst keineswegs alle damit zusammenhängenden Fragen, etwa: Wie viele Bürger können das Band los lassen, ohne dass die Bürgerschaft nicht nur an Handlungsfähigkeit einbüßt, sondern sie verliert? Wie kein zweites Bild bemüht sich Lorenzettis Fresco der »Guten Regierung« jedenfalls um eine komplexe Komposition zur Darstellung der Prinzipien wie der Aktivität der Vermittlung von Einheit und Vielheit in einem Selbstregierungsregime. 6. Das Volk in Bewegung Abgesehen von der geordneten kollektiven Handlungsfähigkeit, die in Darstellungen der Institutionenordnung, der Amtsgewalt oder dem Band der Bürger ihren ikonographischen Niederschlag finden kann, findet sich schließlich in der Moderne eine hierzu völlig andere Form der Darstellung der Einheit der Vielheit im Vorgang gemeinsamen Handelns: die revolutionäre Macht des »Volkes«, das repräsentative Bilder eigener Art verlangt. Das Thema der Volksmenge ist besonders

Abb. 8: Republik Nürnberg (Holzschnitt, 1564).

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durch die Studien Wolfgang Kemps gefördert worden.57 Ein bei allem dramatischen Beiwerk vergleichsweise statisches Bild der handelnden Menge stellt beispielsweise Jacques-Louis Davids Der Schwur im Ballhaus dar (1790-1792).58 Die dynamischen Elemente des Bildes dienen der Dramatisierung der Szenerie, in welcher die Individuen im Augenblick der Schwurleistung eine gemeinsame Handlung vornehmen. Das berühmteste Beispiel und zugleich eine dynamische Darstellung finden wir dagegen in Eugene Delacroixs Bild Die Freiheit geht dem Volk voran von 1831 (Abb. 9).59 Hier handelt es sich um die Komposition eines kollektiven Akteurs im Augenblick des gewalttätigen Handlungsvollzugs. Dieser kollektive Akteur ist differenzrepräsentativ dargestellt, denn das abgebildete »Volk« ist aus sehr unterschiedlichen Einzelakteuren zusammengesetzt. Was es eint ist die Ausrichtung auf das Ziel der gemeinsamen Handelns, die Freiheit. Nicht der Akteur wird allegorisch personifiziert und damit als Einheit unterstellt, der Kollektivakteur ist in seiner Differenz dargestellt, alleine durch ein gemeinsames politisches Ziel vereint. Die Darstellung der Freiheit ist dabei Allegorie und Akteur zugleich, treibende Kraft und Verkörperung des angestrebten Ideals.

Abb. 9: »Die Freiheit geht dem Volk voran« (Eugène Delacroix).

57 Kemp 1973 und 2011. 58 Kemp 2014. 59 Busch 1960; Hadjinicolaou 1991; Slanina 2014.

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Abb. 10: »Die Freiheit geht dem Volk voran« (Ausschnitt). Aufrührer, Straßenjungen, Arbeiter und Studenten machen bei Delacroix das Volk aus (Abb. 10). An dieser Zusammensetzung störten sich zahlreiche zeitgenössische Kritiker erheblich. Sie priesen oder verdammten das Bild, je nachdem wie der politische Standpunkt gegenüber der Revolution war.60 Am meisten Kritik erfuhr aber Delacroixs Darstellung der Freiheit,61 welche barbusig die Trikolore haltend nach vorne schreitet und nach hinten schaut. Es war keine edle oder vollkommene Gestalt, keine personifizierte Idealisierung der Republik, des Volkes oder der Idee der Freiheit. Zeitgenossen mochte es vielleicht mehr an eine Episode der revolutionären Tage erinnern, wonach eine Näherin den Tod ihres Bruders durch die Tötung einer Zahl von Soldaten der Schweizer Garde gerächt haben soll. Mutmaßlich hat Delacroix sich hier auch an eine Umsetzung eines politischen Gedichts gewagt, das während der Revolution entstand, Auguste Barbiers La Curée. Barbier betonte, dass die Freiheit nicht eine edle Dame sei, die leicht in Ohnmacht fällt, sondern dass sie von robuster Gestalt ist und mit kräftigen Brüsten versehen: »C’est une forte femme aux puissantes mamelles, / À la voix rauque, aux durs appas«.62 Delacroixs Umsetzung verfolgte nicht das Programm einer Idealisierung, 60 Hadjinicolaou 1979. 61 Als Beispiel der Verwendung einer Frauengestalt und der damit verbundenen politischen Konnotationen vgl. Pointon 1990, S. 59-82. 62 Revue de Paris XVIII/1830, S. 140; siehe auch das Zitat bei Agulhon 1979, S. 56.

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sondern suchte vielmehr nach einem realen Pendant des in der Allegorie verkörperten Sinns. Delacroix ist mit diesem Bild eine Kombination aus allegorischer Darstellung eines zentralen politischen Motivs (der Freiheit) mit der Darstellung eines kollektiven Akteurs (des Volkes) gelungen. Auf diese Weise kann er den komplexen Vorgang der Verknüpfung der Vielheit zur politischen Einheit darstellen, wenn auch nur an einem Punkt, in einem Moment. Die Eintracht Lorenzettis ist hier durch die gemeinsame Freiheitsorientierung ersetzt, das gemäßigte Handeln in Institutionen durch die Leidenschaft der Journées. Die revolutionäre Freiheit ist eher imstande, bestehende Macht zu brechen als neue Macht an deren Stelle treten zu lassen. Wie ihre gewonnene Macht auf Dauer gestellt werden kann, ohne eine ihre Macht wiederum reglementierende Institutionenordnung einzurichten, war das weitere Leitmotiv der Demokratisierung des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit der Möglichkeit des photographischen Bildes und der Bewegung der Bilder ist das Problem der bildnerischen Darstellung der Differenzrepräsentation in ein neues mediales Stadium gerückt. Mit Photographie und Film rückt die rhetorische Analyse des Ethos in den Vordergrund, es ergeben sich nun stärker sich Fragen der Authentizität des Bildes, seines Dokumentencharakters, der scheinbar unmittelbaren Repräsentation des abgebildeten Gegenstandes. In der modernen Demokratie – als der wichtigsten gegenwärtigen Form des Selbstregierungsregimes – stößt die Pluralität der streitenden politischen Akteure bis zu einem gewissen Grade auf Akzeptanz, was sich deutlich in den Verfassungen niederschlägt, weniger stark in der politischen Kultur. Thematisch rückt nun aber das Kollektivsubjekt der Demokratie für Fragen der Differenzrepräsentation stärker in den Vordergrund. An Stelle der Bürgerschaft tritt die Nation bzw. das »Volk« verbunden mit neuen Möglichkeiten der bildlichen Verarbeitung der Differenz. Die politische Ikonographie der modernen Demokratie ist wie die aller Selbstregierungssysteme gezwungen, neben der Repräsentation ihrer Identität auch die ihrer Differenz zu thematisieren. Aus der Vielheit ihrer Glieder eine wenigstens temporäre und segmentäre Einheit des gemeinsamen Handeln zu erarbeiten ist keine geringe Leistung, ihre künstlerische Darstellung eine besondere Herausforderung. Literaturverzeichnis Agulhon, Maurice 1979. Marianne au combat. L’Imagerie et la symbolique républicaines de 1789 à 1880. Paris: Flammarion. Agulhon, Maurice; Bonte, Pierre 1992. Marianne. Les visages de la République. Paris: Gallimard (coll. Découvertes Gallimard). Austin, John L. 1979. Zur Theorie der Sprechakte, 2. Aufl. Stuttgart: Reclam Belting, Hans;Dieter Blume (Hrsg.) 1989. Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder. München: Hirmer. Brassat, Wolfgang (Hrsg.) 2005 Bild-Rhetorik. Tübingen: Niemeyer. Bredekamp, Horst 2011. »Brutus«, in Handbuch der Politischen Ikonographie, hrsg. v. Fleckner, Uwe; Warnke, Martin; Ziegler, Hendrik, Bd. 1, S. 186-192. München: C.H. Beck. Bredekamp, Horst 2015. Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Neufassung 2015. Berlin: Akademie.

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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats

1. Einleitung Welche Rolle spielt die symbolische Darstellung der Verfassung für die Geltungslogik des modernen demokratischen Verfassungsstaates? Konstitutionelle Arrangements können nicht allein auf ihre Dimension instrumenteller Rechtstexte reduziert werden, sondern müssen für die dauerhafte Behauptung von Geltung auch symbolisch zum Ausdruck gebracht werden.1 Dabei ist eine konstitutionelle Ordnung als »government of laws not of men« spezifischer Ausdruck einer Differenzlogik, in der die politische Ordnung nicht mit bestimmten Personen oder Institutionen identisch ist. Vielmehr stellt sie ein komplexes Gefüge der geteilten Macht auf Dauer und setzt nicht zuletzt durch ihren normativen Geltungsanspruch einer identitären Verkörperungslogik deutlich sichtbare Grenzen. Der Beitrag will diesen Zusammenhang anhand von Verfassungsbildern untersuchen: Verfassungsbilder sind demnach der visuelle Ausdruck von politischen Ordnungsvorstellungen. Mit dem Wandel zum modernen demokratischen Verfassungsstaat kommt der Schriftrepräsentation dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Verfassung als Text wird zu einem wichtigen Teil des ikonographischen Repräsentationszusammenhanges demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dabei lassen sich ikonographische Überlagerungsprozesse beobachten, in denen gerade zu Beginn der Ära moderner Staatlichkeit die neue konstitutionelle Schriftsymbolik mit der älteren Körpersymbolik politischer Ordnung konkurriert. Mit den modernen Verfassungsrevolutionen in den USA und in Frankreich tritt daher auf der Schauseite politischer Ordnung die visuell dargestellte Verfassungsurkunde an die Stelle älterer Verkörperungsbilder. Letztere werden dadurch jedoch nicht einfach abgelöst. Vielmehr kann in der historischen Entwicklung eine Dopplung von konstitutionellen Text- und Körperbildern beobachtet werden. Beide Darstellungsformen konstitutioneller Ordnung können in Konkurrenz zueinander treten, aber auch erfolgreich miteinander verbunden werden. Anhand der ikonographischen Entwicklung der offiziellen Staatsrepräsentation im nachrevolutionären Frankreich lassen sich diese verschiedenen Optionen rekonstruieren. Dabei wird deutlich, wie die Spannung zwischen Text- und Körperdarstellung der politischen Verfassung in eine erfolgreiche Syntheseleistung mündet. Die Medien bilden dabei die offiziellen Herrscherporträts und ihre Variationen, die mit dem napoleonischen Kaiserreich und den konstitutionellen Monarchien an die Stelle des traditionellen Königsbildes treten und auch in den Republiken mit den Darstellungen der Präsidenten fortgesetzt werden. Bis zum offiziellen Porträt de Gaulles wird da1 Vorländer 2006.

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bei eine visuelle Logik sichtbar, die mit der Spannung von Verfassungstext und Person die These einer spezifischen Differenzlogik in der Ikonographie moderner demokratischer Ordnungen nachdrücklich bestätigt. Deutlich wird, wie einerseits auch republikanische Ordnung auf personalisierte Selbstvisualisierung zurückgreifen, dieser Ordnungsikonographie aber eben andererseits eine Differenz einschreiben, die durch den Text der Verfassung deren Unverfügbarkeit für die personalisierte Regierungsmacht zum Ausdruck bringt. Gerade mit dieser Differenzsymbolik unterscheiden sie sich von der tradierten Einheitsdarstellung, die das Personalisierungsmotiv zum Leitbild souveräner Einheitsvorstellungen eingesetzt hatte. Gerade für den Geltungsanspruch des Rechts- und Verfassungsstaats kommt der Visualisierung des Gesetzes und der konstitutionellen Ordnung dagegen eine besondere Bedeutung zu, die sich in einem Spannungsverhältnis zu den körperlichpersonalisierten Darstellungen politischer Ordnung befinden und die auf eine Vielzahl von historischen Vorbildern zurückgreift – seien es die Mosaischen Gesetzestafeln, die römischen Zwölftafelgesetze oder die sakralen Darstellungen der biblischen Texte. Am Beispiel der französischen Entwicklung lässt sich diese Konstellation besonders gut sichtbar machen. Hier treffen seit der Französischen Revolution unterschiedliche Elemente symbolischer Repräsentation aufeinander, in denen die politischen Kämpfe divergierender Ordnungsvorstellung greifbar werden. Die tradierte monarchische Personalisierungssymbolik trifft zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf die radikal antipersonale Bildsprache der liberal-republikanischen Aufklärung mit ihrem Versuch, politische Ordnung als eine schriftgebundene Verfassungsordnung zu definieren. Der Beitrag legt so ein besonderes Augenmerk darauf, welche Rolle der Verfassung bei der Imagination des body politic zukommt. Welche Bedeutung besitzt der geschriebene Verfassungstext im Symbolhaushalt politischer Repräsentation? Am Anfang dieser Überlegung steht – gewissermaßen als Kontrastfolie – das »Urbild des modernen Staates«, Hobbes’ Leviathan. Die klassische Personalisierungsikonographie souveräner Staatlichkeit verbildlicht bei Hobbes zwar bereits die vertraglich begründete Herrschaft des Souveräns, sie unterschlägt jedoch zugleich das geschriebene Gesetz, dessen Form die Herrschaft erst legitimiert. Der moderne Konstitutionalismus amerikanischer und französischer Prägung markiert dagegen mit seiner herausgehobenen Sichtbarkeit der geschriebenen Verfassungsurkunde eine weitreichende Differenz zu dieser Hobbesschen Staatsvorstellung.2 2. Das Urbild des modernen Staates und die Abwesenheit des Gesetzes Versteht man den Leviathan als »Urbild des modernen Staates«3, so ist das verschriftlichte Recht in dieser symbolischen Einheitssymbolik erstaunlicherweise

2 Eine Analyse des US-Beispiels bei Haltern 2009; zur Kritik des dort verwendeten Repräsentationsbegriffs Diehl 2015. 3 Bredekamp 2003.

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abwesend.4 Die Verfassung der politischen Körperschaft wird zwar durch einen Vertrag paktiert, jedoch bedarf es dazu für Hobbes keineswegs einer schriftlichen Form. Dies ist insofern überraschend, weil er in seiner Definition des Rechts durchaus geschriebenes Recht von ungeschriebenem Recht unterscheidet.5 Diese Unterscheidung ist jedoch irreführend: Sie bezieht sich im Wesentlichen auf den Unterschied zwischen Recht im Naturzustand und Recht im staatlichen Zustand. Das natürliche Recht ist ungeschrieben, weil es nicht künstlich vom Menschen erzeugt werden muss. Dagegen ist das positive staatliche Recht per Definition ein geschriebenes Recht, weil es immer ein Produkt des Souveräns darstellt. Entscheidend ist dabei, dass Hobbes die Bezeichnung »geschrieben« in einer metaphorischen, nicht in einer buchstäblichen Bedeutung verstanden wissen will.6 Ihm geht es lediglich um die Kennzeichnung des Rechts als künstliches Produkt, das sich durch sein Zustandekommen aufgrund eines politischen Willens von der natürlichen Ordnung unterscheidet. Dieses »geschriebene« Recht muss dabei keineswegs in einem Dokument oder einem Text verschriftlicht sein – für seine Geltungskraft reicht es vollkommen aus, wenn es gesprochen, mündlich zum Ausdruck gebracht wird. Allein die Tatsache der öffentlichen Verkündung bildet das entscheidende Merkmal eines Gesetzes. In genau diesem Sinne können daher auch ungeschriebene Gesetze zu »geschriebenen« Gesetzen werden. Hobbes versteht das Gesetz in erster Linie in Analogie zu Befehlen des Souveräns. Die eigentliche Form – als Text oder als mündliche Verkündung – ist für seine Eigenschaft des Machtausdrucks nicht maßgeblich. Das Gesetz nimmt Gestalt an in »ausreichende[n] Zeichen des Urhebers und der Ermächtigung«,7 die Form dieser Zeichen hingegen bleibt kontingent. Die notwendige Bedingung ist reduziert auf den souveränen Willen. Hobbes geht in dieser Frage nun sogar soweit, die geschriebene Form des Gesetzes als Problem zu betrachten: Worte sind vieldeutig in ihrer Bedeutung und können unterschiedlich interpretiert werden. Wichtig für Hobbes ist, diese Deutungsvielfalt als Quelle politischer Konflikte über den Sinn des Gesetzes auszuschließen. Er schreibt dem Souverän daher nicht nur das für jeden Bürger unbedingt verbindliche Gesetzgebungsmonopol zu, sondern darüber hinaus auch die Deutungsautorität, die den Sinn rechtlicher Akte hoheitlich festzuschreiben vermag und damit Verwirrung über die Interpretation des Gesetzes und über seine wahren Absichten ausschließt. Der souveräne Leviathan ist zugleich Quelle des Willens, Macht der Gesetzgebung und Autorität der Deutung. Die Tatsache, dass Hobbes der schriftlichen Form des Gesetzes nur geringe Relevanz zugemessen hat, scheint im historischen Kontext der common law Tradition zunächst nicht allzu überraschend. Gleichwohl zeigt der Vergleich mit seinem republikanischen Kontrahenten James Harrington, dass diese spezifische Analogie des Gesetzes zum souveränen Befehl bei Hobbes keineswegs unerheblich ist. Harrington hatte in seiner Kritik an Hobbes nicht zuletzt die 4 5 6 7

Zur Interpretation des Frontispiz neben Bredekamp auch Brandt 1982. Hobbes 1994, S. 226. Vgl. zur Relevanz des Metaphorischen für Hobbes nur Tralau 2014. Hobbes 1996, S. 231.

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grundsätzliche Bedeutung einer geschriebenen Verfassung für eine freiheitliche politische Ordnung unterstrichen. Nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Leviathan demonstriert Harrington in The Commonwealth of Oceana 1656, wie ein Verfassungsdokument zu einem Bindeglied der Bürger und der Magistrate werden könnte. Er zeigt, dass seine Vorstellung der konstitutionellen »orders«, so die Bezeichnung der einzelnen Artikel und Abschnitte der Verfassung, sich grundlegend von Hobbes’ Fassung des Gesetzes als souveräne Herrschaftsbefehle unterscheidet.8 Oceana ist damit das erste ideengeschichtliche Beispiel eines geschriebenen Verfassungsentwurfs –9 und auch die berühmte Definition der Regierung als »the empire of laws, not of men« bringt diese Geltungshierarchie zwischen Recht und Person zum Ausdruck.10 Das Beispiel Harringtons zeigt, dass die Idee einer geschriebenen Verfassung in Form eines einzelnen Dokuments im Horizont des politischen Denkens dieser Zeit keineswegs unvorstellbar gewesen ist. Als einheitliche Schrift bildet die rechtlich definierte Verfassung einen republikanischen Gegenentwurf zu monarchistischen Semantiken wie »the Laws of this Kingdom, His Majesty’s Laws, the Laws of the Land«.11 Hobbes’ Leviathan ist es daher nicht in erster Linie um die Konstitution des politischen Körpers durch die Verschriftlichung seiner Verfassung zu tun. Ihm geht es vielmehr um die Frage der verbindlichen Durchsetzung der vom Souverän erlassenen Gesetze. Daher steht nicht der Gesetzestext, sondern das Bild des machtvollen Souveräns im Mittelpunkt dieser Ikonographie.12 Das geschriebene, in einem Textdokument materialisierte Gesetz ist im Frontispiz abwesend und fehlt damit in der einflussreichsten visuellen Symbolisierung souveräner Staatlichkeit am Beginn des modernen politischen Denkens. Für Hobbes ist die Verfassung des Politischen lediglich in einem negativen Sinne lesbar: Die Beschaffenheit des Naturrechts impliziert einen Gründungsakt, der gerade nicht schriftlich festgehalten werden soll. Ein solches Dokument würde der souveränen politischen Maschine lediglich Beschränkungen auferlegen und durch seine strukturelle Deutungsbedürftigkeit die Tür für konfligierende Interpretationen

8 Der Text gliedert sich in insgesamt dreißig »orders«, in denen die Institutionen der republikanischen Mischverfassung beschrieben werden; vgl. Harrington 1991. 9 Riklin 1999, S. 77 u. 155. 10 Harrington 1977, S. 161. 11 Stourzh 1989, S. 19. 12 Skinner (1996) unterstreicht die Bedeutung der rhetorischen Tradition für Hobbes, um der wissenschaftlichen Logik seiner Theorie auch Geltungsmacht zu verschaffen; Bredekamp (2003, S. 131) erklärt die fundamentale Funktion des Frontispiz als dynamisches Mittel zur Überwindung des geschriebenen Wortes: »Damit Verträge und Gesetze zu kontrollierten Handlungen werden, müssen sich Worte in Körper verwandeln, und diesen Vermittlungsschritt leistet das Bild des Leviathan. Ohne visuelle Repräsentation kann der Leviathan zwar gegründet, aber nicht dauerhaft am Leben gehalten werden. Er ist kein Zusatz zur Schrift, sondern das Medium zur Überwindung ihrer Schwäche.«

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öffnen. Eine schriftliche Verfassung wäre demnach die Legitimationsgrundlage für permanente Opposition und Akte der Rebellion gegen den Willen des Souveräns.13 Um den Vertrag durchzusetzen, der den Leviathan erschafft, bedarf es Hobbes zufolge eines personalisierten, künstlichen Gottes, eines schöpferischen Aktes also der »politischen Robotik«.14 Dieser machtvolle Golem dient allein dem Ziel, das Leben seiner Schöpfer zu erhalten und sie gegenseitig vor ihrer schlechten Natur zu schützen. Genau gegen dieses Bild ungeteilter, personalisierter Macht schaffen die Revolutionen des späten achtzehnten Jahrhunderts nicht nur eine andere Ordnung der Teilhabe und der politischen Repräsentation, sondern auch ein alternatives ikonologisches Gegenprogramm zum Hobbesschen Bild moderner Staatlichkeit. Die Revolution wälzt nicht nur die Legitimitätsgrundlage politischer Macht und ihre institutionelle Struktur grundlegend um, sondern übersetzt dieses Modell auch in eine neue Bildsprache politischer Ordnungsvorstellung. 3. Die Französische Revolution und der Kult des Gesetzesbildes Die Französische Revolution markiert nicht nur einen Bruch in der Bildsprache politischer Ordnung, weil sie den Monarchen als Souverän entthront.15 Sie geht auch über die Staatlichkeitssymbolik des Leviathans hinaus, weil sie im Unterschied zum Hobbesschen Imaginären den Text des Gesetzes und der Verfassung an die zentrale Stelle ihrer Ikonographie einsetzt. Das französische Beispiel ist gerade deshalb so gut geeignet, die konkurrierenden Bildsprachen des europäischen Staatsdiskurses zu veranschaulichen, weil sich in kurzer Folge der wechselnden Regimes von der Revolution bis weit hinein in das zwanzigste Jahrhundert paradigmatische Konstellationen erkennen lassen: Die Verfassung und ihre bildliche Vergegenwärtigung stehen so in einem Kampf mit der personalisierten Staatsgewalt, der schließlich in eine komplexe Synthese einmündet und im Zeitalter der medialen Personalisierung des Politischen ebenso aktuell wie prekär bleibt. Bereits in ihrer frühen Phase vor der Verabschiedung der ersten Verfassung von 1791 schuf die Revolution eine Ikonologie der impersonalen Macht, die zwar den König noch als repräsentative Figur integriert, strukturell aber schon eine radikal antimonarchische Stoßrichtung impliziert. Die Revolution bricht mit dem Monopol personaler Verkörperung der Nation durch den König und setzt an dessen Stelle eine neue Symbolsprache ein.16 Jenseits des traditionellen Imaginären personalisierter Souveränität entstehen so in kürzester Zeit und im rasanten Wandel zahlreiche allegorische Körper, mit deren Hilfe die revolutionären Ideen als ta13 Hobbes 1996, S. 234. 14 Bates 2012, S. 63. 15 Den Zeitraum der Verfassungsikonographie von 1789 bis 1830 analysiert mit zahlreichen Bildbeispielen Reichardt 2007; umfassend zur Revolutionsikonographie auch Schröer 2014. 16 Eine weitere wichtige Alternative zum Leviathan ist das Parlament als Kollektivkörper: dazu Skinner 1998, S. 32; Skinner 2012, S. 24-43; Manow 2008.

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bleaux vivants zur Aufführung gebracht werden – die Göttin der Freiheit, die Republik, die Nation und das Volk treten so nach und nach auf die Bühne der politischen Symbolik und evozieren in gewandelten Variationen die Legitimitätsgrundlage der neuen Ordnung vor den Augen des zum Publikum erhobenen französischen Gemeinwesens (Abb. 1).

Abb. 1: Déclaration des droits de l’homme et du citoyen 1789. Neben diesen transformierten politischen Verkörperungen tritt nun auch die Verfassung selbst in die Szenerie visualisierter Leitideen ein. Der Wandel von der alten, physiologisch geprägten Begrifflichkeit hin zum normativen, textbasierten

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Verfassungsverständnis17 spiegelt sich also auch in der Symbolisierung des Politischen. Der Bruch ist jedoch keineswegs eindeutig: Die Verfassungsbilder können das Dokument selbst und damit den Text abbilden, aber auch in der personifizierten Gestalt einer Verfassungsgöttin erscheinen. Zudem hat sich der ursprüngliche Impuls des Verfassungstextes als Gegenbild zur personalen Herrscherfigur nicht lange erhalten. In der revolutionären Ikonologie wird es bald durch zahlreiche Alternativen an den Rand gedrängt und verschwindet gänzlich in der napoleonischen Herrschaftsinszenierung. Das neunzehnte Jahrhundert hat dann eine reiche Vielfalt an Kombinationen und symbolischen Amalgamierungen produziert, in denen der Konflikt über den Charakter und die Legitimität politischer Ordnung in Frankreich reflektiert wird. Das Beispiel der Verfassungssymbolik und gerade die Differenz zwischen Text- und Körperbildern offenbaren einen tiefen Einblick in die politischen Kämpfe, die den demokratischen Verfassungsstaat geprägt haben und die sich seit der Revolution über die konstitutionellen Monarchien, die Zweite Republik, das Second Empire und schließlich die Republiken bis hin zu Charles de Gaulle ikonographisch rekonstruieren lassen. Diese historisch rekonstruierbare Spannungsgenese verhindert zudem, das für die gegenwärtigen Mediendemokratien beobachtete Phänomen der Personalisierung des Politischen als vollkommen neu oder gar allein als kulturelle Verfallserscheinung zu beurteilen.18 3.1 Vom Textkörper zur Volksverkörperung Die republikanische Opposition gegen die Personalisierungssymbolik drückt sich dort am sichtbarsten aus, wo der Verfassungstext selbst an die Stelle des politischen Körpers eingesetzt wird. Generell besitzt die Schriftsymbolisierung für die Ikonographie der Revolution ein besonderes Gewicht. Ein Schlüsselmoment kommt dabei dem Akt der Verschriftlichung des politischen Willens in das konstitutionelle Dokument der Verfassungsurkunde zu. Anders als bei Hobbes soll also nicht die politische Einheit in Gestalt einer personalisierten Souveränität verkörpert werden, sondern gerade der Akt der Schriftwerdung der politischen Ordnung wird symbolisch besonders verdichtet. Es ist daher kein Zufall, dass gerade das Bild von Jacques-Louis David Le serment du jeu de paume (1789) an Ikonizität kaum übertroffen wird: Hier kreuzen sich verschiedene Sinnebenen des revolutionären Ordnungsdenkens, denen erst in der bildlichen Darstellungen eine herausgehobene semantische Intensität verliehen wird. Der ephemere Moment des Schwurs wird zum Sinnbild der konstitutionellen Verbindlichkeitsstiftung, denn festgehalten wird die Intention, die im Schwur ausgedrückte Einheit in eine dauerhafte Verfassung zu übertragen (Abb. 2).

17 Grimm 1991. 18 Eine Analyse gegenwärtiger Personalisierungstendenzen müsste allerdings zeigen, wie sehr sich die Inszenierung von Personen wie Berlusconi, Wilders, Trump und Anderen als »Anti-Politiker« von der klassischen Folie staatsmännischer Repräsentation unterscheidet – eine Folie, die dagegen von den neuen Autokraten wie Putin oder Erdogan in noch ganz anderer Weise als Identitätsrepräsentation genutzt wird.

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Abb. 2: Der Ballhausschwur. Im Mittelpunkt des Bildes steht der symbolische Kern des Verfassungsgebungsprozesses: Die versammelten Repräsentanten der Generalstände schwören einander, so lange zusammenzubleiben, bis sie eine neue Verfassung verabschiedet haben. Der politische Wille zur dauerhaften Einheit soll sich auf die Verfassung übertragen, um auch sie auf Dauer zu stellen. Damit verbindet der kollektive Wille die Form der politischen Ordnung mit ihrer geschriebenen Konstitution und bricht so mit der arbiträren Herrschaft des personifizierten Souveräns. Das kleine Stück Papier mit dem Text des Schwurs bildet das symbolische Zentrum des Bildes und markiert damit eine klare Differenz zur schriftlosen Identitätsinszenierung bei Hobbes. Wenngleich der Text selbst nicht sichtbar ist, so wird hier doch deutlich die Wandlung des politischen Willens in das geschriebene Dokument der Verfassung vorweggenommen. Die von den körperlich anwesenden Repräsentanten ausgehende ursprüngliche Autorität wird in einen Verfassungstext übertragen, der den vorübergehenden Augenblick der Verfassungsgebung im Medium der schriftlichen Materialisierung transzendiert. Dieser Autoritätstransfer kulminiert daher in der Idee eines quasi-sakralen, universal gerechtfertigten Dokuments und wird zum Ausdruck der neuen Legitimität. Dieses Bildprogramm setzt sich in der berühmten Darstellung der Déclaration de droits de l’homme et du citoyen von 1789 fort, die nur noch als von allegorischen Personen begleiteter Text erscheint. Die Darstellung der Menschen- und Bürgerrechte in Gestalt mosaischer Gesetzestafeln bildet eines der wirkmächtigsten und radikalsten Gegenbilder zum Leviathan, weil es mit der zentralen Darstellung des Gesetzes auch zahlreiche Bindungs- und Verpflichtungsbehauptungen symbolisch

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zum Ausdruck bringt, die sich von der Bildstrategie des Leviathan grundsätzlich unterscheiden: An die Stelle der freiwilligen Unterwerfung unter die Fremdbindung des Souveräns tritt die politische und rechtliche Gestalt der Selbstbindung des Gesetzgebers, an den die Erklärung adressiert ist.19 Damit wird das Bild des personalisierten politischen Körpers gebrochen und offeriert eine andere Möglichkeit, politische Einheit in Bilder zu fassen. Die Mittel, die Verbindlichkeit des Rechts auch durchsetzen zu können, sind gleichwohl immer noch präsent, aber die Eigenschaften der dargestellten Bindungen haben sich gewandelt. Es sind nicht mehr die Ketten, mit denen Hobbes – die republikanische Tradition ironisierend und die Freiheits- durch Sklavereisymbolik ersetzend – die Gesetze verglichen hatte, und die hier nur noch als Zeichen der überwundenen Sklaverei zitiert werden. Stattdessen stehen sehr viel fragilere Bindungen mit anderen Merkmalen im Mittelpunkt – geflochtene Girlanden als Hinweis auf die ebenso künstliche wie natürliche bürgerliche Verbindung, der Ouroboros als Zeichen der Rückbindung an den Gründungsakt, die Fasces als Verbindung der Individuen zu einer politisch handlungsmächtigen Gemeinschaft. Diese Assoziationsikonographie steht daher den republikanischen Bindungen eines Ambrogio Lorenzetti näher als den eiserenen Ketten des Gesetzes.20 Während der ersten Phase der Revolution bis 1793 illustrieren zahlreiche Beispiele, wie der Verfassungstext die monarchische Personalisierung des Ancien Regime nach und nach ersetzt.21 Dieser Prozess vollzieht sich nicht als plötzlicher Bruch, sondern eher graduell, schrittweise. Die Verfassung von 1791 kann durchaus noch zusammen mit dem Monarchen dargestellt werden, auch wenn die Bedeutung des Letzteren zugunsten der Verfassung auf ein untergeordnetes Bildelement geschrumpft ist. Während im Ancien Regime die Gesetze eine Funktion des königlichen Körpers bildeten, so verkehrt sich diese Relation nun in ihr Gegenteil: Der König wird zur symbolischen Funktion der Verfassung, sein politischer Körper wird nicht mehr durch die Gnade Gottes konstituiert, sondern durch den Text der Verfassung und den dort detaillierten rechtlichen Normierungen seiner Macht. Die Macht der Verfassung erhält auch in der Ikonographie eine immer stärkere Autonomie gegenüber der königlichen und kann ihr als allegorisch verkörperter Text in Gestalt der Freiheitsgöttin selbst gegenübertreten. Dieses Szenario wandelt sich nach der Enthauptung Ludwig XVI. zu einer klaren ikonischen Hegemonie des Verfassungstextes. Nach dem erzwungenen Abtritt des Königs treten allerdings bald neue Formen personaler Verkörperung in die Symbolisierungskämpfe der Revolution ein, um die mit der Revolution aufgeworfene Frage nach der Verkörperung des Volkes und seiner Souveränität zu entscheiden. Gerade der jakobinische Diskurs schafft 19 Dazu ausführlich Schulz 2009. 20 Zur Diskussion der komplexen Ikonographie Lorenzettis vgl. Skinner 2002; zum Vergleich der unterschiedlichen Verpflichtungslogiken bei Lorenzetti und Hobbes vgl. Münkler 1994, S. 58: Hobbes konzentriert sich auf die Durchsetzung des Rechts, Lorenzetti auf seine Grundlegung. 21 Vgl. die Beispiele bei Reichardt 2007.

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die Situation eines double bind, indem er einerseits auf die Verfassung als einen heiligen Text referiert – mit den Worten Saint Justs als »heiliges Bild der Freiheit«,22 einen sakralisierten Text in Analogie zu den mosaischen Gesetzestafeln ohne die Person des Mose –,23 andererseits aber die politische Bindungssemantik wieder repersonalisiert und durch starke Körperbilder verstärkt, die sich durch eine unmittelbare Einheit des Volkes mit sich selbst und ohne weitere Hinweise auf die ermöglichenden Prozeduren und Institutionen in Gestalt eines corpus mysticum offenbart. Das jakobinische Phantasma der Unmittelbarkeit ist gleichwohl nicht mehr an die Schrift der Verfassung gebunden, sondern vollzieht sich im gesprochenen Wort als prätendierte Einheit des Redners mit seinem Publikum.24Mit der Verdrängung des konstitutionellen Schriftmediums bereitet die Radikalisierung der Revolution die Wiederkehr des verdrängten Körpers vor: Mit Napoleon kehrt der Herrscher machtvoll zurück auf die politische Bühne und geht eine ikonologische Synthese mit der neuen demokratischen Legitimitätsvorstellung ein. Der Glaube an den transzendenten Charakter der schriftlichen Verfassung weicht einer Repersonalisierung des Politischen. Die von Jacques-Louis David im Bild inszenierte Krönungszeremonie (Le sacre de Napoléon, 1806) zeigt die Selbstkrönung Napoleons 1804 und markiert einen klaren ikonographischen Bruch mit der revolutionären Verfassungsverehrung25 – eine schriftliche Verfassung oder auch nur ein Gesetz ist in der auf die Person des neuen Herrschers konzentrierten Darstellung nicht mehr vorhanden. Doch auch wenn diese Machtinszenierung auf den ersten Blick wie eine Rückkehr zu traditionellen Formen monarchischer Souveränität erscheint, so könnte das visuelle Narrativ des die Revolution zu ihrem Ende bringenden, sich selbst krönenden Kaisers davon doch nicht weiter entfernt sein. Als «homme-peuple«26 inkarniert Napoleon die neue Legitimität des demokratischen Souveräns und invisibilisiert durch die akklamierte Einheit mit dem Volk den Verfassungstext. 3.2 Auf den Leib geschrieben: Der Monarch als konstitutionelle Fiktion Erst nach dem Ende des Kaiserreiches kehrt die Verfassung auf die Bühne der symbolischen Repräsentation zurück. Die restaurierte Monarchie unter Ludwig XVIII. sieht sich angesichts der erschütterten Grundlagen monarchischer Herrschaft zu einem geltungssichernden Zugeständnis an den liberalen Konstitutionalismus gezwungen. Die Verfassungscharta von 1814 wird im Gestus eines königlichen Geschenks den Untertanen oktroyiert und steht noch deutlich im Schatten 22 Saint-Just 1976, S. 190. 23 Siehe beispielsweise den Druck La Constitution Républicaine, semblable aux tables de Moyse, sort du sein de la Montagne au milieu de la foudre et des éclairs von LouisJean Allais (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv 1b8411961f [Zugriff vom 5.4.2017], abgebildet bei Reichardt 2007). 24 Jaume 1989. 25 Schröer 2010. 26 Rosanvallon 2000, S. 193.

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des Monarchen. Es wird jedoch sehr schnell klar, dass die monarchistische Repräsentation des politischen Körpers ihre Grundlage verloren hat (Abb. 3).

Abb. 3: Le roi et la charte. Der Körper des Königs ist für den Geltungsanspruch legitimer Macht nicht länger hinreichend. Sein Bildnis wird buchstäblich vom Text der Verfassung überschrieben. Diese Überlagerung von Schrift und Körper wird in der postrevolutionären Epoche nicht mehr hintergehbar. Der reaktionäre Versuch von Karl X., die Charta zugunsten einer neoabsolutistischen Herrschaftspraxis zu suspendieren, schlägt fehl, weil die zunehmende Deutungsmacht des Konstitutionalismus eine Emanzipation des Monarchen vom Verfassungstext nicht mehr zulässt. Die zeitgenössische Karikatur Karl X. demonstriert diese Situation in zweierlei Hinsicht: Zum einen trampelt der Monarch erzürnt auf der Verfassung und den Symbolen des Rechts herum. Zum anderen aber entspringt der König buchstäblich dem Verfassungstext – sein Versuch, sich von diesem literarischen Ursprung zu befreien muss fehlschlagen. Als König existiert er nicht anders denn als konstitutionelle Schöpfung. Der Inhaber von Macht und Autorität aus royalem Eigenrecht hat sich in einen fiktionalen Charakter verwandelt, eine Schöpfung des Autors der Verfassung. Nicht der König verkörpert die Verfassung, sondern der Verfassungstext verleiht ihm erst seinen politischen Körper und damit seine Existenz.

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Abb. 4: Karl X. Nach der Revolution von 1830 setzt sich diese Entwicklung in der Juli-Monarchie fort: Ein vergleichender Blick auf die Darstellung der Staatsoberhäupter in den konstitutionellen Monarchien Frankreichs verdeutlicht die Entwicklung sehr eindrücklich (Abb. 5). Das offizielle Porträt Ludwig XVIII. führt kaum merklich aber doch sichtbar eine neue Begründung seiner Legitimität in die politische Herrschaftsikonographie ein. Die traditionellen Regalien stützen sich auf die geschriebene Verfassung, die für den Betrachter nahezu verborgen bleibt. Im Bildnis Louis-Philippes wird die Verfassung bereits sehr viel präsenter und behauptet, in Leder gebunden, mehr Gewicht als ihre Vorgängerin (Abb. 6). Nach der Revolution von 1848 wird Louis Napoleon Bonaparte schließlich vom König zum Präsidenten der Zweiten Republik degradiert und schrumpft zu einer bloßen Illustration des Verfassungstextes (Abb. 7). Jedoch scheitert der Versuch der Entpersonalisierung politischer Souveränität erneut: Nach dem Volksreferendum wird er zum Kaiser Napoleon III. gewählt und streift seine lästigen konstitutionellen Bindungen ab (Abb. 8). Mit der Rückkehr des Körpers ohne Text verschwindet die Verfassung wieder aus der politischen Ikonologie und macht den Weg frei für eine Reminiszenz an den Absolutismus Ludwig XIV. und seine symbolische Inszenierung.

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Abb. 5: Louis XVIII.

Abb. 6: Louis-Philippe.

Abb. 7: Louis Napoleon Bonaparte.

Abb. 8: Napoleon III.

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4. Gezähmte Körper: Der Staatspräsident als erster Bürger Mit der Dritten Republik setzt eine erneute Transformation ein: Die offiziellen Portraits der Präsidenten, deren politische Machtposition gegenüber dem Parlament nunmehr rein repräsentativ ist, übernehmen einerseits ikonische Elemente der konstitutionellen Monarchie und ändern dabei doch gänzlich ihre Bildfunktion: An die Stelle farbiger Ölgemälde treten mit Adolphe Thiers eine Reihe von sich stark ähnelnden Schwarzweißphotographien, deren prosaischer Realismus sich zum einen vom monarchischen Inszenierungsgestus durch bürgerliche Nüchternheit abhebt. Zugleich unterstreichen sie aber durch das moderne Medium der Photographie den fortschrittlichen Charakter der neuen Ordnung und kontrastieren die positivistischen, wissenschaftsgläubigen Leitideen des republikanischen Rationalismus gegen die historische Tradition und ihre feudale Ornamenthaftigkeit. Erst mit der Gründung der V. Republik und dem starken Präsidenten Charles de Gaulle kehrt auch die Verfassung in die politische Ikonologie zurück, nachdem sie auch in der IV. Republik kaum eine symbolische Rolle gespielt hatte. In einem der ersten Beispiele für den Einsatz von Farbphotographie bei einem offiziellen Porträt steht auch de Gaulle mit der Wahl dieses Mediums für technischen Fortschritt und Modernität – zugleich aber ahmt der Bildgestus die Pose traditioneller monarchischer Herrscherbilder nach (Abb. 9).

Abb. 9: Charles de Gaulle. Die Verfassung fungiert hier wiederum als Differenzmarkierung, mit der die symbolische Funktion einer Dezentrierung des politischen Herrscherkörpers erfüllt

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wird. Die Visualisierung des Verfassungstextes zusammen mit dem Körper des Präsidenten macht die heute banal erscheinende, aber vor dem historischen Hintergrund politischer Herrschaftssymbolik keineswegs selbstverständliche Tatsache anschaulich, dass die Verfassung und der Präsident nicht in einem Körper aufgehen, sondern voneinander in mehrfacher Hinsicht unterschieden werden müssen. Der biologische Körper ist nicht identisch dem politischen Körper, sondern wird durch den Rechtstext der Verfassung artifiziell vermittelt. Gerade angesichts der Doppelrolle de Gaulles als Verfassungsgeber und als gewähltes Staatsoberhaupt innerhalb der konstituierten Gewalt ist diese Differenz bedeutsam. Ein bemerkenswertes Detail der Darstellung liegt darin verborgen, dass es sich bei der Verfassung nicht um das einzige abgebildete Buch handelt. Der vergleichsweise dünne Lederband mit der Verfassung ruht auf einem wesentlich umfangreicheren Werk: Es handelt sich dabei um eine Ausgabe von Jules Renault La Légion d’Honneur (1931), die keineswegs zufällig von de Gaulle ausgewählt worden ist. Der Prachtband über die französische Ehrenlegion symbolisiert die Anwesenheit dessen, der in der de Gaulleschen Inszenierung einerseits überpräsent, andererseits jedoch nicht unmittelbar sichtbar ist. Schlägt man den Band auf, so ist auf den ersten Seiten der Gründer der Ehrenlegion in zwei Faksimiles abgebildet (Abb. 10).27

Abb. 10: Napoleon.

27 Renault 1931, 1: Planche 1: Bonaparte, premier Consul Créateur de la Légion d’Honneur, peint par Yvon; Renault 1931, Planche 2: Napoléon Ier, en costume du Sacre, Gravé par B.T. d’après le tableau de David; Planche 3: Armes d’Honneur, Fusils et sabres d’honneur (Musée de la Légion d’honneur).

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Diese versteckte Präsenz Napoleons, ein als Schrift camoufliertes Bild im Bild, erklärt aber noch nicht die Wahl der Ehrenlegion: Die Legion verweist nicht nur auf ihren Gründer, sondern repräsentiert auch die Leitidee des Gemeinwohls, den tugendhaften Bürger, der sich um den Erhalt und die Verteidigung der Verfassung verdient gemacht hat (Abb. 11). Daher sind auch die Machtmittel zum Schutz der Verfassung gegen ihre Feinde visuell präsent. Direkt nach den ersten Bildertafeln mit den Napoleonporträts zeigen die folgenden Tafeln verschiedene »armes d’honneur« aus der Sammlung des Museums der Ehrenlegion.28 Anders als im Leviathan erscheinen in der Inszenierung de Gaulles die Instrumente der Durchsetzungs- und Verfügungsmacht nicht allein als Mittel des Souveräns zum Erhalt der Rechtsgeltung. Vielmehr wird diese »invisibilisierte Machtreserve«29 hier auch als ein republikanischer Topos sichtbar, der die Tugend in traditioneller Hinsicht sehr konkret als Fähigkeit präsentiert, das Gemeinwesen notfalls auch gegen Angriffe verteidigen und schützen zu können. Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts und auch darüber hinaus waren die Orden der Ehrenlegion in überwiegender Zahl den Angehörigen des Militärs vorbehalten – die verdeckte Präsenz dieser Waffen koppelt die Geltung des Verfassungstextes von de Gaulle nicht nur an die Rolle der charismatischen Gründerfigur, des législateurs, sondern erweitert das Bildprogramm auch um die soziomoralischen Voraussetzungen, die nach der Gründung zum dauerhaften Erhalt der Verfassung notwendig sind.

Abb. 11: Armes d’honneur. 28 Renault 1931, Planche 3: Armes d’honneur: Fusils et sabres d’honneur (Musée de la Légion d’honneur); Planche 4: Trompette d’honneur, grenade d’honneur, pistolets d’honneur, crosse de fusil d’honneur (Musée de la Légion d’honneur). 29 Münkler 1995.

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5. De Gaulle: Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols? Durch die Verbindung divergierender Traditionslinien des Politischen – Bonapartismus, konstitutionelle Monarchie und Republikanismus – ist es in der V. Republik unter de Gaulle gelungen, diese heterogenen Elemente politischer Erfahrungen zu einer stabilen Synthese zu formen und, in den Worten Maurice Duvergers, die paradoxe Ordnung einer »Monarchie républicaine« hervorzubringen.30 Auch wenn eines der Schlüsselelemente dieses republikanischen Regimes in der plebiszitär gestärkten Exekutivgewalt auf Kosten der parlamentarischen Macht lag, so ist doch de Gaulle keineswegs mit dem staatlichen Leviathan gleichzusetzen, wie ihn Carl Schmitt im Geiste des Dezisionismus und des politischen Existenzialismus interpretierte – von der damit verbundenen politischen Theologie des »Katechon« ganz zu schweigen.31 Trotz aller Sakralisierungstendenz seiner Person, seiner charismatischen Performanz und seiner allegorischen Identifizierung mit der französischen Nation, die wie ein Lehrbuchbeispiel dem Rousseauschen Kapitel über den Gesetzgeber gehorchen, schlug de Gaulle doch im Gegensatz zu Schmitt in der Frage, welche Ordnungsvorstellung in seiner Person des charismatischen Führers zu verkörpern seien, eine gänzlich andere Richtung ein. De Gaulle ist keine Inkarnation reiner Souveränität, die ohne Beschränkung in einem normativen Vakuum operiert. Selbst im Moment der Verfassungsgebung verbleibt er im symbolischen Rahmen der hegemonialen französischen Tradition, in der die Nation immer schon durch ihre inhaltlichen Referenzen auf die Menschen- und Bürgerrechte und die Volkssouveränität konstitutiert ist.32 Als Gründer der V. Republik war de Gaulle zwar mit einer Notstandsgewalt ausgestattet, die in der Folge des Algerienkriegs zur Überwindung der Staatskrise geboten schien. Zugleich aber sah er sich gebunden an «une certain idée de la France« (de Gaulle 1954), die eine von Schmitt imaginierte radikalisierte pouvoir constituant gerade ausschloss. 33 In Folge des Moments, in dem sich de Gaulle angesichts des Mai 1968 nicht mehr im Einklang mit der nationalen volonté générale sah, verzichtete er schließlich ein Jahr später nach dem Verlust eines inhaltlich kaum bedeutenden Referendums auf sein Amt. Genau in diesem Sinne ist de Gaulle nicht mit dem Leviathan als fehlgeschlagenem Symbol im Sinne Schmitts zu verwechseln. Die mit ihm verbundene Staatssymbolik ist gerade durch den Einschluss einer Differenz geprägt, die den politischen Körper mit dem Verfassungsgesetz verbindet. Dem body politic wird so ein Text eingeschrieben, der sich zugleich von dem Repräsentativkörper des Präsidenten unterscheidet – damit ist eine fundamental andere Ordnungsentscheidung getroffen, als sie mit dem leeren exis-

30 31 32 33

Duverger 1974. So aber in der Folge Schmitts Mohler 1963. Schulz 2004. Schmitt 1928a, S. 140.

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tentiellen Pathos souveräner Einheit oder gar dem Identitätsanspruch eines im Körper des Führers inkarnierten Rechts behauptet wird.34 Gleichwohl ist der Topos der Souveränitätsverkörperung jenseits konstitutioneller Schriftlichkeit in der Ikonographie de Gaulles nicht abwesend. Auch hier können Parallelen zur Bildpolitik Napoleons gezogen werden (Abb. 12).

Abb. 12: Jacques-Louis Davids Napoleon. Beide Bilder enthalten neben den Personendarstellungen ein programmatisches Narrativ vom Verhältnis des Rechts zu den Mitteln seiner Durchsetzung. De Gaulle verbindet seine Verfassung nicht nur mit seiner eigenen charismatischen Person, sondern deutet auch auf den normativen Rahmen der Nation, der sich seit der Revolution fest mit einer Reihe rechtlicher Prinzipien verbunden hat. Sein Verweis auf die Ehrenlegion hebt die Genealogie der meritokratischen Republik hervor und deutet auf die wichtige Funktion der Tugend, sowohl im engeren Sinne der militärischen Tapferkeit als auch das Engagement der bürgerlichen Eliten für das Gemeinwohl, auf die es gleichermaßen für den Erhalt der Verfassung ankommt. Das Bildnis Napoleons ist in dieser Hinsicht sehr viel explizierter: Die bildliche Kombination des Schwertes mit dem Text des Code civil unterstreicht deutlich die eigene Mission des großen Gesetzgebers, der die innere, zivilrechtliche Verfasstheit der Nation dauerhaft an den eigenen Namen zu binden versucht. Aber es ist ein weiteres Element enthalten, das noch mehr über die symbolisierten Souveräne aussagt. Für Schmitt lag der Kern der politischen Konstruktion von 34 Ders. 1934.

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Hobbes im Transfer des cartesianischen Bildes des mechanischen Menschen auf den Staat als großen Menschen, der seine Seele vom souveränen Herrscher eingehaucht bekommt.35 Besteht also möglicherweise auf dieser visuellen Ebene doch noch eine verborgene Verbindung zwischen De Gaulle und dem Leviathan? Im Frontispiz des Leviathan ist das geschriebene Recht abwesend, dagegen dominieren die Machtmittel, mit denen der souveräne Staat seinen Herrschaftsanspruch auch durchzusetzen vermag. Das geschriebene Gesetz ist also gerade deshalb nicht sichtbar, weil der Souverän das Recht in seiner faktischen Durchsetzungsfähigkeit bereits verkörpert. Am Beispiel des französischen Konstitutionalismus konnte dagegen die Vielfalt der konkurrierenden Staatsbilder aufgezeigt werden, die sich durch die symbolische Präsenz der geschriebenen Verfassung und der verpflichtenden Bindung des Herrschers vom Leviathan unterscheiden. Die Macht der dargestellten Person bleibt somit immer auch eine Funktion des ebenfalls sichtbar dargestellten Gesetzes, das nicht mit der physiognomischen Konstitution des Staatskörpers zusammenfällt, sondern eine permanente normative Differenz markiert. Die Staatsbildnisse de Gaulles und Napoleons sind demnach visuelle Paradoxierungen: Sie präsentieren die unmögliche Gleichzeitigkeit des Gesetzgebers mit der Souveränität des Rechtes. Was systematisch nicht gesagt werden kann, wird daher gleichwohl visuell zeigbar: eine Verfassung, die Körper und Text zugleich ist und in der personales Charisma mit der Rationalitätsanmutung des geschriebenen Wortes eine geltungsstabilisierende Synthese eingeht. Auch wenn die Mittel der Rechtsdurchsetzung in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaates dagegen in den Hintergrund rücken, so sind sie aber dennoch nicht vollkommen verschwunden. Die Verfassung basiert somit nicht allein auf der Rationalität des geschrieben Wortes. In beiden Bildern bleibt Hobbes’ genuine Idee politischer Robotik36 unterschwellig präsent. Im Falle Napoleons bildet die große Standuhr im Hintergrund ein cartesianisches Schlüsselsymbol und verweist auf die Perfektion mechanischer Kräfteverhältnisse, die den Staat zur rationalen Maschine aufwertet.37 Napoleon kann in diesem Sinn sehr viel mehr als Verkörperung dieser politischen Maschine gesehen werden als sein visuelles Gegenstück de Gaulle – aber auch hier ist zumindest ex post eine Spiegelung des Leviathans wahrnehmbar. Die Symbolik der Souveränität im nuklearen Zeitalter des 20. Jahrhunderts geht noch einen Schritt weiter als die post-revolutionäre mechanistische Rationalitätsbehauptung und transformiert den symbolischen Körper des Präsidenten nach dem Tod seines natürlichen Körpers in einen politischen Cyborg:38 Die charismatische Repräsentation des politischen Körpers findet dort ihre Fortsetzung, wo die Durchsetzungsmittel des staatlichen Rechtsanspruches im globalen Kontext neu definiert werden (Abb. 13). Der moderne nuklear getriebene Flugzeugträger ist wie kaum eine andere militärische Waffen35 36 37 38

Ders. 1982, S. 48 u. 59. Bates 2012. Stollberg-Rilinger 1986. Bates 2012.

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gattung seit dem Zweiten Weltkrieg weitaus mehr als nur ein militärisches Werkzeug, sondern mindestens ebenso sehr ein Symbol globaler Supermacht. Die 1994 gebaute und seit 2001 in Dienst gestellte Charles de Gaulle steht so als sichtbares Zeichen militärischer Machtansprüche für den Körper des Präsidenten, der als Souveränitätsbehauptung damit auch nach dem biologischen Tod des Gründerkörpers fortlebt.39

Abb. 13: Flugzeugträger Charles de Gaulle. In der ikonologischen Tradition des »schwimmenden Souveräns«40 präsentiert diese personalisierte Maschinerie die Mittel zur Rechtsdurchsetzung und damit zum Erhalt der politischen Ordnung in einem weitaus umfangreicheren und gewaltigeren Sinn als Hobbes Leviathan. Diese hochkomplexe cartesianische Kriegsmaschine ist Sinnbild eines globalisierten Leviathans, entworfen als Machtinstrument für die geostrategischen See- und Lufträume jenseits des Nationalstaates, und zugleich zur symbolischen Durchsetzung des Anspruches auf souveräne Machtfülle im eigenen Land. Wenn Präsident François Hollande nach den verheerenden Terroranschlägen in Paris vom November 2015 seine traditionelle Neujahrsansprache auf der vor der französischen Küste kreuzenden Charles de Gaulle hält und den Flugzeugträger anschließend in den Persischen Golf zum Kampfeinsatz gegen den Islamischen Staat entsendet, dann halten sich die instrumentelle

39 Das Schiff wurde 1986 vom Staatspräsidenten François Mitterand in Auftrag gegeben und sollte ursprünglich den Namen Richelieu tragen – wie bislang alle Flaggschiffe der französischen Kriegsmarine. Nach der Verschiebung der Machtverhältnisse wurde es 1987 von Premierminister Jacques Chirac in Charles de Gaulle umbenannt. 40 Bredekamp 2014.

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militärische Logik und der symbolische Heilungsversuch des in seiner Souveränität beschädigten politischen Körpers mindestens die Waage. Das Problem aller politischen Symbole jedoch besteht darin, dass sie die ihnen aufgegebene Bedeutungsstiftung nicht immer erfolgreich leisten – Symbole können fehlschlagen. So sind Souveränitätsansprüche in der Tat vornehmlich symbolisch verfasste Machtansprüche und müssen stets durch einen konstanten Fluss von Bildern beglaubigt werden. Doch auch wenn politische Macht durch Symbole dauerhaft gefestigt werden kann, so lässt sich doch kein Symbol im absoluten Sinne von politischer Macht beherrschen.41 Angesichts der Tatsache, dass der Bau der Charles de Gaulle mehrfach aufgrund unzureichender finanzieller Mittel gestoppt werden musste und sie zudem über die meiste Zeit nach der Fertigstellung wegen technischer Defekte nicht einsatzfähig war,42 ist dieser Flugzeugträger nicht zuletzt ein anschauliches Beispiel dafür, wie der Versuch der Transzendierung des Präsidentenkörpers durch die Kontinuierung des politischen Körpers der Republik durchaus nicht-intendierte Bedeutungen anzunehmen vermag und zum »Schiffbruch mit Zuschauer« mutiert.43 Literaturverzeichnis Bates, David William 2012. States of War. Enlightenment Origins of the Political. New York: Columbia UP. Blumenberg Hans 1997. Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blumenberg, Hans 1983. Die Lesbarkeit der Welt. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brandt, Reinhard 1982: »Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante«, in Furcht und Freiheit. Leviathan – Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, hrsg. v. Bermbach, Udo; Kodalle, Klaus-M., S. 201-231. Opladen: Westdeutscher Verlag. Bredekamp, Horst 2003. Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651–2001. 2. Aufl. Berlin: Akademie-Verlag. Bredekamp, Horst 2011. »Politische Ikonologie des Grundgesetzes«, in Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, hrsg. v. Stolleis, Michael, S. 9-35. München: C.H. Beck. Bredekamp, Horst 2014. Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers. Göttingen: Wallstein. De Gaulle, Charles 1954. Mémoires de guerre, Bd. 1. Paris: Plon.

41 Um seinen vermeintlichen Sieg im Irak-Krieg in Szene zu setzen, wählte der damalige amerikanische Präsident George W. Bush 2003 die USS Abraham Lincoln für seine »mission accomplished«-Rede aus – der Präsident, der einen Krieg beendet hatte, ohne ihn selbst begonnen zu haben wird so zur symbolischen Kommunikation eines anderen Präsidenten in Dienst genommen, der einen Krieg begonnen hat, ohne ihn wirklich zu beenden. Zugleich kann man darin auch den hilflosen Versuch erkennen, die entfesselte Maschinerie militärischer Souveränität wieder an ihren »commander in chief« zurückzubinden. 42 Der Bau eines für den sinnvollen militärischen Einsatz notwendigen Schwesterschiffes wurde unter Nikolas Sarkozy zwar vorangetrieben, aber 2009 aufgrund des nicht vorhandenen Budgets endgültig aufgegeben. 43 Blumenberg 1997.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (Jean-Jacques Le Barbier, 1789), entnommen aus https://fr.wikipedia.org/wiki/Déclaration_des_droits_de_l%27homme_et_ du_citoyen_de_1789 (Zugriff vom 21. September 2017). Abb. 2: Ballhausschwur (Jacques-Louis David, 1791), entnommen aus https://de.wikipedia.org/ wiki/Ballhausschwur (Zugriff vom 21. September 2017). Abb. 3: Le roi et la charte (A. Pelicier, 1820). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque National de France. Abb. 4: »Quel Saut!!…« (Gobert, 1830). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque National de France. Abb. 5: Ludwig XVIII. (Jean-Naptist Paulin Guérin, 1820), entnommen aus https://nl.wikipedi a.org/wiki/Lodewijk_XVIII_van_Frankrijk (Zugriffvom 21. September 2017). Abb. 6: Louis-Philippe I., (Franz Xaver Winterhalter, 1839), entnommen aus https://de.wikiped ia.org/wiki/Louis-Philippe_I. (Zugriff vom 21. September 2017). Abb. 7: Constitution de la République Française (1849). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque National de France. Abb. 8: Napoleon III. (Franz Xaver Winterhalter, 1852), entnommen aus https://de.wikipedia.o rg/wiki/Napoleon_III (Zugriff vom 21. September 2017). Abb. 9: Charles de Gaulle, offizielles Porträt (Jean-Marie Marcel, 1959). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der documentation française. Abb. 10: Napoléon consul-créateur, entnommen aus: Renault 1931, Bildtafel 1. Abb. 11: Armes d’honneur, entnommen aus: Renault 1931, Bildtafel 3. Abb. 12: Napoléon dans son cabinet de travail (Jacques Louis David, 1812), entnommen aus https://fr.wikipedia.org/wiki/Napoléon_dans_son_cabinet_de_travail (Zugriff vom 21. September 2017). Abb. 13: Charles de Gaulle R91 (US Navy, 2009), entnommen aus https://de.wikipedia.org/wik i/Charles_de_Gaulle_(R_91) (Zugriff vom 21. September 2017).

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Visuelle Grundmuster einer Ikonografie der Gesellschaft: Fotografische Konstruktionen von Einheiten und Vielfalten bei Einbürgerungsfeiern

1. Gesellschaft als Darstellungsproblem Ein Gedankenexperiment: Man stelle sich einen Maler zur Zeit der Französischen Revolution oder des Hambacher Festes vor, der den Auftrag erhält, ›die Gesellschaft‹ in ein Bild zu bannen. Oder, als modernes Pendant, die Bildredakteurin einer Tageszeitung, die vor der Aufgabe steht, einen Artikel über ›die plurale Gesellschaft‹ zu bebildern. Wie, mit welchen Bildern und Motiven ist das zu bewerkstelligen? Die Schwierigkeit, vor der diese historischen oder modernen Figuren stehen, spiegelt eine klassische politische wie auch gesellschaftstheoretische Frage wider: die Uneinigkeit darüber, was die Identität von Gesellschaft eigentlich ist, wer zu ihr gehört und wer nicht, wie sie sich charakterisieren und umfassen lässt. Wie viel Einheit ist nötig, um von einer Gesellschaft zu sprechen, wie viel Differenz ist aber auch möglich und – ebenso – nötig? In der Moderne ist die Gesellschaft konstitutiv plural, differenziert und individualisiert. Darüber hinaus ist ›die plurale Gesellschaft‹ auch ein normatives Leitbild der politischen Mitte. Was genau die Pluralität aber ausmacht, und vor allem wo sie endet, ist regelmäßig Gegenstand hitziger Debatten, wie etwa in der Diskussion um eine »Leitkultur«.1 Genauso wird auch normativ über »Vielfalt« diskutiert, und wie sich diese zu »Einheit« verhält: »Einheit und Vielfalt«, »Einheit trotz Vielfalt«, »Einheit in der Vielfalt« sind dabei nur einige der diskutierten Konfigurationen. Wie genau Einheitlichkeit und Vielfalt der gegenwärtigen pluralen Gesellschaft bildlich dargestellt werden, soll hier anhand einer Analyse von Gruppenfotografien von deutschen Einbürgerungsfeiern nachvollzogen werden. Was ›die‹ Gesellschaft ausmacht, wie sie beginnt und wo sie endet, was sie intern strukturiert, das bleibt aber zumindest im politischen und medialen Alltagsgeschäft meist implizit. Es muss jedoch zwangsläufig irgendwie sichtbar und damit expliziter gemacht werden, wenn die Gesellschaft abgebildet werden soll. Welche visuellen Vorstellungen gibt es also von Gesellschaft und davon, was sie vielfältig macht und doch als eine Einheit konstituiert? Nicht erst in der pluralen Gesellschaft ist die visuelle Aufgabe, die Gesellschaft abzubilden, ein schwieriges Unterfangen. Als »imagined community«2 ist es ihr eigen, eben nicht sinnlich wahrnehmbar zu sein. Mediale und politische visuelle Repräsentationen von »Gesellschaft« sind dabei historisch wie gegenwärtig in einer dialektischen Position zu sehen: Sie speisen sich einerseits aus dem kollektiven Reservoir an bildlichen Dar1 Vgl. Manz 2004; Pautz 2005. 2 Anderson 2006.

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stellungen, andererseits prägen sie dieses mit, adaptieren oder rekombinieren eventuell vorhandene Symboliken und Darstellungsweisen. Einer der Anlässe, an denen es explizit gilt, die Pluralität der Gesellschaft abzubilden, ist die mediale Berichterstattung über Einbürgerungsfeiern. Sie soll hier zum Testfall genommen werden, um einige Grundelemente der möglichen visuellen Darstellung der Gesellschaft herauszuarbeiten. Die auf den Feiern produzierten und medial verbreiteten Bilder sind als zweckgebunden zu betrachten: Sie sollen die feierliche Atmosphäre transportieren und damit das Ansehen der veranstaltenden Behörde kommunizieren, sie sollen Einbürgerung als etwas Positives darstellen und die Neubürger als wertvolle Teile des »Einwanderungslandes Deutschland«, einer neuen, Differenzen selbstbewusst mit einschließenden Gesellschaft präsentieren. Die Darstellung von Einheit und Vielfalt ist auf Einbürgerungsfeiern programmatisch. Die Fotografien von Einbürgerungsfeiern ermöglichen es also, zu untersuchen, wie dies visuell vollzogen wird, und wie gesellschaftliche Einheit und Vielfalt visuell konkretisiert werden. Im Folgenden skizziere ich einige Entwicklungsstränge und inhärente Schwierigkeiten einer Ikonografie von Gesellschaft,. Danach werden die Abbildungen von Einbürgerungsfeiern in den Blick genommen und die dokumentarische Bildinterpretation als ein methodischer Zugang zu den sich in ihnen reproduzierenden visuellen Grundmustern vorgestellt. Kern des Beitrags bildet die ausführliche Analyse von zwei prototypischen Gruppenbildern von Einbürgerungsfeiern, an denen sowohl eine formale ›uneinheitliche Einheit‹ als auch motivische Anklänge an Leistungs- und Familiendarstellungen als Grundmuster der Visualisierung von gesellschaftlicher Einheit und Differenz herausgearbeitet werden. Diese zentralen Strategien werden schließlich als nicht nur visuell prominente Diskurse der Darstellung und Legitimierung von gegenwärtiger Gesellschaftlichkeit diskutiert. 2. Zur Ikonografie der Gesellschaft Die konzeptuellen Schwierigkeiten mit der Gesellschaft beginnen nicht erst bei ihrer bildlichen Darstellung. Moderne politische Kollektive sind, so hat es Benedict Anderson auf den Punkt gebracht, abstrakt und damit notwendigerweise »imagined communities«3. Anderson selbst hat für das verwandte Konzept der ›Nation‹ ausbuchstabiert, dass es für dessen Mitglieder unmöglich sei, jemals alle anderen Mitglieder tatsächlich zu treffen oder auch nur wahrzunehmen. Ihre Gemeinschaft kann somit nur eine vorgestellte sein.4 Möglich aber wurde diese Vorstellung, so arbeitet es Anderson heraus, insbesondere durch die Möglichkeit gedruckter Schrift: Durch die Zirkulation von Romanen und Zeitungen war es möglich, sich als Teil einer großen, simultanen Leserschaft zu begreifen und diese in der Alltagswelt zu verankern.5 Abstrakte Konzepte wie ›die Gesellschaft‹ – und ›Volk‹ und ›Nation‹ als 3 Vgl. Anderson 2006. 4 Vgl. ebd, S. 6f. 5 Vgl. ebd. S. 33ff.

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ihre Einheitssemantiken6 – wurden dadurch überhaupt erst denkbar. Und es scheint, dass diese auch heutzutage vor allem medial performiert und imaginiert werden, wenn etwa »Deutschland« simultan die Suche nach einem »Superstar« unternimmt oder für Kandidaten im »Dschungelcamp« votiert.7 Ausgehend von dem Gedanken der notwendigen Imagination von Gesellschaft stellt sich allerdings die Frage, wie sie denn imaginiert wird, welche Qualitäten und Eigenschaften ihr zugemessen werden. Ich will mich dazu in der Folge auf visuelle Repräsentationen konzentrieren, bei denen sich das Darstellungsproblem aus zwei Gründen verschärft stellt: Zum einen ist es rein quantitativ schwierig, die Gesellschaft als Menge in ein Bild zu fassen. Zum anderen bleibt bei visuellen Darstellungen (außer in ihren abstraktesten Spielarten) grundsätzlich weniger Raum für reine Imagination: Sie müssen explizit zeigen und präsentieren. Dieses Problem, die Gesellschaft als etwas eigentlich nicht Herzeigbares doch visuell begreifbar zu machen, wurde historisch auf unterschiedliche Weise gelöst. Grundsätzlich war es dabei vorwiegend eine als Nation gefasste Gesellschaft, die dargestellt wurde. Eine Variante dabei war, die Nation über Kartenmaterial zu veranschaulichen,8 eine andere die Nutzung von Allegorien und Symbolen. Im 19. Jahrhundert stellte die Darstellungsstrategie der weiblichen Allegorie einen Ausweg aus dem Dilemma dar, die Autorität vieler durch die Darstellung weniger (Männer) auszudrücken, ohne diesen Dargestellten wiederum partikulare Autorität zuzusprechen.9 Alternativ wurde die mythische Figur des Herkules als Symbol für die Volkssouveränität eingesetzt.10 Die bekannteste symbolische Strategie ist schließlich der Rückgriff auf den »Kollektivkörper« wie im Bild des »Leviathans«.11 Aber auch die schwierige Strategie des Pars pro Toto, der Darstellung Weniger als stellvertretend für eine Gesamtheit, wurde immer wieder ergriffen. Historisch war hier vor allem die visuelle Darstellung konkreter, konstitutiver republikanischer Ereignisse relevant, bei denen eine Menge von Repräsentanten sinnbildlich für das Volk, das sie auch politisch repräsentieren, abgebildet wird.12 Wolfgang Kemp hat dies etwa anhand der Darstellung des »Schwurs im Ballhaus« von Jacques-Louis David (1792) herausgearbeitet, die er als »große Innovation in der Geschichte der bildlichen Darstellung von Volksmengen«13 beschreibt, da hier

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Vgl. Kiss 1992. Vgl. Dörner 2009. Vgl. exemplarisch Batuman 2010. Vgl. von Falkenhausen 1996, S. 6f.; ausführlich zur weiblichen Nationen-Allegorie siehe Landes 2006. Vgl. Diehl 2015, S. 214ff.; Diehl 2011. Vgl. Bredekamp 2012. Zur nach wie vor grundlegenden Funktion der Abbildung von Repräsentation und der inhärenten Problematik der Darstellung der Repräsentantenkörper in der Demokratie vgl. Diehl 2015. Kemp 2011, S. 521.

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zum ersten Mal die Menge als kollektiv handelnder Protagonist eines Monumentalgemäldes auftrat.14 Während es in diesen historischen Beispielen vor allem ein Problem war, die Gesellschaft überhaupt erst einmal als Einheit zu konstituieren, scheint es heutzutage ganz entgegengesetzt vor allem problematisch zu sein, die mittlerweile hegemoniale Vorstellung einer pluralen Gesellschaft visuell auf den Punkt zu bringen. Denn wie sind die für Pluralität konstitutiven Differenzen darzustellen, ohne die Darstellung von Einheit zu unterlaufen? Visuell stellt sich die Aufgabe, Heterogenität anschaulich zu machen, und dennoch Zusammengehörigkeit zu suggerieren. Dies ist allein schon ein Problem der Logik visueller Darstellung. Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass insbesondere die Pars-pro-Toto-Strategie der Darstellung von Menschengruppen – und diese ist wohl heute die maßgebliche Darstellungsform von Gesellschaft – einen Einheitlichkeitsbias beinhaltet: Gerade dass (auch unterschiedliche) Menschen auf einem Foto gemeinsam abgebildet werden, konstituiert sie schon als miteinander verbunden. Dagegen muss sich Differenz explizit äußern, etwa durch symbolische Markierung von Gegensätzen innerhalb der Gruppe oder durch eine Aufteilung des dargestellten Raumes. So ist davon auszugehen, dass bildliche Darstellungen immer schon auf die Konstruktion eines Kollektivs hinweisen, egal, ob dabei einheitliche oder in irgendeiner Weise phänotypisch verschiedene Menschen dargestellt sind. Zudem haben Fotografien und Filmaufnahmen Gemälde und Architektur mittlerweile als Leitmedien politischer (und auch sonstiger) visueller Kommunikation abgelöst. Damit einher ging eine quantitative wie qualitative Ausweitung von Bildlichkeit in der Gesellschaft.15 Die enorme soziale Bedeutung von Fotografien und Bildern hat zuletzt Gerhard Paul betont, der von der Zeit seit dem 20. Jahrhundert als »visuellem Zeitalter« spricht.16 Grundsätzlich existiert die künstlerische, politische Darstellung zwar noch, sie ist allerdings selbstreflexiv und selbst-dekonstruierend geworden, so wie etwa Horst Bredekamp den deutschen Kanzler-Portraits vor allem Selbstironie und die Vermeidung der Inszenierung politischer Herrschaft attestiert.17 Im Alltag bedeutsamer ist aber die mediale, fotografische Darstellung von Macht, Politik und Gesellschaft. Ähnlich wie in Textform ganz alltäglich und »banal« Nation performiert wird,18 wird auch visuell gesellschaftliche Einheit und Vielheit fortwährend latent konstruiert. ›Latent‹ vor allem deshalb, weil die Fotografie nach wie vor den Anspruch erhebt, ein eher dokumentarisches als künstlerisches Medium zu sein und so »die Realität« abbilden zu können. In der gegenwärtigen politischen Fotografie, wie Elke Grittmann in einer 14 Die Darstellung besticht insbesondere dadurch, dass sie zwar durchaus Differenzen zwischen den drei Ständen abbildet, diese aber in der gemeinsamen Aktion und der perspektivischen Fokussierung des Schwurs aufhebt. 15 Vgl. Paul 2016, S. 10ff. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Bredekamp 2009. 18 Vgl. Billig 1995.

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Studie über deutsche Pressefotografie zeigt, erscheint die Gesellschaft vorrangig im Sujet der »Interessenartikulation« – prototypisch in Abbildung von Demonstrationen – und damit immer noch als auf die Politik als Sphäre der Handlung bezogen.19 Gleichzeitig sind die politische Fotografie und ihre Abbildungen politischer Herrschaft, ihres Geltungsbereiches und demokratischer Prozesse nur eine Instanz vielfältiger gesellschaftlich wirksamer visueller Diskurse.20 Die politische Fotografie im engeren Sinne – also die gezielte Visualisierung von Politik – geht damit in einem großen Strom medialer und insbesondere auch visueller Kommunikation auf. Die Muster der Darstellung von Gesellschaft stellen einen Teilbereich der politischen Visualisierung dar, weisen aber gleichzeitig über diese hinaus. Dementsprechend gibt es mittlerweile einige Ansätze, sich mit dem gesellschaftlichen kollektiven Bildgedächtnis auseinanderzusetzen und dabei die Konstituenten der »visuelle Kultur« genauer zu umreißen. Wenn ich im Folgenden die basalen Elemente der gegenwärtigen Darstellung von Gesellschaft als »visuelle Grundmuster« analysiere, greife ich einen Begriff von Wolfgang Schug auf, der die künstlerische und fotografische Darstellung des Schmerzes untersucht und deren grundlegende Modi herausgearbeitet hat.21 Unter »visuellen Grundmustern« versteht Schug »einerseits anthropologische Konstanten der menschlichen Existenz« – und dabei insbesondere »ikonografische Muster« – und andererseits bestimmte Motive, »die eine besonders hohe visuelle Dichte aufweisen«, also häufig dargestellt werden.22 Dabei gehe ich aber insofern über Schugs Zugang hinaus, als dass ich nicht primär Motive und deren Ikonografie, sondern vor allem formelle Aspekte des Bildes bzw. der Fotografie und deren Eigenlogik unter die grundlegenden visuellen Muster fasse. Ich gehe davon aus, dass solche Grundmuster die Elemente sind, derer sich visuelle Diskurse bedienen, um Gesellschaft als eher einheitlich oder divers darzustellen oder auch diese Einheit oder Diversität auf verschiedene Weise zu veranschaulichen und zu legitimieren. Einige solche Grundmuster sollen im Folgenden auf Fotografien von Einbürgerungsfeiern identifiziert werden, wobei mich insbesondere interessiert, welche Grundmuster es ermöglichen, Einheit und Vielfalt bildlich zusammenzuführen.23 Da Gesellschaft an sich allerdings keine hohe visuelle Dichte hat, ist davon auszugehen, dass die Darstellung von Gesellschaft auch aus anderen visuellen Mustern der Darstellung von Vergemeinschaftungen schöpft. Schließlich ist auch zu untersuchen, wie die visuellen Formen an über-

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Vgl. Grittmann 2007, S. 375ff. Vgl. Foucault 2001; Renggli 2007. Vgl. Schug 2012. Ebd., S. 9f. Ob diese Muster aber, wie Schug für den Schmerz vermutet, immer »anthropologische Konstanten« darstellen, ist zu bezweifeln. Vielmehr wäre insbesondere für Phänomene, die sozial relativer sind als körperlicher Schmerz, von historischer und gesellschaftlicher Variabilität dieser Muster auszugehen.

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greifende, sprachlich-argumentativ gefasste Diskurse über Gesellschaft, Einheit und Differenz angeschlossen sind.24 3. Gruppenbilder von Einbürgerungsfeiern: visuelle Annäherung und Analysemethodik Während es in den USA schon eine hundertjährige Tradition hat, die Einbürgerung von Zuwanderern zu feiern, sind die deutschen Feiern eine recht junge Erfindung, die sich erst um 2010 herum wirklich ausgebreitet hat. Deutliche Unterschiede lassen sich auch in der bildlichen Dokumentation der amerikanischen und deutschen Feiern zeigen, wie eine erste Annäherung an meinen Untersuchungsgegenstand mit der Google-Bildersuche ergibt.25 Gibt man in das Suchfeld »naturalization ceremonies« ein, erscheint eine Fülle von Bildern, die US-amerikanische Einbürgerungsfeiern zeigen. Darauf sind auffällig viele Flaggen zu sehen und Menschen, die im Begriff sind, den staatsbürgerlichen Eid zu sprechen, erkennbar an geöffneten Mündern und zum Schwur erhobenen bzw. ans Herz gelegten rechten Händen. Die Bilder sind emotional strukturierte Nahaufnahmen und zeigen oft nur Ausschnitte aus einer Menschenmasse, die über die Bildränder hinauszureichen scheint (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Google-Bildersuche »Naturalization Ceremony« (Screenshot vom 18. Mai 2016). 24 Zum diskursiven Verhältnis von Bild und Text siehe grundlegend Maasen, Mayerhauser und Renggli 2006 sowie Keller 2016. 25 Die Google-Bildersuche wird hier als ein allgemein zugängliches, und damit gegenwärtig maßgebliches visuelles Archiv herangezogen.

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Ganz andere Eindrücke ergeben sich dagegen bei der Suche nach Bildern von deutschen Einbürgerungsfeiern mit ebendiesem Suchwort: Hier zeigen sich im Vergleich deutlich weniger Flaggen. Statt der Dokumentation des Eids als dem Moment der Einbürgerung wie in den USA wird die formelle Einbürgerung eher als schon vollzogen dokumentiert: Man sieht Menschen mit Blumensträußen, Menschen, die Urkunden präsentieren, Momente der Gratulation, in denen sich Menschen die Hand reichen. Anstelle der amerikanischen Emotionalität spricht eher eine gewisse Nüchternheit und Steifheit aus den Bildern. Gleichermaßen sind keine Ausschnitte aus Menschenmassen zu sehen, sondern klar abgegrenzte, für das Foto posierende Kleingruppen (vgl. Abb. 2).26

Abb. 2: Google-Bildersuche »Einbürgerungsfeier« (Screenshot vom 18. Mai 2016). Insgesamt scheinen die amerikanischen Bilder eher zeremonielle, handelnde Mengen darzustellen – wie es der Geschichte der Darstellung republikanischer Gründungsakte entspricht –, die deutschen dagegen eher einzelne Menschen oder Gruppen zu portraitieren. Diese erste Annäherung an die fotografische Darstellung von ›Gesellschaft‹ auf Einbürgerungsfeiern zeigt (mindestens) zweierlei: Erstens deutet sich jeweils eine Spezifik der Darstellung an – zumindest finden sich 26 Natürlich sind die Ergebnisse einer Google-Suche kein repräsentatives – oder überhaupt replizierbares – Vorgehen einer wissenschaftlichen Korpusbildung. Sie dienen mir hier lediglich dazu, in einige offensichtliche Differenzen der Gruppendarstellungen zwischen US-amerikanischen und deutschen Einbürgerungsfeiern einzuführen.

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zwischen den USA und Deutschland deutliche Unterschiede sowohl bezüglich der Motive der Bilder als auch bei den Formen der visuellen Darstellung. Zweitens sind es mehrere Dimensionen, in denen Einheit und Vielheit von Gesellschaft visuell produziert werden. Solche Dimensionen sind neben dem Motiv, was also dargestellt ist, auch die Darstellungsweise, das Wie der visuellen Komposition des Bildes. Beide Dimensionen sind in einer Analyse visueller Grundmuster zu berücksichtigen. Die Interpretation der Bilder kann sich also nicht auf die ikonografische, einordnende Analyse des Abgebildeten und der Motivik beschränken, sondern hat genauso die Modi der Darstellung mit einzubeziehen. Diese Mehrdimensionalität wird als Eigenlogik bildlicher Darstellungen in der Methodik der dokumentarischen Bildinterpretation berücksichtigt, die ich in der Folge erläutere und anschließend exemplarisch auf zwei Fotografien von Einbürgerungsfeiern anwende. Während Texte sequentiell organisiert sind und ihre Interpreten anhand einer strukturierenden Analyse der Sequenzen deren Selektivität erschließen können, fehlt Bildern und Fotografien eine solche sequentielle Organisation. Sie sind vielmehr durch ihre Simultaneität gekennzeichnet. Dabei ist diese Simultaneität ebenso als Selektionsleistung aufzufassen, und dies sogar in einem doppelten Sinn: Sowohl die Abgebildeten als auch die Abbildenden sind Bildproduzenten, die eine spezifische Selektionsleistung erbringen: Die Abgebildeten könnten sich auch anders präsentieren, und die Abbildenden könnten sie auch anders darstellen.27 Konkret funktioniert die dokumentarische Bildinterpretation damit in einem Zweischritt: der zunächst (vor)-ikonografischen formulierenden und der darauf folgenden ikonischen, also darstellungslogischen Analyse.28 Diese Zweiteilung geht auf methodologische Überlegungen zum »wiedererkennenden Sehen« und zum »sehenden Sehen« von Max Imdahl zurück, der damit die ikonografische Vorgehensweise Erwin Panofskys um die Analyse der »eigentliche(n) ikonische(n) Qualität«,29 also der dem Bild als Bild eigenen flächigen Logik, ergänzte. Die bei der dokumentarischen Bildinterpretation zunächst vorgenommene, (vor-)ikonografische bzw. »formulierende« Interpretation fokussiert im Modus des »wiedererkennenden Sehens« darauf, was abgebildet ist, sie identifiziert die verschiedenen Bildelemente und beschreibt sie in ihrer Spezifik und ihrer groben Anordnung. Die ikonische oder »reflektierende« Interpretation erörtert darauf im Modus des »sehenden Sehens« das Wie der Abbildung, das sich auf das Bild als Ganzes und dessen flächiger Komposition bezieht. Als einzelne Aspekte der formalen Bildkomposition sind dabei die perspektivische Projektion, die szenische Choreografie sowie die planimetrische Ganzheitsstruktur mit einzubeziehen.30 Letztere lässt sich mit Hilfe von ins Bild eingezeichneten Feldlinien 27 Vgl. Bohnsack 2011: 47ff. 28 Vgl. ebd.; Przyborski und Slunecko 2012; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 215ff. 29 Imdahl 1988, S. 92. 30 Przyborski und Slunecko 2012 haben zu diesen drei Aspekten noch die Frage nach dem Verhältnis von Schärfe und Unschärfe im Bild hinzugefügt, was bei den im Folgenden analysierten Bildern jedoch kein konstitutives Element darstellt.

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sichtbar machen, die entlang von tatsächlichen oder für den Betrachter logischen Verbindungslinien im Bild dessen Flächigkeit und, als »Feldliniensystem« die »relationsbildenden Kräfte« herausstellen, »welche die figürlichen und dinglichen Bildelemente einander zuordnen«31 und damit einen visuellen Zugang zur Explikation des »sehenden Sehens« ermöglichen. Für die Frage nach Einheit und Vielfalt besonders interessant ist dabei der dargestellte Beziehungsaspekt, der sich vor allem in der szenischen Choreografie der auf dem Bild dargestellten Elemente bzw. Personen manifestiert.32 Insgesamt greife ich für die Untersuchung auf einen Fundus von rund 400 Pressefotografien von Einbürgerungsfeiern zwischen 2011 und 2015 zurück, der im Rahmen einer ethnografischen Studie zu deutschen Einbürgerungsfeiern aufgebaut wurde.33 Die nun folgende Feinanalyse von zwei einzelnen Fotografien hat dabei nicht den Anspruch, alle Aspekte der Bildproduktion auf Einbürgerungsfeiern umfassend darzustellen. Vielmehr ist es das schon angedeutete Ziel, anhand von typischen Beispielen elementare Formen und damit eine visuelle Grammatik der Darstellung gesellschaftlicher Einheit und Differenz herauszupräparieren. 4. Uneinheitliche Einheit und lebensweltliche Differenzierungen als Grundmuster der Abbildung von Gesellschaft Als Ausgangspunkt der Interpretation soll ein Bild genommen werden, das in seiner Statik und mit einer Kleingruppe als Motiv ein typisches, konventionelles Beispiel der medialen Bebilderung von Einbürgerungsfeiern ist.34 Es fungiert als Titelbild der Online-Berichterstattung der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) zu einer Feier im Kreis Soest Anfang 2014 (Abb. 3).35 Genau genommen ist die Aussage, auf dem Bild sei eine »Kleingruppe« zu sehen, schon eine Interpretationsleistung, die auf einer Reihe von Wahrnehmungen beruht: Die sechs Personen, die im Vordergrund abgebildet sind, stehen in einer Reihe, alle dem Fotoapparat zugewandt, in ähnlicher Haltung. Sie stehen so dicht beieinander, dass sich alle leicht seitlich berühren, sie sind – im Verhältnis zu den 31 Imdahl 1996, S. 447. 32 Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 344. 33 Die Fotografien stammen überwiegend aus den Onlineausgaben überregionaler und lokaler Tageszeitungen. Das Sample wurden mittels einer systematischen und regelmäßigen Suche nach den Stichworten »Einbürgerungsfeier« sowie »Einbürgerungsfest« aufgebaut, auch unterstützt durch einen Google News-Alert zu diesen Begriffen. 34 Darüber hinaus gaben pragmatische Motive (Bildgröße, nach-wie-vor-online-Verfügbarkeit) den Ausschlag zur Auswahl genau dieses Bildes. Insbesondere für Kunsthistoriker mag die folgende, sehr genaue Analyse eines ganz konventionellen Fotos seltsam erscheinen – es geht aber gerade darum, auch Konventionalität als etwas erklärungsbedürftiges ernst zu nehmen, da besonders das »Konventionelle« Aufschluss über Grundstrukturen sozialer Normalität gibt. 35 Quelle: http://www.derwesten.de/staedte/warstein/14-buerger-aus-dem-kreis-soest-eing ebuergert-id9115035.html, Zugriff vom 30. August 2016.

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im Hintergrund teilweise sichtbaren weiteren Personen – groß und deutlich abgesetzt abgebildet. Die Gruppe besteht aus vier Frauen und zwei, körperlich etwas größeren Männern, die alle förmlich-seriös, aber nicht übermäßig formell-festlich gekleidet sind. Ihre Gesichtsausdrücke bewegen sich zwischen ernst und breit lächelnd. Sie sind annähernd frontal dargestellt, nur ihre Oberkörper sind sichtbar. Jeder für sich blickt fest in die Kamera, untereinander ist keine Interaktion erkennbar. Damit ist jeder der Abgebildeten für sich portraitiert, das Gesamtbild könnte auch aus sechs einzelnen Portraitfotos zusammengesetzt sein. Verbunden werden die Personen auf dem Foto als Einheit allerdings auch dadurch, dass ihre Hexis, also ihre körperliche Anmutung, ihre Haltung, Gestik und Mimik, sehr einheitlich erscheinen. Dies lässt auf einen recht homogenen Gruppenhabitus schließen.36 Die Frau und der Mann in der Mitte der Gruppe halten identisch bedruckte Papiere in der Hand. Aus dem Kontext heraus ist anzunehmen, dass es sich um die Einbürgerungsurkunden handelt. Aus dem Bild geht dies jedoch nicht zweifelsfrei hervor, es könnte sich auch um eine andere Urkunde, einen Spendennachweis, oder auch – allerdings aufgrund der präsentierten Haltung etwas unwahrscheinlicher – einen Programmzettel handeln.

Abb. 3: Bebilderung einer Einbürgerungsfeier in Soest. Im Hintergrund des Bildes sind fünfeinhalb Fenster sichtbar, auf drei von ihnen sind Symbole erkennbar, die als Wappen identifizierbar sind. In der rechten Hälfte des Bildes sind hinter der Gruppe und vor den Fenstern weitere Personen auszumachen. Sie sind jedoch viel kleiner, und es sind lediglich Gesichtsteile von ihnen erkennbar. Sie scheinen im Hintergrund zu sitzen, blicken jedoch in Richtung der stehenden Gruppe und des aufnehmenden Fotoapparats. Durch diesen Kontext und vor allem die Wappen auf den Fenstern ist das Bild leicht in einem öffentlichstaatlichen Setting zu verorten. Es scheinen zahlreiche Personen anwesend zu sein und die Differenzierung zwischen Gruppe im Vordergrund und ›Publikum‹ deutet visuell auf eine Art Preisverleihung oder Ehrung hin. 36 Zur Hexis und deren Verweis auf den Habitus vgl. Bourdieu 1987, S. 129; Fröhlich 1999.

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Relevant für die Frage nach der visuellen Konstruktion von Einheit und Vielfalt ist schließlich die interne Differenzierung der Gruppe im Vordergrund. Die zwei Personen im Zentrum der Gruppe, die Frau und der Mann, weisen sich durch ihre in den Händen gehaltenen Papiere wohl als frisch Eingebürgerte aus. Bei den vier weiteren Personen ist unklar, ob sie auch Eingebürgerte sind. Visuell finden sich keine Hinweise dafür, lediglich aus der Bildunterschrift geht hervor, dass es sich bei den zwei Frauen am linken und rechen Rand um die Landrätin und die stellvertretende Bürgermeisterin handelt, bei den vier von ihnen gerahmten Personen um Eingebürgerte. Bei der Analyse der Planimetrie und der szenischen Choreografie des Bildes fällt auf, dass es viele verschiedene, sich aber auch widersprechende Ansätze von Symmetrie auf dem Bild gibt. Einerseits kann man die Gruppe auf einer Achse, die auf dem mittleren Wappen liegt, in zwei Hälften teilen. Die Darstellung der jeweils drei Gesichter verhält sich dann nahezu punktsymmetrisch zueinander (vgl. Abb. 4). Andererseits enthält das Bild auch eine deutliche Achsensymmetrie, die ersichtlich wird, wenn man die rechts zu sehende Bürgermeisterin aus dem Bild herausnimmt: Dann ist die restliche Gruppe nahezu achsensymmetrisch dargestellt, wobei die Achse genau auf der Frau mit der Urkunde liegt (vgl. Abb. 5).

Abb. 4: Punktsymmetrie (eigene Einzeichnung).

Abb. 5: Achsensymmetrie (eigene Einzeichnung).

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Polyvalent ist damit auch die szenische Choreografie der im Vordergrund dargestellten Personen, die sich in verschiedene Dreier- oder Zweier-Untergruppen aufteilen lassen. Eine Möglichkeit ist die Aufteilung entlang der Mittelachse in zwei Dreiergruppen, die jeweils zwei Frauen und einen Mann umfassen. Die linke Gruppe ist dabei eher dunkel, die rechte eher hell gekleidet. Genauso ist eine Aufteilung in drei Zweiergruppen angelegt, die jeweils nach dem Schema kleine Person/größere Person angelegt wäre. Zusätzlich wird diese Aufteilung dadurch unterlegt, dass dann die zwei Personen mit den Urkunden in der Hand eine mittlere Gruppe bilden. Ebenso ist visuell, und wenn man das Hintergrundwissen über die Rolle der beiden äußeren Frauen mit einbezieht, eine konzentrische Organisation angelegt: Die zwei Neubürger mit Urkunden werden von zwei Neubürgern ohne Urkunden, diese wiederum von den zwei lokalen Repräsentantinnen gerahmt. Entsprechend dieser vieldeutigen Planimetrie und Choreografie ist auch kein eindeutiges Zentrum des Bildes auszumachen. Die Kombination der Bildsymmetrien legt jedoch nahe, sowohl das Wappen in der oberen Bildmitte als auch die Frau mit der Urkunde als visuelles Zentrum zu bestimmen. In einer etwas weiteren Fassung kann auch der Mann mit der Urkunde zum Zentrum gerechnet werden, er fällt jedoch aufgrund der achsensymmetrischen Fokussierung der Frau tendenziell aus dem Zentrum heraus. Zur Perspektivik: Die durch die am linken Rand sichtbare Fensterkante angedeuteten Fluchtlinien führen auf einen Fluchtpunkt weit links außerhalb des Bildes hin. Dies entspricht dem auffälligen Breitformat der Fotografie. Beide Elemente, die Fluchtperspektive und das Format, verleihen dem Bild also eine deutlich horizontale Flächigkeit. Diese wird allerdings konterkariert durch die auffallenden Hell-Dunkel-Kontraste, die dem Bild eine visuelle Tiefe verleihen. Obwohl auch von vorne ausgeleuchtet, erscheint die Gruppe im Vordergrund als dunkleres Element, das von hinten durch die deutlich helleren Fenster angestrahlt wird. Das Element der Lichtkontraste reproduziert sich in der Kleidung der Personen im Vordergrund, wobei dabei jeweils zwei Personen als eindeutig ›dunkel‹ bzw. ›hell‹ dargestellt sind, die Bürgermeisterin und die Frau in der Mitte des Bildes jedoch vereinen in ihrer Kleidung sowohl helle als auch dunkle Musteranteile. Insgesamt fallen verschiedene Oszillationen bei der Bildbetrachtung auf. Die szenische Komposition der Gruppe schwankt zwischen diversen ordnenden Momenten – Geometrien und Aufteilungsmöglichkeiten – und lassen damit die Hierarchie der Dargestellten sehr uneindeutig werden. Insbesondere fällt die fehlende visuelle Differenzierung zwischen den (Neu-)Bürgern und den Politikerinnen auf sowie die unklare Identifizierung des Anlasses auf dem Bild. Wer nicht erkennen kann oder nicht weiß, was das für ein Dokument ist, das doppelt auf dem Bild zu finden ist, könnte die Gruppe auch etwa für Preisträger halten. Identifiziert man allerdings die zwei rahmenden Figuren als Bürgermeisterin und Landrätin und die vier gerahmten Figuren als Neubürger, sind diese als zwei Paare geordnet dargestellt. In Bezug auf die Darstellung von gesellschaftlicher Einheit und Differenz lassen sich damit folgende Strategien feststellen: Durch ihre vielfache Aufteilbarkeit bildet die Gruppe im Vordergrund eine uneinheitliche Einheit. Es sind multiple Dif-

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ferenzen erkennbar, dabei ist aber keine visuell so dominant, dass die dargestellte Gruppe als deutlich differenziert oder geteilt wahrzunehmen wäre. Bezüglich der visuellen Grammatik der Darstellung wird diese uneinheitliche Einheit vor allem durch die Planimetrie und die szenische Choreografie des Bildvordergrunds hervorgerufen. Darüber hinaus sind Differenzen bezüglich des Geschlechts und der abgebildeten Attribute (Urkunde) erkennbar. Auf die Darstellung ethnischer oder religiöser Differenzen, etwa durch die Darstellung verschiedener Hautfarben oder religiöser Kleidung, wird bei diesem Bild verzichtet. Dadurch wird eine gewisse Arbitrarität von visueller Differenzierung erreicht, die auf die Kontingenz und Vielfalt von Differenzierungsmarkern aufmerksam macht. Während die Gruppe im Vordergrund horizontal flächig dargestellt ist, aber dennoch zu den Seiten hin deutlich begrenzt ist, weisen die weiteren dargestellten Ebenen aus dem Bild heraus. Die Fenster deuten gewissermaßen in das Bildhintere zur implizierten Lichtquelle, das Publikum scheint über den rechten Bildrand hinauszuragen. Damit sind im Bild sowohl Abgeschlossenheit als auch Offenheit und Serialität dargestellt. Über die Darstellung der einheitlichen Differenzen der Gruppe im Vordergrund hinaus finden sich damit zwei weitere Differenzen auf dem Foto: die Differenz zwischen der fokussierten Gruppe und dem ›Publikum‹ im Hintergrund und die Differenz zwischen menschlichen Einheiten und symbolisierten Einheiten. Letztere sind in Form der Wappen, die auf geografisch-soziale Einheiten verweisen, und in Form der die Verbindung von Bürger und Staat symbolisierenden Einbürgerungsurkunden sichtbar. Das zentral abgebildete Wappen gehört zu einer der Partnerstädte des Kreises und bezieht somit mit Hintergrundwissen eine weitere international verbindende Komponente in das Bild mit ein. Die dargestellten Differenzen und der visuelle Gesamteindruck des Fotos verweisen damit nicht auf eine grundlegende Differenz von innen/außen (bzw. deutsch/nicht-deutsch), sondern stellen multiple interne Differenzierungsweisen dar, die sich vorrangig als Rollendifferenzen und Funktionsdifferenzen kennzeichnen lassen. Die Gruppe als Pars pro Toto der modernen Gesellschaft stellt sich damit als politisch und habituell geeint, aber sozial differenziert dar, ohne dass diese Differenzen so stark wären, dass sie disruptiv werden könnten: Sie bergen vielmehr das Potenzial, produktiv gewendet werden zu können. Eine zweite Fotografieanalyse soll nun die bisherigen Befunde ergänzen und mit der Darstellung einer größeren Gruppe variieren. Das Foto stammt aus einer Online-Medieninformation des Thüringer Innenministeriums mit dem Titel »Aus Nebeneinander wird Miteinander« (Abb. 6).37

37 Quelle: http://www.thueringen.de/th3/tmik/aktuell/presse/68439/ (Zugriff vom 12. Juni 2016).

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Abb. 6: Bebilderung einer Einbürgerungsfeier des Landes Thüringen. Auf dem Foto sind insgesamt 37 Personen zu sehen, darunter vier Kinder. Die Gruppe ist dem Anschein nach internationaler als die auf dem Soester Bild, es sind dunkelhäutige Männer und eine Frau mit asiatischen Gesichtszügen zu sehen. Eine Frau im Zentrum des Bildes hält einen Blumenstrauß. Die Personen blicken entweder schräg nach oben in die Kamera oder geradeaus unter die Kamera, viele lächeln, alle sind eher förmlich gekleidet, die Männer in Anzügen, die Frauen in Kleider, Jacketts oder Blusen. Die Gruppe ist in zwei Reihen, seitlich leicht schrägt nach vorn aufgestellt. Im Vordergrund hocken zwei Frauen auf dem Boden, von denen eine ein Baby im Arm hält und die andere drei Kleinkinder bei sich hat. Rechts im Bild sind hinter der Gruppe drei Flaggen der EU, Deutschlands und Thüringens aufgestellt. Die Szene spielt in einem festlichen Saal, in dem die Gruppe vor einer Wand mit einem zentralen großen Fenster aufgestellt ist. Im Gegensatz zur klaren horizontalen Flächigkeit des Soester Bildes ist diese Fotografie von einer Obersicht-Perspektive bestimmt, bei der die Fluchtlinien vertikal trichterförmig weit nach unten aus dem Bild herausragen. Die gesamte Gruppe, obwohl deutlich größer, ist so kompakt sichtbar und nimmt dabei nicht einmal die Hälfte der Bildfläche ein. Gleichzeitig wirkt sie durch ihre Menge und ihre weniger klare interne Unterteilung einheitlicher als die Soester Gruppe. Diese Einheitlichkeit wird durch die achsensymmetrische Bildkomposition unterstützt: Die Mittelachse des Fensters im Hintergrund, zu der die weiteren Wandelemente symmetrisch angeordnet sind, fällt in etwa mit dem Scheitelpunkt der Gruppenkurve zusammen (vgl. Abb. 7). Uneinheitlich wirkt die Gruppe lediglich durch die verschiedenen Blickrichtungen.

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Abb. 7: Achsensymmetrie und Gruppenscheitel (eigene Einzeichnung). Die szenische Choreografie der Gruppe, der flache Halbkreis ihrer Aufstellung, deutet links und rechts zu den unteren Ecken des Bildes hin. Die Gruppe ist somit in einem Halbkreis aufgestellt, in dessen imaginären Zentrum sich der Betrachter befindet, der somit in die Gruppe miteinbezogen wird und auf den gleichzeitig jeder einzelne der Gruppe ausgerichtet ist. Visuelle Akzente setzen die Bildelemente, die von der Symmetrie abweichen: die zwei Frau-Kinder-Gruppen vor der Gruppenmehrheit und das Flaggenensemble im rechten Hintergrund. Darüber hinaus sticht als einzelnes Bildelement der Blumenstrauß der Frau in der Mitte der Gruppe heraus. Diese abweichenden Elemente sind jedoch wiederum durch ihre Farbigkeit an die Gruppe (die Frau rechts, die schwarz und grün gekleidet in der Gruppe aufgeht) beziehungsweise an den Hintergrund (der Blumenstrauß und die zentral hockende Frau, die das Rot und Grün der Paneele und Vorhänge aufgreifen) angebunden. So sind sie einerseits in der Harmonik des Bildes aufgehoben, andererseits doch als individuelle Elemente betrachtbar. Thematisch wird damit zum einen mit dem Blumenstrauß das Motiv einer individuellen Leistung aufgegriffen, die belohnt und herausgehoben wird, die Frau aber nicht aus der Gruppe löst. Zum anderen werden Kleinkinder und zwei mit ihnen assoziierte, sich augenscheinlich um sie kümmernde Frauen als besondere Elemente der Gruppe hervorgehoben. Ähnlich wie beim Bild aus Soest werden Rollendifferenzierungen darüber hinaus visuell nicht aufgegriffen: Nur mit Kontextwissen ist der zentral stehende Mann als Thüringer Innenminister identifizierbar. Ob alle weiteren abgebildeten Personen Neubürger sind, oder ob sich unter ihnen weitere Behördenvertreter finden, ist nicht ersichtlich. Auffällig bei diesem Bild ist schließlich die Größe der Fläche, die vom Hintergrund eingenommen wird. Wie auf dem ersten analysierten Bild wäre es auch hier

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möglich gewesen, das Bild knapp über den Köpfen der Gruppe abzuschneiden und diese damit noch mehr zu fokussieren. Dass dies nicht der Fall ist, deutet auf das Gewicht der repräsentativen, symmetrischen Wandgestaltung hin sowie auf die Präsenz der Fahnen. Deren Einbezug in das Gesamtbild, unter Abweichung von der übrigen Symmetrie von Gruppe und Hintergrund, deutet auf eine gewisse, aber bei weitem nicht determinierende Bedeutung der in den Flaggen symbolisierten politischen Entitäten für die Konstitution der dargestellten Gruppe hin. Wieder auf die Darstellung von Einheit und Differenz bezogen, zeigt dieses Bild deutlich die Bedeutung von Symmetrie für die Konstitution der Gruppe. Unterstützend kommen hier die Obersicht und die Kurven-Choreografie hinzu, die die Gruppe zu einer kompakten Einheit werden lassen. Alle diese visuellen Elemente zusammengenommen, erhält die Gruppe eine gewisse Autonomie gegenüber dem Hintergrund. Diese Autonomie ermöglicht es, innerhalb der Gruppe Abweichungen darzustellen, ohne dass diese zu harten visuellen Differenzen führen würden: Anders als bei dem Soester Bild ist der Betrachter hier nicht versucht, vielfältige und oszillierende Differenzierungen auszumachen. Die vorhandenen Differenzen sind visuell klar und affirmativ markiert. Eine Frau ist durch den Blumenstrauß individualisiert und lächelt besonders strahlend. Darüber hinaus ist die Bedeutung von Kindern und deren Betreuung hervorgehoben, indem diesen eine besondere Position zugedacht ist: Sie sind an die Gruppe angebunden, sie und die betreuenden Frauen haben aber eine andere Körperhaltung und sind eher vor der Kurve als in ihr positioniert. Die Analyse der zwei Fotografien zusammenfassend kann somit auf zwei wesentliche Grundmuster der visuellen Reproduktion von Einheit und Differenz hingewiesen werden, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, den formell-darstellerischen und den motivischen Aspekten der Bilder. Diese sind erstens die spezifische Perspektivik, szenische Choreografie und Symmetrie der Abbildungen, die wesentlich zur Wahrnehmung von Gruppen als Einheiten beitragen, dabei aber auch auf (interne) Differenzen hinweisen. Zweitens werden motivisch einige lebensweltliche Themen der Vereinheitlichung und funktionalen Differenzierung von Gruppen aufgegriffen. Darunter fallen habituelle Übereinstimmungen, wie sie sich insbesondere in Kleidung, Haltung und Mimik zeigen. Rollendifferenzierungen, wie etwa die zwischen Neubürgern und Behördenmitarbeitern, werden dahinter unsichtbar. Gleichzeitig aber werden mit symbolischen Markern wie Blumen und Urkunden visuell Themen wie Ehrung und Leistung aufgegriffen, wodurch innerhalb der Gruppe graduelle Differenzen zwischen den Personen sichtbar gemacht werden. Eine Variante dieser Binnendifferenzierung ist schließlich die Darstellung von Paarbeziehungen (wie sie im Soester Bild visuell anklingen) und Familienbeziehungen, die kleinere Einheiten innerhalb der Einheit darstellen und diese damit ebenfalls binnendifferenzieren. Formale und motivisch-referentielle Aspekte der Fotografien wirken somit zusammen und ergeben im Gesamteindruck ein differenziertes Gefüge von Einheiten und Binnendifferenzen.38 38 Dabei finden sich im Gesamtsample der Fotos weitere Varianten dieser visuellen Grundmuster, bei denen auch etwa asymmetrische Konstellationen oder die symbolisch

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5. Diskurse über Gesellschaft und ihr visuelles Korrelat Wofür stehen die herausgearbeiteten visuellen Grundmuster? Sind sie die impliziten Strategien, zu denen ein Maler oder eine Bildredakteurin greifen würden, wenn es darum ginge, ›die Gesellschaft‹ abzubilden? Zur Einordnung der sozialen Bedeutung der analysierten Fotografien und ihrer Darstellungsweisen ist auch der Kontext ihrer Entstehung und Verbreitung relevant. Sie sind einerseits Berichterstattungen von einem Fest, nicht Teil etwa einer explizit angelegten Einbürgerungs-Plakatkampagne. Andererseits sind die Fotografien sichtlich auch keine Schnappschüsse, die die Vorgänge auf den Festen ›objektiv‹ dokumentieren würden, sondern eigens arrangierte, auf die Kommunikation nach außen ausgerichtete Inszenierungen, die in ihrem affirmativen Bezug auf Einheit und Pluralität die Anschauungen ihrer Urheber widerspiegeln und somit als Konstruktion und als Ausdruck aufzufassen sind.39 Dies gilt insbesondere für das Thüringer Foto als Teil der Selbstpräsentation und politischen Kommunikation einer Behörde. Das Soester Bild ist dagegen durch seine redaktionelle Auswahl und als Teil der Presseberichterstattung noch eher als ›objektiv‹ legitimiert. Die Beteiligung der Figur der Bildredakteurin steht dabei auch für die Pluralität der Bildproduzenten hinter heutigen Pressefotografien, bei der ein letztendlich veröffentlichtes Bild eine ganze Reihe von Urhebern hat: Für das hier analysierte Bild sind das zunächst die Dargestellten selbst, dann die darstellende Fotografin, die Pressestelle der Stadt Soest, die dieses Bild in den Umlauf bringt, schließlich die Online-Bildredaktion der Zeitung, die das Foto eventuell aus einem Set weiterer Abbildungen auswählt und vermutlich in das ungewöhnlich breite Format bringt.40 Die hier herausgearbeiteten Strategien der visuellen Reproduktion von Einheit und Differenz sind damit allerdings nicht als intentionale Strategien zu verstehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Akteure bewusst versuchen, Einheit oder Differenz visuell darzustellen. Vielmehr reproduzieren diese Akteure (und damit letztlich auch das Bild) gesellschaftlich vorhandene Differenzierungslinien visuell und performativ. Ich gehe damit auch davon aus, dass die Ikonografie der Gesellschaft, und in einem weiteren Sinn die politische Ikonografie, nicht (mehr) auf einen selbstbezüglichen motivischen und darstellerischen Kanon verweist – wie es idealtypisch bei dem imaginierten historischen Maler der Fall gewesen sein mag, sondern an vielfältige weitere visuelle und übergreifende Diskurse gesellschaftlicher Integration angeschlossen sind, deren Leitunterscheidungen und Logiken teilen. eindeutige Markierung von Bürgermeistern mittels ihrer Amtskette für alternative Vereinheitlichungen oder Binnendifferenzierungen stehen können. 39 Vgl. Grittmann 2007, S. 270ff. 40 Für eine detaillierte Darstellung der Mechanismen der »Pressefotografie als Wirklichkeitskonstruktion« vgl. Grittmann 2007, S. 256ff. Kanter 2016 fasst dieses »ästhetische Agieren« der Medien als deren »ikonische Macht« auf: als Macht darüber, was überhaupt zeigenswert ist.

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Damit sei nicht gesagt, dass die Produktion und Verbreitung solcher Fotografien nicht politisch motiviert sein könnte; ihre visuelle Anschlussfähigkeit speist sich aber, unabhängig vom Zweck ihrer Veröffentlichung, aus übergreifenden visuellen Dispositiven und den dazugehörigen Diskursen.41 Dies gilt für die herausgearbeiteten zwei Ebenen der visuellen Grundmuster, der formellen und der motivischen, allerdings in unterschiedlicher Weise: Letztere beziehen sich mit den für die Binnendifferenzierung auf den Fotos maßgeblichen Motiven der Ehrung/Leistung und familiärer bzw. Paarbeziehungen auf zwei Zugehörigkeitsfiguren, die als Deutungsmuster auch in anderen diskursiven Zusammenhängen weit verbreitet sind. Ihre Legitimationskraft beziehen sie aus ihrer lebensweltlichen Anschlussfähigkeit. ›Familienbeziehung‹ als eine menschliche Grunderfahrung wird als Modus von Vereinheitlichung, die gleichzeitig aber Unterschiede zulässt, weithin auch auf andere Kontexte übertragen, wenn sich etwa ein Unternehmen oder eine Szene als ›große Familie‹ darstellen oder als solche aufgefasst werden.42 ›Leistung‹ gilt als einer der grundlegenden Unterscheidungscodes moderner Vergesellschaftung43 und zeichnet sich als solcher ganz besonders dadurch aus, die Gedanken von Einheit (Einheitlichkeit der Bewertung) und Differenz (bezüglich der individuellen Positionierung) logisch zu verschränken. Aufschlussreich sind dabei weiterhin auch die Unterschiede in der Motivik der Bilder von deutschen und US-amerikanischen Einbürgerungsfeiern, die den Ausgangspunkt meiner Analyse bildeten. Während die deutsche Bebilderung zu den genannten Strategien der lebensweltlichen Verankerung gesellschaftlicher Zugehörigkeit greift, finden sich auf den amerikanischen Fotografien vielmehr Darstellungen republikanisch-voluntaristischer Akte und kollektiver Emotionalität, mithin visuelle Anklänge an religiöse Zeremonien und Praktiken. Ohne dies durch eine genaue Analyse der amerikanischen Fotografien belegen zu können, mag man hier spezifisch unterschiedliche Lösungen für das Problem der Darstellung von Differenz in Einheit vermuten: eine differenzierend-individualisierende im deutschen, eine zivilreligiöse Variante im amerikanischen Fall.44 Dieser individualistischen Interpretation der Fotografien aus dem deutschen Kontext widerspricht der Eindruck, hier würden überwiegend Personen mit ähnlicher Hexis und damit ähnlichem Habitus abgebildet, nicht. Sie verweist lediglich auf eine weitere motivische Dimension der Darstellung von Einheit und Vielfalt. So muss man davon ausgehen, dass auf den Fotografien die Hexis der abgebildeten Personen, also ihre Körperhaltung und Gestik, auch von den abbildenden 41 Als deutlich politisch motivierte visuelle Darstellung des ›Volks‹ können die von Gimenez und Schwarz 2013 herausgearbeiteten traditionalisierenden und historisierenden Bilder des »Volks« in den Internetpräsenzen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gelten. Aber auch sie knüpfen damit an übergreifende visuelle Diskurse an. 42 Familie als Diskursfigur bzw. diskursives Argument ist erstaunlicherweise noch wenig erforscht. Vgl. lediglich Kiefl 2013, der Familie als ein allgemeines, für mediale Darstellung anschlussfähiges »Erfahrungswissen« auffasst. 43 Vgl. Neckel 2001. 44 Vgl. für den amerikanischen Kontext Bellah 1967.

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Bildproduzenten mitbestimmt wird, etwa durch explizite Anweisungen und Zurichtungen der Körper. Damit wird ein Problem bearbeitet, das Paula Diehl als »Interferenzen von sozio-kulturellen Körperdiskursen in der politischen Repräsentation«45 auf den Punkt bringt. Sie stellt dabei dem Ideal eines universellen, ›neutralen‹ Körpers des demokratischen Subjekts die faktische historische Dominanz eines männlichen, weißen, gebildeten Körpers als prototypischem Repräsentanten gegenüber.46 Durch die einheitliche Hexis der bei den Einbürgerungsfeiern abgebildeten Körper wird diese historische Dominanz nicht vollkommen in Richtung einer universalen Neutralität abgewandelt, sie ist vielmehr als visueller Kompromiss verstehbar: Körperliche Differenzen sind zwar sichtbar, werden aber in einem einheitlichen Habitus zusammengehalten. Dass dadurch in der Konsequenz ein gebildeter, in seiner festlichen Gewandung grundsätzlich wohlhabender Körper als ›neutral‹ und ›universal‹ konstituiert wird, ist als Kollateraleffekt dieser Bildstrategie festzuhalten. Deutlich wird dabei die politische Dimension der visuellen Grundmuster von Gesellschaftsabbildung, deren Darstellungsordnung zugleich eine machtförmige Sichtbarkeitsordnung ist.47 Die zweite Ebene der gesellschaftlichen Ikonik, die Ebene der genuin visuellen Grundmuster der (A)Symmetrie, der szenischen Choreografie einer ›uneinheitlichen Einheit‹ und der visuellen Oszillation zwischen vielfältigen Möglichkeiten der Binnenunterteilung, ist demgegenüber nicht so umstandslos auf übergreifende gesellschaftliche Diskurse zu übertragen. Allerdings werden hier auf spezifisch visuelle Weise Grundlogiken ausgedrückt, die auch in den motivischen Figuren von Familie und Leistung enthalten sind: eine gewisse Einheitlichkeit bei gleichzeitig prinzipieller Unabgeschlossenheit, die Kontingenz von Binnendifferenzierung, eine Rollenverteilung, die nicht a priori besteht, sondern immer erst definiert und markiert werden muss. Auf diese Grundlogiken hinzuweisen ist eine Stärke der visuellen Analyse, die herausarbeiten kann, dass es hier eben nicht die Motive der Familienbeziehung und der Leistung an sich sind, die als ›Lösung‹ des Darstellungsproblems der Gesellschaft fungieren, sondern die sich auch in diesen Motiven wiederfindenden sozialen Relationierungen. Damit finden sich hier auf visuelle Weise Perspektiven und Probleme wieder, die für die moderne Gesellschaft insgesamt grundlegend sind und damit auch schon in Fragestellungen der klassischen Soziologie aufgeworfen wurden: der konstitutive Charakter von sowohl Einheit als auch Differenz, den Émile Durkheim als Dualität von mechanischer und organischer Solidarität in der arbeitsteiligen Ge45 Diehl 2015, S. 33. 46 Vgl. ebd., S. 34. 47 Zu den politischen Implikationen der Produktion von Sichtbarkeit in der Gegenwartsgesellschaft siehe Schaffer 2008, insbesondere ihre Analyse einer Plakatkampagne zur Einbürgerung (ebd., S. 92ff.). Reckwitz (2015) hat darüber hinaus eine widersprüchliche Politisierung als eines der Charakteristika der »neuen Sichtbarkeitsordnung« herausgestellt: »Paradoxerweise zielt die Sichtbarmachung nun nicht darauf ab, sich vom Gleichen durch eine Differenz abzuheben, sondern umgekehrt darauf, das in der Mehrheitskultur als different wahrgenommene als gleichartig zu demonstrieren.«.

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sellschaft beschrieben hat,48 sowie die Oszillation zwischen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Semantiken.49 Diese Fragen werden visuell in die Flächigkeit der Fotografien übersetzt – und dort, wie in anderen Medien und Diskursarenen auch – immer wieder neu, aber niemals abschließend beantwortet. Literaturverzeichnis Anderson, Benedict 2006 [1983]. Imagined Communities. London: Verso. Batuman, Bülent 2010. »The shape of the nation: Visual production of nationalism through maps in Turkey«, in Political Geography 29, 4, S. 220-234. Bellah, Robert N. 1967. »Civil Religion in America«, in Daedalus 96, 1, S. 1-21. Billig, Michael 1995. Banal Nationalism. London: Sage. Bohnsack, Ralf 2011. Qualitative Bild- und Videointerpretation: die dokumentarische Methode. Opladen: Budrich. Bourdieu, Pierre 1987. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bredekamp, Horst 2009. »Jörg Immendorffs Staatsportrait Gerhard Schröders«, in Strategien der Visualisierung. Verbildlichung als Mittel politischer Kommunikation, hrsg. v. Münkler, Herfried; Hacke, Jens, S. 193-211. Frankfurt a. M.: Campus. Bredekamp, Horst 2012. Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651-2001. Berlin: Akademie. Diehl, Paula 2011. »Symbolrecycling als politische Strategie. Das Beispiel von Herkules während der Französischen Revolution«, in Ideenpolitik: Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte. Festschrift für Herfried Münkler, hrsg. v. Bluhm, Harald et al., S. 141-161. Berlin: Akademie. Diehl, Paula 2015. Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie. Eine Theorie politischer Repräsentation. Baden-Baden: Nomos. Dörner, Andreas 2009. »Respekt im Regenwald. Über Inszenierung und Aneignung von gesellschaftlichen Ordnungsmustern im Unterhaltungsfernsehen« in Strategien der Visualisierung: Verbildlichung als Mittel politischer Kommunikation, hrsg. v. Münkler, Herfried, S. 231-250. Frankfurt a. M.: Campus. Durkheim, Émile 1992 [1893]. Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Falkenhausen, Susanne von 1996. »Vom ›Ballhausschwur‹ zum ›Duce‹: Visuelle Repräsentation von Volkssouveränität zwischen Demokratie und Autokratie«, in Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, hrsg. v. Graczyk, Anette, S. 3-17. Berlin: Akademie. Foucault, Michel 2001. »Worte und Bilder«, in Schriften in vier Bänden = Dits et Ecrits, Bd. 1, hrsg. v. Defert, Daniel; Ewald, François, S. 794-797. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fröhlich, Gerhard 1999. »Habitus und Hexis. Die Einverleibung der Praxisstrukturen bei Pierre Bourdieu«, in Grenzenlose Gesellschaft? Bd. 2.2, hrsg. v. Schwengel, Hermann, S. 100-102. Opladen: Leske + Budrich. Gimenez, Elsa; Schwarz, Natalie 2016. »The visual construction of ›the people‹ and ›proximity to the people‹ on the online platforms of the National Front and Swiss People’s Party«, in Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41, 2, S. 213-242. Grittmann, Elke 2007. Das politische Bild. Fotojournalismus und Pressefotografie in Theorie und Empirie. Köln: Herbert von Halem. Imdahl, Max 1988. Giotto. Arenafresken: Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. 2. Aufl. München: Wilhelm Fink. Imdahl, Max 1996. »Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur.« in Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften Bd. 3, hrsg. v. Böhm, Gottfried, S. 424-463. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

48 Vgl. Durkheim 1992. 49 Vgl. zu dieser Unterscheidung grundlegend Tönnies 1991.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Google-Bildersuche »Naturalization Ceremony« (Screenshot vom 18. Mai 2016). Abb. 2: Google-Bildersuche »Einbürgerungsfeier« (Screenshot vom 18. Mai 2016). Abb. 3: Pressestelle Kreis Soest/F. Großevollmer. Abb. 4 und 5: ebenso. Abb. 6: Thüringer Innenministerium/M. Scheidel. Abb. 7: ebenso.

II. Medien und Formen

Vincent August

Ikonologie der Transparenz: Demokratie im Zeichen von Rationalität und Reinheit

1. Einleitung Der Ruf nach Transparenz hat sich seit den späten 1970er Jahren wie kaum eine andere Forderung im politischen Diskurs verbreitet. Wo Demokratie defizitär erscheint, ist er geradezu zur paradigmatischen Problemlösung avanciert. Die Verbindung von Demokratie und Transparenz ist auch darum so populär, weil das Versprechen demokratischer Offenheit hier unmittelbar mit einem Bild- und Materialprogramm verschmilzt. Daher hielt schon der SPD-Politiker und Architekturkritiker Adolf Arndt beide für unzertrennliche Partner: »Parlament und Demokratie sind wesensgemäß durch Öffentlichkeit ausgezeichnet. […] Öffentlichkeit erfordert eine Transparenz, eine Durchsichtigkeit des parlamentarischen Geschehens« und diese »korrespondiert notwendig mit den räumlichen Einrichtungen und einer Transparenz der gesamten Baulichkeit.« 1 Die transparente Selbstdarstellung wird dabei entweder als besonders angemessene Inszenierung der Volksherrschaft gesehen oder sie wird – ob affirmativ oder kritisch – als Symbol der Symbolarmut gewertet. 2 Symbolarmut ist in dieser zweiten Lesart ein typisches Merkmal für die Repräsentationspraxis der Demokratie. Sie stehe demnach vor dem Problem, sich selbst nicht repräsentieren zu können, weil sie nicht auf die Monumental- und Gemeinschaftssymbolik ihrer Vorgänger und Konkurrenten – v. a. dem Absolutismus und dem Nationalsozialismus – zurückgreifen könne. Daher verschreibe sie sich einer modernen Architektur, die die bloße Funktionalität ins Zentrum rückt, und verzichte auf Symbole, da diese stets nur einen ideologischen Wertgehalt zum Ausdruck bringen könnten. Ich werde im Folgenden gegen beide Lesarten argumentieren. Der Artikel untersucht das Dreieck von Demokratie, Transparenz und Glasarchitektur, indem er den demokratietheoretischen Gehalt von Transparenz kontextualistisch herausarbeitet und zu den baulichen Repräsentationspraktiken der Demokratie in Verbindung setzt. Dabei vertrete ich die These, dass die scheinbar asymbolische Sachlichkeit der Moderne eine sehr spezifische Logik von Rationalität und Reinheit verfolgt, aus der ein ebenso spezifisches Demokratieverständnis hervorgeht. Diese Logik wird von der visuellen Idee der Transparenz angetrieben. Aus ihr heraus wird ein modernes utilitaristisches Demokratieverständnis in politisch-institutionelle und architektonische Form gebracht.

1 Arndt 1965, S. 253f. 2 Vgl. beispielsweise von Beyme 2004 oder auch Klotz 1984 [1978]; eine Übersicht und Kritik der These demokratischer Symbolarmut bietet Manow 2004.

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Historisch besehen antwortete diese Demokratieform auf die Herausforderung, die Differenzen und Konflikte zu »managen«, die die Revolutionen und Bevölkerungsexplosion am Anbruch der Moderne um 1800 hervorgebracht hatten. Sie sollte das Verhalten der Menschen nach der Vorgabe formaler Rationalität steuern, um zu einem gereinigten politischen Urteil zu gelangen, das dem größten Glück der größten Zahl dient. Die Elemente dieser demokratischen Ordnungsvorstellung werden dabei systematisch aus der Assoziationskraft der Materialeigenschaften transparenten Glases gewonnen. Transparenz ist daher mehr als eine Repräsentationssymbolik, hinter der nur ikonologisch der politische Entwurf dechiffriert werden muss, für den sie nachträglich entwickelt wurde. Ihr Bild- und Materialprogramm generiert erst diese Demokratiekonzeption. Damit ist weder die These einer ikonischen Prekarität der Demokratie noch die These einer demokratischen Selbstverständlichkeit von Transparenz zu halten. Beide Thesen müssen differenziert werden: Transparenz ist zunächst an ein spezifisches Demokratiemodell gebunden; dieses Ordnungsmodell wird aber von der ikonischen Logik der Transparenz selbst strukturiert. Dabei grenzte sich die Transparenz im frühen 19. Jahrhundert gegen ihre konkurrierenden DemokratieKonzeptionen ab. Dies galt sowohl für das britische Parlament mit seinem Sitz im Palace of Westminster – also im vormaligen Sitz der Könige – als auch für das Washingtoner Kapitol, das ausdrücklich für die neue amerikanische Demokratie entworfen wurde und klassizistisch gehalten ist.3 Die Transparenz-Konzeption der Demokratie war explizit gegen deren symbolisch-monarchische Kontinuitätslinien gerichtet, um eine neue, auf Formalität beruhende Demokratie zu entwerfen.4 Im Folgenden werde ich drei zentrale Stationen dieser Verbindung von Demokratie und Transparenz nachzeichnen, nämlich erstens ihre Genese und Formulierung durch den britischen Sozialreformer Jeremy Bentham, zweitens ihre Verbreitung durch die Architektonik des Neuen Bauens und schließlich ihre Aufnahme und Subversion im Bonner Bundeshaus von Günter Behnisch. In dieser Subversion scheint ein alternatives Demokratiekonzept auf, das sich an Ideal und Bildprogramm der Transparenz abarbeitet. Auf diese Weise tritt hervor, dass die Engführung von Demokratie und Transparenz historisch und politisch bedingt ist, sodass man abschließend einen kritischen Blick auf die Gegenwart werfen muss, in der diese Engführung so große Popularität genießt und ihre Spezifizität vergessen wurde.

3 Siehe den Beitrag von Philip Manow in diesem Band. 4 Dieser Gegenentwurf begann Ende des 18. Jahrhunderts als Entwurf auf dem Papier, der sich mit realisierten Ordnungskonzepten im- und explizit auseinandersetzte. Blickt man auf die Materialisierungen dieses Entwurfs, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber seit Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiten, muss man den Fokus aber auch von klassischen Hauptstadtbauten weglenken: Insofern Demokratie als Lebensform begriffen wurde, realisierte sie sich auch andernorts, z.B. in Bürogebäuden und Arbeiterwohnungen.

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2. Genese der utilitaristischen Demokratie: Die ikonische Logik der Transparenz Die heute unabkömmliche politische Norm der Transparenz wurde erstmals als solche durch Jeremy Bentham formuliert. Bei der Ausformulierung dieses Transparenzideals griff er auf die Entwicklung von Mechanik und Optik einerseits und auf den aufklärerischen Publizitätsdiskurs andererseits zurück. Diese verschmolz er zu einer Regierungsanleitung, die auf die neuen Unsicherheiten am Beginn der Moderne antwortete. Die allgemein geteilte Wahrnehmung von Unsicherheit war, knapp zusammengefasst, das Resultat eines dreifachen Ordnungszerfalls im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert.5 Epistemologisch hatten die Religionskriege der vorangehenden Jahrhunderte die Überzeugungskraft des göttlichen Heilsversprechens unterlaufen. Sozialstrukturell setzte durch die beginnende Industrialisierung und die Expansion des Staates eine umfassende Mobilisierung der Sozialstruktur ein. In ihrem Verlauf entstanden neue proletarische und bürgerliche Schichten und das starre, ständische Sicherungsnetz wurde durch die immer flüchtige Sicherheit von Arbeitskraft und Eigentum ersetzt. Die Angst vor der Flüchtigkeit sozialer Sicherheit lagerte sich in den umfänglichen Diskussionen der Zeitgenossen über den Pauperismus deutlich ab. Politisch destabilisierte das den monarchischen Staat, dessen Eliten immer mehr die Kompetenz abgesprochen wurde, die Armen – und generell: die entstehende Gesellschaft – angemessen zu regieren.6 Neben Bentham hat auch Immanuel Kant diesen »gerechten Verdacht wider« »Religion« und »Majestät« zum Ausdruck gebracht, die sich der Prüfung durch die Vernunft entziehen wollen.7 Die politische Ordnungskrise trat schließlich in der Französischen Revolution offen zutage und produzierte seine eigene grafische Ikone: die Hinrichtung des Königs. Diese epistemologische, soziale und politische Unsicherheit verlangte nach einem neuen Ordnungsmodell, und Benthams Theorie einer transparenten Demokratie war dezidiert als eine Antwort auf die Unsicherheit gedacht, die ein Gegenmodell zur Monarchie anbot. Allerdings ging Bentham mit der Symbolik der Französischen Revolutionäre ebenso harsch ins Gericht wie mit der Monarchie. Besonders die Erklärung der Menschenrechte hielt er für »Unsinn auf Stelzen«.8 5 Ausführlicher zu den Rahmenbedingungen der Transparenzidee siehe meine Studie Rzepka 2013, vertiefend zu den Umwälzungen nach wie vor Habermas 1990 [1962], Koselleck 1973 [1959] sowie Stollberg-Rilinger 2011. 6 Bohlender 2010, S. 101-124. 7 Kant 1974 [1781], S. 13. 8 Nonsense Upon Stilts ist in Ausschnitten in Deutsch von Peter Niesen herausgegeben worden (Bentham 2012). Dass Bentham kaum in Deutschland rezipiert wird, während er in anglophonen Ländern als eine Gründungsfigur der Demokratie gelesen wird, liegt unter anderem an der Dominanz Immanuel Kants. Dessen Transzendentalphilosophie steht der konsequentialistischen Moraltheorie Benthams konträr gegenüber. Schon im 19. Jahrhundert bedauerte Friedrich Eduard Benecke diese Einseitigkeit der deutschen Theorie. Sie vertiefte sich weiter, da Bentham bald – u.a. bei Karl Marx und Friedrich Nietzsche – als Idealtypus des »englischen Krämergeists« erscheint, dem die »deutsche Tiefgründigkeit« entgegenstehe (Hofmann 2002, S. 49ff.). Diese konstruierten National-

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Sie hätte keine andere Basis als die Wünsche derjenigen, die sie forderten, da es für natürliche Rechte keinerlei Nachweise gebe. Darüber täusche die symbolbehaftete und bildreiche Sprache der Naturrechte hinweg, die zugleich an die Leidenschaften appelliere und damit letztlich Gewalt und Anarchie anfache.9 Diese Absage ist ideengeschichtlich und ikonografisch von Relevanz. Sie wies die republikanischen Lösungsvorschläge aus den Reihen der Französischen Revolution zurück, deren Recht und Politik trotz der Hinrichtung des Königs der monarchischen Tradition der Willkür in nichts nachstehe.10 Es musste ein neuer Weg beschritten werden, um die Leidenschaften einzuhegen und eine stabile demokratische Ordnung zu konstituieren.11 Diese neue Sozial- und Rechtsordnung musste laut Bentham auf empirischen Beobachtungen gründen. Während diese Wende zur empiristischen Beobachtung in Newtons Naturwissenschaft vollzogen worden sei, stehe sie nämlich für die Rechts- und Moraltheorie weiterhin aus: »[Any] work of mine […] on the subject of legislation or any other branch of moral science is an attempt to extend the experimental method of reasoning from the physical branch to the moral. What Bacon was to the physical world, Helvetius was to the moral. The moral world has therefore had its Bacon, but its Newton is yet to come.«12

Newtons Entdeckungen hatten durch die aufklärerischen Diskussionszirkel schnell weite Verbreitung gefunden. In seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica hatte Newton die Gravitation als eine universal wirkende Kraft erfasst und formal-mathematisch die Gesetze der Bewegung der Körper beschrieben. Diese Neubegründung der Physik demonstrierte für viele Zeitgenossen die Dechiffrierbarkeit und letztlich Kontrollierbarkeit der Welt mithilfe von Mechanik.13 Bei Newtons experimentellen Beobachtungen spielte Transparenz eine herausgestellte Rolle. Für die Entdeckung der Bewegungsgesetze nutzte er transparente Prismen, die in einem Fernrohr verbaut waren, und auch für die Untersuchung

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charaktere des 19. Jahrhunderts wirken bis heute nach. Demgegenüber hat Foucaults Panoptismus-These Bentham bekannter gemacht, aber selten zu einer eigenständigen Neulektüre geführt. Bentham hat für Politik und Recht symbolbeladene Sprache (wie »Krone«) immer wieder scharfer Kritik unterzogen. Da sie für ihn einer der Hauptgründe für die Möglichkeit des Machtmissbrauchs waren, will er den politischen Diskurs von diesen fallacies bereinigen. Umfänglich zu Nonsense Upon Stilts vgl. Schofield 2003, zu Benthams Sprachkritik Hofmann 2002, S. 125-156; Rzepka 2013, S. 63-72, 86-92. Der Zusammenhang zwischen monarchischer und demokratischer Körpersymbolik ist in der jüngeren politikwissenschaftlichen Diskussion wiederentdeckt und gegen die These der Traditionslosigkeit demokratischer Repräsentation gestellt worden (vgl. Manow 2004). Zur Genese des Liberalismus aus dieser Krise des Republikanismus siehe Münkler/ Rzepka 2015. Bentham 1952, S. 100f. Zur teils verzerrenden Rezeption Newtons, v.a. zum »Multiplikator« Voltaire, siehe Rzepka 2013, S. 18ff., 33-36; aus ikonografischer Perspektive vgl. Welzbacher 2011.

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von Licht und Optik zog er transparente Flüssigkeiten, Linsen und Prismen heran.14 Dabei ging er davon aus, dass alle Körper in ihren kleinsten Teilen transparent seien und nur Lichtbrechungen sie opak machen. Opake Körper ließen sich dementsprechend wieder transparent machen, wenn man die Lichtbrechungen verhindere. Lichtbrechungen seien es auch, so Newton weiter, die das Licht in seine Farben aufspalteten. Dies demonstrierte er mit zwei transparenten Prismen und führte damit einen revolutionären Beweis: Farben beruhen weder auf Rotationen oder einer Wesensveränderung des Lichts, sondern sind eine unveränderliche Eigenschaft von Licht, die durch Brechung sichtbar und letztlich steuerbar wird. Das Prinzip mechanischer Steuerung auf Basis empirischer Beobachtungen übertrug Bentham zunächst auf die Moraltheorie: »Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. […] The principle of utility recognises this subjection, and assumes it for the foundation.«15 Diese Gründungsformel des Utilitarismus brachte Benthams Beobachtung zum Ausdruck, dass die Menschen tendenziell ihr eigenes Wohl maximieren, wenn sich die Gelegenheit ergebe, während sie Schmerz und Wohlstandseinbußen vermeiden (self-interest principle). Damit bestand aber eine Unsicherheit für Leib, Leben und Besitz der jeweils anderen. Deshalb sollte sich die Gesetzgebung der gleichen Steuerung durch Anreize (pleasure) und Sanktionen (pain) bedienen, um das Interesse des einzelnen mit dem Interesse aller anderen zusammenzubringen und so auf »das größte Glück der größten Zahl« auszurichten (interest-junction principle, greatest-happiness principle).16 Die Anwendung dieser rechtssichernden Moralmechanik durchdachte Bentham am sozialen Problem von Armut und Kriminalität. Im Gegensatz zu Robert Malthus’ Vorschlag einer bio-ökologischen Selbstregulierung des Bevölkerungsproblems – also eines Sterbenlassens des Bevölkerungsüberschusses –, drängte Bentham auf eine langfristige gesellschaftliche Nützlichmachung der Armen und Kriminellen. Das berühmte Panopticon war insofern eine Experimentalanordnung, mit der Bentham die Lösung einer doppelten Problemstellung entwickelte: Es sollte das Überleben der Häftlinge und die Anpassung ihres Verhaltens gewährleisten, sodass am Ende das größte Glück der größten Zahl herauskam. Bentham entwarf dafür bekanntlich einen Gefängnisbau, der als ein polygonales oder kreisrundes 14 Newton 1704, Buch 1, S. 1ff., Buch 2, S. 50-70. 15 Bentham 1962 [1838-1843], Bd. 1, S. 1. 16 Diese Prinzipien sind grundlegend für Benthams Werk seit seiner Arbeit über die Principles of Morals and Legislation (1780/1789); demokratietheoretisch sind sie im Constitutional Code am klarsten ausgearbeitet (Bd. 1 erscheint erstmals 1827). Seine politischen Ansichten verschoben sich dabei in einer nicht linearen Entwicklung vom Unterstützer der Monarchie zum Verfechter einer auf breiter Wählerbasis stehenden repräsentativen Demokratie. Er unterteilte grundsätzlich die Gefahrenquellen der Rechtsunsicherheit in Mitbürger, äußere Feinde und politische Funktionäre. Insbesondere in den späteren Lebensjahren traten die sinisteren Interessen der Eliten – und damit die Demokratietheorie – in den Vordergrund. Das profundeste Werk zu Benthams gesamter intellektueller Entwicklung ist Schofield 2006, zu seiner Demokratietheorie siehe Rzepka 2013, zur jüngeren Bentham-Literatur vgl. Niesen 2009.

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Gebäude angelegt werden sollte, in dessen Mitte ein Turm steht, von dem man in die Zellen im äußeren Rund blicken kann, ohne dass von diesen Zellen zurück in den zentralen Turm gesehen werden kann. Das architektonische Grundprinzip war Transparenz: »The walls of the building, exterior as well as interior, being made as transparent (with windows) as possible […]. The more perfect the application of the characteristic principle, the less the quantity of strength that will be necessary«17 (Abb. 1).

Abb. 1: Grundrissentwurf für ein Panopticon. 17 So seine Erläuterungen in einem Brief an David Collins am 05.04.1803, siehe Bentham 1962 [1838-1843], Bd. 10, S. 401. Ähnliche Formulierungen finden sich in der Panopticon-Schrift (1791), z.B.: »my instruction to the architect were, Give me as much window as possible« (ebd., Bd. 4, S. 96).

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Das Bauen mit Glas und Stahl hatte den Vorteil, dass es die dunklen und feuchten Kerkerbauten ablösen konnte, die die Ausgangspunkte von Epidemien waren. Bei geringen Kosten ermögliche es, möglichst viel Licht und Luft hineinzulassen, ohne an Stabilität oder Feuerfestigkeit einzubüßen.18 Diese hygienische Funktionalität der Transparenz wurde zugleich mit der Moralmechanik des Utilitarismus fusioniert: Glas macht die Häftlinge sichtbar. Da sie aber selbst nicht in den Turm schauen können, müssen sie annehmen, stets beobachtet zu werden, sodass sie permanent ihr Verhalten anpassen, um Sanktionen zu vermeiden oder Gratifikationen zu bekommen. Die Erwartung von pleasure und pain funktioniert demnach als Hebel, um das Verhalten der Häftlinge zu steuern, während Transparenz das Mittel bietet, um diesen Hebel anzusetzen. Erst die Kombination von Reinheit und Rationalität machte das Panopticon zu einer gesamtgesellschaftlich nützlichen Besserungsanstalt, und erreicht wurde sie von dem einen architektonischen Prinzip Transparenz: »Morals reformed—health preserved—industry invigorated —instruction diffused—public burthens lightened— […] all by a simple idea in Architecture!«19 Diese Transparenz-Logik des Panopticons wollte Bentham auch ikonografisch festgehalten wissen. 20 Für die Veröffentlichung der Panopticon-Schrift hatte er ursprünglich zusammen mit Willey Reveley ein Frontispiz entworfen. Auf ihm sollte ein vereinfachter Grundriss des Panopticons zu sehen sein, kombiniert mit einem von Strahlen umgebenen gleichschenkligen Dreieck, das an den drei Seiten von den Wörtern Mercy, Justice, Vigilance umstellt und mit einer bearbeiteten Fassung des Psalms 139 ergänzt wird. Reveleys Aufarbeitung verschob das Dreieck ins Zentrum des Grundrisses und ergänzte ein Auge, sodass das Symbol des all-seeing eye entstand (Abb. 2 und 3).

18 Weite Teile von Benthams Panopticon-Schrift thematisieren daher Beleuchtungs- und Belüftungssysteme. Vgl. ebd., S. 40-45 (Belüftung und Hygiene), 98-103 (Freiluft), 110-118 (Wärmegewinnung und Heizung), 157-161 (Gesundheit, Reinheit und Belüftung). Zu Benthams sozialpolitischem Projekt im Vergleich mit Malthus siehe Bohlender 2010. 19 Bentham 1962 [1838-1843], Bd. 4, S. 39 (Kursivierung entfernt). Er nannte dies auch das inspection principle und verstand es als »new mode of obtaining power of mind over mind« (ebd.). 20 Vgl. die überaus gehaltvolle Interpretation des Frontispizes bei Welzbacher 2011, S. 75-105.

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Abb. 2: Skizze zum geplanten Frontispiz des Panopticon-Buches von Jeremy Bentham.

Abb. 3: Skizze zum geplanten Frontispiz des Panopticon-Buches, überarbeitet von Willey Reveley.

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An dieser Zeichnung, die letztlich dem Zeitdruck der politischen Debatte um die Gefängnisarchitektur geopfert wurde, sind zumindest drei Aspekte besonders bemerkenswert: Erstens band sich Bentham durch die Aufnahme des all-seeing eye nochmals explizit an die bildungsbürgerliche Aufklärungsbewegung zurück, die das Symbol erfolgreich aus dem religiösen Symbolhaushalt adaptiert hatte. Darüber aktualisierte sie die älteren, vorchristlichen Bedeutungsgehalte der Einzelbilder, so etwa das Auge als Zeichen von Wissenschaft und Gerechtigkeit, das gleichschenklige Dreieck als Referenz auf die Geometrie.21 Dennoch war der sakrale Anstrich – zweitens – offensichtlich gewollt: Nicht nur, dass sich die religiösen Bedeutungsdimensionen von Trinität und göttlicher Allsicht kaum vermeiden ließen, sondern Bentham hob sie nun gerade durch den beigegebenen Psalm 139 hervor. Bei der Umstellung des Psalms wurde aber Gott aus dem Text gestrichen, sodass nur noch das Doppelprinzip von allwissender und wohlwollender Führung stehen blieb. Das Prinzip der Transparenz sollte nicht als ein göttliches oder gar christliches Prinzip erscheinen (Bentham war Atheist), aber es sollte als ein heiliges Prinzip ausgestellt werden, das zum Heil aller führt.22 Mit dem Fokus auf das inspection principle steht dieser Entwurf – drittens – konträr zur Körpermetaphorik des Hobbes’schen Leviathan. Wie Philip Manow argumentiert hat, war es dem englischen Parlament möglich, diese »Vorstellung vom politischen Körper des Königs zu besetz[en], ohne dass der natürliche Königskörper seine einheitsstiftende Funktion aufgegeben hätte«.23 Gerade dieser Tradition stand Benthams Vorstellung einer guten Regierung fern: Weder Parlament noch König, kein Mensch war eine verlässliche Basis. Nur ein formales und rationales Prinzip könne zur Grundlage eines guten Gemeinwesens werden. Folgerichtig besetzt dieses Prinzip ikonografisch das Zentrum. Die politische Steuerungskompetenz blieb deshalb auch nicht im zentralen Turm des Panopticons, denn dies würde dem Gefängnismanagement nur Gelegenheit geben, seine Position auf Kosten der Häftlinge und der Gesellschaft auszunutzen. Dies folgt der formalen Logik des Utilitarismus: Politisch bedeutete sie, dass im Grunde jede Person mit Macht – völlig unabhängig von Charakter oder Herkunft – zur Korruption neige. Man müsse daher jeder Regierung grundsätzlich Miss21 Als Geometer mit Zirkel und Dreieck – also als Architekt der Welt – wurde auch Newton dargestellt, zum Beispiel von William Blake. Vgl. auch Welzbacher 2011, S. 86f.; zur Ikonografie des Auges vgl. Stolleis 2004. 22 Hieran arbeitete sich dann Michel Foucault in der Geschichte der Gouvernementalität (2006) ab, in der er den christlichen Vorläufern einer liberalen Regierungsrationalität nachging. Dabei hatte sich seine Einschätzung von Bentham grundlegend verschoben – weg vom Denker der panoptistischen Disziplinargesellschaft hin zum Denker einer Ökonomie von Sicherheit und Freiheit. Eindeutig muss das durch Foucaults Erstlektüre populär gewordene Vorurteil eines eindimensionalen, geradezu totalitären Panoptismus revidiert werden. Bentham kannte nicht nur sehr differenzierte Arrangements der Sichtbarkeit und diskutierte explizit das Problem des Missbrauchs, sondern war auch auf die Privatheit der Bürger bedacht und entwarf ein insgesamt komplexes liberal-demokratisches Institutionenarrangement. 23 Manow 2004, S. 338.

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trauen entgegenbringen, um das erste Ziel einer jeden Rechtsordnung zu erreichen, nämlich Sicherheit gegen den Machtmissbrauch zu gewährleisten. Um Misstrauen institutionell umzusetzen, müsse man auf Transparenz und eine wachsame Öffentlichkeit setzen. Sie sollte das Panopticon wie eine große Sehenswürdigkeit oder ein Schauspiel besuchen, Einsicht in die Unterlagen des Gefängnis-Managements erhalten und über das Management richten: »Jealousy is the life and soul of government. Transparency of management is certainly an immense security; but even transparency is of no avail without eyes to look at it.«24 Transparenz stellt also eine Operationalisierung des öffentlichen Misstrauens dar. Sie bekämpft die Willkür der Eliten mit Techniken der Sichtbarkeit, die eine Mechanik der Verhaltenssteuerung auslösen, um eine sichere Ordnung im Dienste der größten Zahl zu schaffen. Damit hatte Bentham das aufklärerische Ideal der Publizität (publicity) aufgenommen und begonnen, es mit der architektonischen Idee der Transparenz zu überformen. Seine Demokratietheorie, insbesondere Political Tactics und der Constitutional Code, deklinierte nun diese Techniken der Transparenz durch. Dies beginnt damit, dass die Öffentlichkeit an die Spitze der Institutionenordnung gesetzt wird. Von dort reicht eine Hierarchie wie in einer Kette hinunter bis zum lokalen Funktionär. Mit dieser »transparency of the system« sollte jeder Funktionär die funktional notwendige Machtfülle haben, aber auch stets direkt von der Öffentlichkeit einsehbar und abwählbar sein.25 Die Einsehbarkeit sollte – zweitens – durch die physikalische Transparenz der politischen Architektur gewährleistet werden. Benthams Entwurf für die Ministerialarchitektur sieht beispielsweise ein rundes oder polygonales Gebäude vor, in dem die Büros um das zentral gelegene Büro des Prime Ministers angelegt sind. Eine gläserne Decke soll möglichst viel Licht in die Büros lassen. Die Büros selbst sind wiederum rund angelegt und sollen umrandet sein von Warteboxen, von denen die Bürger das politisch-administrative Schauspiel wie im Theater beobachten.26 Die Idee einer gläsernen Zuschauergalerie wendete Bentham auch auf das Parlamentsgebäude an. Sie umgibt dort die wiederum runde, allmählich aufsteigende Sitzordnung, in deren Mitte ein Rostrum steht. Die bessere Hör- und Sichtbarkeit des Redners am Rostrum sollte 24 Bentham 1962 [1838-1843], Bd. 4, S. 130, vgl. auch 48ff. 25 Bentham 1962 [1838-1843], Bd. 9, S. 62. 26 Ebd., S. 325-334. Der Bezug auf das Theater war für den Publizitätsdiskurs zentral. Der politische Öffentlichkeitsbezug war bisher allerdings nicht als Transparenz thematisiert worden. Um 1800 waren aber sogenannte transparencies oder transparent prints zu großer Beliebtheit gelangt. Die großen Installationen illuminierter transparenter Bilder waren gewissermaßen Vorläufer des heutigen Kinos, drangen allerdings auch in miniaturisierter Form in den Alltag des Bürgertums ein. Für Bentham waren sie insofern ein Vorbild, weil sie demonstrierten, wie Schauspiel und Spektakel die bürgerliche Öffentlichkeit versammelte; das Parlament sollte daher auch amusement bieten. Die transparencies zeigten im Übrigen Bilder ferner Länder, Kriegs- oder Naturereignisse. Diese Domestizierung bestätigte die neue technische Beherrschbarkeit der Welt. Hierin liegt der Schnittpunkt mit der Rezeption der Newton’schen Physik. Vgl. Rzepka 2013, S. 35-38.

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laut Bentham zu einer besseren Einhaltung der Regeln des Redens (regularity) und einer größeren Unparteilichkeit (impartiality) des Redners führen.27 Die Argumentationswege, Teilnehmer, Entscheidungen, Vorlagen und Hintergründe dieses Redens sollen dann – drittens – durch ein umfängliches Arsenal staatlicher Publikationsverpflichtungen von der nationalen bis zur kommunalen Ebene veröffentlicht und durch Medien kontrolliert und zirkuliert werden. Schließlich mussten – wie bei Newton – die kleinsten Teile des politischen Diskurses transparent werden: die einzelne Äußerung des Funktionärs. Metaphern und Symbole seien aus dem politischen Diskurs zugunsten größter Einfachheit und Reinheit zu verbannen. Darauf ließ Bentham die Abgeordneten schwören: »my endeavours shall be constantly directed to the giving to them [the discourses – V.A.] the greatest degree of transparency, and thence simplicity, possible […] to keep my own discourse, and […] the discourse of others, as pure [!] as may be from the taint of fallacy«.28 Um dies auch im politischen Alltag durchzusetzen, entwarf Bentham umfangreiche Regelwerke zur Formulierung von Gesetzen und Anträgen und Geschäftsordnungen zur Strukturierung von Debatten. Durch die Regeln der Transparenz erhalten Informationen »the utmost degree of clearness, correctness, and completeness possible«, sodass nicht nur Täuschung ausgeschlossen ist, sondern auch das politische Urteil nur auf klaren Evidenzen beruht: »The judgement thus pronounced ought to have evidence for its ground.«29 Diese Praxisanordnung demonstriert, wie stark die utilitaristische Demokratie von der ikonischen Logik der Transparenz angeleitet ist. Die Wechselwirkung von Reinheit und Rationalität hatte Bentham dabei dem physikalischen Bereich entnommen und auf die Politik übertragen: Aus der Idee stofflich reiner und daher durchsichtiger Glaskörper werden die Techniken der Transparenz gewonnen, die hier wie dort – so jedenfalls Benthams Vorstellung – als Erkenntnis- und Steuerungsmedium dienen. Das Gefüge der Transparenzpraktiken zielt dann auf eine Umformung der Kommunikation, die deutlich über den klassischen Publizitätsbegriff hinausgeht: Es soll nicht nur öffentlich kommuniziert werden, sondern in einer bestimmten, formalisierten Art und Weise. Das Personal wird auf eineindeutige Verhaltens- und Sprechweisen festgelegt, die einfach kontrolliert werden können. Die Regeltreue und Routine – regularity also im doppelten Sinn – reinigen dann die Vielzahl persönlicher Interessen und generieren pure Informationen. Die Zirkulation dieser reinen Informationen transzendiert dann die Vielfalt informierter Meinungen hin zu einem neutralen, rationalen Urteil. Transparenz wirkt also gleichermaßen über eine Kontrolldimension und über eine Sachdimension, um die Unsicherheit, die die politischen und sozialen Differenzen der modernen Gesellschaft produziert, in das größte Glück der größten Zahl zu transformieren. Mit dieser transzendierenden Umformung nach einem abstrakten, apersonalen Formprinzip liefert Transparenz ein Gegenmodell zur Körpermetaphorik, ohne auf die 27 Bentham 1999 [1791], S. 44-64, hier insb. S. 52ff. 28 Siehe z.B. Bentham 1962 [1838-43], Bd. 9, S. 203. 29 Für beide Zitate siehe ebd., S. 90f.

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Idee eines sakralen und souveränen Willens verzichten zu müssen. Dieser erscheint nunmehr als eine von persönlicher Willkür gereinigte Herrschaft des Verstandes. 3. Apotheose und Kritik der Nützlichkeit: Die Glasbauten des Neuen Bauens Das Material des Glases hatte eine eigentümliche Vermittlerstellung zwischen den drei Kontexten naturwissenschaftlicher Entdeckungen, industrieller Entwicklungen und soziopolitischer Steuerung inne. Ganz praktisch gesehen konnte mit dem neuen industriell verfertigten Baustoff die Luft- und Lichtzufuhr optimiert und außerdem kostengünstig, d.h. massentauglich gebaut werden. Auf diese Weise eignete sich Glas optimal, um die differenzierte Bevölkerung so zu arrangieren, dass das größte Wohl der größten Zahl dabei herauskam. Diese Idee prägte nicht nur Bentham, sondern auch die modernistische Glas-Architektur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.30 Dass sich das Problem des Bevölkerungsmanagements so gezielt in der Architektur niederschlug, die sowohl für Bentham als auch für Architekten wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe zum Gestaltungsmittel von Gesellschaft wurde, lag darin begründet, dass sich in der Stadt das Bevölkerungsproblem in erster Linie als ein Raumproblem darstellte. Versuchte man, die Bevölkerungsverdichtung in der Stadt mit räumlicher Verdichtung zu beheben, ergaben sich die dunklen und engen Räume von Mietskasernen und Fabriken. Wer sich gegen diese Konzeption wenden wollte, griff auf Glas zurück: »während die alten zeiten abgeschlossener kulturentwicklungen die schwere erdgebundenheit in festen, monolith wirkenden baukörpern und individualisierten innenräumen verkörperten, zeigen die werke der modernen, richtunggebenden baumeister ein verändertes raumempfinden, das das prinzip der bewegung, des verkehrs unserer zeit in einer auflockerung der baukörper und räume widerspiegelt, das die abschließende wand verneint […]. das mittel, welches diese entwicklung erst ermöglicht, heißt glas! glas ist der reinste [!] baustoff aus irdischer materie, zwar raumabschließend, witterung abhaltend, aber dennoch in seiner wirkung raumöffnend, wesenlos und leicht.«31

Der paradigmatische Charakter des Glases für dieses ›moderne‹ Bauen zeigt sich auch in der Namensgebung der Gläsernen Kette, einer Architektengruppe, zu der unter anderem Walter Gropius, Max und Bruno Taut sowie Hans Scharoun gehörten, und die über die Lösung der sozialen Frage mithilfe gläserner Architektur korrespondierte. Die Aufgabe des Baumeisters sei es, so Walter Gropius, die »beziehungen der massen, materialien und farben« zu ordnen, um im Konkreten durch transparentes Bauen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter zu verbessern.32 Dies betraf in erster Linie die hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen, die – auch dies eine Parallele zum britischen Diskurs – konsequent von den Autoren des Neuen Bauens mit dem Slogan »Licht, Luft, Reinlichkeit« zum Problem gemacht wurden.33 Im Zentrum der Problemlösung stand eine Opti30 31 32 33

Zum Zusammenhang von Utilitarismus und Klassischer Moderne vgl. Weitzman 1961. Gropius 2005 [1926], S. 75. Ebd., S. 77. Siehe Fischer 2012, S. 83-89.

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mierung der Funktionalität von Gebäuden. Dafür wurde erstens auf standardisierte Module gesetzt, die dann zweitens so kombiniert wurden, dass Helligkeit und Hygiene größtmöglich gefördert werden.34 Wie schon bei Bentham waren die Mittel der sozialreformerischen Zwecke damit formalisierte und typisierte Bauelemente. Was sich seit Bentham verändert hatte, war in erster Linie die technische Umsetzbarkeit des Glasbaus. Zwar hatte schon der Crystal Palace der 1851er Weltausstellung die Möglichkeit großflächiger Verglasung demonstriert; davon beflügelt blieb die Glasarchitektur aber weitgehend eine dichterische Utopie, wie Walter Gropius in dem oben zitierten Aufsatz festhielt.35 Erst seit der Entwicklung von Glasprismen und Kristallglasscheiben seien ganze Wände beliebiger Ausdehnung möglich. Der Unterschied zwischen altem Fensterglas und neuem Kristallspiegelglas erschöpfte sich aber nicht in der Funktionalität, denn Gropius verband die Nützlichkeit des neuen Glases mit der inhärenten Reinheit des Materials. Diese Reinheit könne jetzt erst »durch politur und schliff« herausgearbeitet werden, sodass jetzt die »vollkommen ebene kristallglasscheibe […] die vollendete exaktheit und klarheit des edlen baustoffes« freigibt.36 Glas macht die Perfektibilität und den Fortschritt zur Vollkommenheit sichtbar und umsetzbar: »die architektonische wirkung von bauten mit im licht glitzernden prismenwänden und -decken oder mit großen nahtlosen spiegelglasscheiben ist epochemachend.« Schon kurzfristig könnten, so Gropius, durch den Schritt vom Fenster- zum Kristallglas die Unebenheiten, Wellen und Verzerrungen geglättet werden, die noch das Fensterglas prägten. Langfristig sei diese Problemlösungskapazität des neuen Glases aber sogar auf die Entstehung eines neuen, modernen Menschen ausgerichtet.37 Dabei wurde innerhalb der Strömung des Neuen Bauens eine zirkuläre Wirkung zwischen Architektur und Bewusstsein diskutiert. Einerseits stellten sie das Neue Bauen als eine Anpassung an den modernen Menschen dar, andererseits formte die Raumgestaltung erst das im Menschen schon angelegte Neue. Beide waren rational, effizient, ehrlich und vor allem schmucklos-einfach – oder sollten es zumindest werden. Gegen die Rückständigkeit des Ornaments wurde daher die kunstvolle Reinheit des Glases als realisierbares utopisches Versprechen der Moderne in Stellung gebracht, in der der moderne Mensch die ihm gemäße moderne Behausung findet.38 Die funktionelle Begründung einer Ordnung ist zugleich Schlüssel einer Höherentwicklung, die der Soziologe Alfred Weber für den Deut-

34 Steets 2015, S. 120f. 35 Zu Architektur und Sozialutopie des Glashauses im 19. Jahrhundert vgl. auch Kohlmaier, Sartory 1981. 36 Hier wie im Folgenden Gropius 2005 [1926], S. 76f. (Kursivierung hinzugefügt). 37 Zum Neuen Menschen im Neuen Bauen siehe die Detailstudie von Poppelreuter 2007. 38 Siehe Gropius 2005 [1926], S. 77; zu den Folgen dieser Idee für die Weimarer Rechtstheorie Damler 2012.

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schen Werkbund als »Bewusstseinsaufhellung der Menschheit« charakterisierte.39 Dieser quasi-sakrale Überschuss steht hinter der Sachlichkeit des Neuen Bauens.40 Die Paradoxie dieses Bauens ist freilich, dass es sich politisch zwischen sozialistischen und kapitalistischen Entwürfen frei bewegte. Die Architekten des Neuen Bauens waren oft in sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Kreisen wie dem Arbeitsrat für Kunst aktiv, während ihre Projekte umgekehrt von sozialdemokratischen Vertretungen gefördert wurden. Neben den Fabrikgebäuden – paradigmatisch ist die Fagus-Fabrik von 1913 – und Wohnanlagen prägte das Neue Bauen aber auch die gläsernen Wolkenkratzer der neuen Großstädte. Vor allem nach der Emigration setzten sie die schon in den 1920er Jahren angedachten Gebäude oft als Firmensitze großer Unternehmen wie des Spirituosenkonzerns Seagram (Mies van der Rohe, Abb. 4 und 5) oder der Fluglinie Pan Am (Walter Gropius) um.41

Abb. 4: Ludwig Mies van der Rohes Entwurf für ein Glashochhaus von 1922.

39 Webers Vortrag Kulturausdruck und Technik (1928) zit. nach Poppelreuter 2007, S. 221. 40 Wie Christopher Hood früh bemerkte (2006, S. 3), eignet Transparenz im gegenwärtigen Regieren eine quasi-religiöse Bedeutung. Ich versuche hier anzuzeigen, dass dies systematisch zustande kommt, weil immer wieder – in Lexik, Material und Konzeption – sakrale Konnotationen aufgenommen und transformiert wurden, die sich so als Subtext bis in die Gegenwart fortschreiben. 41 Vgl. Bletter 1981, S. 41f.

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Abb. 5: Seagram-Building, gebaut nach Entwürfen von Ludwig Mies van der Rohe und Philip Johnson. Während sich in dieser breiten Produktpalette des Neuen Bauens eine allgemeingültige Verbesserung für Arbeiter und Angestellte im Zeichen der Rationalisierung von Produktion sehen ließ, konnte gerade dies aus einer kapitalismuskritischen Perspektive als eine Überbrückung von Arbeit und Kapital gesehen werden, die einseitig rationale Individuen formen sollte.42 Der pragmatische Utilitarismus war daher einigen sozialistischen Architekten des Neuen Bauens suspekt. Obwohl sie gemeinsam mit Gropius oder Mies van der Rohe wirkten, entwickelten sie eine andere Vision: Sie verkehrten den Werkstoff der Nützlichkeit in sein Gegenteil, indem sie Kristalle zur Lichtbrechung einsetzen. Damit traten sie der glatten Formenlehre der städtischen Bauhausarchitektur entgegen. Der Prototyp für diese Subversion der Transparenz ist das »Glashaus«, das Bruno Taut 1914 auf der Kölner Ausstellung des Werkbunds präsentierte (Abb. 6 und 7).43 Taut nahm dafür (wie das Bauhaus) Bezug auf die Glaskunst gotischer Kathedralen, betonte aber in besonderem Maße die dort vielfach verwirklichte Glassymbolik der abrahamitischen Religionen, die einen engen Assoziationsraum von Gold, Edelstein, Wasser und Glas gestiftet haben. Diese wurden gleichgesetzt zu Metaphern für die göttliche Offenbarung auf Erden und verweisen auf die

42 Vgl. Steets 2015, S. 52f. 43 Vgl. ausführlich zur Geschichte des Kristalls und Tauts »Glashaus« die Studie von Bletter 1981.

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heilsgeschichtliche Perspektive eines transzendierten Lebens.44 In Romantik und Gotik schlug sich dies in farbintensiven Fenster- und Raumgestaltungen wieder, die Tauts »Glashaus« nun mit einer kaleidoskopartigen Anordnung von Prismen zu reproduzieren suchte. Besonders deutlich wurde das im Kaskadenraum, der als höchstgelegener Raum des Gebäudes die Transzendenz des Besuchers verkörperte. Er war wiederum zirkulär angelegt und lichtdurchflutet, im Gegensatz zu den Entwürfen von Bentham oder dem Neuen Bauen gab es dieses Mal aber keinerlei visuellen Kontakt mit der Außenwelt. Der Blick nach außen wurde durch farbige Mosaikstücke, durchbrochen von expressionistischen Bildern, versperrt. Im Zentrum des Raums befand sich ein Brunnen, eingelassen in weiße, blaue und schwarze Glasmosaike, von dem aus rotes und goldenes Glas den Blick in Richtung einer kreisförmigen Decke lenkte. Die gesamte Raumkonstruktion war damit auf die Aszendenz ausgerichtet. Das Glashaus, so Taut, sollte ein »Gewand für die Seele« des Menschen sein:45 Die bisherige Glasarchitektur habe mit ihrem grellen Tageslicht nur die Nervosität des modernen Menschen gesteigert, die durch Lichtdämpfung und Farbspiel erzeugte Mystik des Glashauses bot hingegen eine Rückführung zum Inneren und damit zum wahren Menschen.46

Abb. 6: Bruno Tauts »Glashaus« auf der Kölner Werkbundausstellung 1914. 44 So findet sich beispielsweise in der Johannesoffenbarung, vermutlich in Anspielung auf den Glastempel des König Salomons, die Beschreibung, vor dem Thron Gottes »war es wie ein gläsernes Meer, gleich dem Kristall« (Offb 4:6) und das Neue Jerusalem »hatte die Herrlichkeit Gottes; ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, […] klar wie ein Kristall« (Offb 21:11). Vgl. Bletter 1981, S. 23ff.; das Bibelzitat folgt der Lutherbibel der deutschen Bibelgesellschaft in der revidierten Fassung von 1984. 45 Bruno Taut in seinem Text Glaserzeugung 1920, zit. nach Thiekötter 1993. 46 Vgl. hier wie im Folgenden Bletter 1981, S. 32-37, Ikelaar 1996, S. 66-71.

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Abb. 7: Der obere Kaskadenraum in Bruno Tauts »Glashaus«. Auch diese Variante gläserner Transzendenz weitete sich gesellschaftsutopisch aus. Paul Scheerbart formulierte schon 1914 in seinem für Taut grundlegenden Buch Glasarchitektur das Ziel, mit der Glasarchitektur die Erdoberfläche umzuformen und damit eine neue Epoche anzufangen. Als Bezugspunkt dieser Umgestaltung galt nun aber nicht mehr die Stadt (wie beim Bauhaus), sondern die Natur, insbesondere das Gebirge mit seinen kristallinen Strukturen. Nach dem Ersten Weltkrieg machte Taut in seinem utopischen Buch Alpine Architektur den Utilitarismus dann gar für Gewalt und Krieg verantwortlich und formte den romantischen Ansatz zu einem anti-utilitaristischen und pazifistischen Sozialismus aus.47 Die Anverwandlung des Glases konnte also radikal unterschiedlich ausfallen: entweder als glatte Funktionalarchitektur im Dienste kapitalistischer Unternehmen und sozialen Wohnungsbaus oder als expressionistischer Widerstand. Trotz dieser scharfen Unterschiede zeichnete sich beides Bauen mit Glas durch einen sakralen Überschuss aus, durch die Rationalität transparenten Bauens eine höhere, reinere Stufe zu erlangen. Beide stellen sich selbst als Antwortstrategien auf das praktische und geistige Problem der Bevölkerungsdichte und ihres Konfliktpotenzials dar. Nur die Richtung ihrer Rationalitäten war entgegengesetzt: Die einen zielten auf eine Apotheose der Nützlichkeit, in der die moderne Menschheit zu einer neuen angepassten Geistigkeit gelangt. Die anderen vertraten einen radika-

47 Vgl. Bettler, S. 35f., Prange 1991, S. 108, 347-361. Der romantische Charakter zeigt sich durch die Rolle von Mystik und Innerlichkeit, die Verbindung von Ästhetik und Natur und den Bezug auf Caspar D. Friedrich.

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len Anti-Utilitarismus, der sein Heil in der Tiefe der Seele des Individuums suchte und auf deren kulturelle Expression drang: »Ja, unpraktisch u. ohne Nutzen! Aber sind wir vom Nützlichen glücklich geworden? – Immer Nutzen und Nutzen: Comfort, Bequemlichkeit. – gutes Essen, Bildung – Messer, Gabel, Eisenbahnen, Closets und doch auch – – – Kanonen, Bomben, Mordgeräte! -----Blos Nützliches und Bequemes wollen ohne Höhere Idee ist Langeweile. Langeweile bringt Zank, Streit und Krieg […] ES GIEBT NUR NOCH RASTLOSES MUTIGES ARBEITEN IM DIENST DER SCHÖNHEIT, IM UNTERORDNEN UNTER DAS HÖHERE«48

4. Subversion: Das neue Bonner Bundeshaus von Günter Behnisch In einer Studie von 1955/6 unterschieden Colin Rowe und Robert Slutzky zwei Formen architektonischer Transparenz.49 Auf der einen Seite stehe die BauhausUmsetzung, die dem Betrachter unzweideutige Strukturen anbiete und mit einem Prinzip der Schichtung eine Öffnung des Raumes in die Tiefe hinein erzeuge. Auf der anderen Seite stehe ein kubistisch-expressionistisches Transparenz-Konzept, das nicht von der Auflockerung durch Verglasung geprägt sei, sondern auf Ecken und Winkel setze, die den Raum kristallähnlich formen und damit Ambiguitäten produzieren. Als Rowe und Slutzky ihre Studie über Transparenz verfassten, hatte sowohl der funktionale Strang um Gropius und Mies van der Rohe als auch der expressionistisch-kubistische Stil um Le Corbusier oder Hans Scharoun eine enorme Verbreitung gefunden. Dies lag auch daran, dass die nationalsozialistische Herrschaft viele der Architekten und Zeichner im Umfeld des Neuen Bauens ins Exil gezwungen hatte.50 Der unübersehbaren Relevanz des Mittels der Transparenz stand für Rowe und Slutzky entgegen, dass es keine Untersuchung gab, die ihren Gebrauch systematisch analysierte und in ein anwendbares Werkzeug transformierte.51 Nach dem moralischen Zusammenbruch des Westens im Nationalsozialismus bot Transparenz freilich eine Gelegenheit, das Projekt Moderne inklusive seines dezidiert normativ-demokratischen Gehalts zu reflektieren. Während Rowe und Slutzky dabei zumindest verweigerten, Transparenz als ein notwendiges Merkmal modernen Bauens zu interpretieren,52 bestand mit ihr gerade für die neu gegründete Bundesrepublik die Möglichkeit, auf einen (scheinbar) dezidiert

48 Taut 1919, Blatt 49:16. 49 Rowe, Slutzky 1989 [1955], S. 39ff. 50 So menschenverachtend scharf der NS den Stil des Neuen Bauens ablehnte und seine Vertreter verfolgte, bediente er sich doch auch des Glases. Insbesondere für den Fabrikbau griff er auf Glas und den Hygiene-Diskurs zurück, und für den Kongresssaal in Nürnberg war ein riesiges Glasdach eingeplant. Am Material des Glases ließe sich das Kapern modernistischer und demokratischer Konzepte durch den NS und die Transformierbarkeit der Signifikant-Signifikat-Beziehung untersuchen. Vgl. Fischer 2012, S. 14f.; Rübel et al. 2005. 51 Vgl. Rowe, Slutzky 1989 [1955], S. 10. 52 Vgl. ebd., S. 41.

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deutschen, aber vom Nationalsozialismus (scheinbar) unbefleckten und weltoffenen Strang des Moderne-Projektes zurückgreifen zu können.53 Für den Umbau der Pädagogischen Akademie zum Parlamentsgebäude bediente sich Hans Schwippert daher der Formkriterien der Bauhaus-Schule: Reinheit, Klarheit und Rationalität sowie Offenheit und Durchsichtigkeit, so betonte Schwippert wiederholt, ergeben sich aus einer funktionalen Zielstellung.54 Damit eckte er nicht nur bei Konrad Adenauer an, der sich gegen den Stil der Klassischen Moderne wehrte und einen direkten Anschluss an die Tradition des Berliner Reichstags bevorzugte.55 Auch die Einfallslosigkeit, die mit dem neuen Leitstil um sich griff, zog immer heftigere Kritik auf sich: »Sobald die kristallinen Glashäuser nichts mehr gelten, zieht das amorphe Felsengebirge in die Cities ein. Das Architekturschiffchen schwankt auf den Modewellen eines rechtwinkligen Scheinrationalismus und einer expressiven Durchschlagsambition«, schrieb der Architekturtheoretiker Heinrich Klotz als Kommentar auf die bisherigen Bundesbauten.56 Ab Juni 1970 sollte der Arbeitskreis Bundesbauten Bonn dem architektonischen Stückwerk abhelfen, das durch die zahlreichen Erweiterungsbauten entstanden war.57 Klotz votierte dabei nachdrücklich für den Entwurf aus Günter Behnischs Architektenbüro, aus dem 1992 – nach zahlreichen Beschränkungen und Änderungen – der neue Plenarsaal des Bonner Bundeshauses hervorging. Auf den ersten Blick radikalisierte Behnischs Büro dabei das Grundprinzip von Schwipperts klassisch-modernem Bau. Behnisch selbst hatte sich noch in den 1950er Jahren klar in dieser Tradition verortet. Mit explizitem Bezug auf die Urbanisierung der wirtschaftlich boomenden Bundesrepublik hatte Behnisch massiv für eine typisierte Einheitsarchitektur geworben. Bauen sollte in Planung und Ausführung grundsätzlich rationalisiert werden. Schönheit sei demnach identisch mit der Durchsichtigkeit einer klaren und logischen Anordnung.58 Diese Überzeugung Behnischs stand im Einklang mit der Modernisierungs- und Planungseuphorie der Nachkriegsjahre,59 die auf eine zentralisierte Steuerung der Technik zum Zwecke sozialer Optimierung setzte. Doch noch vor der Neuausschreibung der Bundesbauten hatte Behnisch scharfe Kritik an den durchrationalisierten Planungsverfahren geäußert, und diese Abkehr schlägt sich auch im Transparenz-Konzept des Bundeshauses nieder. Seine Beob-

53 Vgl. Welzbacher 2016, S. 201-214; Barnstone 2005. 54 Barnstone 2005, S. 19. 55 Vgl. Spieker 2005, S. 264f. Adenauers Kritik ging bis in die Details der Möblierung; vor allem wies er aber die kreisrunde, pultfreie Sitzordnung aus Schwipperts Vorschlag mit ihrer Symbolik der Gleichheit aller Gewalten zurück. Stattdessen setzte er sich mit der Idee durch, die hierarchische Führungskompetenz der Regierung auch im Sitzungssaal herauszuarbeiten und sie konfrontativ gegen die Abgeordneten abzugrenzen. 56 Klotz 1984, S. 409. 57 Vgl. Spieker 2005, S. 265ff., Behnisch 1992, S. 105-113. 58 Spieker 2005, S. 77. 59 Vgl. ausführlich Metzler 2005.

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achtungen befanden sich in einem breiten Strom der Kritik am Nachkriegsstaat, die ab Ende der 1960er Jahre einsetzte. Die verwaltungszentrierte Politik der Planung erschien schon im Ansatz als eindimensional und bevormundend, während ihre Ergebnisse zugleich immer öfter die gemachten Versprechen nicht einhielten. Planung scheiterte also doppelt an der Pluralität der Gesellschaft. Behnisch beklagte dabei vor allem die Geschlossenheit und Dominanz, die die Verwaltung bei der Bauplanung an den Tag legte. Gerade hiergegen konnte Transparenz als ein wirksames Mittel erscheinen, um den Staat wieder aus der Rolle als Souverän herauszudrängen, indem man ihm die Hoheit über die Planungsverfahren durch die Einsehbarkeit der Verfahren entriss.60 Mit dieser Argumentation stand Behnisch in direkter Tradition mit Jeremy Bentham, dem es ebenfalls darum ging, die staatlichen Funktionsträger einer gesellschaftlichen Kritik auszusetzen, die sich selbst formaler Rationalität bediente.

Abb. 8: (Ehemaliges) Plenargebäude des Bonner Bundeshauses, entworfen von Günter Behnisch. Das klare Bekenntnis zur transparenten Formgebung zeichnet sich daher auch im neuen Bundeshaus ab: Es wurde so transparent wie keines seiner Vorgänger (Abb. 8).61 Transparenz prägt die große gläserne Außenfassade und die durchgehenden 60 Vgl. die ausführlichen Zitate von Behnisch in Spieker 2005, S. 77f. Ihm ging es bei der Bauplanung vor allem um den an den Rand gedrängten Architekten. Das Ende der Planungseuphorie und die Krisendiskurse der 1970/80er Jahre wurden in letzter Zeit in zeitgeschichtlichen Studien untersucht; vgl. als Überblick Bösch 2013. 61 Barnstone 2005, S. 148ff.

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Flure, die mit Glas nur in einzelne Sektionen geteilt werden, sodass man »fließende[] Räume[]«62 erhält. Daneben nahm Behnisch auch die Tradition des runden Plenarsaals auf, um ein Diskussions-, kein Vortragsparlament zu schaffen, das auch bei ihm durchgehend von gläsernen Aufenthaltsräumen und Gängen umgeben ist.63 Hier standen Parlamentarier und Besucher in einem ständigen Beobachtungsverhältnis, das aber keineswegs bedrohlich wirken, sondern dem Austausch von Informationen dienen sollte. Bei Bentham wie bei Behnisch galt: »Das Parlament ist ein Glaspalast, kein Gefängnis«.64 Gerade im Gegensatz zu totalitären Regimen kennzeichne die Demokratie, dass »alles in ihr in durchschaubarer, überprüfbarer Weise vollzogen wird; ein Prinzip, das sich eben als Durchsichtigkeit oder Transparenz, auch in ihrer Architektur mitteilen muss«. »Architektonische Durchsichtigkeit«, so Behnisch weiter, »die sich aus dem Politischen ableitet, […] heißt vor allem Verzicht auf trügerische Verblendung und Verkleidung […] Einfachheit, Sparsamkeit, Zweckmäßigkeit«.65 Transparenz wurde also wie bei Bentham zu einem Modell der Öffentlichkeit, das in permanentem Misstrauen gegen die Eliten Einfachheit und Einsehbarkeit einsetzte, um kontrollierbare Verfahren und darüber die Kontrollierbarkeit des inhaltlichen Verfahrensergebnisses zu erreichen. Dabei hatte sich das Begründungsverhältnis von transparenter Demokratie und transparenter Architektur verschoben: Stand am Anfang die architektonische Vision der Durchsichtigkeit dem Modell der politischen Verhaltensregulierung Pate, wurde Transparenz jetzt als demokratische Norm gesehen, die auf die Architektur übertragen werden musste – ein metaphorischer Zirkelschluss war geglückt, der bis in die Gegenwart ausstrahlt. Allerdings trügt dieses Bekenntnis zur kontrollierenden, rationalisierenden Transparenz im Falle Behnischs. Denn seine Kritik des Planungsstaates bejahte zwar die Transparenz, begnügte sich aber nicht mit der Verschiebung des Steuerungsapparates vom Staat auf die Bürger. Während Bentham und die Architekten der klassischen Moderne mit den formalen Verfahren die Hoffnung auf ein gereinigtes, neutrales Urteil verbanden, wurde Behnisch der formale, mechanistische Zwang dieser »Apparate« selbst zu einem Problem, weil sie auf eine Perfektion ausgerichtet seien, die der Pluralität, dem schnellen Wandel und dem Unvorhersehbaren in der Gesellschaft nicht mehr gerecht werde.66 Im Bonner Bundeshaus konterkarierte Behnisch daher nun die Sakralität, Rationalität und Reinheit der Transparenz, die für Bentham und die Klassische Moderne prägend waren. 62 Behnisch & Partner 1993, S. 82. 63 Vgl. Behnisch 1992, S. 108, Spieker 2005, S. 274, 288, 291. Behnisch wies darauf hin, dass der funktionale Aspekt des Debattierens im Zentrum stand und keine symbolische Dimension des Kreises angedacht war. Inwiefern diese beiden Aspekte angesichts seines Gesamtentwurfes aber zu trennen sind, ist eher fraglich. 64 So Peter Niesens Klarstellung von Benthams Konzept (2008, S. 232) gegenüber Foucault. 65 Behnischs Manuskript »Demokratische Ordnungen« [1983] zit. nach Spieker 2005, S. 269. 66 Spieker 2005, S. 77, die Behnisch ausführlich zitiert.

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Zunächst verbannte er die Symbolik des Sakralen. Nicht nur dass dem Gebäude ein gen Himmel strebendes Signal der Präsenz fehlt, etwa ein zentraler Turm, eine Kuppel oder ein Hochhaus; es ist zudem von seinen Zufahrtsstraßen aus kaum zu sehen und ordnet sich insgesamt der Rheinlandschaft unter.67 Dieses Understatement des Parlaments wurde beim Betreten des Gebäudes noch verstärkt, denn man steigt nun eine Treppe hinab, die – statt mit einem edelsteinartigen Rot – mit einem erdfarbenen Teppich ausgelegt ist (Abb. 9). Gegen die Reinheit des Himmels wurde hier die Demokratie auf dem Boden, in einem profanen Alltag verortet – das Parlament, so Behnisch mit Peter Conradi, ist ein Arbeitsparlament.68

Abb. 9: Foyer des Bonner Plenargebäudes mit Farbpaneelen, Reflektoren und ockerfarbenem Teppich. Allerdings lehnte Behnisch gleichzeitig den Drang zur Formalisierung, Standardisierung und starren Regulierung des Alltags ab. Stattdessen setzte er gezielt Kontrapunkte zum sonst funktionalen Design: Bei den Deckenlampen werden unterschiedliche Stile vermischt, Form und Material der Geländer variieren immer wieder und werden zudem gekreuzt von durchsichtigen Farbpaneelen, die scheinbar unnütz und ungeplant in den Räumen verteilt sind. Zusammen ergeben sie ein »Mikado«, das »ein sinnfälliges Bild für dieses Zusammentreffen unterschiedli-

67 Zur Beschreibung des Bundeshauses und seiner Lage siehe insgesamt Barnstone 2005, S. 147-172. 68 Behnisch 1992, S. 109.

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cher ›Individuen‹« abgibt, wie das Büro Behnisch erläuterte.69 Statt aus Angst vor der Ungewissheit auf formalisiertes Verhalten zu setzen, werden in den Lichtreflexen und Unregelmäßigkeiten unvorhersehbare Ereignisse als Chance für die Demokratie hervorgehoben. Bei aller nötigen Funktionalität plädierte Behnisch darauf, das Individuelle, Abweichende nicht auszulöschen, sondern zu forcieren. Die Licht- und Farbreflexe, die schiefwinkligen, schrägen, sich unregelmäßig abwechselnden Paneele und Geländer produzieren eine Collage, die von jeder Position und zu jedem Zeitpunkt anders erscheinen. Dieser Anschluss an die Situationsarchitektur des Münchener Olympiastadions70 ist hier politisch gemeint und fokussiert auf die Pluralität und Veränderbarkeit der Gesellschaft, die kein letztes Urteil zulässt. Damit gab Behnisch schließlich die Idee des rationalen Urteils oder des einzig Wahren auf, die so prägend für Bentham und die Klassische Moderne waren. Die anvisierte Poetik der architektonischen Collage wird dabei durch das In-SzeneSetzen von Kunst unterstützt, die Behnisch zum integralen Bestandteil seines Entwurfs machte. Abhängig von Standort und Lichteinfall sehen die Collagen und Arrangements stets unterschiedlich aus, ohne dass es eine richtige Perspektive gäbe. Besonders eindrücklich ist dies am Beispiel des »Vogelnests« zu sehen, das das Mikado-Prinzip zuspitzt (Abb. 10). Auf einer der Glasscheiben rückt dann auch Ernst Jandls Gedicht eins den permanenten Aushandlungsprozess zwischen Einzelnem und Gemeinschaft ausdrücklich ins Zentrum und unterstreicht die Interpretationsbedürftigkeit der Demokratie:71

eins gemeinsamen gemeinsame gemeinsam gemein mein ein einsam einsame einsamen amen eins

69 Behnisch & Partner, S. 87. 70 Vgl. hierzu den Beitrag von Sebastian Huhnholz in diesem Band. 71 Nachweis für das folgende Gedicht: Jandl 1997, S. 168.

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Abb. 10: Die sogenannte Vogelnest-Treppe im Bonner Plenargebäude. Paradoxerweise kommt Transparenz für diese dreifache Abgrenzung zum klassischen Transparenzprogramm eine zentrale Gestaltungsdimension zu, denn das Gebäude ist derart durchsichtig, dass es die eigene Funktionalität unterläuft: Der Blick von innen wird immer wieder zum Rhein hin- und so von der Abgeordneten-Tätigkeit abgelenkt, von außen versperren die Brechungen und Farbspiele immer wieder den Einblick.72 Schließlich maximiert gerade die Transparenz der Außen- und Innenwände die Effekte der Lichtbrechung und Farbspiele. Sie produziert damit eine noch stärkere Pluralität der Sichtweisen auf die Kunstwerke im Innenraum. Behnischs Gebäude führt vor, wie sich Transparenz selbst ins Gegenteil verkehrt, wenn man ihrer Logik folgt. Seine Antwort auf die Pluralität der Gesellschaft war daher nicht deren formale Siebung hin zu einem vermeintlich Universellen, sondern die Arenen der Aushandlung noch weiter zu pluralisieren. Dies hätte auch die Gesamtanlage der Bundesbauten zum Ausdruck bringen wollen, wenn Behnischs Gesamtentwurf umgesetzt 72 Vgl. Behnisch & Partner 1993, S. 82, 99; Barnstone 2005, S. 152.

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worden wäre. Hier hatte er die oft herangetragene Metaphorik des Kreises konterkariert: Statt eines Kreises, nämlich dem des Parlaments, wurden mehrfach kreisförmige Debattenräume integriert. Als Stellen der Begegnung sollten sie die Pluralität und Gleichrangigkeit der Zentren politischer Willensbildung demonstrieren.73 Sie wurden von einer »Grünen Mitte« zusammengehalten, die als Raum des Volkes der Ausgangspunkt der Macht sein sollte.74 Mit diesem Entwurf hatte sich Behnisch doppelt in der Debatte um die (Un-)Regierbarkeit einer modernen Gesellschaft positioniert: Einerseits lehnte er die reine Rationalisierung in Politik und Architektur ab, die inzwischen weithin als Aufstieg einer »Technokratie« kritisiert wurde. Die Probleme des Zusammenlebens seien laut Behnisch gerade nicht mit dem technischen Fortschritt lösbar.75 Das Verhältnis der Menschen untereinander und ihre Beziehung zur Natur blieben dagegen stets unfertig. Dem Irregulären gerecht zu werden, statt es gerade biegen zu wollen, sei daher die Aufgabe von Technik und Architektur. Damit hielt er auch Distanz zur Dekonstruktion von Politik und Architektur.76 Zwar befürwortete er den Abbau der alten geometrischen Ordnungsansätze und ihrer Hierarchien. Der Fokus lag aber nicht auf dem Zerpflücken von Sinn, sondern auf der Neuorganisation von Pluralität und Differenz. Dem Individuellen sollen eigenständige Räume geöffnet werden, die in einem Prozess von Begegnung und Austausch zusammengeführt werden und darüber Gemeinschaft konstituieren. In diese Gemeinschaft sollten permanent neue Bedeutungen eingespeist, in ihr Minoritäten und Protest formal repräsentiert werden, um die »Vielfalt in der Einheit« zu wahren und die Verkrustung der repräsentativen Demokratie aufzulösen.77 Dabei spielte Transparenz durchaus eine Rolle, denn sie gewährleistet nach wie vor eine Kontrolle des parlamentarischen Geschehens, ihr Versprechen der reinen Rationalität wird aber subvertiert: Zwar kann man alles transparent machen, dahinter wird aber nur eine umso stärkere Pluralität, Unsicherheit und Uneindeutigkeit erkennbar, die auf eine Praxis des gemeinsamen Kennenlernens und Deutens angewiesen ist. Öffentlichkeit erhält daher eine andere Konnotation als im Transparenzmodell: Sie ist in erster Linie ein Ort konkreter Begegnung. Demokratie funktioniert demnach nicht als ein Regieren auf Distanz, als formaler Mechanismus mit Anreizen und Sanktionen. Stattdessen sei die Demokratie auf eine plurale und situative Praxis angewiesen, die auf formale Gestaltung zurückgreifen kann, sich darin aber nicht erschöpfen darf.

73 Vgl. Behnischs Kommentar zu den Entwürfen in Spieker 2005, S. 267. 74 Behnisch 1992, S. 105. 75 Siehe Behnisch in Spieker 2005, S. 60. Zur Unregierbarkeitsdebatte vgl. Metzler 2008; die deutsche Technokratiedebatte ist zeitgenössisch dokumentiert in Koch/Senghaas (Hrsg.) 1970. 76 Vgl. Spieker 2005, S. 239-242, 320. 77 So im Erläuterungsbericht zur zweiten Überarbeitungsstufe Bundesbauten in Bonn, Januar 1975, zit. nach Spieker 2005, S. 278; zum Problem der Verkrustung S. 280.

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5. Schluss: Die Politik der Transparenz Die drei Stationen des Transparenzdenkens und -bauens bieten drei zentrale Einsichten an: Erstens entwickelte sich aus dem Assoziationsraum durchsichtigen Glases, also Transparenz im denotierten Sinn, eine Regierungslogik, die die Reduktion von Kommunikation auf reine, eineindeutige Information zum Programm macht und mit Mitteln der Formalisierung umsetzt. Transparenz erweist sich also als eine ikonische Logik, aus der heraus eine utilitaristische demokratische Ordnung gestaltet wird, um die Vielzahl der Menschen und Interessen funktional im Interesse der größten Zahl anzuordnen. Damit muss – zweitens – die Vorstellung relativiert werden, es handele sich bei der modernen Sachlichkeit um ›bloße‹ Zweckarchitektur, die auf das schöne Ornament und ein politisches Bekenntnis verzichte. Die Geschichte der Transparenz zeigt vielmehr, dass der Ikonoklasmus selbst ein politisches Programm war, mit dem um die Durchsetzung politischer Überzeugungen geworben wurde, die sozialstrukturell auf den aufstrebenden Mittelschichten, epistemologisch auf dem Evidenzglauben der Mechanik fußte. Besonders deutlich wird dies an dem Paradoxon, dass Bentham Metaphorik verbannen will, Transparenz selbst aber als Metapher auf Politik und Management überträgt und ikonografisch festhält: Sie war für Bentham der Gegenentwurf zur politischen Logik und Symbolik der Personalität.78 Erst wenn dieser »Ursprung« im politischen Handgemenge vergessen wird, kann die Funktionalitäts- und Sachlichkeitsrhetorik als nichts Anderes als ästhetische Langeweile verkannt werden. Denn es handelt sich bei den transparenten Bauten keineswegs um ein »Absterben politischer Symbolik«79, das nur noch den funktionalen Zweckbau übriglasse, sondern um die Durchsetzung eines spezifischen Demokratieverständnisses, das Transparenz als Instrument und Symbol für formale Rationalität und prozessuale Reinigung nutzt. Erkennt man den ikonologischen Gehalt nicht mehr, ist aus der strategischen Metapher eine tote Metapher geworden, derer man sich wie selbstverständlich bedient. Damit kauft man sich aber potenziell auch das zugehörige Demokratieverständnis ein. Dagegen lässt sich – drittens, und dies war das Anliegen dieses Artikels – deutlich machen, dass dieses Demokratieverständnis ein historisch-spezifisches ist, dessen Passfähigkeit und Konsequenzen für die Demokratie normativ und empirisch zu überprüfen sind. In der Praxis kann man konstatieren, dass Transparenz die selbstgemachten Versprechen oft unterläuft. So hielt Gropius’ idealisierte Glasästhetik nicht immer den versprochenen Funktionalismus ein, denn die großen Fenster erwiesen sich als Kältebrücken, wie sich beispielsweise an der Mustersied-

78 Damit kann man Manows These (2011), dass der Ikonoklasmus der Demokratie ein ideologisches Wunschdenken sei, weil man nur den Königskörper in einer Reihe substitutiver Akte durch einen anderen Kollektivkörper ersetzt hätte, einen zweiten Aspekt hinzufügen: Selbst dort, wo die Körpermetaphorik durch die Transparenzmetaphorik in den Hintergrund gedrängt wird, kann man am Ikonoklasmus nicht festhalten. 79 Von Beyme 2004, S. 360.

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lung in Dessau-Törten zeigen lässt.80 Selbst Tauts »Glashaus«, das auf die Abkehr vom Utilitarismus und die Hinwendung zu einer gereinigten Innerlichkeit abstellte, wurde zu großen Teilen von der Glasindustrie finanziert, um ihr als Werbemittel zu dienen.81 Schließlich lässt sich systematisch ein Paradox in der Idee der Evidenzgenerierung durch Transparenz ausmachen, die Bentham zur Grundlage eines von Einzelinteressen bereinigten, rationalen Urteils machte: Wenn die Transparenzpraktiken mehr und mehr Informationen generieren, verschwindet die angestrebte Transparenz wieder. Statt nach dem gut kaschierten Geheimversteck, sucht man nun nach der Nadel im Heuhaufen. Politik wird also durch mehr und mehr Informationen eher opaker und unsicherer. Hierfür bedarf es dann einer anderen Lösungsstrategie.82 Im Neubau des Bonner Plenargebäudes wird diese paradoxe Situation der Transparenz in Szene gesetzt, indem die Durchsichtigkeit des Gebäudes gerade nicht das eineindeutige Urteil versprach, sondern den Blick auf die unabschließbaren und permanent veränderlichen Wahrnehmungen und Deutungen freigab. Dabei hatte Behnisch eine Verkrustung der Demokratie und die Entfremdung der Menschen als Folgen des formalen Rationalismus diagnostiziert, und er meinte damit sowohl das Demokratiemodell als auch die Architekturströmung, der er selbst einmal angehört hatte. In diesem Sinne lässt sich bei der ikonologischen Untersuchung des Plenargebäudes ein Abarbeiten an den Formprinzipien und Idealen der Transparenz erkennen. Dieses kritisch-reflektierende Unterfangen war die Grundlage dafür, dass Behnischs Gebäude sich der Transparenz und ihrem gläsernen Material in einer grundlegend transformierten Art anverwandeln konnte. Da die Entwurfs- und Bauphase in jener Zeit liegen, als der heutige Transparenzdiskurs an Fahrt gewann, lässt sich darin auch ein Kommentar auf diese Geschichte der Gegenwart sehen. Transparenz wurde dabei insbesondere von Seiten des New Public Managements ins Spiel gebracht, um eine Antwort auf die Regierbarkeitskrise der 1970er Jahre zu geben. Dabei diente Transparenz als Mittel, um Informationen über das politische und staatliche Handeln zu generieren und die Rationalität der Akteure von der Sicherung der eigenen Position auf ein rationales Urteil umzusteuern. Die Informationslage würde, so die Hintergrundannahme, eine effizientere Politik generieren als dies bisher der Fall gewesen sei.83 Dabei war die neue Computer-Technologie der Hoffnungsträger der Transparenz. Auch metaphorisch lässt sich Transparenz hiermit gut verbinden, hatten doch schon die Bauhaus-Theoretiker auf die Materialität übersteigende und verflüssigende Eigen80 Steets 2015, S. 121f. 81 Ikelaar 1996, S. 50. 82 Zu den nicht-intendierten Effekten von Transparenz siehe meine Analysen zu Bentham und zur Transparenz der Gegenwart (Rzepka 2013, S. 115-130; August 2018); zu letzterem vgl. auch Baumann 2014. 83 Transparenz erscheint dabei auch als monitoring, die Formalisierung des Handelns wird durch performance indicators gesteigert und efficiancy als Handlungsziel ausgegeben. Vgl. ausführlich August 2017; einführend zum New Public Management Christensen, Lægreid 2011; zum Zusammenhang mit Bentham auch Hood 2002.

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schaft des Glases hingewiesen: »Kein Material überwindet so sehr die Materie wie das Glas.«84 Hierin besteht auch der Unterschied zur einfachen Lichtmetaphorik: Es geht nicht nur darum, den Lichtkegel zu vergrößern oder zu verschieben. Es geht darum, die Körper selbst zu verändern. Transparenz kann daher sehr gut den entmaterialisierten Strom der Informationen im Raum des Digitalen symbolisieren, der die harte Trennung von sozialen und politischen Räumen aufhebt. Dabei haftet ihr immer noch die eine mechanische Vorstellung von formaler Rationalität und sakraler Reinheit an: Wenn nur ausreichend Informationen zur Verfügung stünden, würde ein rationales Urteil dem Gemeinwohl automatisch dienen. Dies verbindet die zivilgesellschaftlichen Rufe nach Open Data mit der Überwachungsinfrastruktur jenes NSA-Programms, das nicht zufällig Prism heißen dürfte. Im Plenarbau des Bundeshauses zeichnen sich die Zweifel ab, die man an diesem rationalistischen Programm haben konnte, und es demonstriert einen Versuch der kritisch eingehegten Teilnutzung von Transparenz. Literaturverzeichnis Arndt, Adolf 1965. »Das zeitgerechte Parlamentsgebäude«, in Geist der Politik. Reden, S. 238-255. Berlin: Literarisches Colloquium. August, Vincent 2018. »Theorie und Praxis der Transparenz. Eine Zwischenbilanz«, in Berliner Blätter, 78 (= Sonderheft »Transparenz«, hrsg. v. Heibges, Maren) [i. E.].85 Barnstone, Deborah A. 2005. The Transparent State. Architecture and politics in postwar Germany. London, New York: Routledge. Baumann, Max-Otto 2014. »Die schöne Transparenz-Norm und das Biest des Politischen: Paradoxe Folgen einer neuen Ideologie der Öffentlichkeit«, in Leviathan, 42, 3, S. 398–419. Behne, Adolf 2005 [1920]. »Glasarchitektur«, in Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, hrsg. v. Rübel, Daniel; Wagner, Monika; Wolff, Vera, S. 325-327. Berlin: Reimer. Behnisch & Partner 1993. Ein Gang durch die Ausstellung. Stuttgart: Hatje. Behnisch, Günter 1992. »Plenarbereich des Deutschen Bundestages in Bonn«, in Bauten 1952-1999, hrsg. v. Schmidt, Johann-Karl; Zeller, Ursula, S. 105-114. Stuttgart: Hatje. Bentham, Jeremy 1952. »[The Philosophy of Economic Science]«, in Jeremy Bentham’s Economic Writings. Critical Edition. Based on his printed Works and unprinted Manuscripts. Bd. 1, hrsg. v. Stark, Werner, S. 79-120. London: George Allen & Unwin. Bentham, Jeremy 1962 [1838-43]. The Works of Jeremy Bentham, 11 Bände, hrsg. v. Bowring, John, Nachdruck, http://oll.libertyfund.org/titles/bentham-works-of-jeremy-bentham-11-v ols (Zugriff vom 01.05.2017). New York: Russel & Russel. Bentham, Jeremy 1999 [1791]. »An Essay on Political Tactics, or Inquiries concerning the Discipline and Mode of Proceeding proper to be Observed in Political Assemblies: Principally Applied to the Practice of the British Parliament, and to the Constitution and Situation of the National Assembly of France«, in The Collected Works of Jeremy Bentham. Political Tactics, hrsg. v. James, Michael; Blamires, Cyprian; Pease-Watkin, Catherine, S. 13-156. Oxford: Clarendon. Bentham, Jeremy 2012. Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution, hrsg. v. Peter Niesen. Berlin: Akademie. Beyme, Klaus von 2004. »Politische Ikonologie der modernen Architektur«, in Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, hrsg. v. Schwelling, Birgit, S. 351-372. Wiesbaden: Springer VS.

84 Behne 2005 [1920], S. 326. 85 Weitere Publikationen sind mit dem Geburtsnamen Vincent Rzepka verzeichnet.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Bentham 1962 [1838-1843], Bd. 4, figure d. Abb. 2: Ausschnitt aus Folie 124, Box 119a; Bentham Manuscripts Collection; University College London, Special Collections. Abb. 3: Ausschnitt aus Folie 174, Box 118; Bentham Manuscripts Collection; University College London, Special Collections. Abb. 4: Platz 1927, Tafel XVII. Abb. 5: Fotografie von © Ezra Stoller/Esto, Sammlung des Canadian Centre for Architecture (Montreal), entnommen aus Lambert 2013, S. 87. Abb. 6: Deutscher Werkbund 1915, S. 77. Abb. 7: Deutscher Werkbund 1915, S. 79. Abb. 8: © World Conference Center Bonn. Abb. 9: © World Conference Center Bonn. Abb. 10: © World Conference Center Bonn.

Michael Minkenberg

Hauptstadt und Repräsentation: Politik und Architektur im Regimevergleich1

1. Einleitung Weltweit erfüllen Hauptstädte über verschiedene Epochen und Regime hinweg mehrere grundsätzliche Funktionen, zu denen insbesondere politisch-kulturelle gehören; sie stellen eine Bühne für politische und kulturelle Spektakel und Rituale dar, mit denen auf höchster staatlicher Ebene den Bürgern Bedeutung kommuniziert wird. Damit tragen sie zum einen zur »Erfindung von Traditionen« (Hobsbawm2) bei, die sich in Identitäten niederschlagen; zum anderen werden bereits vorhandene Identitäten wie auch Differenzen in ihnen und der baulichen Ausgestaltung repräsentiert. Es ist vor allem diese auf Integration des Gemeinwesens zielende Repräsentationsfunktion, welche Hauptstädte auszeichnet. Dabei kann die Verknüpfung von Repräsentation und Identitätsbildung auf verschiedenen Ebenen stattfinden: der nationalen und subnationalen (Regionen oder Minderheiten), derjenigen des Regimes und seiner Werte, derjenigen der Bauherren und der Planer und Architekten.3 Von diesen Ebenen der Verknüpfung interessiert im vorliegenden Beitrag vor allem die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen politischem Regime und der Gestaltung von Hauptstädten in modernen westlichen Regimen, wobei der Fokus vor allem auf dem regimespezifischen Input in das Hauptstadtdesign liegt.4 Denn Hauptstädte und öffentliche Architektur kommunizieren auf ganz besondere Weise politische Botschaften: wenn nach Intentionen politischer Symbolik in der Architektur gesucht wird, sollte sie am ehesten dort zu finden sein – was allerdings nicht bedeutet, dass von politischer Symbolik immer auf die zugrunde liegenden Intentionen zurückgeschlossen werden kann (siehe hierzu weiter unten). Die in der Einleitung der Herausgeber thematisierte »Spannung zwischen demokratischer Diversitätsikonographie und undemokratischen, wenn nicht autoritären Vorspiegelungen von Zugeständnissen an heterogene Bevölkerungsgruppen« soll im Lichte des Regimevergleichs mit Blick auf die Repräsentationsfunktionen von Hauptstädten demokratischer Staaten diskutiert werden. Hierbei wird auf eine chronologische Reihenfolge verzichtet, stattdessen fokussiert sich die Darlegung nach einigen konzeptionellen Erörterungen auf »autokratische Architektur« (Rom, Astana) als Kontrastfolie für den Regimevergleich, auf »neue Hauptstädte 1 Ich danke meinen Mitarbeiterinnen an der Europa-Universität Viadrina, insbesondere Frau Lena Schacht, den Herausgebern dieses Sonderbandes sowie Markus Dauss für viele wertevolle Hinweise und Anregungen. 2 Hobsbawm 1983. 3 Vgl. etwa Daum 2005; Jones 2011; Minkenberg 2014a, 2017; Sonne 2003; Vale 2008. 4 Vgl. hierzu Minkenberg 2014b, S. 11 – Abb. 0.1.

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in neuen demokratischen Nationen« (Washington DC, Canberra und Brasília) und auf »alte Hauptstädte in modernen Demokratien« (Paris und Berlin). Der Beitrag zielt auf den Nachweis ab, dass die oben genannte Spannung nicht eigentlich regimespezifisch ist. Denn einerseits haben nicht nur die architektonischen Visionen autokratischer Herrscher bereits in der Umsetzung Brüche erfahren und Differenzen zugelassen, andererseits haben auch demokratische Hauptstadtplanungen und -designs Diversität nur in Ansätzen berücksichtigt, wenn nicht sogar bis in die jüngste Vergangenheit komplett ignoriert. 2. Hauptstadt und Repräsentation im Lichte der Regimelehre Zweifellos können die nationalen Hauptstädte wie jede andere Stadt untersucht werden; sie unterscheiden sich aber von diesen grundsätzlich darin, dass sie den Sitz der nationalen Regierungen bilden.5 Sie sind der Ort der bedeutendsten nationalen Institutionen und Organisationen und erhalten dadurch eine spezifische politische Bedeutung für das Gemeinwesen, die sich u.a. in der Architektur und der Gestaltung des öffentlichen Raums bzw. in der Staatsarchitektur ausdrückt. Neben den politischen spielen daher auch kulturelle Funktionen eine entscheidende Rolle, wobei beide Funktionen eng miteinander verknüpft sind. So verweist Amos Rapoport darauf, dass Hauptstädte in allen Kulturen und Epochen als sogenannte »ruling machines« mit dem Anspruch einer gewissen Zentralität im politischen System funktionieren und damit verbunden immer auch eine Bühne für politische und kulturelle Spektakel, Theater und Rituale darstellen, um auf hoher Ebene politische Macht zu inszenieren und den Gesellschaftsmitgliedern Bedeutung zu kommunizieren.6 Der Hauptstadtarchitektur als Staatsarchitektur kommt dabei eine zentrale Rolle als Bühne nicht nur im übertragenen, sondern auch im materiellen Sinne zu.7 Dass dies keine Einbahnstraße »von oben nach unten« ist, sondern zwischen den Herrschenden und den Beherrschten stets vermittelt werden muss, gilt nicht nur für demokratische Regime: »Es reicht nicht, dass ein Kunstwerk dem Herrscher gefällt. Das Volk muss sich und seine Vorstellungen darin wiedererkennen können«, allerdings mit der Einschränkung »je weniger demokratisch ein politisches System, umso kleiner kann die eigentliche Zielgruppe einer ikonologischen Botschaft sein«8, zumal autokratische Regime durch institutionelle Steuerung und politische Pädagogik inklusive der Geschmacksbildung ihre Zielgruppen auch oft selbst generieren. Indem eine Hauptstadt das Gemeinwesen nicht nur zu organisieren und zu regieren, sondern auch zu repräsentieren beansprucht, zielt sie in ihrer Funktionalität auch auf die Integration des Gemeinwesens, vor allem, aber nicht ausschließlich, im Zeitalter der Nationsbildung: »A capital is the space that symbolically in5 6 7 8

Vgl. im Folgenden die Beiträge zu Minkenberg 2014a, insbes. Minkenberg 2014b. Rapoport 1993, S. 38. Vgl. Steets 2015, 177-203; auch Jones 2011; Lasswell 1979; Latour 2005. Von Beyme 2004, S. 356.

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tegrates the social, ethnic, religious, or political diversity of a country. A capital creates or enhances the national ideology, political values, or common political beliefs of a state«.9 Mittels ihrer Architektur und Stadtplanung bzw. ihres design stellt die Hauptstadt gebaute Räume bereit, in denen eine Sprache der Repräsentation für das gesamte Gemeinwesen ihren Ausdruck findet. Allerdings ist die nationale Integration mittels Hauptstadtbau eher eine unerfüllte Forderung denn Realität. Sie kann die realen Differenzen in der Gesellschaft genauso wenig aufheben wie das Gefälle zwischen Herrschaft und Beherrschten sowie zwischen Zentrum und Peripherie. Gleichwohl setzt genau hier der Hauptstadtbau und seine spezifische Symbolik in Gebäuden, Monumenten, Plätzen u.a. in der Ära der Nationenbildung an. Lawrence Vale fasst dies folgendermaßen zusammen: »Architecture and planning are often used as tools for promoting something called national identity, but many dimensions of this phenomenon remain unarticulated«.10 Insbesondere der von Vale identifizierte Referenzrahmen der Artikulation nationaler Identität in den Spannungsfeldern von nationaler und subnationaler Identität (etwa regionale Identitäten und Loyalitäten, welche den Präferenzen des Regimes gegenüberstehen) sowie nationaler und persönlicher Identität (die ästhetischen Vorlieben einzelner Eliten oder Herrschender sowie die Agenda der beauftragten Architekten) sind hier von Bedeutung.11 Vor diesem Hintergrund können Hauptstadtplanung und Architektur sowohl den demokratischen oder autokratischen Herrschaftstypus als auch die verschiedenen Bedeutungen, welche die politische Führung der Architektur zuzuschreiben versucht, widerspiegeln.12 Allerdings sind die in der Hauptstadtgestaltung zum Ausdruck kommenden Spannungen zwischen den verschiedenen Identitäten keineswegs ein Charakteristikum der Nationalstaaten. Bereits im vornationalen Zeitalter entstanden Konflikte zwischen den Zentren sich konsolidierender Territorialstaaten und den Regionen bzw. der Peripherie. So bemerkt Lewis Mumford für die Zeit des Absolutismus: »In the capital, provincial habits, customs, and dialects were melted down and recast in the image of the royal court: this became the socalled national image, national by prescription and imitative fashion rather than in origin… The consolidation of power in the political capital was accompanied by a loss of power and initiative in the smaller centers«.13 Eine Hauptstadt repräsentiert also nicht nur das politische Gemeinwesen (oder die Nation), sondern mehr als jede andere Metropole absorbiert und transformiert sie es. Dabei hinterlassen einige Epochen eine symbolische Sprache, die weit über den historischen Entstehungszusammenhang hinaus wirkt; das betrifft in Europa vor allem die Antike mit den Formen der Klassik oder – für die Hautpstadtgestaltung noch wichtiger – den Barock. So fand der ursprünglich im Rahmen von Residenzstädten ent9 10 11 12 13

Vgl. Daum 2005, S. 13f. Vale 2008, S. 52. Ebd., S. 53-62; vgl. auch Jones 2011, S. 50-53; Minkenberg 2014b, S. 6-12. Vgl. Rapoport 1993, S. 35-43; Schatz 2004a, S. 117f. Mumford 1961, S. 354f.

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faltete barocke Stil in Architektur und Stadtplanung, mit den Merkmalen der Axialität und Geometrie, eine monumentale Ausgestaltung in den größeren Kapitalen wie Paris, Madrid, St. Petersburg, Wien und Berlin, die bis in die heutige Zeit exemplarisch wirkt (siehe unten). Zusätzlich muss bei Fragen der Repräsentationsfunktion von Hauptstädten in Nationalstaaten und der diese prägenden Politisierung der Architektur und des städtischen Raumes analytisch unterschieden werden zwischen (a) der Repräsentation nationaler Identität und (b) der Repräsentation des jeweiligen Regimes, das den Hauptstadtbau bzw. -umbau betreibt. Eine Diskussion dieser Funktionen kommt nicht umhin, sich von essenzialistischen Nationskonzepten, die dem Hauptstadtbau in der Ära der Nationsbildung durchaus zugrunde lagen, ab- und konstruktivistischen Nationskonzepten im Sinne von Benedict Andersons »imagined communities« zuzuwenden.14 Demzufolge sind moderne Nationen ebenso wie ihre Hauptstädte als Konstruktionen nationaler Politik und Bewegungen aufzufassen, wobei dann zu unterscheiden wäre, ob eine Nation sich eher dem Typ ethno-kultureller Nationen oder dem der Staats- oder politischen Nation zuzuordnen lässt.15 Diese Unterscheidung ist insofern bedeutsam, als sie unabhängig vom Regimecharakter Auskunft über die Bandbreite der Repräsentation in Staatsarchitektur und Hauptstadt gibt: in ethnischen Nationen dürfte die visuelle Integration von Differentem oder bislang Ausgeschlossenem (siehe Einleitung dieses Sonderbandes) ungleich weniger ausgeprägt sein als in politischen Nationen. Die zweite Dimension von Repräsentation betrifft die Regimeebene und damit eine Politisierung der Architektur im engeren Sinn. Die architektonische Gestaltung einer Hauptstadt ist immer der Ausdruck besonderer politischer Interessen. Staatsarchitektur repräsentiert nicht nur eine nationale Identität, sondern spiegelt auch den Staat bzw. das politische Regime wider: »Government buildings are […] an attempt to build government and to support specific regimes. […] We can, therefore, learn much about a political regime by observing closely what it builds«.16 Typologien politischer Regime sind so alt wie das vergleichende Denken über Politik und lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Im Allgemeinen lassen sich alle Regime hinsichtlich ihrer demokratischen oder ihrer autokratischen Ausprägung unterschieden, und weltgeschichtlich betrachtet ist unstrittig, dass der überwiegende Teil der Herrschaftsordnungen eher dem autokratischen Typ zuzuordnen ist.17 Daran knüpft dann die vordergründig ebenso plausible Überlegung an, dass autokratische Herrscher anders bauen als demokratische Regime.18 In der Tat: von der Antike bis zur Moderne bauten die babylonischen Könige, die Imperatoren von Rom und Konstantinopel ebenso wie moderne Autokraten ihre 14 15 16 17

Anderson 1983. Vgl. hierzu Giesen 1991. Vale 2008, S. 3. Vgl. Berg-Schlosser und Stammen 2013, S. 182-206; Merkel 2010, S. 24; Siehe auch Dahl 1989. 18 Vgl. etwa Warnke 1984, S. 15; Sonne 2003, S. 35.

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Hauptstädte so, dass sie ihre persönlichen Visionen, wenn nicht gar den persönlichen Geschmack, mit minimalen politischen Beschränkungen und ohne Rücksicht auf partikulare Repräsentationsbedürfnisse in die jeweilige Staatsarchitektur einfließen ließen (siehe nächsten Abschnitt).19 Es gilt aber, wie andernorts gezeigt20, zwischen regimespezifischem Verfahren und architektonischem Ergebnis zu unterscheiden: so lässt sich in der Moderne in bestimmten zeitgeschichtlichen Kontexten eine formale Angleichung von Architektur in Hauptstädten unterschiedlicher Regime (z.B. Berlin, Paris und Washington in den 1930er Jahren) beobachten.21 Im Gegensatz zum autokratischen Bauen ist der Zusammenhang zwischen politischer Symbolik in Hauptstädten und den verschiedenen Institutionen, Interessen und Identitäten im demokratischen Kontext weit weniger klar. Da die moderne Demokratie einen historisch beispiellosen Grad an Komplexität und Differenzierung bezüglich politischer Ordnungen und sozialer Beziehungen aufweist, spiegeln Gestaltung und Bau von Hauptstädten diese Komplexität erwartungsgemäß wider. Hauptstädte in Demokratien stehen mithin vor einer besonderen Herausforderung: wie jene in den alten Monarchien und modernen autokratischen Regimen sollen sie den Willen und die Vision des Souveräns zum Ausdruck bringen. Aber hier ist der Souverän eher abstrakt und kollektiv: das Volk. Hauptstädte in Demokratien müssen also mehr Funktionen als die in anderen Regimen erfüllen. Sie müssen eine einheitliche Vision der Nation artikulieren, symbolisch die Vielfalt im Land integrieren und eine demokratische Sprache in ihrer Symbolik finden.22 Auf der Suche nach dieser demokratischen Sprache gelangt man in der Literatur schnell zu Vorschlägen, das demokratische Versprechen von Transparenz und Zurechnungsfähigkeit in der Architektur reflektiert zu sehen, eine Architektur, welche die Menschen als Bürger und nicht als Untertanen behandelt.23 Ein solcher Ansatz schließt per definitionem Monumentalität und »Überwältigungsarchitektur« sowie »barocke« Axialität und Symmetrie aus.24 Ob aber eine »›Rechnungshof-Architektur‹, in der die Institutionen der Republik

19 Vgl. Minkenberg 2017; Vale 2008. Allerdings wäre auch darauf zu verweisen, dass bereits in der Antike diese Formel nur bedingt greift: zwar war in Babylon wie auch in Rom eine monumentale Überwältigungsarchitektur anzutreffen, doch konnte auch die radikale Demokratie in Athen mit imposanter Monumentalität aufwarten, ganz im Gegensatz zum oligarchischen Sparta. Andererseits fielen die wichtigsten politischen Bauten wie die Volksversammlungsstätte auf der Pnyx sowie Bouleuterion und Tholos (Rat der 500) – die demokratischen Äquivalente monarchischer Paläste – weit bescheidener aus als die religiösen Prachtbauten auf der Akropolis, welche zugleich der Verherrlichung der Stadt und damit des demos von Athen dienten (vgl. Schneider und Höcker 2010). 20 Minkenbeg 2014c. 21 Vgl. Schirmer 2005, insbes. S. 128f., 151-153. Siehe hierzu auch weiter unten. 22 Vgl. Sonne 2003, S. 159, mit Bezug auf Canberra. Siehe auch Minkenberg 2014c, S. 56-60. 23 Vgl. Arndt 1996. 24 Vgl. von Beyme 2004, S. 362, mit Verweis auf Saul Steinberg.

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zwar Unterkunft, doch kein image finden«25 oder »transparente« Baumaterialien wie Glas für eine demokratische Zurechnungsfähigkeit und Transparenz des politischen Prozesses stehen (siehe dazu den Beitrag von Vincent August in diesem Heft), sei dahingestellt; sie stoßen angesichts der modernen Sicherheitsbedürfnisse spätestens ab den 1970er Jahren (und nicht erst seit 9/11) ohnehin auf enge Grenzen.26 Einige Kritiker wie Claude Lefort gehen noch einen Schritt weiter und behaupten, dass es unmöglich sei, demokratische Symbole der Macht zu schaffen, da das Volk nicht »repräsentierbar« sei27, was allerdings eine radikal rousseauistische Lesart darstellt, die sich auch gegen die repräsentative Demokratie als Regime wenden lässt. Am besten können urbane Formen demokratische Werte erst durch ihre Nutzung, d.h. die Bereitstellung einer Bühne oder eines Rahmens für demokratische Performanz, zum Ausdruck bringen, d.h. sie fungieren eher als Symptome denn als Symbole.28 Das wirft die Frage auf, wie Repräsentation in Hauptstädten, zumal in repräsentativen Demokratien, begrifflich und konzeptionell zu fassen ist und welche ihrer Dimensionen, als Idee, als Verkörperung oder als Symbolisierung, betrachtet werden sollen.29 Diese Diskussion kann hier nicht aufgegriffen werden, es liegt aber auf der Hand, dass im Folgenden Repräsentation vor allem im Sinne von Symbolisierung gemeint ist. In diesem Sinne können Hauptstädte in modernen Demokratien auf unterschiedlichen Ebenen als repräsentativ konfiguriert werden:30 (a) Sie repräsentieren die Nation als Ganzes, d.h. das Bild, welches die Nationen-Erbauer zur Verfügung gestellt haben, einschließlich des idealen Ortes für eine solche Stadt als nationales Symbol; (b) sie repräsentieren das Versprechen der Demokratie, indem die Werte der Inklusion und des politischen Streits an öffentlichen Orten und Gebäuden kommuniziert werden31 und (c) sie verkörpern die Praxis der Repräsentation, indem sie den physischen Raum für die Ausübung der demokratischen Politik zur Verfügung stellen, der diese Praktiken erleichtert und den demokratischen Prinzipien (das Volk als Souverän, Gewaltenteilung u.a.) nicht zuwiderläuft.32 Vor diesem Hintergrund ist für Demokratien eine Ikonogra25 Klotz 1984, S. 400; vgl. auch von Beyme 2014, S. 108-113. 26 Vgl. von Beyme 2004, S. 361; Minkenberg 2017, S. 496. Zur Kritik des unterstellten Zusammenhangs von demokratischer Transparenz und dem Baumaterial Glas, siehe auch Moore 2013, S. 185f. 27 Vgl. Lefort 1990 sowie Einleitung der Herausgebenden des vorliegenden Sonderbandes. 28 Vgl. Braunfels 1979, S. 9-11; Sonne 2003, S. 29; Parkinson 2012, insbes. S. 62-69. 29 Vgl. hierzu Sonne 2003, S. 36f. 30 Vgl. Nerdinger 1996, S. 17-24; Sonne 2003, S. 35-44, 294-315; Vale 2008, S. 44-55 (Kap. 2). 31 Für autokratische Regime gilt nach Sonne (2003, S. 35), dass hier die architektonische Repräsentation eine ästhetische Kompensation für gebrochene Versprechungen manifestiert. Es wäre zu überlegen, ob sich dieser Gedanke nicht auch auf die Demokratie übertragen lässt. 32 Vgl. Parkinson 2012.

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phie gefordert worden, welche zugleich Identitäts- und Divergenzrepräsentation leistet, was die Frage aufwirft, welche Identitäten und Differenzen repräsentiert werden sollen, damit »e pluribus unum« als Ausdruck auch einer demokratischen Hauptstadt und Staatsarchitektur gelten kann. Es bieten sich folgende Dimensionen von Differenzrepräsentation an: (1) Differenzen als unterschiedliche historische Traditionen, die in der Hauptstadt demokratieverträglich repräsentiert werden. Denn von den Sonderfällen komplett neu gebauter Hauptstädte abgesehen (siehe übernächsten Abschnitt), ist jeder Versuch, Anzeichen einer demokratischen Qualität von Hauptstadtarchitektur in der gebauten Welt zu finden, mit dem Problem konfrontiert, dass die Entscheidung, eine Hauptstadt zu bauen oder existierende Städte in solche umzuwandeln, in der Logik vordemokratischer Regime gefallen ist.33 So zeigt z.B. die Geschichte der Parlamentsarchitektur eine Adaption vordemokratischer Stile und Stoffe, im Sinne einer Integration von bereits Vorhandenem (etwa die Sitzordnung im britischen Unterhaus) wie auch als bewusster Anschluss an ältere Traditionen (z.B. der Rückgriff auf die Gotik in London und Budapest).34 Selbst wenn bewusste Anstrengungen unternommen werden, Regierungsgebäude und öffentliche Architektur in einer demokratischen Sprache auszudrücken, stammt die Syntax oft aus vordemokratischen Zeiten. Die Betonung der Axialität und Geometrie, die Anlage großer leerer Räume und Aussichtspunkte sowie die Monumentalität der wichtigsten öffentlichen Gebäude tragen symbolische Botschaften aus einer undemokratischen Vergangenheit in die Gegenwart, was nicht zuletzt dem Versuch geschuldet ist, durch Staatsarchitektur nationale Identität (in den meisten Fällen durch Rückgriff auf vordemokratische Zeiten und ihre Symbole) und die Größe der Nation baulich zum Ausdruck zu bringen.35 (2) Die Differenz zwischen oben und unten. Im Gegensatz zum klassischen Athen sind moderne Demokratien von einer Arbeitsteilung zwischen dem Volk und denen, denen das Volk die politische Arbeit im engeren Sinne anvertraut hat, geprägt. Die moderne Demokratie ist in diesem Sinne elitär und repräsentativ, auch wo wie in der Schweiz eine beträchtliche Dosis Direktdemokratie anzutreffen ist. Damit die politische Praxis funktioniert, muss das demokratische Versprechen – Inklusion, Teilhabe, Transparenz, Rechenschaftspflicht – bis zu einem gewissen Grad zurückweichen. Die funktionalen Anforderungen an die Arbeit der Regierung setzt ein hierarchisches Verhältnis in einer vertikalen Ordnung von Status und Macht zwischen denen, die regieren und denen, die regiert werden voraus. Wenn Bürger und Bürgerinnen die Hauptstadt besuchen, dann eher in der Rolle der Zuschauer als der der Teilnehmer.36 Es ist dies die Differenz zwischen Hauptstädten als Symbolen der Ermächtigung (»Wir das Volk«, in Stein und Ge-

33 34 35 36

Vgl. Hall 1997, S. 47. Vgl. von Beyme 1998, S. 353; siehe auch Manow 2008. Vgl. Vale 2008, Kap. 2. Vgl. hierzu Parkinson 2012, S. 146-172 (Kap. 7).

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bäuden) und den Realitäten der Entfremdung (»Wir die politische Klasse«, abgeschirmt vom Volk wie von anderen Machtzentren).37 (3) Differenz als institutionalisierte Teilung der Macht in verschiedene Gewalten oder Machtzentren. Hier ist von Bedeutung, um welchen Demokratietyp es sich handelt, ob Mehrheitsdemokratie (Westminster-Modell) oder Konsensdemokratie, ob präsidentielle oder parlamentarische Demokratie, ob föderale oder unitarische demokratische Ordnung.38 (a) Kommt die Machtverteilung, etwa das Eigengewicht der Exekutive (in präsidentiellen Demokratien) oder die strikte Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative in der Staatsarchitektur zur Geltung? (b) Sind die subnationalen Einheiten im Nationalstaat, etwas Gliedstaaten oder Regionen als Gegengewicht zur Zentrale, in der Hauptstadt sichtbar repräsentiert? (4) Schließlich kann die Diversität des Volkes – des Souveräns – ein Element der Differenzrepräsentation in Staatsarchitektur sein. Denn unterhalb der staatstheoretischen Ebene, auf welcher der Bevölkerung als Staatsvolk bzw. demos eine Homogenität bzw. Unteilbarkeit zugeschrieben wird, spielen gerade im Zeitalter zunehmender kultureller Pluralisierung, aber auch als Hinterlassenschaften europäischer Landnahme und Staatsbildung in anderen Weltteilen Minderheiten und Multikulturalismus eine nicht zu übersehende Rolle in der Politik. Multinationale Demokratien tragen dem durch institutionelle Arrangements Rechnung.39 Somit kann die Frage gestellt werden, inwiefern Demokratien – unter Umständen im Gegensatz zu Autokratien – diese Vielfalt auch in Hauptstadt und Staatsarchitektur zum Ausdruck bringen. 3. Autokratie und Architektur: klassische, moderne und postmoderne Identitätsrepräsentation Im antiken Rom war das Kaisertum der Inbegriff autokratischer Herrschaft im Sinne der Formel: Des Kaisers Worte und Taten waren das Gesetz.40 Dennoch waren die Möglichkeiten, persönliche Präferenzen in der Baupolitik zum Ausdruck zu bringen, insofern begrenzt, als sie die Beziehung zwischen dem Volk, insbesondere der städtischen plebs, und dem Kaiser auszubalancieren hatten – eine Hinterlassenschaft des republikanischen Roms. Diese Balance wurde durch die kaiserlichen Bauprojekte, begleitet von Spielen, Lebensmittel- und Wasserversorgung sowie anderen Aktivitäten als Akte der öffentlichen Wohltätigkeit erreicht.41 Während bereits Pompeius und Cäsar damit begonnen hatten, das Forum Romanum zu monumentalisieren, verschrieb sich Augustus der massiven Instandsetzung des Stadtzentrums mit einer Reihe von Projekten wie der Fertigstellung des Forums, dem Bau seines eigenen Forum Augustum, dem Friedensaltar (»Ara Pacis«) und 37 38 39 40 41

Taylor 1989, S. 80. Vgl. etwa Lijphart 1992, 2012. Vgl. Gagnon und Tully 2001; Kymlicka 2001. Vgl. Ewald und Noreña 2010, S. 4. Siehe Zanker 1997, 2010; Ewald und Noreña 2010.

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einem Haus auf dem Palatin, in welchem der Kaiser selbst lebte. Bei seinem Tod hinterließ Augustus ein vollständig neugestaltetes Forum als öffentlichen Raum, der das neue politische Regime sowie seine Familie repräsentierte.42 Diese Baupolitik wurde von vielen Kaisern fortgesetzt, welche ihre eigenen Paläste und Monumente wie etwa das Kolosseum (unter Vespasian) oder die verschiedenen Thermen hinzufügten, ohne die älteren Bauwerke zu ersetzen. Mit einigen wenigen Ausnahmen (wie beispielsweise Neros »Goldenem Haus«, das von seinen Nachfolgern wieder überbaut wurde) übertrafen die der öffentlichen Nutzung gewidmeten Gebäude die kaiserlichen, zur Selbstnutzung bestimmten Bauten an Größe und Pracht – ebenfalls eine republikanische Tradition.43 Insofern stellen diese Monumentalbauten eine doppelte Repräsentation dar, nämlich der kaiserlichen Macht und Familie und der res publica. Eine Repräsentation der verschiedenen Provinzen des Imperium im Rom – analog zu der der Phylen in Athen –44 war weder anzutreffen noch, vor dem Hintergrund der imperialen Ordnung und Idee, vorstellbar; vielmehr war Rom in allen Provinzen des Reiches präsent und durch von allen erkennbare Monumente und Symbole repräsentiert, z.B. durch die Bäder, welche zugleich Monumente und Angebote öffentlicher Wohltätigkeit waren. In keinem der nachfolgenden politischen Regime in Europas 2000jähriger Geschichte sollte das antike Rom noch einmal so präsent sein wie im italienischen Faschismus. Was dem »Dritten Rom« des neuen italienischen Nationalstaats an umfassender Planung und einheitlicher Gestaltung fehlte, versuchte Mussolini durch eine breite Palette faschistischer Symbolbauten aufzuholen, welche Rom innerhalb von fünf Jahren so groß, geordnet und mächtig machen sollte wie zu Augustus’ Zeiten. Dazu sollte die neue, die kaiserlichen Foren freilegende und die Trajanssäule mit dem Kolosseum verbindende Achse der Via dell’Impero, welcher 5.500 Wohnungen zum Opfer fielen, dienen. Diese Freilegung diente nicht allein der Bergung antiker Reste des imperialen Rom, sondern stellte auch einen Akt der Monumentalisierung Roms sowie der Kontrolle der Bevölkerung durch Umsiedlung dar.45 Ebenso als weitere Großprojekte der neue Hauptsitz der Faschistischen Partei; eine ganze Stadt, die für die Esposizione Universale di Roma (EUR) im Zusammenhang mit Mussolinis Bewerbung zur Ausrichtung der Weltausstellung 1942 gebaut werden sollte; sowie das Foro Mussolini als hochpolitisierter faschistischer Raum.46 Im Versuch, die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden, kombinierten diese Projekte Elemente des Klassizismus mit denen des Modernismus; gleichwohl blieb der Plan, Rom in eine neue Version der augusteischen Stadt umzubauen, Flickwerk. 42 Vgl. Muth 2014. 43 Zanker 2010. 44 Die im Zuge der Kleisthenischen Reformen 508/507 v.Chr. geschaffenen zehn künstlichen Stämme (Phylen) der athenischen polis wurden auf dem Altar der eponymen (namengebenden) Helden repräsentiert, welcher auf dem zentralen Platz Athens, der Agora, aufgestellt wurde, um die Identifikation der Bürger mit ihren jeweiligen Phylen sowie mit der polis als Ganzer zu fördern. Vgl. Goette/Hammerstaedt 2004, S. 132-135. 45 Vgl. Kirk 2014, S. 161. 46 Vgl. ebd., S. 159-169; vgl. auch Vale 2008, S. 35-36.

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Abb. 1: Das imperiale und das faschistische Rom: die Via dell’Impero (links) und das Forum Romanum (Mitte) (2015). Im Gegensatz zum antiken Rom und den folgenden modernen Fällen ist Astana die neue Hauptstadt eines sehr jungen Staates, der erst aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hervorging. Wie im alten Rom wird im Regime von Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew Politik in hierarchischer Weise von oben nach unten vollzogen, das Parlament und der Oberste Gerichtshof verfügen über keinerlei unabhängige Macht.47 Im Jahre 1994 kündigte der Staatschef an, dass die Hauptstadt von Almaty, der im Süden gelegenen Hauptstadt der kasachischen Provinz seit der Zarenzeit, nach Akmola in die Steppe des zentralen Nordens verlegt werden sollte, ein strategischer wie substanzieller Schritt im Prozess der Staats- und Nationenbildung.48 Dadurch sollten sezessionistische Tendenzen in den mehrheitlich russisch bevölkerten Gebieten der nördlichen Steppe verhindert werden; die inzwischen große kasachische Stadtbevölkerung macht die ehemalige russische Mehrheit zur Minderheit in der Region.49 Zugleich verschob sich das Verhältnis zwischen den drei großen sub-ethnischen Einheiten oder »Horden«: die neue Allianz von Nasarbajews eigener »Großer Horde« im Süden und der »Mittleren Horde« im Norden, wo Astana entstand, kontrolliert nunmehr die

47 Vgl. Schatz 2004b, S. 86-87. 48 Vgl. Aitken 2009, S. 229; Vale 2008: 153f. 49 Vgl. Dave 2007, S. 122f.

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»Kleine Horde«, die den Osten mit seinen enormen Öl – und Gasvorkommen dominiert.50 Schließlich kann die neue Hauptstadt als Integrationsinstrument innerhalb des Projektes der Staats – und Nationsbildung begriffen werden: Die neue Hauptstadt sollte ein stärkeres Gefühl der Zugehörigkeit aller Bewohner Kasachstans fördern und nicht nur den Bürgern, sondern auch der internationalen Gemeinschaft das Projekt einer idealen Stadt mit modernen, repräsentativen Bauwerken präsentieren. Statt einer Zurschaustellung reinen Monumentalismus’ herrscht eine eher funktionale Gestaltung und eine »eurasische« Symbolik vor, auch wenn zuweilen pompöse und größenwahnsinnig anmutende Designs die pragmatischen Erwägungen überschatten.51 Die zentrale Beteiligung Nasarbajews an diesem Vorhaben wurde durch die Formel »diversity of design but under one decision maker«52 zum Ausdruck gebracht. Die vom leitenden Architekten, dem Japaner Kishō Kurokawa, vorgesehene Offenheit der »metabolischen« Stadtentwicklung53 bedeutete eine Absage an ein einheitliches Design. Stattdessen ergab sich eine Ansammlung einzelner Gebäude, Plätze und Strukturen, darunter einige gute Beispiele internationaler zeitgenössischer Architektur.54 Dabei reflektieren wichtige öffentliche Gebäude in einem Großteil der Fälle spezielle Vorlieben oder sogar direkte Einmischung des Präsidenten; folglich erscheint Astana wie eine persönliche Zukunftsvision des starken Mannes im Land.55 Dies trifft vor allen Dingen auf das neue Regierungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstadtzentrum zu, das um eine große, monumentale OstWest-Achse, den Nurzhol Boulevard, herum erbaut wurde. Im Osten endet die Achse am Präsidentenpalast Ak Orda, der symmetrische, klassizistische Formen, die an das Weiße Haus in Washington DC erinnern (dieses jedoch in seiner Größe übertreffen), mit der lokalen Sprache der Kuppel und dem Turm in Blau und Gold, den Farben der Nationalflagge, kombiniert (siehe Abb. 2). Hinter dem Palast und von der Zentralachse nicht einsehbar erhebt sich Norman Fosters pyramidenförmiger Palast des Friedens und der Eintracht. Die Gebäude des Abgeordnetenhauses (Maschilis) in einem funktionalen Hochhausstil und des Senats im orientalischen Stil (das Gebäude ist ein Geschenk Saudi Arabiens) befinden sich wie auch das flache, aber monumentale, neo-klassizistische Gebäude des Obersten Gerichtshofes nahe des Präsidentenpalastes; ihrem politischen Status entsprechend sind die Parlamentsgebäude von der Zentralachse aus kaum erkennbar. 50 Vgl. Schatz 2004a, S. 129-130. Zur Rolle der drei »Horden« oder »Schüs« (kasachisch für »Abteilung«) in der politischen Organisation Kasachstans vor der Sowjetisierung, vgl. Dave 2007, S. 31-34. 51 Vgl. Meuser 2010, S. 232; Schatz 2004a, S. 127. 52 Aitken 2009, S. 222. 53 Vgl. Kurokawa 2014, S. 81; ders. 1991, S. 189-191. 54 Etwa das Chan Schatyr Einkaufszentrum von Norman Foster, die Emerald Towers des kanadischen Büros Zeidler Partnership Architects oder das Zentrale Konzerthaus des Italieners Manfredo Nicoletti; vgl. Meuser 2014, S. 141, 146, 166. 55 Vgl. Aitken 2009, S. 232; siehe auch Vale 2008, S. 154; Meuser 2010, S. 231f.

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Abb. 2: Astana, mit Blick nach Westen: Stadtzentrum mit Zentralem Konzerthaus, EFPK-Bürogebäude, Präsidentenpalast, Baiterek-Turm, Senathochhaus, Maschilis-Turm (von links nach rechts) (2010). In deren Zentrum erhebt sich der 97 Meter hohe Baiterek Turm, der angeblich von Nasarbajew selbst entworfen wurde56 und das mythische goldene Ei symbolisiert, das der Vogel Samruk in die Krone eines Pappelbaums gelegt haben soll (siehe Abb. 2). Der Turm markiert den Schnittpunkt der Ost-West-Achse mit der kürzeren Nord-Süd-Achse, deren Endpunkte das Außenministerium beziehungsweise das Verteidigungsministerium bilden, beide erbaut in pseudo-klassischem Stilmix mit kolossalen Säulen, der an mehreren Regierungsbauten in der neuen Hauptstadt anzutreffen ist.57 Das gegenüber liegende Ende der Ost-West-Achse beherbergt das Zentralgebäude der sich in staatlichem Besitz befindlichen Energiegesellschaft KasMunaiGas im Stile eines Hotel- und Casinogebäudes auf den Bahamas.58 Nicht weit davon steht die zentrale Moschee der Stadt, die größte Zentralasiens. Die Zentralachse führt an dem KasMunaiGas-Gebäude vorbei und endet am von Norman Foster entworfenen monumentalen, bislang aber wenig frequentierten Einkaufszentrum Chan Schatyr, welches der Form einer Jurte, 56 Vgl. Aitken 2009, S. 222; Meuser 2014, S. 151. 57 Vgl. Meuser 2014, S. 154. 58 Vgl. http://www.atlantisbahamas.com/rooms/royaltowers (Zugriff 21. April 2017). Die Royal Towers wurden 1998 fertig gestellt, fünf Jahre später entstand das KasMunaiGas-Gebäude in Astana; seit 2008 steht ein ähnlicher Bau, das Atlantis The Palm Hotel, in Dubai; vgl. Moore 2012, S. 5, http://www.atlantis-the-palm.dubai.de/ (Zugriff 21. April 2017) – ein »iconic building« mit einem Wiedererkennungswert über Kontinente und Nutzungsarten hinweg.

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einem typisch kasachischen Nomadenzelt, entspricht, allerdings in gigantischen Ausmaßen.59 Dabei handelt es sich um eines der wenigen Bauwerke in der Hauptstadt, welche als Ausdruck einer historisch aufgeladenen Identitätsrepräsentation gedeutet werden können, zudem ist es paradoxerweise ein Gebäude, das einer rein kommerziellen Nutzung gewidmet ist. Von den Staatsbauten stehen sich mit dem Präsidentenpalast auf der einen und dem KasMunaiGas-Gebäude auf der anderen Seite der Achse die wahren Zentren politischer und ökonomischer Macht des Landes gegenüber; diese Achse reflektiert somit die tatsächlichen Machtstrukturen Kasachstans – viel eher als dies in vielen demokratischen Hauptstädten der Fall ist. Zusammengenommen verwirklicht die Ausgestaltung des Stadtzentrums die vom Chefarchitekten zugrunde gelegte Idee einer »offenen Stadt« insoweit, als dass architektonischer Eklektizismus mit wenig Kohärenz dominiert – mit der Ausnahme der großzügigen Verwendung von Kuppeln und den blau-gelben Nationalfarben Kasachstans.60 In all der postmodernen Beliebigkeit dieser von durch »global architects« in die städtische Landschaft gesetzten »iconic buildings« (Jencks) geprägten Hauptstadtarchitektur61, in welcher man mit Wohlwollen eine Geste der Differenzrepräsentation von europäischen, asiatischen, orientalischen und kasachischen Traditionen entdecken kann, sucht man vergebens nach einer Kirche mit Zwiebeltürmen oder anderen Symbolen, die die Bedeutung des russischstämmigen Bevölkerungsanteils in der Region anzeigen. Lediglich der an Stalins Neoklassizismus der Moskauer »Sieben Schwestern« angelehnte Hochhausbau »Triumph Astanas«, welcher als eine Art »postkoloniale Verarbeitung des sowjetischen Traumas« gedeutet werden kann,62 verweist auf die schwierige Verbindung zu Russland und die Russen im Lande. Im Vergleich der antiken und postmodernen Staatsarchitektur in Rom und Astana als Beispiele autokratischer Hauptstädte wird deutlich, dass zwar eine Identitätsrepräsentation vorherrscht, welche wenig Raum lässt für eine Symbolik von Diversität der jeweiligen Gesellschaften. Doch erscheint die postmoderne Version dieser Repräsentation ungleich personalisierter und weniger gemeinschaftsdienlich als die der mit einer großen Machtfülle ausgestatteten römischen Imperatoren. 4. Neue Hauptstädte in neuen demokratischen Nationen Da die politische Symbolik einer Hauptstadt in Zeiten von Regimewechsel oder Staatsgründung von besonderer Wichtigkeit ist, gelten neue Hauptstädte in neuen oder post-kolonialen Regimen mehr noch als ältere oder »gewachsene« Haupt59 Vgl. Bloomfield 2015, S. 69; Meuser 2014, S. 141. 60 Für eine detaillierte Beschreibung siehe Aitken 2009, S. 222-223; Meuser 2014, S. 118-211. 61 Vgl. Jencks 2004. Zur wachsende Bedeutung »visuellen Konsums« von »iconic landmarks« in den Werken globaler Architekten siehe auch Jones 2011, S. 115-123; Moore 2013, S. 1-19. 62 Meuser 2014, S. 202.

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städte als Eckpfeiler im politischen Geschäft der »Traditions-Erfindung«. Dies trifft im von Hobsbawm identifizierten dreifachen Sinne zu: die neue Hauptstadt als Symbol sozialer Kohäsion und nationaler Identität, der Beitrag der neuen Hauptstadt zur Einführung oder Legitimation der politischen Institutionen und Hierarchien und die Funktion der neuen Hauptstadt bezüglich der Sozialisation der Bevölkerung hinsichtlich des Nationalstaats sowie des politischen Systems.63 In den USA wurde die Idee, eine neue Hauptstadt als Symbol des nationalen Selbstbildnisses sowie als repräsentativer Sitz der politischen Institutionen zu erschaffen, anfänglich als utopisch erachtet; und doch erwies sich dieses Vorhaben als die erste demokratisch legitimierte Hauptstadtgründung – wenngleich auf Kosten der politischen Rechte der dort lebenden Bürger.64 Bereits die Pläne des Architekten Pierre L’Enfant fügten der nordamerikanischen Kolonialarchitektur eine neue Dimension hinzu, die mit an barocken europäischen Hauptstädten orientierten »Pathosformeln« (von Beyme65) architektonischer Pracht operierte: »the plan was an exemplary adaptation of the standard baroque principles of a new situation«.66 Trotzdem weisen der demokratische Prozess der Standortwahl (eine in allen Regimetypen wichtige Frage der politischen Symbolik67), die Rolle öffentlicher Räume sowie Art und Ausgestaltung von Monumenten und Regierungsgebäuden ein der breiten Öffentlichkeit zugängliches Design und damit eine Abgrenzung von autokratischer Kontrolle auf.68 Dem Prinzip der Gewaltenteilung wurde durch eine beträchtliche physische Distanz zwischen den Sitzen der Legislative und der Exekutive Rechnung getragen. Unklar blieb allerdings lange Zeit die Unterbringung des Obersten Gerichts, welches bis in die 1930er Jahre hinein in einem Untergeschoss des Kapitolgebäudes tagte, bevor es mit einem streng klassizistischen Bau seinen Platz auf der Rückseite des Kongresses erhielt. Das Straßensystem betont, dass das Kapitol das Zentrum der Stadt und des politischen Universums der USA markiert – nicht das Weiße Haus und der Präsident.69 Während die Stadt von Anfang an als politische Bühne funktionierte, erlangte sie ihre eigentliche prachtvoll-repräsentative Rolle erst 100 Jahre später. Mit der Gründung der Senate Park Commission im Jahre 1901 sollten Möglichkeiten der Aufwertung der Stadt gesucht und ihr ein repräsentativeres Aussehen verschafft werden. Dabei griff die Kommission auf L’Enfants Originalpläne und auf Anre63 Hobsbawm 1983, S. 9. Vgl. im Folgenden Minkenberg 2014c, S. 75-98. 64 Vgl. Wolman et al. 2006. 65 Von Beyme 1998, S. 320-330, in Bezug auf die Differenzierung und Pluralisierung sowie schließlich das Absterben der politischen Symbolik in der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, mithin der Profanisierung von Pathosformeln, und in kritischer Distanz zu Aby Warburg (ebd., S. 309). 66 Mumford 1961, S. 404; vgl. auch Field und Gournay 2007. 67 Vgl. Abbott 1999, S. 20-21; Minkenberg 2014c, S. 60-61; siehe hierzu auch die obigen Ausführungen zu Astana. 68 Vgl. Vale 2008, S. 65. 69 Vgl. Scott 1995, S. 99-100. Siehe auch den Beitrag von Philip Manow im vorliegenden Sonderbandes.

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gungen aus europäischen Hauptstädten imperialer Mächte, die die Kommission auf einer Reise nach London, Paris, Wien, Rom, Berlin und andere Städte sammelte, zurück. Das Resultat war die Reaktivierung des Klassizismus, der nach von Beyme letzte Stil, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa »eine verbindliche Minimaleinheit architektonischer Prinzipien verwirklichte«70, und Monumentalität in großem Stil durch die Verstärkung der zentralen Achsen wie der auf das monumentalisierte Kongressgebäude zulaufenden Mall, der Aufstellung von Baudenkmälern wie das Washington Monument und das Lincoln Memorial sowie dem Bau des Federal Triangle, der National Archives u.a. (siehe Abb. 3).

Abb. 3: Washingtons zentrale Achse und Monumente: die Mall mit dem Kongressgebäude (links), dem Museum of African American History and Culture (Mitte) und dem Washington Monument (rechts) (2017). Dabei lassen sich in zahlreichen bedeutenden Gebäuden und Monumenten stilistische Zitate aus nicht-demokratischen Regimen finden, allen voran der Obelisk des Washington Monuments, der, genau wie sein Pendant in Paris (siehe Abb. 8a), auf der Kreuzung zweier politisch bedeutender Achsen der Hauptstadt steht und mit einer Höhe von 169 Metern das höchste obeliskenförmige Bauwerk der Welt darstellt.71 Andere historische Inspirationsquellen schließen das Pantheon des kaiserlichen Roms (Jefferson Memorial), die italienische Renaissance (die KongressBibliothek) sowie den Petersdom in Rom bzw. die Isaakskathedrale in St. Petersburg (das Kapitol), römische Tempel in korinthischer Ordnung (der Supreme Court), 70 Von Beyme, 1998, S. 320. 71 Vgl. den Beitrag von Chwialkowska und Schacht zu diesem Band.

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französische und englische Paläste und Gärten des ancien régime (das Weiße Haus, die Mall) u.a. mit ein. Für die Gründerväter wie für die moderner Architektur gegenüber kritisch eingestellten Mitglieder der McMillan-Kommission repräsentierten die klassischen Ideen von Schönheit und Monumentalität öffentlicher Gebäude die Werte des Patriotismus und der Demokratie.72 Neben der monumentalen nationalen Ikonographie lassen sich aber auch Anzeichen für eine Diversifizierung in der Repräsentation entdecken. Bereits zu Beginn wurde die föderale Ordnung im Straßennetz abgebildet, mit den dreizehn Gründerstaaten als Namensgeber für die wichtigsten Magistralen im Stadtzentrum. In den letzten Jahrzehnten wurden durch die Einrichtung neuer Museen auf der Mall in der Geschichte der USA lange Zeit unterdrückte Minderheiten in der Hauptstadt auch architektonisch sichtbar gemacht: das 2004 eröffnete National Museum of the American Indian, am Fuße des Kapitolhügels, und das 2016 eröffnete National Museum of African American History and Culture, nahe dem Washington Monument (siehe Abb. 3). Der Fall Canberras folgt einer ganz eigenen post-kolonialen Logik. Die Suche nach dem idealen Ort irgendwo zwischen Sydney und Melbourne wurde von monumentalen Hoffnungen begleitet. So proklamierte beispielsweise King O’Malley, der Mann fürs Grobe der damaligen australischen Politik und spätere Innenminister: »This is the first opportunity we have had of establishing a great city of our own. I hope … that the children of our children will see an Australian federal city that will rival London in population, Paris in beauty, Athens in culture and Chicago in enterprise«.73 Diese Hoffnungen blieben unerfüllt. Canberra unterscheidet sich in Design und Architektur von seinem amerikanischen Vorbild durch eine weniger dramatische und weniger europäische Vision. In der »Busch-Hauptstadt« sticht viel mehr die Landschaft als die städtische Ausgestaltung hervor.74 Den 1912 stattfindenden internationalen Designwettbewerb gewann der amerikanische Architekt Walter Burley Griffin mit einem von der City-Beautiful-Bewegung inspirierten Entwurf. Diese Bewegung entstand in den 1890er Jahren in den USA und zielte auf eine Verschönerung und Monumentalisierung der Städte ab; die White City der World’s Columbian Exposition in Chicago 1893 setzte hier Maßstäbe, welche auch Griffin beeindruckten.75 Allerdings mündeten die Auseinandersetzungen mit kritischen Bürokraten, die eine »kompaktere« und günstigere Hauptstadt forderten, in einer 72 Von zeitgenössischen Kritikern wurden diese architektonischen Vorstellungen denn auch als aristokratisch, elitär, oberflächlich und finanziell unverantwortlich kritisiert; vgl. Reps 1967, S. 192-198; Sonne 2003, S. 70-81. Auf heutige Betrachter wie den fiktiven schwarzen Erzähler im Roman The Sellout von Paul Beatty (2015) wirkt Washington ähnlich: »Washington, D.C., with its wide streets, confounding roundabouts, marble statues, Doric columns, and domes, is supposed to feel like ancient Rome (that is, if the streets of Rome were lined with homeless black people, bomb-sniffing dogs, tour buses, and cherry blossoms).«. 73 Zitiert in Pegrum 2003, S. 8; siehe auch Wigmore 1963, S. 34. 74 Vernon 2006. 75 Vgl. Fischer 1984, S. 27-31.

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Anpassung von Griffins Plan an die Vorstellungen einiger seiner größten Rivalen im Wettbewerb wie Eliel Saarinen, der ein monumentaleres und axialeres Design vorgeschlagen hatte. Das Ergebnis stellt keine Wiederkehr barocker Axialität wie im Falle Washingtons dar, sondern eher eine polygonale Struktur mit Verbindungsachsen zwischen drei Stadtzentren (Regierungsviertel, Bürgerzentrum, Markt), welche über zwei sich orthogonal kreuzende Achsen, die Landachse zwischen zwei Hügeln und die Wasserachse eines künstlichen Sees, gelegt wurde (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Canberra – australische Axialität: die Landachse zwischen Mt. Ainslie und dem War Memorial im Hintergrund, dem alten Parlament in der Mitte und Capital Hill mit neuem Parlament im Vordergrund; rechts das Oberste Gericht (2006). Von 1927 an bezog das von Melbourne nach Canberra verlagerte Parlament ein provisorisches Gebäude am Fuße des Capital Hill, wo es gute sechzig Jahre lang blieb, bis das neue Gebäude eröffnet wurde. Dieses (siehe Abb. 5) wurde buchstäblich in den Hügel hineingebaut und erfuhr massive Kritik, besonders bezüglich des mutmaßlichen Verrats der demokratischen Prinzipien von Transparenz und Offenheit durch die Umleitung des Besucherverkehrs auf ein von den Gesetzgebern separiertes Stockwerk.76 Doch ebenso wie die Glaskuppel des Berliner Parlaments, die es der Öffentlichkeit erlaubt, den Repräsentanten ›aufs Dach zu steigen‹, stellt das Canberra-Gebäude eine Verbindung zwischen den Bürgern auf dem Dach des Gebäudes und den Politikern unter ihnen in den Plenarsälen und Lobbies her. Das visuell hervorstechende Merkmal des Bauwerks ist dementsprechend nicht ein Gebäudeteil, sondern ein gigantischer Fahnenmast auf dem Dach. 76 Vgl. Vale 2008, S. 95.

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Abb. 5: Das australische Parlamentsgebäude von 1988 (Aufnahme von 2006). Aus einer internationalen Perspektive erscheint die australische Version einer demokratischen Hauptstadt in einem günstigen Licht: »Moderne Parlamentsbauten von Den Haag bis Canberra haben gezeigt, daß eine großzügige Architektur im Parlamentsbau möglich ist«.77 Die bescheidene demokratische Monumentalität steht in scharfem Kontrast zum weniger bescheidenen am Seeufer und Fuße des Capital Hill gelegenen High-Court-Gebäude, ein die umliegenden Bauwerke überragender Beton- und Glaskasten im modernistischen Stil der frühen 1970er Jahre (siehe Abb. 4). Dessen »inflated look«78 macht aus diesem Gebäude einen visuell beunruhigenden Kontrapunkt zum neuen Parlamentsbau, signalisiert aber auch die strikte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative. Dagegen lässt sich die föderale Ordnung des Landes bzw. die Repräsentation der Provinzen kaum an der Staatsarchitektur ablesen. Wie in Washington DC verzichtet das Parlamentsgebäude auf eine von außen erkennbare Markierung des die Einzelstaaten repräsentierenden Senats; es verschwindet genauso im Hügel wie das Abgeordnetenhaus. An das Gebäude des Obersten Gerichtshofs grenzen neu gebaute Plazas wie der Reconciliation Place, der die indigene australische Bevölkerung, die Aborigines, in die Hauptstadtarchitektur miteinbeziehen sollte (2002 fertiggestellt);79 dieser Be77 Von Beyme 1998, S. 365. 78 Metcalf 2003, S. 34. 79 Der Name Canberra entstammt einer der Sprachen der Aborigines und bedeuet »Treffpunkt«. Er kann als früher Ausdruck der symbolischen Repräsentation der Ureinwohner in der Hauptstadt aufgefasst werden, kontrastiert aber mit der bis vor kurzem rücksichtslosen, zwischen Ausgrenzung und Assimilation changierenden Politik dieser Minderheit gegenüber.

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reich zwischen den wichtigsten Regierungsgebäuden bleibt eine offene Fläche, ganz im Gegensatz zu Griffins Vorstellung einer Parlamentszone voll verschiedener Gebäude und Plazas.80 Zusammengenommen und in Kontrast zu vielen anderen modernen Fällen korrelieren Stadt- und Bauformen mit den demokratischen Prinzipien, die sie verkörpern sollen. Dies lässt sich von einer anderen neuen Hauptstadt einer jungen Demokratie keineswegs behaupten. In Brasília findet sich eine strenge symmetrische Geometrie im Entwurf des Plano Piloto, der mit seiner Betonung von Linearität der Straßenführung und Sektorialität der unterschiedliche Funktionen erfüllenden Zonen als »Beaux-Arts-Interpretation des funktionalistischen Vokabulars« bezeichnet wurde.81 Die Stadt und die Staatsarchitektur verzichten völlig auf die Repräsentation einer nationalen Identität: Brasília ist durch und durch eine Stadt der Moderne und Lawrence Vale zufolge nur insofern »brasilianisch«, als es in Brasilien von Brasilianern entworfen und gebaut wurde.82 Dieser Interpretation lässt sich entgegenhalten, dass Niemeyer sich von rein funktionalistischen Ideen der Moderne ab- und im brasilianischen

Abb. 6: Brasília – zentrale Achse mit Regierungsbauten und Platz der drei Gewalten (Hintergrund), Bus-Terminal und Kathedrale (Mitte bzw. Mitte rechts hinten) (2005). 80 Vgl. Vemon 2006, S. 145; Vale 2008, S. 97-103. 81 Batista u.a. 2006, S. 169 – meine Übersetzung, M.M. Vgl. auch Niemeyers Charakterisierung des Plano Piloto als »einfach, logisch und präzise« im Sinne der «harmonische[n] Anpassung an die Landschaft, [einer] klarsichtige[n] und rationelle[n] Zoneneinteilung der Sektoren…« in Fils 1988, S. 82. 82 Vgl. Vale 2008, S. 143.

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Kontext vorfindbaren spielerischen Lineaturen zuwandte: er strebte in seinem Hauptstadtdesign in eigenen Worten »eine schöne und klare Struktur – ohne funktionalistische Beschränkungen… ein Gefühl von Überraschung und Bewegtheit« an.83 Diese Bewegtheit lässt sich gut an den eigenwilligen Säulen in Form von Segeln (am Wohnsitz des Präsidenten) und als nach oben spitz auslaufende Formen (Amtssitz des Präsidenten, Oberster Gerichtshof) ablesen (siehe Abb. 7b). Im Gegensatz zum Plan L’Enfants für Washington liegt das gesamte Regierungsviertel am Ende einer monumentalen Achse, nicht in der Mitte der Innenstadt (siehe Abb. 6), aber es gibt Parallelen zu den anderen Fällen. Wie in Canberra besteht das Layout der Stadt aus einer Kreuzung von zwei Hauptachsen und einem künstlichen See, und wie in Washington soll ein Gefühl der Größe des Landes durch das Einfügen von Monumentalität oder »monumentaler Kraft« (in Luis Costas eigenen Worten)84 projiziert werden. Im Mittelpunkt des politischen Segments der Monumentalachse befinden sich der Platz der drei Gewalten sowie dem vorgelagert eine Reihe von identisch aussehenden Ministerialgebäuden. Der Platz selbst ist in einem gleichschenkligen Dreieck angeordnet, an seinen drei Ecken befinden sich das Gebäude des Nationalkongresses mit zwei Flügeln, den beiden Kammern des Parlaments, und den schlanken Zwillingstürmen des Sekretariats, der Planalto-Palast des Präsidenten bzw. der Präsidentin und das Gebäude des Obersten Bundesgerichts (vgl. Abb. 7a und 7b).

Abb. 7a: Brasília – Platz der drei Gewalten: das Kongressgebäude (2005).

83 In Fils 1988, S. 83. 84 In Holston 1989, S. 73.

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Abb. 7b: Brasília – Platz der drei Gewalten: Oberster Gerichtshof (2005). Wie in Washington DC signalisiert das zentral platzierte und von weitem sichtbare Parlamentsgebäude die Dominanz der Legislative über die Exekutive, allerdings steht diese politische Symbolik im Widerspruch zu den Realitäten des brasilianischen politischen Systems, in welchem der Präsident, der zugleich Staatsoberhaupt und Regierungschef ist, mehr Macht innehat als der Kongress. Darüber hinaus betont das Parlamentsgebäude durch die Größe der Bürotürme eher »die Dominanz der Bürokratie über den Gesetzgeber«.85 Im Gegensatz zu Washington DC und Canberra können die beiden Kammern des brasilianischen Parlaments bereits am Gebäude selbst unterschieden werden: der Senat tagt unter einer eleganten, flachen Kuppel, während die Abgeordneten unter einer größeren und ebenso eleganten Schale debattieren(vgl. Abb. 7a). Die föderale Ordnung des Landes ist in dieser Architektur genauso wenig symbolisiert wie die unterschiedlichen Minderheiten der brasilianischen Gesellschaft. Mehr noch: in seiner Erklärung der dreieckigen Anordnung der drei Gewalten verweist Luis Costa auf die Autonomie der drei Gewalten und darauf, dass sein Design mit der »frühesten Architektur« verknüpft sei. James Holston bemerkt dazu: »If Costa is, in fact, seeking to make an architectural statement about democracy in this design for the plaza, we may legitimately wonder whether or not there is something of a symbolic confusion in its pseudo-historical derivation. For the earliest states supposedly associated with the ›earliest architecture‹ were hardly democratic«.86 Aber es gibt noch weitere symbolische Verwirrungen: neben der Monumentalität der Bürotürme, welche das Parlament und den Präsidentenpalast überschatten, ist die Kreuzung der monu85 Vale 2008, S. 139. 86 Holston 1989, S. 73.

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mentalen Achse mit der Querachse zu nennen, wo sich das Unterhaltungs- und Kulturviertel, ein monumentales Bus-Terminal sowie die raffinierte hyperbolische Kathedrale Oscar Niemeyers befinden (siehe Abb. 6). Schließlich erschließt sich der Plano Piloto bzw. die Flugzeugsymbolik des Stadtplans selbst nur aus der Luft – eine Perspektive, die nur ganz wenigen zugänglich ist.87 Trotz des enormen Bevölkerungszuwachses der Stadt, welcher sowohl die Erwartungen der Planer als auch die Entwicklung der anderen neuen Haupstädte Washington und Canberra übertraf, bleibt Brasília im Zentrum ein Ort der leeren Räume. Denn im Gegensatz zu den anderen Fällen sind hier weder große Mengen von Touristen noch massive politische Kundgebungen anzutreffen. Präsidenten und Gesetzgeber, Militärdiktatoren und rationale Bürokraten konnten sich so gleichermaßen an der Abgeschiedenheit und relativen Ruhe der brasilianischen Hauptstadt erfreuen: »Whatever the egalitarian tenets of its architects and planners, the economic and political realities of this iconically modern capital serve only to recapitulate an ancient theme: distancing the masses from the seat of courtly power«.88 5. Alte Hauptstädte in modernen Demokratien Paris gilt gemeinhin als »Modellstadt«, als nationale Hautstadt par excellence, als multifunktionale Hauptstadt oder als Super-Hauptstadt.89 Seine Hauptstadtfunktionen wurden im Zweiten Kaiserreich ausgebaut und konsolidiert, wobei trotz der Einschnitte durch Haussmann vorrevolutionäre Kontinuitäten gewahrt blieben. Sie werden heute, wie das Paris von Haussmann, musealisiert und ausgestellt und dienen somit nicht nur als Bühne politischer Inszenierungen, sondern auch und in wachsendem Maße dem visuellen Konsum, als Touristenattraktion.90 In diesem Falle resultieren der architektonische Ausdruck politischer Macht und dessen räumliche Ausgestaltung offenkundig aus der monarchischen Vergangenheit, dem Zuschnitt auf die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft sowie dem Streben der Herrscher nach Monumentalität. Im heutigen politischen System liegt das Machtzentrum beim Präsidenten, der Staatsoberhaupt ist und sich Regierungsaufgaben mit dem Premierminister teilt. Damit reaktivierte de Gaulles Verfassung die Tradition des Bonapartismus, womit die Rolle des Präsidenten als »republikanischer Monarch« charakterisiert werden und die Spannung zwischen Herrschaft und Volkssouveränität im Sinne einer identitären Demokratie aufgehoben werden kann.91 Die monarchische Vergangenheit und das Design der V. Republik stehen jedoch in starkem Kontrast zur Unauffälligkeit der Regierungsgebäude. Der Amtssitz des 87 88 89 90 91

Vgl. Fils 1988, S. 14-17. Vale 2008, S. 145. Braunfels 1979, S. 268; Sonne 2003, S. 141; White 2006, S. 38. Vgl. Jones 2011, S. 120-123; Parkinson 2012, S. 218-219. Siehe Ehrman und Schain 1992, S. 292; vgl. auch Lacroix and Lagroye 1992.

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Präsidenten, das Palais de l’Elysée, nimmt – anders als das Weiße Haus in Washington DC oder das Kanzleramt in Berlin (siehe unten) – weder einen zentralen Platz ein, noch liegt er auf einer der Achsen, die durch die Innenstadt verlaufen. Die Direktwahl des Präsidenten und die damit verbundene Verkörperung von Nation und höchster Autorität in seiner Person, seine physische Distanz zum Parlament und den Mitgliedern des Kabinetts sowie die Lage seines Sitzes nahe der alten, königlichen Machtzentren tragen in erheblichem Maße zu seiner speziellen Legitimität bei – ein Vermächtnis des Bonapartismus, angetrieben von de Gaulles Abneigung gegen Parteien- und Parlamentspolitik.92 Die V. Republik bricht in mehrerlei Hinsicht mit ihren Vorgängerrepubliken. Nicht nur unterscheidet sie sich hinsichtlich der Rolle des Präsidenten und der neuen Machtarrangements; sie läutete ebenfalls eine neue Ära der Hauptstadtplanung ein. Während die III. und IV. Republik vor größeren Plänen des Ausbaus Paris’ zurückschreckten, was als »Symbolisierungsschwäche« (Dauss) des neuen, das Kaiserreich ablösenden republikanischen Regimes gedeutet werden kann93, kehrten de Gaulle und seine Nachfolger zum großen Design zurück. Paris sollte eine »Weltstadt« und moderne Metropole werden, die die neuen Ambitionen des Präsidenten als globaler Akteur und seine Idee von Frankreich widerspiegelt. Die Vision de Gaulles und seines Chefplaners Delouvrier war die einer neuen prestigeträchtigen Rolle für die Stadt selbst und, mittels der Hauptstadt, für Frankreich. Dies war verbunden mit einem Programm zur Modernisierung und Integration von Paris und seiner Region, was u.a. in der Planung eines neuen Geschäftsviertels, La Défense, auf der Verlängerung der Königsachse nach Westen zum Ausdruck kam.94 Allerdings lag die Betonung des Hauptstadtumbaus zunehmend auf Kultur, und de Gaulles Nachfolger führten die Projekte fort, allen voran sein einstiger Gegner François Mitterrand. Mit einer Reihe von grand projets, unter anderem dem Grand Louvre, der Nationalbibliothek, der Bastille-Oper oder der Entwicklung von La Défense mit seinem »Großen Bogen«, fuhr Mitterrand noch stärker als de Gaulle in Bonapartistischer Tradition fort, dem Erscheinungsbild der Stadt neue und monumentale Wahrzeichen hinzuzufügen, ganz auf der Linie der alten monarchischen Stadtplanung.95 Gerade das Beispiel der Grande Arche zeigt, dass Mitterrand die Repräsentationsaufgaben in einem ganz klassischen, und das heißt auch vormodernen, Sinne verstand, und dass der Bauprozess keiner demokratischen Kontrolle unterlag, sondern Chefsache des Präsidenten war. Denn der zunächst unbebaute Platz in zentraler Lage, umgeben von den Bürotürmen der Wirtschafts- und Finanzwelt, sollte mit einem repräsentativen Gebäude, als Abschluss der Königsachse und als Krönung des gesamten Quartiers, gefüllt werden. Das Ergebnis war, nach einer internationalen Ausschreibung im Jahre 1982 und dem Auswahverfahren einer Ex92 93 94 95

Vgl. Ehrman und Schain 1992, S. 11-15; Gaïti 1998. Vgl.hierzu Dauss 2007; Peters 2012. Vgl. White 2006, S. 40-47. Vgl. White 2006, S. 51-54; Vale 2008, S. 22.

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Abb. 8a: Paris – die Königsachse nach Osten: Champs-Elysées, der Obelisk auf der Place de la Concorde und der Louvre (2013).

Abb. 8b: Paris – die Königsachse nach Westen und in die Postmoderne geführt: La Défense und die Grande Arche (2013). pertenkommission, der offene Kubus des dänischen Architekten Johan Otto von Spreckelsen, La Grande Arche, ganz aus Marmor und Glas und 111m hoch. Die Entscheidung, dieses Projekt zu verwirklichen, lag letztlich beim Präsidenten, der im Sinne eines traditionellen Monumentalismus darauf achtete, dass die Perspektive der Königsachse gewahrt blieb, auch wenn die Finanzierung eine gemischte

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staatliche und private war (siehe Abb. 8a und 8b).96 In einer solchen Bautradition, die auf das ancien régime zurückgreift, hat die Repräsentation von Divergenz in jeglicher Hinsicht keinen Platz. Dennoch weisen die Kontroversen um Mitterrands Projekte und um den Übergang zu eher kulturellen anstatt politischen Projekten, der Unwille von Mitterrands Nachfolgern, sich ebensolchen Großprojekten zu widmen, und die politische Gewichtsverschiebung in Richtung Machtteilung zwischen Präsident und Regierung (insbesondere in Zeiten der cohabitation) auf eine sich verringernde Bedeutung des französischen Präsidenten hin – und damit vielleicht auch eine Abkehr von der bonapartistischen Tradition in der Baupolitik und Architektur.97 Im Gegensatz zu Paris nach Mitterrand durchlief Berlin in der Zeit nach der Wiedervereinigung 1990 eine neue Phase von Stadtplanung und Projektierung öffentlicher Architektur, welche in ihrer Größenordnung, wenngleich nicht in ihren Intentionen an die Initiativen im NS-Regime und (im Ostteil) an den realsozialistischen Umbau nach dem Krieg heranreichte.98 Zum ersten Mal seit der wilhelminischen Zeit und dem Hobrecht-Plan, der ihr vorausging, gab es einen umfassenden städtischen Bauplan,99 zum allerersten Mal fand dieser Prozess unter demokratischem Vorzeichen statt, und im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung zielte er zudem auf die bauliche Überwindung der Spaltung Berlins und somit auf die Repräsentation beider Teile und Nachkriegsgeschichten Deutschlands ab. Dabei waren die Hauptstadtplanung, der Regierungsumzug nach der Bundestagsentscheidung von 1991 und die Errichtung zentraler politischer Bauten wie Kanzleramt und Bundestag stets begleitet vom Verdacht, neuen imperialistischen Versuchungen zu erliegen.100 Um solche Zweifel an der demokratischen Verlässlichkeit der neuen bundesdeutschen Hauptstadt zu zerstreuen, wurde ein neues Regierungsviertel entwickelt, das quer über die von Wilhelminischen sowie nationalsozialistischen Planern entworfene Nord-Süd-Achse verlief. Stattdessen setzte sich der von dem Berliner Architekten Axel Schultes vorgelegte Entwurf eines neuen Regierungsviertels, das »Band des Bundes«, welches Ost und West entlang des Reichstagsgebäudes verbinden und quer über die ehemalige Grenze verlaufen sollte, durch (siehe Abb. 9).101

96 Vgl. Chaslin 1998; Seidl 1996. Zu einer neueren Aufarbeitung des Projekts vgl. Cossé 2016. 97 Vgl. Cohen 2010; Cole, Meunier und Tiberij 2013. 98 Vgl. Sonne 2006. 99 Vgl. Bodenschatz 2013, S. 103-157. 100 Vgl. von Beyme 2014, S. 113-124; Sonne 2006, S. 206-207.; ebenso Asendorf 2014, S. 146-149. 101 Vgl. Sonne 2006, S. 209.

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Abb. 9: Berlin – das Band des Bundes mit Bundestag (oben rechts), Kanzleramt (Mitte) und neuem Innenministerium (unten) (2013). Auch der Reichstag selbst wurde durch den britischen Architekten Norman Foster einem gründlichen Umbau unterzogen, und das neue Kanzleramt, der einzige Hinweis auf Monumentalität, wurde im Palazzo-Stil von Axel Schultes erbaut, der abstrakte Elemente der Moderne (inspiriert von Le Corbusier und Louis Kahn) mit traditionellen Referenzen (wie beispielsweise der Platzierung des zentralen Ge-

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bäudes hinter einem Vorhof) verband.102 Diese drei Hauptprojekte waren das Resultat offener Ausschreibungen unter der Schirmherrschaft von zwei Regierungs – und Ministerialausschüssen, die Hinzufügung der Glaskuppel auf dem Parlamentsgebäude ebenso wie die Wahl von Schultes’ Entwurf für das Kanzleramt beinhaltete allerdings die Einmischung des damaligen Kanzlers, Helmut Kohl.103 Die Monumentalität des Kanzleramts – eine in Bonn undenkbare Architektur – wird noch akzentuiert durch die vom Bundestag verfügte Streichung des von Schultes vorgesehenen etwa gleich großen Bürgerforums als Ort der Öffentlichkeit zwischen Kanzleramt und Reichstag. So bleibt das Kanzleramt ein Solitärbau, der weniger die Logik der parlamentarischen Demokratie als die herausgehobene Stellung des Regierungschefs in der deutschen Kanzlerdemokratie widerspiegelt.104 Hinzu kommt eine verblüffende Ähnlichkeit der Kubus-Form des Kanzleramts mit der Grande Arche in Paris, die man auch als Ausdruck einer ästhetischen Anspielung auf die politische und kulturelle Achse Berlin-Paris deuten kann.105 Mit dem Umbau des Reichstages und insbesondere seiner Kuppel wurde eine »post-nationale Ikone« geschaffen, welche auch dadurch unterstrichen wird, dass dem erst 1916 dem Gebäude hinzugefügten Schriftzug am Portal »Dem deutschen Volke« ein andere Akzente setzender Schriftzug »Der Bevölkerung« in einem Blumenbeet eines Lichthofs des Gebäudes zur Seite gestellt wurde.106 Weniger beachtet war der Umbau des ehemaligen preußischen Herrenhauses in der Leipzigerstraße in das Gebäude, in welchem fortan der anfänglich nur in Bonn angesiedelte Bundesrat tagt. Damit wurden zwar die ursprüngliche räumliche Trennung und die Repräsentation des föderalen Charakters des wiedervereinigten Deutschland zugunsten funktionaler Erwägungen (siehe oben) erheblich reduziert, aber das noch weiter weg befindliche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe unterstreicht die Kontinuität der Gewaltentrennung auch im räumlichen Sinne. Ein weiteres und weitaus kontroverseres Großprojekt besteht in der Rückkehr des Berliner Stadtschlosses auf der Spreeinsel. Die Idee, das Hohenzollernschloss am Standort des Palastes der Republik wieder auferstehen zu lassen, war von Beginn an hochpolitisch und polarisierend. Das äußere Erscheinungsbild dieses neuen Gebäudes, offiziell »Humboldt-Forum« genannt, und die geplante Beherbergung außereuropäischer Kunstsammlungen, einer Bibliothek sowie eines Wissenschaftsmuseums wurden bereits vor einer internationalen Ausschreibung festgelegt 102 Vgl. Asendorf 2014, S. 146-147. 103 Die Glaskuppel des Reichstagsgebäudes, welche aus dem historischen Gebäude eine zeitgesnössische Ikone der deutschen Hauptstadt macht, sowie das Bauwerk insgesamt blieben von Kritik nicht verschont. Kommentatoren heben die Ambivalenz des Baustoffes Glas sowie die Tendenz, das Parlament touristisch zu vermarkten und auf visuellen Konsum und Symbolik auszurichten, hervor; vgl. Jones 2011, S. 152-161; Parkinson 2012, S. 218-219; Moore 2013, S. 183. Zur Geschichte von Fosters Umbau, vgl. Wise 1998, S. 125-132. 104 Vgl. von Beyme 2014, S. 119-120. Siehe auch Wise 1998, S. 65-79. 105 Vgl. Wilhelm 2001, S. 12-14. 106 Vgl. Jones 2011, S. 152-160.

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– und zwar nicht von einer Architektengruppe, Stadtplanern oder anderen Experten, sondern im Jahre 2002 von den Volksvertretern im Bundestag selbst.107 Dieses Projekt wird von Kritikern als nostalgische Wendung hin zur Vergangenheit und sogar als imperialistisches Signal gedeutet. Wie auch immer es bewertet wird, es stellt die letzte Etappe einer die politischen Schichten der Stadt an ihrem historischen Zentrum immer wieder überschreibenden baulichen Symbolpolitik dar und trägt dazu bei, dass die Spreeinsel ein »Ort historischer Brüche« bleibt.108 Damit steht das Berliner Zentrum und Regierungsviertel in seinem Design und seiner Architektur für eine gleichzeitige Differenz- wie Identitätsrepräsentation, für die Kontinuität der Diskontinuitäten in der deutschen Geschichte: in einem postmodern anmutendem Nebeneinander befinden sich architektonische Ikonen mittelalterlicher Zeiten (wie Marienkirche und Nikolaikirche), der preußischen Geschichte (Altes Museum), des bürgerlichen Berlins im 19. Jahrhundert (Rotes Rathaus), der Nationenbildung unter preußischer Hegemonie (Berliner Dom), der NS-Ära (Reichsbank, heute Teil des Außenministeriums) und der kommunistischen Epoche (Fernsehturm und Alexanderplatz) sowie des Zeitalters des wiedervereinigten Deutschlands (Humboldtforum) (vgl. Abb. 10).

Abb. 10: Berliner Mitte – historische Identitäts- und Differenzrepräsentation (2008): Fernsehturm (1969), das Rote Rathaus (1859), die letzten Ruinen des Palasts der Republik (1974) und Ort des wiederkehrenden Stadtschlosses sowie die Doppeltürme der Nikolaikirche (ca. 1250) (von links nach rechts).

107 Vgl. Asendorf 2014, S. 149; Minkenberg 2014b, S. 1-4. 108 Vgl. Flierl 2009.

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Hierzu gehört auch, dass mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, dem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma sowie dem Mahnmal für NS-»Euthanasie«-Opfer, alle in der Nähe des Brandenburger Tores, eine spezifische Dimension von Differenzrepräsentation stattfindet, die sich verschiedenen Opfergruppen des nationalsozialistischen Regimes zuwendet.109 Somit kann für Berlin eine durchaus komplexe Differenzrepräsentation von der historischen Vielschichtigkeit über Gewaltenteilung und die Differenz von Zentrum und Region bis hin zu den »monuments to victims, not heroes«110 konstatiert werden, die in polarem Gegensatz zum Fall Paris steht.111 6. Schlussbetrachtungen Der Beitrag hat im Überblick über Hauptstädte in unterschiedlichen Versionen von Demokratien deutlich gemacht, dass eine demokratische Repräsentation im visuellen oder ikonographischen Sinne auf Schwierigkeiten stößt. Folgende Erkenntnisse können festgehalten werden: (1) Es gibt keine eindeutig demokratische Sprache in der Staatsarchitektur und Hauptstadtgestaltung. In vielen demokratischen Hauptstädten112 findet sich z.B. eine vordemokratischen Ursprüngen entstammende Axialität auch in der Moderne in fast allen demokratischen Hauptstädten.113 Immerhin ist dieser Version von Hauptstadt-Design mit Verweis auf die Symbolik des »Capital-T«, in welchem eine Zentralachse auf die wichtigsten Institutionen oder eine politisch bedeutsame Querachse zuläuft, bescheinigt worden, aufgrund ihrer räumlichen Offenheit demokratiefreundlicher zu sein als etwa das Vorläufermodell der Zitadelle (z.B. Moskau).114 Axialität, Geometrie und das Gitternetz im Bebauungsplan können aber auch als Übernahme eines Designs verstanden werden, das eher auf die Zentralitätsfunktion von Hauptstädten in Verbindung mit einer Zentralisierung politischer Macht inklusive der Kontrolle der Bevölkerung und damit der Verweigerung einer symbolischen Differenzrepräsentation abzielt.115

109 Vgl. https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/Beauftragtefue rKulturundMedien/aufarbeitung/gedenkstaettenfoerderung/gedenkstaettennsopfer/_n ode.html (Zugriff 1. Oktober 2016). 110 Wise 1998, S. 145. 111 Dieser Befund korreliert mit der Einordnung Berlins als besonders demokratischer Stadtraum noch vor Canberra und Washington DC in John Parkinsons Ranking verschiedener Hauptstädte in demokratischen Regimen; vgl. Parkinson 2012, S. 215-219. 112 Eine Ausnahme wäre hier etwa Ottawa; vgl. Minkenberg 2014c, S. 81-85. 113 Vgl. Minkenberg 2014c. 114 Vgl. Taylor 1989, S. 81. 115 Vgl. Grant 2001; Smith et al., 2012.

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(2) Demokratische Hauptstädte existieren immer in der Spannung, die Nation als Ganzes und den demokratischen, offenen und das heißt auch dynamischen Charakter des politischen Systems zu repräsentieren. Aber eine politische Symbolik für diese Offenheit und Dynamik zu finden entspricht etwa der Quadratur des Kreises. Seit dem 19. Jahrhundert differenzieren und pluralisieren sich politische Symbole, deren vom Herrscher oder herrschenden Eliten festgelegte Eindeutigkeit weichen ihrer Funktionalisierung.116 Die Suche nach einem Nationalstil im 19. Jahrhundert, der je nach Land in der Gotik (Parlamentsbau in London, Budapest, Ottawa) oder der Klassik (Washington DC) gefunden zu sein schien, unterstreicht die Ablösung der Symbole von der Substanz.117 Demokratisch wird die Architektur vor allem dadurch, dass sie von Demokraten erschaffen oder genutzt oder umgedeutet wird.118 (3) Der Unterschied zwischen Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation lässt sich nicht am politischen Regime selbst festmachen, hier sind eher nationale Selbstbilder und die jeweils vorherrschenden Machtstrukturen vorherrschend: »Each age tends to flatter the part of the past that sends back its own image.«119 Die Beispiele von Paris und Brasília zeigen ein relativ ungebrochenes Verhältnis der Staaten zu ihrer Vergangenheit; sie unterstreichen zudem die Rolle starker Präsidenten, denen schwache Parlamente gegenüber stehen. In Berlin und Washington dagegen können Spuren von Differenzrepräsentation aufgefunden werden, insofern tiefe historische Brüche (Sklaverei, Bürgerkrieg, NS-Geschichte und Holocaust) aufgearbeitet werden. (4) Mit der fortschreitenden Ablösung der Symbole von der Substanz geht der Trend, auch hier über verschiedene Regime hinweg, zur Ikonisierung von Bauwerken, die immer mehr dem ästhetischen Konsum dienen: die Grande Arche in Paris, der Millenium Dome in London, das wiederkehrende Stadtschloss in Berlin und das Chan-Schatyr-Einkaufszentrum in Astana gewinnen ihren öffentlichen Wert eher durch die Äußerlichkeit ihrer Erscheinung, d.h. als »iconic building« (Jencks), als durch die inneren Funktionen. Das zeigt vor allem der Berliner Fall des Stadtschlosses, dessen künftige innere Funktion in der frühen Planung noch im Unklaren blieb. Hier gilt nicht: »form follows function«, sondern »the form is the function«. 120

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Von Beyme 2004, S. 358. Vgl. Jones 2011, S. 53-64. Vgl. Manow 2015, S. 49; siehe auch Parkinson 2012. Mumford 1961, S. 199. Jones 2011, S. 115-140 – Hervorh. im Orig.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: privat. Abb. 2: privat. Abb. 3: privat. Abb. 4: privat. Abb. 5: privat. Abb. 6: privat. Abb. 7a: privat. Abb. 7b: privat. Abb. 8a: privat. Abb. 8b: privat. Abb. 9: euroluftbild.de/Robert Grahn. Abb. 10: privat.

Philip Manow1

Die National Mall in Washington D.C. – Einheit und Differenz des demokratischen Souveräns

1. Einleitung Wir meinen zu wissen, wofür der Barockgarten steht: geometrische Raumbeherrschung ohne Raumbegrenzung, d.h. ins Unendliche ausgreifender Herrschaftsanspruch; panoptischer Herrscherblick entlang langer Blickachsen; der absolutistische Fürst als Sonne, deren Strahlen »ungehindert die Tiefe des Gartenraums im Sinne des coup d’œil erhellen«, so Horst Bredekamps Charakterisierung unseres gängigen Bildes.2 Kurz: wir verstehen den Barockgarten als exemplarischen Ausdruck des Ancien Régime. Doch die nähere Betrachtung zeigt, wie so häufig, dass ungefähr das Gegenteil zutrifft. Der Barockgarten, beispielsweise der Versailler Schlossgarten, wird bereits frühzeitig öffentlich zugänglich gemacht (in Versailles vor 1718). In ihm sind die höfisch-formalen Umgangsformen suspendiert, d.h. er bietet Raum für ungezwungene Begegnungen über Standesgrenzen hinweg. Er entwickelt sich schließlich zum »Reflexionsraum einer weitgefassten Öffentlichkeit«.3 Er ist also weniger absolutistischer Herrschaftsraum als vielmehr liminal space zwischen protobürgerlicher Gesellschaft und adeligem Hof. Zugleich zeigt sich sein vorgeblich liberales Gegenstück, der englische Landschaftsgarten, bei genauerer Betrachtung als ausgesprochen ambivalentes Gebilde, auf umfassenden enclosures, also Zwangsenteignungen, beruhend, und in seiner inszenierten Grenzenlosigkeit Komplement einer bellizistischen Empire-Ideologie, die die Freiheit weltweiter Handelswege mit Gewalt durchzusetzen gewillt war. Für die National Mall in Washington D.C. werden diese Beobachtungen bedeutsam, sobald man in Rechnung stellt, dass deren Konzeption auf den französischen Architekten Pierre L’Enfant zurückgeht, der von George Washington mit der Hauptstadtplanung beauftragt worden war, wobei L’Enfants Planungen wesentlich vom Versailler Schlosspark inspiriert wurden.4 Ein Barockgarten im Zentrum der neuen Welthauptstadt der demokratischen Revolution – wie geht das zusammen? Die übliche Reaktion ist dann zunächst auch nur von Ratlosigkeit geprägt: 1 Eine vorherige Fassung wurde vorgetragen auf der Tagung Politische Ikonographie zwischen produktiver Differenz und Konsens an der Humboldt-Universität Berlin, 3.-4. Dezember 2015. Ich danke den Teilnehmern, insbesondere den Herausgebern, Eva Marlene Hausteiner und Sebastian Huhnholz, sowie Markus Dauss für hilfreiche Kommentare. Teile des Aufsatzes rekurrieren auf Manow 2015. 2 Bredekamp 2012, S. 78. 3 Ebd., S. 118-119. 4 Vgl. Sudjic/Jones 2001; Hirst 2005; Sudjic 2006; Field, Gournay et al. 2007; Minkenberg 2014; Parkinson 2014; Benton-Short 2016.

Die National Mall in Washington D.C.

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»Wenn irgend etwas, dann hätte wohl diese totale Umgestaltung der politischen Verhältnisse zu einer Wandlung der barocken Ordnung führen müssen. […] Was aber sehen wir? […] Obwohl L’Enfant ein überzeugter Republikaner war, entsprach sein Entwurf der neuen Hauptstadt in jeder Hinsicht dem, was sich die Architekten und Diener des Despotismus ursprünglich vorgestellt hatten«.5 Was vor dem Hintergrund des hergebrachten Barockbilds als reines Rätsel erscheinen muss, wird schließlich mit dem eher reflexhaften Verweis auf eine ›imperiale Kompatibilität‹ monumentaler Architektur zu beantworten versucht: ob das Frankreich Ludwigs XIV. oder das Amerika George Washingtons – imperiale Einschüchterungsarchitektur funktioniere in beiden Kontexten im Wesentlichen identisch. Aber Bredekamps wichtige Rehabilitation des Barockgartens sollte Anlass dazu bieten, sich mit oberflächlichen Erklärungen nicht zufrieden zu geben. Darüber hinaus: Die Versailler Vorbildfunktion für die Washington Mall mit Kapitol, Lincoln Memorial, Weißem Haus etc. scheint nicht nur quer zu liegen zu unseren eingeschliffenen Gegenüberstellungen: Barockgarten/Absolutismus versus englischer Landschaftsgarten/liberale Bürgergesellschaft, sondern scheint ebenso wenig zu passen zu einem Frankreich-USA-Vergleich, mit einem zentralistischen Einheitsstaat absolutistischer Provenienz dort und einer föderativen Union demokratischer Einzelstaaten hier. Eignen die sich in einem zentralen Fluchtpunkt treffenden Radialstrahlen gleichermaßen zur Versinnbildlichung des einen wie des anderen, von Einheit wie Vielheit, welcher symbolische Eigenwert würde ihnen dann noch zukommen? Das verweist aber vielleicht auch nur auf die Grenzen einer Betrachtungsweise, die immer nur nach Materialisierungen von vorgängigen Ideen fragt, und nie nach der nachgängigen Rationalisierung eines bestehenden Inventars von Formen und Materien im Dienste vorgegebener Ideen. Zu den impliziten Voraussetzungen dieser Betrachtungsweise gehört die Annahme, Ideologien hätten jeweils eine relativ eindeutige Formensprache. Das ignoriert tendenziell die eigenständige politische Prägekraft unserer materiellen Umwelt, und es unterschätzt tendenziell die Flexibilität der Formen und das uneindeutige Verhältnis zwischen symbolischer Form und politischer Norm. Es ist sicherlich eher so, dass wir »mit den Räumen [denken], in denen wir leben«,6 als dass wir diese Räume direkt denken, also sie nach den Abstrahierungen formen würden, die wir zuvor aus der Anschauung der politischen Wirklichkeit gewonnen hätten. Hat ein demokratischer Souverän in den Raumkategorien der Demokratie gedacht – und das sogar schon um 1790?7 Wohl kaum. Wir haben die Tendenz in den Räumen jeweils das zu sehen, was wir sehen wollen: »under the shadow of Trump – would the classical architecture [of the Lincoln Memorial; PM] suddenly appear squatly fascist?«8 5 Mumford 1963, S. 469. 6 Damler 2012, S. 13. 7 Dunn 2005. Ganz zu schweigen von dem Problem, wie sich das, was um 1800 möglicherweise unter Demokratie verstanden wurde, zu dem verhält, was wir heute unter Demokratie verstehen; vgl. Przeworski 2010. 8 Amis 2017, S. 19.

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Das Bild der Washington-Mall als eines besonders hervorgehobenen Falls von Herrschaftsarchitektur mit ihren Einheits- und Differenzsymbolisierungen soll im Folgenden deswegen nicht als ein Beispiel für die manifest gewordene Absicht verstanden werden, »to create a space representative of American ideals and aspirations«9, sondern als Resultat einer Interaktion aus demokratischer Praxis und politischem Raum, einer vielschichtigen Kombination aus Plänen, Design, Gebrauch und Überschreibungen, ein Aneignungsvorgang mit vielfältigen Episoden der Differenz. 2. Demokratische Aneignung einer barocken Extravaganz Als Charles Dickens 1842 Washington D.C. besuchte, sah er »öffentliche Gebäude, die nur eine Öffentlichkeit brauchen, um vollständig zu sein«.10 Doch Befürchtungen, L’Enfants barocke Extravaganz würde ein kompletter Fremdkörper in der US-amerikanischen Hauptstadt bleiben, erscheinen heute weitgehend gegenstandslos. Die in den allgemeinen Erinnerungsschatz der Demokratie eingegangenen Bilder des March on Washington for Jobs & Freedom vom August 1963, die eine Menschenmenge von über 200.000 Protestierenden vor dem Lincoln Memorial und um das reflecting pool herum gelagert zeigen, wie sie der Abschlussrede Martin Luther Kings zuhören,11 dokumentieren die exemplarische demokratische Aneignung eines politischen Raums. Zum ersten Mal hatte sich 1894 mit dem Marsch auf Washington von »Coxey’s Army« – einer Bewegung von Arbeitslosen, Gelegenheitsarbeitern und Prekarisierten, die in Zeiten der schweren Wirtschaftsdepression von der US-Regierung öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, expansive Geldpolitik und ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm forderten – diese neue politische Protest- und Artikulationsform etabliert.12 Seither hat sie unzählige Wiederholungen erfahren. Was aus der Sicht der einen eine legitime »petition in boots« war, qualifizierte sich aus Sicht der anderen als ›Invasion‹ und unzulässiger Versuch, den formell zuständigen Ort kollektiver Entscheidungsfindung in einer Demokratie, das Parlament, unter den Druck der Straße zu setzen. Als bei der Ankunft in Washington, nach einem über 700 Meilen langen Marsch, der in Ohio seinen Anfang genommen hatte, der Anführer der Bewegung, Jacob Coxey, am 1. Mai 1894 auf den Treppen des Kapitols eine Rede halten wollte, wurde er mit Verweis auf das Verbot politischer Kundgebungen im unmittelbaren Umkreis des Kongresses in Haft genommen.

9 Benton-Short 2016, S. 21. 10 Vgl. Mumford 1963, S. 470. 11 Siehe etwa https://www.youtube.com/watch?v=d7s30wFCqlw (Zugriff 17. Mai 2017). Wasserbassins als prominentes Element auch der demokratischen Repräsentationsarchitektur verdienten eine eigene Darstellung; siehe als Auftakt hierzu die Diskussion des Parterre d’Eau von Versailles bei Bredekamp 2012, S. 77-85. 12 Barber 2002.

Die National Mall in Washington D.C.

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Die großen Demonstrationen auf Washingtons National Mall bieten uns die Visualisierung eines Transformationsvorgangs, bei dem sich eine unüberschaubare, amorphe Menge, aus dem ganzen Land mit Bussen, Bahnen und Autos zusammenströmend (oder, wie 1894, sich über Wochen zu Fuß – mit kontinuierlicher Medienbegleitung – der Hauptstadt nähernd), nun geometrisch eingefasst von Constitution und Independence Avenue, in der rechteckigen Form der Mall in einen einheitlichen politischen Akteur verwandelt – ein Vorgang, wie sich Vielheit in »ein unauslöschliches Bild der Einheit«13 übersetzt, um schließlich den formal zuständigen Ort für die Manifestation des repräsentierten Volkswillens, den USAmerikanischen Kongress, zu adressieren. Politische Architektur ist hier beides, einerseits statischer Ausdruck: social forces slowed into form und zugleich dynamische Funktion: slowing social forces into form.14 Die National Mall mit Lincoln und Washington Memorial, mit dem reflecting pool und der Blickflucht auf den Capitol Hill repräsentiert also mittlerweile eine demokratische Bewegungsund Transformationsarchitektur im Sinne Ludger Schwartes, der vorschlägt, den politischen Raum eher als »kollektive Interaktion zwischen Menschen und Dingen […] zur Festlegung von Aktions- und Passionspotentialen«15 zu verstehen, denn als leeres Forum, das zuallererst politisch zu füllen wäre. Ist es von Bedeutung, dass sich die Menschenmenge im August 1963 nicht nach Westen, zum US-Kapitol, sondern nach Osten, auf das Lincoln Memorial hin ausrichtete? Mit der Regierung war dies abgesprochen, gerade um dem Eindruck eines Versuches der Einschüchterung des Kongresses, in dem zur selben Zeit die Civil Rights-Bill der Kennedy-Administration verhandelt wurde, entgegen zu wirken. Zugleich ist das Lincoln Memorial der Ort der Verewigung jenes konstitutiven Moments in der Geschichte der Vereinigten Staaten, auf dessen Geist sich die Demonstranten beriefen. In den zeitgenössischen Fernsehübertragungen wurde genau dieser Zusammenhang gestiftet: Exakt hundert Jahre nach Lincolns Unterzeichnung der Emancipation Proclamation habe sich eine riesige Menschenmenge vor seiner Statue versammelt, um nun die Rassentrennung endgültig zu überwinden. Wir sind also auch mit der treffenden architektonischen Versinnbildlichung der dualen Temporalisierung des politischen Systems der Vereinigten Staaten konfrontiert, in dem einer »normalen«, parlamentarischen Politik, manifestiert im USKongress (als pouvoir constitué), die singulären Momente »konstitutioneller Politik« gegenüber stehen, in denen die Masse der Bürger (als pouvoir constituant) mobilisiert, um über fundamentale Verfassungsprinzipien zu streiten.16 Und diese konstitutionellen Momente der We, the people-Vergewisserung, für Bruce Ackerman im Fall der USA markiert durch die Gründungszeit (Founding Federalists), die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs (Reconstruction Republicans), den New 13 14 15 16

Barber 2002. Weizman 2012. Schwarte 2009, S. 103. Vgl. Ackerman 1993, 1998 und 2014.

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Deal (New Deal Democrats) und nun auch durch das Civil Rights-Movement der 1960er Jahre, finden einerseits ihre besonderen Erinnerungsorte in der Hauptstadtarchitektur, insbesondere in Washington und Lincoln Memorial, sie werden aber andererseits verfassungsrechtlich gepflegt und in der Rechtsprechung des Supreme Court beständig aufgerufen. Das demokratische Spiel zwischen Einheit und Differenz findet innerhalb dieses Ensembles statt: die außergewöhnlichen Momente der Einheitsstiftung schließen die Phasen fundamentalen Streits ab und geben dann den Raum vor, innerhalb dessen das alltägliche Spiel der Differenz stattfinden kann. Die Differenz des täglichen politischen Alltags ist also eingehegt innerhalb eines institutionellen Ensembles, das Ausdruck einer Befriedung grundlegender Konflikte ist. An diese konstitutionellen Momente wird durch Monumente erinnert, für Kongress und Oberstes Gericht markieren sie Begrenzungen im Tagesgeschäft des Streits.17 Es ist daher ohne große Bedeutung, dass das Gebäude des amerikanischen Verfassungsgerichts nicht direkt in das architektonische Bedeutungsensemble der Mall eingebunden ist, denn einer der zentralen historischen Verfassungsmomente der Republik steht den Repräsentanten im US-Kongress in der langen Blickflucht der National Mall in Form des Lincoln Memorials ja beständig vor Augen. Bis 1935 aber hatte der Supreme Court tatsächlich direkt im US-Kapitol seinen Sitz. Nach den ursprünglichen Planungen sollte das politische Zusammenwirken von Repräsentantenhaus, Senat und Verfassungsgericht, also die Einheit der Gewaltenteilung, architektonisch im zentralen Dom, der Rotunda des US-Kapitols, versinnbildlicht werden, für die zudem in einer Krypta das Grab George Washingtons vorgesehen war. Die Krypta mit Washingtons republikanischem Heldengrab, darüber die anlässlich seines hundertsten Geburtstags 1832 vom U.S. Kongress kommissionierte, umstrittene Marmorstatue, die ihn als Zeus zeigt (und die heute ins National Museum of American History verbannt ist), schließlich im Kuppelfresko der Rotunda die Darstellung der Apotheose Washingtons – dass angesichts 17 Ein entsprechendes Argument ließe sich für Berlin als neue Hauptstadt machen: Wie die ursprünglich intendierte imperiale Ost/West-Blickflucht von der Siegessäule über das Brandenburger Tor bis hin zum ehemaligen Stadtschloss heute dominiert wird von einer süd-nördlichen Linie aus Holocaust Denkmal, Brandenburger Tor und Reichstag(skuppel), die zudem Albert Speers megalomane Germania-Planungen überschreibt (mit der süd-nördlichen Linie aus Reichskanzlei, Brandenburger Tor und Volkshalle), ist einzigartig dokumentiert in Neil MacGregors Germany – Memories of a Nation, dem Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung des British Museum; vgl. MacGregor 2014. Siehe insbesondere dort das Foto auf Seite XL-XLI und Kapitel 1 Seeing from a Gate. An diesem Ort mit hohem symbolischen Aussagegehalt stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer ›erinnerungspolitischen‹, statt einer parlamentarischen Bannmeile. Nach gängiger Rechtsprechung können Versammlungen in der Nähe von historischen Gedenkstätten verboten werden, wenn sie die Würde der Opfer beeinträchtigen könnten. Siehe hierzu etwa den Entschluss des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Beschwerde der Jugendorganisation der NPD, der Jungen Nationaldemokraten, gegen die Untersagung der Route einer für den 8. Mai 2005 geplanten Demonstration (vorbei am Holocaust-Denkmal und Brandenburger Tor) durch den Berliner Polizeipräsidenten (Beschluss vom 06. Mai 2005 – 1 BvR 961/05).

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dieses völlig überbordenden Symbolprogramms Henry James vom US-Kapitol als baulichem Zeugnis des »bewildered taste« und der »arduous and interrupted education« einer jungen Nation sprach, vermag nicht zu überraschen.18 Das verdeutlicht jedoch, wie sehr das, was wir als National Mall kennen, auch die Geschichte der roads not taken, von entweder nicht eingeschlagenen oder sehr bald wieder verlassenen Wegen ist. Die aktuelle Gestalt ist auch das Resultat misslungener Symbolisierungsabsichten, fehlgeschlagener Allegorien, bald als Politkitsch erkannter Formverirrungen, mitunter von »Archiflops«.19 So war insbesondere der Rotunda des Kapitols ursprünglich offenbar ein völlig anderer Platz zugewiesen worden, sie sollte eigentlich der zentralste Platz des ganzen Ensembles werden. Heute fragen sich viele nur noch: »[W]hy did anyone ever build that huge, expensive round room in the middle of the Capitol, that has never, to the present minute, served any coherent and convincing purpose?«20 In den ursprünglichen Planungen war die Rotunda ganz im Gegenteil völlig überladen mit symbolischem Gehalt, sie sollte ein zivilreligiöser Tempel sein als freie Variation des römischen Pantheons: »a Roman temple slid into the center of a larger building«.21 Die Pläne Thorntons, des Architekten des Kapitols, sahen für die Rotunda eine umfangreiche Marmorgruppe vor, für deren Herstellung eine Reihe europäischer Bildhauer nach Washington gebracht werden sollten. Thornton stellte sich »an elaborate group in white marble« vor, einen großer Fels aus weißem Marmor in der »Bernini-Falconet Tradition«, in ihm das Grab Washingtons, und auf dem Fels eine Reihe allegorischer Figuren. Insbesondere: »A female figure symbolizing Eternity would lead the figure of Washington to the peak of the rock, to take flight into the heavens«.22 Das ist uns heute schwer erträglicher Politkitsch, der dann im Fresko der Kuppel mit seiner Apotheose-Szene wieder aufgenommen worden wäre. Anhand der National Mall ließe sich also exemplarisch zeigen, dass der öffentliche Raum immer grundsätzlich umstritten bleibt und dass seine Wirkung nie in den Absichten seiner Gestalter vollständig aufgeht. Das ließe sich schon an den Dimensionen der ursprünglichen Planungen ersehen, die sich für Jefferson nur als »lavish«, krypto-monarchisch und als Ausdruck einer unguten »grandomania« darstellten.23 Die beabsichtigte Grandeur wird schon an der Grundfläche der ursprünglichen Planungen offensichtlich. L’Enfants Stadtplan umfasste »five

18 Zitiert nach Scott 1995, S. 8. Der Plan für Washingtons Grab im Dome des US-Kapitols wurde erst aus Kostengründen, dann wegen des Widerstands der Familie gegen eine Umbettung, nicht verwirklicht. 19 Biamonti 2017. 20 Green 2002. 21 Ebd. 22 Green 2002. 23 Parkinson 2014, S. 71.

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thousand acres, comparable at the time to the footprints of Paris and London and as large as New York City, Boston, and Philadelphia combined«.24 Das verdeutlicht recht gut das leicht Megalomane des Vorhabens, insbesondere wenn man sich veranschaulicht, in welchem erbärmlichen Zustand sich die Nation um 1790 befand: »fiskalisch ruiniert durch den Revolutionskrieg, geführt durch einen Kongress, der einer Zentralisierung der Macht hochgradig ambivalent gegenüber stand, und bevölkert durch Bürger, die über ein riesiges Land verstreut waren und wenig reisten, so dass sie weder viele Gründe noch viele Gelegenheiten hatten, so etwas wie ein Nationalbewusstsein zu entwickeln« 25. Die Absicht, ein Einheitssymbol für die neue Nation zu schaffen, mag handlungsleitend gewesen sein, aber man fragt sich, an wen genau sich das ursprünglich eigentlich richten sollte. Die räumlichen Zwecksetzungen sind in also ihrer Schaffung kontrovers und ihrer Wirkung ambivalent und gewinnen erst durch eine Öffentlichkeit, die sich im politischen Raum verhält, ihren besonderen und daher auch über Zeit veränderlichen Sinn. Das ist, so möchte man meinen, zumindest das Spezifische an der politischen Architektur in der Demokratie, dass sie nie ohne eine völlig autonome Reaktion ihres Adressaten, des souveränen Volks, entstehen kann (und Teil seiner unvorhersehbaren Reaktion die Umnutzung vordemokratischer Architektur ist). Und dass überhaupt das souveräne Volk zugleich Schöpfer und Adressat dieser Architektur ist, sie also nur als eine Form der kollektiven Selbsteinwirkung verstanden werden kann. Wie alle Herrschaftsarchitektur wollen auch die Bauten der Demokratie Souveränität verkörpern, aber im demokratischen Kontext ist der Souverän »a rather abstract and broadly collective one: the people«.26 Und je mehr dieser Souverän am Entscheidungsprozess über die konkrete Form seiner eigenen politischen Repräsentation beteiligt ist, desto weniger ist mit einer eindeutigen, spezifischen Formsprache zu rechnen, wie Michael Minkenberg argumentiert. Denn warum sollte sich der demokratische Souverän binden? 3. Die Mall als zeremonieller Ort – Einheit und Differenz des Souveräns Die seit 1981 an der Westfront des Kapitols, also der dem Lincoln Memorial zugewandten Seite stattfindenden Inauguration des US-Präsidenten mit Vereidigung und Antrittsrede verwandelt die National Mall in einen »zeremoniellen Raum«,27 die Menge ist nun Publikum, nicht Akteur. Zu Obamas Vereidigung als 44. Präsidenten der USA am 20. Januar 2009 kamen 1,8 Millionen Menschen – die größte jemals auf der Mall versammelte Menschenmenge, sodass sie zum ersten Mal in 24 25 26 27

Benton-Short 2016, S. 24-25. Luria 2005, S. 155; meine Übersetzung. Minkenberg 2014, S. 53. Vgl. Goodsell 1988, S. 12. Von Washington bis Carter, gut zweihundert Jahre lang, wurden die Inaugurierungsfeierlichkeiten am Ostportikus des Kapitols abgehalten, erst Reagan brach mit dieser Tradition.

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ihrer vollen Länge freigegeben wurde. Die zum US-Kapitol hinaufführenden Treppen werden für die Zeremonie zu einer Art Amphitheater umgebaut, das nun jedoch hinter dem Rednerpult, im Rücken des Redners in Richtung der Mall geöffnet ist. Im Hintergrund ragt der Kongress mit dem zentralen Dom über hundert Meter imposant in die Höhe. Auf den Rängen sitzen offizielle Gäste, Familienfreunde und Prominenz. Der Ort von Obamas Inauguration ermöglichte eine Politik der kleinen Zeichen, um den Zusammenhang mit der Civil Rights-Bewegung, die fast fünfzig Jahre zuvor auf der National Mall ihre berühmteste Manifestation gefunden hatte, herzustellen: Mit John Lewis befand sich der einzige noch lebende Redner des 1963er Marsches auf Washington unter den geladenen Gästen, Obamas Antrittsrede zitierte mit dem Motto ›A New Birth of Freedom‹ Lincolns Gettysburg Address und verwies auf das sich zum zweihundertsten Male jährende Geburtsjahr des 16. US-Präsidenten.28 Warum aber wird der Präsident auf den Stufen des USKapitols, dessen Kammern er nur auf besondere Einladung betreten darf, und nicht am oder im Weißen Haus vereidigt? Erst nach der Inauguration mit Ablegen des Amtseides wird der Präsident mit einer Eskorte die Pennsylvania-Avenue hinunter zum Weißen Haus geführt. In der repräsentativen Demokratie stehen Parlamente und die versammelte politische Menge in einem besonderen Verhältnis zueinander, die – was ihre symbolische Darstellung angeht – vielleicht am treffendsten in einem Urteil zur Bannmeile des Kapitols als Zielkonflikt zwischen der »glorification of a form of government through visual enhancement of its public buildings« auf der einen Seite und dem bürgerlichen »exercise of […] basic constitutional rights in their most pristine and classic form« auf der anderen beschrieben wurde.29 Es ist die Konkurrenz zwischen der auf Dauer gestellten, d.h. auch baulich verfestigten formalen Repräsentation und der spontanen politischen Versammlung. Das Feste und das Flüssige, l’espace strié und l’espace lissé, politische Architektur als »social forces slowing into form«,30 die aber etwas von dem Flüssigen dieser gesellschaftlichen Kräfte noch referenziert: vielleicht rührt hiervon die Vorliebe, massive politische Repräsentationsbauten sich in vorgelagerten Wasserflächen spiegeln zu lassen? In der Inaugurationszeremonie ist dieser Souveränitätstransfer selbst noch einmal inszeniert, denn die grundlegende Konstellation ist ja eine zwischen versammelter Menge und neuem Amtsinhaber. Zeremonie und Demonstration, wie bei Trump die Inauguration und direkt am darauf folgenden Tag der Women’s march on Washington, stellen zwei unterschiedliche Arten von politischen Mengen dar. So wird es in der Demokratie zur Aufgabe, die Frage zu klären – und sie auch räumlich zu klären: was ist eine Menge? Und was macht eine Menge zur politi28 Es ist genau jener John Lewis, der erklärte, er werde der Inauguration Trumps fernbleiben, weil er ihn nicht als legitimen Präsidenten anerkenne, was Trump mit einer Reihe aggressiver Tweets beantwortete. 29 Jeannette Rankin Brigade v. Chief of Capitol Police (D.D.C. 1972). See, for instance: http://law.justia.com/cases/federal/district-courts/FSupp/342/575/2339637/. 30 Weizman 2012.

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schen Menge? Und wie ist das Verhältnis der fluiden Menge zu den institutionalisierten, verfestigten Formen ihrer politischen Repräsentation? Fragen dieser Art werden juristisch einerseits im Versammlungsrecht, spezifischer in der Einrichtung von Bannmeilen geregelt, die nun den liminal space zwischen Beherrschten und Herrschenden markieren,31 andererseits aber auch im Parlamentsrecht, das aus der Binnenperspektive den Zugang zum Parlament, Petitionsrechte und die Öffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlungen, also von Innen das parlamentarische Innen/ Außen reguliert – bis hin zum Verbot der Äußerung von Zustimmung oder Ablehnung auf der Zuschauergalerie im Parlament. In den USA verbot der Act to Regulate the Use of the Capitol Grounds von 1882 politische Demonstrationen in der Nähe des Kongresses. Diese Regel wurde erst Anfang der 1970er Jahre im Zuge des Anti-Vietnam-Protestes abgeschafft – vorherige Demonstrationen beruhten auf Ausnahmegenehmigungen im Einzelfall.32 Aber was macht nun eine Menge zu einer politischen Menge? Ohne Zweifel ist die schlichte Größe ein zentrales Kriterium. Auch die Organisatoren des Marsches auf Washington von 1963 verwiesen auf die schlichte significance of our numbers – in der Demokratie grundsätzlich ein gewichtiges Argument, denn die versammelte Menge bietet einen Vorschein auf die wählenden Bürger.33 Auch in dieser Hinsicht kommunizieren der informelle und der formelle Souverän in der Demokratie. Die Obama-Inauguration zeigt, so John Parkinson, »that sometimes very, very large number of people think that […] the physical occupation of space […] does matter.«34 Der bizarre Streit um die Zahl der Zuschauer, die sich zu Trumps Vereidigung am 20. Januar 2017 auf der Mall versammelt hatten, veranschaulicht das noch einmal in allen Details. Der Streit der Bilder und der Zahlen drehte sich um eine für Demokratien zentrale Frage. Wie zählt man politisch, wie zählt man eine Menge?35 Ein gängiges Verfahren, das auch bei der National Mall lange zur Anwendung kam, ist das der Luftbilder, denen ein GPS-Grid unterlegt wird, wo31 Breitbach 1994. 32 Im britischen Fall datiert ein Gesetz, das politische Demonstrationen im Umkreis von einem Kilometer vom Parlament verbietet, erst aus dem Jahr 2005. Auf einen Dauerprotestler, Brian Haw, der seit Juni 2001 vor dem Big Ben kampierte um auf das Schicksal irakischer Kinder aufmerksam zu machen, konnte es keine Anwendung finden. Auch das Preußische Vereinsgesetz vom 11. März 1850 bestimmte in seinem § 11, dass ›innerhalb zweier Meilen von dem Ort der jeweiligen Residenz des Königs oder der beiden Parlamentskammern Volksversammlungen nicht gestattet‹ seien. »Dieser Vorschrift liegt die Erwägung zugrunde, daß von den Entschließungen der höchsten Staatsgewalten selbst der Schein ferngehalten werden muß, als könnten sie unter dem Einfluß von Versammlungen gefaßt worden sein, welche sich als Vertreter des Volkswillens aufwerfen möchten« – so wird es in einem Kommentar zur Bannmeilenregelung im Preußischen Verwaltungsblatt ausgeführt; vgl. Delius 1907. Aber wann ist eine Menschenmenge eine Volksversammlung? 33 Mansbridge 2003. 34 Parkinson 2014, S. 99. 35 Schwartzberg 2014.

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durch dann unter der Annahme eines durchschnittlichen Personenabstands (eine locker zusammenstehende Menge: fast ein Quadratmeter pro Person; eine dicht gedrängte Menge: etwas mehr als ein halben Quadratmeter pro Person) die Gesamtzahl der Teilnehmenden hochgerechnet werden kann. Aber Luftbilder bei Großereignissen sind in Washington schlecht zu machen, denn einerseits gibt es im Umfeld der Mall mit ihren großen Abmessungen keine hohen Häuser, andererseits erlauben die strikten Sicherheitsvorkehrungen keine Drohnen oder den Überflug der Veranstaltung mit Flugzeugen oder Hubschraubern. Die nationale Parkverwaltung als für die National Mall verantwortliche Behörde hatte bis 1996 Luftbilder zur Abschätzung der Größe von Mengen verwendet. Doch beim Million Man March on Washington von 1995 waren die offiziellen Zahlen zum Gegenstand heftigen Streits geworden und danach entschloss sich die Parkverwaltung, auf die Schätzung und Bekanntgabe von Teilnehmerzahlen künftig zu verzichten. Während der National Park Service die Teilnehmerzahl des Million Man March mit 400.000 angegeben hatte, meinten die Veranstalter, ihr EineMillion-Ziel sei erreicht worden. Nation of Islam-Führer Louis Farrakhan, einer der Organisatoren des Marsches, drohte der Parkverwaltung mit Klage und sah die niedrigen Schätzzahlen als Beweis dafür, dass in der Behörde »racism, white supremacy and hatred for Louis Farrakhan« vorherrschen würden.36 Wissenschaftler von der Boston University schätzten in einer unabhängigen Untersuchung die Teilnehmerzahlen tatsächlich deutlich höher, mehr als doppelt so hoch wie von der Parkverwaltung angegeben. Ab 1996 schließlich berichtete der Park Service wegen der regelmäßigen Kontroversen keine Teilnehmerzahlen mehr. Wenn man keine offiziellen Zahlen bekommt, können die Zahl verkaufter Metro-Tickets in den Stunden vor dem Ereignis über die Teilnehmerzahlen Aufschluss geben, aber natürlich ist das ebenfalls kein präzises Verfahren, sondern ergibt höchstens Näherungs- und Vergleichswerte. WMATA, die Washington Metropolitan Area Transit Authority, berichtete für den Tag von Trumps Inauguration von 193.000 verkauften Tickets bis um 11 Uhr des Tages. Zur selben Zeit 2009, bei Obamas’ erstem Amtseid, waren es laut WMATA 513.000 verkaufte Tickets gewesen, zu seiner zweiten Amtszeit 317.000, für Bush jr. zweite Amtszeit 197.000 Metrofahrer bis 11 Uhr.37 Wo die Zahlen nicht eindeutig sind, kann der Streit als Vergleich der Bilder ausgetragen werden, und so ging die direkte Gegenüberstellung der Luftaufnahmen von Trumps Inauguration (Abb. 1) und von der Obamas (Abb. 2) um die Welt. Aber jedes Bild hat als politisches Argument nur 36 Siehe http://bigstory.ap.org/article/7afad98b7d78423cbb5140fe810e3480/when-it-com es-inaugural-crowds-does-size-matter (Zugriff 17. Mai 2017). 37 Schätzungen der Teilnehmerzahlen bei den Vereidigungszeremonien in Washington D.C.: Bill Clinton (1993, erster Term): 800.000 Zuschauer, Clinton (1997, zweiter Term): 250.000 Zuschauer, George W. Bush (2001, erster Term): 300.000 Zuschauer, George W. Bush (2005, zweiter Term): 400.000 Zuschauer; Barack Obama (2009, erster Term): 1,8 Millionen Zuschauer, Barack Obama (2013, zweiter Term): eine Million Zuschauer; die geschätzten 700.000 bis 900.000 Besucher bei Trump (2017) wären im Vergleich immer noch eine recht große Menge.

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begrenzte und für die jeweiligen Lager jeweils ganz andere Aussagekraft, und neben dem alternativen Fakten gibt es immer auch alternative Bilder. Entscheidend für die Trump Anhänger war dann tatsächlich ein ganz anderer Größenvergleich (Abb. 3).

Abb. 1 und 2: Vergleich der Teilnehmergröße der Inaugurationsfeierlichkeiten am 20. Januar 2017 (Trump; links) und am 20. Januar 2009 (Obama, rechts).

Abb. 3: Meme zum Streit um den Vergleich der Teilnehmerzahlen zwischen Obamas und Trumps Inauguration. Am 21. Januar, einen Tag nach der Vereidigung Donald Trumps, kamen zum Women’s March on Washington eine um die 500.000 geschätzte Zahl von Teilnehmern und Teilnehmerinnen, diesmal veröffentlichte die WMATA die Zahl von 273.000 verkauften Metro-Tickets bis 11 Uhr, acht Mal soviel wie an einem normalen Samstag um diese Uhrzeit und deutlich höher als die Zahl vom Vortag.

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Landesweit wird die Zahl der Teilnehmerinnen auf drei Millionen geschätzt. Das wäre die größte Demonstration in der US-amerikanischen Geschichte. Der Zahlenstreit ist konstitutiv für die Demokratie,38 und die Kontroverse über die crowd size bei Trumps Vereidigung zeigt, dass die Zahl in der Wahl besser zu ermitteln ist als in der Versammlung.39 Vor jeder Frage nach einer substantiellen Beteiligung an der Formulierung des Kollektivwillens: kein »demokratischer Wille […] ohne Regeln, die bestimmen, wie dieser Wille entstehen soll. […] Ein demokratischer Wille besteht […] niemals allein aus einer formlosen Zusammensetzung individueller Beiträge wie bei einer Demonstration […], weil […] nicht sichergestellt ist, dass alle die freie und gleiche Möglichkeit der Mitentscheidung haben«40 – also bereits vor Klärung dieser inhaltlichen Frage geht es in der Demokratie zunächst um die Klärung der rein quantitativen Dimension: Wie viele? Aufgrund von Repräsentation lasse sich »diese aus potentieller Macht sich bildende aktuale Macht quantitativ abmessen; in diesem Sinne wird Macht überhaupt erst berechenbar.«41 Und dabei geben Wahlen weniger Gelegenheit für alternative Fakten: »This was the largest audience to ever witness an Inauguration, period, both in person and around the globe« (Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, am 21. Januar 2017). Es ist daher die präzise gezählte und dann repräsentierte Menge die zählt in der Demokratie, in Differenz zur bloß versammelten.42 Im Rahmen der revolutionär neuen Form von Politik, für die Trump prototypisch steht, ist es aber dann vielleicht auch eher die virtuell versammelte Menge der Follower (wieviele davon sind fake accounts?), die seinen Tweets folgt, die politisch als Menge maßgeblich wird. Gleichwohl wird uns die Einheit der Differenz zwischen Repräsentierten und dem Repräsentanten, zwischen der Menge und dem Präsidenten, in der alle vier Jahr stattfindenden Inaugurationszeremonie auf der National-Mall immer wieder vorgeführt. 4. Political time, slowing into form Wie kanalisiert und/oder domestiziert die vorgegebene Architektur in ihrem weitesten Sinne die je konkreten und gesellschaftlich dynamischen Ansprüche und Massenartikulationen? Diese Frage wurde hier anhand der National Mall in Washington D.C. gestellt. Die Mall ist Ort der Zeremonie, der rituellen Versammlung 38 39 40 41 42

Schwartzberg 2014. Vgl. Manow 2017. Möllers 2008, S. 28. Vollrath 1993, S. 67. »Das Volk ist eine Einheit (unum quid) mit einem Willen und ist einer Handlung fähig; all das kann von einer Menge nicht gesagt werden. […] Gemeine Leute und andere, die den Sachverhalt nicht erfassen, sprechen von einer großen Zahl Menschen immer als vom Volke. […]. Allein sie wiegeln dabei unter dem Vorwand, dass es das Volk sei, die Bürger gegen den Staat, d. h. die Menge gegen das Volk auf« (Hobbes 1994 [1641], S. 198f. [12/8]).

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des Volkes und seiner im Vergleich dazu mehr spontanen Versammlung, also der Demonstration. Sie ist damit Ort der Einheit der Differenz aus Repräsentierten und Repräsentanten. Und im kollektiven Imaginären, als manifest-gewordene Konstituierung der politischen Gemeinschaft, ist die Mall auch immer wieder Phantasieort der Destruktion gewesen, der vorgestellten völligen Zerstörung (und Wiedererrichtung): Independence Day (1996), White House Down (2013), Olympus Has fallen (2013). Damit hat die Mall aber nicht nur die Fantasie der Filmemacher beschäftigt. Der United-Airlines-Flug 93, eines der vier Flugzeuge der koordinierten Terrorattacke vom 11. September 2001, der über Pennsylvania aufgrund einer Passagierrevolte abstürzte, sollte aller Wahrscheinlichkeit nach in das Weiße Haus oder alternativ das Kapitol gesteuert werden. Die ultimative Form politischer Einheit wird in den Kategorien von Freund und Feind generiert, in Angriff auf und Verteidigung gegen, und das Gemeinwesen konstituiert sich dann als Gegner oder gegen den Gegner. Literaturverzeichnis Ackerman, Bruce A. 1993. We The People: Volume 1 Foundations. Cambridge, Mass.: Belknap Press. Ders. 1998. We the People: Volume 2, Transformations. Cambridge, Mass.: Harvard UP. Ackerman, Bruce A. 2014. We the People: Volume 3 The Civil Rights Revolution. Cambridge, Mass.: Harvard UP. Amis, Louis 2017. «Donald Trump’s Inauguration«, in Times Literary Supplement, No. 5939, S. 19. Barber, Lucy 2002. Marching on Washington: the forging of an American political tradition. Berkeley, CA: California UP Benton-Short, Lisa 2016. The National Mall: No Ordinary Public Space. Toronto: Toronto UP Biamonti, Allessandro 2017. Archiflop: Gescheiterte Visionen. Die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur. München: Deutsche Verlagsanstalt. Bredekamp, Horst 2012. Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter. Berlin: Wagenbach. Breitbach, Michael 1994. Die Bannmeile als Ort von Versammlungen: Gesetzgebungsgeschichte, verfassungsrechtliche Voraussetzungen und ihre verfahrens- und materiellrechtlichen Folgen. Baden-Baden: Nomos. Damler, Daniel 2012. Der Staat der Klassischen Moderne. Berlin: Duncker & Humblot. Delius 1907. »Das Verbot von Volksversammlungen am Aufenthaltsorte des Kaisers und Königs sowie am Sitz der Parlamente«, in Preußisches Verwaltungsblatt 28, 14, S. 253-255. Dunn, John 2005. Democracy – a History. New York: Atlantic Monthly Press. Field, Cynthia. R. et al. 2007. Paris on the Potomac: The French Influence on the Architecture and Art of Washington, D.C. Ohio: Ohio UP. Goodsell, Charles T. 1988. The Social Meaning of Civic Space. Studying political Authority through Architecture. Kansas: Kansas UP. Green, Bryan C. 2002. »George Washington Equestrian Statue« (Entwurf), http://www.vacapit ol.org/documents/NR_Richmond_GeorgeWashingtonEquestrianStatue_127-6084_text.pdf (Zugriff 22. Juli 2017). Hirst, Paul Q. 2005. Space and power: politics, war and architecture. Cambridge: Polity. Hobbes, Thomas 1994 [1642]. De Cive (Vom Menschen – Vom Bürger: Elemente der Philosophie II und III, hrsg. v. Gawlick, Günter). Hamburg: F. Meiner. Luria, Sarah 2005. Capital Speculations: Writing and Building Washington, D.C. New Hampshire: New Hampshire UP. MacGregor, Neil 2014. Germany – Memories of a Nation. London: Allen Lane.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: https://www.cbsnews.com/news/photos-president-trumps-inauguration-crowd-vs-presi dent-obamas/ (Zugriff vom 26. September 2017), © Reuters. Abb. 2: https://www.cbsnews.com/news/photos-president-trumps-inauguration-crowd-vs-presi dent-obamas/ (Zugriff vom 26. September 2017), © Reuters. Abb. 3: http://starecat.com/hillary-clintons-inauguration-no-people-empty-field/ (Zugriff vom 26. September 2017).

Sebastian Huhnholz

Politischer Wohnen. Die Ikonographie kollektiver Identitäten am Beispiel urbaner Großwohnbauten im 20. Jahrhundert

1. Oikos, politisch Der Großwohnbau in seiner politikikonographischen Bedeutung ist jenseits totalitärer Wohnarchitektur und Gefängnissen vergleichsweise nachrangig untersucht worden.1 Mit dem Verweis auf die der griechischen Antike entstammende und vom Liberalismus reanimierte Differenz von Oikos und Polis bzw. privat und öffentlich allein ist das nicht erklärt.2 Schon das Wohnen im 19., insbesondere aber im 20. Jahrhundert lässt sich so nicht rahmen.3 Von der Jahrhundertwende an politisierende – beispielsweise volkspädagogische oder ideologisch gegen andere Wohnformen gerichteten – Dimensionen des Großwohnbaus bestätigen in vielen Details, dass der Wohnungsbau, dessen gemeinschaftliche Gestaltung, die Praktiken des Wohnens selbst und insbesondere deren habituelle Variationen nichts einfach ›Privates‹ sind, dass dem ›Politischen‹ oder ›Öffentlichen‹ streng gegenübergestellt wäre. Noch bis in die 1970er Jahre sind viele westeuropäische Geschosswohnbauten beispielsweise mit Fahnenmästen ausgestattet und allein in Deutschland haben sich mit der Weimarer Republik und der DDR gleich zwei Regimes des 20. Jahrhunderts auch über die Wohnungsfrage definiert.4 Die Betonung kollektiver Identitäten durch den politisch »lesbaren« Bedeutungsträger Architektur

1 Wichtige Forschungstitel (wie z.B. Blau 1999; Gartman 2009; vor allem Lane 1985; ferner Richter 2006a; Weihsmann 2002) zum Thema können nicht alle benannt werden; manche sind fraglos übersehen worden. Dennoch zeigt sich durch die Abwesenheit oder Allgemeinheit der politischen Großwohnbauikonographie in einschlägigen Kompendien und Kritiken (z.B. Braunfels 1988; Fischer/Delitz 2009 – darin indes m.E. Hahn 2009; ferner Fleckner et al. 2011; Glazer/Lilla 1987; Niethammer 1979; Koch 2014; von Saldern 1995; Schwarte 2009; Sedlmayr 1948, S. 37f.; Ward 2001, S. 74ff.; Warnke 1984; Welzbacher 2016) die Tendenz an. Buddensiegs Beitrag z.B. (2003) analysiert Gewerkschaftsbauten, lässt aber den oft von denselben Architekten bewerkstelligten Gewerkschaftsgroßwohnbau außen vor. Als »Großwohnbau« werden i.F. übrigens Geschossbauten ab zehn Wohnungen gezählt. 2 So aber z.B. Parkinson 2012, S. 49ff. Zur Privatheitsgenese des Arbeiterwohnens Wischermann 1997, S. 355. 3 Von Saldern 1997, S. 327f.; Häußermann/Siebel 1996, S. 32-42. Auf die geschlechtlichen Familienverhältnisse, die i.F. ausgeblendet bleiben, lässt sich dieser Befund allerdings nicht übertragen (Langewiesche 1979, S. 183). 4 Zur DDR Richter 2006b; von Saldern 1995; zur Weimarer Republik unten.

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ist im 20. Jahrhundert daher nicht auf die Sphären öffentlicher Repräsentationsbauten reduzierbar.5 Der vorliegende Artikel analysiert die Artikulation politischer Botschaften durch ästhetische, symbolische und praktische Merkmale des Großwohnbaus im 20. Jahrhundert. Dabei erfolgt eine Materialauswahl gemäß der Schwerpunktsetzung dieses Sonderbandes. Dessen Konzentration auf die Erzeugung identitätspolitisch produktiver Differenz legt einerseits die Heranziehung demokratisch konnotierter Beispiele nahe. Denn politische Architektur als künstliche Umwelt in gebautem Raum ist im 20. Jahrhundert nicht mehr nur Mittel zur Reproduktion von autoritärer Herrschaft und ihrer symbolischen Ordnung. Sie wurde immer öfter auch Ausdruck von Aneignung und Ambivalenz, von Improvisation und Provisorium, ein Mittel gesellschaftlicher Entfaltung, Kohäsion, Kritik und Integration.6 Das lässt eine identitäre Dimension in Gemeinsinn stiftenden und Differenz markierenden Designs und Nutzungsbestimmungen des Großwohnbaus vermuten, in einer Gestaltung, die nicht beliebige Heterogenität andeutet, sondern sich unter tendenziell pluralistischen Bedingungen als partikular ausweist. So verweisen Praktiken des Bauens und Wohnens auf den Groß- und Massenwohnbau als politisches Projekt. Sie verdienen mehr Aufmerksamkeit für dessen Aufstieg nach dem Ersten Weltkrieg, seine Transformationen durch die Totalitarismen und seine Entpolitisierung und soziale Reproblematisierung im Nachkriegsfunktionalismus Westeuropas. Erst nach dieser Abfolge war es schwieriger geworden »zu erkennen, [w]as ein Gebäude als faschistisch, demokratisch oder stalinistisch« auszeichnet.7 Davor muss daher zurück, wer die Entstehungsgeschichte des Großwohnbaus rekapituliert.8 Andererseits zeigt sich das Differenzprinzip auch in Gegenarchitektur an. Ikonologische Studien haben immer wieder gezeigt, dass die Architektur freier Staaten politische Gehalte aus der Auseinandersetzung mit monokratischen Sujets schöpft, seien es vormoderne oder diktatorische.9 Demokratische Formensprache also ist eklektisch.10 Entsprechend instabil sind programmatische Aussagen, mit denen Architekten Formen, Farben, Materialien und Motive als »demokratische« codieren. Das wirft Fragen auf, denn die Klarheit, mit der episodische Muster als 5 »Lesbar« im Sinne Gadamers 1979, der bestimmte Bauweisen als Antworten auf gesellschaftliche Fragen, politische Lagen, Herausforderungen usw. dechiffrieren will. Hinsichtlich der die funktionale »Identität« von Häusern vielleicht nicht »entfremdenden«, sie jedoch baulich abändernden Repräsentationsfunktion – dazu und zum Anspruch einer Rückbettung baulicher Formen siehe zudem umfassend Schoper 2010. 6 Statt vieler Dangschat 2009. 7 Sudjic 2006, S. 52; ebenso schon John Burchardt 1962 lt. Birk 2006, S. 79. 8 Der historischen Vergleichbarkeit wegen wird sie hier auf geeignete mitteleuropäische Fälle exemplarischen Charakters beschränkt. 9 Vorländer 2003. 10 Siehe nur Bredekamp 2012 und Manow 2008. Dass Ähnliches für den NS auch umgekehrt galt, er seine Symbolsprache als Inversion Weimars artikulierte, zeigen u.a. Lane 1985 und Welzenbacher 2016 – dazu unten mehr.

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womöglich universell demokratische Formensprache gehandelt werden, unterliegen kontextuell variablen Deutungen. Hatte beispielsweise Adolf Arndt auf dem Höhepunkt des europäischen Nachkriegsfunktionalismus behauptet, »daß zur geometrischen Architektur des Obrigkeitsstaates der feststellbare Mensch gehört, der sich im Ordinatenkreuz der Überund Unterordnung als Untertan fixieren läßt und im Geschehen bloß privates Publikum darstellt«, diskreditierte Arndt ausgerechnet Stilprämissen des Neuen Bauens, die vor dem Nationalsozialismus als demokratisch par excellence galten. Vermutlich war seine Skepsis vom Eindruck geleitet, dass die neuen ›brutalistischen‹ Betonwohnanlagen (von franz. béton brut) dem totalitären Antiindividualismus nichts entgegensetzen. Entsprechend jedenfalls bekundete wenig später – auf Einladung des nunmehrigen Werkbund-Vorsitzenden Arndt – auch Theodor W. Adorno sein »Unbehagen« am »zentraleuropäischen Wiederaufbaustil«. Mit Anklängen bei Ernst Bloch und Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte griff Adornos Metakritik auf Adolph Loos’ furioses Ornament und Verbrechen zurück, um in den Räumen der Westberliner Akademie der Künste (das heißt: mitten im unter betont demokratischen Vorzeichen neu errichteten Hansaviertel) der Architekturmoderne eine eigene Dialektik der Aufklärung zu bescheinigen. »Was gestern funktional war«, so Adorno 1965, »kann zum Gegenteil werden.«11 Die Aussagen Arndts und Adornos bestärken die Einsicht, dass die Formensprache politischer Freiheit umkämpft, dem Wesen nach nicht abschließend zu bestimmen sei.12 Umso mehr aber sind nach der Rekapitulation der Großwohnbauhistorie (2.) deren gestalterische Politisierungen zu kennzeichnen. Mittels Rückblicken auf die seit 1918 zunehmend ideologisierten Stilkontraste der Wohnmilieus wird die Differenzdimension des Großwohnbaus eingeführt, wobei insbesondere die politische Aufladung der Formensprache des Neuen Bauens in der Zwischenkriegszeit nachzuvollziehen ist (3.). Einigen öffentlichen Wohnbauten dieser Phase attestierte bereits Martin Warnke, dass sie weltanschauliche Gegenmodelle provozierten –13 mit der ›pluralistischen‹ Ironie freilich, dass Gegenarchitektur Vielfalt geradezu betont. Fallstudien folgen. Sie umfassen die Borstei, das Rote Wien und das Münchener Olympiagelände (4.-6.). Diese Sequenz soll verdeutlichen, wie sehr Standorte, Vorbilder, unvermeidliche Assoziationen und gezielte Stilzitate, aber auch Gegenund Konkurrenzprojekte Bauplanungen und Rezeption beeinflussen sowie die eigentliche Nutzung prägen. Zugleich stehen diese Beispiele für den Spannungsbogen der Großwohnbaustile im 20. Jahrhundert, der sich von konservativ zaghafter Stadtraumaneignung in Megalomanie steigerte und in ostentative Entpolitisierung mündete. Eine Schlussbetrachtung aktualisiert diesen Befund (7.). 11 Arndt 1960, S. 56; Adorno 1965, S. 375, Parallelen zu Sedlmayr 1948, S. 35, 73-75, und hinsichtlich der architekturpolitischen Kritiklinien auch Bloch 1938ff. und Habermas 1981. 12 Vgl. die Einleitung dieses Sonderbandes und in diesem insb. Manow und Diehl für weitere Beispiele. 13 Warnke 1996.

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2. Nach der »Fabrikschornsteinzeit«: Vom Hausen zum Wohnen14 Mitteleuropäische Städte waren zum vorletzten Jahrhundertbeginn durch kumulative wohnraumrelevante Entwicklungen gekennzeichnet. Zum einen bewirkten Effekte anhaltender Industrialisierung eine Umkehr der Stadt-Land-Relation. Allein in Deutschland drehte sich das Verhältnis nach der Reichsgründung binnen fünfzig Jahren vollständig um. Lebten 1871 zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land, ist es Mitte der 1920er Jahre nur noch ein Drittel.15 Hinzu trat ein absolutes Bevölkerungswachstum von fünfzig Prozent im selben Zeitraum.16 Die damit einhergehende Proletarisierung und die Soziale Frage veränderten nicht nur die Idee der Stadt. Sie lösten Innovationen aus, die von Massenhygiene über gemeinnützige Bauförderung und amtliche Wohnraumzwangsbewirtschaftung bis zum Kreativitätsschub im Umgang mit alten Werkstoffen, neuen Materialien und architektonischen Konstruktionsanforderungen reichten – und dies alles im Tempo von oftmals unter drei Jahren Laufzeit zwischen Entwurf und Fertigstellung selbst größerer Bauprojekte. So konnte und musste »während des Bauens experimentiert werden, und zwar nicht nur architektonisch, sondern auch bei der Bautechnik und bei der Finanzierung«.17 Die Stadt wurde dabei als ein Planungsobjekt – im vollen Sinne der Planungseuphorie der Industriemoderne – erst entdeckt.18 Ihre Gestaltung hob nun nicht mehr auf fürstliche Repräsentation oder bürgerliche Schmuckfassaden ab, sondern nahm den »zu beplanenden Raum als Ganzheit« auf und bezog auch die »Wohnblockinnenflächen […] in die Gestaltung mit ein[…].«19 In der Folge kam es zur Homogenisierung vormaliger Vielfalt »in das Raster bürgerlicher Wohnformen«.20 Schließlich begünstigten notorischer Wohnraummangel inklusive modernisierungsbedingter Wohnraumverluste und überteuerungsbedingten Leerstands, akuter Überbelegung und struktureller Mietspekulation seit Jahrhundertbeginn europaweit die politische Bereitschaft für Wohnbauförderung und Eingriffe in die Mietpreisentwicklung. Die am Ende des Ersten Weltkriegs zurückströmenden Männermassen sowie die politische Verpflichtung gegenüber Veteranen und Hin-

14 Metapher der »Fabrikschornsteinzeit« auf Bruno Tauts Zeichnung Die große Blume (in Taut 1920, S. 14). 15 Peltz-Dreckmann 1978, S. 16. 16 Bevölkerungsentwicklung seit 1871 lt. http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/0 1%20Bevoelkerungsentwicklung.pdf (Zugriff 20. Februar 2017). 17 Huse 1975, S. 89. 18 Dazu konzeptionell eingebettet van Laak 2010, S. 11. 19 Kloß 1982, S. 9. Detaillierte Zahlen zu amtlichen Wohnungszwangswirtschaft bei Führer 1995. 20 Niethammer 1979, S. 9; Wischermann 1997; zur Kontrollfunktion siehe u.a. Poppelreuter 2007, S. 125.

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terbliebenen trieben den sozialstaatlichen Umbruch auf die Spitze.21 Rudimentärer »Kriegssozialismus«, die ihm eigene Lohnarbeit der Frauen, die republikanisch motivierte Freisetzung von Dienstpersonal, aber auch der Bürgerkriegsdruck der »steckengebliebene Revolution von 1918«22 beschleunigten dies und ließen den Kleinwohnungsbedarfs nochmals anschwellen. In diesem Gemenge verband sich gesellschaftlicher Handlungsdruck mit politischer Maßnahmenlegitimität und sozialer Innovationsbereitschaft. Produktionsnahe Werk- und preiswerte Staatsbedienstetensiedlungen, mäzenatisch-karitatives Engagement, Gartenstadtbewegung, kommunaler Wohnungsbau sowie die rasante Zunahme wohnungsbaugenossenschaftlicher und gewerkschaftlicher Selbsthilfe verstärkten sich wechselseitig. Dies wurde gestützt vom privilegienfeindlichen Eifer volksstaatlicher Steuergesetzgebung und allerlei kreditwirtschaftlichen Konstruktionen, die der Miet- und Profitspekulation Einhalt boten. Zentralistisch insbesondere im Roten Wien (Abb. 1), föderal in der Weimarer Republik besorgten unzählige Förderungen des sozialen Wohnungsbaus und genossenschaftlich gestützte Bau- und Baukreditmodelle eine gewaltige Wohnungsbaudynamik nebst allerlei Zeugnissen moderner Baukunst in der Weimarer Republik.23 Haltlos pro-

Abb. 1: ›Bau-Statistik‹ der Gemeinde Wien (1926). 21 Jahn 2014, S. 25, zu einem Beispiel eines wohnungspolitischen Ultimatums durch »Kriegsbeschädigte«. 22 Von Beyme 1998, S. 375. 23 Zu Wien unten Genaueres, siehe hier nur Weihsmann 2002. In Deutschland entfällt knapp ein Fünftel der Neubauproduktion zwischen 1918-33 auf die Genossenschafts-

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vinzieller Wohncharme sollte durch massenästhetische Mission und fiskalische Feuerkraft gebrochen werden. Im Unterschied zur Ersten Republik in Österreich allerdings favorisierte die deutsche Demokratie schon damals stärker das liberalistische Modell. Wohnungsbauförderung hieß hier: Privateigentumsförderung, wenn nötig mit sozialbindungspflichtigen Konditionen und Sanktionen der Mietpreisgestaltung. Während im Zentrum Österreichs gesundes und lohngerechtes Wohnen zum republikanischen öffentlichen Gut erklärt wurde, sollte der Wandel in Deutschland stärker eigennutzorientiert-liberal, d.h. vor allem steuerstaatlich moderiert werden. Entsprechend langsam liefen Förderprogramme an und schon in der Wirtschaftskrise fanden sie ein Ende,24 von dem sich der durch nicht zuletzt föderalistische »Verwaltung des Mangels« gekennzeichnete Wohnungsmarkt im freien Deutschland nie wieder erholte.25 Die Dynamiken der Wohnungsbauförderung und des Reformwohnungsbaus blieben zwar nicht auf Kerneuropa beschränkt.26 Insbesondere aber, wo wie in Deutschland und Österreich nach dem Weltkrieg der »Volks-« bzw. »Freistaat« den »Reichsstaat« ablöste, konvergierte die Wohnungsfrage mit sozialstaatlichen Massenstrategien.27 »Unter dem Druck d[er] Wohnungsnot« sprach der Präsident des Deutschen Städtetages 1928 die Mission des »Neue[n] Wohnen[s]« in »selten[er]« Deutlichkeit aus: Die alten »›dumpfen Mietskasernen‹« der Großstadt hätten den Menschen den »›Begriff ›heimatlos‹ […] unausrottbar ins Herz gegra-

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bewegung, bis 1930 wurden bis zu 90% der Neubauten gefördert (Häußermann/Siebel 1996, S. 110, 126; von Beyme 1999). Petsch (1976, S. 38, 160-165) spricht von einer Steigerung von 115.000 1924 gebauten Großmietsbauwohnungen auf 333.000 im Jahr 1930, die zu »ungefähr drei Vierteln« aus überdies Privilegien und Besitzstände diskriminierendem Steueraufkommen finanziert wurden, nebst zwischen 70-80% öffentlicher Darlehensquote ggü. Hypotheken und Eigenkapital. Zeitgenössisch detailliertes Beispiel regionaler Maßnahmenvielfalt bei Gut 1928a. Lane (1985, S. 87ff.) nennt eine Gesamtzahl von 2,5 Millionen öffentlichen finanzierten oder geförderten Wohnungen zwischen 1919 und 1932, die 14% der Bevölkerung beherbergten. Zeitgenössische Gesamtdokumentation mit umfangreichem Bildmaterial bei Gut 1928b. 1930 kappte die Regierung Brüning per Notverordnung die Zweckbindung der Hauszinssteuer; 1931 folgte ein Kompromiss der SPÖ, der mit dem fiskalischen Sonderstatus auch das Ende des Projekts Rotes Wien einleitete – zum liberalistischen Steuerstaatsprinzip Huhnholz 2017a, b. Vgl. von Beyme 1999, S. 92. Die Strukturfolgen sind bekannt: Während die österreichische »Objektförderung« zumal des Wiener Raums international als kommunalistisches Vorzeigemodell sozialverträglicher Miet- und demokratischer Wohnkultur gilt, ist die steuer- und sozialstaatliche Variante der (West-)Deutschen zur staatskostenintensiven und sozial diskriminierenden »Subjektförderung« übergegangen (Wohngeld etc.). Ihr globalisierungsgetriebener Wohnungsmarkt verfügt heute über kaum noch staatseigene Objekte zur Marktregulierung. Siehe für den New Deal bspw. Szylvian 2015; für den russischen Konstruktivismus Zalivako 2012. Als Zeitdokument solch stolzen Bewusstseins mit diesen pathetischen Begriffen siehe ADGB 1928.

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ben […], sie verbittert und staatsfeindlich gemacht […]‹«; neuen »›Mietern und Besitzern‹« hingegen »›muß, ob gewollt oder ungewollt, ein neues Vaterland entstehen, das zur Staatsbejahung führt.‹«28 Aus Sicht eines gemäßigten Marxismus ist die Umwälzung der Arbeiterwohnbedingungen fraglos als Teil der Revolution verstanden worden. Die »Zerstörung aller ungesunden und schlecht gebauten Stadtviertel« beschrieb Friedrich Engels als zehnte Stufe des revolutionären »Entwicklungsgangs«.29 Vor allem in Österreich knüpfte daran der »Kommunalsozialismus« in sozialdemokratischer Linie an. In der enteignungslosen Munizipalisierung der Daseinsvorsorge einschließlich des Bauwesens nutzte er Marktkräfte für Sozialisierung. Durch Luxussteuern wurden Präferenzspielräume der Oberschichten diskriminiert, katasterpolitisch ein die unteren Klassen und ihre Wirtschaftskörperschaften privilegierender Baugrunderwerb ermöglicht.30 Emblematisch ist dieser Umschwung nirgends kraftvoller zum Ausdruck gekommen als in den auch andernorts immer wieder bewusst imitierten Schriftzügen (z.B. Abb. 2), die bis 1934 und erst langsam wieder nach 1945 an den Gemeindebauten des Roten Wien prangten (Abb. 3).

Abb. 2: Wohnstadt Carl Legien, Berlin Prenzlauer-Berg (Bruno Taut, 1929-30). 28 So inkl. eingebundenem Zitat Huse 1975, S. 66f. – meine Hervorhebung, SH. 29 Gemäß Engels’ Umwälzungskatechismus (hier in Engels/Marx 1999, S. 71), der ihn später gleichwohl nicht hinderte, die Wohnungsfrage als einen der »kleineren, sekundären Übelstände«, als bloßen Nebenwiderspruch der Klassenfrage abzutun, um die Selbst(bau)hilfe als kleinbürgerlich zu verunglimpfen (Engels 1872/73, S. 214, 239). 30 Umfassend Euchner 2005, S. 213-241.

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Abb. 3: Pestallozi-Hof, Außenansicht, Wien Döbling (Ella Briggs, 1925-26). 3. Formen und Gegenformen: Neues Bauen im Neuen Staat Intensität und politischer Charakter dieser Wohnbauaktivität ließen nun eine gesteigerte Aufmerksamkeit für deren ikonographische Praktiken vermuten, und zwar sowohl bei späteren Baugestaltungen wie auch in der Forschung darüber. Davon aber kann allenfalls bedingt die Rede sein. Insbesondere in manchen Darstellungen zum Neuen Bauen zeigt sich die Vernachlässigung des Großwohnbaus durch die politische Ikonologie an.31 Verständlich mag sein, dass manche Mustersiedlungen und Villen des Neuen Bauens Spott ausgesetzt waren, weil sich Proportionen ihrer zierlichen Wohnbauten und -räume gelegentlich als unverkäufliche Kopfgeburten entpuppten. Dem konservativen und schließlich nationalsozialistischen Angriff aber galten sie ohnehin stets als Verherrlichung »primitiver« Kulturen,32 als Inbegriff »bolschewistischer Araberdörfe[r]«33 (Abb. 4). 31 Vgl. etwa Birk 2006, S. 16, mit der Behauptung, Moderne, Bauhausstil, Neue Sachlichkeit usw. hätten keine »Akzeptanz« der »Bevölkerung« in der Weimarer Republik gefunden. 32 Die Denunzierung als »primitiv« ist mit einer symbolischen Tiefendimension unterlegt. Der Wiener Werkbund-Architekt Adolf Loos hatte sich einflussreich über die ornamentale Baukultur ereifert und sie, lustvoll übertreibend, mit Körpertätowierungen von Naturvölkern und Inhaftierten verglichen. Damit war der politische Kontraktualismus der liberalistischen Ideenlehre aufgerufen, da spätestens von Thomas Hobbes an Körperbemalung für den vorgesellschaftlichen Naturzustand stand (Manow 2011; Där-

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Abb. 4: »1940 Stuttgart. Weissenhofsiedlung, Araberdorf«. Überdies lassen heute eine Reihe von Bauhaus-Mythen sowie die das Neue Bauen umgebende »Ästhetik der Askese und der Läuterung«34 den gemeinsamen Entstehungskontext volksstaatlicher Bauplanung und bürgerlicher Avantgardearchitektur verkennen. Entgegen manchen Klischees wurden die Großsiedlungen des Neuen Bauens weitschichtig abgenommen und enthusiastisch vor allem durch die Sozialdemokratie als politischer Bauherrin begrüßt.35 mann/Macho 2017). Noch Adorno begreift Ornamente als »Narben überholter Produktionsweisen« (1965, S. 378). Loos scheint sich diese Tradition zu Nutze zu machen, wenn er betont, kulturelle Evolution sei »gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornamentes aus dem Gebrauchsgegenstande«, das Ornament sei »Schmarren« vormoderner »Prunkpaläste« (Loos 1910, S. 95f., 108, 129). Die explizite Schmähung der späteren, auch Loos’schen Werkbund-Architektur als »primitiv« sowie ihr Vergleich mit gekalkten Lehmhütten u.a. ist insofern als ideologische Inversion dieser Attacken zu verstehen. 33 Damit Kritik an Walter Gropius reformulierend Richter 2006b, S. 129. Das beliebte Stereotyp zielte nach links, galt z.B. auch dem Braunschweiger August-Bebel-Hof (Friedrich R. Ostermeyer, 1930), der »widerwärtige[n] Massenansammlung syrischer Wohnhöhlen« (http://www.braunschweig.de/leben/stadtportraet/stadtteile/bebelhof/ (Zugriff 20. Februar 2017)), oder dem Bauhaus als »orientalische[m] Glaspalast« (vgl. Sudjic 2006, S. 37). 34 Ebd. (Richter), S. 137, in affirmativer Reformulierung zeitgenössischer Polemiken zur »Wohndiät« u.ä. 35 Gartman 2009, S. 108.

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Schillernde Namen wie Bruno Taut, Ernst May, Le Corbusier oder Walter Gropius, Zusammenschlüsse wie das Dessauer bzw. Weimarer Bauhaus und vor allem der Deutsche Werkbund können daher weder in ihren Anfängen noch in ihren sozialtechnologischen Wirkungen den Anliegen einer stereotypen Arbeiterbewegung gegenübergestellt werden.36 Ihre in der kurzen Konsolidierungsphase der Weimarer Republik realisierten Siedlungsbauprojekte von Berlin und Breslau über Celle, Dessau, Frankfurt und Hamburg bis Karlsruhe belegen (nebst politischer Funktionen und demokratischer Ämter vieler ihrer Architekten) die tiefe politische Verstrickung des Neuen Bauens in die neue Zeit.37 Bis zur Mitte der 1930er Jahre sollten sich bedeutendste Vertreter sogar für sowjetische Großbauprojekte engagiert haben.38 Das Oxymoron Alexander Schwabs, wonach das Neue Bauen von »›Großkapital und Sozialismus‹« getragen wurde und dadurch konservative Vorbehalte nährte, traf die politischen Verhältnisse also genau.39 »Verwestlichung«, »Internationaler Stil« und Sozialismus ergänzten sich.40 Dabei sprachen sich gerade die »Architekten des modernen Bauens […] gegen individuelle Formen aus, bekämpfen isolierte Privatheit des Einzelhauses, plädieren für Siedlungen, die der solidarischen Gemeinschaft dienen und glauben an die Kollektivität als stilbildenden Faktor.«41 Leicht lassen sich Beziehungen zum Arbeiterwohnbau der Genossenschaften aufzeigen, etwa in der Orientierung auf ästhetische Klarheit und praktische Nützlichkeit, auf körperliche und geistige Gesundheit, auf Hygiene und Naherholung, auf Elektrifizierung, sauberes Heizen und Mobilität, auf Bildung und kulturelle Abwechslung, auf glückliche Kindheit und unbeschwertes Altern sowie in der Betonung von Frieden, Selbstbestimmung und Internationalität. Als markanter Unterschied zu den meisten kommunalen bis genossenschaftlichen Bauprojekten allerdings müsste die Konstruktion benannt werden. Gemeinde- und Genossenschaftsbauten setzten auf Back- bzw. Ziegelstein. Diese waren einerseits wärmedämmend und -speichernd. Da sie Heiz- und damit Mietkosten sparen, zählte ihr Sozialwert einschließlich des gesundheitlichen. Auch ästhetisch und »moralisch« kam dem Backstein für Arbeiterwohnungen ein authentischer Materialcharakter zu.42 Für Mies van der Rohe eröffnete er noch Mitte der 20er

36 Siehe nur Damler 2012, S. 21f.; Petsch 1976, S. 34-39; Blau 1999, S. 8. 37 Vgl. z.B. Franzen 1993, S. 9; in Spitzenämtern bspw. Ernst May in Frankfurt und Martin Wagner in Berlin. 38 Lane 1985, S. 102ff.; pars pro toto ausführlich zu Mays sowjetischen »Standardstädten« Flierl 2012. 39 Hier zit. n. Huse 1975, S. 125; sehr ähnlich Gartman 2009, S. 104. 40 Vgl. Blau 1999, S. 197ff. zur »Verwestlichung« (westernizing) Wiens. 41 Petsch 1976, S. 33f. 42 Zur ikonologischen Rolle des Materials und der seit dem 19. Jahrhundert zunehmenden politischen Bedeutung seiner ›Ehrlichkeit‹ (von Natürlichkeit bis Herkunft) Raff 2008.

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Jahre alle Konnotationen von »Proletariat, Arbeit und Fortschritt«. 43 Andererseits gab diese bewährte Bauweise ihren Häusern zunächst einmal eine ähnlich monumentale Statur wie den bürgerlichen Gründerzeitbauten. Zwar verzichteten viele Großwohnbauten auf das üppige Dekor der Schmuckfassaden. Doch die – mit Ausnahme von Fritz Schumachers Hamburger Klinkerbaumode der 1920er Jahre – meist verputzten Außenflächen unterliefen die proletarische Materialehrlichkeit des Backsteins wieder. Der »entfremdete« Putz reproduzierte als »Verkleidung« und »Imitation« ohne »Gebrauchswert« bürgerliche Baucodes.44 Und auch aus heutiger Sicht mag es scheinen, als hätte die Formensprache der proletarischen Kollektivbauten schon ob ihrer wuchtigen Statik altbacken gewirkt. Denn anders als der Moderne Stil und die Ideale des Neuen Bauens, im Vergleich überhaupt mit den ungleich teureren Bautechniken und innovativen Konstruktionsmöglichkeiten der avantgardistischen Ästhetik, die (zumindest programmatisch und rhetorisch)45 auf filigrane Stahlträger, großzügige Glasfassaden, getünchte Glattwände und flexible Leichtbauweise kubischer Formen setzte, mochten feste Fundamente, tragende Backsteinwände und Fensterchen plump wirken. Doch ist dieser Eindruck ein historisch überformter. Die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wiederbelebte Kultur urbaner Arbeiterarchitektur der Zwischenkriegszeit46 ist durch den nationalsozialistischen Heimatstil zunächst relativiert und sowohl durch die kleinbürgerliche, betont apolitische Bauweise vieler westeuropäischer Nachkriegsbauten wie auch den östlich davon eingeführten sozialistischen Klassizismus (»Zuckerbäckerstil«) überschrieben worden.

43 Fuhrmeister 2012, S. 28. Zu erinnern wäre diesbzgl. auch an Mies’ Haus Lemke am Berliner Obersee. 44 Siehe Anm. 32 und epochenübergreifend in diesem Sinne nur die Beiträge von Peter Geiger (1902) und Roland Barthes (1957) in Rübel et al. 2005, S. 114 bzw. 87-89. Unklar bleiben muss hier indes die dann naheliegende Frage nach der Bedeutung geometrisch differenzierter Fassaden für die farbliche Musterung und ggf. politische Markierung des Massenwohnbaus, wie sie sich am berühmtesten bei Bruno Taut zeigt (siehe Brenne 2013). 45 Zur Dimension der Materialehrlichkeit gehört die Erinnerung, dass viele Prestigebauten schummelten: das mit neuen Konstruktionsmitteln errichtete Schloss Neuschwanstein beispielsweise nicht minder als das Düsseldorfer Mannesmann-Verwaltungsgebäude von Peter Behrens (1912), das seine Skelettbauweise durch wuchtige Fassadenelemente verschleierte. Dazu und zum »Lügenstil« auch Sedlmayer 1948, S. 36, 72, der zugleich betont, dass »[l]ange vor dem Beton […] ›Beton-Formen‹ erschienen« (ebd., S. 97), womit vor allem wohl Le Corbusier gemeint war, der sein Leitprinzip vom Skelett unabhängiger Wände lange nur simulierte und sich überhaupt kaum an eigene Maximen hielt. Das Ideologem industrieller Fertigung blieb in Europa bis zum Ende der zwanziger Jahre utopisch: »mass production was not a reality but an asthetic dream, an unrealized ideal« (Gartman 2009, S. 15). 46 So datiert z.B. die ›Wiederentdeckung‹ des Roten Wien erst auf Weihsmanns (2002) Publikation von 1985.

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Zwar zog sich quer durch diese Etappen auch ein puristischer Funktionalismus der Alltagsdinge. 47 Seltsamerweise aber griff dieser nicht vom Haushalt und sachlich gehaltenen Tür-, Geländer- oder Fliesenformen auf die Formensprache des großstädtischen Wohnhauses an sich über.48 Anders als die klassizistischen Repräsentationsbauten und weitere seiner typischen Bausujets war vor allem der nationalsozialistische Wohnbau durch ostentativen Regionalismus geprägt. Der Regionalismus ist damit eines der wenigen durchgehenden Spezifika des Wohnbaus im Faschismus, ein Umstand, den Gerhard Fehl auf den kleinbürgerlichen Geschmack des NS-Bonapartismus zurückführt und somit sozialstrukturell deutet. In der Weimarer Zeit hätte »sich jede der vielen politisch-kulturellen Strömungen gewissermaßen eine festes Architekturbild geschaffen, […] der ihrem eigenen kulturellen Kontext, ihrer Ideologie am ehesten entsprach: so neigte – grob gesehen – beispielsweise das deutsch-nationale Kleinbürgertum dem ›Heimatstil‹ mit steilem Dach zu; die organisierte Arbeiterschaft dem ›modernen Stil‹ mit Kubus und Flachdach […] Die zunehmende politische Polarisierung […] trug zur Verfestigung dieser Prägung bei, so daß Baustile um 1929 mancherorts als platte Kampfzeichen getragen wurden; der viel zitierte ›Krieg der Dächer‹ […] war kein Krieg um Bauformen, sondern ein Krieg um die mit den Bauformen vermittelten politischen Inhalte: das Flachdach auf kubischem Körper wurde in der Architektur zu dem, was die ›Internationale‹ in der Musik war; bedeutete Solidarität, Gleichheit, Demokratie, sozialen und technischen Fortschritt; die neue Bauform war mit der neuen gesellschaftlichen Bewegung der Arbeiterklasse und mit dem Maschinen-Kult von fortschrittlichen Intellektuellen zu einer Einheit verbunden worden. Das Steildach dagegen wurde zum Inbegriff ›deutschen Wesens‹ […] und verband sich mit allerlei Anti-Einstellungen: gegen Juden, Demokratie, Sozialisten und Maschinen«.49

Zeitgeistig begünstigt worden sein mag die seiner biopolitischen Ideologie nach unvermeidlich anti-industrielle Romantik des NS dabei von den vielen ohnehin auf Schrebergartenwirtschaft und Kleintierzucht angewiesenen Subsistenzlösungen der rheinischen Sozialdemokratie ebenso wie von Teilen der Gartenstadtbewegung und der »ständischen« Benevolenz des »obrigkeitsstaatlichen Werkwohnungsbaus des 19. Jahrhunderts«. Der ›idyllische‹ Charakter des NS-Siedlungsbaus jedenfalls lässt umfassende Anklänge erkennen – bis hin zum (vorübergehenden) Versprechen, das Modell Mietwohnung ganz zu verabschieden.50 Nicht die sozialistische und urbane Verdichtung, sondern vielmehr die »gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung über das Reichsgebiet« zwecks »Auflösung der Ballungsgebiete« war »übergeordnete[s] Ziel nationalsozialistischer Siedlungspolitik«.51 Der Trend zum Trivialbau mit Spitzdach und Sträuchern entlastete die Planer überdies von der Peinlichkeit, die gleichwohl häufige Verwendung ›undeutscher‹ Werkstoffe und moderner Fertigungsverfahren von Glasfläche bis Stahlske47 Siehe Damler 2012, S. 96ff. 48 Vgl. z.B. Nerdinger 1993. 49 Fehl 1985, S. 96f. Zur »konfusen und widersprüchlichen« NS-Architektur Lane 1985. Sudjic 2006, S. 38, benennt aber frühe Regimemerkmale, die noch auf Vereinbarkeit von NS und moderner Architektur hinwiesen. 50 Peltz-Dreckmann 1978, S. 265, 296; Zitat von Petsch 1976, S. 152. 51 Ebd. (Peltz-Dreckmann), S. 116.

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lett zu rechtfertigen.52 Und selbst wo dies – wie aus nahe liegenden Gründen vor allem in einigen der in Fläche und Dichte ausgelasteten Großstädte des Dritten Reichs – nicht zweckmäßig war, wurden NS-Mustersiedlungen als ideologisch bewusste Gegenarchitekturen entworfen. Der gegen die Weißenhofsiedlung 1933 errichtete Stuttgarter Kochenhof zählt genauso dazu wie die Zehlendorfer SS-Kameradschaftssiedlung, deren Gestalt benachbarte Ikonen des Neuen Bauens wie Bruno Tauts Onkel Toms Hütte weiterhin als »›Sing-Sing‹ oder ›Neu-Jerusalem‹ verfemt[e]«.53 So wurde im Kleinen jene »Strategie des Gegenbaus mit großer Folgerichtigkeit übernommen«, der sich avantgardistische Ensembles schon zu Weimarer Zeit durch konservative Kontrastwohnbauten ausgesetzt sahen.54 Farbenfrohe Großwohnbauten Tauts beispielsweise werden nach der Machtübernahme der Nazis monochromisiert.55 In manchen der (insgesamt seltenen) Ausnahmen, in denen der NS selbst auf Groß- oder gar Massenwohnbau setzte, kehren überdies jene spiegelnden Wasserflächen zurück,56 die die republikanischen Varianten gewöhnlich vermieden.57 Als Brunnen-, Plantsch- und Schlittschuhflächen wären sie wohl willkommen gewesen.58 Ab- und rückstrahlende Oberflächen aber waren noch mit autoritärer Ikonographie assoziiert –59 ein Manko, das den NS nicht kümmern brauchte.

52 Siehe nur die Texte Albert Speers und Richard Klaphecks in Rübel et al. 2005, S. 221ff. Viele Werkstoffe des Neuen Bauens waren zudem bald dem Mobilmachungs- und Rüstungsprimat unterworfen (Retsch 2009, S. 22). 53 Machule 1985, S. 251. Siehe auch Anm. 32. 54 Warnke 1996, S. 16, erinnert dazu an die 1928 gegen Tauts Onkel Tom-Siedlung genehmigte Versuchssiedlung Am Fischtal sowie die direkt gegenüber der sog. »Roten Front« der Britzer Hufeisensiedlung, auf der heutigen Fritz-Reuter-Allee errichtete Heimatarchitekturanlage. Ungers (1983, S. 22) erinnert an die nur politisch verhinderte Inhaftierung von Tauts Mitarchitekt Wagner, der sich der bauamtlichen Erzwingung von Giebeldächern – also der von Taut politisch verhassten »zappelnden« und »überspitzten« »Mützendächer«, die das »Haus um des Daches willen« schmücken (Taut 1927, S. 57, 4) – für die Hufeisensiedlung verweigert hatte. 55 Z.B. Brenne 2013, S. 81. 56 Peltz-Dreckmann 1978, Anhang o.S., Abb. 81. 57 Zu Wasserflächen und Reflexionen in der demokratischen Ikonographie siehe allerdings auch den Beitrag Manows im hiesigen Band sowie zum Schwimmen Bredekamp 2015 und 2016. 58 So bei der (später tatsächlich in einen Sandkasten verwandelten) Ausnahme von Ernst Mays Siedlung Bruchfeldstraße in Frankfurt am Main (1926/27), siehe Ungers 1983, S. 77, und Lane 1985, S. 93. Teils anders im Roten Wien (vgl. Jahn 2014, S. 21, S. 157, 177f.), wo allerdings öffentliche Wasserstellen eher als Gegenikonen zur verhassten »Bassena« fungierten, dem unhygienischen Mittelpunkt der kaiserzeitlichen Mietskaserne. 59 Ihre Transformation in Formen transparenter, gebrochener oder durch geschickt ›reflexive‹ Drehungen den Anderen integrierende Modellierungen stellte sich erst später ein. Zum Komplex August in diesem Band.

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So betrieb – wenigstens in seiner Vorkriegsphase – der NS durch die antifunktionalistische »Norm« der Heimatgemütlichkeit seines Wohnhausstils eine demonstrative »Umkehrung der Wohnungspolitik der zweiten Phase der Weimarer Republik«.60 Anders als der sozialistische feindete der nationalistische Totalitarismus den Baustil der »zellenbauenden Biene« programmatisch an, bisweilen verstärkt durch Affekte gegen beispielsweise Le Corbusiers Moskauer Entwürfe.61 Anders gesagt: Wohnwirtschaftlich kennzeichnen den NS mehr autokratie- als totalitarismustypische Spezifika.62 Seine Überführung in den zur »restaurativen Wiederaufbauphase« der Bonner Republik »erneuert[en] Heimatschutzstil« dürfte das erleichtert haben.63 Tatsächlich sind nach dem Krieg viele Arbeiterbauten der Weimarer Zeit durch allerlei Schmückungen verbürgerlicht worden. Nach urbanen Moden und Gentrifizierungszyklen, in denen Wohnbauten immer wieder ikonoklastisch »rasiert«, wiederbestuckt, erneut entdekoriert und dann wieder »aufgewertet« usf. wurden, simulieren viele heute prächtige Bürgerhausfronten ihre Authentizität lediglich.64 So wird zumindest für die BRD und Österreich eine politische Ikonologie des Großwohnbaus aufgrund mehrfacher Neugestaltungen seit dem NS erschwert. 4. »[N]icht eine Kommunität im sozialen Sinn«:65 Die Borstei Will man nun die Abfolge zwischen Politisierung und Depolitisierung des urbanen Großwohnungsbaus rekapitulieren, lohnt es sich, auch auf betont vorpolitische Entwürfe zu verweisen. Als Beispiel kann die im Münchener Nordwesten gelegene Borstei gelten, eine zwar öffentlich bezuschusste, indes bauherrlich gestiftete und 1924-29 sukzessive errichtete Wohnsiedlung, deren modernisierungsskeptisch geschlossener Zuschnitt zu »Beschaulichkeit«, »sozialer Distanz« und »vollständigem Rückzug ins Private« einlädt.66 Schon der eigensinnige Name verweist auf zwei programmatische Wurzeln: Zum einen auf die nahe Augsburger Fuggerei, jene von Jakob Fugger 1521 gestiftete Bedürftigensiedlung für »würdige Arme«, der die Borstei in bedeutenden Details von Farbgebung über Gartengestaltung bis Wandputz ähnelt. Die andere 60 Fehl 1985, S. 107; Petsch 1976, S. 167; Richter 2006b, S. 24; von Saldern 1995, S. 214f. 61 Vgl. Pletz-Dreckmann 1978, S. 101; Rosenau 1959. Dass Le Corbusier dem Ausmaß seiner Phantasien gemäß tatsächlich beiden Totalitarismen zugeneigt war, ist erst in jüngerer Zeit aufgearbeitet worden (u.a. Weber 2008). 62 I.S.v. Linz (2003), wonach Autokratie auf Apathie und Totalitarismus auf euphorisches Bekenntnis angewiesen sei, die Skala zwischen beiden mithin zwischen misstrauischer Exklusion und totaler Inklusion oszilliere. 63 Petsch 1976, S. 231. 64 Siehe Hiller 2012; Richter 2006b. 65 Weschenfelder 1980, S. 73. 66 Ebd., S. 103.

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Wurzel verweist auf den Namensgeber Bernhard Borst, wobei auch Assoziationen zu Abtei und Bastei gelegen kamen, denn Klostergartenidylle und Abschottung sind der trotz ihrer heute verkehrsintensiven Umgebung stillen Siedlung konstitutiv. Die ›liebevolle‹ Gestaltung der Borstei und das in einer Reihe serviler Ehrenschriften ausgeschmückte Gemüt des aus den sog. einfachen Verhältnissen stammenden Borsts geben der Anlage ihre paternalistische Aura. Sie geht weder in Rastern etablierter Formen bürgerlichen noch kleinbürgerlichen Wohnens auf. Wohl auch daher hat sich die lokalpatriotische Aufsteigerbiographie Borsts der (schmalen) Literatur als zentrales Interpretament aufgedrängt. Sein vermengter Kunstgeschmack und politischer Einfluss erlaubten es Borst, die Straßen seiner Borstei nach allerlei Künstlern zu benennen und mehr oder weniger harmonierende Skulpturen aufzustellen. Regionalgrößen der Zeit kamen dabei ebenso zu ihrem Recht wie Franz Marc durch eine nach ihm benannte Passage oder Donatello durch eine Nachbildung seines Davids, der sich in direkter Nähe einer Büste von Borst selbst findet. Pittoreske Facetten, behutsam variierende Details in Türrahmen- und Ziergittergestaltung und die »kleinteilige Intimität der Gartenhöfe« prägen das Innere der Borstei.67

Abb. 5: Luftansicht der Borstei, München Moosach (undatiertes Postkartenmotiv). 67 Ebd.

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Nicht anders als zeitgleich die Avantgardisten von Bruno Taut bis Frank Lloyd Wright wollte Borst zudem das individuelle Wohnen kontrollieren. In Möbelstilfragen mischte er sich ebenso ein wie er bestimmte Balkonnutzungen anregte. So verführt der konservative Charme der Borstei unvermeidlich zu der Interpretation, hier habe ein zu Wohlstand gekommener Bauunternehmer eigene Kindheitsmuster verarbeitet68 und deren pflegliche Befriedigung durch ›seine‹ Bewohner dank »ständiger Präsenz«69 bis ins hohe Alter vor Ort genossen. Interessanter als die sorgfältig inszenierte Verehrung der betulich bescheidenen Stifterpersönlichkeit ist die bauliche Umsetzung der Borst’schen Träume. Kunsthandwerkliche Beleuchtung und sorgfältige Wandmalereien, Wildtierskulpturen im Innern u.a. brechen mit der nach außen unaufgeregt abschottenden Fassade. Einige Zugänge und zentrale Zufahrtswege sind Stadttoren nachempfunden. Die etwa 4000 Räume der mit 65 bis 110 Quadratmetern für damalige Verhältnisse außerordentlich großen gut 800 Wohnungen erinnern an antike Polis- und frühneuzeitliche Idealstaatsgrößen wie auch frühsozialistische Planungsstädte.70 Im Gegensatz zu diesen aber verzichtet die penibel gepflegte Anlage auf ein panoptisches Zentrum und auf Kollektivismen jedweder Art. Weder sollen sich die Bewohner gegenseitig überwachen, noch direkt überwacht fühlen. Auch die für die sozialutopische Stadtplanung gerade der Philanthropen typische, auf soziale Kontrolle geeichte Axialität vermeidet die Borstei.71 Überhaupt kennzeichnet sie weder Festungscharakter noch Großstadtfeindlichkeit – jene beiden bis dahin charakteristischen Extreme gebauter Sozialphantasien.72 Statt großer Achsen setzt die Borstei auf mehrere stark begrünte Binnenhöfe. Sie kehrt zum gekrümmten Straßenbild des Mittelalters zurück. Eine durch beschrifteten Haupteingang und Ladenzeile als zentrale Passage definierte Innenstraße versorgt kleinteilig mit Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs. Auch Kindergärten, Wäscherei u.ä. drücken aus, dass ein Verlassen der Stille, Schutz und Kontemplation verheißenden Anlage unnötig ist, wobei zugleich penibel »die Herstellung von Öffentlichkeit verhindert« wird, denn terrassenartig geschichtete Höhenunterschiede in den Höfen brechen mögliche Blickwechselachsen. So ist denkbar, dass Bewohner einander in Meterabstand passieren, ohne sich zu sehen. Was an gemeinschaftlichem Leben stattfand, wurde bis zu seinem Tod Anfang der 1960er Jahre von Borsts »großzügigen kulturellen Initiativen und Angeboten« bestimmt.73

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Diese Deutung macht vor allem die devote Schrift Sands 2003 geltend. Weschenfelder 1980, S. 13. Überblick bei Ottmann 2008, S. 134ff. Dazu de Bruyn 1996. Vgl. Saage 2015, S. 87ff., 109 (dort mit Eva-Maria Seng). Vgl. Weschenfelder (1980, Zitate dort S. 108, 102), der mit K. Sembach von »Verhinderungsarchitektur« spricht und die Borstei politisch der quasi ›Ermöglichungsarchitektur‹ Bruno Tauts gegenüberstellt.

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Klassischen Idealstaatsentwürfen entspricht die ihnen vordergründig nachempfundene Borstei in lediglich einer Hinsicht: der einheitlichen Umrandung, deren freundliche Monotonie den Gesamtbau von außen als »eine Wohnung« erscheinen lässt.74 Dennoch ist das bauherrliche Ideal der Borstei vom »›Einfamilienhaus unter dem Mietshausdach‹« etwas missverständlich in die Literatur übernommen worden.75 Das paternalistische Motiv in Borsts Familien- und Baubegriff ist unübersehbar; Abgrenzung und Abschottung nach außen bedienen die dem Hausherrn genehme Sittsamkeitsvorstellung gepflegt separierter Familien. »Die Borstei schaltet das Genossenschaftliche aus«,76 durch das viele Großwohnbauten und Selbsthilfesiedlungen ihrer Entstehungszeit geprägt wurde. Angesichts dieser gewissermaßen antipolitischen Anti-Geometrie grotesk ist, dass der ensembleweite Schutz der betont nicht-modernen und philanthropisch-konservativen Borstei 1977 mit der Behauptung durchgesetzt worden war, sie stünde für den »›Geist genossenschaftlichen Wohnens in den 20er Jahren‹«.77 5. Rotes Wien Anders als die Borstei machten die Gemeindebauten des Roten Wien keinen Hehl aus ihrer Mission. Schon symbolisch kompensierten sie die heikle Nachkriegslage. Der Kriegsausgang hatte Österreichs Reichsstatus auf den Großraum Wien degradiert. Geblieben waren »15 Prozent des früheren Staatsgebietes, von 51 Millionen blieben noch rund sechs Millionen Einwohner im Kernland«, von denen sich ein Drittel im Wiener »Wasserkopf« konzentrierte.78 Die mancherorts bombastische Drohgebärde der zunächst noch unbegrünten »Superblöcke« trotzte dem.79 Sie brachte die neuen republikanischen Machtverhältnisse mit imperialer Geste zum Ausdruck, in dem sie auf die »geläufigste Art« setzte, »eine soziale oder politische Überlegenheit geltend zu machen«: das »Imponieren durch quantitative Größe.«80 Die finanziellen Fundamente dafür requirierte das Rote Wien durch o.g., stark progressive Fiskalstrategien und durch kommunale Landnahme nordöstlicher Donauflächen (»Transdanubien«).81 Symbolisch begleitet wurde all dies von einer Umbenennungspolitik, die Blöcke, Plätze und Straßen auf proletarische Theorie- und Parteiikonen taufte (Marx, Engels,

74 Saage 2015, S. 91. 75 Bei Weschenfelder (1980, S. 89) als Zitat, unkenntlich reformuliert bei Sand (2003, S. 8). 76 Ebd. (Weschenfelder), S. 36, 92. 77 Zit. n. ebd., S. 27. 78 Kriechbaum 2007, S. 13f. 79 Die vorübergehend aggressive Sterilität bedingte sogar, dass manche ›kapitalistische‹ Sequenzen aus Fritz Langs Metropolis (1927) die ›sozialistische‹ Kulisse Wiens nutzten. 80 Warnke 1984, S. 14. 81 Siehe Blau 1999, S. 139-151, und einmal mehr Weihsmann 2002, S. 26ff.

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Bebel, Lassalle u.a.). 82 Für ihre Bewohner verkörperten die neuen sozialrepublikanischen Kollektivbauten zivilisatorischen Fortschritt, denn sie brachten sofortige, echte Verbesserungen. Ob sie halfen, den »neuen Menschen« zu formen, sollte bezweifelt werden.83 Die zuvor vor allem baubedingt extreme Kindersterblichkeit von 25 Prozent zumindest sackte in einen Promillebereich ab; die im Vergleich zu Berlin doppelte Tuberkulosequote bekämpfte das Rote Wien mit systematisch verteilten öffentlichen Hygieneanstalten; der Mietanteil am durchschnittlichen Arbeitereinkommen fiel auf zehn Prozent.84 Späteres Schicksal und die Anfeindungen des »Roten« durch das großbürgerliche und vor allem das »Schwarze Wien«85 sollten nicht übersehen lassen, dass der Gemeindebaustil durchaus lokale Traditionen aufgriff, den kunstgewerblichen Formen und Farben des Wiener Jugendstils in Details huldigte und Anleihen bei einer etablierten Bauform suchte, »die offensichtlich starke Identität zu bilden in der Lage war«. Denn die Formensprache des Großhofstils war »seit dem Barock bekannt und hatte sich aus dem mittelalterlichen Klosterhof über den Klosterhof der Manufakturzeit entwickelt«,86 sodass eine darauf bauende Wohnpolitik ideales »centerpiece of a wide-ranging program of municipal reforms« war, »designed to reshape the traditional Volkskultur of the Viennese working class into a new Arbeiterkultur.«87 Das politisch Neuartige ist mithin eher in den Ausmaßen und der Anzahl der Blöcke selbst zu suchen sowie im »besondere[n] Gewicht«, das man dem emanzipatorischen Projekt der Wohnrepublik beimaß: »Die sozialistische Arbeiterbewegung werde keine Kuppeln bauen, keine Dome, werde die öffentlichen Bauten nicht mehr in der Innenstadt konzentrieren, sondern in den Arbeitervierteln: ›selbstbewußte, mächtige Versammlungshallen, Konzerthäuser, Theater, Stätten der Wissenschaft und der Fröhlichkeit.‹«88 82 Dass sich die politischen Amts- und Würdenträger zu ihnen gesellen (Victor Adler, Hugo Breitner, Jakob Reumann, Karl Seitz, Paul Speiser u.a.), geht meist erst auf Entscheidungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. 83 Vom Kindergarten bis zur Waschküche seien die Gemeinschaftseinrichtungen kaum angenommen worden; insbesondere die sozialistischen Erziehungsideale verfingen in der Arbeiterschaft nicht (Langewiesche 1979). Der Befund lässt sich wohl verallgemeinern für viele sozial und volkspädagogisch gemeinte Maßnahmen sowie ästhetische Aufklärungshoffnungen des avantgardistischen Großwohnbaus (siehe nur von Saldern 1995, S. 294, ebd. S. 410), wenngleich die soziologischen Befunde für den Wiener Gemeindebau mittlerweile wieder sehr differenziert ausfallen (siehe Bettel et al. 2012). Zur Förderung des »Neuen Menschen« mittels Bauen Poppelreuter 2007. 84 Jahn 2014, Bd. 1, S. 16; vorrepublikanischer Zustand sehr anschaulich dank Blau 1999, S. 67-87. 85 Wasserman 2014. 86 Weschenfelder 1980, S. 82. 87 Blau 1999, S. 6; umfassende Vorbilddarstellungen bei Weihsmann 2002, S. 61-90. 88 Langewiesche 1979, S. 175, Otto Neuloh 1924 zitierend. Allerdings ist der Grundriss des Reumannhofs wohl dem Schloss Schönbrunn nachempfunden – siehe Jahn 2014, Bd. 1, S. 90; ähnlich Weihsmann 2002, S. 221.

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Im Einklang mit dem agnostischen Historischen Materialismus, den die Antike ausschließlich als Sklavengesellschaft interessiert, verzichtete das Rote Wien einerseits auf hohl gewordenes Säulenpathos ebenso wie auf Anleihen beim sakralen Prunkbau.89 Profanbauliches wie Turmuhren – z.B. am Amalienbad, am KarlSeitz- und am Engelsplatzhof – verbanden Fabrik- und Rathausstil. Dass dennoch einzelne Höfe mit rustikalem Kitsch, kunstgewerblichem Schnörkel und Wiener Schwulst aufwarteten, ist sicher richtig,90 ignoriert indes die zügige Evolution des Stils91 und verkennt zudem, dass viel Schmuckwerk nunmehr im Innern der Wohnanlagen gewissermaßen für ihre eigenen Produzenten glänzte. Kontextualisierungsrelevant wäre überdies die originär binnenurbane Kommunikation, z.B. die damaligen innerstädtischen Platzierungsstrategien, Quartierstraditionen und vor Ort bauzeitlich korrespondierenden Architekturen. Andererseits aber war auch eine durch beider Ausmaße unvermeidliche Assoziation von restaurativem Gründerzeitbaustil und avanciertem Gemeindebau bisweilen Absicht. Denn als klassenbewusste Identitätsbauten machten viele militant wirkende Wohnblöcke aus ihrem ideologischen Trutzburgcharakter keinen Hehl. Ihre »Semantik der Form«92 nahm den wuchtigen Baustil des Großbürgertums auf, programmierte aber dessen sozialstrukturelle Codes durch bauliche Nuancen um. Die der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zugewandte Front des bürgerlichen Wohnhauses wich proletarischer Geselligkeit im Kern. Der pseudohistorische Stil der Außenfassade wurde durch den kommunitären genius loci des Innenhofes konterkariert. Damit verlor auch die »Fassade« ihren die soziale Stellung der Eigentümer und Bewohner durch Ornamente u.a. differenziert repräsentierenden Status.93 Stattdessen rückte das im Bürgerhaus verborgene, rückwärtige Geschehen ins Zentrum. Die bisweilen abschreckende Umrahmung der Blöcke steht insofern nicht im Widerspruch zum freundlicheren Hofkern. In dieser Umstülpung der Bürgerhausikonographie liegt vielmehr ein wesentliches Politikum des Gemeindebaus. Der die sozioökonomische und ggf. politische Stellung in der Gesellschaft repräsentierende Bezug der Vorderfront wird durch den sozial nivellierenden Fokus auf die

89 Mit Ausnahmen wie Cäsar Poppovits keramisch verkleideten Säulen im Ludo-Hartmann-Hof (Josefstadt, 1924-25), eine womöglich »unfreiwillig ideologische Entlarvung der sozialdemokratischen Oberschicht« (Weihsmann 2002, S. 236). Auch der oberste Hochhausteil des Lassallehofs besitzt eine Kolonnade mit eckigen Säulen. 90 Die diesbezüglich ohnehin eher sarkastische »Architekturpolitologie« hat das rote Wiener Gemeindehaus nicht als Stil begriffen, sondern auf Einzelhöfe und vermeintliche Beispiele reduziert, die von den »Pathosformeln des ›Klassenfeindes‹ nicht recht lassen wollte[n]« (hier von Beyme 1998, S. 246). 91 Weihsmann 2002; Jahn 2014, Bd. 1, S. 25; dort S. 20ff. einige Baugrundsätze, z.B. Durchlichtung, fließend Wasser, wohnungseigenes WC, Gas- statt Kohleherde, Vorzimmer, ggf. Balkone und Verzicht auf Lichthöfe. 92 Blau 1999, S. 140ff. 93 Zu Funktion und Transformation der historistischen Wohnhausfassade siehe wie oben schon Hiller 2012.

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Gemeinschaftlichkeit ökonomisch Gleicher ersetzt. Der »Hinterhof« wird zum »Innenhof«. Schon seit der Jahrhundertwende hatte, teils aufzugsbedingt, die Beletage zu verschwinden begonnen.94 Nun verschwanden Mädchenkammern und weitere Personalräume. Sogar die »abendländische Raumkategorie« des »oben« als repräsentative Distinktion sozialer Wertigkeit blieb ungenutzt.95 Durch den Umstand, dass die Dachgeschosse für Hauswirtschaftstätigkeiten reserviert blieben, wurde sie allenfalls ironisiert. Schließlich wurde durch allerlei wehrartige Details auch die andere Seite des Bürgers, der Soldat, betont und die andere Seite des Zivilen, der Krieg. Darin mochte sich der internationale Anspruch der Arbeiterklasse spiegeln. Mit den Maßstäben diverser Souveränitätstheorien (Hobbes, Schmitt, Bucharin u.a.) und dem nationalstaatlichen Selbstverständnis des Bürgertums aber konnte darein ein provokanter Bürgerkriegstopos gedeutet werden. Entsprechend kommt auch dem in der Literatur – soweit zu sehen – nirgends erläuterten Umstand, dass die Gemeindebauten des Roten Wien gewöhnlich über ein – in deutschen Siedlungen mit einer charakteristischen Ausnahme stets verhindertes – »Hochhaus« verfügen, eigener Wert zu. Sie wären dann nicht als Abklatsch amerikanischer Großstadttrends zu interpretieren, sondern als Verschmelzung autochthoner Vorbilder: des Kirchturms, des Rathausturms und vor allem des burgentypischen Bergfrieds (Abb. 6f.). Die deutlich z.B. im Liebknechthof zu findenden, dezenter auch an der Fassade des Reumannhofs modellierten zackigen Vorsprünge wären dann als Zitate jenes Bastionärsystems zu verstehen, das den frühneuzeitlichen Festungsbau prägt. Mit Zinnen deutet der kastellhafte Thury-Hof gar einen offenen Wehrgang an.96

94 Ebd., S. 65. 95 Meckseper 1996. 96 Siehe Jahn 2014, Bd. 2, S. 223f. Burgähnliche Aggressivität konnte auch anderweitig abgebildet werden, beispielsweise in Bruno Tauts und Martin Wagners auf einem alten Rittergut errichteter Berliner Hufeisensiedlung, die durch ihre für Taut typisch markanten Farbkontraste Anspielungen integriert, etwa die riesigen Dreifach- (womöglich sogar seinerzeit räterepublikanisch assoziierten Lothringer-)kreuze auf der Balkonseite sowie das »wehrturmhaftartige Hervortreten der Treppenhäuser« mit ihren winzig wirkenden Fensterscharten. Mit weiterem Bildmaterial Kloß 1982, S. 18, 21; Ungers 1983; andere exakt solcher Kreuz-Formen bei Brenne 2013, S. 79, und für Wien vor allem bei Jahn 2014, Bd. 1, S. 121f. (Karl-Marx-Hof) und S. 193 (Holy-Hof).

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Abb. 6: Paul-Speiser-Hof, Wien Floridsdorf (Leopold Bauer, 1929-32).

Abb. 7: Reumannhof, Wien Margareten (Hubert Gessner, 1924-26).

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Der Wiener Karl-Marx-Hof, das mit über einem Kilometer angeblich längste zusammenhängende Wohnhaus der Welt,97 gilt als Inbegriff einer solchen Proletariatsburg: Massives Mauerwerk umschließt die großzügigen Gemeinschafts- und Wirtschaftsflächen im Inneren. Deren kinder-, spiel-, freizeit- und pensionsgerechte Gestaltung stellt sich als Mischung aus panoptischen, politischen und platonistischen Fragmenten dar: Der von den im Hofinnern angebrachten Balkonen gewährleistete Überblick signalisiert zugleich gegenseitige Transparenz, allseitige Mitsprache in Gemeinschaftsbelangen sowie kollektive Zuständigkeit für die Kinder. Insofern ist der Karl-Marx-Hof stolz aber missverständlich als »Arbeiter-« und als »Volkswohnungspalast«, als »Versailles der Arbeiter« u.ä. bezeichnet worden.98 Lediglich dem zentralen Aufmarschplatz mit seinen großen Torbögen, monumentalen Statuen, riesigen Fahnenmasten usw. ist ein burgenfremder Charakter eigen. In ihrer umso kasernenhafteren Anmutung rekurriert die geometrische Versammlungsfläche mehr auf den modernen Bewegungs- und Massenkrieg und jene Gleichheit seiner Soldaten, die die Gleichheit in der Fabrik und in der Demokratie vorwegnimmt. Zwar zitiert das Areal auch manche Formen der freundlichen Innenhöfe. Seine zentrale Stellung in der Anlage, Details der Wegführung u.a.m. jedoch lassen wenig Zweifel, dass es dem Wehrschutz der grünen Innenidyllen dient (Abb. 8). Zu denen wiederum ist leichter Zugang vor allem durch die Wohnhäuser selbst und damit nur für die Bewohner und ihre Gäste möglich. Die wenigen, beklemmend düsteren Versorgungszugänge sind in tiefrotem Klinker gehalten und mit engmaschig geschmiedeten Eisentoren bewehrt. Schon deren aggressives Signalrot hebt sie hervor; ihre kunstfertig über die zur Straßenseite gerichteten Torflächen verteilten Widerhaken wirken wie vergrößerter Stacheldraht (Abb. 9).

97 Was von den herangezogenen Kriterien abhängt und schon im innerstädtischen Vergleich (z.B. mit Sandleiten und Engelsplatz) nicht überzeugt. Auch Jahns (2014, Bd. 1, S. 114) Gegenbeispiel Prora ist zu widersprechen, da diese KdF-Anlage weder vom NS noch von der DDR als ziviler Wohnkomplex genutzt wurde. 98 Z.B. Kriechbaum 2007; karikiert freilich durch den »Sozialpalast«, dazu Weihsmann 2002, S. 151ff.

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Abb. 8: Karl-Marx-Hof ca. 1931, Westseite, Wien Döbling (Karl Ehn, 1927-33).

Abb. 9: Versorgungszugang Karl-Marx-Hof, Westseite, Wien Döbling (Karl Ehn, 1927-33).

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Kurzum, überall will die äußere Gestaltung gewaltig Eindruck machen, die Anlage noch massiver wirken lassen als sie tatsächlich schon ist. Charakterisiert durch eine »complete interpenetration of public, private, and communal space«, lässt der Hof an den sprichwörtlichen Staat im Staate denken.99 Folgerichtig kam dem Areal im kurzen Österreichischen Bürgerkrieg von 1934 auch ins Militärische gesteigerte symbolische Bedeutung zu: Dass austrofaschistischen Kräften die Übernahme des nach der kommunistischen Urikone benannten Hofes gerade des symbolstrotzenden Namens wegen besonders wichtig war, versteht sich. Darüber hinaus galt es aber, diese »Arbeiterfestung« auch performativ zu erobern. Schon länger hatten scheinbar strategisch über die Stadt verteilte Gemeindebauten in einem paramilitärischen Ruf gestanden. Straßenseitige Toilettenfenster, vor allem solche, deren Verkleidung Mauertiefe simulierte, wurden als Schießscharten verunglimpft.100 Entsprechend nahmen Bundesheer und faschistische Freischärler bevorzugt die (militärisch selbstredend ganz unbedeutende) Marx-Anlage unter schweren Beschuss, während die vergleichbaren der anderen umkämpften »Festungen« (so die später Reumann- und Karl-Seitz-Hof genannten Ensembles) etwas unversehrter blieben. Ironischerweise servierte das nicht nur den Angreifern, sondern auch dem verschanzten Republikanischen Schutzbund das heroische Narrativ, dass der Karl-Marx-Hof ›gefallen‹ sei und das Rote Wien nicht kampflos unterging.101 6. »Unpolitisch«? Das Münchener Olympiagelände von 1972 Schon all die hinlänglich kritisierten, meist ohne baukünstlerischen Anspruch mit allenfalls sozialpolitischer Koordination errichteten »Bausünden« der zunehmend funktionalistischen Nachkriegszeit und der ebenfalls umfänglich bereute Betonbrutalismus des Le Corbusiers’schen Stils, dessen sozialtechnokratischer Geist beliebigen Regimen gefällig war, lassen erahnen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch erstaunlich wenige mitteleuropäische Beispiele des Großwohnbaus zu finden sind, die politische Differenz ausstellten.102 Ein eher kontraintuitiver Ausdruck wohnikonographischer Konkurrenz kann allerdings in München gefunden werden – das zum Olympiagelände der 1972er Sommerspiele gehörende Olympische Dorf. Als politisches Symbolensemble ist es 99 100 101 102

Blau 2014, S. 200. Dies. 2012, S. 189f. Zeitgenössisch siehe nur Schneider/ Zell 1934. Zu den heute wieder berühmteren Beispielen zählt die Neugestaltung des durch den Luftkrieg zertrümmerten Alten Hansaviertels im Berliner Tiergarten – schon zu Weimarer Zeit ein Magnet für Intellektuelle, Künstler und Politiker, dessen Neubau einerseits an den Funktionalismus Weimars anknüpfen und andererseits als Gegenentwurf zum Sowjet-Schinkel-Amalgam der Stalinallee (später Karl-Marx-Allee) fungieren sollte. Koevolution und Konfrontation zwischen Hansaviertel und Stalinallee gelten heute als Inbegriffe des symbolischen Wohnbaukrieges im Kalten Krieg (vgl. nun die Weltkulturerbe-Werbeschrift von Haspel und Flierl 2017).

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kaum untersucht. Das ist umso erstaunlicher, wie eine spezifisch »demokratische« Formensprache sehr selbstverständlich mit dem spektakulären Gelände der ursprünglich als »heitere Spiele« beworbenen Olympiade assoziiert wird,103 einer Olympiade, die vor allem durch die Herausforderung präformiert worden war, ausgerechnet das für den Aufstieg des deutschen Faschismus so bedeutende München gegen den Schatten der Berliner Spiele von 1936 zu stellen. So galt es, »vielmehr die Unterschiede als die Parallelen zu Berlin 1936« hervorzuheben. Die »Inszenierung einer modernen, freundlichen, zurückhaltenden und pazifistischen Bundesrepublik durchzog das Konzept wie ein roter Faden«.104 Bis das »Attentat vom 5. September durch Deutungsmuster einer schießbereiten, unorganisierten und überforderten Bundesrepublik« das westdeutsche Wunschimage zerstörte, war die »Vergangenheit […] also nicht verschwiegen, sondern vielmehr benutzt« worden.105 Schon die als Reformer der Spielorganisation gehandelten Epigonen hatten die neupolitische Deutung unterstrichen: der 1960 mit gerade 34 Jahren ins Münchener Oberbürgermeisteramt gewählte Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel, der kulturbeflissene Sportfunktionär Willi Daume und die Corporate Design-Stars der Spiele, der Grafiker Otl Aicher, der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek sowie das für die Umsetzung des Stadionglaszeltdachs von Frei Otto zuständige Büro Behnisch & Partner. Insbesondere der für seine Piktogramme bald legendäre Aicher – verheiratet mit der überlebenden Schwester von Sophie und Hans Scholl – respektierte die Sprache der politischen Symbolik subtil. Etwa galt »Rot, als eine oftmals missbrauchte Farbe totalitärer Staaten« und zumal als der bei den Berliner Spielen von 1936 so allgegenwärtige Ton »dem graphischen Team um Aicher als Tabu«.106 103 Egger 2010; Hennecke et al. 2013. Das heute gängige Attribut »demokratisch« ist aber vor allem retrospektiv entstanden. Mit Blick auf die sozialistische deutsche Nachbarrepublik war »Demokratie« kein geeignetes Schlagwort der Zeit. Die Sprachcodes waren auch viel subtiler, wie schon das Gedicht des vom Organisationskomitee der Spiele ca. 1969 hrsg. Normenbuch »Handbuch A« aufzeigt (zit. n. Stauss/Grillmeier 2013, S. 55): »So sollen die Spiele sein: heiter leicht dynamisch unpolitisch unpathetisch frei von Ideologie eine spielerische Durchdringung von Sport und Kultur«. 104 Gajek 2013, S. 272, 502. 105 Ebd., S. 504, 509. Gajeks Arbeit stellt überdies die Darbietung ökonomischer Potenz sowie die Abgrenzung zur DDR als weitere Selbstdarstellungsimperative heraus. 106 So https://de.wikipedia.org/wiki/Olympiapark_(München) (Zugriff 30. November 2015).

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Als gebautes Gegenbild zu den NS-Spielen scheint das Münchener Gelände überdeterminiert. Schon der Baugrund, das (nahe der Borstei gelegene) Oberwiesenfeld strotzte vor Symbolik: Der frühere Exerzierplatz der nahen Kasernen war zum Flugplatz umfunktioniert worden, auf dem Chamberlain 1938 landete, um das »Münchener Abkommen« zu unterzeichnen. Nach dem Krieg wuchs auf dem Areal ein Trümmerberg. In »Olympiaberg« umbenannt und mit einem den zivilen Luftkriegsopfern des Zweiten Weltkriegs gewidmeten Mahnmal versehen bildet er die nach dem Fernsehturm höchste Stelle des Areals. Dessen tiefste Stelle hingegen, der künstliche See, speist sich direkt aus dem Nymphenburg-Biedersteiner Kanal – steht also in fließender Verbindung zur Sommerresidenz des ganz alten Staates, der Wittelsbacher Monarchie. Eine Abgrenzung erfolgte zudem von unmittelbaren Vorläufern wie etwa den Sommerspielen 1960 in Rom, das versucht hatte, Antike und Moderne zu kontrastieren, sowie von der radikalen Betonmoderne der mexikanischen Spiele des Jahres 1968. So ermöglichte »the fact that Munic was not a capital but only a medium-sized city […] an antidot to what Olympic insiders had begun to see as the age of ›gigantism‹. From 1960 to 1968, in Rome, Tokyo, and Mexico City, the Games had sprawled over increasing distances«.107 Die Nicht-Hauptstadt München dagegen bewarb ein Konzept der Spiele »der kurzen Wege« und erprobte innovative Finanzierungen – u.a. mittels der damals eigens eingeführten Lotterie »GlücksSpirale« (die bis heute das Logo der Münchener Spiele trägt) –, womit man sich von olympiatypischen Pleite-, Korruptions- und Misswirtschaftsbräuchen ›demokratisch‹ abhob.108 Ohnehin war der Zuschlag zum Austragen der Olympiade in eine rasante Bauepoche gefallen, die seit einen neuem Stadtentwicklungsplan ab 1963 das traditionelle Weich- und Selbstbild der Stadt auf modernste Verkehrstauglichkeit und Stilexperimente umzupolen begonnen hatte.109 Mochte das Olympia-Gelände im engeren Sinne begrenzt gewesen sein, die städtebaulichen, quartierspolitischen, verkehrsinfrastrukturellen und visuellen Dimensionen waren gigantisch,110 zumal für Entwicklung und Bau des Olympia-Dorfes kein vier Jahre Zeit blieben und »intensive gesellschaftliche Wandlungsprozesse« – Stichwort »68« – sowie »neue Leitmotive innerhalb des städtebaulichen und architektonischen Diskurses« die Vorgänge prägten.111 Errichtet wurden für die Spiele (Abb. 10) »neben den Sportstätten auch ein[…] Gärtnerhof, ein Hausmeistergebäude, ein Bootshaus, Kioske, eine Kindertagesstätte, eine Schule, einen Omnibusbahnhof, eine Doppeldeckergarage, 23 Brücken, das olympische Dorf, die Mensa, das Pressezentrum und die Pressestadt.« Die erstmals 107 Schiller/Young 2010, S. 25. 108 Aufschlussreiche Zahlen zum »buying, paying for, and selling the Games« bei Schiller/Young 2010, S. 24-54. 109 Siehe Harlander 1999, S. 293f. 110 Stauss/Grillmeier 2013, S. 62ff.; Schiller/Young 2010, S. 225. 111 Heger 2013, S. 74.

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in »dieser Größenordnung in der Architektur« überhaupt so vielschichtig geplanten 4.800 Wohnungen und Studierendenapartments der bis zu 22 Stockwerke hohen Häuser wurden von privaten Bauträgern und dem Münchener Studentenwerk ausgeführt, sodass die Nachnutzung gewährleistet war. »Herausragende Merkmale sind einmal die hängenden Terrassen (bevorzugt Öl- und Nadelgewächse), die den Bewohnern Himmel und Sonne bieten sollen« und eher an mediterrane Anlagen erinnern, »sowie die strikte Trennung von Fußgänger- und Fahrverkehr« für ein »autofreie[s] Dorf«.112 Dass eine unterirdische Garagen- und Straßenanlage die Probleme lediglich unter den Riesenkomplex presste, muss als Sinnbild zeitgeistiger Planungseuphorie verstanden werden. Das Innere der Apartments selbst weiß durchaus wieder individualistische Bauhaus-Flexibilität und Serialität zu kombinieren. Identitätsikonograpisch bemerkenswert ist zudem, dass sich dieser Baustil kleinteilig im gesamten Münchener Speckgürtel zitiert findet. Fraglos sind Terrassenhochhäuser, Kaskadenwohnblöcke und Balkonpyramiden nichts Ungewöhnliches. Inspiriert von den Hängenden Gärten der Semiramis Babyloniens gehören sie auch im 20. Jahrhundert zur Standardphantasie der Architekten. Nun jedoch sind sie nicht mehr nur auf Staatsbauten beschränkt, denn ihre Entwürfe rücken im Zuge allgemeiner Demokratisierung in den Massenwohnbau ein.113 So ist schon ihre Umsetzung selbst bemerkenswert.114 Im Olympiadorf ist der Terrassenstil allerdings nicht zu trennen von der ökologischen Ensemblegestaltung durch den Landschaftsarchitekten Günther Grzimek. Die Literatur von und über Grzimek ist reichhaltig und trägt gelegentlich religiös anmutende Züge. Wer die Grünanlagen des Olympiaparks einmal begangen hat (Abb. 11), versteht vielleicht warum: Nirgends Geraden, überall (vorgedachte) Trampelpfade, kluge Pflanzungen etc. Als öffentlich anzueignender Gegenpark zum Münchener Englischen Garten war Grzimeks Werk revolutionär und dürfte entscheidend zur Wirkung, zur Akzeptanz und zum Nach- bzw. Weiterleben des gesamten Projekts beigetragen haben – eine Vision, die später als »Besitzergreifung des Rasens« beschrieben worden ist.115 112 Egger 2010, S. 24f.; Gesamtübersicht hrsg. durch das Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972. 113 Z.B. Henri Sauvages Pariser Terrassenhochhaus 1928 (Weihsmann 2002, S. 146) und Josef Kaisers Großhügelhaus in Berlin, 1971 (Köhler/Müller 2015 S. 96 u. 108); zum Wohnbau nur sehr knapp Harlander 1999, S. 325f. 114 Zeitgleich zum Münchener Olympiadorf in Westdeutschland allein an größeren Anlagen realisiert werden beispielsweise Karl Helmut Bayers pyramidales Terrassenwohnhaus in München Oberföhring (1974), das Terrassenhaus von Hannover Davenstedt (Ingeborg und Friedrich Spenglin (?), 1973) und Georg Heinrichs monumentale »Schlange« in Berlin Wilmersdorf (1971); international werden zur selben Zeit kommerzielle Entwürfe wie John Portmans Terrassenhotelentwurf für den Time Square diskutiert. Meist weiße Farbe und mittelfristig starker Grünpflanzenbewuchs sind hervorstechende Gemeinsamkeiten. 115 Die Parole »Darf betreten werden« (statt »Betreten verboten!«) entstammt allerdings einer erst späteren Schaffensphase, richtete sich aber ebenfalls gegen den bürgerlichen Spazierpark und bewarb bürgerschaftliche Parks. Zur ideologischen Dimension des englischen Landschaftsgartens siehe Manows Beitrag im vorliegenden Band.

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Abb. 10: Olympisches Dorf (Blick vom Fernsehturm), München.

Abb. 11: Olympiaberg und Olympiasee im Olympiapark, München.

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Unbenommen sei, dass sich in der Programmatik, eine großflächig spielerische Parkidee geradezu fließend in den gigantischen und unflexiblen Massivgroßbau überführen zu wollen, überfrachtete Ideale spiegeln. Unbestritten auch, dass uns viele Mittel und Methoden ihrer Umsetzung befremdlich geworden sein mögen. Politikikonologisch wichtiger ist hier, dass mit der Münchener Olympiaanlage versucht worden war, eine umfassende – performative wie ästhetische – Gegenarchitektur progressiv zu interpretieren, d.h. nicht ein politisches Selbstbild durch gebaute (Gegen-)Identität zum Ausdruck zu bringen, sondern Nutzungs-, Farbenund Formenvielfalt selbst als ermöglichungspolitische Stilmittel freier Differenzartikulation anzubieten. 6. Fazit. Einstürzende Neubauten Ende des Ersten Weltkriegs, Ende der »Fabrikschornsteinzeit«, Aufstieg der Republik und Aufkommen politischer Großwohnarchitektur fielen in Mitteleuropa zeitlich zusammen. Ab der Mitte des Jahrhunderts waren damit verbundene Utopien schon zum sozialtechnokratischen Albtraum verkommen, wobei der Niedergang auf den Aufstieg zurückweist. Spätestens mit der seriellen Standardisierung des sog. Plattenbaus hatten sich kollektiv-ikonographische Ansprüche auf politische Identität und Differenz wieder überlebt.116 Viele seelenlose Geister-, Schlafund Trabantenstädte, Banlieues, Ghettos und Slums unserer Zeit sind auch Relikte des idealistischen Fertigkollektivbaus des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts und seiner kompensatorischen Ergänzung um die Ideologie des Individualverkehrs in der zweiten Jahrhunderthälfte. Die politische Unbändigkeit der Massenimmobilie sollte durch Massenmobilität gezähmt werden. Viele »Superblöcke« des Roten Wien sind nach dem Krieg durch Autobahnschneisen, vergrößerte Bahntrassen und Gewerbegebiete segregiert worden. Konnte in Österreich dennoch partiell die wohnungsbasierte Kommunalkultur wiederbelebt werden,117 ohne deren austromarxistische Referenz auch neue Wiener Vorzeigequartiere wie die Seestadt Astern oder das Sonnwendviertel undenkbar wären, ist der politische Großwohnbau in der deutschen Bundesrepublik gänzlich diskreditiert worden. Im Osten hatte dies der Sozialismus, im Westen der Kapitalismus besorgt, doch auch der westliche Endpunkt war hausgemacht: Eine Privatisierungswelle begann, als der »geschlossene[] Großwohnsiedlungsbau[] in der Bundesrepublik aufhörte und die gewerkschaftseigene Neue Heimat zusammenbrach, womit der historisch bedeutsame Versuch, eine eigenständige Woh116 Zur gleichwohl gewaltigen Formenvarianz und ihrer Geschichte speziell Richter 2006a und Rubin 2016. 117 U.a. mit von Saldern (1995, S. 294, 410) ist aber der Ortswechsel der Kommunalität zu betonen, denn der NS hat die politische Sozialstruktur der austromarxistischen Gemeindebauten und Superblöcke ›erfolgreich‹ vernichtet. Anschließend herrschte, wenn überhaupt, eine durch kollaborationsbedingte »Schuldgefühle« genährte harmonistisch-romantische Überhöhung des Roten Wien. Zur weiteren Lage Bettel et al. 2012.

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nungsbaupolitik im Kontext der Arbeiterbewegung zu betreiben, ihren Abschluß fand«. Die »gewerkschaftliche Rhetorik vom gesellschaftlichen Fortschritt war mit dem moralökonomischen Konservatismus der Gemeinwirtschaft kaum [mehr – SH] zur Deckung zu bringen«.118 Indes wirft die heute wieder zunehmend politische und mit Blick auf globalisierte Großstadthypes, Refeudalisierung gesellschaftlicher Klassenkonflikte sowie Immobilienspekulationsblasen teils radikale Aktualität der Wohnungsfrage viele vermeintlich alte Fragen neu auf – einschließlich der Frage, worin sich wohnbauliche Gegenarchitektur heute anzeigen könnte.119 Ein die soziale Praxis des Planens, Finanzierens, Bauens, Gestaltens und Machtstatus markierenden Nutzens integrierendes Verständnis politischer Ikonographie des Großwohnbaus, wie es hier vertreten wurde, ist in unser durch Massenzuzug in Ballungsgebiete, neue Flüchtlingsfrage, extreme soziale Ungleichheiten und vielsagende Spiegelglasfassaden charakterisierten Gegenwart zwar alltagsevident, Wohnungs- und Lebensnot sind wieder akut. Politisch produktive Formen einschließlich ikonographisch markanten Widerstreits aber finden sich kaum. Sicher steigern sich derzeit öffentliche Wohnbau- und Wohnungsförderungsmaßnahmen in vierzig Jahre nicht mehr gekannte Dimensionen.120 Der Werkbund wird wieder aktiv, vereinzelt kommt es zu einer politisch motivierten Wiederbelebung von Großsiedlungen wie z.B. Michael Wolffsohns Engagement für die Gartenstadt Atlantic (Rudolf Fränkel, 1926).121 Politische Bekenntnisse bei der Gestaltung des Großwohnbaus und kommunitärer Siedlungsformate jedoch werden allenfalls noch experimentell und provisorisch genutzt, bisweilen betont als antiästhetisches Mittel sozialen Protests oder bildender Kunst.122 Die Folgen der im sozialtechnologischen Rausch durch Zeilenbau, Großsiedlungskasernen und Massenindividualverkehr »gemordeten Stadt« (Siedler), dem »Krebsgeschwür« der »freiheitliche[n] Städteplanung« (Mitscherlich) und Ausdruck ›verinnerlichter Hochhäuser‹ (Bohrer) lassen sich wohl nicht mehr beheben.123 Dass sich 1980 Blixa Bargelds Band Einstürzende Neubauten nannte, mag als letztes Aufbäumen gegen den Zeitgeist unpolitischen Wohnens verstanden werden.

118 Von Saldern 1995, S. 35; Münkler 2007, S. 126; ähnlich Buddensieg 2003. 119 In der Reihenfolge der genannten Probleme siehe je anschaulich Holm 2014; Friedrich 2015; Nützenadel 2011. 120 Siehe als Beispiel nur Bayerischer Städtetag 2016. 121 https://www.gartenstadt-atlantic.de (Zugriff 8. März 2017); siehe auch Wolffsohn 2017. 122 Siehe am Beispiel West-Berlins Hiller 2012, S. 274ff. Zu street art auch Bogerts in diesem Heft. 123 Siedler et al. 1963; Mitscherlich 1965, S. 7f., 21.; Bohrer 2000, S. 84.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: hier nach Weihsmann 2002, S. 100. Abb. 2: Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Gert Baumbach, http://weissblick. com. Abb. 3: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b9/Pestalozzihof.JPG (Zugriff 20. Februar 2017). Abb. 4: Schwäbischer Kunstverlag Hans Boettcher, Stuttgart 1940. Abb. 5: Bildrecht unbekannt. Abb. 6: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul-Speiser-Hof#/media/File:Paul_Speiser-Hof.JPG (Zugriff 28. Februar 2017). Abb. 7: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wien-Margareten_-_Reumann-Hof.jpg (Zugriff 28. Februar 2017). Abb. 8: http://www.rotes-wien.at/content/wichtige%20Bauten/karl%20marx%20hof.htm (Zugriff 28. Februar 2017). Abb. 9: privat. Abb. 10: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/41/Olympisches_dorf.jpg (Zugriff 10. März 2017). Abb. 11: https://de.wikipedia.org/wiki/Olympiapark_(München) (Zugriff 10. März 2017).

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»Deutschland sprüht vor Ideen« – Street Art als ikonographische Herrschaftspraxis 1. Einleitung* Der Boden vor dem Berliner Hauptbahnhof ist bunt. Zahlreiche Menschen – Durchreisende, Berliner*innen, Tourist*innen – wandern auf einem 600qm großen, mit Sprühdosen gemalten Bild umher, betrachten und fotografieren es. Im Hintergrund glitzern die Kuppel des Reichstagsgebäudes und die Fenster des Kanzleramts in der Herbstsonne. Im September 2015 findet hier unter dem Titel Deutschland sprüht vor Ideen »der größte Street-Art-Workshop Deutschlands« statt, der die Bevölkerung dazu einlädt, gemeinsam den Boden in der geographischen Form der Bundesrepublik mit bunten Bildern und Schriftzügen zu gestalten. Zu dem Workshop hat die Initiative Deutschland. Land der Ideen geladen. Die Enthüllung des »gemeinsam gestalteten Streetart-Kunstwerks«1 ist der Auftakt des Festivals der Ideen, bei dem die Initiative im Rahmen des jährlichen Wettbewerbs Ausgezeichnete Orte im Land der Ideen »kreativen Köpfen aus ganz Deutschland eine Bühne für ihre innovativen Projekte«2 bietet. Die 2005 von der Bundesregierung und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gegründete Standortinitiative von Politik und Wirtschaft zielt darauf ab, »Deutschland mit seiner Innovationskraft und kreativen Ausstrahlung nach innen wie nach außen sicht- und identifizierbar zu machen«.3 Mit den Schlagwörtern »vielfältig und repräsentativ« oder »international und innovativ« möchte die Initiative im Rahmen von »Standortmarketing [(…) d]as Deutschlandbild im In- und Ausland bestimmen«.4 Die Schirmherrschaft über das Festival der Ideen hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung.5 Zur Enthüllung des Werks, in dessen Ecke groß die Logos des Festivals und des Hauptsponsors Deutsche Bank prangen, posieren die Vertreter*innen der Initiative und des Sponsors mit goldenen Sprühdosen vor * Für hilfreiche Kommentare danke ich den Herausgeber*innen dieses Sonderbandes, dem Erstgutachter, Michaela Zöhrer sowie dem Künstler Ron Voigt. 1 https://www.land-der-ideen.de/sites/default/files/download/Programm_Festival-der-Ideen -2015.pdf, Folie 3 (Zugriff vom 19.9.2016). 2 https://www.land-der-ideen.de/wettbewerbe/ausgezeichnete-orte (Zugriff vom 19.9.2016). 3 https://www.land-der-ideen.de/initiative/entstehung/ein-positives-bild (Zugriff vom 19.9.2016). 4 https://www.land-der-ideen.de/standortmarketing (Zugriff vom 19.9.2016). 5 Newsletter »Neues aus dem Land der Ideen«, Land der Ideen Management GmbH, Oktober 2015, S. 3.

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einem riesigen schwarz-rot-gelben Blumenstrauß. Das Workshop-Logo bilden drei graffititypische, gesprenkelte Flecken in den deutschen Nationalfarben.

Abb. 1: Deutschland – Land der Ideen. Das bunte Werk und die vorwiegend jungen, mit Schutzkleidung und Atemschutzmasken ausgestatteten Menschen mit farbverschmierten Schuhen, die mit Schablonen hantieren (im Imagefilm mit basslastiger Musik hinterlegt)6 – auf den Pressebildern machen sie sich gut vor der Architektur des Regierungsviertels; sie erweitern seine politische Ikonographie. Für die Organisator*innen von Bundesregierung und BDI scheinen die Ästhetik und das Image von Street Art repräsentativ für die Kreativität und wirtschaftliche Innovationskraft der Bundesrepublik zu stehen. Tatsächlich wird diesem Medium oft eine besonders junge, »alternative« und offene Ausstrahlung zugesprochen, werden doch seine Wurzeln tendenziell in den subversiven, weil illegalisierten Graffiti-Praktiken von Jugendlichen im Hiphop-Milieu gesehen. Ihr haftet daher eine »subkulturelle« und »demokratische« Aura an, die auch gesellschaftliche Außenseiter*innen integrieren kann und die Zugänglichkeit und Partizipation jenseits des elitären Kunstbetriebs sowie Politikund Mediendiskurses repräsentiert.7 Der französische Schablonenkünstler Blek le Rat bemerkt dazu: »My stencils are a present introducing people to the world of

6 https://youtu.be/aln7kbAkeb8 (Zugriff vom 19.9.2016). 7 Reinecke 2012.

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art, loaded with a political message. This movement is the democratization of art: if the people cannot come to the gallery, we bring the gallery to the people!«8 Zwar wird schnell deutlich, dass sich in diesem Fall hinter dem Etikett »Street Art« ein sehr bürgerliches Verständnis von Street Art »light« versteckt: Sie erfüllt zwar eine breitere Definition, die auch autorisierte und beauftragte Werke mit einschließt.9 Jedoch handelt es sich bei dem bemalten Feld noch nicht einmal um eine architektonische Oberfläche – sie entpuppt sich als Plastikplane. Dennoch bleibt das Bild des offenen, jungen, vielfältigen und »bunten« Deutschlands hängen, das durch die Inszenierung des Land-der-Ideen-Festivals an nationalstaatliche Symbole wie die Nationalfarben, die kartografische Form des Territorialstaats mit seinen Außengrenzen sowie an Nationalnarrative wie das »Land der Dichter und Denker« gekoppelt ist. Neben der »Andersartigkeit« von Street Art als Praxis an sich10 repräsentieren auch die bunten Farben die demokratische Vielfalt, allegorisierte doch schon Platon die Demokratie mit der Farbvielfalt: »Wie ein buntes, in allen Farben prangendes Gewand prangt auch sie im Schmuck aller möglichen Lebensrichtungen und ist dem Anschein nach die schönste.«11 Da nationale Symbole emotional besetzt sind,12 lassen sich mit dem Symbol der Nationalflagge »auf ästhetisch überzeugende Weise politische Bekenntnisse formulieren«,13 denn: »Kaum eine patriotische Inszenierung kommt im politischen Leben ohne den bewussten Einsatz nationaler Flaggen aus.«14 Dies wird auch durch die Malplane in Form des Nationalstaates unterstützt, hatten kartographische Darstellungen doch einen wichtigen Anteil an der Herausbildung des frühneuzeitlichen Territorialstaats und dienten historisch als überzeugende, »authentische« Propagandainstrumente und zur Stiftung politischer Identität.15 Durch die Nutzung von Street Art wollen die Veranstalter*innen »den Nerv der Zeit« treffen, wohl um – wie in einem politischen Wahlkampf – »Themen zu besetzen und vor allem wertebezogene Assoziationen hervorzurufen«.16 Die visuelle Inszenierung von Macht und Politik durch Kunst – politische Ikonographie – ist unter den Voraussetzungen der »ikonoklastischen Demokratie«17 eine Herausforderung, da sich durch die »Selbstbegrenzung der staatlichen 8 Nach Mathieson/Tapiés 2012, S. 28. 9 Zu einer engeren Definition, die eine ökonomische Verwertbarkeit von Street Art aufgrund ihrer konsum- und kapitalismuskritischen Absicht als ein Ausschlusskriterium betrachtet, siehe Blanché 2015, S. 34. 10 Herrera/Olaya 2011, S. 100. 11 Hier mit Warnke 2011, S. 229. 12 Flacke 2011, S. 173. 13 Fleckner 2011, S. 330. 14 Ebd., S. 324. 15 Gerhardt 2011, S. 81, 82 und 84; vgl. Branch 2011. 16 Müller 2011, S. 535. 17 US-Präsident Quincy Adams nach Müller 1997, S. 23.

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Machtmittel durch die Gewaltenteilung […] eine schlagkräftige visuelle Fassung von selbst [verbietet]«18. Deshalb müssen neue, »demokratische« Bildkonzepte entwickelt werden, die dennoch emotional und assoziativ die Herstellung der Nation als Einheit, als »vorgestellte Gemeinschaft« unterstützen.19 Das obige Beispiel veranschaulicht, dass auch staatliche und privatwirtschaftliche Akteure auf Street Art zurückgreifen – ob durch Projektförderung, Auftragsvergabe, Wettbewerbe oder Werbung –, um ihr Image zu pflegen oder ihre Produkte zu verkaufen. Das Bild der Vielfältigkeit und Integration von Differentem scheint die Identifikation mit Nationen oder Marken erhöhen zu können. Im Rahmen dieses Sonderbandes, der die Möglichkeit ikonographischer Differenz- als Identitätsrepräsentation untersucht, frage ich danach, wie die Fähigkeit von Street Art zur Integration und Repräsentation von Differentem dazu beitragen kann, die Verwendung dieses künstlerischen Mediums durch machtvolle Akteure zu erklären. Dabei gehe ich davon aus, dass die Aufnahme von vermeintlich differenten Kunstpraxen in die visuelle politische Kommunikation die Integrations- und Identitätsrepräsentation politischer Bild- und Zeichensprache pluralisiert und sie für ein vielfältiges Publikum anschlussfähiger machen will. Mithilfe des affektiv als »subkulturell« besetzten Mediums Street Art wird die Rationalität und Formalität politischer Prozesse gleichermaßen symbolisch unterlaufen wie ergänzt und intensiviert. 20 Auch wenn seine Nutzung durch machtvolle Akteure wie Regierungen oder Unternehmen eine Aneignung dieser Praxis und Ästhetik vermuten lässt, zeigt ein Blick in die historische Entwicklung von Street Art, dass ihre Vorläufer – vor allem die Wandmalerei – nicht nur für subversive Zwecke, sondern vor allem für Herrschaftsrepräsentation eingesetzt wurden. Angesichts der heutigen Omnipräsenz von Street Art ist es angebracht, ein erhöhtes Bewusstsein über ihre politisch-ikonographische Relevanz zu entwickeln, um verschiedene Formen ihrer Nutzung differenzieren zu können. Im Folgenden betrachte ich zunächst einige historische Vorläufer der heutigen Street Art und beleuchte wie verschiedene Akteure sie für ihre Repräsentation im Hinblick auf Identität, Diversität und Differenz verwendeten (2.). Anschließend veranschauliche ich die aktuelle Nutzung zur Herrschaftsrepräsentation anhand zweier – sehr unterschiedlicher – illustrativer Beispiele aus dem deutschen Raum, nämlich (3.1) den Arbeiten eines Künstlerkollektivs, das im Kreativpiloten-Wettbewerb der Bundesregierung ausgezeichnet wurde und (3.2) dem Projekt underARTconstruction an der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Ergebnisse und weiterführende Gedanken fasse ich im Fazit zusammen (4.). Dabei wird sich zeigen, dass die Wandelbarkeit des Mediums und seine Offenheit für die Integration von Differenz ein Erklärungsfaktor dafür ist, dass es sich historisch erhalten und transformieren konnte und bei unterschiedlichsten politischen Akteuren erstaunlich populär ist. Entscheidend ist dabei, dass Street Art nicht nur durch ihre Iko18 Bredekamp 2011, S. 375; vgl. Schade/Wenk 2011, S. 107. 19 Anderson 1991; Räthzel 1997: 15. 20 Siehe in diesem Sinne die Einleitung dieses Sonderbandes durch Huhnholz und Hausteiner.

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nographie, also ihre Motive oder Form- und Zeichensprache, sondern auch als Praxis an sich etwas »Differentes« symbolisiert und sich daher für die Differenzrepräsentation eignet. 2. »Kunst von unten« und Kunst »für alle«: historische Vorläufer von Street Art Die Verständnisse davon, was der Begriff Street Art umfasst, gehen weit auseinander. Für die Fragestellung dieser Untersuchung verstehe ich unter Street Art verschiedene Formen visueller, also bildender Kunst im öffentlichen Raum bzw. an öffentlich zugänglichen architektonischen Flächen, worunter verschiedene Techniken wie Schablonen (stencils/pochoir), Wandbilder (murals), mit Kleister angebrachte Papierformate (paste-ups), Sticker und die Veränderung von Werbeplakaten (culture jamming/adbusting) fallen. Andere sehen die unautorisierte Anbringung und somit den autonomen Charakter der Praxis als wesentliches Kriterium an, das Street Art von anderen, offiziell autorisierten bzw. in Auftrag gegebenen Formen von Kunst im öffentlichen Raum (wie z. B. Statuen, Kunst am Bau) unterscheidet.21 Da ich hier explizit die Nutzung des Labels Street Art für die visuelle Machtinszenierung durch Herrschafts-, und eben nicht durch subversive Akteure betrachte, gehe ich aber von einem breiteren Verständnis aus. Dies erlaubt uns, den Mythos zu hinterfragen, Street Art sei eine ursprünglich subversive Art der politischen Kommunikation, die erst jüngst vereinnahmt wird. Vielmehr vermischten sich stets subversive mit repräsentativen Formen und werden in ihrer heutigen Form oft unter dem Begriff der Street Art gefasst. Dieser setzte sich erst seit etwa 2005 durch22 und bezeichnet, wenn er breit verstanden wird, eine Mischform verschiedener Vorgängertraditionen, die jeweils eine ganz eigene, teils sehr lange Geschichte haben. Der folgende Abschnitt führt daher chronologisch durch die historische Transformation, die ich anhand exemplarischer Beispiele darstelle.23 2.1 »Kunst von unten«: Graffiti Das Hinterlassen von Schriftzügen und Symbolen durch Einritzen oder Zeichnen (lat. scarifare = kratzen oder ritzen) an Wänden ist eine uralte Praxis, die bis auf die ältesten überlieferten Schriftstücke, die mesopotamische Keilschrift, zurückgeht. Graffiti in Pompeij, die nach dem Vesuvausbruch 79 n. Chr. unter der Asche- und Staubschicht konserviert wurden, geben heute noch Auskunft über

21 Siehe Blanché 2015, S. 33ff. 22 Ebd., S. 33; Reineke 2012. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass sich viele Künstler*innen aus den Bereichen Graffiti oder Wandmalerei explizit von dem kommerzialisierten bzw. depolitisierten Label Street Art abgrenzen; siehe Castellanos 2017. 23 Für eine ausführlichere kunsthistorische Perspektive auf Street Art, die auch andere Vorgänger mit einschließt, siehe Lorenz 2009.

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das römische Alltagsleben.24 Diese Kratzzeichnungen der »einfachen Leute«25 sind eine Art »Kunst von unten« (arte plebea)26, die bis heute erhalten blieb: »Nicht die Hochkultur hat diese Form der Kommunikation hervorgebracht und am Leben erhalten, sondern offensichtlich ein historische Epochen übergreifender Drang der Menschen, sich verewigen zu wollen, ob an Toilettenwänden, in Gefängnissen oder in Schulen.«27 Gleichzeitig nutzten im Laufe der Geschichte nicht nur marginalisierte Gesellschaftsgruppen dieses Medium, sondern es wurde auch als Verewigungsgeste im Sinne einer Machtdemonstration im staatlichen Auftrag verwendet. Beispiele aus der deutschen Geschichte sind die Graffiti von Wehrmachtstruppen im Zweiten Weltkrieg28 oder jene, die sowjetische Soldaten bei der Einnahme des Reichstags im Mai 1945 an den Wänden hinterließen. Am häufigsten wird Street Art mit ihrem Vorgänger des American Graffiti Writing in Verbindung gebracht, das seinen Anfang in den späten 1960er Jahren in den New Yorker Stadtteilen Bronx, Harlem und Brooklyn nahm (Cresswell 1992). Indem sie mit Filzmarker geschriebene Pseudonyme auf Häuserwänden hinterließen (tagging), fanden vor allem afroamerikanische und puertoricanische Jugendliche eine Möglichkeit der Selbstrepräsentation, um zunächst in ihrem Viertel und schließlich in der ganzen Stadt sichtbar zu werden. Die technische Ausweitung auf die Sprühdose und andere Oberflächen wie z.B. U-Bahn-Züge ging Ende der 1970er Jahre mit der künstlerischen Ausdifferenzierung verschiedener Buchstabenstile (stylewriting) einher, die zunehmend auch bildliche Elemente wie Ornamente oder Portraits ergänzten. Als eines der vier Elemente der Hip-Hop-Kultur verbreitete sich Graffiti – neben Rap (MCing), DJing und Breakdance (B-Boying) – auch international.29 Neben der Hip-Hop-affinen Szene gab es auch Writer, die zunächst unautorisiert den öffentlichen Raum nutzten, sich aber bald als Künstler*innen im Museumsbetrieb etablierten.30 Während Keith Haring seine künstlerischen Anfänge durch figürliche Kreidezeichnungen auf leeren Werbeflächen im New Yorker U-Bahn-System nahm, kritisierte Jean-Michel Basquiat durch die Ergänzung seines Kürzels SAMO© (»same old shit«) an Manhattans Häuserwänden einen bürgerlichen »radical chic« und die unveränderten rassistischen Verhältnisse in der US-amerikanischen Gesellschaft.31 Beide Künstler kritisierten im Kampf um soziale Anerkennung und Rückgewinnung des urbanen (Lebens-)Raums gesellschaftliche Diskriminierung durch visuell sichtbare Abgrenzung und Verstoß gegen die Normen der (Rechts‑)Ordnung und des etablierten 24 25 26 27 28 29 30 31

Hunink 2012; Geilert 2013, S. 57. Lorenz 2009, S. 35. Angelis et al. 2012. Lorenz 2009, S. 35. Hack/Merrill 2013. Lorenz 2009, S. 41. Ebd., S. 42. Z.B. »SAMO© as an end to mindwash religion, stop running around with the radical chic playing art with daddy’s dollars«, siehe Haring 1988.

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Kunstbetriebs. Cresswell erklärt gerade so die Aneignung von Graffiti durch den Galeriebetrieb ab Anfang der 1970er Jahre: »Graffiti serves as a metonym for the wild, chaotic, everyday space outside. In a sense, graffiti as art is a representation of itself outside, just as a stuffed animal in a museum is a representation of itself in the wild. Seen this way it is quite understandable that dominant socioeconomic groups can both revile and preserve graffiti as an example, a symbol of the nonhigh, of the geographical, social, and cultural other.«32 2.2 Kunst »für alle«: Wandmalerei Eine andere Tradition, die die Herausbildung der heutigen Street Art – mitsamt ihren murals – beeinflusste, ist die Wandmalerei. Sie ist, neben der Bildhauerei, die älteste menschliche Kulturleistung und Kunstform überhaupt und geht auf Höhlenmalereien von bis zu 40.000 v. Chr. zurück, denen später Palast-, Tempel- und Grabmalereien folgten. Nach der Ausbreitung des Christentums und seiner Sakralbauten gehörte die Technik des Freskos zur Standardausstattung von Kirchen. Dabei stellte sie meist göttliche Macht und den Machtanspruch der religiösen Institution und ihrer Repräsentanten dar, nicht selten verknüpft mit der Herrschaftslegitimation von Gottes »irdischen Vertretern«. Doch auch wenn die Motive von Wandmalereien, die bis dahin meist Innenräume zierten, oft dekorativen, (alltags-)dokumentarischen oder religiösen Charakter hatten, gab es schon sehr früh auch solche zur Repräsentation politischer Herrschaft. Ein Beispiel dafür sind die Wandbilder im Maya-Tempel von Bonampak (heutiges Chiapas, Mexiko, 580 bis 800 n. Chr.), die den Herrscher mit Gefolge, Kriegs- und Gerichtsszenen sowie Blutopfer von Adligen zeigen.33 Das Anbringen von Malerei auf architektonische Flächen wurde zum genuinen Bestandteil herrschaftlicher Architektur sowohl sakraler als auch profaner Art.34 Dabei handelte es sich meist um die Arbeit bezahlter – oft profilierter – Künstler, die angestellt oder beauftragt wurden.35 Für die europäische Politische Theorie sind die Fresken im Rathaus von Siena (Palazzo Pubblico) – insbesondere die »Allegorie der guten und der schlechten Regierung« (1337-1340) – wohl das bedeutendste Werk, mit dem Ambrogio Lorenzetti die Auswirkungen der Herrschaftsarten auf die Bevölkerung in den republikanischen italienischen Stadtstaaten der Renaissance veranschaulichte.36 Das Thema von Herrschaft zum Gemeinwohl wurde auch dort visuell verhandelt, wo die politische Wandmalerei ihre bedeutendste Entwicklung nahm: in der mexikanischen Muralismo-Bewegung. Sie entstand infolge der sozialistischen Re32 Cresswell 1992, S. 341. 33 De la Fuente 1995, S. 12f.; Miller 1986. 34 Im Folgenden begrenzen sich die Beispiele, auf die für die europäische Politische Theorie und für die Entwicklung in Deutschland besonders bedeutsamen sowie den mexikanischen Muralismo und seine Nachfolge-Bewegungen. 35 Kuzdas/Nungesser 1994, S. 6. 36 Bredekamp 2011, S. 373; Roettig 2011, S. 482.

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volution von 1910, durch die die lange Tradition der Wandmalerei in der Region wiederbelebt wurde, die ca. 250 n. Chr. begann und sich in den Maya- und der Aztekenzivilisationen sowie nach deren gewaltsamer Kolonisation fortgesetzte.37 Die postrevolutionäre Regierung startete ab 1921 ein Kulturprogramm, das zur Glorifizierung der Revolution beisteuern sollte. Da sich die Regierung vor allem an die analphabetischen Arbeiter*innen und die Landbevölkerung richten wollte, eigneten sich visuelle Bildmedien besonders, um sozialistische Ideale zu vermitteln und die Bevölkerung für das Ziel der Revolution zu einen.38 Die Malereien wurden vor allem an öffentlichen Gebäuden platziert – zunächst in Innenräumen oder -höfen und ab Anfang der 1950er Jahre zunehmend an Außenwänden – und waren dadurch universell zugänglich. So erklärte José Clemente Orozco, neben Diego Rivera und David Siqueiros einer der drei Gründerväter des Muralismo: »Die Wandmalerei ist die höchste, folgerichtigste, reinste und stärkste Form der Malerei; […] sie ist auch die uneigennützigste, weil sie nicht zum Gegenstand persönlichen Nutzens verwandelt, noch zum Vorrecht einiger weniger versteckt werden kann. Sie ist für das Volk. Sie ist für ALLE.«39 Kunst diente als erzieherisches Mittel und Schlüsselinstrument für die soziale Revolution, weshalb Avantgardekünstler*innen40 durch visuelle Agitationsformen soziale und demokratische Prozesse beförderten.41 Die Motive der Bilder reichten von marxistischen Idealen wie einer selbstbestimmten, kraftvollen und solidarischen Arbeiter*innenschaft über die Verurteilung von Kolonisation und Imperialismus bis zur ethnischen Diversität Mexikos.42 Letztere zeigte sich insbesondere in der ikonographischen Differenzrepräsentation durch die Philosophie der »kosmischen Rasse« (raza cósmica) der Mexikaner*innen: die (rassifizierte Kategorien reproduzierende) Utopie einer historisch die ganze Welt in sich vereinenden »Rasse« jenseits von ethnischer Überund Unterlegenheit.43 Die Nähe zur Regierung brachte den mit ihr unter Vertrag stehenden Künstler*innen, trotz der vereinbarten künstlerischen Freiheit, jedoch schnell den Vorwurf der Manipulation für Propagandazwecke ein, die Kritiker*innen eine Komplizenschaft mit der korrupten Regierung in einem sozialistischen Gewand befürchten ließ.44 Ab Mitte der 1930er grenzten sich die zunehmend konservativen und kapitalismusfreundlichen Regierungen Mexikos zunehmend von den sozialistischen Idealen und Bildern der Künstler*innen ab und die Wandmalerei wurde stärker privatisiert, sodass die Künstler*innen bald nicht mehr vom Staat, son37 38 39 40 41 42 43 44

de la Fuente 1995. Trueba Lara 2015a, S. 23, 36. Nach Kuzdas/Nungesser 1994., S. 27. Zu den weiblichen Muralistinnen, die rückblickend oft vernachlässigt werden, siehe Comisarenco Mirkin 2015. Warnke 2011, S. 232. Trueba Lara 2015b, S. 95; Jaimes 2012, S. 25. Vasconcelos [1925] 2007. Trueba Lara 2015b, S. 68.

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dern von der wachsenden Bourgeoise – vor allem von Theatern, Banken oder Hotels – beauftragt wurden.45 Trotz der wirtschaftlich-kapitalistischen Nutzung beanspruchte der Muralismo nicht nur durch seine Motive, sondern auch durch seine öffentliche Zugänglichkeit und Verständlichkeit sowie die direkte Partizipation im öffentlichen Diskurs – von Reden und öffentlichen Diskussionen begleitet46 – die diversen und insbesondere der marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu repräsentieren und somit die Identifizierung mit der Revolution zu steigern.47 Der mexikanische Muralismo regte Bewegungen in zahlreichen anderen Ländern an, allen voran das Chicano Movement, das im Nachbarland USA mithilfe von Wandbildern auf die Diskriminierung und den Selbstbehauptungskampf von Menschen mexikanischer Herkunft aufmerksam machte.48 Auch die Bürgerrechtsbewegung nutzte das Medium, wie das Beispiel der Wall of Respect (1967) in Chicago zeigt: Das Wandbild zeigte Held*innen des Black Power Movement, zu dessen Treffpunkt das bemalte Gebäude wurde.49 Neben den USA sind unter anderem in Chile,50 im revolutionären Nicaragua der Sandinista-Zeit51 sowie in Argentinien52 politische Wandbildbewegungen entstanden. Dabei erklären einerseits das auf öffentlicher Zugänglichkeit beruhende »demokratische« und nicht-monopolistische Mitwirkungspotenzial des Mediums und andererseits seine Glaubwürdigkeit – durch seinen alternativen Charakter gegenüber den vom Elitendiskurs dominierten Massenmedien – das politische Motivationspotenzial des Mediums.53 Die politische Wandmalerei verbreitete sich auch in europäischen und deutschen Städten. Eines der Kulturprojekte zur Repräsentation von Vielfalt und Verständigung nach der Wende ist das Wandbild der Initiative Berlin – USA in Berlin-Wilmersdorf, das 1994 mithilfe einer Firmenspende realisiert wurde. Laut Initiator »symbolisiert [es] durch Zitate aus der Kunstgeschichte das Miteinander verschiedenster Kulturen« und »soll zu weiterem Austausch […] anregen«,54 denn: »Mural Art kann so als (völker-)verbindende kulturelle Brücke dienen«.55 Ein sehr prominenteres Beispiel für ein »völkerverbindendes« Projekt ist die East Side Gallery. Schon ab Mitte der 1970er wurde die Westseite der Berliner Mauer unautorisiert bemalt und beschrieben. Dadurch prägte Street Art die poli45 Campbell 2003, S. 58. 46 Ebd., S. 71. 47 Jaimes 2012, S. 15, 21, 29; zum partizipativen und politisch-diskursiven Selbstverständnis des mexikanischen Muralismus siehe Castellenos 2017. 48 Reed 2005, S. 103-128. 49 Geilert 2013, S. 59. 50 Comité de Defensa de la Cultura Chilena 1990. 51 Kunzle 1995. 52 Carpita 2012; Chaffee 1993. 53 Chaffee 1993, S. 8ff., 161ff. 54 Kuzdas/Nungesser 1994, S. 35. 55 Ebd.

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tische Ikonographie des Kalten Krieges,56 relativierte aber auch die »Totalitarismus-Symbolik« des Stacheldrahtzauns.57 Die Bemalung eines 1.316 Meter langen Mauerabschnitts an der Spree war eines der ersten gesamtdeutschen Projekte überhaupt. Es kam ab Februar 1990 durch den Zusammenschluss der ost- und westdeutschen nationalen Künstlervereinigungen zustande und beabsichtigte durch Bilder von 150 west- und ostdeutschen sowie internationalen Künstler*innen, nach dem Mauerfall eine demokratische Vielfalt im vereinten Deutschland zu repräsentieren.58 Sowohl die Wandmalerei als auch das American Graffiti Writing haben das Phänomen geprägt, das heute unter dem Begriff Street Art zusammengefasst wird. Der historische Rückblick verdeutlichte, dass die Vorgänger der heutigen Street Art sowohl zur Förderung gemeinschaftlicher Identitäten als auch zu ihrer Abgrenzung dienten. Graffiti als Raummarkierungs- und Verewigungsgeste von »einfachen Leuten« oder marginalisierten Gesellschaftsgruppen – also als »Kunst von unten« – diente vor allem zur Abgrenzung von der Elite, ob in Form von sogenannter Hochkultur oder hoher Politik. Widerständige bzw. emanzipatorische Bewegungen nutzen auch die Wandmalerei, um ihre Interessen zu repräsentieren. Die Wandmalerei entwickelte sich jedoch vor allem zur Legitimation von Herrschaft und wurde daher von Akteuren gefördert, die die Identifikation der Bevölkerung mit der Staatsmacht – durch die »Kunst für alle« – stärken wollten. Die Repräsentation von Differenz, wie im mexikanischen Muralismo oder bei den »völkerverständigenden« Wandbildprojekten in Berlin, sollte dabei die Integrationskraft stärken, gerade in Verbindung mit demokratischen Ansprüchen. Wie dieses Potenzial von Street Art zur Differenz- als Identitätsrepräsentation heute in der Bundesrepublik Deutschland von staatlichen Akteuren genutzt wird, untersuche ich im folgenden Kapitel anhand von zwei Beispielen. 3. Förderung im deutschen Raum: empirische Illustrationen Neben der Nutzung des Street-Art-Labels für Events wie dem eingangs erwähnten Workshop Deutschland sprüht vor Ideen fördern staatliche Institutionen auch zivilgesellschaftliche Street-Art-Projekte durch Auszeichnungen oder Finanzierung. Für beide Formen bespreche ich hier je ein Beispiel. Es handelt sich um (3.1) die Auszeichnung eines hessischen Street-Art-Kollektivs im Rahmen der Initiative Kultur- und Kreativpiloten Deutschland der Bundesregierung und um (3.2) das von der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main geförderte Projekt underARTconstruction. Um die diversen Spielarten zu untersuchen, in denen Street Art als ikonographische Herrschaftspraxis gebraucht wird, habe ich sehr unterschiedliche Beispiele gewählt: Während bei ersterem eine nationale Regie56 Zu Differenzikonographie im Kalten Krieg siehe den Beitrag von Weichlein in diesem Sonderband. 57 Drechsel 2011, S. 135, allg. S. 133-135. 58 http://www.eastsidegallery-berlin.de/ (Zugriff vom 27.9.2016).

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rung Berufskünstler auszeichnete, handelt es sich bei letzterem um die Förderung unbezahlter, kritischer Kunst durch eine Kommune bzw. eine supranationale Institution. Die einzelnen Werke kann ich dabei nur in Auszügen und überblickartig betrachten.59 Methodisch lehne ich mich an die kritische visuelle Analyse nach Gillian Rose an, die die drei Analyseebenen des Produktionskontextes, des Bildes selbst und des Rezeptionskontextes differenziert.60 Diese Ebenen umfassen konkreter auf der Produktionsebene den rechtlichen Status, den Entstehungsort, das Trägermedium sowie die Urheber*in(nen) und ggf. Auftraggeber*in(nen) oder Förder*in(nen); auf der Ebene des Bildes selbst die Technik, die Farbwahl, die Ikonologie (Motiv und Symbolgehalt sowie der politische und historische Kontext) und auf der Rezeptionsebene die medialen, politischen, sozialen und ökonomischen Reaktionen auf das Bild. Bei beiden Fallbeispielen beschreibe ich zunächst exemplarische Werke und analysiere anschließend zusammenfassend deren politische Ikonographie auf Grundlage von ikonographischen Traditionen. Auch wenn ich hier aus Platzgründen keine detaillierte Analyse nach diesen drei Schritten leisten kann, stelle ich relevante Charakteristika exemplarisch heraus. Dabei beschreibe ich die Projekte zunächst anhand von Fotos und offiziell bereitgestellten Informationen und analysiere sie anschließend zusammenfassend mithilfe von Literatur zur politischen Ikonographie.61 3.1 »Kultur- und Kreativpiloten Deutschland« 3.1.1 Beschreibung Das 2014 von der Bundesregierung ausgezeichnete Urban-Art-Kollektiv, dessen Bilder ich hier betrachte, besteht aus drei freischaffenden Künstlern, die neben ihrer Arbeit als Kollektiv eine Kreativagentur betreiben und regelmäßig ein KunstFestival ausrichten. Ihre Arbeiten haben ausdrücklich ihren Ursprung in Mural Art und Street Art und beinhalten neben Atelierarbeiten hauptsächlich großflächige Wandbilder im Innen- und Außenbereich. Das Kollektiv rechnet sich der Stilrichtung Neo-Pop zu;62 die genannten Werke erscheinen dementsprechend in einem bunten Mix leuchtend intensiver Farben. Während viele der vielfältigen Projekte unbezahlt bzw. ungefördert entstanden, sind bei einigen Institutionen der öffentlichen Hand oder mittelständische Unternehmen als Auftraggeber bzw. Förderer angegeben. Für meine Analyse ist die Arbeit des Kollektivs durch ihre Re59 Für die detailliertere visuelle Analyse eines Street-Art-Werkes im Rahmen politischer Konflikte siehe Bogerts 2016. 60 Rose 2012, S. 19. Zu den differenzierteren Analyseebenen siehe auch Bogerts 2017a und Bogerts 2017b. 61 Natürlich ist die gegebene Interpretation nur eine von vielen, denn Bildwahrnehmung ist immer subjektiv und von den individuellen Erfahrungen und Einstellungen der/des Betrachtenden abhängig. Dennoch besteht gerade bei Kunst im öffentlichen Raum kein hierarchisches Produzenten-Rezipienten-Verhältnis mehr und die Frage danach, »was der Künstler uns damit sagen wollte«, relativiert sich. 62 http://3steps.de/about-3steps/#Werk-Arbeiten (Zugriff vom 28.9.2016).

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zeption relevant, nämlich eine Auszeichnung durch die deutsche Bundesregierung: Seit 2010 verleiht diese jährlich die Auszeichnung Kultur- und Kreativpiloten Deutschland an 32 Unternehmen aus der Kultur- und Kreativwirtschaft.63 Die Auswahl wird von einer Jury getroffen, die sich aus Unternehmer*innen, Vertreter*innen der Ministerien, Mentor*innen sowie ehemaligen »Kultur- und Kreativpilot*innen« zusammensetzt.64 Die Auszeichnung besteht – neben der Ehrung als förderungswürdiges Unternehmen durch die Bundesregierung an sich – in einem einjährigen Mentoring, gemeinsamen Workshops mit anderen Ausgezeichneten sowie darin, »Teil eines bundesweiten Netzwerks kreativer Unternehmer« zu sein sowie »bundesweit und regional Aufmerksamkeit in den Medien« zu erhalten.65 In einem weiterführenden Programm namens Copiloten verfolgt die Bundesregierung darüber hinaus das Ziel, »die Kultur- und Kreativpiloten mit Entscheidern aus Wirtschaft und öffentlicher Hand zusammenzuführen und innovative Kooperationsprojekte anzustoßen«.66 Im Folgenden betrachte ich einige exemplarische, vor der Auszeichnung im November 2014 entstandene Projekte des Street-ArtKollektivs, um nach einer Erklärung zu suchen, was ihre Arbeit aus Sicht der Bundesregierung förderungswürdig macht. Dabei sei betont, dass das künstlerische Werk des Kollektivs neben diesen wenigen Projekten noch weitaus breiter ist. a) Werther-Mural (Wetzlar, 2015)67 Das Wandbild ist eine Hommage an den deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe und Charlotte Buff, die als Vorbild für den Charakter der »Lotte« in seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werther diente. Es entstand an einer Außenmauer der städtischen Wetzlaer Museen, in Zusammenarbeit mit dessen Leitung, und wurde durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das Stadt- und Industrie-Museum Wetzlar, die Stadt Wetzlar und die Volksbank Mittelhessen gefördert. Das Wandbild stellt sowohl schablonenartige Einzelportraits der beiden historischen Persönlichkeiten mit popart-artigen Stern- und BlitzSymbolen über den Augen als auch eine fotorealistisch gemalte Szene dar, in der die Romanfigur Werther die Hand der Lotte küsst. Das Werk soll städtische Geschichte, Literatur und »Moderne« verbinden: »Geschichte neu erleben« lassen.

63 http://kultur-kreativpiloten.de/auszeichnung/ (Zugriff vom 28.9.2016). 64 http://kultur-kreativpiloten.de/wp-content/uploads/2016/06/Factsheet-Kultur-und-Krea tivpiloten-Deutschland.pdf, S. 2. (Zugriff vom 28.9.2016). 65 http://kultur-kreativpiloten.de/auszeichnung/ (Zugriff vom 28.9.2016). 66 http://copiloten.kultur-kreativpiloten.de/ (Zugriff vom 28.9.2016). 67 Soweit nicht anders angegeben, sind die folgenden Informationen der Website zum entsprechenden Werk entnommen, die ich jeweils beim Titel angebe; so hier: http://3steps. de/works/werther-mural-wetzlar-2015/ (Zugriff vom 28.9.2016).

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b) August Bebel – Pop Art Portraits (Wetzlar, 2013)68 Die drei Portraits des deutschen Politikers August Bebel, der Teile seines Lebens in Wetzlar verbrachte, zieren eine Autobrücke in der Innenstadt. Sie entstanden unter Beteiligung von Jugendlichen im Rahmen der Sonderausstellung Einer von uns. August Bebel und Wetzlar des öffentlichen Stadt- und Industriemuseums Wetzlar. Die Portraits stellen den »Begründer der deutschen Sozialdemokratie« in poppigen, intensiven Farben dar; davon auf einem Bild in historischer und auf zweien in moderner Kleidung (und Basecap) aus der Hip-Hop- oder Hipster-Kultur. Die Künstler schreiben zum Dargestellten: »Bebel war der ›Kaiser der Arbeiter‹, der Widersacher Bismarcks, der ›Dolmetsch der Massen‹, Vorstreiter der Gleichberechtigung und der Schmied des Deutschen Staates.« c) Projekt159 (Gießen, 2015)69 Das 159 qm große, aus mehreren Wandbildern bestehende Projekt im und am Erweiterungsbau des ServiceZentrums der Volksbank Mittelhessen stellt u. a. die Geschichte der Bank mitsamt den Gründervätern des deutschen Genossenschaftswesens sowie Landkarten und Ansichten von mittelhessischen Städten dar. Als »nostalgisches Symbol für Waren, Handel und Geschäfte« wurde das Symbol der Kasse gewählt, die von Geldstücken umgeben ist; andere Motive sind z. B. die Tiere Bulle und Bär. Zur ihrer Intention schreiben die Künstler: »Es bringt die Identität der Region und die Geschichte der Volksbank Mittelhessen kunstvoll miteinander in Einklang und folgt dem genossenschaftlichen Gedanken der Mitbestimmung unter dem Motto ›Eine Region. Eine Bank. Eine Wand.‹« d) Pop-Art-Gestaltung eines Trabi 601s Kombi (Gießen, 2012)70 Das Kollektiv bemalte das Auto im Besitz der Stadt Gießen anlässlich des Tags der Deutschen Einheit. Der Trabi, als Sinnbild für die DDR-Vergangenheit Deutschlands, trägt auf einer Seite die Farben der bundesdeutschen Nationalflagge, auf dem Dach das ikonische Motiv des über Stacheldraht springenden NVA-Soldaten, auf der Motorhaube die nationalen Symbole des Bundesadlers und DDR-Staatswappens sowie auf der Heckscheibe einen Aufkleber mit der Aufschrift »Wir sind ein Volk«, das Motto der Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989. Die Künstler schreiben: »Der bemalte Trabi stellt ein Sinnbild für eine gemeinsame grenzüberschreitende Zukunft in Deutschland dar. […] Der 601S ist eine Reflexion der bunten Berliner Mauer sowie der zahlreichen Kulturen und Regionen in Deutschland. Die so vielfältig und anders sein können und doch zusammen gehö-

68 http://3steps.de/works/august-bebel-wetzlar-2013/ (Zugriff vom 28.9.2016). 69 http://3steps.de/works/projekt159-giessen-2015/ (Zugriff vom 28.9.2016). 70 http://3steps.de/works/trabi-601s-giessen-2012/ (Zugriff vom 28.9.2016).

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ren.« Das Werk wurde zu den Feierlichkeiten des deutschen Nationalfeiertags im Rathaus ausgestellt.71 e) Projekt »River Tales« (Gießen/Wetzlar 2012, 2014)72 Dieses vom Kollektiv initiierte und geleitete Projekt zur Neugestaltung von Beton und Fassaden an zwei mittelhessischen Flüssen wurde durch die Stadt Gießen, die Stadt Wetzlar und verschiedene mittelständische Unternehmen gefördert.73 Die dekorativen Bilder des Projekts wurden von verschiedenen Künstler*innen gemalt. Bezüglich der Motive betont das Kollektiv, dass »die regionale ländliche Idylle, Formen von Flora und Fauna sowie der Einklang von Mensch und Natur eine bedeutende Rolle« spiele.74 Ein anderes River-Tales-Teilprojekt ist die Performance REFLEXION – Die Transformation von 3 Berliner Mauersegmenten (Gießen 2015).75 Zu dieser von ihnen selbst finanzierten Performance sagen die Künstler: »Die Berliner Mauerteile sind als Medium von bestehenden Mauern zwischen Nationen, Völkern und Kulturen sowie von Mauern in den Köpfen der Menschen zu verstehen. Ziel ist das Einreißen dieser Mauern sowie das Bauen von Brücken zwischen Menschen verschiedener Herkunft und Kulturen.« 3.1.2 Analyse der politischen Ikonographie76 Bei dem Kollektiv handelt es sich um einen Kreativstudio-Betrieb, der die Technik der Street Art verwendet, aber dabei – zumindest öffentlich – keinerlei gesellschaftskritischen Anspruch formuliert. Durch die »moderne«/»sub«- bzw. populärkulturelle Technik und die (neo-)pop-artige Darstellungsweise machen die Werke den dargestellten Inhalt anschlussfähig für eine junge, »moderne« Zielgruppe, was aus Sicht von Unternehmen oder Staatsakteuren auch potenzielle Wähler*innen und Konsument*innen umfassen kann.« Die Künstler betonen wiederholt die »junge« bzw. »moderne« Aura ihrer Kunst – »Ästhetik und Glamour [treffen] auf Urbanes und Abenteuer«77 – die sie für die Bewerbung von nationaler Geschichte, von Traditionen und Werten, von regionaler und nationaler Identität sowie von Einheit und Vielfalt einsetzen.

71 http://www.giessener-allgemeine.de/Home/Artikel,-3Steps-gestalten-Trabi-zur-Feier-der -Deutschen-Einheit-_arid,372145_regid,1_puid,1_pageid,266.html (Zugriff vom 28.9.2016). 72 http://www.river-tales.de/ (Zugriff vom 28.9.2016). 73 http://www.flussgeschichten.de/partner/ (Zugriff vom 22.9.2017). 74 http://3steps.de/about-3steps/#Werk-Arbeiten (Zugriff vom 28.9.2016). 75 http://3steps.de/works/reflexion-projekt-berliner-mauer-giessen-2015/ (Zugriff vom 30.10.2016). 76 Die hier gegebene Interpretation lehnt sich an die Informationen aus den Werk- bzw. Projektbeschreibungen bzw. die »Intentionen der Künstler« an, die auf der Homepage des Künstlerkollektivs angegeben sind. 77 http://3steps.de/about-3steps/ (Zugriff vom 28.9.2016).

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Die Inhalte der Werke spiegeln Themen und Motive wider, die entsprechend des offiziellen Narrativs des staatlichen Machtanspruchs in der Bundesrepublik Deutschland als Nation gelesen werden können. Diese »Erfindung der Nation« stützt sich vornehmlich auf Bilder, in denen eine nationale Tradition inszeniert wird: »Obwohl die nationalen Mythen nach außen hin den Anschein einer ›objektiven‹ Geschichte vermittelten, bleiben sie in ihrer impliziten und expliziten Interpretation der historischen Ereignisse und Sinnstiftung meist eng mit bestimmten national-politischen Projekten verbunden.«78 Bei den hier betrachteten Werken ist die visuelle Identifikationsstiftung durch emotional besetzte, nationalistische (patriotische) Symbole wie die Farben der Nationalflagge79 und den Bundesadler sowie das Feiern des Nationalfeiertags (siehe d) ersichtlich. Die Künstler bemühen identitätsstiftende Symbole deutscher Einheit (siehe d und e), wobei sie aber nicht nur auf Geschichte, sondern stets auch explizit auf die Vielfalt Deutschlands als zukunftsweisendes Merkmal verweisen. Hier steht die Buntheit bzw. »Knalligkeit« der Farben als Sinnbild für Vielfalt und »Moderne«. Andererseits wird das etwas subtilere Nationalnarrativ des »Landes der Dichter und Denker« gebraucht (siehe a und e), wodurch das »vorwiegend nationalistische[s] Bedürfnis nach heldenhaften Identifikationsfiguren«80 befriedigt wird, eine »Verehrung mythischer, historischer oder zeitgenössischer Helden, durch die sich die Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppen ihrer Wertmaßstäbe zu versichern […] sucht«.81 Dabei nutzen die Künstler nicht nur das »heroische[s] Bild des seiner Zeit vorauseilenden Künstlers, Dichters und Denkers«82 – wie Goethe – oder der »Pioniere in Wissenschaft und Technik oder Geistergrößen«83 (wie bei c), sondern auch des Politikers.84 Bebel soll mit seiner modernen HipsterKleidung eine Identifikation erleichtern. Das Lob des Wandbilds Bebels – von den Künstlern explizit als »Schmied des deutschen Staates« benannt – durch den sozialdemokratischen Oberbürgermeister Wetzlars85 passt zu dessen städtischer Mar78 79 80 81 82 83 84

Francois (1995) nach ebd., S. 169; siehe auch Hobsbawn/Ranger 1992. Ebd., S. 173. Brassat 2011, S. 477. Ebd., S. 474. Ebd., S. 478. Ebd., S. 477. Die männliche Form ist hier bewusst gewählt, weil gesellschaftliche Machtverhältnisse hier auch durch Geschlechterstereotypen reproduziert werden. Diese äußern sich im (aktiven) männlichen Helden (Gründervater, Dichter, Politiker) und der (passiven) weiblichen Ästhetik, die sich nicht nur in der Charlotte Buff bzw. »Lotte« als schöner »Geliebten«, sondern auch in (hier nicht besprochenen) Bildern des Kollektivs zeigt, die (namenlose) Frauen vorwiegend sexualisiert darstellen. Diese Einschätzung wird von der Intention der Künstler selbst bestärkt: »Ästhetik und Weiblichkeit stehen Abenteuer und Männlichkeit gegenüber«; (http://3steps.de/about-3steps/; Zugriff vom 28.9.2016). John Berger beschrieb diese binären aktiv-passiv-Kategorien in der Kunst passend mit: »[...] men act and women appear« (Berger 1972, S. 47. 85 http://www.hessencam.de/?p=3395 (Zugriff vom 28.9.2016).

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keting-Strategie. Die Verehrung ist allerdings sehr unkritisch, tut ihr doch Bebels rassistisch begründete Befürwortung der Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreichs, »um [fremden Völkern] die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen«86 keinen Abbruch. Ein anderes Motiv, das ein deutsches Nationalnarrativ bedient, ist das der ländlichen Idylle (siehe e), das Landschaften mit Wäldern, Wiesen und Flüssen zur allegorischen Identifikationsquelle der deutschen Nation werden lässt.87 Dieses mythische Motiv und Leitbild in »nationaler Mission«88 ist vor allem aus Rittersagen bekannt. Neben diesen politisch-kulturellen Narrativen wird auch das Wirtschaftssystem rein positiv konnotiert (siehe c). Durch die Bilder von Kasse und Geldscheinen sowie Bulle und Bär, die als tierische Symbole für die Wertpapierbörse stehen und skulpturale Äquivalente unter anderem vor der Frankfurter und der New Yorker Börse haben,89 befördern die Künstler mit einer durchweg positiven Assoziation die Faszination des kapitalistischen Geld- und Finanzwesens und verbinden sie mit dem Gefühl der Gemeinschaft und einer »Identität der Region«. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Technik und Ikonographie der Werke so lesen lassen, dass sie das Narrativ der nationalstaatlich-kapitalistischen Staatsform stärkt und für eine weite Zielgruppe anschlussfähig macht. Obwohl staatliche und privatwirtschaftliche Akteure überwiegend Wandmalerei mit unpolitischen, rein dekorativen Motiven zu fördern scheinen, was eine gewisse Depolitisierung impliziert, beziehen sich solche Murals oft – mehr oder weniger subtil – auf nationale Werte und historische Errungenschaften.90 Dadurch scheinen sie sich hervorragend für eine Auszeichnung bzw. Förderung durch die Bundesregierung zu eignen, die in Kooperation mit der freien Wirtschaft Street Art (als Teil der Kreativwirtschaft) stärker für ihre Identitätsrepräsentation zu nutzen versucht. 3.2 »underARTconstruction« 3.2.1 Beschreibung91 Die Initiative underARTconstruction am Bauzaun des EZB-Neubaus in Frankfurt am Main vereinigte zwischen 2012 bis 2014 viele verschiedenste Künstler*innen 86 http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/namibia/stadtspaziergang/pdf/10_reichstag. pdf (Zugriff vom 28.9.2016). 87 Fleckner 2011, S. 325. 88 Krüger 2011, S. 98. 89 http://www.wissen.de/was-symbolisieren-bulle-und-baer-der-boerse (Zugriff vom 30.2016). 90 Soneira 2012, S. 4. 91 Die nachfolgend erwähnten Werke finden sich auf diesen Websites: http://kollektive-off ensive.blogspot.com/2013/03/under-art-construction-der-ezb-bauzaun.html, http://ww w.stadtkindfrankfurt.de/tag/under-art-construction/; http://www.freiluftgalerie-frankfu rt.de/category/allgemein/ und https://www.theguardian.com/business/gallery/2013/dec/ 29/european-central-bank-mario-draghi (Zugriffe vom 17.9.2016). Durch die Vielzahl

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(-kollektive) und hat daher keine einheitliche Autor*innenschaft. Zu den Beteiligten gehörten lokale, regionale, deutschlandweite und internationale Künstler*innen92 unterschiedlicher Professionalitätsgrade. Durch den Veranstalter, eine Einrichtung des gemeinnützigen Eigenbetriebs Kommunale Kinder-, Jugend- und Familienhilfe der Stadt Frankfurt, lag der Fokus vor allem auf der Miteinbeziehung lokaler Jugendlicher. Ziel war es, »Netzwerke länderübergreifender Jugendkultur zu stärken und jungen Künstlern ein Forum zu bieten. Ein Bewusstsein für einen konstruktiven Umgang mit Graffiti-Kunst wird geschaffen und findet vermehrt Akzeptanz in der Bevölkerung.«93 Die EZB stellte eine 400qm große Fläche des mit Stacheldraht bestückten Sicherheitszauns um die Baustelle ihres Neubaus zur freien Bemalung zur Verfügung.94 Die Bank stellte außerdem eine Summe von 10.000€ für die Anbringung von bemalbaren Holzpanelen und den Kauf von Sprühdosen bereit.95 Zwischen Juli 2012 und Juni 2014 entstanden in mehreren, in etwa dreimonatigen Abständen stattfindenden Jams insgesamt mehr als 80 Werke, die bei der nächsten Jam jeweils wieder übermalt wurden. Der Inhalt der Bilder ist sehr vielfältig. Während sich einige durch dekorative Motive bzw. stylewriting auszeichnen, thematisieren die meisten (finanz- und wirtschafts-)politische Themen im Zusammenhang mit der Europäischen Union (EU). Im Folgenden greife ich die ikonographischen Aspekte einzelner dieser politischen Werke exemplarisch heraus. In den Bildern tauchen zahlreiche Karikaturen von Politiker*innen der europäischen Finanzpolitik auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel erscheint auf einem Bild vor zahlreichen prallen Geldsäcken mit Eurozeichen und der Frankfurter Skyline sowie mit erhobenem Daumen neben dem Schriftzug »Money vs. Morals«. Ein zweites Werk stellt die zur typischen »Merkel-Raute« geformten Hände riesenhaft dar, in deren Mitte sich die (Lügen symbolisierende) Kinderbuchfigur Pinocchio in von den Händen gesponnenen Fäden verwickelt hat. Ein anderes, in SchwarzWeiß gehaltenes und mit dem Titel Casino Royale versehenes Bild (Abb. 2) zeigt die in ein glamouröses Kleid gekleidete Merkel als »Bondgirl«, das dem, einen Anzug tragenden und am Casinotisch spielenden Filmcharakter James Bond zur Seite steht, der den EZB-Präsidenten Mario Draghi personifiziert. Auf einem anderen Bild wird Draghis riesiger Kopf als Aufsatz auf dem EZB-Gebäude dargestellt, der – gleich einem PEZ-Bonbonspender – aus seinem Mund kommende Goldbarren produziert, die in ein die Bank umgebendes Meer aus Goldbarren fallen. Der blaue Hintergrund ist gespickt mit Sternen, die wohl für die Flagge der

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der vertretenen Künstler*innen, die teilweise anonym bleiben möchten, verzichte ich auf die Nennung einzelner Namen. http://jugendladen-b.junetz.de/2_0_2_offenes_atelier.html (Zugriff vom 28.9.2016). Ebd. http://www.young-germany.de/topic/play/art-fashion/graffiti-artists-and-the-ecb-teamup (Zugriff vom 28.9.2016). https://www.theguardian.com/business/gallery/2013/dec/29/european-central-bank-ma rio-draghi; siehe auch https://blogs.wsj.com/eurocrisis/2013/05/09/street-artists-take-on -the-euro-crisis/ (Zugriff vom 30.10.2016).

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EU stehen. Ein weiteres Bild bildet das Ronald Reagan-Zitat »Mr. Gorbachev, tear down this wall« ab, das sich im Kontext des Kalten Krieges auf die Berliner Mauer bezog. Der Name des sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow wurde durch den Namen Draghis ersetzt. Der graue Hintergrund im Stile von Berliner-Mauer-Elementen unterstreicht den historischen Bezug, ebenso wie der begleitende Text: »We need a change of ideas«.

Abb. 2: underARTconstruction, Mai 2013: »Casino Royale« (Künstler unbekannt).

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Beteiligte der EU-Finanzpolitik werden auch mithilfe von Tiervergleichen personifiziert. Ein Bild stellt in bunten Farben zwei sich gegenüberstehende Kampfhähne vor dem Hintergrund einer abstrahierten aufgehenden Sonne dar, die rechts und links von stylewriting umgeben ist. Zwei Bilder bemühen Affenvergleiche, indem sie einen 100-Euro-Scheine haltenden Schimpansen mit einem Fragezeichen über dem Kopf sowie einen Chor aus singenden und befrackten Brüllaffen zeigen. Ein anderes Beispiel ist das, in bedrohlichen Farben gehaltene, Bild eines stierähnlichen Monsterkopfes mit zwei furchteinflößenden zähnefletschenden Gebissen. Der Kopf gehört zu einem Menschenkörper im Anzug, der auf einem Sessel sitzt und von zwei Adlern umrahmt wird. Auch das Schwein ist als Personifikation mehrmals vertreten. Auf einem Bild sieht man ein Riesenschwein, das mit der einen Hand Totenköpfe vom Boden hebt und mit der anderen eine Weltkugel neben sich schweben lässt. Ein anderes Motiv ist das von vier in Polizeiuniformen gekleideten comicartigen Schweinen, die mit Pistolen, Handschellen, Schlagstöcken und einem bösartigen Lachen eine Person of color umringen, während andere Personen mit angsterfüllten Gesichtsausdrücken fliehen. Ein letztes Beispiel der Schweine-Personifikation stellt das ebenfalls im Pop-Art-Stil gemalte Bild eines fetten Schweins mit Frack und Zylinder (mit Eurozeichen) dar, das mit Messer und Gabel in den Händen und spitzen Zähnen zum Verzehr eines kleinen, auf seinem Teller liegenden Schweinchens ansetzt und dabei in einer Sprechblase das Wort »Krise!« ausstößt. Es ist von einer, in Orangetönen gehaltenen, Savannenlandschaft umgeben, in der kleine, bis auf die Rippen abgemagerte Schwarze Personen sitzen oder stehen, die nur mit einem Tuch um die Hüften bekleidet sind. Die Darstellung von (fast) nackten, abgemagerten, kinderartigen Personen of color wiederholt sich in einem anderen Bild, auf dem die in Schwarz-Weiß dargestellten Kinder ihre Hände in die Bildmitte ausstrecken, in der in bunten Farben und kaleidoskopartigen Dreiecksformen Ausschnitte einer stark geschminkten Weißen, blonden Frau mit sexualisierter Mimik einen Kontrast bilden. Diese Art von Kontrastierung wiederholt sich auch in einem anderen Motiv, das in Grautönen eine schlanke Frau in einem ihre großen Brüste entblößenden offenen Hemd darstellt. Auch durch die Augenbinde sowie das in einer Hand gehaltene Schwert und die mit der anderen Hand gehaltene Waage stellt sie eindeutig Justitia dar, die Gerechtigkeits-Personifikation aus der römischen Mythologie. Während in der niedrigeren Waagschale glänzende Eurozeichen den größeren Wert angeben, stellt die höhere, leichtere Waagschale ein hölzernes Boot mit einem in der Luft baumelnden Anker und der Aufschrift »Refugees« dar, in dem sich umrissartig schwarze Figuren mit ausgestreckten Armen drängen. Das Motiv wird vom Sternenkranz der EU-Flagge und einer mit Stacheldraht besetzten Abgrenzung zu einem stylewriting mit dem Schriftzug »No borders« umsäumt; am Bildrand ist ein Schild mit der Aufschrift »European Union – no entry« abgebildet. Neben diesen Darstellungen finden sich auch zahlreiche körperlose, riesenhaft erscheinende Hände, die zu Gesten geformt sind. Neben der oben bereits erwähnten »Merkel-Raute« ist dies u. a. das grautönige Bild einer zur Pistole geformten Hand, aus deren Zeigefinger eine Fahne mit der Aufschrift »Protect capitalism against us« ragt. Ein anderes, auch größtenteils schwarzweißes Bild zeigt eine aus

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einem Hemdsärmel ragende Hand, die eine kleine Erdkugel zwischen Zeigefinger und Daumen zerquetscht. Das Motiv wird textlich begleitet von der Liedzeile eines David Bowie-Songs: »The man who sold the world. I thought you died alone.« Ein viertes Handgesten-Motiv ist das zweier zur Faust geballter und mit Augen versehener Hände, die einen in ihrer Mitte liegenden Haufen Kot mit dem Dialog »Aus Scheiße… Gold!« kommentieren. Ein letztes, das Thema Kapitalismus bzw. Geld aufnehmendes Bildbeispiel ist das einer größtenteils Schwarzweiß gehaltenen und von Gewitterwolken umgebenen Skyline Frankfurts, vor der der Kreislauf des Geldes dargestellt wird. Eine geisterhafte Menschengestalt schaufelt auf dem Boden liegende, kleine, schwarze Menschenfiguren in den Trog einer Maschine mit der Aufschrift »EZB«, während eine zweite solche Gestalt die herauskommenden leuchtend grünen Geldscheine in eine Waschmaschine und einen Fabrikturm schaufelt, wo sie verbrannt werden. Auf der Rezeptionsebene erhielt die Initiative ein großes Medienecho. Die Stadt Frankfurt unterstützte sie explizit.96 Die EZB selbst erwarb für eine unbekannte Summe einen 12,5 Meter langen Abschnitt mit dem oben (bei den Tiervergleichen) erwähnten Motiv Hahnenkampf. Laut einer Sprecherin ist es aufgrund von Platzproblemen noch nicht realisierbar, das Bild, wie angekündigt, im Neubau auszustellen,97 es sei aber weiterhin geplant.98 Während Dutzende Banken und Finanzmanager*innen versucht haben, Werke des »antikapitalistischen Graffiti« zu erwerben,99 ist der Kauf des Bildes Casino Royale durch einen Milliardär aus New York, den Gründer der Computerfirma Dell, bestätigt.100 Der Verbleib der anderen Bilder aus der letzten Bemalungsrunde ist unbekannt. 3.2.2 Analyse der politischen Ikonographie Die Ikonographie der erwähnten Bilder drückt klar die Absicht aus, sich den die EU-Politik bestärkenden Narrativen entgegenzustellen, die vor dem Hintergrund der europäischen Finanz- und Währungskrise in der öffentlichen Debatte ohnehin stark umstritten waren. Nachdem schon der Platz vor dem alten EZB-Gebäude 2011/2012 als Ort für die kapitalismuskritischen Occupy-Proteste genutzt wurde, wurde der 1,2 Milliarden teure EZB-Neubau – dessen Eröffnung im März 2015 wiederum von den Blockupy-Protesten begleitet wurde – zur materiellen Manifestation bzw. zum Sinnbild der kritisierten Politik. Neben der deutschen Bundesregierung, die wegen ihrer dominanten Rolle in der EU-Austeritätspolitik kritisiert

96 https://www.youtube.com/watch?v=bYOn0TX49L8 (Zugriff vom 27.9.2016). 97 https://www.theguardian.com/business/gallery/2013/dec/29/european-central-bank-m ario-draghi#img-1, siehe auch https://www.welt.de/regionales/frankfurt/article11394 1523/EZB-will-Hahnenkampf-erhalten.html (Zugriff vom 17.9.2016). 98 E-Mail-Auskunft durch eine EZB-Pressesprecherin am 14.9.2016. 99 https://www.theguardian.com/business/gallery/2013/dec/29/european-central-bank-m ario-draghi#img-8 (Zugriff vom 17.9.2016). 100 https://www.theguardian.com/business/gallery/2013/dec/29/european-central-bank-m ario-draghi#img-2 (Zugriff vom 17.9.2016).

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wurde, galt die EZB, als suprastaatliche EU-Finanzinstitution, als hauptsächliche Adressatin des Protests.101 Durch ihre Darstellung des Reichtums der EU und der Ausbeutung anderer widersprechen die Motive solchen »Hilfspaket«-Narrativen, die EU, EZB und deutsche Regierung als großzügige »Helferinnen« in der Krise stilisieren, die für Gemeinwohl und Zusammenhalt selbst Opfer auf sich nehmen würden.102 Dafür werden Karikaturen, als ein historisch überdauerndes Stilmittel von Herrscherkritik, eingesetzt, das durch Überzeichnung gesellschaftliche und politische Widersprüche verdeutlichen will.103 Die formalisierten Handgesten haben einen logohaften Wiedererkennungswert und dienen als Bedeutungsträger nonverbaler Kommunikation.104 Sie können einerseits durch ihre »Gesichtslosigkeit« als »Allegorie blinder Macht«105 der Finanzpolitiker*innen oder der Banker*innen gesehen werden. Andererseits symbolisieren aus dem Nichts oder »aus dem Himmel« kommende, herabweisende Hände – in einer Profanisierung der »Hand Gottes«106 – auch die überpersönliche Lenkung der Welt,107 die der »natürlichen« Selbstregulierung des Marktes im (Neo-)Liberalismus entspricht. In dem Symbol des durch die Hemdträger-Hand zerquetschten Globus verstärkt sich der universale Machtanspruch der Herrschenden108 in destruktiver Art und Weise. Das immer wieder auftauchende Motiv von Hemd und Anzug steht für die in den Banken arbeitende kapitalistische Wirtschaftselite,109 wobei historisch insbesondere Frack und Zylinder nicht nur in der sozialistischen Bildsprache die negativen Seiten des Kapitalismus symbolisierten.110 Andere hier auftauchende Symbole sind Goldbarren, Geldmünzen, -scheine und -säcke oder Währungssymbole sowie die »Fettwanstigkeit«.111 Letztere steht oft in Verbindung mit dem Tiervergleich des Schweins, das wiederum häufig – wie in George Orwells Tierfabel Animal Farm – als Personifikation der gewissenlosen und grausamen Herrscherklasse auftritt.112 Die Kritik der Austeritäts- bzw. »Spar«-Rhetorik zeigt sich überspitzt in der polaren Gegenüberstellung des dicken »Kapitalisten-Schweins« bzw. der klischeehaft-idealisierten (europäischen) Weiblichkeit und der nach Europa Flüch101 http://www.taz.de/!5016206/ (Zugriff vom 17.9.2016). 102 Siehe insbesondere die Berichterstattung der BILD-Zeitung und anderer konservativer Leitmedien. 103 Wessolowski 2011, S. 44, 49. 104 Hommers 2011, S. 420, 423. 105 Roettig 2011, S. 486. 106 Springer 2011, S. 444, 447. 107 Bredekamp 2011, S. 376f. 108 Rouge-Ducos 2011, S. 12. 109 Seidl 2011, S. 86. 110 Steinkamp 2011, S. 370; Hoffmann 2011, S. 494. 111 Steinkamp 2011, S. 370. 112 Brückle 2011, S. 434.

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tenden bzw. der dünnen – also hungernden – »Kinder in Afrika«: »Hier wird die arrogante Überheblichkeit des Reichtums mit der bedrückenden Häßlichkeit der Armut kontrastiert«, 113 wobei sich die materielle Situation besonders eindringlich visualisieren lässt: »Wie nur wenige soziale Unterscheidungsmerkmale werden die extremen Ausprägungen wirtschaftlicher Potenz eines Individuums bereits auf den ersten Blick erkennbar. Armut und Reichtum hinterlassen Spuren […]«. So sehr diese Skandalthematisierung114 anhaltender globaler Ungleichheit der (post-)kolonialen Verantwortung Europas entsprechen mag, so sehr scheitert der emanzipatorische Anspruch hier an der visuellen Repräsentation des Globalen Südens durch die Zuschaustellung eines homogenisierten, infantilisierten, exotischen Anderen, die dieses durch visuelle Stereotype gleichermaßen abwertet und ungleiche Machtverhältnisse reproduziert.115 Die in der europäischen Ikonographie traditionsreiche visuelle Personifikation »Afrikas« als ängstlich blickende, junge, exotische und meist unbekleidete Objekte116 ist hier nicht unmittelbar als ironisch-provokativ erkennbar. Vielmehr trägt sie zur Erhaltung von eurozentrischen Stereotypen bei, denn die Motive vermitteln eine Weltanschauung, die Regionen aus der Sicht Europas hierarchisiert.117 Insofern stärkt eine solche Darstellung wohl eher eine symbolische Abgrenzung nach außen, die für die Konstitution politischer Gemeinschaften – wie von Nationalstaaten oder der EU – nötig ist.118 Obwohl die Motive eindeutig die Förderinstitutionen – also sowohl die EZB als auch die staatlichen Strukturen allgemein – scharf kritisieren, gaben die Veranstalter an, die EZB habe sich stets sehr unterstützend verhalten.119 Bezüglich der Förderungswürdigkeit gab eine EZB-Sprecherin an, das Projekt passe »zum Anspruch der Bank, lokale Projekte zu fördern«.120 Zudem liegt nahe, dass die Bank – gerade in Zeiten der »Krise« und des Protests – das Projekt als Gelegenheit sah, die gesellschaftliche Zustimmung durch eine demonstrative Offenheit für Kritik, Disput und Meinungsvielfalt – ganz im demokratischen Geiste des EU-Mottos »Einheit in Vielfalt« – zu heben und ihre Legitimation zu stärken. Die Erhaltung des Bildes Hahnenkampf verstärkt diesen Eindruck und symbolisiert den Wunsch der Bank nach street credibility, die das differente Medium Street Art für ihre Kunstkauf- und -förderabteilung zu verkörpern scheint. Neben seiner technischen und sozialen – weil öffentlich und partizipatorischen – Charakteristika trägt der kriti113 Seidl 2011, S. 85. 114 Zimmermann 2011, S. 148. 115 Ebd., S. 147-148; vgl. Glokal e.V.; Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland 2017. 116 Franken 2011, S. 262-263. 117 Ebd., S. 264; vgl. Wintle 2009. 118 Räthzel 2008, S. 41. 119 http://blogs.wsj.com/eurocrisis/2013/05/09/street-artists-take-on-the-euro-crisis/ (Zugriff vom 21.9.2016). 120 http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/graffiti-kunst-in-frankfurt-sprayen-ohne-angstim-nacken-12966308.html (Zugriff vom 21.9.2016).

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sche Impetus in der Ikonologie der Bilder nur noch dazu bei, dass die EZB »das Differente« als Teil ihrer Identitätsrepräsentation scheinbar aufnehmen kann, um so die Sympathie kritischer Zielgruppen zu steigern. Ein am Projekt beteiligter Künstler drückt die geteilten Meinungen zu dem Projekt in der Street-Art-Szene in einem Zeitungsartikel so aus: »He says some think painting at the ECB is like working with the devil itself, but he sees it as an opportunity: ›Where else could I possibly be more open about my criticism than there?‹ […].«121 Die demonstrative Offenheit der Bank wird allerdings durch die Symbolik des Trägermediums, des 2,5 Meter hohen Zauns mit Stacheldrahtaufsatz, geschwächt, war es doch den Künstler*innen nur erlaubt ihn von außen zu bemalen: »Mauern [und Grenzzäune] markieren ein Innen oder Außen, sie stehen für Inklusion oder Exklusion und damit für die Bildung kollektiver Identitäten. [Sie] dienen mithin nicht nur als physische Sperren, sondern auch als politische Symbole, welche für die bildhafte Zuspitzung von Konflikten und Konfrontationen stehen«.122 Eine klare Abgrenzung zu unautorisierten Formen des Mediums Street Art ging auch von der kommunalen Politik aus. Der Veranstalter betonte dazu: »We wanted a place for kids to express themselves and show the public that graffiti is art, not vandalism.«123 Der Frankfurter Oberbürgermeister ließ sich mit einer goldenen Sprühdose in der Hand bei einer Veranstaltung vor einem der Werke fotografieren.124 Er gehört zu den stadtpolitischen Vertreter*innen, die sich für eine Förderung legaler Street Art einsetzen – allerdings ausdrücklich nur zur Prävention von Vandalismus.125 4. Fazit In diesem Beitrag ging ich der Frage nach, wie die Fähigkeit von Street Art zur Differenzrepräsentation dazu beitragen kann, ihre Nutzung für Herrschaftsikonographie zu erklären. Die Betrachtung ihrer historischen Vorgänger veranschaulichte, dass diese sowohl zur Repräsentation von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen als auch von Herrschaft eingesetzt wurden. Dabei war die Integrationskraft des Mediums nicht nur durch die ikonographische Darstellung von Diversität, sondern auch durch seine öffentliche und partizipatorische Praxis an sich zentral. Über das Eingangsbeispiel hinaus habe ich anhand von zwei aktuellen Fällen 121 http://blogs.wsj.com/eurocrisis/2013/05/09/street-artists-take-on-the-euro-crisis/ (Zugriff vom 21.9.2016). 122 Drechsel 2011, S. 132. 123 https://www.theguardian.com/business/gallery/2013/dec/29/european-central-bank-m ario-draghi (Zugriff vom 21.9.2016). 124 http://www.freiluftgalerie-frankfurt.de/underartconstruction-graffiti-am-ecb-bauzaun -sommerfest-naxosbande/ (Zugriff vom 21.9.2016). 125 http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/graffiti-kunst-in-frankfurt-sprayen-ohne-angstim-nacken-12966308.html; https://www.youtube.com/watch?v=bYOn0TX49L8 (Zugriff vom 30.10.2016).

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empirisch illustriert, wie die politische und die wirtschaftliche Elite in Deutschland Street Art in ihren autorisierten Formen fördert und finanziert. Während der erste Fall zeigte, dass die Bundesregierung ein Kollektiv aus Berufskünstlern auszeichnete, deren Werk zum Teil national integrative Narrative repräsentiert und stärkt, ist der zweite Fall ein Beispiel für Kunst mit gesellschaftskritischem Anspruch. Hier kann die ermöglichte Kritik als Öffnung der Förderin gewertet werden, die allerdings durch ihre gleichzeitige Abgrenzung (sowohl von unautorisierten Formen als auch durch die örtliche Sicherheitssymbolik) sowie die Nutzung für Marketingzwecke ebenfalls vereinnahmt wurde und als herrschaftsstabilisierende Praxis gesehen werden kann. In beiden Fällen kommt die Förderung dem Marketing der Institutionen wohl eher zugute, da sie ihre »Volksnähe« und Offenheit gegenüber Differentem demonstrieren und so ihren demokratischen Integrations- und Identitätswillen ausweisen können. Dabei ist zu bedenken, dass dieser Anspruch nicht uneigennützig sein muss und auch auf rhetorische und demonstrative Offenheit beschränkt bleiben sowie auf eine Kooptation von Kritik hinauslaufen kann. Verschiedene Ansätze neomarxistischer Theorie könnten diese Gedanken der künstlerischen Subversion und Vereinnahmung vertiefen und den hier gelegten empirischen Fokus erweitern. Das Forschungsfeld der Visual Culture widmet sich eben diesen Machtverhältnissen visueller Ideologievermittlung und Aneignung von Alltagsbildern.126 Ihre Ansätze basieren etwa auf der Kulturkritik der Frankfurter Schule127, auf Antonio Gramscis Ansatz von Alltagskultur als politische Kampfarena um die kulturelle Hegemonie128 und auf dem medientheoretischen Repräsentationsbegriff Stuart Halls im Rahmen der Cultural Studies. Laut Letzterem ist die Repräsentation der Einheit und des Konsenses innerhalb einer politischen »Gemeinschaft« eine ideologische Praxis, an denen sich Staat, Marktbeziehungen und Massenmedien beteiligen.129 Die Populärkultur sieht er als Antagonistin zur dominanten Kultur.130 Dennoch, oder gerade deshalb, ist Populärkultur kein reines Feld des Widerstands, sondern »der Kämpfe um Hegemonie, auf dem die dominanten Klassen Fuß fassen und ihre Vorherrschaft festigen und begründen können«.131 Ob eine image- und werbestrategische Nutzung von Street Art wirklich erfolgreich ist, wird sicher bereits von der Marketingforschung untersucht, denn nicht umsonst häufen sich populär- und subkulturelle Symbole – wie Kopfhörer, Kapuzenpullover, Trainingsjacken etc. – in Werbung und Marketing. Eve Chiapello und Luc Boltanski (1999) stellten eine Aufwertung von Management-Werten wie Kreativität, Innovation, Autonomie, Mobilität und Authentizität sowie Toleranz 126 127 128 129 130 131

Siehe zur Einführung Sturken; Cartwright 2001; Schade/Wenk 2011; Berger 1972. Siehe z.B. Ritsert 2014. Siehe z.B. Becker et al. 2013; Gramsci [1932] 1996. Nach Räthzel 1997, S. 26f. Hall 1981, S. 235. Räthzel 1997, S. 30.

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gegenüber Abweichendem als ein Merkmal des »neuen Geists des Kapitalismus« heraus, der sich durch die Erfüllung dieser Forderungen die Kritik aneignete und so durch einen neuen Enthusiasmus den Kapitalismus wiederbeleben bzw. stärken konnte.132 Ganz abgesehen davon, dass eine normative Bewertung der entsprechenden Herrschaft im Auge der Betrachtenden liegt, sollte es auch nicht die Frage dieses Aufsatzes sein, ob staatliche oder wirtschaftliche Street-Art-Förderung normativ wünschenswert ist. Nicht nur aus Sicht der Künstler*innen ist es durchaus begrüßenswert, dass Kunst- und Kreativwirtschaft gefördert, Städte verschönert und die öffentliche Meinungsfreiheit gestärkt wird. Weder lassen sich alle geförderten Street-Artist*innen für Propaganda einspannen, noch sind allen Fördernden eine ehrliche Faszination und ein Unterstützungswille für diese Kunstform abzusprechen. Eine Kritik müsste sich also nicht gegen die Künstler*innen dieser Bilder richten, sondern vor allem zu einer kritischeren Urteilsfähigkeit der Betrachtenden beitragen. Diese kann durch Förderung von visueller Analysekompetenz von Alltagsbildern, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Allgemeinbildung gestärkt werden. Politische Inszenierung muss den Bedürfnissen unterschiedlicher Adressat*innen entsprechen und wird somit nicht nur von den persönlichen Einstellungen der Künstler*innen und den interessengeleiteten Strategien von Auftraggeber*innen geprägt, sondern muss auch den Erwartungen des zu überzeugenden Publikums gerecht werden.133 Der an Zynismus grenzende Fall der EZB-Werbeaktion, in der sie eine fundamentale Kritik als Selbstkritik inszeniert, sollte aber eben gerade diesem Publikum verdeutlichen, dass man einer Vereinnahmung von Kritik wachsam begegnen sollte – denn dem eigentlichen Ziel, die kritisierten Verhältnisse sollten sich ändern, wirkt dies eher entgegen. Der Grat zwischen »freier« Kunst und Kooptation ist schmal. Street Art riskiert durch eine Vereinnahmung das politische Protestpotenzial ihrer kritischen Formen zu verlieren, das weltweit viele emanzipatorische Akteure der Zivilgesellschaft für ihre sozialen Kämpfe nutzen. Street Art erfüllt in ihren autorisierten Formen scheinbar die Kriterien für »neue, demokratische Bildkonzepte« und wird dafür eingesetzt, Differenz zu repräsentieren. Und egal, ob man unter Street Art nur unautorisierte Formen oder auch die Labelnutzung durch Staats- und Wirtschaftsakteure versteht – sie prägt unsere Wahrnehmung von Politik und ist Teil von politisch-ikonographischer Repräsentation im öffentlichen Raum. Versteht man politische Ikonographie so, dass sie »selbst in eben jenem Sinne politisch sein [will], daß sie aktualisierbare, aufklärende und kritische Einblicke in den Mechanismus visueller politischer Überzeugungsarbeit vermitteln will«,134 sollte sie einen Beitrag dazu leisten, dass wir uns der Macht von alltäglichen und omnipräsenten Bil-

132 Siehe auch Boltanski/Chiapello 2001, insb. S. 465f., 468. 133 Warnke et al. 2011, S. 10. 134 Ebd., S. 10f.

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dern wie Street Art bewusst sind, sie ernst nehmen und ihre diversen Erscheinungsformen differenzieren können. Literaturverzeichnis Albrecht, Stephan 2011: »Gemeinwohl«, in Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 1, hrsg. v. Warnke, Martin et al., S. 401-407. München: C.H. Beck. Anderson, Benedict 1991: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Angelis, Francesco de et al. (Hrsg.) 2012: Kunst von unten? Stil und Gesellschaft in der antiken Welt von der »arte plebea« bis heute. Wiesbaden: L. Reichert. Baker, Frederick et al. 2003: The Reichstag-Graffiti. Berlin: jovis. Becker, Florian et al. (Hrsg.) 2013: Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte. Hamburg: Argument. Berger, John 1972: Ways of Seeing. London: Penguin Books. Blanché, Ulrich 2015: »Street Art and Related Terms – Discussion and Working Definition«, in SAUC – Street Art & Urban Creativity Scientific Journal 1, 1, S. 32-39. Bogerts, Lisa 2016: »Die Responsibility to Protest: Street Art als ›Waffe‹ des Widerstands?«, in Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZFAS) 4, 9, S. 503-530. Bogerts, Lisa 2017a: »Ästhetik als Widerstand. Ambivalenzen von Kunst und Aktivismus«, in PERIPHERIE 37, 145, S. 7-28. Bogerts, Lisa 2017b: »Mind the Trap. Visual Literacy, Street Art, and Visual Resistance«, in Street Art & Urban Creativity Scientific Journal 3, 1, i.E. Boltanski, Luc; Chiapello, Eve 1999: Le nouvel Ésprit du Capitalisme. Paris: Gallimard. Boltanski, Luc; Chiapello, Eve 2001: »Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel«, in Berliner Journal für Soziologie 11, 4, S. 459-477. Branch, Jordan 2011: »Mapping the Sovereign State. Technology, Authority, and Systemic Change«, in: International Organization 65, 1, S. 1-36. Brassat, Wolfgang 2011: »Heroismus«, in Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 1, hrsg. v. Warnke, Martin et al., S. 473-480. München: C.H. Beck. Bredekamp, Horst 2011: »Staat«, in Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 2, hrsg. v. Warnke, Martin et al., S. 373-380. München: C.H. Beck. Brückle, Wolfgang 2011: »Tiervergleich«, in Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 2, hrsg. v. Warnke, Martin et al., S. 430-439. München: C.H. Beck. Campbell, Bruce 2003: Mexican Murals in Times of Crisis. Tucson: Arizona UP. Carpita, Marcelo 2012: »Muralismo en América, actitud y revolución a través de la solidaridad 20 años de arte público en Argentina. Visiones de una actitud. Revolución a través de la solidaridad«, in Crónicas, N° Especial, S. 435-446. Castellanos, Polo 2017: »Muralismo y Resistencia en el Espacio Urbano«, in URBS. Revista de Estudios Urbanos y Ciencias Sociales 7, 1, S. 145-153. Chaffee, Lyman G. 1993: Political Protest and Street Art. Popular Tools for Democratization in Hispanic Countries. London: Greenwood. Comisarenco Mirkin, Dina 2015: »Paredes Olvidadas. El Muralismo Feminino (1930-1970)«, in Libros Pintados. Murales de la Ciudad de México, hrsg. v. Artes de México, S. 151-200. Mexiko-Stadt: Artes de México. Comité de Defensa de la Cultura Chilena 1990: Muralismo. Kunst in der chilenischen Volkskultur. Berlin: Edition Diá. Cresswell, Tim 1992: »The Crucial ›Where‹ of Graffiti: a Geographical Analysis of Reactions to Graffiti in New York«, in Environment and Planning. Society and Space 10, S. 329-344. de la Fuente, Beatriz 1995: »La Pintura Mural Prehispánica en México«, in Arqueología Mexicana 16, 3, S. 6-15. Drechsel, Benjamin 2011: »Mauer«, in Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 2, hrsg. v. Warnke, Martin et al., S. 130-136. München: C.H. Beck.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Bernd Brundert (Bildrechte). Abb. 2: Jörg Udo Kuberek (Bildrechte).

III. Konstellationen kollektiver Differenz

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Damnatio ad bestias in Nordamerika. Gehorsamsproduktionen in der kolonialen Philosophie und politischen Zoologie Thomas Hobbes’1

1. Einleitung Thomas Hobbes war nicht nur Mitglied der Somer Islands Company, die die Kolonisierung auf den Bermudas organisierte, sondern im Dienst des Hauses Cavendish auch Mitglied und Stockholder der Virginia Company.2 Sie wurde am 10. April 1606 von Jakob I. gegründet, um an der nordamerikanischen Küste Siedlungen zu errichten und Anleihen auf Land und Landrechte für Reis- und Tabakplantagen zu verkaufen. Zwischen 1622 und 1624, in einer Periode interner Streitigkeiten und finanzieller Schwierigkeiten, die 1624 zur Auflösung der Company, zur Einziehung der Charter und schließlich dazu führte, dass Virginia Kronkolonie wurde, nahm Hobbes an sämtlichen 37 Sitzungen des Rates der Virginia Company teil, wie Noel Malcolm 1981 in einem aufschlussreichen Artikel gezeigt hat.3 In diesen Funktionen war der junge Hobbes wohlunterrichtet über die Konflikte innerhalb der Company und über aktuelle politische Ereignisse, nicht zuletzt über die kolonialen Aktivitäten in Übersee. So hat er nachweislich das »Siedlerhandbuch« 4 von Thomas Harriot gekannt, der gemeinsam mit dem Kartenmaler John White im Auftrag von Walter Raleigh an der zweiten Kolonialexpedition als Berichterstatter teilgenommen hat.5 Es ist schon oft bemerkt worden, dass für Thomas Hobbes’ Naturzustandskonstruktionen und seine Bildpolitik Thomas Harriots 1588 erstmals in London publizierter Bericht A briefe and true report of the new found land of Virginia, den Johann Theodor de Bry 1590 in America I zusammen mit Kupferstichen nach Aquarellen des Malers John White veröffent-

1 »Gehorsamsproduktion« ist ein trefflicher Begriff von Bröckling 1997. Zum instruktiven Begriff der »Politischen Zoologie« siehe wiederum den von von der Heiden/Vogl 2007 hrsg. gleichnamigen Sammelband. Der vorliegende Artikel ist im Rahmen meines Teilprojektes A 14 »Natur/Kultur: Zur Entstehung einer mythischen Grenzziehung« im SFB 644 Transformationen der Antike entstanden. Ich danke dem Sprecher Johannes Helmrath, meinem Projektmitarbeiter Stephan Zandt sowie den Kolleginnen und Kollegen des SFBs, insbesondere Eva Marlene Hausteiner und Sebastian Huhnholz, für anregende Diskussionen. 2 Sorell 1996, S. 20. 3 Malcolm 1981, 279-231; Malcolm 2002, S. 53-79; Hobbes ist Harriot wohl nicht persönlich begegnet, war jedoch vertraut mit dessen Bericht, so Aravamudan 2009, S. 46; vgl. auch Manow, 2011, S. 66f. sowie Warren 2015, S. 144. 4 Greve 2004, S. 92. 5 Zu den Hintergründen dieser kolonialen Zusammenarbeit siehe Hulton 1984.

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licht hatte, eine wichtige Quelle darstellte.6 Vor allem die nach den Vorlagen John Whites von de Bry angefertigten Kupferstiche vermitteln einen prägnanten Eindruck von der Lebensform der »virginischen Indianer«, insbesondere was Agrikultur, Fischfang, Häuserbau, religiöse Praktiken und politisch signifikante Tätowierungen angeht.7 Neben den Records der Virginia Company dürften auch John Smiths einschlägige Berichte und dessen General Historie of Virginia8 sowie Samuel Purchas’ Purchas, his Pilgrimage, or relations of the world and the religions observed in al ages and places discovered, from the creation unto this present für Hobbes relevant gewesen sein.9 Hobbes’ politische Philosophie, so möchte ich im Folgenden zeigen, ist die rechtsphilosophische Legitimationsurkunde der englischen Kolonisierung Nordamerikas. Es ist daher wenig erstaunlich, dass er seine Naturzustandsskizzen gerade nicht mit ausführlichen ethnologischen Hinweisen auf die Chawonokes, Mangoags, Monacans, Mannahokes, Masawomekes, Powhatans, Sasquesahanocks und Atquanachukes versehen, sondern vielmehr aus der Perspektive der englischen Siedler und ihrer kriegerischen Auseinandersetzungen mit den »many severall nations« der »Indians«10 umrissen hat. Der Versuch, Menschen mit kriegerischer Gewalt gefangen zu nehmen und durch Befehlsgewalt, Peitschendressur und Besitztätowierungen zu Haustieren, zu einem »belebten Stück Besitz (ktema empsychon)« und »Werkzeug (organon)« zu machen,11 entspricht den seit der Antike von Sklavenhaltern wie Platon, Xenophon und Aristoteles12 praktizierten und philosophisch legitimierten Kulturtechniken der Versklavung, für die Hobbes in der Neuzeit die wohl wirkungsmächtigste bellizistische Theorieszene entworfen hat. Sie soll an dieser Stelle jedoch nicht vor dem Hintergrund einer modernen Überschätzung des vertragstheoretischen Modells der Gesellschaftsstiftung und der Autorisierung des Souveräns durch die Menge der natürlichen Personen gedeutet, 6 Malcolm 1981, S. 304, Anm. 34; Manow 2011, S. 56ff. 7 In Theodor de Brys America I findet sich dank der in »Kupfer gestochenen« Aquarelle von John White und Jacques le Moyne de Morgues eine erste bildliche Gegenüberstellung des Hautschmucks der Pikten und der virginischen Indianer_innen, die ihre Haut »zum Schmuck zerstochen« und mit »stüpffelein gezieret« hätten. Bei den auf Tafel XXII dargestellten kreisförmigen Ornamenten auf Unterschenkeln und Unterbeinen »von etlichen der fürnembsten Herrn in Virginia« soll es sich um »ausdrückliche Marckzeichen« handeln, die erkennen lassen, »welches Fürsten Untersassen sie seyen/un auß was Landschafft sie geboren« (de Bry, Americae [1600/1970], siehe dazu das I., II., III., V., VII., IX., XXII., XXIII. Contrahent). 8 Smith 1959 [1624]. 9 Purchas 1614. Samuel Purchas und Thomas Hobbes haben an denselben Sitzungen des Court of Company teilgenommen, so Malcolm 1981, S. 304, Anm. 34. 10 Smith 1959 [1612], S. 89. 11 Aristoteles, Politik I 4 1253 b 32-33; Canetti 2010 [1960], S. 455. 12 Zu den inschriftlich überlieferten Philosophen-Testamenten von Platon bis Epikur, dank denen sowohl die Zahl ihrer hinterlassenen wie auch die ihrer jeweils freigelassenen Sklavinnen und Sklaven bekannt ist, siehe Klee 1989, S. 299ff.

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sondern vielmehr in Bezug auf die Fragestellung des Sonderbandes dieser Zeitschrift unter differenzikonographischen und identitätsrepräsentativen Gesichtspunkten untersucht werden: Es geht um die für Hobbes’ politische Zoologie zentralen antiken und kolonialen Referenzen, die der prominenten Tierfigur des Wolfes einen differenzmetamorphotischen und souveränitätspolitischen Rückhalt verschaffen konnten. Aus welchem Grund konnte ausgerechnet der Wolf zum Emblem der unberechenbaren Geburtsausstattung und asozialen Natur des Menschen aufsteigen?13 Auf welche Mensch-Tier-Konstellationen spielt die Wolfsfigur im Kontext seiner kolonialen Unterwerfungs- und Gehorsamsproduktion an? Der Wolf ist nicht nur jenes römisch-imperiale Raubtier, das der Souverän als einzig »sichtbare Macht« innerhalb des Staates verkörpert, um alle »in Schrecken zu halten«.14 Die Tierfigur des Wolfes zielt auch und gerade auf das friedlose Außen an der Frontier, insbesondere auf jene Native American tribal groups ohne Staat, die sich der gewaltsamen Kolonialisierung ihrer Gebiete mit Gegenwalt widersetzten. Vor diesem Hintergrund stehen im Folgenden (2.) Hobbes’ Transformation der antiken politischen Zoologie, insbesondere die des Aristoteles, im Blickfeld. Ferner (3.) die römischen (Hinrichtungs-)Spektakel, die venatio, damnatio ad bestias und Gladiatur, auf die sich Hobbes selbst bezieht, um seine bellizistische Zoologie der Versklavung mit imperialer Dignität auszustatten und zugleich autorisierende Kontinuitätsbeziehungen zum römischen Imperium herzustellen. Sodann gilt (4.) die Aufmerksamkeit jenen Kolonialberichten, in denen totemistische Verwandlungen und Inszenierungen von »Indianern« in Wolfsgestalt und deren »bestialischer« Krieg gegen die Kolonisten im Mittelpunkt stehen. Diese Perspektive erlaubt schließlich eine kolonialhistorische Kontextualisierung der Naturzustandsskizzen in De Cive und in Leviathan sowie der Hobbesschen Bildpolitik: Hobbes’ kriegerische und (agri-)kulturfeindliche Version des Naturzustandes entspricht der Darstellung der miserablen Lebensbedingungen der Siedler, wie sie die dreißig Mitglieder der General Assembly in Virginia 1623/24 infolge des indianisches Widerstandes geschildert hatten. Nicht zufällig steht Hobbes’ Frontispiz in De Cive daher unter dem Eindruck des sogenannten »Massakers« von Jamestown 1622 und eines einschlägigen Holzschnittes von Matthäus Merian (1628). In diesem Sinne sind auf dem Titelkupfer von De Cive Imperium und Libertas differenzikonographisch streng voneinander unterschieden, stehen sich die wohlbekleidete, 13 Den Versammlungstieren innerhalb der politischen Philosophie von Thomas Hobbes geht Zandt 2017 nach. Das ausstrahlungskräftige Feld der Human-Animal Studies wird interdisziplinär inzwischen intensiv beforscht, aus ethnologischer, (kultur-)historischer, sozialwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive ebenso wie aus sozial-, literatur-, kunst-, bild- und filmwissenschaftlicher Sicht. Einschlägig sind nicht zuletzt: Agamben 2003; Anderson 2004; Canetti 2002; Derrida 2002, 2010, 2015; Grimm 2016; Wild 2016; Ingold 1988, ders., 1994, S. 14-32; Macho 2007, S. 17-29, ders., 2008, S. 99-118; Mütherich 2000; von der Heiden; Vogl 2007; Perler; Wild 2005; Wild 2006. Siehe auch folgende Themenhefte: Werkstatt Geschichte 56 (2011): Tiere; Historische Anthropologie, 19 (2011), 2: Tierische (Ge)Fährten; Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 23 (2014), 5: Politische Tiere. 14 Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 103.

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mit den Insignien von Schwert, Waage und Krone ausgestattete Statue vor der Staffage von städtischer Architektur und Ackerbau und die mit einem Bastrock nur spärlich bekleidete Indianerfigur symmetrisch gegenüber, die den kannibalischen Naturzustand verkörpert, mithin: »Krieg, Furcht, Armut, Häßlichkeit, Einsamkeit, Barbarei, Unwissenheit, Rohheit«.15 Hobbes’ koloniale Bildpolitik, seine Anthropologie des Befehls und politische Zoologie der Sklaverei, so soll im Folgenden deutlich werden, ist seine unmissverständliche Antwort auf den indianischen Widerstand an der Frontier. Methodisch geht es nicht nur um eine immanente Lektüre und argumentative Rekonstruktion, sondern vor allem um eine kolonial-, ideen-, metaphern- und bildhistorisch »dichte«16 Erschließung und Kontextualisierung der politischen Philosophie Thomas Hobbes’. Im Anschluss an Jacques Derridas philosophische Reflexionen zur »Lykologie der Politik«17 einerseits, an die kulturwissenschaftlich orientierten Human-Animal Studies andererseits soll die hier zur Debatte stehende Frage der Repräsentation von Identität und Ikonographie der Differenz aus der Perspektive einer der einflussreichsten und kontrovers aufgeladenen politischen Zoologien der Neuzeit verhandelt werden. 2. Überbietung der menschlichen Animalität Thomas Hobbes hat von den Werken des Aristoteles nur die Rhetorik und die Tierkunde geschätzt. Dass er ihn für »den schlechtesten Lehrer«, für »den schlechtesten Moral- und Staatsphilosophen« gehalten hat, »den es je gegeben hat«,18 ist dagegen weniger erstaunlich. Denn Hobbes steht in seiner Anthropologie und Staatslehre überall in Frontstellung zu Aristoteles, wenn er Natur durch Kunst, Handeln durch Herstellen und das gute Leben durch das bloße Überleben ersetzt. Wie erklärt sich indessen seine Vorliebe für das bei Weitem umfangreichste Werk des Aristoteles, für die Tierkunde? Es ist wohlbekannt, dass Hobbes in seinem Widmungsschreiben von De Cive an den Grafen Wilhelm von Devonshire mit großer Zustimmung Äußerungen des Zensors Marcus Cato und des Pontius Telesinus bemüht, die »alle Könige zum Geschlecht der Raubtiere« und die den ganzen Erdkreis plündernden Römer zu Wölfen und Räubern der Freiheit erklären.19 Mit einer Sentenz des Plautus aus dessen Komödie Asinaria emblematisiert Hobbes die Wolfsnatur des Menschen außerhalb des künstlichen Geheges des Staates und die räuberischen Beziehungen der Staaten untereinander, die sich, ebenso wie die raubtierhaften Menschen im Naturzustand, in einem permanenten Kriegszustand befinden: »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wenn er nicht weiß, welcher Art (sein Gegenüber) ist«, 15 16 17 18 19

Hobbes, Vom Bürger, 1994 [1624], S. 175. Geertz 1987. Derrida 2015, S. 33. Hobbes, Vom Menschen, 1994 [1658], Vorwort des Herausgebers, S. IX. Ders., Vom Bürger, 1994 [1642], S. 59.

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so der römische Komödiendichter Plautus aus dem Munde eines römischen Kaufmannes, der sich aus lauter Misstrauen weigert, einem Haussklaven stellvertretend Geld für dessen Herrn auszuhändigen.20 Auf welche rituellen Kampf- und Strafszenen geht die Wolfs- bzw. Raubtierfigur zu Zeiten Catos, Plautus’ und Hobbes’ zurück? Hat Aristoteles der politischen »Tierfigur« des Wolfes in seiner Tierkunde vorgearbeitet? Und schließlich: In welchen grundlegenden Operationen und szenischen Zuspitzungen verschiebt Hobbes die aristotelischen Grenz- und Differenzlinien zwischen Tier und Mensch, sowohl im Menschen selbst als auch in der Beziehung zwischen Menschen und Tieren? In seiner 1658 erschienenen Schrift De Homine hat es zunächst den Anschein, als ob sich Hobbes der Autorität der aristotelischen Politik vorbehaltlos unterwerfen würde, indem er Sprache und Vernunft zu jenen exklusiven Vermögen erklärt, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnen.21 Wie für Aristoteles, so ist auch für Hobbes die Stimme jene der Sprache und des Wortes beraubte Form phonetischer Mitteilung, die die Tiere darauf verwenden, sich »durch den Zwang ihrer Natur […] mit Gewalt ausgepresste« Empfindungen wie Lust oder Unlust, Furcht oder Freude, zu signalisieren: Stöhnen und Klagen, Jaulen und Protestieren, Bellen und Lachen sind die zwischen Menschen und Tieren ungleich verteilten Artikulationsformen.22 Unter Bezug auf die Schöpfungsgeschichte treten die Hobbesschen Menschen zudem als Namensgeber der Tiere in Erscheinung, nachdem ihnen vom Schöpfer die Herrschaft und Befehlsgewalt über die Tiere verliehen worden ist.23 Damit der Befehl nicht ins Leere läuft, braucht es eine Adresse: Um jemandem zu befehlen, muss man ihn mit Namen ansprechen können, muss man wissen, wem man befiehlt. Neben der rhetorischen Gebrauchsweise der Sprache ist es nicht zufällig der Sprechakt des Befehls, den Hobbes ins substantielle Zentrum des menschlichen Sprachvermögens stellt und der seine Sprachphilosophie von der des Aristoteles grundlegend unterscheidet. Bekanntlich führt Aristoteles die politische Natur der Menschen, das heißt, die der freien und gleichen Oikodespoten und männlichen Polisbürger, auf ihre Sprach- und Vernunftfähigkeit zurück, das Schädliche vom Nützlichen, das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden und sich die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen, die Oikos und Polis begründen, mitzuteilen.24 Für Hobbes zählt hingegen das Vermögen, zu »befehlen und Befehle verstehen zu können«, nicht aber die Fähigkeit zu Konsens und Vertrag zur »größten Wohltat der Sprache«. Der Befehl bezeichnet jene transformierende Kraft, die die Friedlosigkeit und Unwirtlichkeit des Naturzustandes in einen Zustand des Friedens und der Sicherheit verwandelt. Nur der exklusive Zugang zum Befehl erlaubt den Menschen Gemeinschaft, Frieden und Zucht, kurz: die 20 21 22 23 24

Plautus, Asinaria II, 495. Aristoteles, Politik, I 6 1254 b 22. Vgl. Rancière 2002, S. 15. Genesis 1, 26-28, 2, 20. Aristoteles, Politik, I 2 1253 a 9-18.

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Abkehr vom Naturzustand. Außerhalb desselben warten hingegen nur Wildheit, Einsamkeit und »anstelle von Wohnstätten Schlupfwinkel«25 auf ihn. Wie Hobbes in einer eigentümlichen animalischen Überbietung der Raubtiere durch die Menschen unterstreicht, begegnen die Menschen einander im Naturzustand schlimmer noch als Wölfe und verhalten sich den Tieren gegenüber schlimmer noch als Raubtiere. So zweifellos es sei, dass die künstlichen Waffen der Menschen, Schwerter und Spieße, die natürlichen Waffen der Tiere, Hörner, Zähne und Stacheln, überträfen, »so gewiß« sei es auch, dass »der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht, raublustiger und grausamer [ist] als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr Hunger und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind.«26 Damit fügt sich Hobbes zunächst auf gewisse Weise erneut in die aristotelische Argumentation ein, die für den Menschen außerhalb der Polis ebenfalls eine Überbietung der Animalität vorgesehen hatte: Wer außerhalb der Polis lebe, der sei, so Aristoteles, entweder ein Gott oder ein Tier; der Mensch aber außerhalb von Polis und Moralität ein »wildes Tier« (thêrion).27 Zugleich kehrt Hobbes zu Plautus zurück: In seinem Widmungsschreiben von De Cive hatte Hobbes der von ihm auf den Kriegszustand gemünzten Formel des Plautus Homo homini lupus die auf Plinius zurückgeführte, entgegengesetzte Formel Homo homini deus28 mit Blick auf die Beziehung der Bürger im Staat hinzugefügt und damit auf die nicht-aristotelische Möglichkeit einer göttlichen Überschreitung des Menschen durch den Menschen gezielt. Woher bezieht Hobbes jedoch sein zoologisches Wissen von der Fähigkeit der Menschen, Wölfe, Bären und Schlangen außerhalb des mit der Gewalt des Schwertes und dem Schrecken der Gesetze bewachten Geheges des Staates an Raublust und Grausamkeit zu übertreffen? 3. Kriegszustand und damnatio ad bestias Mit Blick auf die Hobbessche Theorieszene ist der von Platon vielfach variierte protagoräische Mythos von der Entstehung der Polis von Bedeutung. 29 Protagoras lässt die erdgeborenen, zunächst zerstreut und staatenlos lebenden Menschen zur Beute wilder Tiere werden, wodurch vor allem die Schwächeren unter den Menschen zu allerlei kulturellen Schutzmaßnahmen wie Häuser- und Städtebau angetrieben werden. Die Not bildet den Kultur schaffenden Antrieb. Dem Zustand von periodischer Zerstreuung und innerem Zwist wird jedoch erst durch die Verleihung der Staatskunst, von Díke und Aidós durch Zeus, ein Ende gesetzt. Protagoras lässt die Polis »im Kampf gegen die wilden Tiere entstehen. Erst im staatli-

25 26 27 28 29

Hobbes, Vom Menschen, 1994 [1658], S. 17. Ebd. Aristoteles, Politik, I 2 1253 a 27-29. Schmitt 1997 [1950], S. 64. Platon, Protagoras 320 c – 322 d; Politeia 369 c; Politikos 270 d – 274 e.

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chen Gemeinwesen ist die Erhaltung des Menschengeschlechts gewährleistet«,30 auch und gerade mit Hilfe der Kriegskunst, die einen Teil der Staatskunst bildet. Daher kann Isokrates den Krieg, den die Athener gegen die wilden Tiere führen, auch als den gerechtesten aller Kriege bezeichnen.31 Aristoteles selbst, das muss nicht eigens betont werden, hat keinen Krieg aller gegen alle geltend gemacht. Allerdings macht er in seiner Tierkunde »einen Kriegszustand […] zwischen den Tieren desselben Lebensraums« geltend, »die sich vom gleichen Futter nähren. Denn wenn das Futter knapp ist, kämpfen sogar Artgenossen gegeneinander. So erzählt man, daß Seehunde des gleichen Bereiches gegeneinander kämpfen, Männchen gegen Männchen, Weibchen gegen Weibchen, bis eines vom anderen getötet oder verdrängt ist.«32 Vor dem Hintergrund dieses geschlechtsspezifischen Krieges treten auch andere Tiere und Raubtiere wie der Wolf in Erscheinung, der sich in Krieg und »Feindschaft« »mit Esel, Stier und Fuchs« befinden soll, denen er als »Fleischfresser nachstellt«.33 Im Kontext seiner Überlegungen zur Haushaltskunde zählt Aristoteles im ersten Buch der Politik in Anlehnung an den protagoräischen Referenzmythos wiederum Techniken wie Raub und Jagd zur Erwerbskunst als Bestandteil der Oikonomia und näherhin zur Kriegskunde, die »teils gegen Tiere, teils gegen solche Menschen zur Anwendung [kommt], die von Natur zu dienen bestimmt sind, aber nicht freiwillig dienen wollen, so daß ein solcher Krieg dem Naturrecht entspricht.«34 Einem solchen naturrechtlich begründeten, daher »gerechten« und generalisierten Krieg gegen Tiere aller Art – gegen Tiere, Raubtiere und (Wolfs-)Menschen – entspricht allerdings die Hobbessche Theorie- und Kampfszene. Wichtige Einsätze der politischen Zoologie des Hobbes’ lassen sich also bereits in den sophistischen Kulturentstehungsmythen und nicht zuletzt in der Tierkunde und Politik des Aristoteles finden, freilich ohne dass dieser sie ins Zentrum seiner politischen Philosophie gestellt hätte. Als der, wie Hobbes sagt, »gleichsam« in Auflösung befindliche Staat besitzt der Naturzustand eine enthüllende Funktion in Bezug auf die raubtierhafte Natur aller Menschen, die in einer Welt der Knappheit, im rivalisierenden Verlangen nach den gleichen und unteilbaren Dingen unweigerlich zu Feinden werden und sich daher bemühen müssen, »einander zu vernichten oder zu unterwerfen«,35 wie es im Leviathan und noch deutlicher in De Cive, heißt, wo sich die Menschen im Naturzustand um ihrer Selbsterhaltung willen bemühen müssen, einander zu töten, zu verwunden und zu verletzen.36

30 31 32 33 34 35 36

Vgl. dazu Uxkull-Gyllenband 1924, S. 17. Isokrates, Panathenaikos, XII 63. Aristoteles, Tierkunde IX, 608 b. Ebd., 609 b. Ders., Politik, I 9 1256 b 20ff. Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 103. Ders., Vom Bürger, 1994 [1642], S. 94.

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Der Kriegszustand ist jedoch nicht nur ein dramatisierendes Gedankenexperiment zur Enthüllung der staatlich maskierten Wolfsnatur des Menschen, die sich sowohl gegen Ihresgleichen als auch gegen wilde Tiere richtet. Er verweist zugleich auf spektakuläre Kampfszenen, in denen Tiere gegen Tiere, Sklaven, Kriegsgefangene und verurteilte Verbrecher sowohl gegeneinander als auch gegen wilde Tiere kämpfen mussten: Hinsichtlich der Formel homo homini lupus des Plautus kann man an die römischen Gladiatorenspiele und die venationes, die Tierhetzen im Zirkus, sowie an die damnatio ad bestias denken. Plinius d. Ä. berichtet von einer ersten, noch nicht institutionalisierten Vorform der venatio: Pompeius der Große habe anlässlich einer spektakulären Zurschaustellung exotischer Wildtiere eine Untergattung der Wölfe, die man Hirschwölfe (cervarius lupus) nenne, sowie Elefanten gezeigt, »die dann mit Wurfspeeren getötet [wurden], weil man mit ihnen nichts anzufangen wusste.« Desgleichen habe er Löwen in Kampfspielen präsentiert, »im Zirkus 600, darunter 315 Tiere mit Mähnen«.37 Der kurulische Ädil und spätere römische Konsul M. Fulvius Nobilior gilt als Wegbereiter der venationes. Nach seinem Sieg über Ätolien ließ er im Jahre 186 v. Chr. eine venatio mit Löwen und Leoparden durchführen, die er gegen Bären, Stiere, wilde Eber und Hirsche hetzte. Mit jedem neuen Land, das das römische Reich annektierte, zogen in der Folge fremde und noch nie gesehene Tiere in die Arenen des Kolosseums, des Amphitheaters und Circus Maximus ein, um die expansive Ausdehnung des Reiches und »den Herrschaftsanspruch Roms« in der Hauptstadt selbst zu demonstrieren:38 Elefanten, Tiger und Flusspferde aus Indien, Löwen und Tiger aus Armenien, Löwen, Elefanten, Leoparden aus Afrika, Bären, Wölfe und Hirsche aus Britannien usf. Bei den Tierhetzen, die sich sowohl in der republikanischen als auch in der Kaiserzeit großen Zuspruchs erfreuten und das römische Publikum, wie insbesondere Seneca39 und Cicero40 berichten, nicht selten in einen wahren Blutrausch versetzten, wurden jeweils Tausende von Tieren hingemetzelt: »In den insgesamt 26 Hetzen, die Augustus gab, [wurden] etwa 3.500 afrikanische Tiere getötet, bei den Spielen Trajans im Jahre 107 n. Chr. insgesamt rund 11.000 Stück Wild abgeschlachtet.«41 Diese umfassend organisierten Tiervernichtungsspiele,42 die im vierten Jahrhundert n. Chr. »die Befreiung ganzer Regionen von wilden Tieren« zur Folge hatte, galten den Römern »als zivilisatorische Großtat«, da diese Gebiete fortan ungehindert für Ackerbau und Viehhaltung zur Verfügung standen.43 Den Tieren wur37 38 39 40 41 42

Plinius d. Ä., Naturkunde, Bd. 8, 34,84; 6,17; 20,53. Vgl. dazu Heinse 2005, S. 305. Friedländer 1922, S. 78; sowie Bernstein 1998, S. 303. Seneca, Briefe an Lucilius, 7, 3ff. Cicero, Tusculanae Disputationes, II, 41. Christ 1979, S. 116. Derrida 2010, S. 50 spricht in Bezug auf das durch Zutun des Menschen bewirkte Artensterben, das gegenwärtig im Gange ist, von »Genozide[n] an Tieren«. 43 https://geschimagazin.wordpress.com/2009/10/13/die-roemischen-spiele-als-machtdem onstration-839/ (Zugriff am 16.11.2017).

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den im Rahmen der Tierhetze vier mögliche Rollen zugedacht: Die Rolle des Kämpfers gegen gleichartige oder ungleichartige Tiere, die Rolle des Gegners von Gladiatoren, die am häufigsten zugewiesene Rolle des Jagdwildes sowie die des »Henkers«. Die damnatio ad bestias war den Römern durch die Feldherrn Lucius Aemilius Paullus und seinen Sohn Lucius Cornelius Scipio nach der Unterwerfung Mazedoniens (168 v. Chr.) und nach der Eroberung und Zerstörung Karthagos (146 v. Chr.) nahe gebracht worden, um bald darauf Eingang in das römische Strafrecht zu finden: »Beide hatten […] Überläufer und Fahnenflüchtige zur Abschreckung vor aller Augen von wilden Tieren zerreißen lassen.«44 Bei der damnatio ad bestias befinden sich ausgehungerte Raubtiere in der rechtsvollstreckenden Position, »Ihresgleichen« bei lebendigem Leibe zu zerfleischen. Zu »Bestien« aber haben sich die Verurteilten selbst durch ihre Taten gemacht, die daher die grausamste und bestialischste Form der Hinrichtung rechtfertigen sollte.45 Die feste Konstellation von Tierkämpfen, Hinrichtungen und Gladiatorenkämpfen wurde – nach Tageszeiten geordnet – erst gegen Ende der Republik kanonisch, wie Egon Flaig herausstellt. Sie diente der Darstellung der römischen Ordnung: »Morgens bei der Tierhatz als siegreicher Kampf der Kultur gegen die Natur, mittags bei den Hinrichtungen als schonungslose Ausmerzung der nicht integrierbaren Feinde dieser Ordnung und nachmittags bei der Gladiatur als disziplinierender Rahmen, innerhalb dessen Verfemte« die Chance erhielten, »sich unter Einsatz ihres Lebens«öffentlich zu bewähren.46 Die letzte Tierhatz ist für das Jahr 523 unter Theoderich dem Großen bezeugt; eine gewisse Renaissance erfährt sie allerdings mit der 1235 eingerichteten Menagerie des Tower of London, dem Bear and Bull Baiting unter Elisabeth I., den im Towerkomplex von James I. zu Beginn des 17. Jahrhunderts veranstalteten Tierhetzen47 und den populären animal bloodsports, die – mit Ausnahme der Fuchsjagd – in England erst 1835, ein Jahr nach der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien, verboten wurden.48 Rom und seine Provinzen sind in De Cive und im Leviathan als Vorbild für die Regierung der englischen Kolonien in Virginia und auf den Bermuda-Inseln49 und nicht zuletzt wegen der »kriegerischen Tugenden« seiner Bürger gegenwärtig, die mit der »Raubsucht der wilden Tiere« das Reich vergrößert und nach den beraubten Völkern »die Beinamen Africanus, Asiaticus, Macedonicus, Achaicus […] erhalten hatten«.50 Im Leviathan stehen sich wiederum die im ewigen Kriegszustand befindlichen Staaten »Auge in Auge«, wie »Gladiatoren« gegenüber.51 44 45 46 47 48 49 50 51

Friedländer 1922, S. 82. Flaig 2003, S. 245. Flaig 2003, S. 244f. Cassius Dio XXXVII, 46, 4; Schneider 1916, S. 764. Hahn 2004, S. 107f. Bossard 2005; Goetz 2005, S. 96. Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 194. Ders., Vom Bürger, 1994[1642], S. 59. Ders., Leviathan, 1996 [1651], S. 194.

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In einer wenig beachteten Passage von De Cive, in der Hobbes auf die legitime Gründungsmöglichkeit des »natürlichen Staates« zu sprechen kommt, macht er deutlich, dass der Kriegszustand sowohl ein Krieg zwischen Menschen als auch ein zwischen Menschen und Tieren ist. In den Krieg aller gegen alle sind, wie bei den römischen venationes, Tiere und menschliche Raubtiere involviert. »Ein Recht über vernunftlose Tiere wird ebenso wie über menschliche Personen erlangt, nämlich durch natürliche Kraft und Macht. Denn wenn in dem Naturzustande wegen des Krieges aller gegen alle jeder Mensch andere sich unterjochen oder sie töten darf, sobald es ihm vorteilhaft erscheint, so ist das um so mehr gegenüber den Tieren erlaubt. Man kann also nach Belieben die Tiere, welche sich zähmen und zu Diensten gebrauchen lassen, in das Joch spannen und die übrigen in stetem Krieg als schädlich verfolgen und vernichten. Das Eigentum an den Tieren entspringt deshalb aus dem Naturrecht, nicht aus dem positiven göttlichen Recht. Denn hätte ein solches Recht nicht schon vor der Verkündigung der Heiligen Schrift bestanden, so hätte niemand die Tiere mit Recht schlachten dürfen: eine sehr mißliche Lage für die Menschen, die zwar von den Tieren ohne Unrecht verzehrt werden, aber ihrerseits die Tiere nicht verzehren dürfen. Wenn es also nach dem natürlichen Recht geschieht, daß ein Tier einen Menschen töten kann, so geschieht es nach demselben Rechte, daß der Mensch die Tiere schlachten darf.« 52

Wir haben es hier nicht nur mit einer Ausweitung der Kampfzone, sondern auch mit einer irritierenden Ausdehnung der Rechtszone zu tun. Vor dem Naturrecht und angesichts der unaufschiebbaren Forderungen der Selbsterhaltung sind alle, Tiere wie Menschen, gleich. Die Natur hat alle mit allem und daher auch mit dem uneingeschränkten Naturrecht ausgestattet, andere Lebewesen zu töten und zu verzehren. Hobbes bringt damit sowohl die aristotelische Teleologie wie auch ausdrücklich die christliche Schöpfungshierarchie in Schieflage: »Die Pflanzen [sind]«, so Aristoteles in eine der schwierigsten Passagen der Politik, »der Tiere wegen, die anderen animalischen Lebewesen sind der Menschen wegen da […], die zahmen zur Dienstleistung und Nahrung, die wilden, wenn nicht alle, so doch die meisten, zur Nahrung und zu sonstiger Hilfe, um Kleidung und Gerätschaften von ihnen zu gewinnen. Wenn nun die Natur nichts unvollständig und auch nichts umsonst macht, so muß sie sie alle um des Menschen willen gemacht haben.«53

Gott übergibt wiederum nach der Schaffung des Menschen nach seinem eigenen Bilde diesem die Befehlsgewalt und Zähmungsmacht über alle Tiere, »über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über alle wilden Tiere und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.«54 Anders gesagt, hat Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, »damit er die vor ihm geborenen Tiere unterwerfe, zähme, beherrsche, dressiere oder domestiziere und seine Autorität über sie ausübe.«55 Im Hobbesschen Naturzustand wird, wie im protagoräischen Mythos, die menschliche Gewalt über die Tiere ausgesetzt, in Klammern gesetzt: Hier befinden sich nicht nur Menschen gegen Menschen, Menschen gegen Tiere, sondern auch die Tiere gegen die Menschen im Krieg, und dieser Krieg der Arten vollzieht sich – gemäß der anthropologischen und naturrechtli52 53 54 55

Ders., Vom Bürger, 1994 [1642], S. 165. Aristoteles, Politik, I 8 1256 b 26-30. Genesis 1, 26-28. Derrida 2010, S. 38.

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chen Dimension des Hobbesschen Naturzustandes – von Natur aus und zu Recht, das heißt, ausgehend von einem Naturrecht, das ein Menschen- und ein Tierrecht zugleich ist. Um es noch einmal in einer Überblendung mit den römischen Kampfszenen zu formulieren: Menschen, die mit wilden Tieren kämpfen, sind »Bestien«; Menschen wiederum, die von Tieren getötet werden, haben sich entweder durch ihre Taten: Tötung und Raub oder aber durch ihre gerechte Versklavung im Krieg – und das genau sind die legitimen und selbsterhaltenden Handlungen im Naturzustand – selbst zu »Bestien« gemacht. Die Akteure der römischen spectacula waren allesamt Verfemte, Kriminelle und Sklaven, die, für sämtliche Funktionen des bürgerlichen Lebens disqualifiziert, gleichwohl römische Werte und Tugenden zur Schau stellen mussten – militärische »Disziplin, [Kampf-]Technik, Gehorsam und Todesverachtung«56 – und nur so hoffen durften, die Gunst des Publikums zu erringen.57 Es ist bekannt, dass die Kämpfer – zum Schaden der drei römischen Theater, die mit den Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen nicht konkurrieren konnten58 – in Schauspielerei unterrichtet wurden, um, in kostbare Tuniken gehüllt, Tod und Marter in pantomimischen Szenen zunächst zu fingieren und schließlich auch wirklich zu erleiden.59 Halten wir im Vorübergehen fest, dass Hobbes in seinen systematischen Überlegungen zur Person – zur natürlichen sowohl wie auch zur juristischen Person – die Person als prosopon und persona, als Maske und Visier, kurz: als Schauspieler seiner eigenen bzw. als Schauspieler fremder Worte und Handlungen bestimmt.60 Die bellizistische Theorieszene, mittels derer Hobbes im Rückgriff auf die römischen spectacula und den protagoräischen Referenzmythos eine neue zoologische Grenzziehung zwischen Tieren und Menschen erzwingt, findet ihre historische Verortung in der Eroberung und Kolonisierung der »Neuen Welt« mit Plantagenwirtschaft und Rinderherden. Sie ist, wie ich nun zum Aufweis bringen möchte, die rechtsphilosophische Legitimation der Kolonisierung der amerikanischen »Wildnis«, in der die Siedler die Frontier im gewalttätigen Konflikt mit den Native American tribal groups, ihren Land- und Eigentumsrechten, und im Krieg gegen wilde Tiere immer weiter von Osten nach Westen ausdehnen konnten. Durch transformierende Rückgriffe auf antike Kulturentstehungsmythen einerseits und auf die römische Straf- und Aufführungskultur andererseits wird sie von Hobbes mit autoritativem Kapital versehen. John Smith zufolge hatten die Siedler in Nordamerika, anders als in Großbritannien, mit Ottern, Bibern, wilden Katzen, Füchsen, Schlangen, Wölfen und Bären zu rechnen.61

56 57 58 59 60 61

Flaig 2003, S. 244. Ebd., S. 250. Christ 1979, S. 126. Friedländer 1922, S. 91. Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 135. Smith 1959 [1612], S. 94. Für den Hinweis danke ich herzlich Stephan Zandt.

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4. Kolonialer Totemismus Wölfe, Bären und Schlangen, diese von Hobbes in De Homine als moderate Spiegelbilder menschlicher Raublust und Grausamkeit ausgewiesenen Raubtiere,62 sollten ihm in den Berichten der ersten englischen Kolonisten nicht nur als gefährliche Wild- und Raubtiere, sondern gerade auch in Gestalt totemistischer Verwandlungen und Inszenierungen begegnen. 1703 wies der französische Offizier Louis-Armand de Lahontan in seiner Reisebeschreibung auf die Gewohnheit der nordamerikanischen Ureinwohner hin, ihre Clans und Territorien mithilfe von Tiersymbolen zu bezeichnen, und verglich diese Bezeichnungspraktik mit der Heraldik europäischer Adelsgeschlechter.63 Ähnliche Beobachtungen finden sich 1724 auch in Mœurs des Sauvages amériquains von Joseph François Lafitau, der die Praxis der Irokesen, Huronen und Algonkin, ihren Stämmen die Namen »Wolf«, »Bär« und »Schildkröte« zu geben, mit den Sitten des Altertums parallelisierte, Völker, Besitztümer und Ländereien mit Tiernamen und -emblemen zu bezeichnen.64 Der britische Pelzhändler, Dolmetscher und Waldläufer John Long, der mehr als zwanzig Jahre im Gebiet der Großen Seen verbrachte und in dieser Zeit den Schutzgeistglauben der Ojibwa kennenlernen sollte, spiegelte in seinem 1791 veröffentlichen Reisebericht den »Totamismus« (sic) der Jagd- und Wildbeutergesellschaften Nordamerikas in den abergläubischen Beziehungen, die der »gemeine Mann« Europas zu seinen eigenen Haustieren und nicht zuletzt der Bankier Samuel Bernhard am Hof Ludwigs XV. zu seiner schwarzen Henne unterhalten habe, deren Tod auch das Ende seines eigenen Lebens bedeuten sollte.65 Doch bereits 1612 berichtete John Smith, einer der Gründerväter Jamestowns, in seinen Descriptions of Virginia von den »most strange people of all those countries«, den Sasquesahanocks, die den Engländern wegen ihrer hühnenhaften Gestalt wie Riesen erschienen seien. Ihre Sprache klinge wie das Echo einer starken Stimme in einem Gewölbe oder einer Höhle. »Their attire is the skinnes of Beares and Woolves, some have Cassacks made of Beares heades and skinnes that a mans necke goes through the skinnes neck, and the eares of the beare fastned to his shoulders behind, the nose and teeth hanging downe his breast, and at the end of the nose hung a Beares Pawe, the halfe sleeves comming to the elbowes were the neckes of Beares and the armes through the mouth with pawes hanging at their noses. One had the head of a Woolfe hanging in a chaine for a Jewell, his Tobacco pipe 3 quarters of a yard long,3 prettily carved with a Bird, a Beare, a Deare, or some such devise at the great end, sufficient to beat out the braines of a man, with bowes, and arrowes, and clubs, sutable to their greatnesse and conditions. These are scarse knowne to Powhatan.«66

62 63 64 65 66

Hobbes, Vom Menschen, 1994 [1658], S. 17. De Lahontan 1905 [1703], S. 510f.; siehe dazu Kohl 1987, S. 99. Lafitau 1987 [1724], S. 216. Long 1970 [1791], S. 294f. Smith 1959 [1612], S. 88.

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Master George Percy, der mit John Smith zur ersten Gruppe der einhundertfünf Kolonisten gehörte, die Jamestown im April 1606 besiedelten, schilderte seine Erstbegegnung mit den »Wilden in ähnlicher Weise: »One of the Savages standing in the midst singing, beating one hand against another, all the rest dancing about him, shouting, howling, and stamping against the ground, with many Anticke tricks and faces, making noise like so many Wolves or Devils. […] They go altogether naked, but their privities are covered with Beasts skinnes beset commonly with little bones, or beasts teeth. Some paint their bodies, blacke, some red, with artificiall knots of sundry lively colours, very beautiful and pleasing to the eye, in a braver fashion then they in the West Indies.«67

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und Fremderfahrungen musste es für Thomas Hobbes ein Leichtes gewesen sein, die amerikanischen »Wilden« selbst zu Wölfen und Bestien zu erklären, um sie in das koloniale Vexierbild der damnatio ad bestias zu zwängen und eine politische Zoologie der Versklavung und absoluten Gehorsamsproduktion zu entwickeln. Sowohl in De Cive als auch im Leviathan rekurriert Hobbes text- wie bildpolitisch auf den ersten Band der schließlich vierzehn Teile umfassenden Amerika-Reihe der Grands Voyages aus der Werkstatt Johann Theodor de Brys, insbesondere auf den darin veröffentlichen Kolonialbericht Thomas Harriots. Das Titelkupfer des 1642 erschienenen Schrift De Cive greift auf Bildelemente und programmatische Akzente der Contrafakturen de Brys nach den Bildvorlagen John Whites zurück, mit der kriegerischen Menschenjagd- und kannibalischen Szene im Hintergrund des linken Bildteils jedoch in unverhohlen denunziatorischer Absicht (Abb. 1).68 Hatten Harriot und White vor allem die Möglichkeit der Koexistenz zwischen Siedlern und Natives betont, steht Hobbes’ koloniale Bildpolitik dagegen ganz unter dem Eindruck des sogenannten »Massakers« von Jamestown 1622 und einem einschlägigen Holzschnitt von 1628, den Matthäus Merian d.Ä., Schwiegersohn des Johann Theodor de Bry, für die von ihm besorgte Neuauflage einiger Teile der Grands Voyages angefertigt hatte (Abb. 2).

67 Percy 1959 [1607], S. 12. 68 Er sollte, so erläutert Greve (2004, S. 40) zwischen 1625 und 1634 »die ersten vier Teile und den 9. Teil der Grands Voyages neu aufleg[en], wobei er die aufgebrauchten Kupferstiche durch eigene ersetzte. Unter dem Verlagsnamen Merian ließ er dann einen 13. und 14. deutschen Teil folgen, den er jeweils ins Lateinische übersetzen ließ und in einem einzigen Band publizierte. Merian veranlasste außerdem, eine die gesamte Reihe umfassende Zusammenfassung unter dem Titel Historia Antipodum, Newe Welt (1631), die von Johann Ludwig Gottfried nach dem Vorbild Zieglers besorgt wurde.« Wenceslaus Hollar war wiederum, den maßgeblichen Forschungen Horst Bredekamps zufolge, nicht nur der berühmte Kupferstecher des Frontispiz des Leviathan. Er soll auch von 1627 bis 1629 bei Matthäus Merian in Frankfurt am Main in die Lehre gegangen sein (Bredekamp 2012, S. 32).

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Abb. 1: Thomas Hobbes, De Cive, Paris 1642.

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Abb. 2: »The massacre of the settlers« (Matthau Merian, 1628). Mit dem Überfall der Indianer auf die verstreuten englischen Siedlungen am Karfreitag 1622, dem 347 Kolonisten von etwa 1000 zum Opfer fielen, sollte eine Periode der Bündnisse zwischen Kolonisten und Indianern zu Ende gehen, die 1613 durch die Heirat von John Rolfe mit Pocahontas, der Tochter des Indianerführers Powhatan, eingeleitet worden war. Mit dessen Tode brachen die Konflikte an der »wandernden Grenze« erneut auf, die die Kolonisierung Virginias von Beginn an bestimmt hatten. Nach dem Bericht des damaligen Sekretärs der Kolonie, Edward Waterhouse, antworteten die Engländer mit zahlreichen Vergeltungsschlägen, die hunderten von Indianern das Leben kosteten. Darin gesteht er »freimütig ein, daß das Land nicht so gut ist, wie die Eingeborenen schlecht sind. Ihre barbarische Wildheit benötigt mehr Kultivierung als selbst der Boden, da sie doch mit mehr Rohigkeit überzogen sind als ein Dornengestrüpp.«69 In einer Protestnote der Mitglieder der General Assembly in Virginia gegen die zwölf Jahre währende Führung des Gouverneurs Thomas Smith vom Januar 1624 69 Waterhouse 1986 [1622], S. 228ff.

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findet sich unter Verweis auf das sogenannte »Jamestownmassaker« nicht nur die Schilderung einer Hungersnot, der die Siedler mit dem Verspeisen von Hunden, Katzen, Ratten, Schlangen und vereinzeltem Kannibalismus begegnet seien, sondern auch eindringliche Beschreibungen ihres »armseligen und dürftigen« Lebens, das wegen der fortwährenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Indianern weder Städte- noch Acker- noch Schiffsbau noch geistliche Unterweisung noch koloniale Fortschritte anderer Art zugelassen habe. Ferner heißt es: »Zu keiner Zeit konnten wir erkennen, daß sich die Eingeborenen des Landes freiwillig fügten und sich unserem gnädigen Herrn unterwarfen […] oder daß sie jemals zum Unterhalt der Kolonie Abgabe an Getreide leisteten. […] – im Gegenteil: was jemals für den anderen getan wurde, geschah aus Furcht, nicht aus Liebe, und ihr Getreide beschafften wir […] mit dem Schwert«.70

Von einigen Zuspitzungen abgesehen, entspricht das von den 30 Unterzeichnern der Virginia Assembly gezeichnete Bild des »ausgesprochenen Elends« in der virginischen Kolonie den Naturzustandskonstruktionen, die Hobbes in De Cive und Leviathan skizziert hat. Das Leben außerhalb des staatlichen Zwangsgeheges sei, wie es in De Cive heißt, wegen des Kriegszustandes voller »gegenseitiger Furcht«, »arm und unansehnlich«: »Als ein Beispiel hierfür zeigt uns das jetzige Jahrhundert die Amerikaner […], die alle Erleichterungen und allen Schmuck des Lebens entbehren, welcher der Frieden und die Gesellschaft gewöhnlich gewähren.«71 In Leviathan beklagt Hobbes, dass es im Naturzustand »keinen Platz« gibt »für Fleiß, denn seine Früchte sind ungewiß, und folglich keine Kultivierung des Bodens, keine Schiffahrt oder Nutzung der Waren, […] keine Bildung, keine Gesellschaft, und, was das allerschlimmste ist, es herrscht ständig Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Mensch ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz.« Wie in De Cive, so dient auch in Leviathan der Verweis auf die »wilden Völker […] in vielen Teilen Amerikas«, »die bis auf den heutigen Tage in jener vertierten Weise [leben]«,72 als realitätsmächtiges Argument für die Notwendigkeit ihrer gewaltsamen Unterwerfung. Der von Hobbes gezeichnete Naturzustand entspricht der Lage der Siedler zur Zeit des »Jamestownmassakers«, die sich in einem permanenten Kriegszustand mit der einheimischen Bevölkerung befinden. »An bewohnten Orten«, so beklagen die Mitglieder der Virginia Versammlung 1624 im Rückblick auf 1622, »gab es […] [keinerlei] Befestigungen gegen einen auswärtigen Feind […], und die, die es gegen den inneren Feind gab, waren sehr gering an Zahl und in einem erbärmlichen Zustand.«73 John Smith hält in seiner Generall Historie fest, dass sich zur Zeit des Massakers 347 Siedler Gemeinschaften von 20, 30, 40 bis zu 60, mitunter auch bis zu 70 The answer of the General Assembly in Virginia to a Declaration of the state of the Colonie in the 12 years of Sir Thomas Smith Government 1959 [1624], S. 425. 71 Hobbes, Vom Bürger, 1994 [1642], S. 84. 72 Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 106. 73 The answer of the General Assembly in Virginia to a Declaration of the state of the Colonie in the 12 years of Sir Thomas Smith Government, 1959 [1624], S. 424.

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200 »wild naked natives« gegenüberstanden hätten, die die Kolonisten wie »beasts«, »lions« bzw. »dragons«, massakriert hätten:74 »now we have just cause to destroy them by all means possible.«75 Im Interesse der Selbsterhaltung gehören für Hobbes »Gewalt und Betrug« und damit sämtliche Anstrengungen, »um nicht in die Hände des Feindes zu fallen«,76 zu den ausgesprochenen »Kardinaltugenden«77 des Naturzustandes. Hobbes wendet sich damit gegen die Mahnungen der Virginia Company-Administration, die die Siedler auch nach dem »Massaker« von 1622 dazu anhielt, gegenüber den Indianern Regeln der Gerechtigkeit walten zu lassen. Stattdessen macht er sich die Perspektive John Smith’, der Siedlerversammlung und der Mitglieder des Council von Virginia zu eigen, die diesbezügliche Ermahnungen in einem Brief vom Januar 1623/24 an die Company in London zurückwiesen und im Gegenteil betonten, dass sie im Krieg gegen diese »barberous and pfidious enemies« nichts Ungerechtes darin erkennen könnten, alles zu tun, was zu deren endgültiger Vernichtung führe.78 Auch wenn Hobbes einräumt, »daß die wilden Völker in vielen Teilen Amerikas« die »Herrschaft kleiner Familien« praktizieren, auch wenn er durch Thomas Harriot, Samuel Purchas und John Smith wusste oder, zumindest doch, wissen konnte, dass sie mit Fürst und Untertanen über eine eigene politische Organisationsform verfügten,79 so hat er doch keinen Augenblick daran gedacht, sie zu Bürgern seines »künstlich errichteten Staates«80 zu machen. Allerdings geht er von der natürlichen Gleichheit aller Menschen aus und versagt damit dem aristotelischen Konzept des »Sklaven von Natur«81 seine Zustimmung. Zum Sklaven wird man gemacht und nicht geboren. Unter Bedingungen des kriegerischen Naturzustandes sind Tötung, Raub und Versklavung legitime Mittel, um das eigene Leben und Überleben zu sichern. Es ist unter solchen Bedingungen erlaubt, den im Krieg Besiegten die Gnade des Lebens zum Zwecke der Versklavung zu gewähren. Die Versklavung ist ein kriegsrechtlich aufgeschobener Tod, der unter der Voraussetzung einer bedingungslosen Gehorsams- und Dienstverpflichtung als souveräne Gunst gewährt wird.82 Potestas im römischen wie im Hobbesschen Sinne bedeutet, das absolute Recht zu besitzen, leben zu lassen und

74 75 76 77 78 79 80 81 82

Smith 1959 [1624], S. 363, 369. Ebd., S. 364. Hobbes, Vom Bürger, 1994 [1642], S. 160. Ders., Leviathan, 1996 [1651], S. 106. Council in Virginia. A letter to the Virginia Company of London. January 30, 1623/24, 1935, S. 451. Smith 1959 [1612], S. 113. Hobbes, Vom Bürger, 1994[1642], S. 161. Aristoteles, Politik, I 2 1252a 31f. Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 172, S. 171 Hobbes erwägt daher, dass »servire, dienen« von »servare, retten abgeleitet« sein könnte, »was ich den Grammatikern zur Erörterung überlasse.«.

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sterben zu machen.83 Daraus kann ein »natürlicher Staat«84 erwachsen, der nichts anderes besagt als despotische Herrschaft über Sklaven. Im 8. Kapitel von De Cive erörtert Hobbes unter dem Titel Von dem Recht der Herrn gegen seine Sklaven jene natürliche Form der Staatsgründung, »die durch Macht und natürliche Kräfte« in all denjenigen Fällen »erworben wird«, in welchen der Sieger dem Besiegten im Kriege sein Leben lässt und dieser dem »Stärkeren« aus vernünftigem Selbsterhaltungsinteresse seine schrankenlosen Dienste verspricht: »Kraft eines solchen Versprechens schuldet also der Besiegte dem Sieger einen absoluten Gehorsam und Dienst«: »Wer, auch ehe er weiß, was ihm befohlen werden wird, den Befehlen von irgend jemand sich verpflichtet, hat einfach und ohne jede Einschränkung jeden Befehl zu erfüllen.« Kraft dieser Einwilligung in die absolute Unterwerfung ist es prinzipiell ausgeschlossen, dass der Herr dem Sklaven jemals Unrecht tun könne.85 Von diesem Typus des Sklaven als eines absoluten Befehlserfüllers unterscheidet Hobbes all diejenigen »Fronsklaven«, die gefesselt und in Eisen gelegt, in Gefängnissen oder Arbeitshäusern gefangen gehalten werden müssen, weil sie die erste Gelegenheit zur Flucht nutzen und ihren Dienst nur verrichten, »um körperlicher Züchtigung zu entgehen«.86 Herrschaft respektive auctoritas, unabhängig davon, ob sie die Form des »natürlichen« oder »künstlichen Staates« annimmt, beruht auf Anerkennung in die eigene Unterwerfung aus Todesangst und unterscheidet sie so von bloßer Gewalt. Dies bezeichnet im Max Weberschen Sinne und im Namen der Legitimitätsansprüche von Herrschaft die Differenz zwischen Herrschaft und Macht,87 die für Hobbes im Übrigen den entscheidenden Unterschied zwischen Tieren und Menschen eröffnet. Herrschaft beruht auf Seiten des Beherrschten auf einem Einverständnis, einer Einwilligung, mit Hobbes gesagt, auf der vertraglichen Zusicherung, einer äußersten »Fügsamkeit« gegenüber allen, auch allen künftigen Befehlen. Anders hingegen im asymmetrischen Dienstverhältnis zwischen Menschen und Tieren einerseits und solchen Menschen andererseits, die ihr Einverständnis mit dem absoluten Befehlsgehorsam verweigern. Das ist der Fall eines missglückten Sprechaktes, bei dem es dem Befehlenden nicht gelingt, mit dem Befehl zugleich seine Herrschaft durchzusetzen, weil er damit gegenüber dem Befohlenen »nicht durchkommt«.88 Hier herrscht dann bloße Gewalt, Zucht, Festnahme und bestenfalls, wie bei den Tieren, nach einer gewissen Zeit, Gewöhnung an den Befehl. Freilich hat der Herr »über den nicht gefesselten Sklaven ebensoviel Eigentumsrecht wie über den gefesselten; denn er hat über beide das höchste und kann von dem Sklaven ebenso wie von jeder anderen lebenden oder leblosen Sache sagen: Das ist mein.« Der Sklave und alles, was er besitzt, »seine 83 84 85 86 87 88

Foucault 1983, S. 161ff.; Foucault 1999, S. 276ff. Hobbes, Vom Bürger, 1994 [1642], S. 161. Ebd, S. 163. Ebd., S. 162. Weber 1972 [1922], S. 28f., S. 122ff. Austin 1979, S. 48, S. 49, S. 50.

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Habe, seine Arbeitskraft, seine Bediensteten und seine Kinder«,89 gehören dem Herrn, der absolute Verfügungsgewalt über ihn errungen hat.90 Sklavenbesitz, das uneingeschränkte Verfügungsrecht über eine menschliche »Sache«, bei gleichzeitigem Ausschluss des Gebrauchs der Sache durch andere, ist, vermutet David Graeber, die Matrix des modernen Eigentumsbegriffs.91 Gemessen an den exploitativen Maßstäben der Plantagensklaverei bleibt Thomas Hobbes in der Bestimmung der sklavischen »Dienste« jedoch unbestimmt. Ihm geht es im Hinblick auf die widerständigen Native American tribal groups nicht primär um Zwangsarbeit, sondern vielmehr um deren bedingungslose Unterwerfung zum Zwecke der ungehinderten Besiedelung und Kolonisierung ihres Landes durch »indentured servants« aus dem Mutterland.92 »Es ist nicht bekannt, wie viele Indians von Europäern versklavt worden sind, aber ihre Zahl geht in die Zehntausende. Es wird geschätzt, dass Händler aus Carolina, die außerhalb von Charles Town agierten, zwischen 1670 und 1715 in einem profitablen Sklavenhandel 30.000 bis 50.000 gefangene Indians in die Karibik, spanisch Hispaniola und die nördlichen Kolonien verkauft haben.« Bis zum späten 18. Jahrhundert arbeiteten auf Englischen Plantagen »Indian slaves« neben »African slaves« und gelegentlich noch neben »white indentured servants«.93 Die ersten zwanzig afrikanischen Sklaven wurden am 20. August 1619 von einem Holländer nach Jamestown zum Verkauf gebracht.94 Die Tabakpflanzer rekrutierten bis ins letzte Drittel des 17. Jahrhunderts hinein »indentured servants, die die Hälfte der europäischen Auswanderer ausmachten.«95 Mit steigenden Reallöhnen in England und anziehenden Preisen für Schuldknechte griffen sie binnen weniger Jahre auf versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner zurück, deren Preise wegen einer Krise auf dem Zuckermarkt massiv gesunken waren. Auf den Tabakplantagen Virginias waren »um 1790 etwa drei Fünftel aller Sklaven Nordamerikas konzentriert«, in Maryland und »an denen Küstenregionen von Südkarolina und Giorgia, wo [seit 1690] Reis für den westindischen und Indigo für den englischen Markt angebaut wurde«, wurde die Sklaverei zu einem entscheidenden Faktor der Plantagenwirtschaft.96 Die transatlantische Sklaverei und Plantagenwirtschaft sollte sich erst für John Locke zu einer arbeits- und eigentumsphilosophischen Herausforderung entwickeln, der er 1690 mit seinen Two Treatises of Government und diversen sklaver-

89 90 91 92 93 94 95 96

Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 172. Ders., Vom Bürger, 1994 [1642], S. 163. Graeber 2012, S. 209-221. Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 294. Seybert o.J. Wirtz 1984, S. 129. Kocka 2013, S. 57. Wirtz 1984, S. 129; Bean/Thomas 1979, S. 377-398.

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eiförderlichen Aktivitäten begegnete.97 Im Zentrum der Hobbesschen politischen Zoologie stehen dagegen die koloniale Unterwerfung und Versklavung der indianischen Gesellschaften in der »Neuen Welt« auf der einen Seite, die politische Unterwerfung der englischen Bevölkerung im Mutterland auf der anderen. Tatsächlich entspricht der durch Instituierung eingerichtete künstliche Staat der naturund kriegsrechtlichen Gründung eines »natürlichen Staates«,98 mit dem einzigen Unterschied, dass es sich bei letzterem nicht um eine einseitige Zustimmung zur Versklavung der Besiegten gegenüber den Siegern handelt, sondern um eine Menge von Personen, die sich gegenseitig die Versklavung unter einem einzigen Herrn versprechen, den sie zur »absoluten Herrschaft« autorisieren. Carl Schmitt hat in seinem Leviathan, wie stets mit seinem von Antisemitismus getrübten Blick, Unrecht, wenn er behauptet, dass Hobbes »zwischen auctoritas und potestas nicht mehr unterscheidet.«99 Im Gegenteil markiert die Differenz zwischen potestas und auctoritas jene Differenz- und Scheidelinie, die den »gefesselten Sklaven« vom »ungefesselten Sklaven« unterscheidet. Hobbes maskiert die koloniale Versklavung der Untertanen im »künstlichen Staat« nicht nur mit dem gütig-paternalistischen Gesicht des Leviathan auf dem Frontispiz, sondern gerade auch mit dem Leitbild des Automaten. Wie der nach dem despotischen Modell des Automaten zugerichtete Sklave bei Aristoteles,100 so ist auch der Staatsautomat ein mit subpolitischen Mitteln hergestellter Mechanismus, der Gewalt in widerstandslose Freiwilligkeit und Unterwerfung verwandeln soll. Wie im »natürlichen Staat« an der Frontier, so macht Hobbes auch im »künstlichen Staat« die Untertanen zu »Mit-Autoren« ihrer kolonialen Unterwerfung unter die staatliche Befehlsgewalt.101 Das »Urbild des modernen Staates«,102 der Leviathan, entspricht einer erfolgreichen Monopolisierung von Gewalt und wirkungsvollen Dramatisierung von Staatsterror (Schrecken) durch die juristische Person des Souveräns, die, je nach Lage der Dinge, als sterblicher Gott, Automat, künstliches Tier und großer Mensch aufzutreten und die staatliche Gewalt zu repräsentieren 97 John Locke war nicht nur Stockholder der Royal African Company und hat in einem beträchtlichen Maße am transatlantischen Sklavenhandel verdient; er war auch von 1673 bis 1674 Sekretär des Council on Trade and Foreign Plantations und hatte in dieser Funktion zahlreiche Berichte über Kolonialgeschäfte und Sklavenhandel zu überprüfen; 1682 überarbeitete er ferner die Fundamental Constitutions of Carolina. Mit seiner Theorie der Sklaverei und Rhetorik des »gerechten Krieges« antwortete er im Second Treatise aus der Perspektive der Pflanzer, Sklavenhalter und Plantagenbesitzer auf die Probleme der »Indian slavery« in Carolina und des indianischen Widerstandes, nicht zuletzt in Form von »crop-destroying«. Ausführlich Hinshelwood 2013, S. 569, S. 575, S. 577; siehe auch Glausser 1990, S. 199-216. 98 Das durch Instituierung eingerichtete Staatswesen beruht auf der wechselseitigen Entäußerung und Übertragung des iura in omnia et omnes auf den Leviathan. 99 Schmitt 2003 [1938], S. 68. 100 Aristoteles, Politik, I 4 1253 b 33-1254 a 1. 101 Agamben 2004, S. 91. 102 Bredekamp 2012.

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pflegt. »Das Urbild des modernen Staates« korreliert mit dem Urbild des modernen Staatsbürgers und seiner absoluten Fügsamkeit gegenüber jedem souveränen Befehl. Die Differenz zwischen dem ungefesselten Sklaven und dem freiem Bürger nimmt so den Charakter einer Widerstreitsidentität an: »[D]er Unterschied zwischen einem freien Bürger und einem Sklaven liegt darin, daß der Freie nur dem Staate, der Sklave aber auch einem Mitbürger dient.«103 Hobbes ist nicht nur der Begründer des juristischen Idioms der Souveränität, sondern auch und gerade der Erfinder des »servilen Menschen«104 als ein sich absolut unterwerfendes, dienstund befehlsbereites Subjekt. 5. Fazit: Politik der Tiere Im Werk Jacques Derridas ist die Frage des Tieres unter den Gesichtspunkten der Gattungsdifferenz und Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren, des tierlichen Leidens und der Gewalt gegen Tiere gegenwärtig,105 verstärkt durch eine Aufmerksamkeit für die Interpretation des Menschen als eines politischen Tieres und die Tierfiguren der Bestialität, die in den kanonischen Texten zur politischen Philosophie seit der Antike ein Außerhalb und mit Beginn der Neuzeit zugleich den Ursprung und die Ressource von Souveränität bezeichnen.106 Der vorliegende Beitrag folgte den Spuren, die Jacques Derrida in den letzten beiden Studienjahren (2001 bis 2003) in seinen Seminaren an der École des hautes études en sciences sociale unter dem Titel La bête et le souverain mit Formulierungen wie »Lykologie der Politik« und »Genealogie des Wolfes« ausgelegt hatte,107 allerdings nicht nur in philosophischer Absicht. Im Beitrag ging es zumal um eine differenzpolitische, kolonial- und bildhistorische Analyse der politischen Zoologie Thomas Hobbes’. Nur eine konsequente historische Verortung vermag die kolonialen Verstrickungen der politischen Philosophien augenfällig zu machen und zugleich jene darüber hinausweisenden systematischen Überschüsse freizulegen, die uns noch heute zu denken geben. Eine Politik der Tiere (im doppelten Genitiv) lässt sich in einem dreifachen Sinne geltend machen: Erstens handelt es um jene Herrschaft, Macht und Gewalt, die menschliche Tiere (durchaus auch mithilfe von Tieren) über nichtmenschliche Tiere und nicht zuletzt über Menschen ausüben, welche zu Tieren degradiert und gemacht werden sollen; zweitens handelt es sich um diejenige Politik, zu der manche Tiere (wie etwa Ameisen, Bienen und Herdentiere) womöglich selbst Zugang haben. Drittens geht es um politische Mensch-Tier-Konstellationen, um Allianzen, Konflikte und Kriege zwischen Menschen und bestimmten Tieren (die den Krieg der Arten miteinschließen kann). Der vorliegende Beitrag beschäftigte sich namentlich mit der Frage der metamorphotischen Ver103 104 105 106 107

Hobbes, Vom Bürger, 1994 [1642], S. 171. Sloterdijk 2000, S. 52. Derrida 2002, S. 191-209. Ders. 2010 und 2015; vgl. dazu Därmann 2011, S. 303-325. Derrida 2015, S. 33, S. 95, S. 104.

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wandlung von Menschen in Raubtiere und Bestien: Die Tierfigur des unzähmbaren Wolfes bildet in der politischen Philosophie des Thomas Hobbes’ die differenz- und souveränitätspolitische Doppelfigur von kolonialer Macht und Versklavung. »Der Wunsch, Menschen zu Tieren zu machen, ist der stärkste Antrieb für die Ausbreitung der Sklaverei«,108 wie Elias Canetti in Masse und Macht im Wissen um die Differenz zwischen freien (totemistischen), das heißt, reversiblen Tierverwandlungen und der Animalisierung von Menschen zum Zweck ihrer Unterwerfung hervorhebt. Dieses »Machen« ist an der Frontier zweifellos in einem gewaltsam-realen Sinne exekutiert worden. Als politischer Philosoph hat Hobbes auf die Potenzen der Schrift und des Bildes gesetzt, um die Animalisierung von Menschen metamorphotisch zu dramatisieren und natur- wie kriegsrechtlich zu legitimieren. Hobbes hat in souveränitätsrepräsentativer Hinsicht koloniale (Bild-)Politik gemacht. Er wusste um die gehorsamsproduktiven Wirkungen von Bildern des Imperiums und der absoluten Macht. In seiner kaum beachteten Bildtheorie,109 die zugleich eine Gebrauchsanweisung für seine beiden Frontispize bietet, setzt Hobbes die repräsentative Macht von Bildern dafür ein, dem Souverän einen Zuwachs an Macht und gehorsamer Dienstbeflissenheit über seine unmittelbare Präsenz und Gewalt hinaus zuzusichern: Im staatlichen Bilderdienst und despotischen Sklavendienst, ja »in allen Arten von Diensten«, sind »nicht nur Gehorsam enthalten, sondern auch Verehrung, das heißt solche Handlungen, Gesten und Worte, die Ehrung bezeichnen.«110 Die Macht des Bildes erschien ihm in effektiver Weise dazu geeignet, die Schlüsseltugenden und -habitus seiner kolonialen Philosophie dauerhaft zu mobilisieren. Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio 2003. Das Offene. Der Mensch und das Tier, übers. v. Giuriato, Davide. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio 2004. Ausnahmezustand. Homo sacer II.1, übers. v. Müller-Scholl, Ulrich. 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Aravamudan, Srinivas 2009. »Hobbes and America«, in The Post-Colonial Enlightenment. Eighteenth-century Colonialism and Post-colonial Theory, hrsg. v. Carey, Daniel; Festa, Lynn. S. 37-70. Oxford: Oxford UP. Aristoteles 1957. Tierkunde. Die Lehrschriften, hrsg. übers. und in ihrer Entstehung erläutert v. Gohlke, Dr. Paul. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Aristoteles 1991. Politik. Teil I. Buch I. Über die Hausverwaltung und die Herrschaft des Herrn über die Sklaven, übers. und erläutert v. Schütrumpf, Eckart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Arluke, Arnold; Sax, Boria 1992. »Understanding Nazi Animal Protection and the Holocaust«, in Anthrozoös, V, 1, S. 6-31.

108 Canetti 1980 [1960], S. 454f.; zur rassistischen Zoologie des NS-Regimes, die Canetti auch und gerade im Blick hat, siehe Bein 1965. Zur neueren Forschung siehe Arluke/Sax 1992 sowie Möhring 2011. 109 Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 536-558. Das XLV. Kapitel im vierten Buch des Leviathan trägt den Titel: »Von der Dämonologie«. Zum Begriff der Person und zur Theorie des Bildes in Hobbes’ Leviathan siehe Därmann 2009, S. 80-97. 110 Hobbes, Leviathan, 1996 [1651], S. 545.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kupferstich, vermutlich von Jean Matheus. Abb. 2: The Colonial Williamsburg Foundation; accession # 1986-15.

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Eidgenössische Selbstdarstellungen zwischen Differenz und Konsens (1798-1913)1

1. Einleitung Föderale Herrschaftsordnungen2 streben die Vermittlung von klein- und weiträumigen Handlungseinheiten an. Konflikte, die sich aus der Pluralität und aus einer teilweisen Überlagerung politischer Handlungssphären ergeben, gehören daher in föderalen Herrschaftsordnungen zum politischen Alltag: Es muss stets von neuem ausgehandelt werden, wie stark ausgeprägt die Souveränität der untereinander gleichberechtigten Einzelstaaten sein darf und wie viel Kompetenz den übergeordneten Bundesinstitutionen zukommen muss. Dieses Verhältnis von Vielfalt und Einheit – oder: von Differenz und Konsens – zu regeln, ist zentral für die Handlungsfähigkeit föderaler Ordnungen. Dass dieser stete Aushandlungsprozess auch ikonographisch festgemacht werden kann, soll im Folgenden an der bildlichen Darstellung der Schweizerischen Eidgenossenschaft im langen 19. Jahrhundert exemplarisch dargelegt werden. Dabei wird das Augenmerk auf den Wappenkranz gerichtet, der die Ikonographie der Schweiz lange Zeit dominiert hat.3 Das schweizerische Beispiel ist insofern interessant, als die Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert tiefgreifende ordnungspolitische Umwälzungen durchlebt hat: Nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft4 entwickelte sie sich vom Staatenbund zum Bundesstaat. Dieser Transformationsprozess war geprägt von innereidgenössischen Auseinandersetzungen um die ideale Gestaltung der Herrschaftsverhältnisse. Bei der ikonographischen Bearbeitung dieses Konflikts war das Motiv des Wappenkranzes auffällig prominent, diente es der Eidgenossenschaft doch von 1815 bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als offizielles Siegel und privaten Bildproduzenten als ikonographischer Anknüpfungspunkt. Der Wappenfries wurde in der Literatur schon vielfach als künstlerisch einfallslos, und eine wissenschaftliche Beschäftigung damit folglich als uninteressant be1 Mein Dank geht an Dr. Eva Marlene Hausteiner und Dr. Sebastian Huhnholz für die Einladung zur Tagung »Politische Ikonographie zwischen produktiver Differenz und Konsens. Transformationen politischer Ausdrucksmittel seit der Antike« sowie an Dr. Andreas Biefang, Anja Früh, Zoé Kergomard, Eva Locher und Prof. Siegfried Weichlein für die kritischen Fragen und die inspirierenden Diskussionen. 2 Gemeint sind föderale Zusammenschlüsse souveräner Handlungseinheiten vom losen Staatenbund bis zum Bundesstaat. 3 Vgl. Maissen 2001, S. 89. 4 Die Wirren der Französischen Revolution brachten auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft genauso wie in anderen Teilen Europas das Ancien Régime zu Fall; an die Stelle des lockeren Bündnisgeflechts der Alten Orte (franz. cantons) trat unter französischem Diktat ein helvetischer Einheitsstaat: die Helvetische Republik.

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urteilt.5 In Bezug auf die moderne ikonographische Selbstdarstellung der Schweiz hat man sich denn auch mit Vorliebe anderen, in dieser Zeit neu aufkommenden Bildmotiven zugewandt – der Helvetia etwa.6 Die wenigen Untersuchungen zum Wappenkranz beschränken sich im Wesentlichen auf die Zeit vor 1800.7 Dass aber das Motiv bis heute nichts an seiner Bedeutung verloren hat, zeigt Theo Gantner in seinem Aufsatz zur Einheit und Vielfalt. Der Eidgenössische Wappenfries im 19. Jahrhundert.8 Gerade die Frage nach dem Grund für die bis heute anhaltende Popularität des Wappenkranzes im Rahmen eidgenössischer Selbstdarstellungen und insbesondere die Frage nach der Integrationsfähigkeit dieses Motivs, legitimiert eine erneute Beschäftigung mit dem auf den ersten Blick so unspektakulären Sujet. Die bisherige Forschung hat unterschiedliche Darstellungsformen des Wappenkranzes sowie deren Veränderungen im Verlauf der Frühen Neuzeit aufgezeigt.9 Anhand der Analyse ausgewählter Darstellungen, die als repräsentativ gelten dürfen, liefert der vorliegende Aufsatz eine Erweiterung der Erforschung des Kranzmotivs, indem er Denkfiguren, Erfahrungs- und Vorstellungswelten erschließt, die diesen ikonographischen Ausdrucksformen zugrunde liegen und das Bild der Schweiz im langen 19. Jahrhundert geprägt haben. Dies geschieht auf der Grundlage eines Bildbegriffs, der nicht nur die Materialität des Bildes (engl. picture) sondern gerade auch die im Bild artikulierten ideellen Konzepte (engl. images) im Blick hat.10 2. Eine Differenzdarstellung: Neuformierung der Eidgenossenschaft Um die eidgenössische Freundschaft zu zelebrieren, pflegte die 1762 in Schinznach gegründete Helvetische Gesellschaft11 an ihrer Jahrestagung das Ritual, in einem kunstvoll gefertigten Becher »Schweizerblut« unter ihren Mitgliedern herumzureichen, also Wein von auf eidgenössischen Schlachtfeldern gewachsenen Reben. Die Helvetische Gesellschaft inszenierte auf diese Weise ihre Gemeinschaft und einen die 5 Peyer 1994, S. 121. 6 Vgl. Kreis 1991b, Stercken 1998. 7 Für das Thema grundlegend ist insbesondere Peyer 1994. Der Wappenkranz findet aber auch Erwähnung bei Maissen 2001. 8 Vgl. Gantner 1987. 9 Gantner 1987, Peyer 1994, Maissen 2001. 10 Zur dieser konzeptionellen Unterscheidung vgl. insbes. Asmuth 2011. Vgl. auch Bredekamp 2004, S. 16. 11 Die Helvetische Gesellschaft vereinte die aufklärerisch gesinnte eidgenössische Elite und verstand sich als Verfechterin gesamteidgenössischen Zusammenhalts innerhalb des föderalistischen Staatenbunds. Durch einzelne ihrer Mitglieder war sie auch in ein transnationales Netzwerk eingebunden, sodass ihr Wirken über die Landesgrenzen hinweg ausstrahlte. Sie zelebrierte die helvetische Geschichte als Grundstein gemeineidgenössischer Identität. Dabei verehrte sie Wilhelm Tell als Symbol dieses helvetischen Patriotismus. Zur Helvetischen Gesellschaft vgl. Im Hof; de Capitani 1983. Für die Zeit nach 1798 vgl. zudem Nabholz 1961.

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kantonalen Grenzen überwindenden helvetischen Patriotismus.12 Der um 1780 eigens zum Zweck dieses gemeinschaftsbildenden Rituals angefertigte Becher – er befindet sich heute in der Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums – steht auf einem hölzernen Postament: Es handelt sich um eine von Alexander Trippel angefertigte Figurengruppe Wilhelm Tells mit seinem Knaben (Abb. 1). Der Vater, an den Stamm einer Eiche gelehnt, neigt sich fürsorglich seinem Sohn Walter entgegen. Dieser reicht ihm einen Apfel. Daneben, an einen Ast der Eiche gestützt, steht die Armbrust des Tell, Symbol des eidgenössischen Freiheitskampfs.

Abb. 1: Tafelaufsatz Tell mit Sohn (Alexander Trippel, um 1781). Die Figur des Wilhelm Tell, die für den Wehrwillen und die Tugenden der freien Bürger stand, erfreute sich im 18. Jahrhundert großer Popularität – nicht nur in der Eidgenossenschaft, sondern auch andernorts, etwa im revolutionären Frankreich.13 Die unter französischem Diktat 1798 entstandene Helvetische Republik 12 Schnyder 1991, S. 202. 13 De Capitani 2013.

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machte sich das Sujet des Wilhelm Tell mit seinem Bübchen im offiziellen Siegel zu eigen. Aus Sicht der Helvetischen Gesellschaft delegitimierte dies das Tellmotiv, das sie als Zeichen des patriotischen Zusammenhalts verehrte: Tell war zum Symbol eines fremdherrschaftlichen Staats geworden, der mit den föderalen Traditionen der Eidgenossenschaft gebrochen hatte. Es ist daher bezeichnend, dass die Helvetische Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft das Glas des Tellbechers durch ein neues ersetzte: Während das ursprüngliche Glas kein appliziertes Motiv hatte, figurierte auf dem neuen Glas ein eidgenössischer Wappenkranz. Dieser war 1815 zum Siegel des erneuerten Staatenbundes bestimmt worden (Abb. 2). Die Helvetische Gesellschaft distanzierte sich ikonographisch von der Republik von 1798, indem sie der von Trippel geschnitzten Figurengruppe des Tell mit seinem Knaben im Trinkglas das Motiv des Wappenkranzes zufügte. Auf diese Weise stellte sie die Figurengruppe als unmissverständliches Zeichen eidgenössischer Freundschaft wieder her.14

Abb. 2: Für den Bundesvertrag 1815 neu geschaffenes Staatssiegel (Hans Felix Leuthold, 1835). 14 Schnyder 1991, S. 202.

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Mit dem Motiv des Wappenkranzes griff man eine ikonographische Tradition wieder auf, die aus der Frühen Neuzeit im Wesentlichen schon bekannt war: Von Beginn an war die Eidgenossenschaft mit dem Problem konfrontiert, wie sie sich als lockeres Bündnissystem gegenüber den Großmächten legitimieren und ikonographisch darstellen konnte. Aus der Warte der frühneuzeitlichen Staatsrechtslehre war die Eidgenossenschaft als Staatenbund ausschließlich durch die Gesamtheit aller einzelörtischen Gesandten handlungsfähig.15 Aus diesem Grund konnte die Eidgenossenschaft bis dahin auch ikonographisch einzig durch die Vielzahl der Siegel der in ihr zusammengeschlossenen souveränen Republiken repräsentiert werden.16 So wurde die Eidgenossenschaft seit dem frühen 16. Jahrhundert aller Regel nach als die im Kreis angeordneten heraldischen Zeichen der einzelnen Republiken dargestellt. Der Rekurs auf diese frühneuzeitliche Darstellungsweise sollte nun im Zeitalter der Restauration die erneuerte eidgenössische Ordnung legitimieren. Dass ausgerechnet zum Zeitpunkt des langsam beginnenden modernen Staatsbildungsprozesses17 nicht nur die Helvetische Gesellschaft sondern auch die offizielle Eidgenossenschaft zur Selbstdarstellung auf das frühneuzeitliche Symbol des Wappenkranzes zurückgriff, ist dennoch erstaunlich.18 So stellt sich die Frage, weshalb die Eidgenossenschaft in dem Moment, wo die föderale Einheit an Verbindlichkeit gewann, nicht ein symbolisches Siegel einführte und warum sie statt15 Vgl. die Ausführungen zur Funktionsweise der Tagsatzung als einziger gesamteidgenössischen Institution vor 1798 in: Würgler 2013. 16 Peyer 1994, S. 122. 17 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es keineswegs klar, dass die Schweizer Kantone dereinst zu einem Bundesstaat zusammenfinden würden. Insofern mag es problematisch erscheinen, hier von einem »modernen Staatsbildungsprozess« zu sprechen. Aus rückblickender Perspektive kann jedoch festgestellt werden, dass der eidgenössische Bund um 1800 eine größere Verbindlichkeit erhielt, insbesondere nachdem auf äußeren Druck hin 1803 die Mediationsakte und 1815 der Bundesvertrag zustande kamen: Diese legten ein Sonderbundsverbot fest. Eine neuartige Qualität erhielt der Bund zudem mit der Aufnahme der vormaligen Untertanengebiete als gleichberechtigte Bündnispartner in die Eidgenossenschaft. Der Bund diente somit nicht mehr ausschließlich der gemeinsamen Verwaltung von Untertanengebieten sowie der Verteidigung eidgenössischer Interessen gegenüber fremden Mächten. Vielmehr erhielt er zunehmend die Kompetenz, nicht nur gegen außen, sondern auch im Innern zu agieren. Die Diskussion um Ort und Umfang dieser bündischen Kompetenzen beschäftigte die Eidgenossenschaft über das ganze 19. Jahrhundert hinweg; die Gründung des Schweizerischen Bundesstaats 1848 fügte sich in diese Entwicklung ein. Unter dem Begriff des modernen Staats verstehe ich den souveränen neuzeitlichen Verfassungsstaat, der über die höchste Gewalt gegen innen verfügt und seine Unabhängigkeit gegen außen verteidigt. Im Falle des föderalen Bundesstaats ist dies dann der Fall, wenn das Bundesrecht gegenüber dem Recht der einzelnen Gliedstaaten übergeordnet ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des modernen Staats bieten Skalweit 1975 und Voigt 2015, S. 1f., 46. 18 Vgl. z.B. Maissen 2001, S. 89.

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dessen mit dem heraldischen Motiv die kantonale Einzelstaatlichkeit, also die Differenzen im Bund, ikonographisch so deutlich sichtbar machte. Schließlich hätten mit dem helvetischen Siegel, das sich des Tell-Motivs bediente, oder mit jenem aus der Mediationszeit, das einen Alteidgenossen19 zeigte, Vorbilder symbolischer Siegel existiert, welche die Einheit der eidgenössischen Ordnung betonten.20 Auch andere Bildmotive hätten zur Auswahl gestanden: die Figur der Helvetia21 etwa, die seit 1800 zunehmend an Popularität gewann, das Schweizerkreuz22 oder das Motiv der Fasces.23 Gerade die Fasces waren in der politischen Ikonographie der Eidgenossenschaft bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verbreitet: Losgelöst von der antiken Tradition24 und als Verweis auf die Skiluros-Legende mahnten sie zur Einheit.25 Wieso also wurde 1815 ausgerechnet der Wappenkranz zum offiziellen Siegel erklärt? Die ikonographische Emanzipation von den Jahren französischer Fremdherrschaft ist freilich nur eine Erklärung. Viel grundlegender ist, dass sich die Kantone auch politisch von der helvetischen Ordnung zu distanzieren versuchten: Nachdem das Modell eines helvetischen Zentralstaats gescheitert war und sich die Eidgenossenschaft als lockerer Staatenbund neu formiert hatte, waren insbesondere die reaktionären Stände darauf bedacht, für die kantonale Einzelstaatlichkeit einzustehen. So ist es bezeichnend, dass der Bundesvertrag von 1815 – also ausgerechnet jener Vertrag, in dem sich die Kantone erstmals offiziell als »schweizerische Eidgenossenschaft« bezeichneten26 – einleitend hervorhob, dass die Kantone souverän seien. Im heraldischen Siegel in der Form eines Wappenkranzes konnte dem auch ikonographisch Rechnung getragen werden: Das Motiv macht innereidgenössische Differenzen sichtbar, verweist aber gleichzeitig auch auf die helvetische Einheit. Der Wappenkranz verdeutlicht, dass es sich bei der politischen Ordnung der Eidgenossenschaft um ein Bündnissystem souveräner Einzelstaaten handelt. Überdies verleiht er dem Subsidiaritätsprinzip eine ikonographische Form und betont, dass die Handlungsmacht des Bundes primär auf einem Kon-

19 Zu diesem heute weniger beachteten Figurentyp vgl. Kreis 1998. 20 Zu den offiziellen Siegeln der Schweiz vgl. Schweizerische Bundeskanzlei 1948, S. 24-31, 53-58. 21 Vgl. Kreis 1991b, Stercken 1998. 22 Gantner 1987, S. 147. 23 Vgl. Peyer 1994, S. 130f. 24 In der Antike stand das Motiv der Fasces für die Macht zur Herrschaftsausübung. Vgl. de Capitani 1991b, S. 313. 25 Nach dieser Legende forderte der sterbende Skytenkönig Skiluros seine Söhne auf, ein Rutenbündel zu zerbrechen. Das gelang ihnen erst, nachdem sie das Rutenbündel aufgeschnürt hatten und also die Stäbe einzeln brechen konnten. Mit diesem Beispiel, so die Legende, wollte Skiluros seine Söhne zur Eintracht mahnen: Nur gemeinsam seien die Schwachen mächtig. Zur ikonographischen Bedeutung des Rutenbündels im eidgenössischen Kontext vgl. de Capitani 1991b, S. 313f., Peyer 1994, S. 130. 26 Vgl. [Schweizerische Eidgenossenschaft] 1815, Schlussformel.

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sens der in ihm zusammengeschlossenen Kantone fußt und nicht auf einem verfassungsmäßig festgelegten Auftrag. Schließlich konnte der Wappenfries auch zwischenstaatlichen Hierarchien Rechnung tragen. Das beweist die Auseinandersetzung um das Reihungsprinzip der Kantone im Kreis: Seit 1362 hielt die Eidgenossenschaft im Wesentlichen an demselben Reihungsprinzip fest. Die drei städtischen Vororte Zürich, Bern und Luzern stehen oben im Kreis, gefolgt von den Urkantonen sowie den übrigen Orten nach dem Datum ihres Eintritts in den Bund. Dass diese Reihenfolge gewollt hierarchisch ist, suggeriert beispielsweise die Darstellung auf dem Titelblatt zum »Cirkell der Eydtgnosschaft« von 1597, wo die Kantonswappen entsprechend ihrem Rang durchnummeriert sind.27 Das Reihungsprinzip folgt hier wie auf anderen eidgenössischen Wappenfriesen nicht etwa dem Uhrzeigersinn im Kreis, sondern verläuft von oben nach unten und von links nach rechts. Überdies sind im Kreisinnern – und das ist bei frühneuzeitlichen Darstellungen durchaus sehr üblich – die zugewandten Orte28 abgebildet. Der so harmonisch wirkende Kreis hat also ein Oben und ein Unten, ja sogar ein Außen und ein Innen. Nachdem die Kantone unter napoleonischer Herrschaft stets in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt worden waren,29 stand das Reihungsprinzip nach dem Zerfall der revolutionären Ordnung zur Debatte. Die Tagsatzung beschloss die Wiederherstellung der alten Rangfolge, wobei die neuen Kantone nach dem Anciennitätsprinzip angefügt wurden. –Dieser Schritt erfolgte nicht ohne Widerstand und auch im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts war die kantonale Reihenfolge immer wieder Gegenstand von Rechtfertigungsbemühungen.30 Im Motiv des Wappenkranzes also stellte sich die Eidgenossenschaft als föderale Gemeinschaft dar, in der die Einzelstaaten trotz historisch begründeter Prestigeunterschiede rechtlich gleichgestellt waren. Über das Motiv schuf die Schweizerische Eidgenossenschaft einen Bezug zum frühneuzeitlichen Bund und distanzierte sich gleichermaßen vom helvetischen Einheitsstaat von 1798. 3. Zentrum und Peripherie: Entstehung einer modernen Ordnung Eine scheinbar kleine, aber dennoch wesentliche Neuerung machte den Wappenkranz von 1815 eindeutig zu einem modernen Symbol und unterschied ihn nennenswert von seinen frühneuzeitlichen Vorbildern: Am Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt die zentrale Institution des Bundes eine ikonographische Gestalt und

27 Anonym 1597. Das gleiche gilt auch für das Eidgenössische Siegel von 1815 (Abb. 2). 28 Der Begriff der »Zugewandten Orte« bezeichnete im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit jene Herrschaften, die über sogenannt »ewige« Verträge in einem Verhältnis zur Eidgenossenschaft oder zu Teilen derselben standen, ohne aber vollberechtigte Mitglieder derselben zu sein. Zu den Zugewandten Orten zählten etwa St. Gallen, Graubünden oder das Wallis. Vgl. z.B. Würgler 2013. 29 Bonaparte 1803, S. 274. 30 Gantner 1987, S. 146f.

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innerhalb der Kreisdarstellung auch einen festen Platz – nämlich im Zentrum des Rings.31 Um dies zu verdeutlichen, ist es geboten, einen kurzen Blick zurück auf die eidgenössischen Wappenkranzdarstellungen der Frühen Neuzeit zu werfen. In seinen ersten Selbstdarstellungen aus dem 15. Jahrhundert und auch noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein bezog sich der Bund der eidgenössischen Orte stets auf das Deutsche Reich. Der Reichsadler erscheint bisweilen im Zentrum, bisweilen als oberstes Glied im Kreis der eidgenössischen Republiken oder im Oberwappen.32 Diese Bildkomposition diente nicht dem getreuen Abbild von sich überlappenden Herrschaftsordnungen, vielmehr begründete das eidgenössische Landfriedensbündnis in der Frühen Neuzeit seine Eigenständigkeit mit dem Verweis auf den Kaiser. Der Kaiser als universelles Oberhaupt in weltlichen Dingen wurde somit zur »entscheidenden Quelle für die Legitimierung der Herrschaftsgewalt der [eidgenössischen] Orte«33. Von ihrer Idee her lehnten sich diese Wappenkränze aber durchaus an feudal gedachte ikonographische Vorbilder an, etwa an die Selbstdarstellungen fürstlicher Herrschaft in Tirol oder an Darstellungen des herrschaftlichen Einflussbereichs der frühneuzeitlichen Stände Zürich und Bern.34 Solche Darstellungen sind entsprechend hierarchisch zu verstehen: Das Zeichen in der Kreismitte repräsentiert eine den anderen übergeordnete, die im Kreis abgebildeten Gebiete beherrschende Macht. Eine allmähliche Ablösung der Eidgenossenschaft vom Reich wurde seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert ikonographisch sichtbar.35 In der Folge gewann das Bekenntnis zur göttlichen Schutzmacht an Bedeutung – sei es im Zeichen der göttlichen Hand, die den Bund zusammenhält, sei es im Auge Gottes, das über dem Bund wacht. Die eidgenössischen Orte stellten sich so in veränderter Form als souverän dar: souverän, weil einzig Gott (und nicht mehr der Kaiser) über dem Bund steht.36 Auf Darstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts dann gruppierten sich die eidgenössischen Republiken um eine leere Mitte oder des Öfteren auch um Zeichen der Freiheit sowie um das Motiv des Bundesschwurs: Der Bund legitimiert sich selbst, aus seiner Geschichte und seinem selbstbestimmten politischen Handeln heraus. Eine übergeordnete Macht fehlt. Bei der Betrachtung dieser frühneuzeitlichen Bildnisse fällt häufig die starke Betonung der Bundesidee (concordia) auf. Sie

31 Eine erste Darstellung in diesem Stil figuriert auf dem von Jakob Stampfer angefertigten Bundestaler (Maissen 2001, S. 89). 32 Vgl. z.B. Etterlin 1507. 33 Holenstein 2014, S. 25. 34 Vgl. z.B. Stadt Zürich 1512. Eine weiterführende Analyse bietet Peyer 1994, S. 122-124. 35 Vgl. auch Holenstein 2014, S. 25. 36 Vgl. z.B. den von Jakob Stampfer im Jahr 1548 angefertigten Taufpfennig: Da der Pfennig für die französische Prinzessin Claudia von Valois bestimmt war, wäre es ungeschickt gewesen, das Reichswappen im Wappenkranz abzubilden. Stattdessen hält Gottes Hand den Bund zusammen (Peyer 1994, S. 125f., 131).

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manifestiert sich im Schwur, im Handschlag oder im gemeinsamen Stützen einer zentralen Säule.37 Das Kranzmotiv ist in dieser Form eindeutig föderalistisch zu lesen, als Symbol für die Einheit untereinander gleichberechtigter Herrschaftsräume.38 Neu an der Selbstinszenierung der Eidgenossenschaft nach 1800 war nun, dass sich die Wappen der Kantone im Kreis um das Zeichen der Bundesinstitutionen gruppierten: im neuen Siegel der Eidgenossenschaft um das weiße Kreuz auf rotem Grund, das hier erstmals als offizielles Wappen der Schweiz erschien (Abb. 2).39 Im 19. Jahrhundert wurde der souveräne Bund zu einer Instanz. Die neuartige Verbindung von Zentrum und Peripherie, die im Siegel von 1815 sichtbar wird, macht die Ansprüche an eine moderne politische Ordnung deutlich; das Motiv impliziert Züge von Staatlichkeit. Insofern handelt es sich bei diesem Wappenfries um ein modernes und nicht um ein frühneuzeitliches Symbol. Zwar ist es nach wie vor die harmonische Ordnung, die concordia, welche die Bundesinstitutionen in ihrem Machtanspruch legitimiert; im Schweizerkreuz erhält aber der Bund neu eine eigene ikonographische Ausdrucksform. Die Bedeutung dieser Neuerung in der Bildsprache wird deutlich, wenn man ihre Gegenbilder betrachtet. Die konservative Gegenpublizistik etwa produzierte im Zuge der eidgenössischen Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung politischer Herrschaft während der Jahre 1847/48 das Bild eines ganz anders konzipierten Bundes: Die katholisch-konservativen Gegner des Bundesstaats verzichteten in ihrer ikonographischen Selbstdarstellung darauf, ihrem »Schutzbündnis für Gott und Vaterland«40 eine eigene ikonographische Gestalt, vergleichbar mit jener des Schweizerkreuzes, zu geben. Und das war politisches Programm. Ein anonymes konservatives Flugblatt von 1847 (Abb. 3) suggerierte, dass der eidgenössische Bund von 1815, symbolisiert durch das zersägte Rutenbündel und den zerrissenen Vertrag im Bildvordergrund, gescheitert sei. Zum Bruch geführt hatten der Entscheid des aargauischen Großen Rats vom 13. Januar 1841, die Klöster im Kanton aufzuheben, sowie die teilweise Bestätigung dieses Entscheids durch die eidgenössische Tagsatzung am 31. August 1843.41 Mit diesen Beschlüssen sahen die Katholisch-Konservativen den Bundesvertrag von 1815 verletzt, der den Fortbestand der Klöster im Grundsatz garantiert hätte. Gleichzeitig sahen sie durch diesen Entscheid ihre kantonale Souveränität beschnitten. Auf dem Flugblatt nun wird das konservative Schutzbündnis durch ein Monument mit den Wappen der sieben Sonderbundskantone symbolisiert. Es steht in einer achtsäuligen Kapelle mit kreisförmigem Grundriss. Dabei ist für das Bildver37 Zum Motiv des Handschlags in der schweizerischen Ikonographie vgl. Haas 2016, S. 168f. 38 Vgl. z.B. Anonym um 1677. 39 Ladner; Senn 2012, o. S. 40 Gemeint ist das aus liberaler Perspektive »Sonderbund« genannte Bündnis der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis. 41 Die Tagsatzung entschied, die Männerklöster definitiv zu schließen, die Frauenklöster dagegen wieder zu errichten. Zum Aargauer Klosterstreit vgl. Meier 1991.

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ständnis nicht unbedeutend, dass die Zahl Acht im christlichen Kontext als Symbol der Auferstehung und der Ewigkeit gilt: Das Schutzbündnis versteht sich als erneuerter Bund und Hort der ursprünglichen Eidgenossenschaft. Diese Urschweiz, auf die sich der Bund bezieht, erscheint in der Form einer innerschweizerischen Berg- und Seelandschaft mit Rütlischwurgruppe im Bildhintergrund.42 Im Zentrum von Bild und kreisförmiger Kapelle steht der vielteilige Bund souveräner Einzelstaaten. Die katholisch-konservativen Kantone verstehen sich als geeint, wollen aber ihre umfassende Souveränität gewahrt wissen; zentrale bündische Institutionen sind unerwünscht und finden im Bild daher keine ikonographische Entsprechung. Allerdings steht über dem Bund die schützende Macht Jesu Christi respektive des Papstes als dessen Stellvertreter auf Erden: Hier wird eine gottgewollte, föderale Ordnung dargestellt, in der eine zentrale Institution fehlt.

Abb. 3: Das Schutzbündnis für Gott und Vaterland (Anonym, 1847).

42 Maissen 2012, S. 154.

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Im Gegensatz zur katholisch-konservativen Allianz imaginierten die Liberalen nicht nur den eidgenössischen Bund, sondern auch den Sonderbund als Wappenkranz mit Zentrum. Ein Beispiel dafür gab Christian Gehri, der in einer Holzschnitzerei zur Sonderbundsdebatte Stellung nahm (Abb. 4): Hier ist der eidgenössische Bund in zwei verschiedene Bündnisse zerfallen. Der Sonderbund im unteren Teil der Skulptur wird dargestellt als zusammengestauchtes Haupt mit Wappenkrone. Er ist ein Zwangsbündnis, denn die Wappen der konservativen Kantone, zwischen denen auch noch Fratzen eingefügt sind, werden von einer Kette zusammengehalten. Den positiven Gegenpol zum Sonderbund stellt das liberale Bündnis dar: Es bildet den oberen Teil der Skulptur und ruht aufrechten Hauptes auf dem Anker der Hoffnung, beschützt von der ehernen Schlange des rettenden Glaubens.43 Die Wappenkrone des liberalen Bundes wird von einem Spruchband mit der Aufschrift »Die Einigkeit erhält unsere Freiheit« umfasst. Eintracht fügt hier die Einzelteile zu einem Ganzheitlichen zusammen und legitimiert die Autorität des Bundes. Zwischen den beiden Polen tobt der Kampf mutiger Bauern gegen die Schlange des Unglaubens und gegen die Drachen reitenden Jesuiten.44 Dabei erinnert die Anordnung der beiden Bünde in der Schnitzerei an den Dualismus von Himmel und Hölle.

Abb. 4: Holzschnitzerei zur Jesuitenfrage (Christian Gehri, 1847).

43 Bernisches Historisches Museum 1998, S. 166. 44 Ebd., S. 166.

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Im Gegensatz zur Darstellung auf dem konservativen Flugblatt haben die hier abgebildeten Bünde ein Haupt, ein Zentrum. Ihre Herrschaft ist legitimiert durch die souveränen Einzelstaaten, was symbolisiert wird durch die Wappenkronen. Die Darstellung des Bundes als wappenbekröntes Haupt ist dabei nicht neu, Vorbilder aus dem eidgenössischen Kontext gab es bereits in der Frühen Neuzeit.45 4. Concordia oder Discordia: Debatten um den Bund Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie kommt demnach einer Aussage über die Ausgestaltung der föderalen Ordnung gleich: Es ist eine Stellungnahme zu Ort und Umfang bündischer Souveränität respektive eine Aussage darüber, wieviel Differenz im Bund zulässig ist. Die allermeisten Darstellungen im 19. Jahrhundert stellten denn auch die Bundesinstitutionen nicht grundsätzlich in Frage, vielmehr stand die Gewichtung des Zentrums gegenüber den im Kreis abgebildeten Einzelstaaten zur Debatte. Im Allgemeinen ist zu beobachten, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts die bündische Komponente im Bild gegenüber den kantonalen Bildelementen an Bedeutung gewann – im positiven wie im negativen Sinn. Die Auseinandersetzung um das Mächteverhältnis zwischen Bund und Kantonen wurde ikonographisch gerade im Motiv von Kreis und Mitte ausgetragen: Während die Befürworter des Bundesstaats das Verhältnis von Zentrum und Peripherie als ein harmonisches, natürlich Gegebenes darstellten, konstatierten Kritiker des politischen status quo ein Kräfteungleichgewicht. Die ersten Jahre des Bundesstaats waren geprägt vom Hin und Her zwischen dem Versuch einer Stärkung der Bundesinstitutionen und einem Ausgleich mit den Verlierern des Sonderbundkrieges. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 sollte dies gelingen, wie eine anonyme Darstellung aus dem Postheiri46 zu zeigen versuchte (Abb. 5): Um Mutter Helvetia und deren Tochter – die Bundesrevision – tanzen die Kantonskinder. Sie haben ihren Kreis geöffnet, um die unzufriedenen Katholisch-Konservativen wieder in ihn aufzunehmen. Interessant an dieser und ähnlichen Darstellungen ist, dass der Bund weiblich, die Kantone dagegen männlich dargestellt werden. Das feminine Symbol der Helvetia erscheint als Abstraktum, als übergeordnete Idee, die maskulinen Symbole dagegen als Konkretum, als handelnde Einheiten.47 Daraus lässt sich folgern, dass der Bund Bestand hat, unabhängig davon, wie viele Kantonskinder den Kreis um

45 Anonym um 1612. 46 Die von Alfred Hartmann herausgegebene satirische Zeitschrift Der Postheiri. Illustrierte Blätter für Gegenwart, Öffentlichkeit und Gefühl erschien in den Jahren 1845-1875 in Solothurn. Insbesondere wegen ihrer Karikaturen zählte sie zu den bekannteren Zeitschriften des 19. Jahrhunderts und war über die Region Solothurn hinaus bekannt. 47 Wenk 1996, S. 105. Vgl. auch Warner 1985.

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das Zentrum herum schließen. In diesem Sinn verlieren die Einzelstaaten und folglich auch die Bruderzwiste unter den Kantonen an Relevanz.48 Unterstützt wird dieser Befund durch die Feststellung, dass im späten 19. Jahrhundert das Verhältnis von Bund und Kantonen oftmals so wie hier in ein Verhältnis von Alt und Jung gestellt wurde. Dabei erhielt die im Grunde genommen noch junge Nation das Prestige des Erwachsenenalters zugesprochen. Helvetia erscheint so in der Regel »als das ältere Wesen, obwohl die ›Kinder‹ im Grunde vor ihr auf der Welt waren.«49 Die Mutter-Kind-Kombination verweist also in diesen Bildern auf den Bedeutungsverlust der kantonalen Staatlichkeit.

Abb. 5: Revisionsreigen (anonyme Karikatur aus »Der Postheiri. Illustrirte Blätter für Gegenwart, Öffentlichkeit und Gefühl«, 1874). Die Idee der natürlichen Vormachtstellung des Bundes gegenüber den Kantonen liegt auch jenen Bildern zugrunde, die den eidgenössischen Bund als Baum – meist als Eiche – darstellen.50 Dabei symbolisiert der Stamm den Bund, die halbkreisförmig ausgebreiteten Äste sind die Kantone. Auch da wird die Logik von Alt und Jung aus Argumentationsgründen umgekehrt.51 48 49 50 51

Vgl. z.B. auch die um Frau Helvetia streitenden Männer in Jenny 1891, [S. 5]. Kreis 1991b, S. 23f. Vgl. etwa Bühler 1891. Anfangs des Jahrhunderts wurde der Bund nicht als Stamm, sondern als Baumkrone dargestellt, die Urkantone dagegen als Wurzeln. Vgl. Anonym nach 1815.

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Die bündische Vormachtstellung kann sich in diesen Darstellungen überdies aus der perfekten Ordnung, geschaffen durch Kreis und Mitte, ergeben. Die Ikonographie des Wappenkranzes funktioniert so auch dann, wenn sie in anonymisierter Form dargestellt wird – zum Beispiel auf der 1871 geprägten gesamteidgenössischen Silbermünze:52 Hier ist es ein Kranz von 22 Sternen, der die Helvetia umgibt, wobei wohl nicht unbedeutend ist, dass Helvetias Kopf in der Mitte, also an prominenter Stelle in den Kreis eingefügt ist. Die in der Sternenkonstellation ausgedrückte kosmische Harmonie53 legitimiert den Bund und lässt die oben beschriebene Rangordnung der Kantone im Wappenkranz verschwinden. Der politische Konflikt um die Organisation der Herrschaft generierte selbstverständlich seine Gegenbilder zu den Harmoniedarstellungen der Eidgenossenschaft – ein Beispiel dafür wurde schon genannt. Auch diese Bilder können vor dem Hintergrund des Wappenkranzmotivs gelesen werden, das die ikonographische Selbstdarstellung der Eidgenossenschaft über Jahrhunderte hinweg geprägt hat: Während die traditionellen Kreisdarstellungen Eintracht und Vollkommenheit (concordia) suggerieren, läuft das Narrativ dieser Gegenbilder, wie schon angedeutet, auf Chaos und Kräfteungleichgewicht (discordia) hinaus. Es sind Darstellungen von zerbrochenen oder unvollständigen Kreisen sowie von Kreisen, deren Mitte entweder inhaltslos oder aber zu prominent ist. Die Karikatur von Heinrich von Arx aus dem Jahr 1833 zur Revision des Bundesvertrags (Abb. 6) etwa kritisiert die kantonale Eigenstaatlichkeit respektive die Schwäche der bündischen Institutionen gegenüber den Kantonen: Während die kantonalen Vertreter je ihre eigene Milch ins Sieb der Kommissionsarbeiten schüt-

Abb. 6: So kann es nicht zur Revision kommen! (Heinrich von Arx, 1833). 52 Das Motiv trat schon in der Zeit vor 1850 auf, beispielsweise in Münzentwürfen von Antoine Bovy (abgebildet in Campagnolo 1999: Fig. 11b, 14, 15, 17 und Rivaz 1999: S. 97, 100). Für weitere Ausführungen zu dieser Silbermünze vgl. Haas 2016. 53 Zur Relevanz des Sternenkonstellation-Motivs zur Beschreibung föderaler Ordnungen vgl. Auderset 2016.

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ten, wird der Bundesvertrag, über dem das Sieb aufgestellt ist, allmählich aufgeweicht; die gesamte Brühe fliesst unten in einem Rinnsal wieder davon. Die zentrale Institution des Bundes ist hier wie im Wappenkranz mittig dargestellt, aber zum nutzlosen, da löchrigen Sieb reduziert: die Kommissionsarbeiten zur Erneuerung des Bundes laufen ins Leere. Nicht nur die Mitte, sondern auch der Kreis der im Bund zusammengeschlossenen Einzelstaaten ist brüchig, denn während die Mehrzahl der Kräfte zwar um das die bündischen Institutionen versinnbildlichende Sieb stehen, sind die Tonangeber bei den Liberalen und die extrem konservativen Kräfte je links und rechts an den Bildrand gerückt: Berner Bär und Aargauer Krieger links im Bild verspotten die katholischen Herrschaften rechts. Der eidgenössische Kreis souveräner Akteure driftet auseinander. So fehlt hier der Concordia-Gedanke, der im Wappenkranz seinen ikonographischen Ausdruck gefunden hat: Die kantonalen Differenzen verhindern den Fortschritt und verunmöglichen es, zu einer funktionstüchtigen Einheit zusammenzufinden. Während von Arx die Schwäche der gesamteidgenössischen Institutionen bemängelte, konstatierte eine anonyme Karikatur im Postheiri aus dem Jahr 1850 dagegen eine bündische Übermacht, die den Verlust der kantonalen Vielfalt zur Folge hat (Abb. 7). Die Karikatur thematisiert die schweizerische Münzreform, im Zuge derer die kantonalen Münzen durch das Einheitsgeld des Schweizer Fran-

Abb. 7: Wie die alten Schweizerbatzen... (anonyme Karikatur aus »Der Postheiri. Illustrirte Blätter für Gegenwart, Öffentlichkeit und Gefühl«, 1850).

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kens ersetzt wurden. In der Karikatur erscheint der Bund als Schmelztiegel mit Sogwirkung, der die einzelörtische Souveränität und mit ihr auch die kantonale Freiheit und Eigenheit zerschmelzen lässt – versinnbildlicht im Wappen des Kantons Waadt mit der Aufschrift »Liberté et Patrie«54, das eben im Tiegel versinkt. Im Glauben an die läuternde Wirkung eines Bads im Schmelztiegel geben sich die souveränen Kantone in der Schweizerischen Eidgenossenschaft selbst auf. Die eidgenössische Mitte wird zum alles verzehrenden Feuer. 5. Eine Identitätsdarstellung: Konsolidierung des Bundesstaats Ab den 1870ern und nochmals verstärkt ab den 1880er Jahren setzte eine neue Entwicklung ein: Die Ikonographie des Wappenkranzes wurde teilweise entpolitisiert und fand Eingang in die Bildsprache des Alltags. Akteure von Wirtschaft und Tourismus entdeckten sie zu Zwecken der Vermarktung von Schweizer Produkten; insbesondere auf Postkarten wurde der Wappenkranz zum viel verwendeten Rahmen regionaler Sujets.55 Parallel dazu nahm das folkloristische Interesse an Brauchtum und Tradition zu: Auf der Suche nach einer Schweizer Identität entdeckte man deren Vielfalt. So prägen Variationen des Wappenkranzmotivs Publikationen zur Schweizer Kultur, etwa wenn sich Trachtenfrauen neben oder anstatt der kantonalen Herrschaftszeichen im Kreis um Darstellungen aus dem schweizerischen Geschichtsmythos oder um schweizerische Erinnerungsorte reihen.56 Diese haben die Zeichen einer politisch gedachten, abstrakten Mitte verdrängt. Das Motiv wurde aber auch zum Handlungsrahmen von Gesellschaftsspielen, etwa wenn die Spieler auf eine spiralförmige Reise durch die Schweiz geschickt wurden mit dem Ziel der Bundesstadt Bern.57 Das Zentrum wird hier zum Anziehungspunkt, die peripheren Spielfelder haben lediglich die Funktion, dem Spieler einen Überblick über seine Heimat – die Schweiz – zu verschaffen. Auf diese Weise wurde das Wappenkranzmotiv vordergründig entpolitisiert, der politische status quo aber auch konsolidiert: Die Eidgenossenschaft wurde als eine kulturell vielfältige, machtpolitisch aber weitgehend unumstrittene Einheit dargestellt. Dabei war zunehmend unbedeutend, wie diese Vielfalt auszusehen hatte – das Reihungsprinzip der Kantone verlor im ausgehenden 19. Jahrhundert an Bedeutung. So häuften sich etwa Reihungen nach dem Eintritt der Kantone in den Bund, das heißt mit den Urkantonen an der Spitze, oder in alphabetischer Folge.58 Auch waren für diese Zeit Darstellungen nicht unüblich, bei denen sich die Wap-

54 »Freiheit und Vaterland«. 55 Davon zeugt etwa die umfangreiche Ansichtskartensammlung der Zentralbibliothek in Solothurn. 56 Vgl. z.B. Anonym um 1890. 57 Vgl. Lips um 1880. 58 Vgl. z.B. Anonym 1903.

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pen nicht kreisförmig, sondern in wilder Anordnung um oder neben ein zentrales Sujet positionierten.59 Differenzen wurden also weiterhin ikonographisch thematisiert, doch geschah dies zunehmend in einer Form, die die Bedeutung der Bundesinstitutionen im Wesentlichen zementierte oder wenigstens nicht in Frage stellte. In diesem Sinne erfolgte ab den 1870er Jahren eine Verschiebung in der Machthierarchie von den Einzelstaaten hin zur weiträumigeren Handlungseinheit des Bundes.

Abb. 8: Souvenir de la première alliance des confédérés (Christian Bühler, 1891). 59 So häufig auf Postkarten, vgl. z.B. Anonym 1904.

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Mit dem bundesrätlichen Beschluss von 1899, einen jährlich wiederkehrenden Bundesfeiertag einzuführen, schloss sich in gewisser Hinsicht ein Kreis: Die Feier in Andenken an den anfangs August 1291 unterzeichneten Bundesbrief relativierte gleichsam die Bedeutung der Befreiungsgeschichte rund um die Figur des Wilhelm Tell als einer Geschichte des revolutionären Widerstands gegen tyrannische Obrigkeiten.60 Genau wie der Entscheid für die Einführung des Wappenkranzes als Bundessiegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts war auch die Einführung der 1. August-Feier eine Rückbesinnung auf die vertraglichen Ursprünge der Schweiz: In beiden Fällen wurde ein Bezug geschaffen zum Landfriedensbündnis souveräner Kleinstaaten, dem der Concordia-Gedanke zugrunde lag (Abb. 8). Während die eidgenössischen Orte aber um 1800 unter anderem mangels einer konsensfähigen Identitätsrepräsentation auf das frühneuzeitliche Kranzmotiv rekurrierten, war das Motiv am Ende des 19. Jahrhunderts zugleich politisches Programm: Der Konsens bestand nicht darin, dass sich die Eidgenossenschaft als bloße Summe aller Einzelteile verstand, vielmehr ergab sich ihr Charakter erst aus der Überlappung verschiedener Herrschaftsräume.61 Differenz war Identität geworden. 6. Fazit und Ausblick Die Attraktivität des Kranzmotivs als politisches Symbol liegt zum einen in seinem Vermögen, dem Spannungsverhältnis von Differenz und Konsens, wie es in föderalen Herrschaftsordnungen zutage tritt, ikonographisch Ausdruck zu verleihen. Zum anderen lässt das Motiv Raum, ganz unterschiedliche Mächteverhältnisse und Machtansprüche darzustellen. Seine Modifizierbarkeit und das Potenzial des Spiels mit der Spannung von Zentrum und Peripherie, von Eingrenzung und Ausschluss sowie die Möglichkeit, den Kreis beliebig zu erweitern oder zu reduzieren, macht ihn nutzbar für das gesamte Spektrum von der Differenz- bis zur Einheitsrepräsentation. So hat der Wappenkranz nicht nur in der föderalen Eidgenossenschaft Verwendung gefunden. Auch die Niederlande62, die USA63 oder die Europäische Union bedienten sich in ihrer Selbstdarstellung Varianten dieses Motivs. Die Spezifik des eidgenössischen Falls ist, dass der Wappenfries über eine besonders lange Zeitspanne – vom 14. Jahrhundert bis heute – als ikonographische Referenz zur Darstellung der eidgenössischen Machtordnung diente, und zwar relativ unabhängig von der jeweiligen politischen Verfasstheit der Schweiz. Damit einher geht zweitens, dass das Motiv in dieser Zeitspanne in sehr unterschiedlichen Varianten verwendet wurde. Und spezifisch eidgenössisch ist drittens, dass das Zentrum im Kreis – die Bundesinstitutionen – mit fortschreitender Geschichte

60 Kreis 2006. Vgl. auch Kreis 1991a. 61 Vgl. dazu auch Holenstein 2014, S. 200. 62 Vgl. z.B. Medaille auf den Westfälischen Frieden 1648, abgebildet in de Capitani 1991a, Abb. 163. 63 Vgl. z.B. 1 Dollar 1776, abgebildet in de Capitani 1991a, Abb. 178.

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an Bedeutung gewann und das Motiv schließlich der bildlichen Darstellung des schweizerischen Nationalstaats diente. Gewissermaßen als Gegenbeispiel dazu kann die ikonographische Darstellung der Europäischen Union herhalten. So ist es bezeichnend, dass sich die Europäische Union im goldenen Sternenkranz auf blauem Hintergrund als föderale Ordnung ohne Zentrum imaginiert: Hier soll gerade nicht eine politische Ordnung dargestellt werden, die im Kern auf eine staatliche Verfasstheit verweist. Die Brüsseler Institutionen wollen gegenüber der Peripherie weniger stark gewichtet werden, als dies in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert der Fall war. Vielmehr wird im europäischen Kontext der Unionsgedanke stark gemacht.64 In beiden Fällen aber soll das (letztendlich durchaus komplexe) Kranzmotiv die Integrationsfähigkeit und Funktionsweise föderaler Ordnungen bildlich darstellen. Quellenverzeichnis [Schweizerische Eidgenossenschaft] 1815. Bundes-Vertrag zwischen den XXII. Cantonen der Schweiz. Zürich: Orell, Füssli und Comp. Schweizerische Nationalbibliothek: nbdig-10550, http://www.e-helvetica.nb.admin.ch/directAccess?callnumber=nbdig-10570 (Zugriff vom 11.5.2016). Anonym 1903. [Hinter-Weissenstein]. Basel: Gebrüder Metz. Ansichtskartensammlung der Zentralbibliothek Solothurn: ZBS_P_ 00998. Anonym 1904 (Poststempel). [Olten. Kirchenplatz]. Zürich: Edition Heinrich Alter. Ansichtskartensammlung der Zentralbibliothek Solothurn: ZBS_P_04331. Anonym nach 1815. Eidgenössischer Stammbaum, in Remak 1997, S. 22. Anonym um 1612. »Wunder Schweizerland, wertherster Freyheit höchste Zier«, in: Maissen 2006, S. 271. Anonym um 1677. Libertas Helvetiae, in Boerlin-Brodbeck 1998, S. 1. Anonym um 1890. [Randleiste mit Schweizer Trachten]. O. O. Zentralbibliothek Zürich: Trachten III, 1, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-36737 (Zugriff vom 3.1.2017) Bonaparte, Napoléon I 1803. Acte de Médiation fait par le Prémier Consul de la République française, entre les partis qui divisent la Suisse. Bern: Amedé Staempfli. Schweizerische Nationalbibliothek: nbdig-2702, http://www.e-helvetica.nb.admin.ch/directAccess?callnumbe r=nbdig-2702 (Zugriff vom 27.10.2016). Etterlin, Petermann 1507. Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft Jr harkommen und sust seltzam strittenn und geschichten. Basel: Furtter, S. [16]. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 2 Gs 253, http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12bsb11196795-8 (Zugriff vom 2.1.2017). Jenny, Heinrich 1891. »Landesmuseum«, in Der Nebelspalter 17, 2, [S. 5]. Schweizerische Nationalbibliothek: GLOB7619, http://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1891:1 7#1314 (Zugriff vom 1.12.2016). Lips, Jakob F. F. um 1880. Reisespiel durch die Schweiz. Bern: R. Jenni’s Buchhandlung (H. Köhler). Schweizerische Nationalbibliothek: nbdig-26495, http://permalink.snl.ch/bib/sz00 1773199 (Zugriff vom 4.6.2016). Stadt Zürich 1512. [Taler]. Zürich: Paul Sitkust. Schweizerisches Nationalmuseum: Inv. Nr. LM-GU310.

64 Vgl. z.B. Mazé 2014, S. 72f.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Schweizerisches Nationalmuseum: Foto Nr. DIG-7038. Abb. 2: Schweizerisches Nationalmuseum: Foto Nr. GBE-92578. Abb. 3: ZHB Luzern: Sondersammlung. Abb. 4: Bernisches Historisches Museum: Foto Stefan Rebsamen. Abb. 5: Bibliothèque de la Ville de la Chaux-de-Fonds. Abb. 6: ZHB Luzern: Sondersammlung. Abb. 7: Aargauer Kantonsbibliothek. Abb. 8: Schweizerische Nationalbibliothek: Graphische Sammlung (Heraldik).

Anna Chwialkowska und Lena Sophia Schacht

Drei Epochen, drei Regime, ein Symbol. Ikonographische Übernahme und Abgrenzung zur Legitimierung von Herrschaft am Beispiel der römischen Obelisken

1. Einleitung Ob Kairo, Kiew, London, Moskau, Nairobi, Paris, Warschau, Washington, Singapur, Wien oder Rom: Obelisken sind häufig auftretender Bestandteil der Architektur politischer Herrschaftszentren. Dieser Umstand führte dazu, sich die Frage nach der Bedeutung dieser architektonischen Besonderheit zu stellen. Was hat ein ursprünglich ägyptisches Bauwerk in den unterschiedlichsten politischen Zentren verloren? Welche Bedeutung wird den »Nadeln des Pharao«1 zugeschrieben, welche Symbolik ist so verallgemeinerbar, dass der Obelisk zu einer kosmopolitischen Konstante von Hauptstadtbildern geworden ist? Innerhalb der letzten Jahrzehnte widmet sich die Politikwissenschaft verstärkt dem Zusammenhang von Architektur und Politik.2 Auch die innerhalb dieses Themenkomplexes sehr spezifische Bedeutung von Hauptstädten3 rückt immer mehr in den Fokus wissenschaftlichen Interesses. Die Forschung zu Obelisken beschäftigt sich hingegen, abgesehen von wenigen Ausnahmen,4 schwerpunktmäßig mit Herkunft und Bedeutung dieser Bauwerke, vor allem im Alten Ägypten; der politische Aspekt in Bezug auf ihre konkrete Situierung in Hauptstädten findet hierbei weniger Beachtung. Dieser Artikel unternimmt den Versuch, eine Brücke zwischen diesen Feldern zu schlagen, indem Obelisken als Objekte politischer Architektur innerhalb einer Hauptstadt zu unterschiedlichen Zeiten untersucht werden. Es soll gezeigt werden, inwieweit Obelisken als Kontinuum der auf Übernahme und Abgrenzung begründeten Macht- und Herrschaftsarchitektur verschiedener Regime betrachtet werden können. Die Analyse widmet sich aus mehreren Gründen ausschließlich der Stadt Rom: Einerseits prägt die schiere Anzahl an Obelisken das römische Stadtbild maßgeblich und verlieh ihr nicht zufällig den Beinamen »Stadt der Obelisken«, andererseits diente Rom im Laufe seiner Geschichte als Hauptstadt verschiedenster Regime und eignet sich daher in besonderem Maße für die vergleichende Analyse der politischen Architektur unterschiedlicher Herrschaftssysteme. Anhand dieses einzelnen Beispiels ist es somit möglich, die vermutete Kontinuität trotz oder gerade wegen der immensen Kontextunterschiede zu untersuchen. 1 2 3 4

Curran et al. 2009, S. 61. Vgl. Braunfels 1988, Vale 2008 et al. Vgl. Hall 2006; Minkenberg 2014; Rapoport 1993; Vale 2014 et al. Vgl. Barnes 2004; Curran et al. 2009; Grafton 2002; Habachi 1988; Sorek 2010.

Drei Epochen, drei Regime, ein Symbol

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Ausgehend von einer knappen Einführung zum Zusammenhang von Politik, Macht, Herrschaft und Architektur wird auf die Entstehung des Bauwerks Obelisk sowie die Interpretationen seiner Bedeutung zu Zeit seiner Aufrichtung eingegangen. Im Anschluss folgt die Analyse anhand eines diachronen Vergleichs, der sich mit der Rolle der Obelisken und ihrer Nutzung in verschiedenen Regimen auseinandersetzt. Gewählt wurden drei für den Untersuchungsgegenstand besonders aussagekräftige Regime: das kaiserzeitliche Rom, jenes der Päpste und Herrscher des Kirchenstaates sowie das Regime Benito Mussolinis zu Zeiten des italienischen Faschismus. Diese drei Herrschaften, die Rom zur Hauptstadt ihres Regimes erwählten, unterschieden sich fundamental. Nicht nur der Aufbau des Staates, sondern auch die gesellschaftliche Ausgestaltung sowie kulturelle und religiöse Faktoren variieren in den drei Epochen grundlegend. Im Laufe der Analyse werden deutliche Unterschiede in der Verwendung der Obelisken aufgezeigt; gleichzeitig wird herausgestellt, wo die Gemeinsamkeit im Umgang mit diesen Bauwerken liegt. Es wird sich zeigen, dass eine Funktion den Obelisken immer inhärent war: ihre Symbolisierung politischer Macht und Herrschaft. Aus unterschiedlichen Verwendungsweisen der Obelisken seitens der jeweiligen Herrschenden kristallisiert sich aus einer allgemeinen Machtsymbolik des Bauwerks die jeweils spezifische Herrschaftsarchitektur der einzelnen Regime heraus: Es ergibt sich eine duale Situation der ikonographischen Verwendung der Obelisken, in der gewollte Abgrenzung und Differenzrepräsentation durch Umdeutung bei gleichzeitiger Identitätsrepräsentation durch Vereinnahmen der Bauwerke als ikonographische Herrschaftsmarker gemeinsam auftreten. 2. Politik und Architektur: Macht, Herrschaft und die Hauptstadt Politik und Architektur sind eng verwobene Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens. In seiner Überlegung zum »locus« politischer Macht betont der Urbanist und Architekturwissenschaftler Lawrence J. Vale, dass die Nutzung der physischen Umwelt als Teil der Demonstration politischer Macht betrachtet werden kann.5 Diesem Umstand sei geschuldet, dass sich die Form eines politischen Regimes in baulichen Maßnahmen, also in der politischen Architektur, widerspiegelt.6 Folgt man Minkenberg, so kann die Beziehung zwischen Politik und Architektur auf zwei grundverschiedene Arten betrachtet werden.7 Eine Interpretation des Zusammenhangs leitet sich aus der Annahme ab, dass die architektonischen Symboliken eines politischen Regimes eine Reflexion der dahinter liegenden Ideologien darstellen.8 Nützlichkeit des Bauwerks speist sich nicht nur aus pragmatischer Funktionalität, sondern gleichzeitig aus der öffentlichen Widerspiegelung 5 6 7 8

Vgl. Vale 2008. Vale 2008, S. 3. Vgl. Minkenberg 2014. Vgl. ebd., S. 2.

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der politischen Idee.910 Bei genauerer Betrachtung kann dieser Ansatz jedoch kaum genügen. Architektur ist jeder politischen Herrschaft von Nutzen, um Vorstellungen und Aufbau des politischen Systems anzuzeigen und zu propagieren. Muss man also nicht davon ausgehen, dass auch die Architektur an sich eine Wirkung ausübt, die über die reine Spiegelung herrschaftlich intendierter Symbolik hinausgeht? Der zweite Interpretationszugang folgt dementsprechend einer umgekehrten Logik: Nicht die politische Idee formt die Architektur, sondern die Architektur trägt selbst zur Ausgestaltung der politischen Sphäre bei.11 Hier wird Architektur unabhängig von ihrer möglichen Nutzbarmachung als künstlerischer Akt betrachtet, der durch Kreation von Symboliken auf den Betrachter, im politischen Falle auf das Volk, wirkt. Vereinfacht könnte man sagen, dass es um eine architektursoziologisch umstrittene Betrachtungsweise geht: Ist Architektur der Spiegel von Politik und Herrschaft oder dient sie als Medium, hat somit eine Wirkung auf das politische System und auf die dazugehörige Gesellschaft?12 Im letzteren Falle wird der Architektur ein Akteurscharakter zugesprochen; anstatt ihren Nutzen aus »bloßer« Widerspiegelung politischer Ideologie zu generieren, tritt sie gleichsam als Medium dieser auf und wirkt selbst: beispielsweise durch Schaffung des Glauben an die Legitimität einer Herrschaft.13 Grundlegend für die vorliegende Analyse ist der Umstand, dass sich politische Herrschaft von politischer Macht abgrenzen lässt: Während Macht bedeutet, dass man Gehorsam zu erzwingen weiß, zeichnet sich politische Herrschaft durch die zusätzliche Komponente des Legitimitätsglaubens aus.14 Den Einsatz von Architektur seitens eines politischen Regimes kann man, so die folgende Argumentation, am Punkt der Legitimitätsbeschaffung verorten: Die Genese eines Legitimitätsglaubens soll durch Demonstration der eigenen Macht erfolgen, die Architektur ihren Teil – als Spiegel und als Medium – zur Konstituierung und Implementierung legitimer Herrschaft leisten. Es wird davon ausgegangen, dass diese Funktion von Architektur sich als Kontinuum der politischen Herrschaftsbeschaffung und -erhaltung wiederfindet. Gerade im Falle Roms lässt sich eine solche Kontinuität nachweisen. Unberührt davon, dass sich Architekturen der Macht zwischen verschiedenen Regimetypen unterscheiden, wird angenommen, dass der vermutete Zusammenhang von Politik, Macht, Herrschaft und Architektur jedes Regime prägt. Zur Untersuchung dieses Phänomens eignet sich zudem die Hauptstadt ei-

9 10 11 12 13 14

Vgl. ebd., S. 2; Vale 2008, S. 3. Vgl. Grabowska-Palecka 1993, S. 111. Vgl. Minkenberg 2014, S. 2. Vgl. Delitz 2005, S. 8-11. Vgl. Glaser 2013, S. 15, Weber 1972, S. 122. Vgl. Weber 1972, S. 122; ders. 1973, S. 443-446.

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nes Regimes durch ihre zentrale politische Bedeutung in besonderem Maße für die Analyse politisch aufgeladener Ikonographie.15 Anhand der römischen Obelisken wird zweierlei dargestellt werden: Einerseits ihre Wirkung als Symbol politischer Macht, andererseits die durchaus unterschiedliche Nutzung der römischen Obelisken als Werkzeug der jeweiligen Herrschaft, die sich durch die Wiederverwendung der inhärenten Symbolik der Bauwerke sowohl durch Reminiszenz als auch durch Abgrenzung auszeichnet. Eine zusätzliche Bedeutungskomponente bekommen die Bauwerke mit Ernst Vollraths Konzepten von »Identitätsrepräsentation« und »Differenzrepräsentation«.16 Identitätsrepräsentation, also Gleichstellung und Vereinheitlichung des Willens der Herrschenden und der Beherrschten, welche oft als Ideal der Demokratie angesehen wird, ist nach Vollrath potenziell gefährdet in einen Totalitarismus abzudriften.17 Die Pluralität von Meinungen und Menschen, also ein auf Differenz basierendes Konzept, welches Vollrath als Fundament des Regierungssystems der Republik identifiziert, 18 sei hingegen die Basis einer Verfassungsdemokratie. In der Ikonographie von Obelisken werden beide Konzepte verwoben: Wurden sie als Mittel eingesetzt, um ein einheitliches Herrschaftssystem zu repräsentieren, waren sie als »fremde«, weil dekontextualisierte Objekte, gleichzeitig Zeichen von Pluralität kultureller Symbole, ergo eine Repräsentation von Differenz. Andererseits sollten gerade durch Abgrenzung von ehemaligen politischen und kulturellen Ideen, also die betonte Differenzierung von früheren (Regierungs-) Systemen bei der Verwendung des gleichen Symbols, eigene identitäre politische Ziele herausgestellt werden. 3. Der Obelisk: Ursprung, Verwendung und Deutung Die tatsächliche Ursprungsgeschichte der Obelisken ist unklar, es gibt jedoch archäologische Theorien, die eine Abstammung ihrer Form vom pyramidenförmigen benben-Stein vermuten, einem in der ägyptischen Mythologie zentralen, heiligen Stein.19 Laut ägyptischem Mythos stammt dieser vom »Urhügel« ab, dem ersten Stück Land, das aus den Urgewässern auftauchte und von welchem aus die Götter das Land betraten.20 15 Amos Rapoport (1993, S. 32, 57) stellt heraus, dass sich Hauptstädte im Allgemeinen von anderen Städten unterscheiden: Neben ihrer starken Zentralisierungsfunktion spiele die Außendarstellung von Symbolen nationaler Identität, Macht und Status durch politische Architektur eine entscheidende Rolle innerhalb von Struktur und Bedeutung einer Hauptstadt. Politische Architektur fungiert somit als Medium und Spiegel politischer Struktur und politischen Inhalts (Minkenberg 2014, S. 2); vgl. Vale 2014, S. 31. 16 Vgl. Vollrath 1976, 1993 und 2003. 17 Vgl. ders. 1976 und 2003. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. Batta 1986; Curran et al. 2009; Habachi 1988. 20 Vgl. Batta 1986, S. 15-16.

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Ein Obelisk sollte aus einem einzigen Stein entstehen, der auf dem Grund ein Quadrat bildet, das zur Spitze hin schmaler wird und mit einem Pyramidion gekrönt ist. Pharaonen und Könige ließen die Obelisken mit personalisierten Inschriften versehen, mitunter auch um eine direkte Verbindung zwischen dem Herrschenden, der ihn aufgestellt hatte, und dem Sonnengott Amun Re, dem er geweiht wurde, zu schaffen.21 Zu Anfang einer Herrschaftsperiode war es üblich, die Inschrift der Vorgänger zu entfernen und den eigenen Namen in den Obelisken zu meißeln. Damit begründeten die Pharaonen eine Praxis der bewussten Anknüpfung an, sowie gleichzeitiger Abgrenzung von ihren Vorgängern, die auch in späteren Epochen der Obeliskennutzung eine zentrale Rolle spielen sollte.22 Wurden die Obelisken zwar einerseits auf pragmatische Art und Weise als Sonnenuhren verwandt,23 wurde und wird ihnen gleichzeitig eine Bandbreite an möglichen Bedeutungen zugeschrieben.24 Beispielweise galten sie ob ihrer Form und Weihung als symbolische Sonnenstrahlen25 oder wurden als Bildnisse »des ewigen Lebens« interpretiert.26 Nach der Verbreitung der Freudschen Theorie blieb auch der Obelisk nicht von ihr verschont: Eine bis heute beliebte Interpretation ist dementsprechend die des Phallussymbols mit gleichzeitiger Konnotation der vertikalen Formsprache als männliche Machtsymbolik.27 Auch wenn der Bezug zur altägyptischen Fruchtbarkeitssymbolik nicht abwegig sein mag,28 verspricht diese Interpretation wenig Gewinn für die vorliegende Analyse. Vertikale Strukturen zeugen von einer universellen Machtsymbolik, die eher mit der normativen Bewertung von Vertikalität in der Architektur zusammenfällt, als mit dem männlichen Glied.29 Vertikalität ist fester Bestandteil architektonischer Gestaltung; sie zwingt den Betrachter seinen Blick von unten nach oben zu richten und verbindet so physische Wahrnehmung mit dem Konzept der mentalen Räumlichkeit. Diese Verknüpfung lässt uns die wahrgenommene Architektur in ein normatives Schema ordnen, in welchem das ›Oben‹ einer wertvolleren Konnotation anheimfällt als das ›Unten‹.30 Laponce begründet diese Wertung durch einen biologistischen Wider21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Curran et al. 2009, S. 17-18. Ebd., S. 21. Barnes 2004, S. 135-139. Zu einer Zusammenfassung aller möglichen Theorien siehe ebd., S. 133-149. Vgl. Curran et al. 2009, S. 14. Batta 1986, S. 11. Vgl. Kuhlmann 2003, S. 66-82; Mumford 1989 [1961], S. 13. Im ägyptischen Entstehungsmythos onaniert der Schöpfergott Atum, um die Elemente Luft und Feuchtigkeit zu erzeugen (vgl. Batta 1986, S. 17). Weitere Zusammenhänge kann man in dem Glauben an den Zusammenhang zwischen dem morgendlich erigierten Penis des Pharao und dem Sonnenaufgang (also dem Sonnengott) erkennen (vgl. Barnes 2004, S. 139). 29 Vgl. Kuhlmann 2003, S. 76. 30 Vgl. Laponce 1981, S. 5.

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spruch: Zum einen zentralisiere sich unsere Sinneserfahrung im oberen Teil unseres Körpers; zum anderen lasse uns die Wirkung der Schwerkraft niemals nach dem »Himmel greifen«.31 Im transkulturellen Vergleich nicht-westlicher Zivilisationen wird deutlich, dass die positive Konnotation des oberen und die Geringschätzung des unteren Raumes beinah universell ist.32 4. Transposition Die Praxis des Umstellens architektonischer Bauten, auch Translokation oder Transposition genannt, hat gerade im Hinblick auf die Obelisken weitreichende Konsequenzen für die vorliegende Analyse. Diese Verschiffungs- oder Versetzungsleistung betrifft nahzu alle Obelisken Roms, einige wechselten sogar nicht nur einmal, sondern zweimal oder öfter ihren Standort. Obwohl die Römer nicht die Ersten waren, die Obelisken importierten (und später innerhalb der Stadt umstellten),33 so waren es doch sie, die den Trend für die nächsten 2000 Jahre setzten. Im Folgenden wird die These aufgestellt, dass nicht nur das Errichten der Steingiganten ein Mittel zur politischen Machtdemonstration ist, sondern gerade die Transposition als Teil der Herrschaftslegitimation der römischen Herrscher der drei Epochen gilt. Unter römischer Herrschaft wurde Ägypten geplündert; als das Interesse an Kultur und Geschichte des eroberten Landes stieg, begann man auch kulturelle und sakrale Güter aus dem Land hinaus zu schaffen – und eigens für die Obelisken Schiffe zu bauen.34 Dass es ausgerechnet die Obelisken traf, hatte wohl ursprünglich logistische Gründe: »Sicher hätten die römischen Kaiser lieber noch die riesigen Tempel mit ihren kolossalen Säulen demontiert, doch waren ihnen Grenzen gesetzt. Die Obelisken hingegen waren gerade noch zu bewältigen«.35 Die technischen Umstände sind ausschlaggebend für die Analyse der Bedeutung der Obeliskennutzung innerhalb der einzelnen Epochen.36 Macht und Überlegenheit werden also nicht nur durch die Errichtung neuer Bauwerke inszeniert, sondern auch durch Wiederverwertung bereits bestehender Bauwerke. Diese Praxis wird anhand der Obelisken deutlich: Erstmals im Triumph Roms über Ägypten, später im Versuch der Päpste, die kaiserliche Bauweise zu überbieten und anschließend mit dem von Mussolini angeordnetem Transport der obeliskenähnlichen Stele aus Äthiopien. Doch wie verändern sich Objekte, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und in einen neuen »hineingepflanzt« werden? Objekte werden trotz physischer Aneignung niemals in ihrer ursprünglichen Bedeutungsbreite 31 32 33 34 35 36

Ebd., S. 71. Ebd., S. 77f. Vgl. Batta 1986, S. 18f. Ebd., S. 10; vgl. Wirsching 2000. Batta 1986, S. 11. Altekamp et al. 2003, S. 2.

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übernommen. Im Prozess der Transposition werden sie umgewertet und apropriiert, de- und neukontextualisiert. Gleichzeitig wird aber auch eine Verbindung zwischen dem alten und dem neuen Kontext hergestellt und damit das ›Fremde‹, die Differenz, in den aktuellen Bedeutungszusammenhang integriert. Dabei ist das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zielkontext wichtig.37 Im Allgemeinen distanziert sich das fortdauernde Material (Objekt) von seiner ursprünglichen Bedeutung, je mehr sich der Kontext verändert.38 Das bedeutet für den ägyptischen Obelisken aus Heliopolis, dass er im Laufe seiner Transpositionsgeschichte beispielsweise nicht mehr ausschließlich als Opfergabe für einen Gott angesehen wird (wie ehemals in Ägypten), sondern ebenfalls als Trophäe (im Römischen Reich), später dann zusätzlich als Wegmarker (im päpstlichen Rom) und anschließend als Zeichen diktatorischer Alleinherrschaft (Mussolini). Somit wird das Konzept der Bedeutungswandlung und -akkumulation sowie die so erreichte Integration von Differenz zum zentralen Bestandteil des Transpositionsvorgangs. In einer zentralen Eigenschaft widersetzt sich der Obelisk allerdings diesem Bedeutungswandel: in seiner gleichbleibenden, kontextunabhängigen Rolle als Machtsymbol einerseits und als variierendes herrschaftslegitimierendes Artefakt andererseits. 5. Die römische Kaiserzeit: »Egyptomania« und Obelisken für das Volk Die römischen Kaiser waren fleißige Obeliskenbauer und -importeure: Mitte des 4. Jahrhunderts schmückten beinahe fünfzig Obelisken die Hauptstadt des römischen Imperiums.39 Das Aufrichten von Obelisken in der römischen Kaiserzeit erklärt sich vor allen Dingen durch zwei Gründe: Einerseits aus der sich verbreitenden »Ägyptianisierung« als zeitgenössische Ästhetik in der römischen Kultur, Religion und Architektur und andererseits als Herrschaftsdemonstration des alleinigen Kaisers im Prinzipat und Dominat. Von besonderer Bedeutung für diese Analyse ist die augusteische Zeit des Prinzipats (27 v. Chr. bis 14. n. Chr.), da hier eine neue Baupolitik eingeleitet wurde, die später charakteristisch für das ganze Prinzipat wurde.40 Bereits vor der Eroberung Ägyptens 48 v. Chr. wütete im Römischen Reich die »Egyptomania«41, also die Faszination für das Alte Ägypten. Verschiedene kulturelle und religiöse Güter aus Ägypten breiteten sich in der römischen Metropole aus und vermischten sich mit dem dortigen Glaubenssystem. Vor allem der reli-

37 38 39 40

Vgl. Dittmeyer et al. 2015, S. 9f. Vgl. Altekamp et al., S. 1f. Vgl. Curran et al. 2009, S. 44. Auf die Zeit des Dominats (ca. 284 n. Chr. bis 410 n. Chr.) wird nur anhand des Lateranobelisken kurz eingegangen, da das Bauwesen nach 235 n. Chr. praktisch zum Stillstand kam (vgl. Heinzelmann 2001, Sp. 1104.). 41 Curran 1996, S. 739.

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giöse Isis und Serapis42-Kult fand in den ersten drei Jahrhunderten nach Christus besonderen Zulauf. Der Tempelbau dieser Religion war zunächst umstritten, aber 43 v. Chr. waren die Isis-Anhänger so zahlreich, dass das Triumvirat einen Isis und Serapis-Tempel auf dem Marsfeld errichtete, das Iseum Campense, das von sechs kleineren Obelisken-Statuen geschmückt wurde. Der Import und die Aufstellung der Obelisken wurde durch diese vom Exotismus durchzogene »Egyptomania« begünstigt. Das Prinzipat – nach Antritt von Augustus 27 v. Chr. als neue Regierungsform eingeführt – beruhte auf überkommenen Rechtsstrukturen der römischen Republik und der Vorrangstellung des Militärpotentaten. Augustus führte damit einen »Kompromiss« zwischen der Senatsaristokratie und einem alleinigen Machthaber ein.43 Diese Staatsform schlug sich in der Bauweise der Stadt Rom nieder: Der Kaiser war von nun an der einzige Sponsor, Bauherr und zuweilen sogar Architekt.44 Damit waren die architektonischen Tätigkeiten und die fertiggestellten Bauwerke immer ein Indikator für die Qualität der Herrschaft eines Kaisers.45 Der Kaiser, laut seiner Position als patronus des Volkes, baute für das Volk. Jene Fürsorgepflicht (liberalitas) war gleichzeitig ein Instrument zur Befriedung der politisch einflussarmen Masse.46 Die Errichtung eines Obelisken auf dem Marsfeld, dem populärsten Platz Roms, und eines weiteren im Circus Maximus, der größten Spielstätte Roms, ist Konsequenz der bürgerorientierten Bauweise des Kaisers. Der Aufstellungsort war essenziell; das Marsfeld war geeignet, da es nicht nur ein zentraler Treffpunkt der Römer war, sondern auch für Volksabstimmungen genutzt wurde. Der Obelisk, der heute vor dem italienischen Parlament auf der Piazza de Montecitorio steht, wurde 12-10 v. Chr. am Augustus-Mausoleum und seinem Friedensaltar (Ara Pacis) errichtet, um das 20-jährige Jubiläum der Eroberung Ägyptens zu zelebrieren.47 Die gigantische Sonnenuhr konnotiert außerdem die astrologischen Kenntnisse des Herrschers und wurde so geschickt platziert, dass sie an Augustus’ Geburtstag einen Schatten auf die Ara Pacis warf, angeblich als Zeichen dafür, dass ihm die Rolle des Friedensstifters angeboren war.48 Obwohl Augustus öffentlich den ägyptischen Göttern abgeneigt war, sollte es hier doch ein Zeichen 42 Isis war die Göttin des Schutzes, des Himmels und des Lebens. Ihre Tränen versorgten den Nil mit Wasser, deswegen wurde ihre Figur mit Wiedergeburt assoziiert. Sie ist die Verkörperung der Mutter, aber auch der Jungfrau. Sie wird oft als eine Kuh dargestellt. Ihr Gatte war Serapis, dessen Verkörperung der Stier symbolisierte (vgl. Curl 1982, S. 6). 43 Vgl. De Libero 2001, S. 328; Heinzelmann 2001, Sp. 1050-1106. 44 Vgl. Höcker 2001, Sp. 1006; Zanker 2010, S. 47. 45 Vgl. Heinzelmann 2001, Sp. 1100. 46 Ebd., Sp. 1102. 47 Vgl. Sorek 2010, S. 47; Wirsching 2013, S. 75. 48 Seine ehemalige Funktion als Sonnenuhr hat er interessanterweise auch heute wieder inne, nachdem er 1792 von Papst Pius VI. auf seinem aktuellen Platz errichtet wurde.

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des ägyptischen Sonnengotts sein, der seine Herrschaft gleichsam absegnete.49 Damit konnte auch die Priester-Elite Ägyptens von einem römischen Kaiser als Pharao-Nachfolger überzeugt werden.50 Der andere wichtige Augustus-Obelisk (heute Obelisco Flaminio, Piazza del Popolo) wurde 10 v. Chr. im Circus Maximus platziert – an einem Ort, der zu Lebzeiten Augustus’ besonders beliebt war. Beide Obelisken waren Zeichen des Triumphs des römischen Volkes über Ägypten und sollten die Größe des Kaisers zeigen, der fremde Länder und Schätze (vermeintlich nur) zu Gunsten des Volkes eroberte. Die genuin politische Symbolik liegt auf der Hand: Das römische Imperium unterstrich durch die Übernahme der ägyptischen Symbolik mitsamt der Abgrenzung bezüglich der Nutzung des Bauwerks die politische Überlegenheit des Reiches. Gleichzeitig wurde die altägyptische Symbolik in die kaiserliche Machtdemonstration integriert und ein fremder ikonographischer Habitus damit übernommen. Die These, dass der Prozess der Transposition von Obelisken als Teil herrschaftslegitimierender Nutzbarmachung von Architektur wirken sollte, soll mit einem weiteren Beispiel untermauert werden, nämlich dem Transport eines Obelisken aus dem damals römisch besetzen Alexandria nach Rom unter Caligula. Dieser Obelisk hat eine lange Reise hinter sich, deren Etappen verschieden ausgelegt werden.51 Laut Biermann wurde der Obelisk in Alexandria auf dem Forum Iulium von Cleopatra aufgestellt. Später hätte Augustus ihn »gezielt als Denkmal römischer Herrschaft über Ägypten vereinnahmt«, indem er ihn mit einer Innschrift zur Huldigung seines Statthalters Gallus versah.52 Der Obelisk repräsentierte schon in Alexandria ein »frühes Mahnmal demonstrativ geäußerten Herrschaftsanspruch Roms«.53 Fest steht, dass Caligula den Obelisken 37 n. Chr. von seinem Ursprungsort entfernte, ihn nach Rom transportieren ließ und im Circus Gaius aufstellte. Warum hatte Caligula diese Mühen unternommen, wenn der Monolith doch schon in Alexandria Zeichen römischer Überlegenheit war? Es lag wohl zum einen an der Faszination des Kaisers für ägyptische Mythologie; er selbst war begeisterter Anhänger des Isis-Kults.54 Zum anderen war es genau diese Tat, die Caligula mit seinem Vorbild Augustus in eine Reihe stellen sollte:55 Er entfernte ein augusteisches Machtsymbol von seinem ursprünglichen Standort und transportierte es in die Hauptstadt des Reiches. Dabei handelte es sich um den größten bis dahin nach Rom verschleppten Obelisken.56 Auch Caligula richtete seinen ersten Obelisken in einem Circus auf, dem Circus Gaius, der 49 50 51 52 53 54 55 56

Vgl. Sorek 2010, S. 49. Vgl. Wirsching 2013, S. 76. Vgl. Batta 1986, S. 24f.; Biermann 2013, S. 124f.; Curran et al. 2009, S. 36. Biermann 2013, S. 124. Ebd. Vgl. Sorek 2010, S. 60. Vgl. Biermann 2013, S. 12. Das Schiff, das eigens für diesen Zweck gebaut wurde, war so prächtig, dass Plinius der Ältere (23/24 n. Chr. bis 79 n. Chr) sich beim Ortswechsel des Obelisken haupt-

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später als Circus Nero bekannt wurde. Das Mittel der Transposition wurde hier eingesetzt, um (technologische) Überlegenheit zu demonstrieren, aber auch um sich mit dem beliebtesten Kaiser Roms gleichzusetzen. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass der Transport in die Hauptstadt einer Aufwertung der Herrschaftssymbolik gleichkommt, da genau hier sich die Herrschaft des gesamten Reiches zentralisierte. Der Obelisk wurde später Zeitzeuge der grausamsten Spektakel: Unter Caligula und vor allem unter Nero wurden im Circus Gai et Neronis unzählige Menschen, hauptsächlich Christen, brutal hingerichtet.57 Umso erstaunlicher ist, dass dieser Obelisk heute, mit einem Kreuz geschmückt wie ein christliches Heiligtum, in der Mitte des Petersplatzes thront, worauf später eingegangen wird. Sowohl die ägyptischen Einflüsse in Rom zur Kaiserzeit als auch die Art der kaiserlichen Bauweise der Machtrepräsentationen zeigen, dass Obelisken nicht nur Größe der Kaiser demonstrieren sollten, sondern auch als Instrument genutzt wurden, um ihre Herrschaft zu legitimieren.58 Die »gestohlenen« Obelisken wirkten als Marker von Stärke und Überlegenheit Roms über das eroberte Reich Ägypten: Indem sie ihr »Allerheiligstes« stahlen und sich aneigneten, bewiesen sie nicht nur technologische Überlegenheit (durch den aufwändigen Transport der Obelisken über das Mittelmeer) sondern suchten auch, durch die direkte Verbindung mit dem Sonnengott, die Herrschaft von spiritueller Seite aus zu legitimieren, was als Versuch einer Anknüpfung an pharaonische Herrscher und damit für die Integration eines divergierenden kulturellen Habitus spricht. Der nach seinem Aufstellungsort benannte Lateranobelisk vereint diese Charakteristika und stellt gleichzeitig einen Übergang der Kaiser zum christlichen Rom dar. Er ist der größte und letzte Obelisk, der aus Ägypten nach Rom importiert wurde. 357 n. Chr. wurde er von Constantius II. im Circus Maximus errichtet.59 Auch seine Transportgeschichte beinhaltet verschiedene Stationen: Vom ägyptischen Pharao Tuthmosis III. in Auftrag gegeben, wurde er erst von seinem Enkel Tuthmosis IV. zwischen 1419 und 1386 v. Chr. vollendet und in Karnak aufgestellt. Kaiser Konstantin wollte ihn 330 n. Chr. in seine neue Hauptstadt Konstantinopel überführen, schaffte es aber lediglich, ihn bis nach Alexandria zu transportieren. Sein Sohn Constantius II. war es schließlich, der ihn fast dreißig Jahre später zu seinem letzten Ziel brachte: Rom. Auch jenes imposante Schiff, mit dem der Obeliskentransport vorgenommen wurde, wurde in Rom ausgestellt, »worauf das Volk das Schiff bewunderte«.60

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sächlich für dieses Transportmittel interessierte: »[S]icherlich ist auf dem Meer nichts erstaunlicheres [sic!] gesehen worden« (ebd., S. 125). Für eine genaue Beschreibung der römischen Obeliskenschiffe vgl. auch Wirsching 2013. Vgl. Batta 1986, S. 29-30. Ebd., S. 44. Vgl. D’Onofrio 1992, S. 11. Inschrift des Lateranobelisken laut Batta 1986, S. 68.

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Abb. 1: Rekonstruktion des Circus Maximus um 1553 (Ligorio, ca. 1553). Weil er zum einen der größte Obelisk und zum anderen von einem christlichen Kaiser aufgestellt worden war (der einzige wohlgemerkt, der einen Obeliskentransport vornahm), wurde der gigantische Monolith im Circus Maximus zum Symbol des Triumphs des Christentums über heidnische Religionen.61 An diesem Obelisken kann man die »Transformationsketten«62 der Bedeutung der Monolithen von einem heidnischen Objekt zu einem Symbol christlicher Überlegenheit sehen. Die Verwendungsweise verändert sich also je nach aktuellem Regime und Herrscher und seinem jeweiligen machtarchitektonischen Stil; gleichzeitig zeugt die Übernahme des Symbols von einer Anknüpfung an Vergangenes und damit einer Integration und Kontextualisierung eines fremden Symbols.

61 Vgl. Habachi 1988, S. 115. 62 Böhme 2011, S. 11.

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Abb. 2: Der Lateranobelisk heute. 6. Päpstliches Rom: architektonische Christianisierung und Obelisken für Gott Nach einer fast völligen Vernachlässigung der Obelisken während des Westgotenreiches nahmen sich ihnen als nächstes die Päpste im Kirchenstaat, im Zuge von strategischen und infrastrukturellen Veränderungen zu Zeiten des Renaissancepapsttums ab Mitte des 15. Jahrhunderts, an. Der Kirchenstaat, also das politische Herrschaftsgebiet unter päpstlicher Führung, entstand 756 n. Chr. und fand sein Ende 1870 im Zuge des Risorgimento durch Anschluss an das Königreich Italien.63 Auch hier fungierte Rom als Hauptstadt. Im 14. Jahrhundert herrschte über beinahe 80 Jahre das Avignonesische Papsttum, was die Kirche in eine prekäre Position brachte, büßte sie doch ihren (über)weltlichen Machtanspruch zumindest teilweise ein. Im Jahre 1377 erreichte

63 Innerhalb dieser langen Zeitspanne kann nicht von dem einen politischen Herrschaftsgebiet des Kirchenstaates gesprochen werden. Ganz im Gegenteil wird sogar die Annahme, Rom sei dessen Hauptstadt gewesen, gelegentlich in Frage gestellt (vgl. Reimann 2013, S. 5f., 9). Trotzdem wird innerhalb dieser Analyse von dem einen Kirchenstaat gesprochen werden.

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Papst Gregor XI. Rom und beendete zwar das »päpstliche Exil«64, aber sein Tod und die zwielichtige Wahl Urbans VI. lösten das Abendländische Schisma aus. Dennoch verschaffte die Beendigung der päpstlichen Trennung von Rom der katholischen Kirche und der Stadt neues Selbstbewusstsein und markiert einen Wendepunkt in ihrer architektonischen Entwicklung.65 Im Verlauf des 15. Jahrhunderts rückten die architektonischen Besonderheiten Roms in den Fokus wissenschaftlichen Interesses.66 Grund dafür ist das nun stärker auf das Patrimonium Petri konzentrierte Regierungssystem des Papsttums.67 Die stadtplanerischen Entwicklungen dieser Zeit müssen allerdings in ihrem historischen Kontext verstanden werden; Rom war seit Gründung starken Entwicklungen, Umbrüchen und kriegerischen Auseinandersetzungen ausgesetzt gewesen.68 Zählte es in der Antike über eine Million Einwohner, lebten im 11. Jahrhundert nur noch einige Zehntausend Menschen in der Ewigen Stadt. Auch das Stadtbild veränderte sich.69 Aus päpstlicher Sicht stellte das Schrumpfen der Stadt ein immenses, logistisches Problem dar. Viele Kirchen, wie beispielsweise San Giovanni in Laterano oder Santa Maria Maggiore, hatten unter Verkleinerungen des Stadtgebiets gelitten und lagen mittlerweile weit außerhalb der Stadtgrenzen. Die Innenstadt war nun umgeben von antiken Ruinen und landwirtschaftlich genutztem Land, durch das Pilgerstraßen zu den großen Kirchen führten.70 Den Päpsten lag neben der Verschönerung somit auch an einer infrastrukturellen Verbesserung ihrer Hauptstadt:71 Papst Sixtus V., dessen Pontifikat fünf Jahre währte (1585-1590), repräsentiert ein Beispiel päpstlichen Stadtbaus zu Zeiten der Renaissance.72 Nicht nur gilt dieser Papst als politischer Erneuerer der päpstlichen Kurie,73 er war zudem für viele architektonische Projekte verantwortlich.74 Neben diversen Gebäuden war Sixtus V. zu großen Teilen an der Gestaltung des noch heute erhaltenen Stadtbildes Roms beteiligt – unter seiner Leitung wurde die Wasserversorgung vieler Gebiete durch Aquädukte gesichert, Straßen und Wege ausgebessert und einige der wichtigsten Straßen und Plätze erbaut.75 Er plante meist gerade Verbindungswege mit der Absicht, die wichtigen Kirchen miteinander oder mit wichtigen (historischen) Dreh- und Angelpunkten der Stadt zu verknüpfen. Seine Stadtplanung war immer an politische und 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Curran et al. 2009, ab S. 61, Herbers 2012, S. 245, sowie Willershausen 2014. Vgl. Curran et al. 2009, S. 72f.; Willershausen 2014, S. 28. Curran et al. 2009, S. 73. Vgl. Franzen 2008, S. 240f. Vgl. Batta 1986, S. 19. Vgl. Curran et al. 2009, S. 62. Ebd. Vgl. Batta 1986, S. 19. Vgl. Magnuson 1982, S. 1. Ebd., S. 1f. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18f.

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religiöse Zwecke gebunden. Im Zuge dieser »architektonischen Christianisierung« spielten die Obelisken der Stadt eine zentrale Rolle. Sie waren in »den Trümmern der versunkenen Antike«76 an die 1000 Jahre verschollen, und es waren die Päpste des 16. Jahrhunderts (und hier vor allem Sixtus V.), die sie bargen und wieder in das Bild der Stadt aufnahmen.77 Die Obelisken im päpstlichen Rom hatten zwei strategische Nutzen: Einerseits dienten sie als architektonische Marker, andererseits als ikonographisches Mittel der christlichen Herrschaft. Durch Platzieren an wichtigen heiligen Stätten markierten sie Sichtachsen und fungierten als Wegmarker.78 Zu Sixtus V. aufgerichteten Obelisken zählen unter anderem der 1587 errichtete Obelisco Esquilino vor der Kirche Santa Maria Maggiore, der den Anfang einer Sichtachse bildet, die am Lateran und damit am größten Obelisken Roms79 endet. Auch dessen Wiederaufstellung ist Sixtus V. zu verdanken, der im Jahre 1587 seinen Architekten auftrug, ihn zu suchen und zu bergen.80 Im Jahre 1589 wurde der letzte Obelisk geborgen und aufgestellt: als Obelisco Flaminio81 auf der Piazza del Popolo. Die Rolle der Obelisken im Renaissancepapsttum folgt einer paradoxen Logik: Trotz »heidnischer« Symbolik bildet ihre Aneignung zum christlichen Zwecke den politischen Moment päpstlicher Obeliskennutzung. Hier wird der Obelisk (wie vormals bei den Kaisern) neu kontextualisiert und nun in die christliche Machtarchitektur eingebunden. Die altägyptische Bedeutungsebene der Monumente wurde nicht ausgelöscht, sondern um eine christliche erweitert. Für die päpstliche Stadtplanung bedeutete die Christianisierung einerseits eine moralische Abgrenzung von heidnischem Kult und damit Legitimation der Nutzung vormals heidnisch definierter Objekte, andererseits die Einreihung in die Riege glorreicher Herrscher Roms.82 Gleichzeitig bewiesen sie technologisches Geschick, denn Obelisken stellten eine besondere urbanistische Herausforderung an die Herrschenden dar.83 Sowohl die Ägypter als auch die Herrscher des römischen Imperiums setzten sich über die Hindernisse der Physik hinweg und bewiesen so eine Größe, die sich in den enormen Steinsäulen spiegelt.84 Besonders deutlich wird dieser Prozess der Legitimation durch technologischen Fortschritt am vatikanischen Obelisken, dem wichtigsten Obelisken der Christenheit und gleichzeitig dem ersten Obeliskenprojekt Sixtus’ V. Er ist ein eindrucksvolles Exemplar: 25,37 Meter hoch, über 300 Tonnen schwer und aus Rosengra76 77 78 79 80 81 82 83 84

Batta 1986, S. 19. Vgl. ebd. 1986. Vgl. Grafton 2002; Magnuson 1982, S. 21f. Der Obelisk hat einschließlich des Sockels eine Höhe von 47 Metern und ein Gewicht von ca. 440 Tonnen. Vgl. Kastl 1964, S. 13. Vgl. Batta 1986, S. 18; Sorek 2010, S. XXIII. Vgl. Curran et al 2009, S. 76. Ebd., S. 6. Ebd., S. 76f.

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nit gefertigt.85 Seit Mitte des 15. Jahrhunderts spielten Architekten und Gelehrte immer wieder mit der Idee der Transposition des vatikanischen Obelisken, der sich im Circus Gai et Neronis befand – nur zu einer Umsetzung kam es bis dato nie.86 Sixtus V. nahm sich des Projektes an und schrieb 1586 einen Wettbewerb aus: Etwa 500 Experten beteiligten sich, doch beinahe alle Vorschläge schienen ungeeignet. Ein einziger konnte den Papst überzeugen. So erhielt Domenico Fontana, ohnehin päpstlicher Architekt, den Auftrag.87 Er hatte ein Gerüst entworfen, mit dem der Obelisk »stehend […] mit Hilfe von geschickt geführten Schnüren phasenweise abgesenkt bzw. aufgerichtet werden«88 konnte. Im Anschluss sollte er »auf eine auf Rollen laufende Plattform niedergelegt, zum neuen Standort gefahren und dort […] wieder aufgerichtet werden«89.

Abb. 3: Transposition des vatikanischen Obelisken (Radierung von Natale Bonifacio). 85 86 87 88 89

Vgl. Habachi 2000, S. 78. Vgl. Curran et al., S. 83. Vgl. Batta 1986, S. 34. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 38.

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Sixtus V. erteilte Fontana ein sogenanntes »Privileg«, eine Art Vollmacht als Baumeister des Projekts.90 Während der Umstellung des Obelisken erhielt Fontana die Erlaubnis, sich jedes Handwerkers und aller Materialien der Stadt zu bedienen.91 Am 30. April 1586 wurde der Obelisk schließlich angehoben und in eine horizontale Position gebracht. Daraufhin wurde der Steinriese etwa 250 Meter zu seiner neuen Position transportiert und am 10. September 1586 in der Mitte des Petersplatzes mit Hilfe von 40 Seilwinden, 140 Pferden und 800 Mann auf seinem Podest positioniert.92 Der Abschluss dieses Projekts wurde als Massenspektakel gefeiert: Unter angeordnetem Schweigen beobachteten Menschenmassen die Aufstellung des Obelisken. Am 27. September war es soweit: Nach Feinjustierung und Entfernung aller Gerätschaften war der Obelisk in all seiner Pracht zu bewundern. Schließlich wurde er mit dem goldenen Kreuz versehen und gesegnet.93 Die Christianisierung des ehemals ägyptischen und imperialen Machtsymbols war vollbracht.

Abb. 4: Der vatikanische Obelisk an seinem neuen Standort (Radierung von Natale Bonifacio). 90 91 92 93

Ebd., S. 35-37. Vgl. Sixtus V. nach ebd., S. 36f. Vgl. Fontana 1590, S. 81-83. Vgl. Fontana nach Batta 1986, S. 47f.

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Nach der erfolgreichen Transposition des Obelisken wurde Fontana sofort in den Adelsstand erhoben und großzügig entlohnt.94 Direkt im Anschluss wurde eine Inschrift angebracht, die in deutscher Übersetzung lautet: »Sixtus V., Pontifex Maximus, hat im Jahre 1586, im zweiten Jahr seines Pontifikates, den Vatikanischen Obelisken, der den Göttern der Heiden durch unfrommen Kult geweiht war, in mühevoller Arbeit zu den Schwellen der Apostel bringen lassen. [Nachdem dieser Obelisk] während der Regierungszeit der Kaiser Augustus und Tiberius von seinem früheren Standort herausgerissen und von jenem Ort weggebracht worden war, hat ihn Sixtus V., Pontifex Maximus, im Jahre 1586 dem heiligsten Kreuz geweiht. Christus siegt. Christus regiert. Christus befiehlt. Möge Christus sein Volk vor allem Übel schützen.«95

So hatten die römischen Obelisken zu Zeiten des päpstlichen Roms unter Sixtus V. mehrere Verwendungszwecke. Mehr noch als die reine Nutzung gewinnt die Nutzbarmachung durch Transposition und Umdeutung im päpstlichen Rom an Bedeutung. Sowohl die Kaiser als auch die Päpste untermauerten ihre weltliche und geistliche Macht nicht durch bloßes Besitzen, Benutzen und Aufstellen der Obelisken, sondern durch die technische Bewältigung des Umstellens. Aber während die Kaiser den Transport von Ägypten nach Rom als Zeichen ihrer Macht und Akt der Legitimierung ihrer Herrschaft verwandten, so nutzten die Päpste zu diesem Zwecke die gezielte Neupositionierung innerhalb der Stadt. Ideologisch gesehen fand die christliche Umdeutung der Obelisken vor allem aus einem Grunde statt: Jegliche Idole der Antike und anderer vorhergegangener Zeiten sollten zugunsten christlicher Symbolik ausgemerzt werden.96 Drastischer ausgedrückt nennt Grafton es eine »conscious campaign to expunge all memory of ancient idolatry«,97 die die Herrschaft des Papstes und damit der katholischen Kirche aufwerten und ihre Differenz zu vorangegangenen Regimen demonstrieren sollte. Diese Art der Christianisierung sieht man auch am langwierigen Versuch der Christianisierung des Kolosseums, das als antike Ruine schwer zu beseitigen war und stattdessen mit christlichen Riten bespielt wurde, um die »Entartungen der heidnischen Arena« zu säubern.98 Gerade die förmliche Christianisierung, die sich beispielsweise durch das Anbringen des christlichen Kreuzes am höchsten Punkt des Pyramidions ausdrückt, veranschaulicht den Abgrenzungsvorgang innerhalb der architektonischen Ikonographie. Den Päpsten war es somit möglich durch Anknüpfung, Übernahme und spezifisch christianisierter Abgrenzung ein vorchristliches Macht- und Herrschaftssymbol zu einem Symbol christlicher Überlegenheit zu machen. Die Obelisken markierten damit zunächst Differenz, indem sie durch Translozierung in der Stadt und ihre anschließende Unterwerfung durch exorzistische Riten die überweltliche Macht über die Heiden zum Ausdruck bringen sollten. Gleichzeitig strebten die Päpste der Renaissance danach, ein einheitlich katholisch-identitäres und zu jener Zeit stark territorialfürstliches Herrschaftssystem 94 95 96 97 98

Vgl. Magnuson 1982, S. 22. Vgl. Batta 1986,S. 49f. Vgl. Grafton 2002. Ebd., S. 124. Vgl. Sinn 2006, S. 435.

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herzustellen, und lenkten hierfür den Fokus gerade auf die Stadt Rom als Ursprung der christlichen Kirche.

Abb. 5: Der vatikanische Obelisk heute. 7. Faschistisches Rom: Mussolinis »harte Hand« und Obelisken für den Duce Nach der päpstlichen Herrschaft und während der Konstituierung des italienischen Nationalstaates 1870 stellte sich abermals die Frage nach der geeigneten Hauptstadt des neuen politischen Territoriums – und abermals fiel die Wahl auf Rom. Dieses Mal sollte Rom also zur Hauptstadt eines Nationalstaates werden und als politisches Zentrum der geeinten Nation dienen. Die nationalistische Stimmung, die das Land nach dem Risorgimento prägte, intensivierte sich nach dem Ersten Weltkrieg.

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Italien war zwar einer der Sieger des Ersten Weltkrieges, doch galt es als eine der Nationen, die stark unter den Folgen des Krieges litten. Das Land war politisch instabil, wirtschaftlich zurückgeworfen und gesellschaftlich brüchig.99 Im Jahre 1922 brach eine neue Ära an: Benito Mussolini übernahm mit seiner faschistischen Bewegung die Macht in Italien.100 Nach und nach wandelte Mussolini das Königreich Italien bis 1925 in eine faschistische Diktatur um. Er schaltete Parlament, freie Presse und alle Parteien außer der Partito Nazionale Fascista aus und baute eine politische Polizei auf.101 Gerade faschistische Systeme sind ein »Paradebeispiel des Strebens nach politischer Wirklichkeitskonstruktion«.102 Mussolinis »harte Hand«103 ist an vielen Orten in Rom zu sehen. Seine ambitionierten Bauprojekte sollten sowohl den modernen italienischen Nationalismus stärken als auch an vergangene Imperien anknüpfen.104

Abb. 6: Mussolini und Augustus.

99 100 101 102 103 104

Vgl. Corner,1997 S. 264. Vgl. Hearder 1990, S. 226f. Vgl. Galasso 1998, S. 26-28. Vollmer 2007, S. 174. Vale 2008, S. 33. Ebd.

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Als Mussolini 1921 in Rom einmarschierte, fand er eine vielschichtige und politisch aufgeladene Architektur der vergangenen Epochen vor.105 Gleichzeitig herrschte seit dem Fall des Kirchenstaates und der Gründung der Republik ein kollektives Nationalbewusstsein, das sich am besten in dem pompösen Monument des Königs und Nationalhelden Vittorio Emanuele II. widerspiegelte und zugleich hiervon angetrieben wurde.106 1925 erklärte auch der Duce seine Ideen zur Umgestaltung Roms, basierend auf der Freilegung wichtiger antiker Bauten, er entschied sich somit aktiv für den Weg der imperialen Anknüpfung. Das Pantheon, das Augustusmausoleum und der Kapitolhügel sollten von den umstehenden »parasitären und profanen Konstruktionen«107 befreit werden, denn in Mussolinis ideologisch aufgeladener Architektur sollte ein Bezug zur glorreichen Antike hergestellt werden. So kündigte der Diktator an: »In five years Rome must appear marvelous to all the people of the world: vast, ordered, powerful as it was in the time of the first emperor Augustus«.108 Charakteristisch für die Stadtplanung Mussolinis waren lange Straßenachsen, die symbolträchtige Gebäude verbanden. Etwa 5500 Wohneinheiten wurden zerstört, um die kaiserlichen Foren freizulegen und eine breite »Triumph«-Straße zu bauen, die zwischen dem Kolosseum und Mussolinis Regierungssitz, der Piazza Venezia, verlief, die Via dell’ Impero: »[T]he avenue was supposed to signify a continuum of power culminating in Fascism«.109 Begradigung, Vereinheitlichung und Räumung in der italienischen Hauptstadt waren wichtige Maßnahmen, um Platz für Massenversammlungen und Aufmärsche zu schaffen.110 In Mussolinis Stadtplanung werden die politischen Beziehungen zwischen ihm und der Kirche deutlich. Ein Beispiel ist die 1936 eingerichtete Via della Conciliazone, die von der Engelsburg bis zum Petersplatz führt. Sie verbindet damit den Vatikan mit dem historischen Stadtzentrum Roms und symbolisiert die Versöhnung der Kirche mit dem italienischen Staat nach den Lateran-Verträgen.111 Diese Sichtachse ist mit obeliskenförmigen Lampen geschmückt, eine Anlehnung an den Vatikan-Obelisken, der prominent von der Via della Conciliazone Richtung Vatikan zu sehen ist, noch vor dem Petersdom.

105 106 107 108 109 110 111

Ein gutes Beispiel für diese Vielschichtigkeit ist das Pantheon. Vgl. Kirk 2014, S. 155. Vgl. ebd., S. 156. Ebd., S. 159. Benito Mussolini zit. n. Vale 2008, S. 30. Ebd., S. 35. Vgl. Pfammatter 1990, S. 29. Vgl. Kirk 2005, S. 122.

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Abb. 7: Via della Conciliazone mit Blick auf den Petersdom. Seit Mitte der 1930er Jahre entstanden monumentale Projekte fern vom historischen Zentrum: der neue Universitätscampus, der riesige Sportkomplex Foro Mussolini und die EUR, die Esposizione Universale di Roma, die für die Weltausstellung 1942 gebaut wurde. Diese Expansionen waren der Versuch Mussolinis, die päpstlichen Baumaßnahmen zu überbieten. Das Sportzentrum Foro Mussolini (heute Foro Italico) sollte mit seiner gewaltigen Machtarchitektur eine neue körperliche Ästhetik propagieren. Seine Lage in den Bergen außerhalb Roms entspricht auch der faschistischen Idee von der Rückkehr des Menschen zur Natur.112 Die Oberflächenfarben der Gebäude wechseln zwischen pompejisch-rot und dem Weiß des Carrara-Marmors.113 Und hier ließ Mussolini auch seinen »persönlichen« Obelisken aus dem größten Stück CarraraMarmor, das je gefunden wurde, anfertigen.114 Nach altägyptischer Tradition ist er nur aus einem Stück gefertigt, allerdings wurde, anders als bei den anderen Obelisken, auf eine lange Inschrift verzichtet und nur »Mussolini Dux« eingraviert.

112 Ders. 2014, S. 170. 113 Ebd., S. 172. 114 Curran et al. 2009, S. 290.

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Abb. 8: Der Mussolini-Obelisk. Mussolinis Obelisk ist ein Symbol, das ebenfalls an vorangegangene Epochen anknüpft (altägyptische Herstellungsweise, imperiale Reichssymbolik, strategische Platzierung an bedeutungsvollen Orten) und die Bedeutung der vorangegangenen Regime integriert, aber gleichzeitig durch seine enorme Masse an kostbarem Material alle anderen Obelisken in seiner Anfertigung übersteigt, womit er, im übertragenen Sinne, auch ihre glorreichen Herrschaften und Regime zumindest qualitativ übertrumpft und sich so von ihnen abgrenzt. Ihn auf einen so prominenten Platz zu stellen und ihn sich selbst zu weihen zeigt, dass Mussolini sich der Wirkung der Obelisken als Herrschaftssymbole bewusst war. Interessant für die Geschichte der römischen Obelisken ist der vergleichsweise kurze Romaufenthalt der äthiopischen Stele von Axum, dem einzigen von Mussolini transponierten Exemplar. Auch im antiken Äthiopien, dem Königreich Axum, war es üblich, große Monolithen in der gleichnamigen Hauptstadt aufzustellen, die in ihrer Form den ägyptischen Obelisken sehr ähneln, allerdings nicht mit einem Pyramidion gekrönt sind. Eine 24 Meter hohe und 160 Tonnen schwere Stele ließ Mussolini zwei Jahre nach dem Einfall in Äthiopien 1937 in drei Teilen nach Rom transportieren. Sie wurde auf der Piazza di Porta Capena, gegenüber

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des Ministero dell’Africa Italiana115 aufgestellt. Damit platzierte er, wie bereits seine kaiserlichen Idole, einen Obelisken auf dem ehemaligen Marsfeld und suchte dem Triumph der kolonialen Macht und der Unterwerfung Äthiopiens 1938 Ausdruck zu geben. Nach dem Untergang des Faschismus erklärte sich Italien einverstanden, die Stele zurück nach Äthiopien zu bringen. Lange geschah nichts. 1970 drohte Äthiopien, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen, wenn der Obelisk nicht zurückgegeben werde. Erst 2002 ging Italien unter wachsendem Druck Äthiopiens die komplizierte und kostspielige Rückführung schließlich an. Weil Eritrea den Transport äthiopischen Besitztums durch sein Territorium niemals genehmigt hätte, musste der Obelisk in den drei Teilen, in denen er ehemals verschleppt worden war, geflogen werden. Für diese Aufgabe kamen nur zwei Flugzeuge in Frage. Diese waren selbst so riesig, dass der Flughafen in Axum erweitert werden musste. 2005 landete schließlich das erste Stück des Obelisken unter lautem Jubel, aber auch Kritik in Axum: Die Aktion hatte ganze 6 Millionen Euro gekostet.116 Die Platzierung eines gigantischen Obelisken in Mussolinis Stadterweiterung Foro Italico, das einer antiken urbanistischen Form folgt, macht deutlich, dass der Duce um die Wichtigkeit der Obelisken als Bestandteile römischer Stadtplanung wusste. Dabei bediente er sich auch Strategien der beiden anderen betrachteten Epochen. Um seinen Geltungsanspruch als Diktator und Oberhaupt des Staates zu verdeutlichen, wurde jedoch an seinem Carrara-Obelisken nur die »Mussolini Dux«-Inschrift angebracht und kein weiterer Verweis – weder auf das Volk (wie bei den Kaisern) noch auf (einen) Gott (wie im Alten Ägypten und bei den Päpsten) noch auf weitere wichtige Staatsfunktionäre (in diesem Fall die Partito Nazionale Fascista). Bei allen Anknüpfungspunkten setzte Mussolini die steinernen Säulen somit auf eine Weise ein, die sich von der kaiserlichen sowie päpstlichen Nutzung abhob. Er ließ sich einen Obelisken bauen, der nur ihm gewidmet war. Das hatte sich kein römischer Herrscher bis dato angemaßt. Insgesamt sollte das totalitaristische System durch Identitätsrepräsentation in verschiedenen architektonischen und stadtplanerischen Baumaßnahmen in der Ikonographie zum Ausdruck kommen. Dennoch ist, wie bereits bei den Kaisern, der Import und Bau von Obelisken eine differenzrepräsentative Praxis, die laut Vollrath eigentlich nicht für totalitaristische Caput-Repräsentationen117 typisch ist. Die Beziehung zwischen diesen beiden Formen der Repräsentation ist hier wieder dialektisch: Durch Integration eines Differenzobjekts wird die Identität des Herrschaftssystems verstärkt.

115 Ministerium zur Verwaltung der italienischen Kolonie Africa Orientale Italiana, die sich auf dem heutigen Territorium von Äthiopien, Somalia und Eritrea befand. 116 Vgl. Curran et al. 2009, S. 290-293. 117 Vgl. Vollrath 1993, S. 70f.

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8. Fazit In allen drei betrachteten Regimen fungierte der Obelisk als politisches Machtsymbol. Dieses Kontinuum lässt sich anhand zweier Charakteristika festmachen: Zum einen ist die physische Form des Obelisken Ausdruck von Größe und Stärke. Seine Vertikalität drückt die Verbindung von Himmel und Erde, den Griff nach dem Unmöglichen und damit das Streben nach überweltlichem Machtanspruch aus. Zum anderen spielt die Transposition der riesigen Monumente eine wichtige Rolle für die Demonstration der politischen Macht. Der Transport der Obelisken in das eigene Herrschaftsgebiet, beziehungsweise die Neupositionierung innerhalb Roms, macht die Monolithen zu Trophäen. Die Versetzung zeugt von technischer Expertise und demonstriert die herrschaftspolitische Überlegenheit. Die römischen Kaiser entrissen den Ägyptern deren Heiligtümer und brachten sie auf eigens dafür angefertigten Schiffen in ihre Hauptstadt. Die Päpste, die eine Infragestellung ihrer Macht durch die antike, kaiserliche Monumentalarchitektur verhindern wollten, suchten mit der Neupositionierung der Obelisken über den Glanz des imperialen Roms zu triumphieren. Im faschistischen Rom war der »Import« der obeliskenähnlichen Stele ein Zeichen kolonialen Triumphs über Äthiopien. Der damit verbundene technologische Aufwand wurde nur von jenem übertroffen, der nötig war, um die Stele zurück nach Axum zu transportieren. Außerdem wird deutlich, dass der Obelisk nicht nur als Macht- sondern auch als Herrschaftssymbol in der Hauptstadt Rom diente. Seine architektonische Einbettung an spezifischen, ideologisch aufgeladenen Orten der Stadt gibt Aufschluss über die maßgebenden Ideen der jeweiligen politischen Herrschaft. Die Symbolik der Obelisken wirkt erst in Verbindung mit dem unmittelbaren architektonischen Kontext: Kaiser Augustus platzierte die Obelisken an beliebten Orten des Volkes. So stand einer der Obelisken des Augustus auf dem Marsfeld, dem für Gesellschaft und Politik bedeutungsvollsten Platz Roms zu dieser Zeit. Sixtus V. wählte die wichtigsten Stätten des Christentums als neuen Standort der Monolithen. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür ist der vatikanische Obelisk vor dem Petersdom. Mussolinis Obelisken hingegen markieren Orte, an denen die faschistische Ideologie am besten zum Ausdruck kommt. Das Foro Italico ist das beste Beispiel dieser faschistisch aufgeladenen Stadtplanung. Auch im Kontext der herrschaftsarchitektonischen Betrachtungsweise scheint die Beweglichkeit und damit die Möglichkeit zur Transposition von enormer Bedeutung zu sein. Im Moment der gezielten Umpositionierung verändert sich die symbolische Funktion der Obelisken: Die inhärente Machtsymbolik wandelt sich in spezifische Herrschaftssymbolik. Durch die ideologische Programmatik, die hinter der Positionierung der Steine stand, demonstrierten sie eine bestimmte herrschaftliche Macht. Die Beherrschten sollten in der gewaltigen Leistung, die mit der Beschaffung, dem Besitz und der Bewegung der Obelisken verbunden war, die Größe und Stärke des Herrschers anerkennen. Somit dienten Obelisken nicht nur als Machtsymbole, sondern waren auch Teil architektonischer Herrschaftslegitimation. Gleichzeitig kann die stetige Wiederverwendung der Obelisken über unterschiedliche Epochen hinweg als Zeichen einer Integration vorangegangener Be-

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deutungsebenen des Bauwerks verstanden werden: Durch die politische Neukontextualisierung des Bauwerks wurden die Bedeutungen der vorangegangenen Regime in die aktuell vorherrschende Idee ikonographischer Konzeption übernommen. Somit wurde die Strategie von Integration offensichtlicher Differenzen in die vorherrschende Architektur Teil der jeweiligen Legitimationssbestrebungen des herrschenden Regimes, um damit die Identität eines Herrschaftssystems darzustellen. Die schlussendlich architektonisch integrierte Differenz lässt sich anhand der behandelten Beispiele systematisch erfassen: So finden wir im Beispiel des imperialen Roms [a] eine Abgrenzung von einer fremden und unterlegenen Kultur (Ägypten), [b] eine Distinktion von der eigenen, jedoch als falsch erachteten Vergangenheit im Falle des päpstlichen Roms und [c] eine temporale Abgrenzung durch Reminiszenz in Form einer ›imperialen Renaissance‹ unter Mussolini. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Dualismus von Differenzrepräsentation durch Übernahme, Uminterpretation sowie Anpassung eines Bauwerks an das eigene Regime einerseits, und andererseits seine daraus resultierende Repräsentation einer einheitlichen bzw. vereinheitlichten Identität als Teil des vermuteten Zusammenhangs zwischen Architektur und Herrschaftslegitimation betrachtet werden kann. Das vorhandene Machtsymbol wird durch Wiederverwendung, Neukontextualisierung, regimespezifischer Nutzung und damit Formen aktiver Abgrenzung (s.o. [a], [b] und [c]) zum Herrschaftssymbol. Die Wiederverwendung der Obelisken wird durch intendierte Differenzdarstellung bei gleichzeitigem Einbezug in die eigene politische Ikonographie zu spezifischer Herrschaftsarchitektur. Literaturverzeichnis Altekamp, Stefan; Marcks-Jacobs, Carmen; Seiler, Peter (Hrsg.) 2013. Spoliierung und Transposition, Berlin und Boston: De Gruyter (=Perspektiven der Spolienforschung Bd.1). Asendorf, Christoph 2004. »In die Vertikale gestellt. Von Obelisken und Kathedralen bis zum Skyscraper«, in Der Traum vom Turm. Hochhäuser: Mythos – Ingenieurkunst – Baukultur (Katalog zur Ausstellung »Der Traum vom Turm« im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft Düsseldorf vom 6. November 2004 bis 20. Februar 2005), hrsg v. NRW-Forum Kultur und Wirtschaft Düsseldorf, S. 30-39. Düsseldorf: Hatje Cantz. Barnes, Richard 2004. The Obelisk: A Monumental Feature in Britain. Norfolk: Frontier. Batta, Ernst 1986. Obelisken. Ägyptische Obelisken und ihre Geschichte in Rom. Frankfurt a. M.: Insel. Biermann, Veronica 2003. »Ortswechsel: Überlegungen der Bedeutung von Bewegung schwerer Lasten für die Wirkung und Rezeption monumentaler Architektur am Beispiel des Vatikanischen Obelisken«, in: Spoliierung und Transposition, hrsg. v. Altekamp, Stefan et al, S. 123-156. Berlin und Boston: De Gruyter (= Perspektiven der Spolienforschung Bd.1). Böhme, Hartmut 2011. »Einladung zur Transformation«, in Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hrsg. v. Böhme, Hartmut et al., S. 7-38. München: Wilhelm Fink. Braunfels, Wolfgang 1988. Urban Design in Western Europe. Regime and Architecture, 900– 1900. Übersetzt von Kenneth J. Northcott. Chicago und London: Chicago UP. Büchel, Daniel; Reinhardt, Volker (Hrsg.) 2003. Modell Rom? Der Kirchenstaat und Italien in der frühen Neuzeit. Köln: Böhlau. Coarelli, Filippo 2002. Rom: Ein archäologischer Führer, 2. Aufl. Mainz: Von Zabern. Corbier, Mireille 2001. »Liebaralitas, largitio«, in Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 10, hrsg. v. Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth, Sp. 140-142. Stuttgart und Weimar: Metzler.

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Zur politischen Ikonologie der Palmach

»Als das israelische Volk aus der babylonischen Gefangenschaft zurückkehrt, baut es Jerusalem wieder auf, wegen feindlicher Angriffe und Hindernisse mit einer Hand arbeitend, in der anderen das Schwert haltend.«2

1. Einleitung Die paramilitärische Organisation im Palästina der 1940er Jahre gibt ein besonderes Beispiel für politische Ikonologie im Prozess der Etablierung von Herrschaft. In einem Umfeld, das alle Lebensbereiche in höchstem Maße politisiert, werden neben den Grundlagen der Existenz des Staates Israel unweigerlich Merkmale späterer israelischer Identität verhandelt und ausgeprägt. Spätestens mit ihren Erfolgen im Unabhängigkeitskrieg von 1948/1949 wird die Palmach (von hebräisch: Plugot Machatz, »Angriffstruppen«) zur Manifestation des Bildes vom wehrhaften und kämpfenden Juden, das fortan dem geschundenen Körper aus den Jahren der Vertreibung und Verfolgung entgegensteht. Neben Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht Großbritannien, der arabischen Bevölkerung Palästinas, den arabischen Nachbarstaaten, der Gefahr eines Bürgerkrieges sowie einer ernsthaften Bedrohung durch die deutsche Wehrmacht, wird damals gleichzeitig das nationale Projekt vorangetrieben. Im Folgenden soll unter Einbeziehung des Archivs der Palmach und unter Berücksichtigung ihres zeitgenössischen Umfelds der Frage nachgegangen werden, wie unter diesen Bedingungen auf Modi der Identitäts- und Differenzrepräsentation zurückgegriffen wird. Mit Blick auf eine eher randständige Behandlung der Palmach in der deutschen Forschungsliteratur sollen zugleich Anknüpfungspunkte für Vertiefungen zum Thema geliefert werden. Zunächst gilt es einige Anmerkungen zum Verhältnis von Gegenstand und theoretischem Rahmen vorauszuschicken. Denn während »politische Ikonologie« im Anschluss an Warburg und Panofsky ein etabliertes Forschungsfeld bezeichnet, sind die Begriffe »Identitäts-« und »Differenzrepräsentation« Elemente eines vergleichsweise speziellen Diskurses. »Identitätsrepräsentation« als Repräsentation von Einheit und Ganzheit sowie »Differenzrepräsentation« als Repräsentation von Pluralität und Verschiedenheit sind im engeren Sinne Wortschöpfungen der deutschen Staatstheorie des 20. Jahrhunderts. Für Ernst Vollrath läuft Carl Schmitts Idee politischer Repräsentation auf eine Engführung des Gegensatzes

1 Für wichtige Hinweise danke ich Galili Shahar, Ofri Ilany, Stefan Leicht, Efrat Lipkin sowie Christoph Dauss und den beiden Herausgebern dieses Heftes – zudem meinem Förderer, der Minerva Stiftung der Max-Planck-Gesellschaft. 2 Paradin 1557, S. 115 (Abb. 1).

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von »Identität« und »Repräsentation« hinaus.3 Schmitt vertrete eine Idee von politischer Repräsentation als »Identitätsrepräsentation«, demgegenüber bringt Vollrath seinen Begriff der »Differenzrepräsentation« in Stellung. »Identitätsrepräsentation« mitsamt einer Emphase auf Verkörperung gilt in dieser tendenziell tautologischen Konzeption als antidemokratische Kategorie, demgegenüber stehe der plurale und demokratische Modus von »Differenzrepräsentation«. Nun lassen sich Begriffe der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie nicht ohne Weiteres auf das Israel der 1940er Jahre wenden. Begreift man Repräsentation von Identität und Differenz jedoch in einem weniger strikten Sinne, bietet sich diese Unterscheidung durchaus für das vorliegende Thema an: Wie verhält sich die Repräsentation von Identität und Differenz im vor- und frühstaatlichen Israel? Lässt sich damit das Verhältnis von demokratischer Verfasstheit im Innern, bei gleichzeitiger Kompromisslosigkeit nach außen, denken? Konkretisiert werden diese Fragen mit Hilfe ikonologischer Schlaglichter auf hebräische Wehrhaftigkeit und das Bild des kämpfenden Juden. Evident ist zudem die Frage der Geschlechterdifferenz, denn anders als zu dieser Zeit üblich, kämpfen in der Palmach auch Frauen. Die angesprochene Differenz von Innen und Außen wird im Rahmen des mythisch aufgeladenen Bildes vom gewaltsamen Verlust des Tempels erörtert. Zur Zeit der Palmach spielen äußere Mächte eine wichtige Rolle: Die Kolonialmacht Großbritannien gibt, angesichts der Bedrohung durch die über Nordafrika anrückende Wehrmacht, 1940/41 den Impuls für die Gründung der Truppe. Insofern wird im Folgenden mitunter eine ereignisgeschichtliche Perspektive bemüht, um den Kontext der Bilder aufzuhellen. Insgesamt wird damit ersichtlich, wie sich die Ikonologie der Palmachzeit unter hohem Einheitsdruck in einen allgemeinen Rahmen politischer Selbstbehauptung fügt. Bei Erwin Panofsky wird Aby Warburgs Ikonographie zu einer Lehre der Bedeutungen ausgeweitet: »Daher verstehe ich Ikonologie als eine ins Interpretatorische gewandte Ikonographie, die damit zum integralen Bestandteil der Kunstwissenschaft wird, statt auf die Rolle eines vorbereitenden statistischen Überblicks beschränkt zu sein.«4 Während die Ikonographie eine bildanalytische Methode im kunstwissenschaftlichen Sinne bezeichnet, greift die Ikonologie vermehrt auf historische, kritische oder psychologische Methoden zurück.5 Bei politischer Ikonologie geht es damit nicht zuletzt um ein Denken in Bildern. Entsprechend begreift Reinhart Koselleck politische Ikonologie als historiographische Methode und knüpft so an Panofskys Trennung von Deskription (Ikonographie) und Interpretation (Ikonologie) an: »In Bildern lässt sich schneller denken als in Worten: ja es gibt eine wortlose Ebene des Denkens, das Denken lässt sich von Bild zu Bild gleiten [...] Hier liegt die Einbruchstelle für die moderne politische Ikonenwelt, die die Gesichtsfelder umstellt [...]. Das Bild geht leichter ein als das Wort. [...] Das 3 Vollrath 1993, S. 69 – für eine philosophische Reflektion der zugrundeliegenden Begriffe Identität und Differenz vgl. Heidegger 1957. 4 Panofsky 1975 [1955], S. 42. 5 Ebd.

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Bild überzeugt, bevor man sich dazu stellt.«6 Die Ikonologie grenzt sich von der Ikonographie ab, da sie weniger eine Symbolsprache entschlüsselt, sondern historische Kontextualisierung anstrebt: »Gegenstand der politischen Ikonologie ist [...] die kritische Erkundung der Vermittlung von ideellen Gehalten in Bildern in Abhängigkeit von den veränderten Lebensbedingungen und Erfahrungsräumen der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes.«7 Ausgehend von der Bildhaftigkeit der Sprache bzw. Kosellecks Verständnis politischer Ikonologie bietet sich die politische Dimension des Bildlichen gleichsam von selbst als politikwissenschaftliches Untersuchungsfeld. Im Hinblick auf das vorstaatliche Israel bzw. die zionistische Bildwelt der 1940er Jahre liegt die Eigendynamik visueller Argumente regelrecht auf der Hand. In der judeo-christlichen Ikonologie findet sich seit Jahrhunderten der Topos einer Rückkehr ins Heilige Land (Abb. 1). Die zionistische Bildpraxis greift solcherlei Bilder wieder auf, indem sie religiösen Motiven eine nationalistische Komponente beigibt. Die Bibelreferenz in den beiden Abbildungen ist die gleiche: »Mit einer Hand taten sie die Arbeit und mit der andern hielten sie die Waffe« (Abb. 2). Die Palmach lässt sich – um dieses Motiv wieder aufzugreifen – als jener Arm beschreiben, welcher das metaphorische Schwert während einer für die israelische Staatsgründung besonders entscheidenden Dekade (1941-1948/49) aufrecht hält.

Abb. 1 Paradin, 1557, S. 115 – vgl. aus dieser Perspektive zur Eigensicht des modernen Menschen: »Er ist gewissermaßen die Maurerkelle, die sich für den Baumeister hält.« Maistre 1924, 135f.

Abb. 2 Shamir Bros., Gewerkschaftsverband Histradut, 1938. Innen: Kaf Tamuz = 20. Tag im 10 Monat des jüdischen Kalenders, Jahrestag des Todes Theodor Herzls; Außen: Nehemia 4:17 (PPA).8

6 Koselleck 2009, S. 83. 7 Locher 2009, S. 94. 8 Die in Berlin-Charlottenburg ausgebildeten Gebrüder Shamir sind ebenso für das Wappen des Staates Israels verantwortlich, vgl. Donner 1999.

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2. Palmach-Ikonologie »Unter dem, was in der israelischen Selbstwahrnehmung als heilig galt, mißfiel mir besonders der Mythos des ›Sabra‹, dem neuen jüdischen Mann und der neuen jüdischen Frau (im Gegensatz zu den Diaspora-Juden), ein Mythos, der in vielen literarischen Werken der vierziger und fünfziger Jahre ausgiebig gefeiert wurde. Ganz oben standen in diesem Kult die Kämpfer des ›Palmach‹.«9

Der Mythos des »Sabra« (eine Kaktuspflanze) glorifiziert die in Palästina geborenen Israelis gegenüber denen, die aus der Diaspora eingewandert sind. Somit wird eine Gruppe der Bevölkerung von einer anderen abgegrenzt, wenngleich dieses sprachliche Bild sowohl Männer als auch Frauen umfasst. Dem Modus der Konkurrenz kommt im gesellschaftlich-politischen Diskurs des jungen Israels eine wichtige Rolle zu. Abbild konkurrierender Ideen und Interessen im Yishuv, der jüdischen Gemeinschaft Palästinas, ist das Bestehen vorstaatlicher paramilitärischer Organisationen. Den Linkszionisten von Haganah und Palmach stehen die Rechtszionisten von LEHI/Stern-Gang sowie Etzel/Irgun gegenüber.10 Nach außen konkurrieren diese jüdischen Faktionen mit arabischen Gruppen sowie der britischen Kolonialmacht um Einfluss und Kontrolle. Diese Entwicklung findet nicht zuletzt im Bereich der Bilder und Darstellungen statt, wo sie sich heute gut nachvollziehen lässt. Indem in Israel von einer Palmachzeit und einer Generation der Palmachkämpfer die Rede ist, wird bereits ersichtlich, dass die Palmach nationale Geschichte in synekdochischer Form repräsentiert: Ein kleiner Teil steht dabei für ein größeres Ganzes und repräsentiert gleichsam die Eigenschaften dieses Ganzen.11 Gegründet wird die Palmach in einem Szenario akuter Bedrohung; ihre Kommandotruppen werden vor dem Hintergrund einer möglichen Invasion der Deutschen ausgebildet. 1941 ist das britische Mandatsgebiet Palästina von Feinden umringt: Syrien ist unter Kontrolle Vichy-Frankreichs und das deutsche Afrikakorps scheint im Begriff, die Briten in Ägypten zu schlagen. Daher werden die Palmachkämpfer von Großbritannien gefördert sowie in der Nutzung von Waffen und Sprengstoff ausgebildet. Angesichts der bevorstehenden Besatzung Palästinas werden eine jüdische Untergrundarmee, Gegenspionage, ein Radionetzwerk und Störaktionen für den Fall des anschließenden Rückzugs der Deutschen geplant.12 Die Wehrmacht wird nur vereinzelt konfrontiert, aber gerade die britische Kolonialmacht muss sich verstärkt mit der zuvor selbst initiierten Miliz auseinandersetzen. Da die späteren Israel Defense Forces (IDF) aus der Palmach mithervorgehen, ist die Bezeichnung 9 Friedländer 2016, S. 207. 10 In einem Schreiben der britischen Botschaft in Washington an das State Department werden Ende 1945 folgende Zahlen genannt: »Estimates of the strength of Jewish paramilitary formations in Palestine vary somewhat, but the following figures seem to be reasonably accurate (1) Hagana, the body controlled by the Jewish Agency itself, 60.000-80.000 (including the Palmach [...], which amount to about 6.000), (2) the more extreme Irgun Zvai Levmi, 6,000-7,000, (3) the terroristic Stern Group, some hundreds« (Foreign Relations of the United States 1945, 867N.01/11-645). 11 Vgl. Ankersmit 2016. 12 Pearlman 1950, S. 40f.

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»Miliz« durchaus umstritten. Die klandestine, improvisierte Gründung der Palmach erklärt zugleich das Fehlen einiger traditioneller Elemente politischer Kommunikation. Nicht einmal der damals typische und hohe Anteil von Gebrauchsgraphik (Plakate, Flugblätter etc.) findet sich hier. So ist es nicht verwunderlich, wenn der bildliche Nachlass der Organisation vor allem aus Schwarz-Weiß Photographien besteht. Diese erzählen von einer Organisation, die zugleich Jugendbewegung und Spezialeinheit ist. Zionistisches Projekt und hebräische Identität sind keineswegs auf den Kontext der 1940er Jahre beschränkt, sondern gehen jeweils vor- und nachher darüber hinaus. Heute erschweren offizielle Narrative und Komplexitätsreduktionen der Erinnerungspolitik den Blick auf die Zeit, wie der Besucher des offiziellen Palmachmuseums in Tel Aviv vorgeführt bekommt. Denn vom Ende her gedacht, lässt sich die damalige Entwicklung stark vereinfacht darstellen: Das nationale Heim von Eretz Israel beherbergt und beschützt als erster jüdischer Staat seine Bevölkerung, und während diese Staatlichkeit in der Entstehung begriffen ist, werden ihre Funktionen von der Palmach aufrechterhalten. Das derartig verkürzte Sichtweisen vor allem auf Identitätsrepräsentation setzen und die realen politischen Differenzen und historischen Kontingenzen der 1940er Jahre vernachlässigen, wird schnell ersichtlich. Indem nationale Einheit in die Vergangenheit projiziert wird, überlagern sich politische Interessen und historische Repräsentation. Ohne Frage markieren die 1940er Jahre ein wichtiges Kapitel im Bewusstsein des Landes, denn danach wird man nicht mehr von ›Juden in Palästina‹ oder von ›jüdischer Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet‹ sprechen, sondern von Israel und den Israelis.13 Am 29. November 1947 beschließt ein Referendum der Vereinten Nationen in New York die Teilung Palästinas, am 14. Mai 1948 verkündet David Ben-Gurion die Gründung des Staates Israel. Darauf folgen eine ganze Reihe bewaffneter Auseinandersetzungen und Kämpfe, die zusammengenommen als Unabhängigkeitskrieg bezeichnet werden.14 Militärischer Gegner sind ägyptische, syrische, libanesische, irakische und jordanische Verbände, Kämpfer der »arabischen Legion« und der arabischen Bevölkerung Palästinas. Während weiter Schiffe mit illegalen Einwanderern aus den europäischen Camps für displaced persons Palästina erreichen, bedrohen innere und äußere Konflikte die Existenz des jüdischen Staates. 6.000 Menschen sterben im Unabhängigkeitskrieg – was dem hohen Anteil von einem Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Der militärische Erfolg Israels geht auf die Existenz vorstaatlicher militärischer Organisationen zurück – im Wesentlichen Haganah (»Verteidigung«) und Palmach.15 Was haben so 13 Vgl. Segev 1986. 14 Vgl. Cohen 2012. 15 Die »Plugot Machatz« (Palmach) gehen namentlich auf die »Plugot Sadeh« zurück. Namensgeber ist Yitzhak Sadeh, der für die Gründung der Palmach instrumentell ist. Zu Sadehs Zöglingen gehören die späteren Heerführer Moshe Dayan und Yigal Allon. Der britische Ideengeschichtler Isaiah Berlin vergleicht seinen Cousin Sadeh mit dem italienischen Guerilla Garibaldi: Als Ausdruck nationalen Strebens gründet Garibaldi in Italien die Rothemden – Sadeh gründet in Palästina die Palmach (vgl. Margalit 2009).

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unterschiedliche Persönlichkeiten wie die israelische Nationalheldin Hannah Szenes, Friedensnobelpreisträger Yitzhak Rabin, der Westberliner Playboy Rolf Eden und der Londoner Starfriseur Vidal Sassoon gemein? Alle der genannten waren in den 1940ern Kämpfer in der Palmach.

Abb. 3: Errichtung der Tintenfahne von Eilat, März 1949 (Palmach Archive). Das in Israel wohl bekannteste Beispiel einer Palmachikone ist die Tintenflagge von 1949. Als die »Negev Beasts« (Hayot Hanegev), die in der Wüste Negev operierenden Einheiten der Palmach, das Rote Meer erreichen, entsteht eine ihrer ikonenhaften Darstellungen. Indem man weißes Tuch mit Tinte bemalt, wird die Einnahme des desertierten Stützpunktes markiert. Die dort vermuteten Ägypter sind bereits abgezogen, was auf schlechte Koordination und die überraschende Stärke der Palmach zurückzuführen ist. Fortan steht die improvisierte »Tintenflagge« symbolisch für das Ende des Unabhängigkeitskrieges, die Gründung der an Israels südlichstem Punkt liegenden Stadt Eilat und den auf Schultern von Haganah und Palmach ruhenden militärischen Erfolg. Das in Israel und in der israelischen Erinnerung präsente Bild der Tintenfahne verweist auf die Etablierung und Behauptung von Staatlichkeit, den militärischen Erfolg sowie die Loslösung von einer Diasporageschichte mitsamt territorialer Unbeständigkeit. Während die Palmach gerade die Hauptlast des arabischen Angriffs abgefangen hat und es allein ihrer Führung zu verdanken ist, dass die israelischen Aktionen angemessen militärisch koordiniert werden, beschließt Ben-Gurion zum Zeitpunkt der Errichtung der

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Tintenfahne bereits die Auflösung der Truppe. Insofern entspricht der in der Photographie festgehaltene Moment einer imaginierten Bildfolge. Die Cowboyhüte und charakteristischen Palmach-Wintermützen weichen wenig später dem Stahlhelm, man wird Spalier stehen und salutieren wie in regulären Armeen. Die autonomen Kampfverbände weichen nach der Eingliederung in die Israel Defense Forces einem hierarchischen System und der Schnappschuss weicht der professionalisierten Propaganda. Das Bild der Errichtung der Tintenfahne ähnelt seinem berühmteren Pendant, der von amerikanischen Marines 1945 auf Iwo Jima, Japan, gehissten Flagge. Wohingegen die berühmte amerikanische Aufnahme das Ergebnis einer nachgestellten Aktion ist, gibt es bei der hebräischen keine Zweifel an ihrer Authentizität, die Aktion wird nicht erst im Nachhinein inszeniert.

Abb. 4 Paradin 1557, S. 255.

Abb. 5 Unbekannt für Irgun, ca. 1935: »La sole solution« (PPA).

Ein Blick zurück in die vorsäkulare Bilderwelt veranschaulicht die Differenz der Epochen, wenn das Walten eines göttlichen Willens allegorisch dargestellt wird (Abb. 4). »In hunc intuens« – ›Schau auf dieses Bild‹ sagt uns ein von göttlicher Hand gehaltenes menschliche Skelett; schau auf den puppenhaften Charakter dieser vergänglichen Existenz. Eine solche Dopplung von sprachlichem und bildlichem Appell findet sich auch in der Bildsprache der Rechtszionisten von Irgun/ Etzel aus dem Jahre 1935. Gezeigt wird eine Hand, die das Gewehr emporstreckt, im Hintergrund das Gebiet von Erez Israel als Summe aus Palästina und Transjordanien (Abb. 5). »La sole solution« meint hier Kompromisslosigkeit im Hinblick auf territoriale Ansprüche sowie den Einsatz von Waffengewalt. Bildkompositorisch ähnelt das Irgun-Emblem dem aus dem 16. Jahrhundert: Während das Schwert zum Gewehr wird, kommt bei den Revisionisten von Irgun zum Glaube das moderne Element des politischen Nationalismus hinzu.

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Abb. 6: Unbekannt, Palmach-Gefährt, ca. 1948 (Palmach Archive). Das hinter zwei Kornähren gekreuzte Schwert der Palmach ist ein Kriegersymbol, gleichzeitig wird religiöser Bedeutungsgehalt evoziert. Man denke an das Korn, welches der erste Ackerbauer Kain seinem Gott als Opfer anbietet und welches jener dann verschmäht. Aufgebracht auf ein Raupenfahrzeug in der Wüste symbolisiert das Emblem zum einen Zugehörigkeit, gleichzeitig weist das Raupenfahrzeug aus amerikanischer Produktion auf die kommende Amerikabindung Israels (Abb. 6). Später wird die ikonologische Kontinuität der Haganah und nicht die der Palmach gewahrt, denn die regulären Streitkräfte der IDF übernehmen Schwert und Olive und führen diese Insignien bis heute als die ihren.16 Ihr Emblem verbindet die Palmach mit der Mutterorganisation Haganah, die zugleich im Eid der Palmach bedacht wird: »With this weapon which has been entrusted to me by the Haganah in the Land of Israel, I shall fight against the enemies of my people for my country, without surrendering, without flinching, and with complete dedication.«17

16 Vgl. van Creveld 1998. 17 Allon 1970, S. 125.

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3. Kämpfende Juden Die Figur des bewaffneten Juden der 1940er Jahre überfrachtet die einzelne Aufnahme mit historischem Gewicht. Der Mann mit der Tätowierung verkörpert tragische Geschichte, die Abbildung bekommt ikonenhaften Charakter. Die Nummer am Arm weist ihn als ehemaligen KZ-Häftling aus, die Waffe in der Hand als kämpfenden Palmachnik (Abb. 7). Zur Photographie des ehemaligen KZ-Insassen muss ergänzend bemerkt werden, dass solche Bilder im jungen Israel keineswegs verbreitet sind. Die aus damaliger Sicht jüngste Geschichte wird erst mit dem Eichmannprozess zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung.18 Das heroische Element kann dieser Aufnahme eines geschundenen Menschen erst später hinzuerzählt, der Mantel der Tabuisierung im jungen Israel erst langsam beiseite gelegt werden.

Abb. 7: Unbekannt, post-1945 (Palmach Archive). Dem steht damals die Verbreitung der Bilder vergleichsweise junger und geschichtsloser Kämpfer entgegen. Im Bildfundus der Palmach finden sich unzählige Bilder von Rekruten, die das Ausbildungslager durchlaufen und beim Posieren vor der Kamera mehr den Anschein älterer Pfadfinder, als den disziplinierter Soldaten erwecken. Der Davidsstern aus Gewehren ist auf der einen Seite jugendlicher Unfug, auf der anderen Seite ergibt sich ein starker Kontrast, wenn man die zur gleichen Zeit in weiten Teilen Europas eingeführten »Judensterne« hinzudenkt (Abb. 8). Von einem rein militärischen Gesichtspunkt besehen, bedeutet der Einsatz der Palmach in Süd- und Osteuropa – angesichts der Übermacht der deutschen Militärmaschine – eine quantité négligeable. Gleichzeitig sind die Fallschirmspringer 18 Vgl. Arendt 1963.

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der Palmach aber die einzigen jüdischen Kommandos aus Palästina, die im Weltkrieg kämpfen. Entsprechend werden sie in Israel nach dem Krieg als ideologische Ressource genutzt.19 Aus den Reihen der Palmach-Fallschirmspringer stammt die von der Wehrmacht aufgegriffene und schließlich hingerichtete Hannah Szenes. Die junge Dichterin wird ihrer Durchhaltefähigkeit in der deutschen Kriegsgefangenschaft wegen zur Palmachikone und zur israelischen Märtyrerin. Zu einer Ikonologie der Palmach gehört das Einzelschicksal ihrer Kämpfer – man nehme die todgeweihten Fallschirmspringer, lesend vor ihrem Absprung über Jugoslawien (Abb. 9). Die Ruhe des Motivs wird durch den mit unausweichlicher Notwendigkeit eintretenden Untergang verstärkt. Im »Motivarsenal der politischen Ikonologie« (Bredekamp) sind solche Beispiele auch daher relevant, weil mit ihnen eine dauerhafte Phase gesteigerter Kampfbereitschaft der Juden in Palästina eingeläutet wird.20 Wie sich zeigt, bedarf es bei diesen Aufnahmen weniger einer ikonographischen Beschreibung als einer ikonologischen Interpretation. Nicht allein die Darstellung für sich, sondern ihre geschichtliche Rahmung und das Zusammenspiel mit früheren und späteren Bildern geben die zur Deutung entscheidenden Impulse.

Abb. 8 Unbekannt, Ausbildungslager, 1940er Jahre (Palmach Archive).

Abb. 9 Unbekannt, Palmach-Fallschirmeinheiten, ca. 1943/44 (United States Holocaust Memorial Museum).

4. Koloniale Differenz Palmachmiliz und israelische Staatsgründung stehen im historischen Kontext von Weltkrieg und Shoa, im Kontext der zionistisch-sozialistisch geprägten Einwanderung nach Palästina, aber auch in einem kolonialen bzw. postkolonialen Rahmen. Jordanien, Indien und Pakistan werden von Großbritannien 1946 bzw. 1947 in die Unabhängigkeit entlassen, Israel folgt 1948. Im Gegensatz zur antikolonialen 19 Vgl. Baumel-Schwartz 2010. 20 Begreifen wir das Thema der »kämpfenden Juden« als ikonographisches Genre, lässt sich durchaus eine Bildergeschichte vom Altertum über das Mittelalter skizzieren. Bei einem solchen Überblick jedoch die alte und neue Geschichte der Juden in Palästina abzublenden, scheint problematisch – vgl. im ikonographischen Handbuch Krass 2011, S. 26-35.

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Bewegung des indischen Subkontinents und ihrem Programm eines gewaltlosen Widerstands bekämpfen hebräische Irreguläre die Kolonialmacht mit Waffengewalt. Die komplexe und durchweg ambivalente Beziehung zu Großbritannien ist keineswegs nur durch Feindschaft gekennzeichnet. Dafür steht der diplomatische Beistand Lord Balfours, der den Juden eine nationale Heimstätte in Palästina zugesteht und der militärstrategische Beitrag Orde Wingates, der die ersten hebräischen Einsatztrupps ausbildet. Auch auf politisch-ikonologischem Gebiete gibt es zahlreiche Einflüsse, das zeigt sich am Beispiel einer »Bildwanderung« bzw. eines »Bilderfahrzeugs« (Warburg), d.h. an der Migration eines Motivs.

Abb. 10 Alfred Leete, Reproduktion des Titelblatts der London Opinion, 1914

Abb. 11: Rothshild & Lippman für Keren Heresoyd, 1934

Abb. 12: David Ismer, Haganah Poster, 1947 (alle: PPA).

1914 ruft der britische Verteidigungsminister Lord Kitchener seine Landsleute dazu auf, der königlichen Armee beizutreten (Abb. 10). Der auf den Betrachter zielende Zeigefinger dient bald weltweit als propagandistisches Mittel, um Gefolgschaft einzufordern. Neben der amerikanischen Aneignung im Uncle-Sam-Motiv finden sich auch in Palästina Abwandlungen von Lord Kitcheners berühmtem Zeigefinger. Der hebräische Spendenaufruf von 1934 richtet sich in der Bildsprache moderner Werbung direkt an seine Adressaten (Abb. 11): »Und Du? Bist Du Deiner Pflicht zur Notstandssteuer nachgekommen?«21 Die Haganah schneidet in ihrer Version den Zeigefinger vom Zeigenden ab und nimmt so Bezug auf die eingangs erwähnte Metaphorik der göttlichen Hand (Abb. 1 und 4) – die hier de facto zum Arm des Gesetzes wird. Im Hintergrund das britische Hoheitsgebiet, das als Grundlage für das eigene Staatsgebiet gedacht wird (Abb. 12). Unter Berufung auf Warburgs Pathosformel fragt sich der Historiker Carlo Ginzburg, ob wir Kit-

21 Diese von der Haganah eingeführte Notsteuer wird nach Staatsgründung durch eine Art Mehrwertsteuer aufgehoben.

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cheners Zeigefinger als verkürzte Version der Geste Jesus’ aus einem Gemälde Caravaggios interpretieren sollen.22 In beiden Darstellungen sieht er verbildlichte Appelle, einmal als religiösen Aufruf (religious call) und dann als Ruf zu den Waffen (call to arms). In großen Schritten durch die Kunstgeschichte gehend, stellt Ginzburg jedoch fest, dass die Bedeutung des britischen Posters weniger in der christlichen Ikonologie liegt, als vielmehr in der demotischen Sprache der modernen Werbung. Das die Haganah sich der englischen Sprache und eines britischen Motivs bedient, zeugt vom instrumentellen Status politischer Ikonologie, wo Bilder wie Waffen zu Gunsten beliebiger politischer Zwecke eingesetzt werden. Großbritannien hält während des Weltkriegs und danach eine Seeblockade aufrecht, illegal eingewanderte Überlebende des Holocaust werden in Lagern auf Zypern und in Palästina untergebracht. Palmach und Haganah überfallen die Lager in Palästina, um ihre Insassen zu befreien.23 Jüdische Organisationen erheben selbst Steuern, kümmern sich um Schulen, Gesundheit, Arbeitsplätze und üben polizeiliche sowie militärische Funktionen aus. Das Verhältnis zu den Briten ist auch deswegen angespannt, weil deren Mandatsregierung nur einer minimalen Auffassung von Regierungstätigkeit entspricht.24 Die Kolonialherrschaft führt zu der scheinbar paradoxen Situation, das in der jüdischen Diaspora 1945 mit deutschsprachigen Plakaten antibritische Proteste durchgeführt werden: »Solidarität mit Erez Israel« und »Kämpft für Erez Israel« fordern Demonstranten 1945 in Shanghai (Abb 13). Die deutschsprachigen Plakate richten sich direkt an die wahlberechtigten Juden, vorbei an den englischsprachigen Behörden vor Ort. Das Motiv des Malers Fred Goldberg findet sich als Plakat in Berlin bereits 1936 und 10 Jahre später auf der Demonstration in Shanghai. In dieser Zeit haben sich die Rahmenbedingungen für jüdische Einwanderung nach Palästina drastisch gewandelt. Die Forderung bleibt bestehen: »Haltet die Tore Palästinas offen« (siehe Detail, Abb 13). Der Mann, der auf Goldbergs Plakat zur Liste 4 ein symbolisches Tor aufstößt, hat die Statur eines Arbeiters – ein erneuter Hinweis auf den Zusammenhang von Zionismus und sozialer Frage. Dem kräftigen jüdischen Körper des Solidaritäts-Plakats steht der ausgemergelte Häftlingskörper des Londoner Plakats gegenüber (Abb. 14): »Aus den Tiefen – nach Palästina« lautet die Botschaft dieser besonders drastischen Darstellung. Der Option Palästina werden Erlösungsqualitäten zugeschrieben, verbildlicht durch das Emporsteigen aus Feuer und Rauch.

22 Ginzburg 2001, S. 12. 23 Rothenberg 1979, S. 28. 24 Vgl. Yaniv 1993.

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Abb. 13: Demonstration in Shanghai, 1945. Siehe das Motiv ganz links (»Liste 4«). (United States Holocaust Memorial Museum).

Abb. 14: Abram Games für Keren Hayesoyd (Palestine Fund), ca. 1948 (PPA).

Das ambivalente Verhältnis zur Kolonialmacht nimmt viele Formen an; die Übergänge von Einheit und Differenz hin zu offener Feindschaft sind in den 1940er Jahren fließend.25 Aktive Partizipation der Juden Palästinas an den Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg bedeutet, abgesehen von den wenigen Aktivitäten der Palmachscouts und ihren Fallschirmeinheiten, in erster Linie Dienst im britischen Heer. Mit Blick auf die mögliche Nachkriegsordnung in Palästina und aus Furcht davor, gänzlich Rückhalt in der arabischen Welt zu verlieren, spricht sich London gegen die Schaffung eines eigenen jüdischen Heeres aus. Insgesamt sind rund 27.000 Juden aus Palästina während des Zweiten Weltkriegs im britischen Heer aktiv.26 Erst 1944 schaffen die Briten eine eigene jüdische Brigade, die in Italien zum Einsatz kommt. In Palästina verbietet London die Mitgliedschaft in Haganah und Palmach, ein »White Paper« schränkt die Autonomie der jüdischen Bevölkerung entschieden ein. David Ben-Gurion, einstmals britischer Soldat, gibt folgende ambivalente Losung für den Umgang mit der Mandatsmacht aus: »We shall fight with Britain in this war as if there were no White Paper. And we shall fight the White Paper as if there were no war.«27 Die nach dem Weltkrieg zunehmenden Aktionen von Haganah und Palmach, die statt offener militärischer Konfrontation auf klandestine terroristische Operationen setzen, provozieren verstärkte Repression durch die Briten.28 Darauf koordinieren alle paramilitärischen jüdischen Gruppen ihre Aktionen, was die hundertfache Sabotage und Sprengung von Eisenbahnabschnitten, Brücken und Polizeistationen nach sich zieht. Erst mit

25 26 27 28

Vgl. Hoffman 1985. Rothenberg 1979, S. 28. Pearlman 1950, S. 62. Royal Institute of International Affairs 1946, S. 463.

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dem Abzug der Briten erfüllt sich die Forderung nach Öffnung der Tore Palästinas. 5. Differenz nach innen und der Verlust des Tempels »Der Untergang des Tempels [...] erschütterte das Gottesverständnis und theologische Geschichtsbild, zerstörte das System politischer Legitimation und tragende Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung und stellte tradierte Identitäts- und Wahrnehmungskonzepte radikal in Frage.« 29

Alttestamentarische und religiös-mythologische Vergleiche, die das Thema von Einheit und Differenz betreffen, drängen sich den Akteuren im Palästina der 1940er Jahre vermehrt auf. Ideengeschichtlich wird dieser Bezug bei Theodor Herzl und Moses Hess vorweggenommen, letzterer beschreibt das »mitten in der modernen Welt fortexistirende antike jüdische Volk«.30 Im antiken Referenzrahmen kommt dem zweimaligen Verlust des Tempels eine wichtige Rolle zu. Neu etablierte jüdische Staatlichkeit in Palästina muss insofern die Geschichte antiker Krisenhaftigkeit, innerer Differenz sowie die Abwesenheit von Staatlichkeit in der Tradition der Diaspora überwinden.31 Die zerstrittenen jüdischen Faktionen des 1. Jahrhunderts in der Überlieferung des jüdisch-römischen Geschichtsschreibers Josephus Flavius geben so etwas wie ein Urbild schadhafter Differenz. Josephus, der seine eingeschlossenen Einheiten unter dem Eindruck der bevorstehenden Auslöschung durch die Römer verlässt und zum Feind überläuft, wird zum Historiker der ersten Vertreibung der Juden aus Palästina. Die jüdischen Faktionskriege lesen sich bei ihm als Ursache der zweiten Vertreibung aus dem Tempel.32 Innere Differenz betrifft wiederum den Kontext der Palmach und die Möglichkeit einer dritten Vertreibung aus dem Tempel. Für den Fall einer Invasion durch die Wehrmacht wird 1940 der Massada-Plan entworfen. Die Bergfestung Massada ist nach der römischen Eroberung Jerusalems um 70 n.Chr. der Ort, wo die Zeeloten kämpfen und am Ende kollektiven Selbstmord begehen. Das zweite Massada, jenes der 1940er Jahre, soll einem gigantischen Fort gleichen, einen Landstrich um Mount Carmel in West-Galiläa umfassen und den ca. 500.000 Juden Palästinas Schutz bieten. Neben den widerspenstigen Zeloten umfasst der antike Referenzrahmen auch die Makkabäer, jüdische Aufständische aus vorchristlicher Zeit. Das vorliegende graphische Blatt zu Ehren eines toten Palmachnik zeigt das aus heutiger Sicht ungewöhnliche Bild eines jüdischen Märtyrers. »Eliahu ist gefallen [...] Sie sollen gewinnen, die Söhne der Makkabäer«. So heißt es an dieser Stelle, um den Tod des Einen im Hinblick auf das Kollektiv und seine Wehrhaftigkeit zu deuten (Abb. 15).

29 30 31 32

Hahn 2002, S. 5. Hess 1899, S. 17. Yanai 1989, S. 157f. Vgl. Josephus 2008.

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Abb. 15: »Eliahu ist gefallen – seine Kriegerfreunde, hebr. Datum für 26.11.1945«, unten: »Sie sollen gewinnen, die Söhne der Makkabäer«. Seite: »Firma von E. Hinski, 14. in Rishpon«. Zur Zeit des britischen Mandats in Palästina konkurrieren abermals verschiedene jüdische Faktionen miteinander. Mit der Affäre um das Schiff Altalena erreicht diese Differenz ihren Höhepunkt und Israel entgeht nur knapp einem Bürgerkrieg.33 Nach der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 und der Abwehr der ersten arabischen Angriffswelle vereinigt Ben-Gurion am 26. Mai die Milizen zu einer gemeinsamen Armee. Palmach und Haganah werden aufgelöst und gehen fortan in der neuen Truppe auf. Allerdings wehren sich LEHI und Etzel gegen die Unterordnung unter zentralstaatliche Prinzipien. Auf der Altalena sollen Waffen und Etzel-Kämpfer aus Frankreich nach Israel geschmuggelt werden – Ben-Gurion befürchtet eine Revolte. Nur wenige Tage nach einem fragilen Waffenstillstand mit den Arabern wird die Altalena auf seinen Befehl hin vor Tel Aviv bombardiert und geht mitsamt Waffen und einem Teil der Kämpfer unter. Daraufhin wird das Schiff zur Ikone für die Nationalkonservativen und versinnbildlicht den Preis, den sie für Unterordnung und nationale Identität zahlen müssen. LEHI wird zerschla-

33 Vgl. Yanai 1989.

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gen, nachdem die Gruppe Volke von Bernadotte den UN-Sondergesandten für Palästina erschießt. Überraschend ist, dass trotz des überwiegenden Modus der Identitätsrepräsentation am Ende im Prinzip eine Differenzlogik durchgesetzt wird: Die militanten Gruppen gehen nach Staatsgründung in den Israel Defense Forces auf, und diese unterstehen einer politischen Führung, deren Einsetzung das Resultat parlamentarisch-demokratischer Entscheidungsfindung ist. Zumindest nach innen ist der Modus kompromissloser Identitätsrepräsentation somit auf die frühstaatliche Phase beschränkt. Hinsichtlich einer von Ernst Vollrath konstatierten gegenseitigen Negierung von Identitäts- und Differenzrepräsentation lässt sich daher die Vermutung äußern, dass Identitätsrepräsentation im frühen Israel nicht die Repräsentation von Pluralität ausschließt – auch wenn sich diese Ordnung gewissermaßen erst hinter dem Rücken der Beteiligten ergibt. Denn im Grunde wird hier ein schwelender bewaffneter Konflikt in parlamentarischen Wettbewerb überführt. Selbst wenn man der Auseinandersetzung zwischen gemäßigten Sozialisten (David Ben-Gurion) und Revisionisten (Menachem Begin) Identitätsrepräsentation als dominierendes Prinzip unterlegt, muss man anerkennen, dass sich insgesamt ein Modus der Repräsentation von Differenz und Pluralität durchsetzt. Nicht weltanschauliche Überlegenheit oder Verkörperung eines zugrunde liegenden Ganzen gelten als Leitideen, wo ein parlamentarisches Mehrheitsprinzip die Regierungsbildung bestimmt. 6. Gleichheit der Geschlechter Der Pionier mit der Sichel in der einen und dem Gewehr in der anderen Hand findet sich in unterschiedlichen Varianten als Symbol nationaler Bewegungen, so auch in Israel. Erziehung und Kultur in Frontier-Staaten ziehen den einsamen Helden der Repräsentation einer diffusen Öffentlichkeit vor – exemplifiziert im nordamerikanischen Cowboy oder dem südamerikanischen Gaucho.34 Auch das Bild der freien, muskulösen Arbeiter-Soldaten ist kein Alleinstellungsmerkmal des hebräischen Nationalismus. Im Gegensatz zu süd- und nordamerikanischen Frontierstaaten tritt im israelischen Rahmen die kämpfende Frau als progressives Element hinzu. Frauen und Männer kämpfen gemeinsam in gemischtgeschlechtlichen Kommandos und werden zusammen ausgebildet. Wenngleich die Aufnahmen im Palmacharchiv in erster Linie männliche Palmachniks zeigen, muss das historische Novum der Frau als gleichgestellter Kämpferin hervorgehoben werden. Folglich findet sich auch das Bild der wehrhaften Frau, hier ein Motiv aus der Nahkampfausbildung (Abb. 16). Dabei ist geschlechtliche Gleichberechtigung keineswegs ein ursprünglicher Wesenszug der zionistischen Bewegung, die durchaus paternalistisch-chauvinistische Züge aufweist. Noch um die Jahrhundertwende finden sich zahlreiche Beispiele, die eine besondere Repräsentation des Männlichen einfordern. Max Nordau etwa

34 Keren 2004, S. 357.

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Abb. 16: Unbekannt, 1940er Jahre (Palmach Archive). beschreibt den jüdischen Rebellen Bar Kochba als männlichen Inbegriff des harten Juden. Auf dem zionistischen Weltkongress in Basel fordert er 1898 ein neues »Muskeljudentum« und setzt physische männliche Härte gegen jüdische Not.35 Otto Weiningers Studie Geschlecht und Charakter (1903) beschreibt das Jüdische in Analogie zum Weiblichen und entspricht damit weitverbreiteten zeitgenössischen Vorurteilen. Die Einwanderer, die ab Beginn des 20. Jahrhunderts nach Palästina kommen, werden geeint durch ihren Glauben an die physische Transformation des Landes Israel und eine soziale Rehabilitation des jüdischen Volkes durch Arbeit.36 Der Gleichheitsbegriff dieser sozialistischen Zionisten beinhaltet die Rolle der Frau, auch die Unterdrückung der in Palästina lebenden Araber wird als Problem benannt. Gerade für die 1940er Jahre gilt jedoch, dass die Gleichheit der arabischen Bevölkerung besonders dann zurücksteht, wenn Existenzsicherung und militärische Selbstbehauptung des Yishuv die Tagesordnung bestimmen. Auf dem Gebiet der Geschlechtergleichheit mischen sich Gleichheitspostulate wesentlich leichter mit realpolitischen, alltäglichen Anforderungen. Die weibliche Kameradin ist nicht nur wesentlich für die militärische Organisation von Erez Israel, sondern auch für die Idee einer Armee des Volkes.37 In der Forschung gibt es divergierende Meinungen zum progressiven Status der Palmach, so wird darauf hingewiesen, dass allenfalls jeder vierte oder fünfte Palmachkämpfer weiblich war.38

35 36 37 38

Vgl. Nordau 1900. Luttwak/Horowitz 1983, S. 25ff. Vgl. Diverse 2009. Klein 2001, S. 102ff.

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Mit diesem quantitativen Einwand lässt sich der normative Anspruch einer Gleichheit der Geschlechter jedoch nicht entkräften.

Abb. 17: Ernst Mechner für Histadrut, Konföderation hebräischer Arbeiter, 1947 (PPA). Der Gestalter Ernst Mechner bedient sich sozialistischer Ikonologie, wenn er israelische Arbeiter für ein Rachemotiv versammelt. Sein stilisiertes Arbeiterheer, welches über die Sowjetunion gen Westen zieht, besteht zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen. »Kain – wo ist dein Bruder Abel?« fragen diese Israelis in Richtung Deutschlands (Abb. 17). Mit dem archetypischen Brudermord wird hier abermals ein alttestamentarisches Bild bemüht, um moderne Politik auszudeuten. Der von Osten kommende Marsch verweist zudem auf die Nähe des kollektivistisch geprägten Israels zur Sowjetunion, zwei Jahrzehnte bevor die Amerikabindung gefestigt wird. Männliche und weibliche Arbeiter werden gemeinsam mit ihren Kindern dargestellt, als Gleiche unter dem Davidsstern. Damit ist abermals ein wichtiges ikonologisches Merkmal der kampfbereiten israelischen Demokratie angedeutet – Differenzrepräsentation nach innen bei gleichzeitiger Identitätsrepräsentation nach außen.

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7. Das arabische Außen Der Mechanismus der Abgrenzung qua Identitätsrepräsentation ist im vor- und frühstaatlichen Israel von zentraler Bedeutung, ablesen lässt sich dies an den einzelnen Schritten der Militarisierung des Yishuv. Zur Jahrhundertwende verteidigen sich jüdische Siedlungen in Palästina behelfsmäßig selbst gegen arabische Überfälle, erst ab 1907 versucht der Geheimbund Bar Giora eine gemeinsame Verteidigung der Siedlungen zu gewährleisten. In einem Schritt zur Professionalisierung werden 1909 erstmals berittene Wächter aufgestellt, die Hashomer, die mit den arabischen Aufständen überfordert sind. Um ein Gleichgewicht in der Region zu bewahren, bildet die britische Mandatsregierung jüdische Polizisten aus, die Notrim. Deren Insuffizienz führt zur Gründung der Haganah. Nach Massakern an der jüdischen Bevölkerung wächst der Körper der Haganah Mitte der 1930er Jahre auf ca. 22.000 Mitglieder an.39 Zwischen den Weltkriegen ereignen sich in Palästina größere arabische Aufstände (1921, 1929, 1936-1939). 1936 verwirft London seine bisherige Strategie und bittet die bis dato als illegal eingestufte Haganah um Unterstützung. Dabei geht es um die Sicherung einer aus dem Irak ans palästinensische Mittelmeer verlaufenden Ölpipeline gegen arabische Überfälle. Der irische Kommandeur Orde Wingate schult die Haganah und stellt einen Special Night Squad zur Verteidigung der Pipeline auf. Wingate gibt einer Generation junger Männer, die gerade in der Haganah aufrücken, ihr erstes militärisches Training: Yigal Allon, Moshe Dayan und andere Palmachniks werden so in die moderne Kriegsführung eingeführt.40

Abb. 18: Unbekannt, Arabisches Palmach-Bataillon, ca. 1941/1942 (Palmach Archive), 39 Schiff 1987, S. 13. 40 Man kann bei Wingate den Indirect Approach – d.h. das strategische Denken Basil Liddel Harts – identifizieren. Zudem zeichnet sich hier bereits die spätere Verteidigungsdoktrin Israels ab, als Strategie eines von Feinden umgebenden Landes. Yitzhak Sadeh, Begründer und anfänglicher Kopf der Palmach, schildert diese strategische Ausgangssituation als Mikrokonflikt in seinem zeitgenössischen »The Flying Squad« (Allon 1970, S. 121ff.).

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Abb. 19 Unbekannt, Hinterhalt, 1948 (Palmach Archive). Bei Gründung der Palmach 1941 spiegelt sich die allgemeine Bedrohungslage in der Schaffung eines deutschen und eines arabischen Bataillons wieder. Zusammengesetzt aus jüdischen Deutsch- und Arabisch-Muttersprachlern sollen diese Kräfte im Fall einer deutschen Besetzung als Untergrundkämpfer agieren. Die »Deutschen« üben sich neben ihrer militärischen Grundausbildung in »deutscher« Art, marschieren wie die Wehrmacht und praktizieren den Hitlergruß. Die arabische Einheit verbringt im Laufe ihres Trainings einen Monat bei den Drusen im Norden Palästinas, um das traditionelle Leben arabischer Stämme kennenzulernen – der militärische Sonderfall von Differenzrepräsentation als Mimikry (Abb. 18). Später sollen die »arabischen« Palmachkämpfer pro-deutsche arabische Einheiten in der Region unterwandern. Beide Bataillone werden nach Rommels Scheitern in El Alamein nicht mehr im vorhergesehenen Sinne eingesetzt, sondern regulär in die Palmach integriert. Großbritannien geht zum Gegenangriff über und die Untergrundkämpfer helfen beim Vorstoß auf Syrien. Der als Palmachscout eingesetzte Moshe Dayan verliert im Zuge der rapiden Invasion in Syrien ein Auge, was die charakteristische Augenklappe des späteren israelischen Heerführers und Verteidigungsministers erklärt. Der Konflikt zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung Palästinas besteht schon lange vor den Kriegserklärungen von 1948. Vertreibungen erfolgen von jüdischer Seite in systematischer Art und Weise, ebenso systematisch erfolgen die arabischen Übergriffe auf jüdische Siedlungen und Konvois. Vor diesem Hintergrund ist die Isolation der Juden Jerusalems zu sehen, die während der Blockaden von 1947/1948 aufwendig von außen versorgt werden. Einheiten der Palmach sichern unter hohen Verlusten die Lastkraftwagen und Busse, die die Stadt mit Nahrungsmittel versorgen. Wegen des britischen Embargos sind keine Panzerwagen verfügbar, Fahrzeuge werden provisorisch mit Metall und Holz verstärkt. Wie schlecht die improvisierten Konvois gegen Hinterhalte gesichert sind, zeigt das Bild eines erfolgreichen arabischen Überfalls. In dieser Aufnahme ist der Gegner klar zu erkennen – nur wenige der Aufnahmen im Archiv der Palmach zeigen

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Abb. 20: Gefechtssituation, 1948 (Palmach Archive).

Abb. 21: Unbekannt, Arabisches Poster aus dem Krieg, ca. 1948 (PPA). den Feind (Abb. 19). Die Rolle der Organisation bei der Verdrängung der arabischen Bevölkerung Palästinas ist umstritten, das betrifft auch ihre Beteiligung an Vertreibungen und Massakern. Im Zusammenhang des palästinensischen Exodus

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von 1947-1949 gilt die Auslöschung des arabischen Dorfes Dayr Yasin als Schlüsselereignis.41 Ein allgemeiner Plan liegt seitens Haganah und Palmach damals wohl nicht vor – vom Resultat der Verdrängung her gedacht, lässt sich eine arbeitsteilige Funktion in Verbindung mit den aggressiven Aktionen von Etzel und LEHI jedoch schwer widerlegen. Auffallend ist das fehlende Gegenüber: Wir sehen Explosionen, aber keine Gegner (Abb. 20). Natürlich ist das Land in Palästina lange schon besiedelt, weshalb die Frontier nicht konfliktlos in die Wüste hineinverschoben werden kann. Das arabische Poster von 1948 fordert: »Ihrem Aufruf nachkommen / Spendet für Palästina, spendet für Libanon, spendet für die Araber« (Abb. 21). Eine umfangreichere Ikonologie der Palmachzeit müsste, auch mit Blick auf die Vielzahl der kommenden Konflikte, dieses Gegenüber mitberücksichtigen. 8. Schlussbetrachtung: Unabhängigkeit Dem Akt der israelischen Staatsgründung geht das Bild des kämpfenden Juden der 1940er Jahre voraus. Während die Unabhängigkeit im kolonialen Setting den Briten abgerungen wird, folgt mit dem Unabhängigkeitskrieg sofort die nächste Belastungsprobe. Die militärische Selbstbehauptung wird in entschiedenem Maße von der Palmach mitbewerkstelligt. Im Laufe dieser fließenden und dynamischen Entwicklung scheint an zahlreichen Stellen die Ambivalenz von Differenz- und Identitätsrepräsentation durch. Das gilt genauso für das sich zwischen Kooperation und Ablehnung bewegende Verhältnis zur Mandatsmacht. In einem erheblich von Rivalität und Feindschaft geprägten Klima konkurrieren verschiedene Entwürfe nationaler Einheit miteinander. Wo die zentralisierte Entscheidungsmacht fehlt, da stehen divergierende Identitätsrepräsentationen miteinander im offenen Wettbewerb. Dennoch lässt sich Differenzrepräsentation prinzipiell auch als hinter dem Rücken der Beteiligten entstehende Ordnung denken, das heißt als nicht intendierte Nebenfolge von Identitätsrepräsentation. Da keine der vorstaatlichen Organisationen von vornherein Deutungshoheit für sich beanspruchen kann, ergibt sich am Ende zumindest aus innerisraelischer Sicht eine vorsichtig plurale Perspektive. Indem die verschiedenen vorstaatlichen Organisationen in den Parteien und Streitkräften Israels aufgehen, lässt sich die turbulente Anfangszeit der 1940er Jahre rückblickend auch als konfliktgeladener Prozess der Formgebung späterer Institutionen begreifen. Die Palmach ermöglicht einen Einblick in die zeitgenössische politische Ikonologie – in einer umfassenderen Perspektive wären die arabischen und britischen Akteure in Palästina zu berücksichtigen. Wie zu sehen ist, bieten sich die Begriffe Differenz- und Identitätsrepräsentation zugleich für Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik an, denn Erinnerung verfährt notgedrungen selektiv. Dies scheint der Fall zu sein, wenn mythologisierende Rückgriffe in säkularisierter Form auf eine Art von nationaler Geschichte rekurrieren. Vorstaatliche und staatliche Institutionen übernehmen 41 Masalha 1988, S. 122.

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Inhalte mythisch-religiösen Ursprungs und überformen diese mit jeweils eigenen Bedeutungen. So wenig, wie die sozialistische Ideengeschichte frei von religiösen und heilsgeschichtlichen Motiven ist, so wenig kann die Ikonologie der Palmach auf solche Elemente verzichten. In der kollektiven Erinnerung Israels erscheint die goldene Generation der Palmachkämpfer abgetrennt von späteren Generationen, deren Handlungen weitaus weniger unter dem Vorzeichen der Alternativlosigkeit stehen. Während die zu großen Teilen improvisierten Aktionen vor und während des Unabhängigkeitskrieges deutlich als Abwehrhandlungen interpretiert werden, lassen spätere Konflikte solche klaren Linien mehr und mehr vermissen – emblematisch dafür ist der Sechstagekrieg. Die zunächst überraschende Stärke der Palmachzeit weicht einer zunehmend als problematisch empfundenen militärischen Überlegenheit. Die Anfangsjahre des Staates verweisen dabei auf eine Konvergenz von politischer und militärischer Entwicklung, gleichzeitig legen sie eine Permanenz des Militärischen in Israel nahe. Aus zeitgenössischer Perspektive stellt sich die Palmachzeit aber zunächst einmal als bedeutender sowie einschneidender Neuanfang dar. Denn einer der Gründe für die Distanz des Yishuvs gegenüber der Diaspora ist nicht zuletzt die willentliche Abwendung von einer Geschichte, die unter dem Vorzeichen der Heteronomie erzählt werden muss. Insofern ist die Geschichte der Palmach eng verbunden mit der Gründung und Etablierung des Staates Israel. Sie ist damit Teil einer Geschichte jüdischen Bewusstseins als Selbstbewusstsein, und das heißt – als autonomes Projekt. Literaturverzeichnis Allon, Yigal 1966. »The Making of Israel’s Army: The Development of Military Conceptions of Liberation and Defence«, Sonderdruck aus The Theory and Practice of War: Essays presented to Captain B. H. Liddell Hart on his Seventieth Birthday, hrsg. v. Howard, Michael. New York: Frederick Praeger. Allon, Yigal 1970. The Making of Israels Army. New York: Universe. Ankersmit, Frank 2016. »Vom Mittelalter zur Demokratie und wieder zurück«, in Politische Repräsentation und das Symbolische. Historische, politische und soziologische Perspektiven, hrsg. v. Diehl, Paula; Steilen, Felix, S. 107-132. Wiesbaden: Springer. Arendt, Hannah 1963. »Eichmann in Jerusalem – I/II«, in The New Yorker, 16.2./23.2. 1963. Baumel-Schwartz, Judith Tydor 2010. Perfect Heroes. The World War II Parachutists and the Making of Israeli Collective Memory. Madison: University of Wisconsin. Bredekamp, Horst 2016. »Elemente einer politischen Ikonologie des Schwimmens«, in Politische Repräsentation und das Symbolische, hrsg. v. Diehl, Paula; Steilen, Felix, S. 195-226. Wiesbaden: Springer. Cohen, Uri 2012. »Unraveling the Wars of 1948«, in Jewish Social Studies: History, Culture, Society 18, 3, S. 120-35. Van Creveld, Martin 1998. The Sword and the Olive. A Critical history of the Israeli Defense Forces. New York: Public Affairs. Diverse, 2009. »Israel’s Women Soldiers over the Generations: A Panel Discussion«, in Nashim: A Journal of Jewish Women’s Studies & Gender Issues 18, S. 206-226. Donner, Batia (Hrsg.) 1999. Shamir: Hebrew Graphics, Shamir Brothers Studio (Ausstellungskatalog). Tel Aviv: Tel Aviv Museum of Art. Foreign Relations of the United States 1945. »The British Embassy to the Department of State (November 6, 1945)«, in Diplomatic Papers, Near East and Africa, VIII, 867N.01/11-645 – entnommen aus https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1945v 08/d784 (Zugriff am 11.9.2017).

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Abbildungsverzeichnis Bildrechte: Palmach Archive, Tel Aviv; PPA=Palestine Poster Archive, Maryland; United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC. Abb. 1: Claude Paradin, 1557, S. 115. Abb. 2: Shamir Brüder für den Gewerkschaftsverband Histradut, 1938 (PPA). Abb. 3: Unbekannt, Tintenfahne von Eilat, März 1949 (Palmach Archive). Abb. 4: Claude Paradin, 1557, S. 255. Abb. 5: Unbekannt für Irgun, ca. 1935: »La sole solution« (PPA). Abb. 6: Unbekannt, Palmach-Gefährt, ca. 1948 (Palmach Archive). Abb. 7: Unbekannt, Post-1945 (Palmach Archive). Abb. 8: Unbekannt, Ausbildungslager, 1940er Jahre (Palmach Archive). Abb. 9: Unbekannt, Palmach-Fallschirmeinheiten, ca. 1943/44 (United States Holocaust Memorial Museum). Abb. 10: Alfred Leete, Reproduktion des Titelblatts der London Opinion, 1914 (PPA). Abb. 11: Rothshild & Lippman für Keren Hayesod, 1934 (PPA). Abb. 12: David Ismer, Haganah Poster, 1947 (PPA). Abb. 13: Unbekannt, Demonstration in Shanghai, 1945; Detail: Plakat zu »Liste 4« von Fred Goldberg, 1936. (United States Holocaust Memorial Museum). Abb. 14: Abram Games für Keren Hayesod, ca. 1948. (PPA). Abb. 15: Firma E. Hinski, Gedenkdruck: »Eliahu ist gefallen«, 1945 (privat). Abb. 16: Unbekannt, Nahkampfausbildung 1940er Jahre (Palmach Archive). Abb. 17: Ernst Mechner für Histadrut, Konföderation hebräischer Arbeiter, 1947 (PPA). Abb. 18: Unbekannt, Arabisches Palmach-Bataillon, ca. 1941/1942 (Palmach Archive). Abb. 19: Unbekannt, Hinterhalt, 1948 (Palmach Archive). Abb. 20: Unbekannt, Gefechtssituation, 1948 (Palmach Archive). Abb. 21: Unbekannt, Arabisches Poster aus dem Krieg, ca. 1948 (PPA).

Siegfried Weichlein

Blickumkehr: Differenzikonographie im Kalten Krieg

1. Einleitung Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Bilder. Politische Kommunikation bediente sich vorzugsweise audiovisueller Medien. Diese Einsicht ist weder neu noch originell. Doch birgt sie sowohl für den Gegenstand der (Politik-)Geschichtsschreibung als auch für ihre Methode Konsequenzen. Politische Akteure wie Parteien oder Regierungen kommunizierten mit den Wählern in immer größerem Ausmaß über visuelle Botschaften. Bilder übersprangen sehr viel leichter sprachliche Grenzen in mehrsprachigen Gesellschaften, konfessionelle Grenzen in mehrkonfessionellen Gesellschaften und sogar soziale Gegensätze. Bilder wirkten sofort, sie appellierten an ein Bildgedächtnis und spielten mit starken Emotionen. Die Fotografie vermittelte den Eindruck des Unmittelbaren und des Authentischen. Sie entfaltete eine enorme politische Wirkung. Das galt nach 1945 noch stärker von den bewegten Bildern in den Wochenschauen und Nachrichtensendungen. Politische Bilder fanden sich an Orten, an denen man sie nicht vermutete. Noch das harmlose Familienidyll in den Spielfilmen der NS-Zeit hatte in visueller Kodierung eine politische Botschaft enthalten. Filme und Bilder wirkten umso mehr, je weniger man ihnen die politische Botschaft ansah. Aber auch methodisch fordert das »Jahrhundert der Bilder« die Geschichte als Historische Sozialwissenschaft heraus. Wie arbeiten Bilder? An welche anderen »Bilder im Kopf« appellieren sie? Wie sieht das Bildgedächtnis einer Gesellschaft aus? Unterscheiden sich Bildgedächtnisse von Sprachgruppen oder überspringen sie die Sprachgrenze? Historiker haben immer mit Bildern gearbeitet. Dennoch dienten sie bis vor Kurzem eher zur Illustration von Textaussagen. Was unterscheidet die Funktionsweise von Bildern von derjenigen in Texten? Wenn also Historiker sich heute verstärkt Bildern zuwenden, dann erkennt man ihre Ernsthaftigkeit nicht zuletzt daran, wie behutsam sie den Eigensinn, die besondere Wirkungsweise, die Adressaten- und Appellstruktur von Bildern in den Blick nehmen. Die performative Wirkung von Bildern betrifft zumal die soziale Ordnung. Bilder bebildern nicht, sondern stellen selbst eine soziale Praxis dar. Sie richten den historischen Blick auf die soziale Ordnung, die permanent ausgehandelt und reproduziert wird. Orte dieser Aushandlung sind Bilder.1 Die vermehrte Aufmerksamkeit für Bilder betrifft klassische Felder der Sozialwissenschaft: soziale Ordnung und soziale Praxis. Das hat Rückwirkungen auf diejenigen Disziplinen, die sich mit sozialer Ordnung und sozialer Praxis beschäftigen. Sozialwissenschaftler

1 Burri 2008.

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thematisieren in der Zwischenzeit die Bildvergessenheit und Textbesessenheit der Soziologie kritisch.2 Auch der Kalte Krieg wurde in Bildern und über sie ausgetragen. Er war nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Wirtschaftssystemen, Militärblöcken, Expansionswünschen und Sicherheitsängsten. Er war all dies im Medium des Bildes und des Filmes. Bilder und Filme drückten die Differenz zwischen Ost und West, zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, zwischen Ost- und Westeuropa, zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Kapitalismus und Sozialismus usw. aus. Sowohl in West- wie auch in Osteuropa repräsentierten nach dem Beginn des Kalten Krieges 1947 Bilder die politische Systemdifferenz. Die Bildsprache des frühen Kalten Krieges musste in der westlichen Integrationszone eine völlige Kehrtwende gegenüber der Bildsprache des Zweiten Weltkrieges leisten: jetzt ging es um Distanz zum Weltkriegsalliierten Sowjetunion und um die ikonographische Eingemeindung Westdeutschlands. Der Westen repräsentierte sich nach 1947 einerseits in traditionellen Mustern, die hinter die Ära der Diktaturen zurückgegriffen, andererseits aber in neuen Bildern der Moderne, des Konsums und der Demokratie. Im Folgenden sollen mehrere Ebenen der Differenzrepräsentation im Kalten Krieg dargestellt werden. Die These dieser Ausführungen ist, dass sich die Differenzrepräsentationen änderten. Zu Beginn des Kalten Krieges stand die Differenz von West gegen Ost, Vereinigte Staaten gegen Sowjetunion, Demokratie versus Diktatur etc. Das änderte sich jedoch spätestens in den 1960er Jahren. Aus dem äußeren Gegensatz zwischen West und Ost wurde je länger je mehr ein innerer Gegensatz innerhalb der westlichen Gesellschaften. Die Differenz Ost-West wurde internalisiert und neu interpretiert. Aus dem »wir gegen sie« wurde ein »wir gegen uns«.3 Dass Identitätskonstruktionen Differenz voraussetzen, ist ein Gemeinplatz in den Geschichts- und Sozialwissenschaften und in der Philosophie.4 Die Differenz wurde in aller Regel als äußere Differenz konzipiert: Die Nation suchte ihre Identität in der Differenz zu anderen Nationen, die eine soziale Gruppe in der Differenz zur anderen. Oder philosophisch gewendet: das Individuum findet seine Identität in der Differenz zu anderen Individuen, mit denen es auf Augenhöhe und im Angesicht kommuniziert. Das Angesicht des anderen ist zentral für jedwede Form der Selbstsicht. Die Differenzrepräsentation im Kalten Krieg fügt diesem langen Theoriestrang eine neue Note hinzu: die reflexive Differenzkonstruktion. Differenz wird im Kalten Krieg mit dem Szenario der gegenseitigen Vernichtung agonal auf die äußerste Spitze getrieben. Wie kaum eine andere Konstellation drängt das agonale Ende der Geschichte ins Bild und – medial jetzt auf breiter Front möglich – in den Film. Bilder und Filme beschreiben aber nicht nur den finalen Showdown und das agonale Ende der Geschichte. Sie wirken auch darauf 2 Müller-Dohm 1997, 1993. 3 Bronfen 2017. 4 Berding 1996; Bohn 2008; Giesen 1996; Heidegger 2006; Langewiesche 1994.

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zurück, wie man sich den Kalten Krieg vorstellt. Einerseits läuft die Differenzkonstruktion gegenüber dem äußeren Feind weiter, andererseits wird sie reflexiv auf die eigene Gesellschaft, ja so sogar die individuelle Existenz angewendet, in die Differenz eindringt. Die Anthropologie arbeitete bisher im Anschluss an Victor Turner mit Kategorien wie »betwixt and between«, um Übergänge und Zwischenräume zu beschreiben.5 Davon ausgehend könnte man in der Ikonographie des Kalten Krieges davon sprechen, dass sich die klaren Gegensätze auflösten und »twisted identities« und »twisted selves« entstanden. Schon in John LeCarrés Der Spion, der aus der Kälte kam verschwammen die Unterschiede zwischen dem britischen MI6 und der DDR Spionage. Die Bilder der Differenz im Kalten Krieg handelten immer mehr von den westlichen Gesellschaften und letztlich vom Individuum selbst. Einerseits dokumentierten die Bilder weiterhin den politischen Gegensatz. Andererseits wandten sie sich auf den Ost-West Konflikt und wurden selbstreflexiv. Diese Blickumkehr war in Wissenschaft und Forschungsinstitutionen, in Bildern und Filmen greifbar. Bilder und Filme waren das Medium, in dem die Kultur der Reflexivität und der Selbstbeobachtung methodisch am besten beobachtet werden konnte. »Man muss sich den Kalten Krieg als ein glückliches Zeitalter vorstellen.«6 Zwischen 1947 und 1991 herrschten kein Krieg und eine klare politische Orientierung. Man wusste, wo man war und wogegen man sein musste. Diese Eindeutigkeit bezieht sich auf die oberste politische Ebene des Kalten Krieges und ihre politischen Feindstellungen. Schaut man freilich in die Bildsprache des Kalten Krieges und ihren Wandel, dann werden diese Zuordnungen weniger eindeutig. Der Feind stand in vielen Fällen im Inneren und arbeitete im eigenen Land. Er konnte aber auch die dunkle Seite eines Freundes oder Kameraden sein, was zum Gegenstand des Filmklassikers The Manchurian Candidate (John Frankenheimer 1962) wurde. Der politische Gegner konnte in die eigene Psyche eindringen und war damit nicht mehr eindeutig außen zu suchen. Wie werden Bilder reflexiv? Wie wurden die Bilder im Kalten Krieg reflexiv? Auf der inhaltlichen Ebene kann Reflexivität sowohl Kritik als auch Psychologisierung bedeuten. In jedem Fall geht es um Identität, deren Eindeutigkeit aufgebrochen wird. Auf der formalen Ebene, die immer mit dem Inhalt korrespondiert, arbeiten reflexive Bilder mit Temporalstrukturen wie Rückblenden oder Traumsequenzen.7 Sie bilden durch Überblendung, Brechung und Kontrast Ambiguität ab. Auf der Ebene der strikten Kunst- und Bildtheorie wird man dabei ansetzen müssen, dass Bilder ihren Eigensinn und ihre je eigene Performanz besitzen. Bilder dienen nicht der bloßen Repräsentation. Sie handeln selbst. Horst Bredekamps Theorie des Bildakts setzt hier an.8

5 6 7 8

Turner 1987. Müller 2012, S. 33. Bronfen 2006, 2011; Rogin 1984. Bredekamp 2015.

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Die historische Sicht auf die Reflexivität der Bilder wird stärker beim Publikumsgeschmack beginnen müssen. Millionenfach gelesen und gesehen wechseln Bilder ihre Richtung der Darstellung. Sie bilden nicht einfach ab. Sie kritisieren vielmehr, ironisieren und karikieren. Bilder machen sich selbst zum Gegenstand, sie thematisieren ihre eigene Perspektive. Reflexivität ist die Umkehrung der Blickrichtung: vom Gegenstand auf den Bildmacher und den Herstellungsprozess, vom Bild des Ostens im Kalten Krieg zum Bild des Kalten Krieges selbst. Bilder sind Teil des Kalten Krieges und nehmen doch später eine epistemische Stellung oberhalb des Kalten Krieges ein. Bilder sind Beobachtung und sogar gelenkte Beobachtung, aber auch Beobachtung der Beobachtung, mithin Beobachtungen zweiter Ordnung.9 Dies galt in erster Linie für die westliche Bilder- und Metaphernproduktion. In der Sowjetunion war dies unter den Bedingungen der Zensur so nicht möglich. Während generell in der Ästhetik nach 1945 eine Hinwendung zur Materialität auffällt, wird in der Ikonographie des Kalten Kriegs weniger die mediale Herrichtung von Kunst als solche, sondern die eigene Gesellschaft, letztlich das Individuum zum Gegenstand. Wo die Politik den Gegensatz von Blöcken und Ideologien herausstellt, richtet die Bildproduktion den Blick auf die Kämpfe in der Gesellschaft und das zerrissene Individuum. Die Blickumkehrung wird im Folgenden auf drei Feldern nachgezeichnet: anhand der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit mehrerer Bilder von Helden (2.), anhand der Bilder der Moderne, die je länger je mehr nicht mehr Bilder des Westens gegen den Osten sind (3.), und anhand der Bilder der Geschichte des Zufalls (4.). 2. Die Bilder von Helden In den Kopf passen immer mehrere Bilder. Die Absicht der Bildproduzenten im Kalten Krieg war es, Reihen von zueinander passenden Bildern zu produzieren. »On message« zu bleiben, war die Strategie in Wahlkämpfen, »on image« zu bleiben die der Bildstrategen. Es existierten aber widersprüchliche Bilderreihen im öffentlichen Raum, die verschiedene Gruppen ansprachen. Solange konträre Bilderwelten sozial getrennt konsumiert wurden, wirkten sie politisch stabilisierend. Alleine, viele Betrachter verhielten sich nicht so, wie es die Politik wollte oder vorhersagte. Die kommunistische Jugend in Lothringen in den 1950er Jahren ist ein Beispiel für widersprüchliche Bilder im Kopf. In den Eisenhütten von Longwy an der Grenze zwischen Luxemburg, Frankreich und Belgien besaß die Kommunistische Partei starken Rückhalt. Stalin genoss hier besondere Verehrung. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Kommunisten unter den Gruben- und Stahlarbeitern seit den 1920er Jahren dominierten. Ihr Widerstand gegen die deutsche Besatzung brachte sie noch näher an den Führer der Sowjetunion heran. Die jahrelange Resistance knüpfte ein enges emotionales Band zwischen ihnen und Stalin. Nach seinem Tod am 5. März 1953 ließen die Arbeiter der kommunistischen Parteigliede9 Luhmann 2007.

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rung in Meurthe-et-Moselle ihre Arbeit ruhen, hielten Schweigeminuten ab und ließen sogar die Lokomotiven eine Minute lang pfeifen. Der spätere kommunistische Abgeordnete für Meurthe-et-Moselle Louis Dupont schrieb am 14. März 1953 in der Parteizeitung La Voix de l’Est: »Il est dix heures du matin. Paul Fabbri, secrétaire de la Fédération, nous rassemble tous au siège du journal. Et debout, devant le portrait de Staline, nous observons une minute de silence, un silence profond, lourd, poignant. Les secondes passent, l'image de Staline est là, près de nous, nos yeux ne se détachent pas de ce visage exprimant la simplicité et la bonté. Ses yeux vifs, pétillent d'intelligence. Un regard qui a vu grand et loin. Nos pensées vont à Staline, à ce que nous lui devons. Nos pensées vont à Moscou qui, à l’heure où nous sommes, conduit notre maître, notre guide à sa dernière demeure.«10

Das regionale Parteiorgan verkündete die vollständige Solidarität zwischen den lothringischen Arbeitern und ihren sowjetischen Brüdern. Es sandte ein Beileidstelegramm an die sowjetische Botschaft in Paris. Die nationale Parteizeitung Humanité sprach gar vom »Tod des Vaters«.11 Nach dem Koreakrieg (1950-53) waren die ideologischen Lager in Ost und West festgefügt. In der hochpolitisierten französischen Arbeiterschaft war klar, wo man zu stehen hatte, nämlich an der Seite der antifaschistischen Sowjetunion. Der Tod Stalins war der symbolische Höhepunkt der politischen Solidarität mit der Sowjetunion. Der französische Stalinismus war hier auf seinem Höhepunkt angelangt. Die Trauer um Stalin festigte die Fronten und die Hierarchie in den eigenen Reihen. Sie unterstrichen den örtlichen Arbeitgebern gegenüber die Bedeutung der kommunistischen Gewerkschaften und innerkommunistisch die Parteihierarchie. Die kommunistische Parteizentrale organisierte und koordinierte die Erinnerung an Stalins Tod, die Schweigeminuten und die öffentliche Trauer. Aber es blieb eine weitgehend formale Angelegenheit. Spontan kam die Trauer in der kommunistischen Jugend in den Stahlwerken von Longwy dagegen bei Anlässen im Sport und Film. Ein italienischer Arbeiter meinte später, man habe nur zweimal in der Werkstatt freiwillig eine Schweigeminute eingelegt und die Arbeit niedergelegt: beim Tod des Radfahrer-Idols Fausto Coppi am 2. Januar 1960 und des Film-Idols Humphrey Bogart im Januar 1957. Letzterer stand freilich wie kaum jemand anderes für das amerikanische Kino. Dem Männlichkeitskult der Stahlarbeiter entsprachen mehrere Heldenfiguren, so sehr sich die Kommunistische Partei auch um eine einheitliche Linie bemühte. Der Stalin-Kult bediente die kommunistische Heldenverehrung genauso wie die Erinnerung an kommunistische Schriftsteller und Wissenschaftler. Dabei gab es durchaus Anleihen bei den laizistischen »Heiligen« der Dritten Republik. Die »militants ouvriers« des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren ihrerseits Vorbilder für kommunistische Führungsfiguren.12 Aber auch Humphrey Bogart bediente die Ikonographie der Helden, wenn auch auf andere Weise. Die Welt der Bilder und der bewegten Bilder war selbst zur Hochzeit des Kalten Krieges kein

10 Montebello 1993, S. 121. 11 Ebd., S. 115f.. 12 Lazar 1990.

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einfaches binäres System. Eindeutig zu sein war aber ein zentrales Phantasma des Kalten Krieges.13 Der sozialistische Realismus war in besonderer Weise der Eindeutigkeit des Kalten Krieges und der Deckungsgleichheit von Politik, Kunst und Kultur verpflichtet. Er war voll von kommunistischen Parteihelden wie Stalin und Maxim Gorki. Nach der Verurteilung des Formalismus, des Modernismus und des Subjektivismus 1948 traten Experiment, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit bei kommunistischen Künstlern zurück. Die kommunistischen Arbeiter in Longwy ließen sich jedoch nicht nur vom sozialistischen Realismus stimulieren, sondern auch von der Bilderwelt des amerikanischen Kinos. Widersprüchliche Bilder von Helden koexistierten in den Köpfen. Beide Helden, Stalin und Bogart, waren im Wesentlichen noch ungebrochen. Ihre Ikonographie verdoppelte die Heldenfigur und brach sie nicht. Helden gab es auch in dem aufsteigenden Genre des Science fiction-Films. Science fiction-Filme hatten seit den 1950er Jahren Konjunktur. Das Genre weitete sich aus. Das Invasionsmotiv stellte die Verbindung zum Kalten Krieg her.14 Dass fremde Staaten das eigene Land überfielen, fand sich bereits in der Science fiction-Literatur der Vorkriegszeit. Schon vor 1914 waren in der englischen Literatur Invasionsgeschichten populär, in denen Deutsche die Insel eroberten. Das Gleiche fand sich wieder vor 1939. Nach 1947 war die sowjetische Invasion das politische Hintergrundmotiv für Invasionen im Weltall, ein beliebtes Sujet im Science fiction.15 Alles daran war binär kodiert: Verteidiger gegen Angreifer, die Eigenen gegen die Fremden, der Westen gegen den Osten und alles zusammenfassend: menschliche Wesen gegen Außerirdische. Der politische Differenzeffekt war eindeutig: die Dämonisierung der Sowjetunion als außerirdische Monster. SciFi brachte den »Cold War orientalism« auf die Leinwand und machte die Sowjets zu asiatischen bestialischen Wesen. SciFi spielte mit dem sehr viel älteren Stereotyp der »gelben Gefahr« und übertrug ihn auf die Sowjets.16 Solche polarisierten Differenznarrative lagen William C. Menzies Horrorfilm Invaders from Mars (1953) und Byron Haskins The war of the worlds (1953) zugrunde. Die Außerirdischen in ihren fliegenden Untertassen trugen sowjetische Züge. Ihr Führer war ein Diktator, der über eine Armee voller hirnloser Diener gebot. Genau so stellte man sich in den USA die sowjetischen Arbeiter unter dem Kommunismus vor. Die Verteidigung übernahm auch im Film das US-Militär. Als die Invasoren vom Mars Menschen in ihre Gewalt bekamen, wurden die warmherzigen Erdenbewohner kaltherzig und brutal. Science fiction bildete die Bedrohungslage der McCarthyÄra ab. Der Senator aus Wisconsin hatte in der amerikanischen Öffentlichkeit und speziell in der Filmindustrie kommunistische Wühlarbeit am Werk gesehen. Auch diese Wendung nahm das SciFi-Genre auf. Auch auf der Leinwand überfielen schließlich nicht mehr Außerirdische das eigene Land. Sie tarnten sich als ganz 13 14 15 16

So Greiner 2016. Dannenberg 2010. Black 2015; Booker 2001; Seed 1999. Klein 2003, 2000, 2004.

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normale Amerikaner und waren so viel gefährlicher. Der Paradigmenwechsel lag darin, dass der Feind nicht mehr draußen klar zu identifizieren war, sondern vielmehr nebenan wohnen konnte und unentdeckt blieb. In Filmen wie The day the earth stood still von 1951 (Robert Wise, 20th Century Fox 1951) wurden aus diesen sehr einfachen binären Erzählungen komplexere Geschichten. In Robert Wises Film waren die Außerirdischen im Prinzip gutartig und wurden erst durch die Paranoia der Irdischen zu Verfolgten. In einer Umkehrung der Blickrichtung verkehrte dieser Film die Rollen von Aggressor und Opfer. Die Paranoia einer Gesellschaft, die überall auf der Suche nach dem Feind war, machte aus den Außerirdischen Feinde. Diese Umkehrung der Blickrichtung sollte für die cineastische Ikonographie des Kalten Krieges bezeichnend werden. Das Format Science fiction diente dazu, um den fehlenden Dialog zwischen den Gegnern im Kalten Krieg offen zu legen und um auf die Gefahr hinzuweisen, die darin für die Menschheit lauerte.17 Science fiction war in der Lage, die demagogische Rhetorik des Kalten Krieges in den Medien genauso wie die Obsession vor einer kommunistischen Bedrohung anzuklagen. Jack Arnolds It came from outer space (1953) kritisierte ebenfalls – wiewohl in einem völlig anderen Setting – das Verhältnis der nordamerikanischen Gesellschaft zum Fremden. Die Bildersprache dieses Films arbeitete mit der optischen Perspektive der Außerirdischen auf die menschliche Gesellschaft und kehrte die Blickrichtung beim Zuschauer auch emotional um. Aber die Blickumkehrung ging noch weiter. Komplexere SciFi-Filme trugen den Kalten Krieg in die menschliche Person selbst hinein. Der Kalte Krieg tobte hier nicht mehr zwischen den Blöcken, sondern im einzelnen Individuum. Außerirdische konnten in die menschliche Psyche eindringen, menschliche Gestalt annehmen und waren so kaum mehr von anderen Menschen zu unterscheiden. Sie wurden zu Feinden im Inneren, zum »enemy from within«, wie es paradigmatisch John Frankenheimers The Manchurian Candidate (1962) vorführte.18 Die Science fiction-Filme machen aus dem Gegensatz von »wir gegen sie« den Gegensatz »wir gegen uns«. Der Kalte Krieg war damit auf der Leinwand in die westlichen Gesellschaften selbst eingedrungen. Indem der Feind die eigenen Züge annahm, entstanden psychologisch komplexe Geschichten der Invasion. In The Manchurian Candidate waren Außerirdische in der Lage, in eine einzelne Person einzudringen. Der individuelle menschliche Körper wurde zum Ort der Invasion inklusive Gehirnwäsche. Die eigene Homeland culture der 1950er und diejenige der Angreifer waren nicht mehr verschiedenen Personen zugeordnet, sondern spielten sich sehr viel subtiler in Persönlichkeitsschichten ab. Das Eigene wurde fremd. Das politische Ergebnis dieser Hybridität war Paranoia, also der verzweifelte Versuch, Binarität unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. Weil man nicht wusste, wo der Gegner war, musste er überall

17 Dannenberg 2010, S. 44; Ritzenhoff/Krewani 2016. 18 Jacobson/González 2006; Belletto 2015; Belletto/Grausam 2012.

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sein. Der amerikanische Historiker Richard Hofstadter brachte dies 1964 in seinem Text zu The paranoid style of American Politics zum Ausdruck.19 Die Plot- und Bildersprachen der Science fiction-Filme der 1950er Jahre begannen mit der Dämonisierung der Außerirdischen, rückten davon ab und thematisierten die Gefahr im Inneren, die Zerrissenheit der eigenen Normalität. Im normalen Alltag, der in The Manuchrian Candidate oder in Invasion of the Body Snatchers von Don Siegel (1956) dargestellt wurde, verbarg sich hinter dem Vertrauten der Feind. Einerseits nutzten SciFi-Filme das Invasionsmotiv, um mehr Zuschauer zu erreichen. SciFi wurde nicht zuletzt durch Invasionsgeschichten populär. Andererseits interpretierten SciFi-Filme die Invasion neu und machten daraus ein psychologisierendes Drama der nordamerikanischen oder generell der westlichen Gesellschaft selbst. »Science fiction films are not about science«, formulierte Susan Sontag 1965 den Zusammenhang prägnant. »They are about disaster, which is one of the oldest subjects of art.«20 3. Bilder der Moderne Auch das Leitbild der modernen Gesellschaft war dichotomisch strukturiert. Sozialwissenschaftler um den Ökonomen, Wirtschaftshistoriker und Nationalen Sicherheitsberater Walt Rostow stellten in den 1950er Jahren einen Kriterienkatalog der Modernisierung auf, der die Entwicklung westlicher Gesellschaften zur Norm nahm und sie von östlichen abgrenzte.21 Im Zentrum stand dabei eine Kombination von Partizipation in der Wirtschaft und in der Politik. Die Entwicklung einer Konsumgesellschaft sollte parallel laufen mit der politischen Demokratie.22 Der sozialwissenschaftliche »cold war modernism« arbeitete die Differenz von westlicher Freiheit und östlicher Diktatur heraus. Die westliche Freiheit sollte sich in der künstlerischen und ästhetischen Freiheit ausdrücken. Gerade die abstrakte Kunst und der Modernismus sollten die Freiheit der Künstler im Westen belegen. Der erste Präsident des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) Alfred H. Barr brachte es 1952 auf die griffige Formel, dass Realismus der bevorzugte Stil des Totalitarismus und abstrakte Kunst derjenige der politischen Freiheit sei.23 Der politische Ort des Modernismus war in der Zwischenkriegszeit eher auf der Linken gewesen. Barr und anderen diente das als Argument für die Freiheit im Westen, wo man gerade keine Berührungsängste vor linken unorthodoxen Vorstellungen hatte. Das State Department und verschiedene politiknahe Stiftungen wie die Fordund die Rockefeller-Foundation setzten abstrakte Malerei und Jazz als Propaganda für den Westen ein. Sie sponserten Ausstellungen des Museum of Modern Art 19 20 21 22 23

Hofstadter 1965. Sontag 1965, S. 44. Gilman 2003; Latham 1998, 2000. Gilman 2003; Baber 2001; Ekbladh 2010; Haefele 2003; Luke 1991. Cockroft 1983.

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in Europa genauso wie Konzerttourneen von Dave Brubeck. 1956 organisierte das MoMA eine Europatour seiner Ausstellung »Modern Art in the United States« in acht Städten.24 Zu sehen waren Bilder von Willem de Kooning, Franz Kline, Robert Motherwell, Jackson Pollock und Mark Rothko. 1958 schickte Außenminister John Foster Dulles Jazz Musiker wie Dave Brubeck auf eine WeltTournee mit zwölf Konzerten in der Türkei, in Pakistan, Indien, Afghanistan, Ceylon und schließlich Iran und Irak. Dizzie Gillespie ging nach Griechenland, Louis Armstrong nach Afrika. Das Gleiche galt für die Architektur, wo der modernistische Stil von Mies van der Rohe und vielen anderen vertreten wurde. Jedes Mal transportierten die Bilder und die Jazzabende auch eine politische Botschaft: Freiheit gibt es nur in den USA und im Westen. Tatsächlich verstanden die Parteispitzen in Osteuropa dies als Herausforderung, wenn nicht als Kampfansage. Das DDR-Handbuch der Architekten von 1954 wandte sich schroff gegen den Modernismus des Congrès International d’Architecture moderne, kurz CIAM. Der CIAM verkörpere die Kräfte der Reaktion. Die Bauten der Architekten des CIAM seien formalistisch und ordneten sich der kosmopolitischen Ideologie des amerikanischen Imperialismus unter. Die Gebäude würden überall gleich aussehen, egal ob sie in Westdeutschland, Italien, Frankreich oder in den Vereinigten Staaten stünden. Sie alle seien Ausdruck des Profithungers des Monopolkapitalismus unter amerikanischer Vorherrschaft. Dessen Ziel sei die Zerstörung nationaler Eigenheiten im Bauen, was sich in der Zerstörung wertvoller historischer Bausubstanz ausdrücke. Der CIAM stehe nicht mehr für Architektur, sondern für bloße Konstruktion.25 Dennoch differenzierte sich in den politischen think tanks, in Kunst und Kultur und in den Sozialwissenschaften das Bild von Freiheit gegen Diktatur und West gegen Ost schon früh. Ein besonders gutes Beispiel waren die von der US-Luftwaffe und der US-Armee finanzierten sozialwissenschaftlichen Studien, um in der Sowjetunion Nachweise für Diktatur und Unterdrückung zu finden, also für das Gegenteil einer modernen freien Gesellschaft. Die Sozialwissenschaftler Joseph Berliner und Clyde Kluckhohn interviewten im Auftrag der US-Luftwaffe zwischen 1949 und 1953 ungefähr 330 in Westdeutschland gebliebene Russen, um herauszufinden, ob die Sowjetunion stabil war oder bald zusammenbrechen würde. Die Ergebnisse liefen den Erwartungen ihrer Geldgeber zuwider: »In most respects Soviet society reflected the characteristics of a class society of the Western industrial kind.«26 Die soziale Schichtung in der Sowjetunion unterschied sich zwar graduell von derjenigen in westlichen Gesellschaften, nicht aber prinzipiell. Sie folgte dem gleichen Modell der industriellen Klassengesellschaft. Sie war also gar nicht so anders und würde auch nicht so schnell zusammenbrechen. In die gleiche Richtung ging das Projekt der RAND Corporation zum Smolensker Parteiarchiv der KPdSU, das 1941 zuerst in deutsche und später in amerikanische 24 Cockroft 2013; Genter 2010; Wulf 2015. 25 Edwin Colleins Handbuch für Architekten (1954) zit. n. Åman 1992, S. 251. 26 Engerman 2009, S. 369.

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Hände gefallen war. Der Sozialwissenschaftler Merle Feinsod konnte ebenfalls nicht bestätigen, dass die Sowjetunion eine totalitäre top-down Diktatur war, in der eine winzige Gruppe von Leuten über die große Masse herrschte. Stattdessen stieß Feinsod auf eine Reihe innerer Widersprüche in der Sowjetunion, die die Totalitarismustheorie nicht erklären konnte. Zudem fand er Belege für Unterstützung des Systems von unten, was den Annahmen seiner Auftraggeber direkt widersprach.27 Diese und weitere Projekte versuchten die Leitdifferenz von Moderne versus Tradition in die politische Differenz von West gegen Ost zu übersetzen. Genau das aber gelang nicht, weil auch in der östlichen Integrationszone Moderne und Modernität theoretisch und praktisch an Bedeutung gewannen. Außerdem konnte die westliche Integrationszone nicht auf Moderne und Modernität reduziert werden. Vielmehr entwickelte jede Gesellschaft ein eigenes Mischungsverhältnis von Moderne und Tradition. Dieses Mischungsverhältnis drückte sich in Bildern aus. In dem Genre des Kalten Kriegs-Films schlechthin, dem Spionagefilm etwa, verband eine Figur wie James Bond die Figur des englischen Gentlemans mit der avancierten Technik des Mr. Q. In den französischen Spionagefilmen des OSS 117 war der moderne Protagonist Hubert Bonisseur de la Bath einerseits adlig und markant der Tradition verpflichtet, andererseits gebot er wie James Bond über die neuesten technischen Mittel.28 Dieser Ritter der Moderne stand in der langen Tradition, die moderne Technik zu domestizieren und zu aristokratisieren.29 Gerade im französischen Fall stieß die binäre Vorstellung von »Moderne versus Tradition« auf scharfe Kritik. Französische Intellektuelle führten ihre Debatte um die Amerikanisierung exemplarisch und mit einer gewissen Obsession anhand des »frigidaire«, aber auch des Fotoapparats (»Kodak«).30 Beide hielten in den fünfziger Jahren aus den USA kommend auch in Frankreich ihren Siegeszug. Der »frigidaire« stand für mehr als die Möglichkeit, Lebensmittel haltbar zu machen. Er assoziierte ein anderes Lebensgefühl, einen anderen Lebensstandard und einen anderen Umgang mit dem Alltag. Besonders die linke Presse hatte sich den Kühlschrank als Feind vorgeknöpft. Berühmtheit erlangte die Hassrede des linken Schriftstellers Roger Vailland von 1956 gegen den Kühlschrank. Er hielt den »frigo« für ein während der meisten Zeit des Jahres gänzlich nutzloses Gerät. In Frankreich sei es normalerweise kalt genug, dass das Lamm vom Sonntag im Vorratsschrank sich bis Mittwoch hielt.31 Was ihn auszeichne, sei lediglich die Fähigkeit, Eiswürfel für Whiskycocktails herstellen zu können. Unter vielen Kommunisten belegte der Kühlschrank kapitalistischen Überfluss und ein typisch amerikanisches Lebensgefühl, das sich um Cocktailpartys drehte. Der Cocktail und die Cocktailparty waren in diesem Sinne so amerikanisch, wie der Rotwein aus Bor27 28 29 30 31

Fainsod 1958. Vgl. u.a. Bruce 1951, 1959. Für diesen Hinweis danke ich Markus Dauss. Kuisel 1990. Kuisel 1993, S. 40; Flower 2009.

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deaux französisch war. Der kommunistische Intellektuelle Louis Aragon polemisierte in die gleiche Richtung, als er 1951 die nordamerikanische »civilization of bathtubs and frigidaires« rundheraus ablehnte. Der »frigo« stand emblematisch für Amerika.32 Diese Kritik wurde von katholischen Konservativen genauso geteilt wie von Kommunisten. Le Monde sah 1949 eine kommerzielle und kulturelle Invasion auf Frankreich zukommen, bestehend aus Coca-Cola, Chrysler und Buicks, amerikanischen Traktoren, Nylonstrümpfen und nicht zuletzt »frigidaires«.33 Gleichzeitig besaßen zur Mitte der 1950 er Jahren etwa die Hälfte aller Franzosen einen Kühlschrank. Den Unterschied zwischen der französischen zur US-Gesellschaft am Kühlschrank festzumachen, hatte zwei Adressaten: auf der einen Seite richtete sich diese Polemik gegen die USA und die Amerikanisierung von außen. In Frankreich hatte sie eine wachsende Zahl von Französinnen im Visier, die einen Kühlschrank benutzten, Coca-Cola tranken und Nylonstrümpfe anzogen. Die Differenz zwischen Kühlschrank und Nicht-Kühlschrank betraf die eigene Gesellschaft. Mehr noch als in den USA oder in Großbritannien besaß die »guerre froide« durch die Stärke der PCF von Anfang an eine innenpolitische Dimension. In der politischen Ikonographie von Kühlschrank, Coca-Cola und Nylonstrümpfen ging es weniger um die USA als vielmehr um die kulturelle Hegemonie in Frankreich selbst. Das lehrt auch ein Blick auf die Bundesrepublik. Hier richtete sich das modernistische Paradigma des Kalten Krieges in erster Linie nach innen und auf die eigenen historischen Widersprüche. Viele Westdeutsche setzten sich durch die Art ihrer Inneneinrichtung zur Vergangenheit in Beziehung. Fragen des Geschmacks verbanden sich in der Bundesrepublik häufig mit der Vergangenheit. In den frühen 1950er Jahren regte sich vernehmlich Kritik an der Vorliebe für wuchtige Wohnzimmerschränke und Wohnraumbüffetts, Stühle mit geschwungener Lehne, klobige Polstersessel und gegen den »Gelsenkirchener Barock«. Viele Arbeiter im Ruhrgebiet hatten ab 1930 ihre gestiegenen Löhne in diesen Wohnküchenschrank investiert. Allen, die es sehen wollten, zeigte seine Vitrine das gute Sonntagsgeschirr. Noch in den 1950er Jahren tauschten die Kumpel ihre hart verdienten Groschen gerne gegen diese Schrankungetüme mit geschwungenen Linien, Zierleisten und reich interpretierten Griffen für die Schubladen ein. Sie machten den Eindruck von Herstellung durch Handarbeit und Einzelfertigung, wurden aber in Serie hergestellt. Mehr als die Hälfte aller Westdeutschen teilte diesen Geschmack für wuchtige Möbel, wie das Institut für Demoskopie Mitte der 1950er Jahre herausfand. Wer dieses ausladende Möbelstück besaß, hatte sich emporgearbeitet. Und das sollte jeder sehen. »Gelsenkirchener Barock« war Ausdruck von Arbeiterstolz. In der Vitrine des »Gelsenkirchener Barocks« fand sich allerlei »Nippes« zum Betrachten. Die modernistische und geometrisch geformte einfache Linie setzte dagegen andere Akzente. Ihre Kritik am Wohlstandsaccessoire »Gelsenkirchener Barock« 32 Brogi 2011, S. 170. 33 Kuisel 1991.

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richtete sich gegen die Vorliebe, den jüngst erworbenen Wohlstand in repräsentativen Möbelstücken auszudrücken, Statussymbole zu erwerben und den gestiegenen Verdienst demonstrativ nach außen hin zu zeigen. Im September 1951 arbeitete Der Spiegel den Gegensatz zwischen dem reduzierten Bauhaus-Geschmack und dem »Gelsenkirchener Barock« heraus. 1953 und 1954 versuchten Publikumszeitschriften wie Brigitte und Constanze ihrem Publikum die klare Linie nahe zu bringen und es vom dekorativen Stil wegzulocken. Die Westdeutschen sollten ihre alten Träume von bürgerlicher Repräsentation aufgeben und zu einem einfacheren und stärker egalitären Lebensstil finden.34 Die Leitdifferenz von Moderne versus Tradition, Kernstück des westlichen »cold war modernism«, organisierte die Geschmacksdebatten und die Vorlieben der Bundesdeutschen für Bilder und Innendesign. Aus einer Ikonographie der Wohlstandsattribute wollten die Modernisten eine demokratische Ikonographie der Gleichheit machen, die auf alle Ornamente verzichtete, eine Vorliebe für das Abstrakte teilte und sich den Vereinigten Staaten anglich. Die Vereinigten Staaten waren nicht nur ein ästhetisches Argument gegen die Sowjetunion, sondern auch gegen die nationalsozialistische Vergangenheit und die langen Linien zum Wilhelminismus. Das modernistische Paradigma grenzte die Bundesrepublik von den ästhetischen Vorlieben der deutschen Vergangenheit ab. Hier war »Moderne versus Tradition« nicht mehr gleichbedeutend mit dem Ost-West Gegensatz, sondern ein gesellschaftliches Instrument, um die Obrigkeitsgesellschaft und ihr Schaugehabe zu überwinden. Die Differenzen über Moderne und Modernisierung in Frankreich und Westdeutschland waren Teil einer größeren Auseinandersetzung. Man kann mit Arne Westad den Kalten Krieg als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Versionen von Modernität verstehen, die Sozialismus und Kapitalismus anboten.35 Das Modernisierungsparadigma gewann während der 1950er Jahre nicht nur im Westen an Bedeutung, es wurde auch zum Leitbild von Politik und Wirtschaft im Osten. Moderne und Modernisierung bildeten gewissermaßen systemübergreifende Pathosformeln, ein Begriff, der aus der politischen Ikonographie Aby Warburgs stammt. An dem Versprechen von Moderne und Modernisierung wollten sich beide Systeme messen lassen. Spätestens mit dem Sputnik-Schock von 1957 trat zu dem Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus der Wettbewerb um Modernität: welches System würde sich als geeigneter zeigen, die wissenschaftlich-technische Moderne herbeizuführen? Die Beziehungen zwischen der westlichen und der östlichen Integrationszone basierten damit nicht nur auf Konflikt und Kaltem Krieg, sondern ebenso auf einem Wettbewerb um die größeren Systemleistungen. Als Ausweis von Modernität galten Wirtschaftsleistung, Weltraum- und Raketentechnik, aber auch Architektur. Architektur und Stadtplanung waren besonders sinnfällig in diesem Wettbewerb um Modernität. Das Berliner Hansa-Viertel wurde auf der Internationalen Bau-Ausstellung 1957 im Westteil der Stadt gefeiert. Es stellte die Antwort auf die neue Stalin-Allee in Friedrichs-

34 Scholz/Veenis 2012, S. 165; Schildt/Siegfried 2009, S. 102. 35 Leffler/Westad 2010, S. 10.

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hain im Ostteil der Stadt dar, die mit enormen Propaganda-Aufwand errichtet worden war.36 4. Bilder der Geschichte Differenzikonographie fand in physischen und in kognitiven Bildern statt. »Cognitive maps« konstruierten den Kalten Krieg entlang von dichotomen Begriffen. Das Gegensatzpaar von Zufall und Notwendigkeit war ein kognitives Bild, auf das Politik und Literatur zurückgriffen, um den Kalten Krieg zu beschreiben. Die semantische Opposition von Zufall und Notwendigkeit war ästhetisch produktiv und politisch-militärisch einflussreich. Die binäre Differenzsemantik im Kalten Krieg lebte von emphatischen Selbstbehauptungen, normativen Überhöhungen des eigenen Systems und von einem Geschichtsbild, das mit Notwendigkeit auf die westliche kapitalistische Demokratie oder auf die östliche Parteidiktatur zulief. Nur so konnte dem Leser, Betrachter oder Zuhörer die notwendige Loyalität rational abverlangt werden. Der polnische Emigrant Jerzy Kosiński veröffentlichte 1960 in den USA sein Buch The Future is ours, comrade.37 Darin beschrieb er die Sowjetunion als einen Überwachungsstaat, in dem jeder Zufall ausgeschaltet wurde. Das System hatte jedes Detail im Alltag im Griff. Dies ging so weit, dass die Führung sogar Zufälle in den Alltag einbaute, um das regelkonforme Verhalten der Bürger zu kontrollieren. So würde sichergestellt, dass alle auf einen Zufall wie vorgeschrieben reagierten. Der Zufall wurde zum letzten und ultimativen Beweis höchster Planung. Die Sowjetunion vertrat demnach ideologisch den historischen Determinismus. Zufall konnte es oberflächlich gesehen zwar geben. Doch ein genauerer vom Historischen Materialismus gelenkter Blick ließ sehen, dass in Wirklichkeit auch durch den Zufall hindurch und sogar mit ihm die objektiven Gesetze der Geschichte wirkten. Zufall konnte es im Kommunismus nicht geben, in der Sowjetunion, der Speerspitze der Entwicklung, durfte er nicht existieren. »No accident, comrade!« betitelte Steven Belletto sein Buch über die literarische Behandlung von Zufall und Notwendigkeit im Kalten Krieg treffend.38 Das Bild der Geschichte beruhte ideologisch gesehen auf eindeutig angebbaren Kräften. Freiheit konnte – mit Hegel gesprochen – nur die Einsicht in die Notwendigkeit sein. Kosińskis Buch wurde in den Vereinigten Staaten enthusiastisch aufgenommen, weil es erlaubte, westliche Freiheit mit dem Zufall zusammen zu denken. Das Reich der Notwendigkeit in der Sowjetunion war diskreditiert. Genauso wie die Notwendigkeit im Kommunismus den Zufall ausschloss, schloss die Freiheit in den Vereinigten Staaten ihn ein. Diese Dichotomie von Notwendigkeit und Zufall entsprach derjenigen von Realismus im Osten und abstrakter Kunst im Westen. Doch schon bald gab es in der Literatur noch komplexere Muster der Beschrei36 Castillo 2010; Ladd 2001; Podewin 2014. 37 Kosiński/Levine 1960. 38 Belletto 2012.

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bung von Zufall und Notwendigkeit. Wenn man die Blickrichtung nur umkehrte, lebten die sowjetischen Bürger in einer Fiktion, die von ihren eigenen höchsten Stellen geschrieben wurde. Zahlreiche Autoren wie Thomas Pynchon (»V.«), Don DeLillo und andere beschäftigten sich mit der paradoxalen Struktur von Zufall und Notwendigkeit.39 Pynchon arbeitete die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem auktorialen Erzählen, das vom Zufall handelte, und modernen politischen Systemen heraus, die den Zufall als Kontrollinstrument für regelkonformes Verhalten benutzen. Das war übergreifend für alle Systeme gemeint. Pynchons Pointe war indessen eher literaturtheoretisch. Andere folgten ihm. Literatur und zumal Science fiction nahmen das Konzept des Zufalls auf und gebrauchten es selbstreflexiv bis hin zur Frage, ob es in der Literatur überhaupt eine Möglichkeit gibt, objektive Realität zu erzählen. Wie konnte ein Autor in seinem Schreiben überhaupt einen Bezug zur Realität herstellen, die doch immer vom Zufall durchwirkt war? Um den Zufall im Verhalten des Gegners besser kennenlernen, voraussagen und in die eigene Planung einbeziehen zu können, simulierten think tanks den Atomkrieg. Sie stellten sich den Gegner als rationalen Akteur vor. Man setzte komplexe Situationen voraus, bei denen keine der beiden Seiten das Verhalten der anderen kannte und deshalb auch nicht gemäß den eigenen ideologischen Vorgaben handeln konnte. Schließlich war auch ein Atomschlag auf die Sowjetunion in der Annahme, Moskau hätte seinerseits gerade einen Erstschlag befohlen oder sei dabei ihn auszulösen, für die USA keine ernst zu nehmende Option, weil er die Selbstzerstörung impliziert hätte. Die Sowjetunion hätte den (dann) faktischen Erstschlag der USA beantworten müssen, obwohl die US-Militärs selbst gar nicht der Ansicht waren, einen Erstschlag ausgeführt zu haben. War das alles nur eine Verkettung von Zufällen und widrigen Umständen? Die Folge solcher Furchtszenarien war, dass die Militärs und die Politik die Komplexität solcher Gemengelagen reduzieren wollten und sich verlässliche Modelle wünschten, um das Verhalten des Gegners zu antizipieren und entsprechend zu planen. Die Obsession mit dem Zufall, der unter den Bedingungen des Kalten Krieges absolut und in jedem Fall vermieden werden musste, begann auf den Titelseiten der New York Times und wurde in den Cartoons von The New Republic das erste Mal diskutiert. Think tanks blickten auf den Kalten Krieg durch die Brille der Spieltheorie.40 Sie bot den Denkrahmen, um eine Konfrontation sowohl unter den Bedingungen von rationaler Notwendigkeit wie auch von Zufall zu simulieren und so den Militärs Arbeitsmodelle für den Konfliktfall an die Hand zu geben. Die RAND Corporation und das Hudson Institute arbeiteten zwischen 1948 und Mitte der 50er Jahre mit dem »Gefangenendilemma«. Das »Gefangenendilemma« erschien für ein Experiment, wie sich der Ernstfall abspielen könnte, geeignet. Das »Gefangenendilemma« oder »2-Personen-Dilemma« setzte voraus, dass zwei Männer einer gemeinsam begangenen Straftat beschuldigt werden. Die Polizei hält sie in getrennten Zellen fest und klärt sie über ihre Lage und die Regeln des 39 Celmer Jr. 1993; Grausam 2008; Greiner 2007; Pynchon 1963. 40 Bessner 2015; Brodie 2011; Erickson 2011.

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folgenden Prozesses auf. Wenn der eine von beiden gesteht, der andere aber nicht, erhält der erste eine Belohnung von einem Punkt und der zweite eine Strafe von zwei Punkten. Gestehen beide Gefangenen, erhalten sie jeweils eine Strafe von einem Punkt. Wenn keiner gesteht, werden beide freigelassen.41 Sowohl die Anzahl der Gefangenen als auch die Belohnungs- beziehungsweise Bestrafungssysteme ließen sich variieren. Die RAND Corporation wollte wissen, wie die beiden Gefangenen, respektive beide Konfliktparteien in einem Atomkrieg reagieren würden. Würden sie eine Kooperationsstrategie an den Tag legen, damit beide freikommen? Oder würden sie eher das geringere Übel, nämlich nur einen Punkt zu verlieren, dem größeren Verlust, zwei Punkte zu verlieren, vorziehen und selbst gestehen? Die Antworten auf diese Fragen sollten in ein Arbeitsmodell einfließen, das der Luftwaffe für den Ernstfall zur Verfügung gestellt werden sollte. Damit wollte die US Luftwaffe ihren sowjetischen Gegner besser verstehen. Das »Gefangenendilemma« beschäftigte Politikwissenschaftler, Mathematiker und Experimentalpsychologen. Alle gingen von einem rationalen Akteur aus. Grundlage für die Lösung des Gefangenendilemmas blieb lange Zeit die sogenannte »Minimax-Strategie«, die darauf aus war, den eigenen Gewinn zu maximieren und den des Gegners zu minimieren. Diese Versuchsanordnung verhinderte, einen Algorithmus zur Berechnung des tatsächlichen Handlungsablaufs aufzustellen. Sowohl die Konfliktvermeidung als auch die Konfliktverschärfung waren rationale Strategien. Weder rationale Logik noch psychologische Experimente vermochten das Dilemma zu lösen. Dass ab Mitte der Fünfzigerjahre keine weiteren theoretischen und praktischen Experimente mehr durchgeführt wurden, lag auch an grundsätzlichen methodischen Problemen, solange man von Nicht-Nullsummenspielen ausging. Im Zweiten Weltkrieg hatte noch das Nullsummenspiel den spieltheoretischen Arbeiten militärnaher Wissenschaftler zugrunde gelegen. Jetzt aber befand man sich offensichtlich in einem Spiel neuer Art. Das Gefangenendilemma bildete mehr die wechselseitige Politik der Abschreckung als den Krieg selbst ab. Zufall und Notwendigkeit, atomarer Erst- und Zweitschlag und das Gefangenendilemma brachten eine weitere, mehr kognitive Bedeutungsebene der Ikonographie zum Ausdruck. Die Ikonographie beschränkte sich nicht auf Bilder. Bereits der Begriff der Differenz implizierte selbst eine räumliche Vorstellung und damit die Möglichkeit einer Visualisierung. Ikonische Momente spielen in der Metapherntheorie eine genauso große Rolle wie in der modernen Linguistik. Anders ausgedrückt: die Metapher schlägt die Brücke zwischen Linguistik und Kognition.42 Wissen zu schaffen und zu transferieren basiert neben logischen Mustern zumeist auf bildlichen Vorstellungen. Wenn bildgebende Verfahren in der Wissenschaft gebraucht werden – man nennt das »imaging« – dann dienen sie der Wissensproduktion, indem sie visualisieren. Es gibt eine Ikonographie der Meta-

41 Erickson 2011; Grausam 2011. 42 Lakoff/Johnson 2003.

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phern genauso wie eine Ikonographie der Grammatik. So wie es ein Wissen im Bild gibt, gibt es Bilder im Wissen.43 Im Ergebnis privilegierten bildgebende Theorien des Kalten Krieges, wie man sie in den think tanks verwandte, nichtmenschliche Akteure in der Simulation des Konfliktes: Tiere und Computer. Beide ermöglichten es, den Zufall einzubauen. Die schier unglaubliche Zahl der möglichen Szenarien machte die Rechenkapazität des Computers attraktiv. Und: der Computer kam als Akteur der Katastrophe in Frage. Konnte man mit rationalen Methoden einen tatsächlichen militärisch geführten Krieg vermeiden? Musste man nur vernünftig sein und der Kalte Krieg wäre zu Ende? Oder: würde die größere Vernunft es erlauben, die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion sogar militärisch zu gewinnen? Was war rational im Kalten Krieg? Dazu musste man klären, was Rationalität und rationales Handeln war. Think tanks und Universitäten, mathematische Logiker und Politikwissenschaftler, Soziologen und Militärs suchten nach dem, was wirklich rational war. Um das zu denken, standen ganz verschiedene Modelle zur Verfügung. War es Abwarten oder war es Eskalieren in der Hoffnung, dass das Gegenüber es nicht wagen würde, ebenfalls zu eskalieren? War wirkliche Rationalität Schadensvermeidung oder die Androhung von Schaden, um das Gegenüber davon abzuhalten abzudrücken? War das nukleare Patt zwischen den Supermächten nicht doch wie das Wagenrennen der Illias, wo Homer im 23. Kapitel beschreibt, wie mit List und Tücke um die Plätze gerungen wird? War der Kalte Krieg vielleicht doch ein Pokerspiel, wo man nicht auf Bluff hineinfallen durfte und Geduld und Nerven haben musste? Kam es also nur auf ein möglichst ausgefeiltes »brinkmanship« an, so weit zu gehen wie irgend möglich, um den größten Gewinn einzufahren? Je nach historischer Analogie ergaben sich andere Differenzsemantiken des Kalten Krieges. Wagenrennen, Poker und Spiel, Würfel und Wissenschaft ergaben als handlungsgenerierende Leitvorstellungen einen je anderen Kalten Krieg.44 Aus der Annahme der Rationalität ließen sich entgegengesetzte Strategien ableiten: zusammenzuarbeiten und Koalitionen zu bilden, aber auch konfrontativ aufzutreten. Mit dem nuklearen Gleichgewicht, das sich um 1960 einstellte, traten in der Ikonographie des Kalten Krieges wieder personalisierte Metaphoriken in den Vordergrund. Gerade der agonale Charakter des nuklearen stand-offs war resonant auf Cowboys, Retter, Märtyrer und Bösewichte. Der Ost-West Gegensatz wurde zu einem »Spiel mit dem Feuer«, einem Nervenkrieg, einem Ringkampf am äußersten Rande einer Klippe oder zum Showdown um 12 Uhr mittags im WesternFilm, der zu dieser Zeit so populär war.45 Western-Filme spiegelten die öffentliche Einbildungskraft der frühen Jahre des Kalten Krieges in den USA. In den 1950er Jahren fühlten sich Politiker, Regisseure und Publizisten in einem Zustand der Belagerung. Innenpolitisch dominierte der Antikommunismus des Senators McCar43 Sachs-Hombach 2009; Wünsche 1991. 44 Erickson et al. 2013, S. 5. 45 Corkin 2004.

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thy und des »Red scare«. Melvin Lasky, intellektueller Vordenker des Kalten Krieges und Mit-Initiator des Kongresses für kulturelle Freiheit 1950 in West-Berlin, verglich die politische Systemgrenze nach Ostberlin mit einer Siedlerstadt im Wilden Westen in der Mitte des Jahrhunderts: »Indians on the horizon, and you’ve simply got to have that rifle handy or [if] not your scalp is gone«.46 Der Beginn des Kalten Krieges eröffnete das goldene Zeitalter des Westerns. Diese Belagerungsmentalität machte Western Filme wie Fort Apache (1948), The Alamo (1960) oder The magnificent seven (1960) zu Kassenschlagern. In jedem dieser Filme ging es darum, dass eine Gruppe oder Stadt, die positiv konnotiert war, zuerst ihren Feind, den gesetzbrechenden Außenseiter, schlug, bevor dieser sie vernichtete. Die frühen Western von John Wayne, allen voran Fort Apache, verkörperten dieses agonale Gefühl »we versus them« anschaulich. Sie gehörten in die Kategorie der Belagerungsfilme oder »siege movies«. Sie verbanden die Frontier-Ideologie (Frederick Jackson Turner) der amerikanischen Siedler-Demokratie mit einer permanenten Bedrohung und waren der Maschinenraum der öffentlichen Mythenproduktion. Auch persönlich beteiligte sich John Wayne an der Kommunistenjagd von Senator McCarthy. Aber auch dieses uramerikanische Genre des Westernfilms zeigte die Wendungen des Kalten Krieges. Auch hier kehrte sich der Blick auf den Kalten Krieg um. In den sechziger Jahren brachte der Vietnamkrieg erste Risse in das Bild einer geschlossenen Gemeinschaft, die sich gegen alle Feinde verteidigte. Die Helden der Western Filme wurden jetzt dunkler. Dafür stand bereits Rio Bravo (1959), vor allem aber Butch Cassidy and the Sundance kid (1969) und The Outlaw Josey Wales (1976).47 Im Mittelpunkt dieser Filme stehen Antihelden oder Gesetzlose, die das Gesetz retten und Außenseiter, die zu Retterfiguren aufsteigen. Immer häufiger waren Rebellen im Mittelpunkt, die in Opposition zur Regierung standen. Der Held in The Outlaw Josey Wales stirbt für seine Familie, indem er sie vor den Truppen der Regierung beschützt. Unterstützte der Western-Film in Hollywood ursprünglich die Politik der Regierung gegen den Kommunismus, so standen seit den sechziger Jahren Rebellen, Außenseiter und Nonkonformisten im Mittelpunkt, die gegen die Regierung mit oder ohne Erfolg kämpfen. Auch der Westernfilm mit seiner Vorliebe für das Agonale internalisierte schließlich das Bild des Feindes.48 5. Differenz und Blickumkehr. Ein kurzes Fazit Im Ganzen richteten westliche Gesellschaften im Kalten Krieg je länger, je mehr den Blick nach innen und nicht nur auf den kommunistischen Gegner in der Sowjetunion. Warum war die Blickumkehr gerade bei diesem weltpolitischen Großkonflikt so markant? Eine systemische und eine temporale Perspektive auf diese 46 Saunders 1999, S. 28; Hochgeschwender 1998. 47 1976, Regie: Clint Eastwood, Warner Bros. 48 Eichhorn 2011; Aquila 2015; Bronfen 2011; Matheson 2012.

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Frage sollen am Ende dieser Überlegungen stehen. Die systemische Perspektive könnte die Blickumkehrung angesichts der Vision unüberbietbarer Differenz mit der Konsequenz der Selbstvernichtung thematisieren. Die Differenzrepräsentation im Kalten Krieg ging ins Extreme: Diktatur versus Demokratie, Unfreiheit gegen Freiheit, Irdische gegen Außerirdische und wie die Dichotomien noch alle lauteten. Im atomaren Konflikt bedeutete diese extreme Bedrohung die permanente Gefahr der Vernichtung und Selbstvernichtung. Science fiction und Western-Filme etwa visualisierten zu Beginn der 1950er Jahre die Sowjetunion in kaum mehr überbietbaren Formen der Feindstellung. Die atomare Logik des Kalten Krieges kannte jedoch keinen Unterschied zwischen Sieg und Selbstvernichtung. Um dem zu entgehen, lag es nahe, den Blick vom Gegner Sowjetunion weg auf den Konflikt und die beiden feindlichen Lager selbst zu richten. Die Schreiber der TV Serie Mad Men, die die US-Gesellschaft am Beginn der 1960er Jahre zeigt, legten dem Hauptdarsteller Don Draper am Beginn der dritten Staffel ein Zitat in den Mund, das sie Honoré de Balzac zuschrieben: »Unsere ärgsten Ängste liegen in unseren Erwartungen«. Im englischen Original heißt es: »Our greatest fears lie in anticipation« (Mad Men 3,1).49 Hier könnte ein temporales Argument ansetzen, um den Wandel in der Differenzikonographie zu erklären. Mad men spielt zu Beginn der 1960er Jahre auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Die Erwartungsrichtung kehrte sich zu dieser Zeit um. Kaum etwas hatte die Erwartung an die Zukunft so sehr befeuert wie der Gegensatz zwischen Ost und West und der nukleare Krieg. Liest man dieses Zitat auf den Kalten Krieg hin, dann verdeutlicht es den Zusammenhang zwischen den Ängsten des Einzelnen, aber auch ganzer Gesellschaften und ihren agonal-finalen Erwartungen an die Zukunft. Mehr als alles andere spielte das agonale Ende der Geschichte mit den Emotionen des Zuschauers, die ihrer eigenen Zukunft ikonisch ausgesetzt wurden. Die Ikonographie des Agonalen hatte indessen eine distanzierende Wirkung. Sie erlaubte dem Betrachter eine dritte Position. Wird die agonale Erwartung auf die Spitze getrieben, dann steigen die Ängste – und werden zum Thema in Bildern und Filmen. Filmographie Butch Cassidy and the Sundance kid, George Roy Hill, Campanile Productions, 1969. Dr. No., Terence Young, Eon Productions, 1962. Fort Apache, John Ford, Argosy Pictures, 1948. Invaders from Mars, William Cameron Menzie, National Pictures Corp., 1953. It came from outer space, Jack Arnold, Universal Pictures, 1953. Mad Men, Fernsehserie Matthew Weiner, AMC, 2007-2015. Rio Bravo, Howard Hawks, Warner Bros., 1959. The Alamo, John Sturges, Alpha Productions, 1960. The day the earth stood still, Robert Wise, 20th Century Fox, 1951. The Invasion of the Body Snatchers, Don Siegel, Walter Wagner Productions, 1956. The Manchurian Candidate, John Frankenheimer, United Artists, 1962. The Outlaw Josey Wales, Clint Eastwood, Warner Bros., 1976. The war of the worlds, Byron Haskins, Paramount, 1953.

49 Für dieses Zitat findet sich kein Beleg bei Balzac.

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Siegfried Weichlein

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AutorInnenverzeichnis

Vincent August, M. A., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Sozialwissenschaften, Universitätsstr. 3b, D-10117 Berlin, Email: vincent.august@hu-berlin. de Lisa Bogerts, M. A., Goethe Universität Frankfurt am Main, Exzellenzcluster »Die Herausbildung Normativer Ordnungen«, Max-Horkheimer Straße 2, D-60629 Frankfurt a. M., Email: [email protected] Anna Chwialkowska, M. A., Europa-Universität Viadrina, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Große Scharrnstr. 59, D-15230 Frankfurt a.d. O., Email: annachw [email protected] Prof. Dr. Iris Därmann, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kulturwissenschaft, Georgenstr. 47, D-10117 Berlin, Email: [email protected]. de PD Dr. Paula Diehl, Universität Bielefeld, Abteilung für Geschichtswissenschaft, Postfach 10 01 31, D-33501 Bielefeld, Email: [email protected] Dr. Elisabeth Haas, Universität Freiburg, Philosophische Fakultät, Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg, Email: [email protected] Dr. Eva Marlene Hausteiner, Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Lennéstr. 25, D-53113 Bonn, Email: [email protected] Dr. Sebastian Huhnholz, Leibniz-Universität Hannover, Institut für Politische Wissenschaft, Schneiderberg 50, D-30167 Hannover, Email: [email protected] ni-hannover.de Dr. Maria Jakob, Universität Leipzig, Institut für Kulturwissenschaften, Beethovenstr. 15, D-04107 Leipzig, Email: [email protected] Prof. Dr. Marcus Llanque, Universität Augsburg, Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Universitätsstrasse 10, D-86159 Augsburg, Email: marcus.llanque@phil. uni-augsburg.de Prof. Dr. Philip Manow, Universität Bremen, Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS), Postfach 33 04 40, D-28334 Bremen, Email: [email protected] Prof. Dr. Michael Minkenberg, Europa-Universität Viadrina, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Große Scharrnstr. 59, D-15230 Frankfurt a.d. O., Email: minken [email protected]

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AutorInnenverzeichnis

Lena Sophia Schacht, M. A., Europa-Universität Viadrina, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Grosse Scharrnstr. 59, D-15230 Frankfurt a.d. O., Email: lena.sch [email protected] PD Dr. Daniel Schulz, Technische Universität Dresden, Philosophische Fakultät, Institut für Politikwissenschaft, Helmholtzstraße 10, D-01069 Dresden, Email: [email protected] Felix Steilen, M.A., Tel Aviv University, Minerva Institute for German History, Ramat Aviv, Tel Aviv 69978 Israel, Email: [email protected] Prof. Dr. Siegfried Weichlein, Universität Freiburg, Philosophische Fakultät, Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg, Email: [email protected]