Politische Fernziele und Unrecht: Ein Beitrag zur Lehre von der Strafrechtswidrigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB [1 ed.] 9783428471669, 9783428071661

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Politische Fernziele und Unrecht: Ein Beitrag zur Lehre von der Strafrechtswidrigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB [1 ed.]
 9783428471669, 9783428071661

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 70

Politische Fernziele und Unrecht Ein Beitrag zur Lehre von der Strafrechtswidrigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB

Von

Hansjörg Reichert-Hammer

Duncker & Humblot · Berlin

HANSJÖRG REICHERT-HAMMER

Politische Fernziele und Unrecht

Strafrechtliche Abhandlungen • Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 70

Politische Fernziele und Unrecht Ein Beitrag zur Lehre von der Strafrechtswidrigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB

Von

Hansjörg Reichert-Hammer

Duncker & Humblot * Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Prof. Dr. Hans-Ludwig Günther, Tübingen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme

Reichert-Hammer, Hansjörg: Politische Femziele und Unrecht: ein Beitrag zur Lehre von der Strafrechtswidrigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB / von Hansjörg Reichert-Hammer. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Strafrechtliche Abhandlungen; N. F., Bd. 70) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07166-2 NE: GT

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07166-2

Die politischen Interessen hinter einer sozialpsychologischen Assoziierung von politischen Protest Äußernden mit Kriminellen sind durchsichtig. Dem entgegenzutreten heißt Schaden von unserer Demokratie wenden. Horst Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte zivilen Ungehorsams, in: Glotz (Hrsg.), S. 95.

Vorwort Die Thematik staatlicher Reaktion auf politisch zielgerichtete Taten bewegt sich im Spannungsfeld zwischen (Straf-)Rechtsdogmatik und Rechtspolitik. Die Idee zu dieser Arbeit entstand auf dem bisherigen Höhepunkt sozialer Bewegungen in der (alten) Bundesrepublik Mitte der achtziger Jahre. Die Aktualität des Themas ist zeitlos. Sie wurde in jüngster Zeit erneut deutlich durch den Widerstand neuer Bürgerbewegungen gegen das SEDRegime in der ehemaligen DDR. Angesichts der Schnelligkeit, mit der sich in diesen Tagen politische, staatliche und gesellschaftliche Situationen verändern, hat zwar - hoffentlich nicht nur vorübergehend - die unmittelbare Brisanz der Strafverfolgung politisch zielgerichteter Taten nachgelassen. Um so eher sollte es deshalb möglich sein, die kriminalpoitische und vor allem strafrechtsdogmatische Relevanz des Themas zu erkennen und neue Lösungswege unvoreingenommen aufzunehmen. Das Manuskript wurde im Januar 1990 abgeschlossen. Nachfolgende Literatur konnte nur noch bruchstückhaft, neue Rechtsprechung bis Juli 1990 berücksichtigt werden. Auf die Umwälzungen in der (ehemaligen) DDR konnte aus diesem Grunde ebensowenig eingegangen werden wie auf die Ergebnisse der sogenannten "Gewaltkommission11 der Bundesregierung. Die Arbeit lag der Tübinger Juristenfakultät im Sommersemester 1990 als Dissertation vor. Sie wurde betreut durch die Professoren Dres. Günther und Kernen Zum Gelingen dieser Arbeit haben viele beigetragen. Dank schulde ich zunächst meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hans-Ludwig Günther, der meine wissenschaftliche Entwicklung in ungewöhnlicher Weise gefördert hat und mir wertvolle Anregungen und Freiraum für die eigene Forschungsarbeit gab. Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Kerner, der für mich stets ein offener Ansprech- und Diskussionspartner war. Von un-

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Vorwort

schätzbarem Wert waren für mich die Anregungen, Diskussionen und Ermutigungen durch meine Freunde und Kollegen Bernd Wagner, Rainer Schmid und Manfred Weidmann. Dies gilt in besonderem Maße natürlich auch für meine Frau, die mich unermüdlich bestärkte und mich immer wieder auf den Boden der forensischen Praxis zurückholte. Großartige Unterstützung erhielt ich durch meine Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl Brigitte Sick, Oliver Schlotz, Joachim Renzikowski, Ingrid Sühring, Steffen Fortun und Volker Haas, in deren Team ich mich viele Jahre sehr wohl fühlen durfte. Mein Dank gilt schließlich nicht zuletzt meiner Mutter, die mir diese Ausbildung erst ermöglichte.

Tübingen, im August 1990

Hansjörg Reichert-Hammer

Inhaltsverzeichnis Einführung I. II. III. IV.

Neue Protestbewegungen in der Bundesrepublik Privilegierung politischen Handelns im Strafrecht Die Berücksichtigung von Fernzielen - kein politisches Problem . . . . Ziel der Arbeit - Gang der Darstellung Erster

17 17 20 21 23

Teil

Problemstellung am Beispiel der Sitzblockaden

26

Kapitel 1 Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung der Jahre 1986 - 1989 I. Der Beschluß des BGH (2. Senat) vom 24. April 1986 II. Die Entscheidung des BVerfG vom 11. November 1986 III. Die Entwicklung der Rechtsprechung der Strafgerichte nach der Entscheidung des BVerfG IV. Der Beschluß des BGH (1. Senat) vom 5. Mai 1988 V. Die Rechtsprechung nach dem Beschluß des BGH (1. Senat) vom 5. Mai 1988 1. Die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaften 2. Die Instanzgerichte 3. Die Oberlandesgerichte 4. Das Bundesverfassungsgericht

26 28 30 33 36 38 38 39 40 41

Kapitel 2 Problemstellung I. Die Entscheidungen des BGH (2. Senat) und des BVerfG n. Die Entscheidung des BGH (1. Senat) vom 5.5.1988 1. Die Struktur des § 240 2. Beurteilungsmaßstab

42 42 48 48 52

10

Inhaltsverzeichnis

3. Rechtssystematisches Argument 4. Fehlen objektivierbarer Bewertungsmaßstäbe 5. Rechtspolitische Argumente III. Politische Bewertung von Fernzielen in der Praxis

Zweiter

55 58 60 64

Teil

Fernziele und Unrecht

67

Kapitel 3 Fernziele - ein schillernder Begriff I. Fernziele als Unrechtsmerkmale II. Der Begriff des Fernziels 1. Absicht, Motiv und Fernziel 2. Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den Sitzblockaden 3. Begriffsbestimmung

67 67 69 69 72 73

Kapitel 4 Fernziele und Unrechtsbegründung I. Analyse des Unrechts

75 75

1. Was macht sachlich den Unwertgehalt einer Straftat aus? 2. Die Elemente des Handlungsunrechts im einzelnen

75 77

3. Gesinnungsmerkmale als Bestandteil des Unrechts

81

II. Fernziele und Unrechtsbegründung 1. Überblick 2. Zum Beispiel: Die Tötungsdelikte a) Unrechtserhöhende Faktoren - Übersicht b)Die verschiedenen Zielsetzungen im einzelnen c) Bewertungskriterien d) Fernziele und Werte e) Motivbündel 3. Fernziele und Gesinnung III. Grenzen der Berücksichtigung von Fernzielen im Tatbestandsbereich .

85 85 86 86 87 88 89 89 91 91

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 5 Die Berücksichtigung von Fernzielen I. Die Grundstruktur der klassischen Rechtfertigungsgründe II. Allgemeine Prinzipien der Rechtfertigung Dritter

95 95 96

Teil

Politische Fernziele und Rechtfertigung

101

Kapitel 6 Politische Fernziele und Unrecht I. Politische Fernziele

101 101

1. Unterschiede werden gemacht 2. Begriffsbestimmung 3. Politische Fernziele - Politische Kriminalität 4. Die Behandlung politischer Ziele in den verschiedenen Fallkonstellationen II. Tatbestandsmäßigkeit

101 101 102 105 107

1. Politische Ziele und Unrechtsbegründung 2. Möglichkeiten der Entkriminalisierung a) Funktionale Konsequenzen b) Strukturelle Schwäche des Ansatzes 3. Die dogmatischen Ansätze im einzelnen a) Restriktive Tatbestandsauslegung b) Geringfügigkeitsprinzip c)Die Lehre von der Sozialadäquanz III. Rechtswidrigkeit

107 110 110 111 111 111 116 117 118

Kapitel 7 Die Berücksichtigung politischer Fernziele im Rahmen der Grundrechte I. Einleitung: Grundrechte und strafrechtliche Rechtfertigung II. Art. 4 - Glaubens- und Gewissensfreiheit, Recht auf Kriegsdienstverweigerung 1. Die verfassungsrechtliche Diskussion 2. Strafrechtsdogmatische Einordnung III. Art. 5 Abs. 1 - Meinungsfreiheit

120 120 122 122 124 126

12

Inhaltsverzeichnis

1. Grundrechtskonzept 126 2. Grundrecht und Strafrecht - Bedeutung im Rahmen der Arbeit . . . 127 3. Schutzbereich 129 3.1. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung 129 a) Der Begriff der Meinungsfreiheit 129 b) Ausdrucksform 130 3.2. Die Informationsfreiheit 131 4. Schranken 131 4.1. Allgemeine Gesetze 131 4.2. Das Recht der persönlichen Ehre 133 IV. Art. 5 Abs. 3 - Kunstfreiheit

134

V. Art. 8 - Versammlungsfreiheit

135

1. Charakter des Grundrechts 2. Schutzbereich a) Der Begriff der Versammlung b)Ohne Waffen c) Friedlich d)Unfriedlichkeit eines Teils der Demonstranten 3. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit 3.1. Versammlungen unter freiem Himmel a) Verhältnis der Absätze 1 und 2 b) Grenzen der Versammlungsfreiheit 3.2. Versammlungen in geschlossenen Räumen VI. Art. 9 Abs. 3 - Streikrecht

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1. Einführung 2. Der rechtmäßige Streik im Spiegel der Rspr.des BAG a) Allgemeine Rechtmäßigkeitserfordernisse b)Was folgt daraus für einzelne Kampfmaßnahmen? c) Zulässige Kampfziele 3. Politischer Demonstrationsstreik 4. Arbeitskampf und Strafrecht VII. Zusammenfassung

149 150 150 151 152 153 157 159

Kapitel 8 Die Berücksichtigung politischer Fernziele im Rahmen einfachgesetzlicher Rechtfertigungsgründe I. Notwehr - § 32 StGB 1. Grundvoraussetzung: Notwehrfähiges Rechtsgut

161 161 161

Inhaltsverzeichnis

2. Angriff auf ein Individualrechtsgut 3. Gegenwärtigkeit des Angriffs 4. Rechtswidrigkeit des Angriffs 5. Notwehrlage - Zusammenfassung 6. Verteidigungshandlung 7. Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung 8. Normative Einschränkungen des Notwehrrechts 9. Sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts 10. Verteidigungswille 11. Zusammenfassung

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Rechtfertigender Notstand

174

1. Notstandsregelungen in BGB und StGB 174 2. Notstandsfähige Rechtsgüter 175 3. Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut 178 a) Beurteilungsmaßstab 179 b)Grad der Gefahr und Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts . . . . 180 4. Gegenwärtigkeit der Gefahr 184 5. Gefahr nicht anders abwendbar 186 a) Geeignetheit 186 b) Erforderlichkeit 189 c) Welche Schlüsse folgen hieraus für die oben beschriebenen Aktionen mit (umgekehrter?) politischer Zielsetzung? 194 6. Interessenabwägung 196 6.1. Abwägungskriterien 196 6.2. Argumente gegen eine Rechtfertigung politischen Verhaltens . 198 6.3. Allgemeine normative Begrenzungen des Notstandsrechts . . . . 199 a) Mißachtung fremder Autonomie 199 b) Allgemeine Rechtsprinzipien 200 7. Weitere Notstandsvoraussetzungen 205 8. Zwischenbilanz 205 9. Nachbetrachtung: Der Notstand des Staates 206 9.1. Anwendbarkeit des § 34 StGB auf hoheitliches Handeln 206 9.2. Notwendigkeit der Gleichbehandlung 208 a) Gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut . . . 209 b) Erforderlichkeit 210 c) Interessenabwägung 210 Wahrnehmung berechtigter Interessen

212

Ziviler Ungehorsam als eigenständiger Rechtfertigungsgrund?

213

1. Was ist Ziviler Ungehorsam? 2. Zulässigkeitskonzepte 3. Kritik an den verfahrensbezogenen Konzepten

214 215 216

14

Inhaltsverzeichnis

Vierter

Teil

Politische Fernziele und Strafunrechtsausschluß

219

Kapitel 9 Strafunrechtsausschluß im Zwischenbereich I. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse II. Weitere Formen strafrechtlicher Entlastung 1. Schuld 2. Strafzumessung 3. Verfahrenseinstellung 4. Amnestie / Gnade

219 219 220 220 224 225 226

III. Notwendigkeit einer zusätzlichen Systemkategorie

227

Kapitel 10 Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit I. Das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit II. Rechtswidrigkeit und Unrecht 1. Die herrschende Strafrechtsdogmatik 2. Die Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

231 231 233 233 233

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit . . . 235 1. Die Auswahl strafrechtstypischen Verhaltens erfolge abschließend durch die Straftatbestände 2. Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit widerspreche dem Gebot der Einheit der Rechtsordnung 3. Strafunrecht nicht notwendig qualifiziertes Unrecht? 4. Gravierende Rechtssicherheitsbedenken? 5. Differenzierte Rechtswidrigkeitsbegriffe führten zu einer Verunsicherung der Bürger 6. Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen führten zu Anarchie und Chaos 7. Das Konzept der Folgenorientierung sei für das Strafrecht untauglich 8. Die neue Lehre sei überflüssig, weil die problematischen Fälle mit dem Bagatellprinzip erfaßt werden könnten 9. Die neue Lehre widerspreche gesetzlichen Wertungen im Bereich des Bagatellunrechts

236 242 245 247 249 251 251 252 253

Inhaltsverzeichnis

10. Einwände gegen einzelne Strafunrechtsausschließungsgründe

. . . . 254

Kapitel 11 Der Ausschluß strafrechtlichen Unrechts bei politisch zielgerichtetem Handeln I. Strafunrechtsausschluß bei notstandsähnlicher Lage

256 256

1. Einführung 256 2. Gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut 257 2.1. Notstandsfähiges Rechtsgut 257 2.2. Schwierigkeiten beim Nachweis einer notstandsrelevanten Gefahr 258 2.3. Besondere Problemstellung im Strafrecht 259 2.4. Gefahrbegriff bei notstandsähnlicher Lage 263 2.5. Gegenwärtigkeit der Gefahr 266 3. Erforderlichkeit 267 a) Symbolische Aktionen 267 b) Widerstand gegen Großprojekte 268 4. Interessenabwägung 271 a) Gewicht des geschützten Interesses 271 b) Intensität des Eingriffs 273 c) Unwesentliche Überschreitung von Grundrechten 274 d) Geringe Überschreitung des Notstandsrechts bei Gefahr im Verzug 274 e) (Defensiv)notstandsähnliche Lage bei rechtmäßigem Angriff . 274 f) Strafunrechtsausschluß trotz Notwehrprovokation 275 II. Strafunrechtsausschluß im Ausstrahlungsbereich der Grundrechte . . . . 276 1. Strafunrechtsausschluß bei grundrechtsnahem Verhalten 276 a) Wertungsdifferenzen zwischen Verfassungsrecht und Strafrecht . . 276 b) Strafunrechtsausschluß im Schutzbereich politischer Grundrechte . 278 c) Parallelen im japanischen Recht 280 2. Ausstrahlungswirkung der Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) 280 3. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) 282 III. Strafunrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige polizeiliche Eingriffe in (politische) Grundrechte 282 1. Der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff

283

2. Ein strafrechtlicher Rechtswidrigkeitsbegriff auch für die Bürger? . . 283 3. Bisher vertretene Auffassungen und ihre Schwächen 284 a) Korrektive der herrschenden Meinung 284 b) Zweck des strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs 286 c) Die Lehre von der Identität der Rechtswidrigkeitsbegriffe 287

16

Inhaltsverzeichnis

d)Die Irrtumsregelung des § 113 Abs. 4 StGB 4. Ein strafrechtlicher Rechtswidrigkeitsbegriff ist überflüssig für § 113 StGB 5. Notwendigkeit begrenzten Strafunrechtsausschlusses für Bürger und Polizei im allgemeinen Strafrecht

287 289 290

Kapitel 12 Nachbetrachtung - Konsequenzen für § 240 Abs. 2 StGB I. Dogmatische Grundlagen

293 293

1. Rechtscharakter 2. Beurteilungsgrundlage 3. Beurteilungsmaßstab II. Zu berücksichtigende Ziele (Belange) 1. Das unmittelbare Nötigungsziel 2. Schaffen erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit a) Ausstrahlungswirkung der Grundrechte b) Symbolisches Handeln oder Selbstvollzug c) Der Sozialbezug der Freiheitsrechte 3. Demonstrationsinhalte . 3.1. Bisher diskutierte Kriterien 3.2. Allgemeine Rechtfertigungsgründe 3.3. Der Strafunrechtsausschließungsgrund der notstandsähnlichen Lage 3.4. Sachzusammenhang mit der Aktion 3.5. Die Unterscheidung: eigennützig - gemeinwohlorientiert Literaturverzeichnis

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Einführung I. Neue Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland Die noch junge Geschichte der Bundesrepublik ist geprägt von ungeheuren Umwälzungen in Wirtschaft und Technologie, in Politik und Gesellschaft. Eine flutwellenartige Umgestaltung des Alltagslebens durch immer neue Techniken (Computertechnologie, Automatisierung der Arbeitsprozesse, Gentechnologie) und immer größere Lebensbedrohungen (Umweltzerstörung, neue Waffensysteme) haben zu einem tiefgreifenden Bewußtseinswandel in weiten Teilen der Bevölkerung beigetragen, die in einem demokratischen Staat immer selbstbewußter und kritischer Politik hinterfragen und mehr Rechte der Mitgestaltung einfordern. Während die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte politisch weitgehend ruhig verlaufen, sich die große Mehrheit der Bevölkerung dem Wiederaufbau des Landes und dem Nachholen verlorener Jahre widmet, ändert sich dies schlagartig ab Mitte der sechziger Jahre, als die erste Nachkriegsgeneration an die Universitäten kommt: Die Studentenbewegung ist geboren. Bleibt die außerparlamentarische Opposition der sechziger Jahre aber noch weitgehend eine exotische Veranstaltung einer neuen Elite, entstehen seit den siebziger Jahren oppositionelle Bewegungen einer neuen Qualität. Der Bildungsboom hat breite Schichten der Bevölkerung erreicht, der neue Staat Bundesrepublik eine kritische Jugend hervorgebracht. Fast gleichzeitig entstehen die Friedens-, die Ökologie- und die Frauenbewegung1, die Solidaritätsbewegung mit der Dritten Welt und viele mehr. Die Grenzen des Wachstums, Rechte für Frauen, die Ausbeutung der Dritten Welt, die weltweite Bedrohung des Friedens sind Problemfelder, die schnell ins allgemeine Bewußtsein dringen. Auch die Gewerkschaften verändern ihr Gesicht im Zuge von Massenarbeitslosigkeit und härter werdender Verteilungskämpfe.

1

Die sich freilich auf alte Wurzeln stützen können. 2 Reichert-Hammer

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Einführung

Immer mehr Menschen engagieren sich außerhalb der eingefahrenen Gleise politischer Parteien, deren Ansehen gleichzeitig schwindet. Während es in den fünfziger und sechziger Jahren dem Staat und den ihn tragenden politischen Kräften noch gelang, den Protest entweder zu absorbieren 2 oder zu integrieren, organisieren und artikulieren sich die heutigen Protestbewegungen dauerhaft außerhalb der politischen Parteien. Sie wollen mitreden und politische Mitverantwortung übernehmen. Sie wollen die Politik kontrollieren und Widersprüche zwischen Volkswillen und offizieller Politik frühzeitig verhindern. Auf diese Entwicklung ist unsere Verfassung nicht vorbereitet. Der Verfassungsgeber zweifelte am demokratischen Bewußtsein und der demokratischen Reife des Volkes. Als das Grundgesetz geschaffen wurde, war es vor allem das Trauma der Weimarer Republik, das die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Bundesverfassung verhinderte und zu einer einseitigen Überfrachtung des Repräsentativsystems führte. So sehen wir uns heute mit einer Situation konfrontiert, die Bürgern außerhalb von Wahlen und dem Engagement in Parteien keine wirksamen und direkten Artikulations- und Mitspracherechte einräumt. Nur ganz ansatzweise und allmählich werden Elemente direkter Bürgerbeteiligung in die Rechtsordnung aufgenommen, wobei hier vor allem die Rechtsprechung eine Vorreiterrolle übernimmt. Ein Beispiel ist die Ausgestaltung von verwaltungsrechtlichen Verfahrensrechten als subjektive, d.h. einklagbare öffentliche Rechte, die erst vor wenigen Jahren durch das BVerfG anerkannt wurden.3 Wie notwendig solche Beteiligungsrechte sind und wie begierig sie von den Bürgern aufgenommen werden, zeigt z.B. das Genehmigungsverfahren für die Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe in Wackersdorf, in dem von mehr als 800.000 (!) Menschen Einwendungen erhoben wurden. Ebenso deutlich wird dies bei der großen Zahl kommunaler Bürgerbegehren, mit denen vielfach eine Korrektur der "offiziellen" Politik gelingt, Großprojekte verhindert, Gemeinden vor Überschuldung bewahrt werden. Aber auch dort, wo Bürgerbegehren keinen Erfolg haben, kommt ihnen ein nicht zu unterschätzender Befriedungseffekt zu. In diesem Sinne verlangen die großen Oppositionsbewegungen auch größere Mitspracherechte im Bund, wie sie in anderen entwickelten

2

Soweit er nicht in den terroristischen Untergrund ging. Vgl. als vorerst letzten Meilenstein nun auch das Urteil des BVerwG v. 31.10.90, Az. 4 C 7.88: Klagebefugnis von Naturschutzverbänden bei Verletzung ihrer Beteiligungsrechte nach dem Bundesnaturschutzgesetz. 3

I. Neue Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland

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Demokratien, z.B. der Schweiz, existieren. Solcherlei Bürgerpartizipation wie überhaupt Elemente direkter Demokratie sind der Bundesverfassung nach wie vor fremd. Mehrheiten, dies zu ändern, sind nicht in Sicht. Aus diesem Verfassungsdefizit entsteht für die oppositionellen Bewegungen ein strukturelles Problem: Zu vielen Sachthemen gelingt es ihnen zwar - oft mit Hilfe spektakulärer Aktionen (z.B. von Greenpeace) - eine Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Es existieren aber nur höchst ungenügende Möglichkeiten, diese tatsächlich vorhandenen Mehrheiten in politische Mehrheiten umzusetzen. Immer häufiger und immer heftiger kommt es deshalb zum Konflikt zwischen außerparlamentarischen Bewegungen und den verfassungsmäßig vorgesehenen Entscheidungsträgern. Allen Bewegungen sind dabei zwei Dinge gemein: In ihrer großen Mehrheit bejahen sie den demokratischen Rechtsstaat. Sie berufen sich auf die freiheitlich demokratische Grundordnung und stellen an sie die Forderung: "Mehr Demokratie wagen." Einzelnen, für verhängnisvoll erkannten staatlichen Sachentscheidungen setzen sie aber vehementen Widerstand entgegen. Dieser Widerstand durchschreitet dabei mehrere Phasen4. Elementares Element ist immer auch der Kampf ums Recht. Bleibt der Protest jedoch ungehört, kommt es fast immer auch zu begrenzten straftatbestandsmäßigen Handlungen. Heute stehen wir deshalb vor einem Ringen gesellschaftlicher Kräfte, dessen Ausgang noch nicht abzusehen ist. Zu beobachten ist, daß mit dem Argument höchster Dringlichkeit in den letzten Jahren gegen den heftigen Widerstand betroffener Bevölkerungskreise Großprojekte durchgesetzt, neue Techniken oder Waffensysteme eingeführt wurden, die zum Teil nur wenig später unter dem Druck der Öffentlichkeit wiederaufgegeben werden mußten. Beispiele hierfür sind die Abrüstung der atomaren Mittelstrekkenraketen sowie die Stillegung der Atomanlagen in Wackersdorf, Kalkar und Hamm-Uentrop. Hinter dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung stehen letztlich zwei staatspolitische Auffassungen, die am Ende dieses Jahrtausends weltweit miteinander im Widerstreit liegen. Calliess 5 hat sie, freilich pointiert, skizziert:

4 5

S. 1.

Hierzu: Leinen in Glotz (Hrsg.), S. 23. Calliess, (FDP-interne) Stellungnahme zur Neuffassung des Nötigungstatbestandes vom 8.3.1988,

20

Einführung

"Die eine Staatsauffassung sucht die Gesellschaft mit sozial-autoritären Mitteln zu steuern. Sie stützt sich auf das Urteil der wissenschaftlichtechnischen Funktionseliten in allen existentiellen Fragen des Gemeinwesens und mißtraut eher der Mündigkeit der Bürger. Die 'Eliten im Recht' steuern aus 'Fürsorge' für die anderen Bürger die Gesellschaft mittels des generalklauselartig-flexibel strukturierten Rechtsinstrumentariums. In diesem Verständnis wird das Recht immer mehr zum Mittel einer Generalprävention, die gefaßte Strukturentscheidungen absichern soll. Dem gegenüber steht die andere Staatsauffassung des Grundgesetzes von der freiheitlich offenen Gesellschaft. Sie setzt auf die Mündigkeit der Bürger, auf Freiheit und Demokratie als Chance für eine lebensnotwendige Innovation und Lernfähigkeit in der Gesellschaft." II. Privilegierung politischen Handelns im Strafrecht Die Privilegierung politischen Handelns ist schon seit alters her ein "Thema" im Strafrecht. Noch bis in die Zeit der Weimarer Republik wurde im politischen Täter zuallerst der politisch Andersdenkende gesehen, dem durch die nicht entehrende Festungshaft Respekt gezollt wurde 6. Seit den fünfziger Jahren wird in der Bundesrepublik die Figur des Überzeugungsbzw. Gewissenstäters diskutiert, dessen Verhalten wegen der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entschuldigt sein kann7. Dieser Ansatz kann jedoch allenfalls individuellem Protest gerecht werden. Demgegenüber begegnen wir in der gegenwärtigen historischen Situation neuen Oppositionsbewegungen als Massenphänomen8. Von individuellen Lösungen im Bereich der Schuld verlagert sich die Diskussion deshalb zu generellen Lösungen im Bereich des Unrechts. Hier stehen Ansätze, die an einzelnen Tatbestandsmerkmalen angreifen (Gewaltbegriff bei der Nötigung), noch weiter generalisierenden Konzepten auf der Rechtswidrigkeitsebene (Ziviler Ungehorsam als Rechtfertigungsgrund?) gegenüber. Die aktuelle Diskussion um die strafrechtliche Behandlung politischer (Fern)ziele konzentriert sich zudem in starkem Maße auf die Frage, ob diese im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB zu

6 Vor einer deshalb oft zu beobachtenden Idealisierung der politischen Justiz der Weimarer Republik sei ausdrücklich gewarnt! 7 Siehe hierzu Kapitel 7 II. 8 Man stelle sich eine Gewissensprüfung für Millionen von "Mitgliedern'' der Friedensbewegung vor!

III. Die Berücksichtigung von Fernzielen - kein politisches Problem

21

berücksichtigen sind. Das Problem läßt sich indes aus dieser isolierten Sicht heraus nur unzureichend lösen. Schon im Bereich der politischen Fernziele läßt sich die Problematik nicht auf den Nötigungstatbestand reduzieren. Die Frage stellt sich auch und insbesondere im Bereich der Meinungskundgabedelikte (§§ 90 ff., 130, 130a, 185 ff.), der Pressedelikte, der Sachbeschädigung (unbefugtes Plakatieren, Sprühen von Parolen, Entfernen der Kenn-Nummer von Volkszählungsbögen), des Hausfriedensbruchs (Besetzen von leerstehenden Häusern, Bauplätzen und militärischer Anlagen, Erstürmung der "Villa Hügel" durch streikende Arbeiter bei Krupp 9) sowie der "Anschlußdelikte" (z.B. § 113 -Widerstand gegen die Staatsgewalt). In der vorliegenden Arbeit geht es nicht um die Frage eines "besseren Rechts", um die Frage der Legitimität zivilen Ungehorsams oder anderer Widerstandsformen. Sie setzt vielmehr eine Stufe darunter an, bei der Frage der Kriminalisierung: Kann eine Gesellschaft es sich leisten, diejenigen ihrer Mitglieder zu bestrafen, die versuchen, die Gesellschaft wachzurütteln, ihrer Trägheit wegen mit dem Mittel spektakulärer Aktionen, um sie vor der Katastrophe, vor dem Untergang, vor der Vernichtung zu retten? Müssen diese Ziele nicht zumindest bei der strafrechtlichen Beurteilung eine Rolle spielen? III. Die Berücksichtigung von Fernzielen - kein politisches Problem Ein großes Manko der gegenwärtigen strafrechtlichen Diskussion liegt darin, daß einseitig nur die Berücksichtigung politischer Fernziele diskutiert wird, ohne die Problematik in einem breiteren strafrechtsdogmatischen Rahmen zu erörtern. So verwundert es nicht, daß durchgehend der eigene politische Standpunkt das Ergebnis determiniert. Die Problematik geht jedoch sehr viel weiter. Fernziele werden im Strafrecht unter sehr verschiedenen Aspekten und weit über den Bereich nur politischer Fernziele hinaus berücksichtigt: Völlig außer Frage steht, daß Fernziele bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen. § 46 Abs. 2 StGB bestimmt ausdrücklich, daß als Kriterien der Strafzumessung namentlich in Betracht kommen:

9 Rund 1.000 Stahlarbeiter besetzten am 9.12.1987 die Essener Villa Hügel, als dort der Aufsichtsrat des Krupp-Konzerns über die geplante Schließung des Hüttenwerkes in Rheinhausen beriet, vgl. Berichte in der Südwestpresse vom 10.12.87, S. 1 und 3.

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Einführung

- die Beweggründe und die Ziele des Täters sowie - die Gesinnung, die aus der Tat spricht. Dies gilt nicht nur für Art und Höhe der Strafe, sondern auch für die Modalitäten der Strafzumessung wie etwa die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung (Sozialprognose). Darüberhinaus spielen Fernziele aber auch bei der Unrechtsbeurteilung also auf den Ebenen des Straftatbestands und der Strafrechtswidrigkeit in vielen Bereichen eine Rolle. In einigen Fällen schreibt schon das Gesetz ihre Berücksichtigung und dann meist auch ihre Bewertung als unrechtsbegründend bzw. -steigernd oder als unrechtsausschließend vor. So prägen z.B. die über das Nahziel, das Töten des Opfers, hinausgehenden Fernziele der ersten und dritten Gruppe der Mordmerkmale den Unrechtscharakter des Mordes: Tötet der Täter das Opfer in der Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen, so kommt seiner Handlung wegen dieses von der Rechtsordnung negativ bewerteten Fernziels ein erhöhter Unrechtsgehalt zu, er macht sich nicht nur wegen Totschlags sondern wegen Mordes strafbar. Bei Raub und Vergewaltigung sind Fernziele der Nötigung tatbestandlich umschrieben. Ein Beispiel für die gesetzlich vorgesehene Berücksichtigung von Fernzielen im Bereich der Rechtfertigung bietet § 193 StGB: Beleidigende Äußerungen können aus dem Bereich strafbaren Unrechts ausgeklammert werden, wenn sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen, oder allgemeiner, in Verfolgung bestimmter Ziele gemacht werden. Ganz allgemein kann man sogar sagen: Bei allen im Strafrecht anerkannten Rechtfertigungsgründen werden Ziele berücksichtigt und - positiv bewertet, die der Täter über die, oder sogar mittels der (tatbestandlichen) Rechtsgutbeeinträchtigung beim Opfer verfolgt. In anderen Bereichen herrscht über die Berücksichtigung von Fernzielen zum Teil heftiger Streit, wobei meistens nicht die Frage ihrer Berücksichtigung an sich streitig ist. Der Streit geht vielmehr i.d.R. um die Frage, in welchem Umfang Eingriffe in Rechtsgüter Dritter unter Beachtung des Fernziels zulässig sind. Gerungen wird oft auch um den dogmatischen Standort, an welchem die Fernziele Berücksichtigung finden sollen. Vereinfacht läßt sich sagen: Selten steht das Ob der Berücksichtigung von Fernzielen, meist aber das Wie und das Wo in Frage. Aktuelle Beispiele für diesen Meinungsstreit bilden die Fragen des ärztlichen Heileingriffs, die Forschung an menschlichen Embryonen sowie der Einsatz polizeilicher Lockspitzel.

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IV. Ziel der Arbeit - Gang der Darstellung

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IV. Ziel der Arbeit - Gang der Darstellung Ziel der Arbeit ist es herauszuarbeiten, welche Bedeutung Fernzielen des Täters im Rahmen der strafrechtlichen Unrechtsbeurteilung zukommt. Untersucht werden soll dabei die Frage, ob und in welchen Grenzen ideelle oder politische Fernziele des Täters die Strafwürdigkeit und die Strafbedürftigkeit eines Verhaltens beseitigen, Strafunrecht ausschließen können. Die Probleme werden zunächst noch einmal anhand der aktuellen Diskussion um die Sitzblockaden deutlich gemacht (Kapitel 1 und 2). Sodann wird der Begriff Femziel definiert (Kapitel 3). Im Anschluß daran wird ein Überblick gegeben, wie Fernziele im allgemeinen (Kapitel 4 und 5) und politische Fernziele im besonderen (Kapitel 6 - 8) schon bisher bei der Unrechtsbeurteilung im Strafrecht berücksichtigt werden. Die Arbeit zeigt dabei auf, daß Ziele des Täters, die über die Tatbestandsverwirklichung hinausgehen, von der Rechtsordnung vielfach auf der Ebene der (Straf-)Rechtswidrigkeit berücksichtigt werden, ja daß dies geradezu ein Charakteristikum von Rechtfertigungsgründen darstellt (Kapitel 5). Wird wirklich eine Gleichbehandlung erstrebt, so sind diese Strukturen auch auf politische Ziele zu übertragen. Da Probleme bei der Behandlung von Fernzielen erst da auftreten, wo bereits anerkannte Rechtfertigungsgründe bzw. Strafunrechtsausschließungsgründe (zu dieser Unterscheidung Kapitel 10) versagen, muß zunächst deren Reichweite untersucht werden. Hierher gehören zuvorderst die politischen Grundrechte, vor allem die Art. 4, 5, 8 und 9 GG (Kapitel 7), einschlägig sind aber auch die Rechtfertigungsgründe des StGB, insbesondere Notwehr, Notstand sowie die Wahrnehmung berechtigter Interessen (Kapitel 8 I, II, III). Für den Bereich politischer Fernziele wurde in den vergangenen Jahren verschiedentlich eine Rechtfertigung durch die Figur des "Zivilen Ungehorsams" propagiert. Auch hier ist zu prüfen, ob dieser Figur überhaupt eine eigenständige Bedeutung zukommen kann (Kapitel 8 IV). Nur im verbleibenden Bereich ist strafrechtliches Unrecht überhaupt denkbar. Anknüpfend an die von Günther begründete Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit (Kapitel 10) legt die Arbeit dar, daß es unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich möglich und sogar geboten ist, Verhaltensweisen mit politischer Zielsetzung über die bisher anerkann-

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Einführung

ten Rechtfertigungsgründe hinaus von Kriminalisierung auszunehmen, da es in diesen Fällen vielfach an - erhöhtem - strafwürdigem Unrecht fehlt. Hierzu werden Strafunrechtsausschließungsgründe, d.h. "Rechtfertigungsgründe" mit begrenzter Wirkung nur im Strafrecht, entwickelt sowie deren Voraussetzungen definiert (Kapitel 11). Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse auf die Verwerflichkeitsprüfung bei § 240 Abs. 2 StGB übertragen und auch dort Kriterien definiert, bei deren Vorliegen strafrechtliches Unrecht entfällt (Kapitel 12). Die Arbeit konzentriert sich auf die strafrechtliche Beurteilung politisch zielgerichteter Verhaltensweisen. Sie will damit keineswegs einer restriktiven Grundrechtsinterpretation das Wort reden. Je weiter die Grundrechte interpretiert werden, um so weniger ist es notwendig, im Strafrecht "korrigierend" einzugreifen. Je enger jedoch Grundrechte, aber auch Rechtfertigungsgründe mit Wirkung für die Gesamtrechtsordnung, ausgelegt werden, um so notwendiger ist es, spezielle strafrechtliche Ausnahmetatbestände zu schaffen, um einer weitreichenden Verhaltenskriminalisierung in politisch sensiblen Bereichen vorzubeugen. Als sedes materiae dieser Ausnahmetatbestände wird die Ebene der (Straf-)rechtswidrigkeit betrachtet. Hiermit sollen keineswegs tatbestandliche Entkriminalisierungsmöglichkeiten (Bagatellprinzip, restriktive Auslegung) unterlaufen werden. Diese allein reichen allerdings nicht aus, um den besonderen, atypischen Situationen Rechnung zu tragen. Die hier vorzutragende Lösung bietet zwei Vorteile: zum einen schafft sie eine zusätzliche, notwendige Möglichkeit, als gesellschaftlich wertvoll erkanntes Verhalten nicht mit dem Makel der Kriminalisierung zu belegen. Zum anderen ermöglicht sie eine differenzierte Betrachtungsweise in den einzelnen Rechtsgebieten. Entfällt nur strafrechtliches Unrecht, so kann sich ein Verhalten dennoch als polizeirechtswidrig darstellen. Der Polizei ist es in diesen Fällen möglich, "die Ordnung wiederherzustellen", ohne daß sogleich eine Verhaltenskriminalisierung erfolgen muß. Propagiert wird also kein rechtsfreier Raum, den die Apologeten der herrschenden Meinung immer wieder an die Wand malen, sondern ein strafrechtsfreier Raum, der den oft auch heftig vorgebrachten Protest von Bürgern und deren Anliegen ernst nimmt und den inneren Frieden langfristig wirksam sichern hilft.

Erster

Teil

Problemstellung am Beispiel der Sitzblockaden Kapitel 1

Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung der Jahre 1986 - 1989 Der Streit um die Berücksichtigung von Fernzielen bei der strafrechtlichen Unrechtsbeurteilung ist in jüngerer Zeit heftig entbrannt. Anlaß ist die erneut1 entflammte Diskussion um die Strafbarkeit von Sitzblockaden. Seit Beginn der achtziger Jahre findet diese Form des Protests zunehmende Verbreitung: Sitzblockaden finden statt vor Atomwaffenlagern 2, vor Kasernen der Bundeswehr und der alliierten Streitkräfte 3, vor bestreikten Betrieben4, Zeitungsdruckereien 5, Atomkraftwerken 6 und vor Banken7; ver-

1 Zur Diskussion Ende der sechziger Jahre: Tiedemann, JZ 1969, 717 mit umfangreichen Nachweisen. 2 Die erste Blockade in diesem Zusammenhang wurde am 13.7. 1981 vor dem Atomwaffenlager in Großengstingen durchgeführt. Von Herbst 1983 bis zur Unterzeichnung des INF-Abkommens fanden sie vorwiegend vor den Stationierungsorten der Pershing II-Raketen Heilbronn (Waldheide), Ulm und Mutlangen sowie an den Stationierungsorten der "cruise missiles" im Hunsrück statt. 3 Z.B. die Blockade der amerikanischen Stützpunkte in Bitburg (2.-3.9.1983) und Ramstein (15.10.1983) oder des Giftgaslagers Fischbach (u.a. vom 27.6.-1.7.1988 und am 23.5.1989). 4 Z.B. Blockade des Geländes der Trafounion Stuttgart vom 15.-17.5.1985, vgl. AG StuttgartBad Cannstatt, Az: B 5 Cs 303/86. 5 Während des Druckerstreiks im Frühjahr 1984. 6 Z.B. am 21.8.1982 Blockade vor dem AKW Emsland bei Lingen, vgl. OLG Oldenburg StrVert 1987, 489. Bauplatzbesetzungen prägen die Geschichte der Anti-Atomkraftbewegung von Wyhl bis Wackersdorf. 7 Aktionen vor allem gegen die Dresdner Bank am Weltspartag, 31.10.1986, sowie anläßlich des Evangelischen Kirchentags in Frankfurt 1987. Vgl. auch LG Bremen, StrVert 1986, 439.

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

schiedene diplomatische Vertretungen 8 sowie eine Theaterbühne9 wurden besetzt. Mit diesen Aktionen werden die unterschiedlichsten Ziele verfolgt: In einigen Fällen wollen die Blockierer tatsächlich die Arbeit von Streikbrechern, die Demontage von Maschinen, die Aufführung eines Theaterstücks oder die Auslieferung von Zeitungen verhindern. In anderen Fällen soll nur symbolisch etwa auf die Gefahren des Betriebs von Atomkraftwerken, auf die Geschäfte deutscher Banken mit dem Apartheidsregime in Südafrika, auf Menschenrechtsverletzungen in Chile oder die Verwicklung der Vereinigten Staaten in den Krieg in Nicaragua hingewiesen werden. Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen bedienen sich dieser Aktionsform. So kam es zu Blockaden von Arbeitern, Richtern 10, Senioren11 und Musikern. Hunderttausende haben sich seither an derartigen Aktionen beteiligt. Gegen mehrere zehntausend Menschen wurden und werden auch weiterhin Strafverfahren wegen Nötigung eingeleitet12. Kaum eine Frage hat die Strafrechtsdiskussion der vergangenen Jahre so bewegt, wie die Diskussion um die strafrechtliche Beurteilung von Sitzblockaden. Dieser Streit fand seinen vorläufigen Höhepunkt in zwei Beschlüssen des BGH vom 24. April 198613 und vom 5. Mai 198814 sowie in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 198615, das zwischen den beiden Entscheidungen des BGH erging. Alle drei Entscheidungen betreffen Sitzblockaden auf Zufahrtsstraßen zu militärischen Einrichtungen, die gegen den bedrohlichen Rüstungswettlauf im allgemeinen, insbesondere aber gegen die atomare Aufrüstung mit Pershing II Raketen und Cruise Missiles auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutsch-

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Z.B. Besetzung des chilenischen Konsulats in Hamburg. Frankfurter Theaterbesetzung 1985 aus Anlaß der Aufführung eines Stückes von R.W.Faßbinder. Zu den Hintergründen vgl. Der Spiegel 1985, Nr. 37, 217 f., Nr. 45, 294 ff., und Nr. 46, 24 ff. 10 Vgl. Kramer (Hrsg.), Die Richterblockade Mutlangen 12. Januar 1987, Dokumentation, 1987. 11 Vgl. Grüninger/Fromann (Hrsg.), Wo diese schweigen, so werden die Steine schreien, Seniorinnen und Senioren für den Frieden, 1989. 12 Schon zu Beginn des Jahres 1985 wird von annähernd 6.000 Strafverfahren allein gegen Mitglieder der Friedensbewegung berichtet, vgl. Kühnert in: Finckh/Jens, S. 183 (Nachdruck aus dem Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt v. 3.2.1985). 13 BGHSt 34, 71 = NJW 86, 1883. Diese Entscheidung erging auf Vorlage des OLG Köln, StrVert 1985, 457. 14 BGHSt 35, 270. 15 BVerfGE 73, 206 = NJW 1987, 43. 9

I. Der Beschluß des BGH (2. Senat) vom 24. April 1986

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land im Rahmen des so bezeichneten Nato-Nachrüstungsbeschlusses gerichtet waren. Zwei Fragen beherrschen die Diskussion: Zum einen die Rechtsprechung zu § 240 Abs. 1 StGB, die auch erklärtermaßen gewaltfreie Aktionen unter den weiten Gewaltbegriff des Nötigungstatbestandes subsumiert. Selbst eindeutig rechtmäßige Demonstrationen und Streiks werden so zunächst einmal straftatbestandlich erfaßt. Da das BVerfG die durch die Strafgerichte gefundene Auslegung (extensiver Gewaltbegriff), wenn auch mit denkbar knapper "Mehrheit", unbeanstandet ließ, kann die Rüge des vergeistigten Gewaltbegriffs auf absehbare Zeit nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg auf den nationalen Rechtsweg gebracht werden 16. Bedenken bleiben gerade nach dem Urteil des BVerfG gleichwohl bestehen17. Sie gründen allerdings nicht im Bestimmtheitsgrundsatz - in der strafgerichtlichen Rechtsprechung hat der Tatbestand ja durchaus eine bestimmte Auslegung gefunden 18 - als vielmehr darin, daß die Auslegung ersichtlich an der Grenze zur verbotenen Analogie, im Grenzbereich des noch möglichen Wortsinns liegt19. Eine hier angezeigte Klarstellung durch den Gesetzgeber ist allerdings nicht in Sicht. In den Mittelpunkt des Interesses rückt deshalb das zweite Kernproblem, die Frage nämlich, ob und in welcher Weise politische Ziele der Demonstranten schon bei der Unrechtsfeststellung zu berücksichtigen sind. An der Verwerflichkeitsprüfung gemäß § 240 Abs. 2 StGB hat sich der Streit deshalb entzündet, weil hier über gesamttatbewertende Kriterien eine Korrektur des weiten Nötigungstatbestandes vorgenommen wird. Dies bedeutet ein besonderes Einfallstor für die Berücksichtigung weitergehender Ziele. In der Literatur und veröffentlichten Stellungnahmen berufsständischer Vertretungen 20 überwiegen eindeutig die Beiträge, die sich gegen eine Kriminalisierung gewaltfreier Sitzblockaden aussprechen21. Gleichwohl gibt 16

Ebenso: Frankenberg, StrVert 1987,395; Kühl, StrVert 1987,129; Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (51). 17 Vgl. etwa Calliess, NStZ 1987, 209: "Hätte es noch eines Beweises bedurft, daß der Nötigungstatbestand des § 240 StGB verfassungswidrig ist, das BVerfG hat ihn in seiner Entscheidung nachhaltig erbracht". Anders Kühl, StrVert 1987, 123: "Der Rechtssicherheit förderliche Klarheit ist dabei trotz Stimmengleichheit eher hinsichtlich des Gewaltbegriffs ... geschaffen worden." 18 Siehe Kapitel 1 III. 19 Hierzu auch Frankenberg, StrVert 1987, 395; Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2583); Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 ff. 20 Vgl. etwa die Stellungnahmen des 9. Strafverteidigertages 1985 in Berlin und des 9. Richterratschlages 1985 in Schömberg, DRiZ 1985, 328 (329). 21 Krämer verzeichnet in einer Literaturliste (Stand August 1988, zu beziehen über Dr. Helmut

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

es auch hier gewichtige Stimmen, die dafür eintreten, passive Resistenz als strafwürdiges Unrecht zu behandeln22. Das BVerfG hat diese Frage bekanntlich offengelassen. Der BGH hat - wie wir sehen werden - mit unterschiedlichem Tenor entschieden. Wohin es führen kann, wenn es der Strafrechtsdogmatik nicht gelingt, Gerichten im Umgang mit politischen Zielen klare Kriterien an die Hand zu geben, zeigt ein Überblick über die Blockade-Rechtsprechung der vergangenen drei Jahre: In einem politisch so sensiblen Bereich fühlen sich die Betroffenen wie auf einer Achterbahnfahrt durch die Justiz. Rechtsunsicherheit und -Ungleichheit sind so groß, daß das Vertrauen in die Justiz ernsthaft Schaden zu nehmen droht. I. Der Beschluß des BGH (2. Senat) vom 24. April 1986 Zunächst stellte der 2. Senat des BGH entgegen der bis dahin in der Rechtsprechung dominierenden Auffassung 23 fest, daß durch das sogenannte "Läpple-Urteil" 24 das Ergebnis der (Unrechts-25)Abwägung nicht präjudiziert werde: "Der Sitzstreik, mit dem es diese Entscheidung (Läpple) zu tun hatte, wies andere Dimensionen auf als die Blockade, mit der das OLG Köln befaßt ist. Die Beweggründe der an den Aktionen ... beteiligten Demonstranten, die von ihnen verfolgten Zwecke, ihr Verhalten und das Ausmaß ihres Eingriffs in die Rechte anderer sind nicht gleichgelagert. Mit diesem Vergleich will der Senat lediglich erläutern, weshalb er die Vorlegungsvoraussetzungen verneint hat. Er will damit die dem OLG Köln obliegende Entscheidung nicht beeinflussen. Insbesondere kann diesem Vergleich keine Stellungnahme zu der Frage entnommen werden, ob das mit einer Demonstration verfolgte Fernziel (vgl. dazu BayObLG JZ 1986, 404, 405)

Krämer, Herrenbreite 18a, 3340 Wolfenbüttel) allein 179 (!) wissenschaftliche Beiträge sowie 92 Zeitungskommentare, die "bei demonstrativen Sitzblockaden gegen die Hochrüstung die Frage nach kriminellem Unrecht mangels Verwerflichkeit verneinen", aber nur 23 Beiträge mit gegenteiliger Tendenz. Vgl. auch die Literaturzusammenstellung in BVerfGE 73, 206 (232). Zum gleichen Eindruck gelangt Fritz, Simon-FS, 403 (433), der sich als zust. wiss. Mitarbeiter beim BVerfG wohl wie kaum ein anderer in die diesbezügl. Lit. eingearbeitet hat. 22 Vgl. statt vieler Tröndle, Lackner-FS, S. 627 ff.; ders., Rebmann-FS, S. 481 ff. 23 Vgl. OLG Stuttgart NJW 1984, 1909; KG NJW 1985, 209; OLG Düsseldorf NJW 1986, 942 = StrVert 1986, 103; BayObLG JZ 1986, 404 (405). A.A. das vorlegende OLG Köln NStZ 1986, 30; zurückhaltend OLG Koblenz NJW 1985, 2432. 24 BGHSt 23, 46. 25 Der BGH sieht in § 240 Abs. 2 zu Recht eine Klausel zur Bestimmung der Rechtswidrigkeit.

I. Der Beschluß des BGH (2. Senat) vom 24. April 1986

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von wesentlicher Bedeutung für Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Tat sein kann."26 Entgegen den mehrfachen Beteuerungen des Senats ist zunächst festzuhalten, daß der vom OLG Köln vorgelegte Sachverhalt dem der LäppleEntscheidung in wesentlichen Punkten gleichgelagert war: - In beiden Fällen handelte es sich um einen Sitzstreik einer Gruppe von Menschen vor einem erwarteten oder herannahenden Verkehrsmittel. - In beiden Fällen verfolgten die Teilnehmer mit der Aktion ein mittelbares - ideelles - Ziel. - In beiden Fällen ging es um den Versuch einer Mitsprache in einer öffentlichen Angelegenheit. - In beiden Fällen war eine Beschränkung auf "passive" Gewalt festzustellen. In der Sache trifft der Senat unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung27 demnach folgende Kernaussagen: Dem Nötigungstatbestand kommt auch für die Gewaltmodalität keine Indizwirkung zu. Dies gilt "insbesondere in Fällen, in denen der Täter mit nur geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzt."28 Im Rahmen der für das Verwerflichkeitsurteil - und damit die strafrechtliche Unrechtsbeurteilung - relevanten Faktoren ist dem Femziel Bedeutung beizumessen. Der Senat vermeidet indes, da aus seiner Sicht nicht entscheidungserheblich, sich festzulegen, welches Gewicht dem Fernziel bei der Abwägung der verschiedenen zu berücksichtigenden Faktoren und Interessen beizumessen ist. Was aber versteht der BGH unter Fernziel? Beweggründe, verfolgte Zwecke, Fernziele - sind dies sich ausschließende Begriffe? Zu diesem Ergebnis kommt, wer, wie dies verbreitet geschieht29, die Entscheidung insofern mißversteht, als ließe der BGH die Frage offen, ob den Fernzielen überhaupt Bedeutung zukomme. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Vielmehr bezieht sich der BGH auf das unmittelbar zuvor Gesagte: 26

BGHSt 34, 71 (78). Hervorhebungen vom Verfasser. So auch BVerfGE 73, 206 (255); Janknecht NJW 1986, 2411 f.; Jakobs JZ 1986, 1063 (1064); Stark JZ 1987, 148. 28 BGHSt 34, 71 (77). 29 Vgl. etwa OLG Düsseldorf, StrVert 1987, 393 (394). 27

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

Beweggründen und verfolgten Zwecken30 komme Relevanz bei der Unrechtsbeurteilung zu, sie seien in die Gesamtabwägung einzustellen. Der Hinweis auf die Entscheidung des BayObLG vom 21.2.198631 macht überdies deutlich, daß der BGH bei § 240 Abs. 2 StGB von einem mehrgliedrigen Zweckbegriff ausgeht und im Anschluß an das BayObLG zwischen unmittelbarem Zweck und Endzweck (Fernziel) differenziert. Unter unmittelbarem Zweck versteht er die "opfer- und handlungsnächsten Wirkungen", nämlich die Hinderung an der Weiterfahrt und die hierdurch bedingte "Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf eine bestimmte politische Meinung". Mit Endzweck (Fernziel) ist das "Eintreten für Frieden oder Freiheit" gemeint. Allen diesen Zwecken kommt nach Auffassung des BGH Relevanz zu. Offengelassen wird nur, ob die Fernziele (Endzwecke) von wesentlicher, d.h. ausschlaggebender Bedeutung sind. Fraglich bleibt indes, worin sonst als im Demonstrationscharakter der Handlung und im ideellen Charakter des inhaltlichen Anliegens der Unterschied zum "Normalfall" einer Nötigung liegen sollte. Zu Recht stellt Jakobs32 heraus, daß die Beeinträchtigungen, die die Blockierten hinzunehmen hatten, keineswegs an der Bagatellgrenze angesiedelt waren, sodaß bei "wertneutraler" Betrachtungsweise für den BGH im Einzelfall eine Verurteilung wegen Nötigung unproblematisch hätte sein müssen. II. Die Entscheidung des BVerfG vom 11. November 1986 Auch hier bedarf zunächst der Klärung, was das Gericht unter Fernziel versteht. Die die Entscheidung tragende Begründung von vier Richtern 33 nennt Fernziele und Tatmotive ohne nähere Erläuterung nebeneinander. Es ist allerdings davon auszugehen, daß auf die Terminologie des vorausgehenden Votums Bezug genommen wird. Differenzierter fassen sich nämlich die vier überstimmten Richter 34. Sie unterscheiden zwischen:

30 Die Rspr. verzichtet durchgängig auf eine Abgrenzung des Begriffs Motiv ggü. den Begriffen Zweck u. Fernziel, vgl. auch BVerfGE 73, 206 (258, 261); BayObLG, JZ 1986, 404 (405); OLG Oldenburg, StrVert 1987, 489 (490). Näher hierzu Kapitel 3. 31 BayObLG, JZ 1986, 404 (405). 32 Jakobs JZ 1986, 1064. 33 BVerfGE 73,206 (260 f.). Infolge Stimmengleichheit kann gemäß § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG ein Verstoß gegen die Verfassung nicht festgestellt werden. Eine Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG besteht nicht. Ausführlich hierzu: Fritz, Simon-FS, 403 (424 ff.). 34 BVerfGE 73, 206 (257 f.).

II. Die Entscheidung des BVerfG vom 11. November 1986

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- den unmittelbaren Nötigungsfolgen, d.h. den durch die Sitzblockaden verursachten Behinderungen, allgemein also dem tatbestandlichen Erfolg, - dem unmittelbaren Nötigungsziel, der Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen, - und dem Femziel, dem Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung. Auch das BVerfG geht also von einem mehrgliedrigen Zweckbegriff in § 240 Abs. 2 StGB aus. Da das Urteil aus einer Feder stammt, ist davon auszugehen, daß alle acht Richter sich zumindest auf eine gemeinsame Terminologie verständigt haben. Dies bedeutet, daß als Fernziel allein das letztgenannte Ziel zu verstehen ist. Offen blieb die Entscheidung allein in Bezug auf dieses Fernziel. Alle acht Richter haben demzufolge mit Bindungswirkung entschieden, daß das "unmittelbare Nötigungsziel", die Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen, im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Nur vier Richter allerdings wollen diesem (und dem Fernziel) ausschlaggebende Bedeutung zukommen lassen, während die sich durchsetzenden Richter keine Festlegung bezüglich der Gewichtung dieses Abwägungsmerkmals treffen wollten. In Bezug auf die strafrechtliche Behandlung des Fernzieles ("Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung") vermochte es auch das BVerfG nicht, sich zu einer eindeutigen Entscheidung durchzuringen. Zwar hat - insoweit erging die Entscheidung einstimmig - bei der Prüfung strafwürdigen Unrechts eine Abwägung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände stattzufinden. Nach der das Urteil tragenden Auffassung von vier Richtern gehört aber die mit der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel verbundene Berücksichtigung aller Umstände zu den typischen Aufgaben, die den Fachgerichten bei der Entscheidung des jeweiligen Falles obliegen: "Das BVerfG kann den Strafgerichten insoweit keine bestimmte Abwägung vorschreiben." 35 Von Verfassungs wegen dürfe der Strafrichter zwar die Femziele der Demonstranten bereits bei der Verwerflichkeitsprüfung berücksichtigen. Hierzu sei er jedoch nicht gehalten. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Gebot schuldangemessenen Strafens werde vielmehr auch durch eine Einbeziehung der Fernziele und Tatmotive in die Strafzumessung Genüge getan. Spätestens aber dort müssen auch nach Auffassung dieser vier Richter die Fernziele berücksichtigt und entsprechend positiv im Sinne einer Strafmilderung bewertet werden. 36

35 36

BVerfGE 73, 206 (260). BVerfGE 73, 206 (261).

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

Nach Auffassung der vier überstimmten Richter müssen dagegen die von den Demonstranten verfolgten Ziele schon bei der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel berücksichtigt werden: "Zwar kommt es bei der Abwägung von Gewaltanwendung und verfolgtem Zweck zunächst auf die Nötigungsfolgen, nämlich auf die durch die Sitzblockaden verursachten Behinderungen an. Diese lassen sich aber nicht isoliert betrachten, da sie für sich allein überhaupt nicht stattgefunden hätten, sondern nur als unselbständige Zwischenschritte zur Erreichung der eigentlichen Demonstrationsziele dienen, nämlich des unmittelbaren Nötigungsziels (Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen) und des Fernziels (Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung)." Die vier Richter kommen deshalb zu dem Schluß: "Wenn der Gesetzgeber die Strafbarkeit in § 240 Abs. 2 StGB von sittlichen Wertungen abhängig macht, dann darf der Richter bei der konkreten Abwägung den eigentlichen Anlaß und das alleinige Motiv der Tat als einen der wichtigsten Umstände für eine solche Wertung nicht außer acht lassen."37 Strafrichtern, die der von vier Richtern des BVerfG vertretenen, von vier anderen zumindest für verfassungsrechtlich unbedenklich gehaltenen Auffassung folgen und schon auf der Unrechtsebene Fernziele mit in die Abwägung einbeziehen, gibt die Entscheidung Kriterien an die Hand: Das Demonstrationsziel darf nicht als richtig oder falsch bewertet werden. Als Faktoren für die Privilegierung gegenüber kriminell motivierten Nötigungen werden vor allem genannt: - Gemeinwohlorientierung im Gegensatz zu eigennützigem Handeln, - Handeln als Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage, - Symbolcharakter der Handlungen im Gegensatz zu effektiver Zwangswirkung auf Entscheidungsträger, - "maßvolle" Beeinträchtigung von Rechtsgütern Dritter, - (etwaiges) polizeiliches Eingreifen wird widerstandslos hingenommen.38 Diese Rechtsprechung wurde im Bastian-Beschluß vom 14.7.198739 ausdrücklich bestätigt. Beschwerden bei der Europäischen Menschenrechtskommission hatten keinen Erfolg 40.

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BVerfGE 73, 206 (257 f.). BVerfGE 73, 206 (258). Vgl. auch die Erläuterungen von Fritz, Simon-FS, 403 (431 f.). 39 BVerfG, NJW 1988, 693. 40 European Commission of Human Rights, Entscheidung vom 6.3.1989, Az.: 13858/88, mit krit. Anmerkung v. Rainer Schmid, DuR 1990, Heft 2. 38

III. Die Entwicklung der Rechtsprechung der Strafgerichte

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III. Die Entwicklung der Rechtsprechung der Strafgerichte nach der Entscheidung des BVerfG Die untergerichtliche Rechtsprechung hat sich durch die Entscheidungen von BGH und BVerfG tiefgreifend verändert. War bis dahin unter Berufung auf das Läpple-Urteil überwiegend die Indizwirkung der Gewalt für das Verwerflichkeitsurteil und damit die Strafbarkeit bejaht beworden 41, so erhielten die Instanzgerichte wie im übrigen auch die Staatsanwaltschaften mit der "Freigabe" des Verwerflichkeitsurteils nun "mehr Luft zum Atmen"42. Schon vor den höchstrichterlichen Entscheidungen hatte es eine starke Strömung in der Rechtsprechung gegeben, die im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung eine Gesamtwürdigung der Tat vornahm, in die auch die Fernziele der Demonstranten miteinbezogen wurden 43. Die Tendenz, auch die "eigentlich mit der Aktion verfolgten Ziele"44 im Rahmen der immer und umfassend - durchzuführenden Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen, setzte sich nun mehr und mehr durch. Freisprüche erfolgten auf breiter Front 45. Gewichtung und Akzentuierung der Ziele wurden jedoch unterschiedlich gehandhabt. Teilweise erfolgten Freisprüche und Verurteilungen in ein und demselben Verfahren, wobei die Richter sehr sorgfältig und differenziert alle Umstände des Einzelfalls gegeneinander abwogen.46 In einer Reihe spektakulärer Entscheidungen "kippten" Gerichte ihre bis dahin ständige Rechtsprechung. Am bekanntesten wurde in diesem Zusammenhang der Schwäbisch Gmünder Amtsrichter Krumhard, der bis dahin bereits mehr als 100 z.T. prominente Sitzblockierer in Mutlangen verurteilt hatte und nunmehr freisprach 47. 41

Vgl. den Rspr.-Überblick bei Wolter, NStZ 1986, 241 (242 ff.). So zutreffend Janknecht, NJW 1986, 2412. 43 Nachweise bei: Wolter, NStZ 1986, 243. Lesenswert: AG Stuttgart, Az: B 33 Cs 2424/83 (l.instanzl. Urt. zu BVerfGE 73, 206). 44 OLG Zweibrücken, NJW 1988, 716 (717). 45 So etwa durch das AG Stuttgart, die Landgerichte Tübingen, Stuttgart, Ellwangen, Heilbronn, Frankfurt, Landau, Zweibrücken, Koblenz, Bad Kreuznach, Bonn, Köln, Memmingen, Münster, Bremen und Lübeck. Übersicht mit Fundstellen bzw. Aktenzeichen bei Krämer, KJ 1988, 201 (203 ff.). Danach sprachen unmittelbar vor dem zweiten Beschluß des BGH von 81 erfaßten Spruchkörpern 64 frei oder hoben als Revisionsinstanz Urteile auf. Überwiegend wurde unter Hinweis auf die mit der Tat verfolgten "Fern"-ziele die Strafrechtswidrigkeit verneint, oder - bei Revisionsurteilen der Weg hierzu eröffnet. Die Zahlen sind korrigiert: Die von Kramer fälschlicherweise unter Nr. 2 und 3 in der Rubrik: "Verwerflichkeit bejaht" genannten Entscheidungen des OLG Düsseldorf bejahen ausdrückl. die Berücksichtigung von Fernzielen, Nr. 1 ist durch die unter Nr. 3 genannte Entscheidung desselben Senats überholt. 46 Vgl. z.B. LG Stuttgart, Az.: 37 Ns 748/86 sowie die BGHSt 35, 270 zugrunde liegende Entscheidung des LG Tübingen. Ebenso OLG Köln (l.Senat), StrVert 1985, 457 einerseits und StrVert 1985, 460 andererseits. 47 Vgl. etwa die Berichte in: Rems-Zeitung Schwäbisch Gmünd und Gmünder Tagespost vom 42

3 Reichert-Hammer

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

Wie tiefgreifend die gesellschaftlichen Prozesse in die Rechtsprechung hineinwirkten, machen die Ausführungen in einem Urteil des LG Stuttgart 48 deutlich: "Darüber, ob etwas unangemessen, unangebracht oder unanständig ist, können die Meinungen auseinandergehen. Darüber, ob etwas verwerflich ist, bedarf es keiner Diskussion. Ein solcher Grad der Mißbilligung setzt voraus, daß es unter Menschen, die sich ernsthaft und objektiv mit der Bewertung der Zweck-Mittel-Relation befassen, unterschiedliche Auffassungen gar nicht geben kann. Es wird auf die Auffassung aller billig und gerecht Denkenden abgestellt... Daß es verwerflich ist, Gewalt anzuwenden, um Aufmerksamkeit für Anschauungen zu erzwingen, die andernfalls ungehört bleiben, erschien sicher. Die Strafkammer sieht sich jedoch daran gehindert, an dieser Auffassung festzuhalten, weil die Entscheidung des BVerfG vom 11.11.1986 erkennen läßt, daß von den acht Mitgliedern des ersten Senats nicht weniger als vier meinen, ein solches Verhalten liege noch im Bereich dessen, was von der Rechtsgemeinschaft hingenommen werden muß."49 Auch die breite Zustimmung, die die Aktionen der Friedensbewegung für deren Ziele versteht sich dies von selbst - bis hinein in die Reihen der Richter selbst besaßen50, blieb nicht ohne Auswirkung: "Auch ist nicht zu übersehen, daß die nicht gewalttätig verlaufenden Blockadeaktionen in Mutlangen von tausenden unbescholtener Bürger unterstützt werden und - was gerichtsbekannt ist - die Verurteilungen der für den Frieden demonstrierenden Sitzblockierer wegen Nötigung nicht nur in politisch extremen Publikationsorganen in Frage gestellt werden. Das in weiten Bereichen der interessierten Öffentlichkeit, vor allem auch bei vielen Juristen bestehende Unbehagen gegen die grundsätzliche Einschätzung der Sitzblockaden als verwerfliche Nötigung findet besonderen Ausdruck in den kritischen Worten von Rudolph51, er halte nichts von einer juristisch korrekt begründbaren, aber dem gewandelten Grundrechtsverständnis nicht gerecht werdenden Normin16.1.87, FAZ vom 17.U.21.1.87, Süddeutsche Zeitung v. 17./18.1.87, Stuttgarter Zeitung vom 19.1.87. 48 LG Stuttgart, Az.: 37 Ns 748/86. 49 Ebenso: OLG Zweibrücken, NJW 1988, 716 (718). Vgl. auch Fritz, Simon-FS, 403 (432); Prittwitz, JA 1987, 16 (25). 50 Bis hin zur eigenen Teilnahme an der Richterblockade in Mutlangen, vgl. hierzu Dokumentation "Die Richter-Blockade Mutlangen 12.1.1987", hrsg. von der Gruppe Richter und Staatsanwälte für den Frieden. 51 DRiZ 1988, 131. Dr. Kurt Rudolph ist Präsident des LG Tübingen und Vorsitzender des bad.württ. Richterbundes

III. Die Entwicklung der Rechtsprechung der Strafgerichte

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terpretation; kurz gesagt, er halte nichts von der Strafbarkeit - und nebenbei gesagt auch nichts von der Strafwürdigkeit - friedlich für den Frieden demonstrierender Sitzblockierer." 52 Einen weiteren Einbruch in die Rechtsprechung brachten tolerierte LKW-Blockaden an Grenzübergängen 53 sowie die löstündige Totalblockade der Stahlarbeiter in Duisburg-Rheinhausen, deren Ziele (Erhalt der Arbeitsplätze) auf breites Verständnis stießen und deren Kriminalisierung sowohl praktisch unmöglich wie auch politisch nicht opportun erschien54. Während sich diese Entwicklung in der untergerichtlichen Rechtsprechung immer mehr Bahn brach, kam auch zunehmend Bewegung in die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß - so ergaben jedenfalls die empirischen Forschungen Krämers 55 - in der Mehrzahl der OLG-Bezirke Staatsanwaltschaften Blockadeverfahren jedweder Art von vornherein einstellten oder gegen freisprechende Berufungsurteile der Landgerichte keine Revision einlegten. Bejaht wurde die Einbeziehung von Fernzielen innerhalb weniger Monate durch die OLGe Köln 56 , Düsseldorf 57, Zweibrücken 58, Stuttgart (3. Senat)59 und Oldenburg 60 sowie in einem Urteil des Bayerischen VGH 6 1 , in dem über ein Versammlungsverbot zu entscheiden war. Dabei bestand allerdings Einigkeit darüber, daß die Rechtswidrigkeit der Nötigung nicht von einer inhaltlichen Bewertung der jeweils verfolgten politischen Ansichten abhängig gemacht werden könne. Vielmehr seien sie nur einer eingeschränkten Prüfung unter dem Gesichtspunkt zu unterziehen, ob es sich um Protestaktionen zu die Allgemeinheit existentiell berührenden Fragen handele (OLG Köln), ob vom Täter eigensüchtige oder aber von ihm im Interesse der Allgemeinheit für wichtig erachtete Ziele verfolgt 52

Aus einem Urteil des LG Ellwangen, Az.: 3 Ns 216/86-10. Vgl. OLG Köln, StrVert 1985, 459; LG Zweibrücken, StrVert 1987, 206 (207 f.). 54 Vgl. LG Ellwangen, Az.: 3 Ns 216/86-10. Duisburgs Oberstadtdirektor hatte den Bediensteten sogar ausdrücklich frei gegeben, vgl. Spiegel Nr. 4/88, S. 96. 55 KJ 1988, 202. Helmut Krämer selbst ist Richter am OLG Braunschweig. Vgl. auch Bericht über die Berufungsrücknahme der Frankfurter StA in: Tagesspiegel Berlin v. 29.1.87 (dpa/ap). 56 OLG Köln, NJW 1986, 2443 (Entscheidung nach der durch BGHSt 34, 71 abgewiesenen Vorlage). 57 OLG Düsseldorf StrVert 1987, 393 (5. Senat), und NStZ 1987, 368 (2. Senat). 58 OLG Zweibrücken, StrVert 1987, 441 = NJW 1988, 716. 59 OLG Stuttgart, StrVert 1987, 538. 60 OLG Oldenburg, StrVert 1987, 489. 61 BayVGH, NJW 1987, 2100 = StrVert 1987, 208. 53

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

werden (OLG Düsseldorf), ob es um gemeinwohlorientiertes oder aber eigennütziges Verhalten gehe (OLG Zweibrücken), oder ob das Verhalten von billigenswerten Motiven und einem Gefühl der Verantwortung für die Allgemeinheit getragen wurde und deshalb positiv bewertet werden könne (OLG Oldenburg). Auch das BayObLG sprach sich dafür aus, Fernziele und Motive der Täter zu berücksichtigen, vorrangig sei aber bei der Prüfung der Verwerflichkeit auf die unmittelbar verfolgten Zwecke abzustellen62. Lediglich das OLG Koblenz63 sowie der 1. und der dem BGH zum zweiten Mal vorlegende 4. Senat des OLG Stuttgart 64 verneinten zuletzt noch ausnahmslos die Möglichkeit, Fernziele bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigten und verbannten deren Bewertung in den Bereich der Strafzumessung. IV. Der Beschluß des BGH (1. Senat) vom 5. Mai 1988 Der 1. Senat des BGH wendet sich nun gegen diese neue, im Vordringen begriffene Rechtsprechung und lehnt eine Berücksichtigung von Fernzielen bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit generell ab. Der Senat begründet seine Auffassung mit zahlreichen dogmatischen Argumenten, ausschlaggebend für die Entscheidung ist aber wohl das rechtspolitische Argument, niemand dürfe für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Die Begründung des Senats wird als bisher wichtigste Stellungnahme gegen eine Berücksichtigung von Fernzielen im einzelnen sogleich analysiert65. Schon hier soll aber ein kurzer Blick auf die politischen Hintergründe geworfen und dargelegt werden, weshalb der Senat zu Recht die Vorlegungsvoraussetzungen bejaht. Bei seiner Entscheidung stand das Gericht unter erheblichem politischem Druck. Die Bundesregierung wie auch die Mehrheitsfraktionen im Parlament waren nicht bereit, die sich durchsetzende Linie der Rechtsprechung zu akzeptieren. In einer Zeit, in der das politische Strafrecht immer mehr ausgebaut wird, sollte es keine Einbruchsteile geben. Der Bundesjustizminister veranlaßte "Vorarbeiten für eine gesetzliche Klarstellung", die sicherstellen sollte, daß "ungeachtet der jeweiligen Fernziele von Sitzblokkierern derartige Aktionen als strafwürdiges Unrecht und als Nötigung 62

Vgl. BayObLG JZ 1986, 404; NJW 1988, 718. OLG Koblenz, NJW 1988, 720. Diefreisprechende Entscheidung in NJW 1985, 2432, verneint das Vorliegen von Gewalt (Bagatelle). 64 OLG Stuttgart, NStZ 1988, 129 (4. Senat), sowie Az: 1 Ss 448/87, zit. bei BGHSt 35, 274. 65 Kapitel 2, II. 63

IV. Der Beschluß des BGH (1. Senat) vom 5. Mai 1988

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geahndet werden" können66. Die Frage war also nur noch, durch wen diese Klarstellung erfolgen sollte. Es überrascht deshalb nicht, daß der 1. Senat - anders als der 2. Senat im Jahre 198667 - die Vorlegungsvoraussetzungen bejaht. Daß er dies zu Recht tut, wurde bereits oben dargelegt: in allen genannten Entscheidungen handelt es sich im wesentlichen um gleichgelagerte Fälle, bei denen die Rechtsfrage - Einbeziehung von Fernzielen (schon) bei der Verwerflichkeitsprüfung - entscheidungserheblich war. Etwaige formale Zweifel räumt der Senat dadurch aus, daß er dem Revisionsgericht das Recht zubilligt, das Instanzurteil umfassend rechtlich zu überprüfen, selbst wenn eine Urteilsaufhebung schon aus anderen Erwägungen denkbar wäre: "Die Frage, ob das Landgericht die Fernziele der Demonstranten zu Recht in die Verwerflichkeitsprüfung einbezogen hat, kann dabei nicht unentschieden bleiben."68 Damit ist aber noch nicht gesagt, daß der 1. Senat auch gegen eine Berücksichtigung von Fernzielen entscheiden durfte. Mit einer so weitgehenden Ausblendung der von den Tätern verfolgten Ziele setzt sich der Senat über die Vorgaben des BVerfG hinweg69. Außerdem hatte doch der 2. Senat zuvor die Einbeziehung von Fernzielen ausdrücklich befürwortet und lediglich deren Gewichtung offengelassen. Diese Ausführungen zählten jedoch nicht zu den tragenden Gründen. Der 1. Senat konnte deshalb in der Tat von einer Vorlage an den Großen Senat gemäß § 136 Abs. 1 GVG absehen. Unerfindlich bleibt indes, weshalb trotz des offensichtlichen Dissenses der beiden Senate der Große Senat nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 137 GVG) angerufen wurde. So bleibt es wohl lediglich eine Frage der Zeit, bis erneut eine Vorlage durch ein OLG erfolgt.

66 Bericht über die Stellungnahme des Bundesjustizministers zum Beschluß des BGH in: Recht 1988, 46. Zu den gesetzgeberischen Überlegungen vgl. auch Miebach, NStZ 1988, 130 (132), Bertuleit, JA 1989, 16 (17 f.), und Frankenberg, StrVert 1987, 395 (397): "Straftatbestand Ziviler Ungehorsam". Einen guten Überblick über weitere Reformvorschläge gibt Frommel, KJ 1989, 484 (492 ff.). 67 Vgl. aber auch OLG Koblenz, NJW 1988, 720 (721). 68 BGHSt 35, 273. 69 Hierzu unten Kapitel 2, II 1.

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

V. Die Rechtsprechung nach dem Beschluß des BGH (1. Senat) vom 5. Mai 1988 Damit ist auch schon die Frage nach der Bindungswirkung aufgeworfen. Die Entscheidung löste nicht nur in der Fachliteratur und in der Presse heftige Reaktionen aus, sie stößt auch in der Justiz auf verbreitetes Unbehagen. Dabei kann als Ergebnis vorweg genommen werden, daß die vordergründig so klare Entscheidung zu noch größerer Rechtsunsicherheit als bisher geführt hat. Der tiefere Grund für diese Entwicklung liegt in der mangelnden Akzeptanz der Rechtsprechung des 1. Senats. 1. Die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaften Dieser Mangel an Akzeptanz beginnt bei Polizei und Staatsanwaltschaften. Dies ist um so verständlicher, sind es doch gerade sie, die sich an "vorderster Front" täglich vom moralischen Anspruch der Blockierer in Frage stellen lassen müssen. Vielerorts werden Sitzdemonstranten neuerdings nur noch wegen einer Ordnungswidrigkeit oder überhaupt nicht mehr verfolgt. Zumindest zwei Generalstaatsanwälte, Janknecht und Ostendorf, haben sich bereits dezidiert für eine Berücksichtigung von Fernzielen mit der Konsequenz einer Entkriminalisierung von Sitzblockaden ausgesprochen: "Es war gelegentlich schon peinlich zu beobachten, wie Idealismus, Übereifer und Ungestüm junger Menschen rigoros als verwerflich abgestempelt und mit der ultima ratio des Strafrechts verfolgt wurden, wie engagierte Staatsbürger zwar einerseits pauschal kriminalisiert wurden, aber andererseits doch nur einzelne herausgegriffen und zur Anzeige gebracht wurden..."70. Eine Bindungswirkung für die Staatsanwaltschaften besteht, wie sich insbesondere aus der in § 150 GVG ausgesprochenen Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft ergibt, jedenfalls dann nicht, wenn es an einer einheitlichen und gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung fehlt 71. Wo nicht von vornherein auf Strafverfolgung verzichtet wird, bemühten sich die Staatsanwaltschaften unmittelbar nach dem Beschluß des 1. Senats

70 Janknecht, NJW 1986, 2411 (2412); ders., GA 1969, 33; nicht minder deutlich: Ostendorf, StrVert 1988, 488. 71 Hierauf verweist ausdrücklich Ostendorf, StrVert 1988,488, der sich damit in Einklang mit der h.M. befindet. Zum Meinungsstand: Roxin, Strafverfahrensrecht, § 10 II 4. Vgl. auch BGHSt 15,155 (158 ff.).

V. Die Rechtsprechung nach dem Beschluß des BGH

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- wie schon in der Anfangsphase der Sitzstreiks - intensiv um einen "Friedensschluß" in der Form, daß sie den Beschuldigten eine Einstellung der Verfahren gemäß § 153 a StPO anboten. Nur in wenigen Fällen gingen die Betroffenen jedoch auf dieses Angebot ein72. 2. Die Instanzgerichte Eine unmittelbare Bindungswirkung besteht gemäß § 358 Abs. 1 StPO nur in dem Verfahren, in dem der Beschluß des BGH erging, und nur für das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung verwiesen wird. Die Instanzgerichte sind in ihrer Rechtsprechung also frei. Im Hinblick auf bestehende Rechtsmittelmöglichkeiten hängt die weitere Rechtsentwicklung allerdings wesentlich von den Oberlandesgerichten ab. Wie nicht anders zu erwarten, kommt es auf der Ebene der Instanzgerichte nun wieder vermehrt zu Verurteilungen. Insgesamt zeichnen sich diese aber im Umgang mit der Entscheidung durch ungeahnte Phantasie aus. Zahlreiche Gerichte "helfen sich" mit Verfahrensverschleppung 73, indem sie Akten über Jahre nicht bearbeiten oder Verfahren durch umfangreiche Beweiserhebungen in den USA verzögern, deren Länge ebenso wie deren Ergebnislosigkeit angesichts des dortigen Melderechts vorgezeichnet sind74. In anderen Fällen schaffen Gerichte, aber auch Staatsanwaltschaften 75, Akzeptanz für Einstellungen, indem sie die Zahlung von Geldauflagen an "Greenpeace" oder den "BUND" erlauben, Organisationen also, die selbst zum Zivilen Ungehorsam aufrufen! Andere Gerichte 76 verurteilen nun zwar wieder, sprechen aber als Sanktion nur eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus. § 59 Abs.l Ziff.l StGB setzt allerdings die Erwartung voraus, daß der Täter künftig auch ohne Verurteilung zu Strafe keine Straftaten mehr begehen wird. Diese Erwartung wird von der Mehrzahl der "Blockierer" nach Kräften enttäuscht. Aus diesem Grunde hat das OLG Zweibrücken auch eine entsprechende Entscheidung des LG Zweibrücken aufgehoben 77. 72 Abgelehnt wird die Verfahrenseinstellung vor allem von Mitgliedern der Friedens- und Ökologiebewegung. Auf diesem Wege beendet werden konnten dagegen die Verfahren gegen Arbeiter der Trafounion Stuttgart in II. Instanz, nachdem erstinstanzlich teilweise Freisprüche, teilweise Verurteilungen ergingen. 73 Bis zum I.-instanzlichen Urteil vergehen meist mehr als 3 Jahre. Viele Blockade-Verfahren aus dem Jahre 1983 sind bis heute nicht rechtskräftig abgeschlossen! 74 Dagegen nun OLG Stuttgart, NJW 1989, 1620. 75 So etwa das AG Schwäbisch Gmünd und die StA Ellwangen. 76 Z.B. LG Ellwangen, StrVert 1989, 112. 77 Urt. v. 12.5.1989, Az: 1 Ss 55/89. Vgl. aber auch BayObLG, NJW 1990, 58.

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Kap. 1: Politisch zielgerichtete Sitzblockaden in der Rechtsprechung

Unter Hinweis auf die nicht bestehende Bindung und unter Berufung auf die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG, § 25 DRiG, § 1 GVG) weichen zahlreiche Instanzgerichte nun auch offen von der Auffassung des BGH ab: "Dabei gelangt die Kammer zu der Auffassung, daß der Entscheidung (des BGH) nicht gefolgt werden kann, weil sie dogmatisch nicht überzeugt"78. 3. Die Oberlandesgerichte Die OLGe sind als Revisionsinstanz gemäß § 121 Abs. 2 GVG nur indirekt gebunden, nämlich für den Fall, daß sie nicht erneut vorlegen wollen. Es ist kaum zu erwarten, daß sich alle OLGe mit der Entscheidung des 1. Senats abfinden werden, zumal es angesichts der Rechtsprechung des 2. und des 3.19 Senats als nicht unwahrscheinlich erscheint, daß die bisherige Mehrheitslinie der OLGe bestätigt wird. Entsprechendes Wohlwollen sollte möglicherweise die Äußerung des Richters am BGH Heinz Recken signalisieren80: Es sei ein Irrtum zu glauben, für die Entscheidung des 1. Strafsenats gelte der Satz: Roma locuta, causa finita. Der Beschluß des BGH sei "keine Entscheidungszäsur, sondern nur ein Etappendatum". Und weiter: "Will etwa das OLG Köln, dessen Rechtsauffassung der 1. Strafsenat des BGH abgelehnt hat, daran festhalten, so müßte es die Sache dem für es zuständigen 2. Strafsenat des BGH vorlegen. Falls dieser dem ersten Strafsenat nicht folgen wollte, müßte der große Senat in Strafsachen entscheiden. Und wie diese Entscheidung ausfallen würde, läßt sich heute gar nicht absehen." Mittlerweile hat sich allerdings das OLG Zweibrücken 81 unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung dem 1. Senat des BGH angeschlossen. Das BayObLG hat eine Verurteilung unter Strafvorbehalt ausdrücklich bestätigt82. Der 3. Senat des OLG Stuttgart 83, der Senat also, der schon bisher die Einbeziehung von Fernzielen befürwortete, hat seine Rechtsansicht unter dem Eindruck der neuen BGH-Entscheidung "modifiziert", ohne

78 LG Zweibrücken, StrVert 1989,379. Ebenso: LG Bad Kreuznach, NJW 1988,2624 (2626); AG Stuttgart Bad-Cannstatt, Urt.v.29.11.88, Az: 85 Cs 303/86 (Trafounion); AG Überlingen, Urt.v. 20.12.88, Az: Ds 45/88 Hw; AG Schwandorf, Urt.v. 26.6.88, Az: 110 Cs 9 8009/88; AG Heilbronn, Urt.v. 9.6.1989, Az: 41 Cs 4396/87. 79 Vgl. die in BGHSt 32, 165 (181) angedeuteten Bedenken. 80 Leserbrief in der FR Nr. 144 v. 24.6.1988, S. 7. 81 OLG Zweibrücken, Urt.v.12.5.1989, Az: 1 Ss 55/89. 82 BayObLG, NJW 1990, 58 für den "Normalfair einer Sitzblockade in Wackersdorf unter ausdrücklicher Abgrenzung von gewalttätigen Aktionen. 83 OLG Stuttgart, NJW 1989, 1870. St. Rspr., vgl. auch Urt.v. 2.10.89, Az: 3 Ss 545/89. Ähnlich AG Stuttgart Bad-Cannstatt, Urt.v. 29.11.88, Az: 85 Cs 303/86.

V. Die Rechtsprechung nach dem Beschluß des BGH

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sie wirklich aufzugeben. Ein offenes Abweichen ist dem Senat nicht möglich, da für eine Vorlage wiederum der 1. Senat beim BGH zuständig gewesen wäre. Deshalb greift er zu einer List, indem er die Entscheidung des BGH zielgerichtet verkürzt. Einleitend stellt das OLG fest, daß "der Begriff Fernziel kaum noch passend" erscheine, "vielmehr eher das Motiv der Angeklagten und der ihrer Aktion unmittelbar und gegenwärtig anhaftende Charakter beschrieben" würden. Nach Ansicht des BGH sei zwar nicht zwischen der Verfolgung eigennütziger Zwecke und Beiträge zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage zu unterscheiden. Das bedeute freilich nicht, "daß das Tatgericht nicht im Einzelfall erwägen dürfte und bewerten müßte, ob es sich etwa um ein mutwilliges Vorgehen des Täters oder um ein solches mit auch für die Opfer offenkundigem Demonstrationscharaktef handele. Inzwischen hat das BayObLG u dem BGH erneut einen Fall zur Frage der Kausalität von Sitzblockaden vorgelegt85. 4. Das Bundesverfassungsgericht Das BVerfG hat in einem bisher unveröffentlichten Beschluß vom 26.7.199086 ein Blockadeurteil des BayObLG 87 aufgehoben und erneut unmißverständlich auf die "grundrechtssichernde Funktion der Verwerflichkeitsklausel" hingewiesen. Die Anforderungen an die Abwägung im konkreten Einzelfall werden in diesem Beschluß weiter hochgeschraubt. Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zu den Sitzblockaden bleibt spannend. Die Herausforderung an die Justiz wird so lange bestehen bleiben, wie Bürgerprotest massenhaft dieses Ventil sucht, um sich wirksam zu artikulieren 88.

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BayObLG, JZ 1990, 448. Zu weiteren Entscheidungen vgl. Frommel, KJ 1989, 484 (487 ff.). 86 Az. 1 BvR 237/88. 87 Az. RReg 3 St 212/87: Verurteilung wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (Nötigung). 88 Wie lange es dauern kann, bis eine als gefestigt betrachtete Rspr. erschüttert wird, zeigt ein Bspl. aus einem ganz anderen strafrechtsdogmatischen Bereich, der Abgrenzung von erfolgsqualifiziertem und Vorsatzdelikt. Hier hatte der 4. Senat (BGHSt 26, 175) bereits 1975 den Leitsatz aufgestellt, daß Raub mit Todesfolge mit Mord rechtlich nicht zusammentreffen kann. Erst 13 Jahre später erhielt der 5. Senat (BGHSt 35, 257, 258), und dies auch nur in einem obiter dictum, Gelegenheit, seine abweichende Rechtsauffassung deutlich zu machen. 85

Kapitel 2

Problemstellung Eine Urteilsanalyse der angesprochenen höchstrichterlichen Entscheidungen macht notwendige Fragestellungen deutlich und offenbart die Defizite der aktuellen Diskussion in der Strafrechtswissenschaft. I. Die Entscheidungen des BGH (2. Senat) und des BVerfG In der Strafrechtswissenschaft 1 wurden die beiden Entscheidungen mit sehr unterschiedlicher Akzentuierung aufgenommen. Nahezu alle Veröffentlichungen verharren allerdings isoliert an Einzelproblemen (hier vor allem bei der Definition des Gewaltbegriffs), konzentrieren sich allein auf verfassungsrechtliche Probleme oder differenzieren nicht ausreichend zwischen verfassungsrechtlichen und spezifisch strafrechtlichen Fragestellungen. Das größte Manko aus strafrechtlicher Sicht liegt jedoch darin, daß (1) weitgehend unklar bleibt, was unter Fernziel zu verstehen ist, und (2) einseitig nur die Einbeziehung politischer Fernziele diskutiert wird, ohne die Problematik in einem breiteren strafrechtsdogmatischen Rahmen zu erörtern. So verwundert es nicht, daß durchgehend der eigene politische Standpunkt das Ergebnis determiniert. Die Obergerichte sehen sich zum Teil harscher, oft mehr emotional geprägter als sachlich fundierter Kritik ausgesetzt2. So schreibt beispielsweise Starck in seiner Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG: 3 "Damit wird die Rechtsunsicherheit wachsen, ja vielleicht ein solches Maß erreichen, daß die Bestrafung von Teilnehmern an Sitzblockaden

1

Anmerkungen zur Entscheidung des BGH: Baumann NJW 1987, 36; vgl. auch davor schon in Wassermann-FS 1985, S. 247; Janknecht NJW 86, 2411; Jakobs JZ 1986, 1063. Anmerkungen zur Entscheidung des BVerfG: Baumann ZRP 1987, 265; Bertuleit/Herkströter, KJ 1987, 331; Calliess NStZ 1987, 209; Fritz, Simon-FS, S. 403; Kühl, StrVert 1987, 122; Meurer/Bergmann, JR 1988, 49; Nußstein, StrVert 1987, 223; Otto, NStZ 1987, 212; Prittwitz, JA 1987, 17; Riehle, DuR 1987, 9; Starck JZ 1987, 145. 2 Hierzu auch Kühl, StrVert 1987, 122 f. 3 Starck, JZ 1987, 145 (148).

I. Die Entscheidungen des BGH (2. Senat) und des BVerfG

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zu einem Skandal des Rechtsstaats werden wird, weil die Gleichheit der Anwendung des Strafrechts in Frage gestellt wird. Eine den rechtsstaatlichen Anforderungen an das Strafen genügende Strafvorschrift, die § 240 StGB in der Auslegung durch die ständige Rechtsprechung darstellt, wird durch einen völlig offenen, auch politischen Tendenzen bewußt geöffneten Verwerflichkeitsbegriff so aufgelöst, daß sie ein Maß an Unbestimmtheit erreicht, das vor Art. 103 Abs. 2 GG keinen Bestand mehr haben kann. Schon die Entscheidung des BGH ... hinterließ den Eindruck, daß ein Gericht, dessen vorzügliche Aufgabe darin besteht, die rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafens und die einheitliche Rechtsanwendung zu sichern (§ 121 Abs. 2 GVG), dazu übergegangen ist, diese aufzulösen." Die Anmerkung Ottos 4 gar gipfelt in dem Satz: " ... so kann dieses nur als Beispiel für die Faszination der Gewaltanwendung für die 'gute', die 'ideologisch richtige' Sache zur Kenntnis genommen werden." Hinter der Kritik stecken letztlich zwei Kernpunkte: Zum einen stehen die Fachgerichte nach den Entscheidungen von BGH und BVerfG vor dem Dilemma, anhand unscharfer, teilweise als ungeeignet empfundener Kriterien über die Frage des Ob der Strafbarkeit nach § 240 StGB in einer sich häufenden Zahl von Verfahren entscheiden zu müssen5. Zum anderen befürchten auch besonnenere Kritiker, daß eine Bewertung der politischen Ziele zu einer erheblichen Gefährdung des Demonstrationsrechts führen könne.6 Die Kritik übersieht wesentliche Punkte. Nur selten wird der Versuch unternommen, die Entscheidungen auf ihre dogmatischen Aussagen hin zu analysieren, Stärken und Schwächen, die ja zumindest beim BVerfG auch notwendig aus der spezifisch verfassungsrechtlichen Aufgabenstellung folgen, zu durchleuchten und konstruktiv daran anzuknüpfen 7. Oft wird vorschnell und punktuell nach dem Gesetzgeber gerufen gleichsam wie nach dem heiligen Geist, der alle Probleme (auf-)lösen soll. Das Problem

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Otto, NStZ 1987, 212 (213). Vgl. hierzu insbesondere Nußstein, StrVert 1987, 223 (224). 6 So vor allem Baumann ZRP 1987, 265 f. sowie ders. in NJW 1987, 36; ähnliche Bedenken äußert etwa Jakobs, JZ 1986, 1062. 7 Vgl. aber auch Fritz, Simon-FS, 403 (417 ff., 429 ff.), Kühl, StrVert 1987, 122 (135 f.), sowie andeutungsweise Nußstein, StrVert 1987, 223 (224). 5

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Kap.2: Problemstellung

der Gesetzesbestimmtheit wird einseitig überbewertet und über dem engen Blickwinkel auf die Sitzblockaden mit politischem Fernziel wird die Notwendigkeit dogmatischer Aufarbeitung durch Wissenschaft und Praxis mit dem Blick aufs Ganze, das System der Straftat, vergessen. Im einzelnen: - Das BVerfG hat nicht über die einfachrechtliche Auslegung von Rechtsbegriffen zu entscheiden. Man mag zwar dem BGH Flucht vor der Entscheidung vorwerfen können, die Richter des BVerfG aber haben aus ihrer jeweiligen Sichtweise heraus durchaus konsequent entschieden. Wenn die vier sich durchsetzenden Richter sich nicht für befugt halten nachzuprüfen, ob ein Gesetz oder dessen Auslegung durch die Gerichte die vernünftigste und gerechteste Problemlösung enthält, entbindet dies Gesetzgeber, fachgerichtliche Rechtsprechung und Wissenschaft durchaus nicht, die vernünftigste oder gerechteste Problemlösung zu suchen8. - Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG findet auf strafrechtliche Rechtfertigungsgründe, wenn überhaupt, nur beschränkt Anwendung9. Dies gilt auch für § 240 Abs. 2 StGB, der von Rechtsprechung und h.L. - zu Recht - als Rechtfertigungselement behandelt wird 10 . - Von vielen Kritikern, die nunmehr nach dem Gesetzgeber rufen, wird übersehen, daß die Ausprägung strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe seit jeher zu den ureigenen Aufgaben von Rechtsprechung und Lehre zählt11 und in Bezug auf die Behandlung von Fernzielen hier noch ein enormer Klärungsbedarf besteht. - Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die inhaltliche Lösung der Frage, wie ideell oder politisch motivierte Handlungen, die einen Straftatbestand verwirklichen, zu behandeln sind, wird vielfach über-

s Hierin liegt ein verbreitetes Mißverständnis bei der Beurteilung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen im allgemeinen und der besprochenen Entscheidung zu den Sitzblockaden im besonderen. Zum Problem allgemein: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 208. 9 Vgl. BVerfGE 73, 206 (238 f.); Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 18; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 232 ff., 298 f. mit vielen weiteren Nachweisen in Fußnote 30; Jescheck, AT, § 24 I 3 b, § 31 II 3; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 18 a.E., vor §§ 32 ff. Rz 25; Schäfer in LK, § 240 Rz 65. Zum Bestimmtheitsgrundsatz vgl. auch Kapitel 4, III; Kapitel 5 II; Kapitel 10; Kapitel 12 I 2. 10 St. Rspr., bestätigt in allen zit. Urteilen der OLGe sowie zuletzt von BGHSt 35, 270. Für die h.L.: Baumann/Weber, AT, § 19 III, 2; Bergmann, Das Unrecht der Nötigung, S. 171 ff.; Bertuleit, JA 1989, 21 ff.; Dreher/Tröndle, § 240 Rz 20; Fritz, Simon-FS, 429 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 322 f.; Lackner, § 240 Anm. 6; Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (51 ff.); Schäfer in LK, § 240 Rz 66. A.A. insb. Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 16; Hirsch in LK, vor § 32 Rz 19 ff.; Lenckner in Noll-GedS, 243 (244 ff.). 11 Hierzu im einzelnen Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 282 f., 294 ff. m.w.N.; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 2 ff.

I. Die Entscheidungen des BGH (2. Senat) und des BVerfG

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schätzt12. Seine strafrechtslimitierenden Wirkungen entfaltet der nullumcrimen-sine-lege-Grundsatz nur im Hinblick auf die Form, nicht aber im Hinblick auf den materialen Inhalt der Strafgesetze. Er sagt, wie etwas, aber nicht was kriminalpolitisch zu ge- oder verbieten ist. Insbesondere hindert er den Gesetzgeber nicht, Verhalten beliebigen Inhalts zu kriminalisieren13. Kritiker des vergeistigten Gewaltbegriffs übersehen zudem häufig, daß u.U. auch die zweite Tatbestandsalternative des § 240 StGB, das Drohen mit einem empfindlichen Übel, einschlägig sein kann14. Bei der Behandlung der hinter der Tat stehenden Fernziele, die letztlich auch maßgebend sind für die Forderung nach einschränkender Auslegung des Tatbestandes15, handelt es sich aber nicht um ein formal zu lösendes Problem sondern um eine materiale Frage, bei der es um inhaltliche Wertungen geht. Die Frage lautet: Rechtfertigt der Einsatz für ein bestimmtes Ziel bestimmte Vorgehensweisen oder fehlt es in diesen Fällen zumindest an gesteigertem, strafwürdigem Unrecht? Dies läßt sich allein wertend beurteilen. Um eine solche Wertung geht es wohlgemerkt auch dann, wenn man zu dem Ergebnis gelangt, Fernziele seien im Unrechtsbereich nicht zu berücksichtigen. Die Wertung, daß kein noch so edles und von der Gesellschaft anerkanntes Ziel das Unrecht einer tatbestandsmäßigen Handlung ausschließen kann, hat so undifferenziert ohnehin keinen Bestand: Dem "Fernziel" demonstrativen Protests wird durch das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit Rechnung getragen. So bleibt allenfalls die Wertung denkbar, daß über die Grenzen der Grundrechtsausübung hinaus, bereits jedes tatbestandsmäßige, politisch zielgerichtete Handeln zu bestrafen sei16. - Wer politische Neutralität der Justiz fordert 17 und damit meint, die Justiz könne unpolitisch bleiben, gelangt gerade zu kurzschlüssigen Ergebnissen. Wer meint, im Wege einer engen Zweck-Mittel-Relation der politischen Wertung zu entkommen, verkennt, daß die Bestrafung von Formen des passiven Widerstandes auch dann ein eminent politischer Vorgang ist, wenn man den politischen Sinn des Widerstandes 12 So vor allem von Calliess, NJW 85, 1506 (1510ff.); ders., NStZ 1987,209; Wolter, NStZ 1986, 241 (245 ff.). 13 Vgl. hierzu insbesondere Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 210ff. m.w.N. sowie Amelung, Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Raxin, S. 87 ff. Im konkreten Fall hat dies die Diskussion um die Reform des Nötigungsparagraphen eindrucksvoll veranschaulicht. 14 So etwa Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (50). 15 Beispielhaft hierfür: Dearing, StrVert 1986, 125 ff. 16 In diesem Sinne etwa Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (53 f.). 17 So beispielsweise der baden-württembergischen Justizminister Eyrich, Schwäbisches Tagblatt v. 13.01.1988.

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Kap.2: Problemstellung

künstlich ausblendet18. Wird die Lösung gesellschaftspolitischer Konflikte auf das Strafrecht übertragen, läßt sich die Neutralität der Strafjustiz nicht retten. - Wer politische Ziele nicht berücksichtigen und damit die "Neutralität" des Strafrechts bewahren will, erreicht im Ergebnis das Gegenteil: Das Strafrecht greift in gesellschaftliche Konflikte ein. Die gesellschaftliche Gruppe, die nicht über institutionelle Machtmittel verfügt, wird kriminalisiert. Wer dagegen bereit ist, politische Ziele zu bewerten, in bestimmten Situationen und in gewissen Grenzen positiv zu bewerten mit dem Ergebnis, Unrecht oder zumindest strafrechtliches Unrecht auszuschließen, erreicht in diesen Fällen wirkliche Neutralität des Strafrechts: Das Strafrecht hält sich aus gesellschaftlichen Konflikten nach Möglichkeit heraus. - Politische Enthaltsamkeit ist der Justiz ohnehin fremd. So gehört es zu ihren vornehmsten Aufgaben, Bürgern zur Durchsetzung ihrer in der Verfassung verankerten, (auch) politischen Grundrechte zu verhelfen 19. Dies ist ohne politische Wertungen nicht möglich. Der Staat verlangt diese Wertungen von der Justiz auch da, wo er - wie es gerade in dieser Zeit ständig geschieht - immer neue Strafgesetze mit politischem Charakter schafft. Daß solche Wertungen der Justiz selbstverständlich sind, wird schließlich gerade an den Sitzblockaden offenbar: Werden einerseits Rüstungsgegner mit großer Vehemenz verfolgt, werden andererseits die Belange der Arbeitnehmer im Ruhrgebiet als so wichtig eingestuft, daß das Vorliegen strafrechtlichen Unrechts verneint wird. - Wer die Justiz vor politischen Wertungen über die Demonstrationsinhalte schützen will, muß zudem erklären, wie dies mit den Vorgaben des BVerfG in Einklang gebracht werden soll, schreibt das BVerfG die Berücksichtigung der politischen Ziele doch spätestens bei der Strafzumessung zwingend vor. Spätestens dort muß auch eine entsprechende Bewertung vorgenommen werden, muß das Gericht Farbe bekennen. - Der Hinweis auf das Gebot schuldangemessenen Strafens 20 bedeutet notwendig eine positive Bewertung von Fernzielen. Werden aber bei der Strafzumessung Gesichtspunkte positiv, d.h. strafmildernd berücksich-

18 So zutreffend: Dearing, StrVert 1986, 125 (127); Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 f.; Krämer, betrifft Justiz 1989, 108; Kühl, StrVert 1987,122 f.; Prittwitz, JA 1987, 17 (18); Tiedemann, JZ 1969, 717. Grundlegend zum Problem: Jahr, GA 1987, 346. 19 Wegweisend etwa BVerfGE 69, 316 (Brokdorf); BVerfGE 65, 1 (Volkszählung). 20 BVerfGE 73, 206 (253 ff., 261 - Sich durchsetzendes Votum).

I. Die Entscheidungen des BGH (2. Senat) und des BVerfG

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tigt, so setzt dies denknotwendig vermindertes Unrecht voraus 21. Die genannten22 Fernziele sind somit auch nach Auffassung der sich durchsetzenden vier Richter beim BVerfG unrechtsmindernd zu berücksichtigen. Diese Richter lassen lediglich offen, ob die Fernziele das Unrecht im konkreten Fall sogar unter die Schwelle des strafrechtlich Erheblichen drücken. - Schließlich sei auf ein verbreitetes Mißverständnis hingewiesen:23 Die Entscheidung betrifft in ihrem Kern nicht die Frage des Demonstrationsrechts, es geht nicht um die Frage einer Berechtigung oder auch nur rechtlichen Billigung. Durch die Entscheidung des BVerfG werden die verfassungsrechtlich zulässigen Demonstrationsmittel nicht erweitert 24. Hierin waren sich alle acht Richter einig. Gegenstand der Verfahren war vielmehr die Frage, ob hier sogar strafrechtliches, d.h. strafwürdiges Unrecht vorliegt, ob die begangenen Handlungen also mit dem stärksten dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel, der Verhaltenskriminalisierung geahndet werden sollen. Voraussetzung dafür, daß es überhaupt zu einer Strafbarkeit kommen kann, ist, wie das BVerfG darlegt, ja gerade die versammlungsrechtlich rechtmäßige Auflösung der Demonstration, weil erst dann keine Rechtfertigung mehr durch Art. 8 GG gegeben ist! 25 Baumann26 hat somit Recht, wenn er betont, es dürfe für und gegen alles demonstriert werden, gleichviel ob es sich um den politischen, den wirtschaftlichen oder irgendeinen anderen Bereich handelt. Er befürchtet aber zu Unrecht, daß das, was dem jeweiligen Richter nicht sittenwidrig oder verwerflich erscheine, straflos und sogar gerechtfertigt die Freiheit anderer Bürger einschränken könne. Straflosigkeit rechtfertigt das Ver-

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Dies jedenfalls vor dem Hintergrund, daß anerkanntermaßen das Straftatmerkmal Schuld für die Berücksichtigung solcher Kriterien ungeeignet ist, vgl. Hassemer, Wassermann-FS, S. 335; SchülerSpringorum in Glotz (Hrsg.), S. 91 f. Die an sich günstige Sozialprognose kommt nicht zum Tragen, da die Betroffenen erklärtermaßen kein Leben ohne weitere Blockaden führen wollen, spezial- wie generalpräventiv wäre deshalb an sich eine härtere Strafe angesagt! 22 S.o. Kapitel 1, II. 23 Vgl. Baumann ZRP 1987,265 f.; Jakobs, JZ 1986,1064; Meurer/Bergmann, JR 1988,53; Otto, NStZ 1987, 213; Schmitt Glaeser, BayVBl 1988, 457; Starck, JZ 1987, 148. Wie hier: Kühl, StrVert 1987, 135 f., sowie Janknecht, NJW 1986, 2412. 24 In einigen Punkten bleibt sie sogar hinter dem Brokdorf-Beschluß zurück, vgl. die Rspr.-analyse von Fritz, Simon-FS, 403ff. 25 Vgl. BVerfGE 73, 206 (249 f.). Hierzu auch Weichen, StrVert 1989, 459 f. 26 Baumann ZRP 1987, 265 f.

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Kap.2: Problemstellung

halten noch lange nicht, wie umgekehrt aus der Grundrechtswidrigkeit des Verhaltens nicht dessen Strafbarkeit folgt 27. IL Die Entscheidung des BGH (1. Senat) vom 5.5.1988 Auch die Entscheidung des 1. Senats begegnete heftiger Kritik 28 . Von den einen als klassisches Kabinettstück gepriesen29, wurde sie von anderen als "Null-Lösung auf der Rechtswidrigkeitsstufe" 30 oder als "BlindflugWeisung" an die Instanzgerichte31 charakterisiert. Der damals gerade erst ausgeschiedene Richter beim BVerfG, Martin Hirsch? 2, bezeichnete es als "juristisch katastrophal schlecht" und weiter: "Eine so krasse Verletzung der Verfassung durch ein Gericht ist mir während meiner ganzen juristischen Tätigkeit nicht untergekommen". Um als Reaktion auf die Entscheidung "eine bundesdeutsche Prozeßlawine" auszulösen, unterzeichnete er zusammen mit einer Vielzahl von Prominenten einen Aufruf zu einer Sitzdemonstration vor dem US-Giftgaslager Fischbach. Der 1. Senat zieht zur Begründung seiner Auffassung sowohl dogmatische wie auch rechtspolitische Argumente heran: 1. Die Struktur des § 240 Das erste dogmatische Argument ist ebenso verblüffend wie unhaltbar. Aus der besonderen Struktur des Nötigungstatbestandes -die Rechtswidrigkeit wird nicht indiziert - folge, daß der in Abs.2 genannte "angestrebte Zweck" gleichzusetzen sei mit dem in Abs.l bezeichneten tatbestandlichen Erfolg. Der Senat vertritt damit die engste aller möglichen Interpretationen der Verwerflichkeitsklausel. Diese Auslegung verstößt bereits gegen die Vorgaben des BVerfG. Alle acht Richter stellten mit Bindungswirkung fest, daß zumindest das

27

Hierzu auch Eser in Schönlce/Schröder, § 240 Rz 28. Vgl. die krit. Anm. von: Bertuleit, JA 1989,16; Frommel, KJ 1989,484; Kaufmann, NJW 1988, 2581; Krämer, betrifft JUSTIZ 1989, 109; Niepel, betrifft JUSTIZ 1988, 309; Ostendorf, StrVert 1988, 488; Vack, betrifft JUSTIZ 1988, 226; Vultejus, betrifft JUSTIZ 1988, 228; Sternstein, betrifft JUSTIZ 1988, 230. Zustimmend: Arzt, JZ 1988, 775 (allerdings mit recht eigenwilliger Interpretation); Schmitt Glaeser, BayVBl 1988, 454 (unter Verkennung grundlegender strafrechtsdogmatischer Prinzipien); Tröndle, Rebmann-FS, S. 481. 29 Tröndle, Rebmann-FS, S. 481. 30 Frommel, KJ 1989, 485. 31 Krämer, betrifft JUSTIZ 1989, 108. 32 Lt. Interview in der Tageszeitung v. 24.6.88, S. 3. 28

II. Die Entscheidung des BGH (1. Senat) vom 5.5.1988

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"unmittelbare Nötigungszier1, die Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen, im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Nur in Bezug auf dessen Gewichtung und in Bezug auf das Fernziel, das inhaltliche Anliegen (Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung), bleibt die Entscheidung offen. 33 Die Auslegung des BGH ist aber auch strafrechtsdogmatisch unhaltbar. Sie findet schon im Wortlaut keine Stütze. Vielmehr wird der Erfolg in Abs. 1 nur objektiv - als Handlung, Duldung oder Unterlassung angesprochen. Erst Abs. 2 rückt subjektivierend die Zielsetzung des Täters als angestrebten Zweck zusätzlich in den Blick 34 . Abs. 2 greift gerade nicht die Thtbestandsalternativen des Abs. 1 auf, sondern spricht ausdrücklich vom (eigentlichen) Zweck der Handlung. Der Erfolg der Nötigung kann Selbstzweck sein. In aller Regel verfolgt der Täter aber mit der Nötigung einen weitergehenden Zweck. Zwischen Erfolg und angestrebtem Zweck wird deshalb zu Recht auch terminologisch differenziert 35. In diesem Sinne ist auch die Unterscheidung zwischen Nötigungsfolge (die der Täter u.U. nur als zwangsläufig hinnimmt) und unmittelbarem Nötigungsziel im Urteil des BVerfG zu verstehen36. Der Senat stellt sich in seiner Entscheidung damit in offenen Widerspruch zum BVerfG* 1. Wie absurd sich eine so weitgehende Restriktion der Verwerflichkeitsklausel auswirkt, wird an "unpolitischen" Beispielen deutlich: Der Täter hindert einen potentiellen Selbstmörder mit Gewalt daran, sich aus dem Fenster zu stürzen38. Er vertreibt einen endlos Telefonierenden gewaltsam aus der Telefonzelle, um einen Notruf durchzugeben. Er nötigt einen gleichgültigen Autofahrer unter Androhung von Gewalt, einen vermeintlich Schwerverletzten ins Krankenhaus zu transportieren 39. Würde man in diesen Fällen allein auf das verletzte Rechtsgut der freien Willensbetätigung abstellen, dann käme man ohne weiteres zur Verwerflichkeit des Zwecks der Gewaltanwendung. Hier zeigt sich, daß eine Handlung sinnvoll gar nicht bewertet werden kann, wenn sie ihres sozialen Sinnes beraubt wird 40 . 33

s.o. Kapitel 1, IL So auch Bertuleit, JA 1989,16 (20); Ostendorf, StrVert 1988, 488 (489). Selbst das vorlegende OLG Stuttgart, NStZ 1988, 129, geht noch von einem mehrgliedrigen Zweckbegriff aus. 35 Zur Struktur des § 240 vgl. Haft, BT, § 19 II, sowie ders., Juristische Rhetorik, S. 30 ff. 36 Vgl. BVerfGE 73, 206 (257). 37 BVerfGE 73, 206 (238 f.). 38 Beispiel bei Leyrer, Plädoyer für Walter Jens, S. 84. Allgemein zu dieser Frage: Haft, Juristische Rhetorik, S. 34 ff, Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 22. 39 Beispiele bei LG Bad Kreuznach, NJW 1988, 2624 (2628). 40 Selbst Arzt, JZ 1988, 776 (777), der der Entscheidung des BGH an sich zustimmt, räumt ein, 34

4 Reichen-Hammer

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Kap.2: Problemstellung

Die "Struktur" der Verwerflichkeitsklausel ergibt sich deshalb zwingend aus einem "Rückschluß": Macht der Gesetzgeber, bestätigt durch die ständige Rechtsprechung, das Urteil über die Verwerflichkeit von sittlichen Wertungen abhängig, so darf bei der konkreten Abwägung der eigentliche Anlaß und das alleinige Motiv als einer der wichtigsten Umstände für eine solche Wertung nicht außer Betracht bleiben41. Wird allein auf den gewaltsam erzwungenen Erfolg abgestellt, wird also zweimal der gleiche Sachverhalt bewertet (Ostendorf 42: "Zirkelschluß") so läuft dies de facto auf die verfassungsgerichtlich untersagte Annahme einer Indizwirkung der Tatbestandsverwirklichung für das Rechtswidrigkeitsurteil hinaus43. Abs. 2 würde so zu einer "Bagatellklausel" degradiert, die lediglich dazu diente, Bagatellfälle aus dem Unrechtsbereich auszuschließen. Darin erschöpft sich der Zweck der Verwerflichkeitsklausel nach allgemeiner Ansicht aber gerade nicht. Vielmehr soll hier eine umfassende Abwägung aller auf dem Spiele stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der betreffenden Situation erfolgen 44, wie nicht zuletzt auch der vergleichende Hinweis des BVerfG 45 auf die Güterabwägung beim rechtfertigenden Notstand belegt. Diese Funktion macht deutlich, daß es sich bei der Verwerflichkeitsklausel - wovon Rspr. und h.L. zu Recht ausgehen - um ein Rechtfertigungselement handelt. Während der Tatbestand die unrechtsbegründenden Merkmale umschreibt, bildet die Rechtfertigung das Korrektiv, wo Gegeninteressen umfassend berücksichtigt werden. Umstände, die das beeinträchtigte Rechtsgut, hier die Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit, betreffen, sind zunächst bei der Tatbestandsprüfung zu beachten. Hierzu zählen namentlich Dauer und Intensität der Aktion sowie das Ausmaß der Beeinträchtigung von Rechtsgütern Dritter. Diese Umstände sind bei der Prüfung der Verwerflichkeit in Beziehung zu setzen zum eigentlichen Zweck der Handlung. Hier hat eine Abwägung zu erfolgen zwischen der Rechtsgutsbeeinträchtigung auf der einen, sowie weiteren Zielen, d.h. Rechten und Interessen auf der anderen Seite, zu deren Wahrung der Täter die Rechtsgutsbeeinträchtigung vorgenommen hat.46 41 42 43 44 45 46

So auch BVerfGE 73, 206 (258). Ostendorf, StrVert 1988, 488 (489). So auch: LG Bad Kreuznach, NJW 1988, 2624 (2628); Kaufmann, NJW 1988, 2583. BVerfGE 73, 206 (255 f.); BGHSt 34, 71 (77); Eser in: Schönke/Schröder, § 240 Rz 17. BVerfGE 73, 206 (238 f.). Wie hier: Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (52 f.); grundlegend: Bergmann, Das Unrecht der

I . Die Entscheidung des BGH ( . Senat)

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Aber gerade bei diesem richtigen Vorverständnis erweist sich die strukturelle Überlegung des 1. Senats als Fehler: Zwischen Tatbestandsmerkmalen und Rechtfertigungsvoraussetzungen besteht niemals Kongruenz. Es gehört gerade zum Wesen der Rechtfertigungsgründe, zusätzliche Gesichtspunkte: Rechte, Güter und Interessen, in die Waagschale zu werfen. So wird etwa die Beeinträchtigung Dritter durch Versammlungsteilnehmer dadurch gerechtfertigt, daß diese über die gegenwärtige Zwangswirkung hinaus zusätzlich das Ziel verfolgen, öffentlich zu demonstrieren. Stimmig könnte die These des BGH nur dann sein, wenn § 240 Abs. 2 lediglich Tatbestandsmerkmal wäre. Sieht man einmal davon ab, daß sich diese Deutung mit dem Wortlaut ("rechtswidrig ist") nur schwer vereinbaren läßt, würde dies zu dem merkwürdigen Ergebnis führen, daß eine (u.U. grundrechtlich) gerechtfertigte Tat als "verwerflich" und damit als dem Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widersprechend charakterisiert werden müßte. Entscheidend für die Unhaltbarkeit einer so restriktiven Auffassung, wie sie der 1. Senat hier vertritt, spricht schließlich folgendes: Unabhängig von ihrer dogmatischen Einordnung ermöglicht die Verwerflichkeitsklausel bei dem vom 1. Senat zugrunde gelegten Verständnis mit Ausnahme von Bagatellfällen keine wesentliche Korrektur des weiten Tatbestandes über die allgemeinen Rechtfertigungsgründe hinaus. Dies ist mit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht vereinbar, wonach eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 240 StGB ein wirksames Korrektiv unter Berücksichtigung aller Umstände erfordert 47. Die vom 1. Senat des BGH vertretene Lösung bedeutet nichts anderes als das von den Richtern des BVerfG übereinstimmend verworfene Vorgehen, "die erforderliche wirklichkeitsnahe Würdigung einer konkreten Tat ielchem Umfang Fernziele bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen sind, den in Abs. 2 bezeichneten Zweck aber auf den tatbestandlichen Erfolg zu reduzieren und somit bei der Bewertung der Tat die Handlung ihres sozialen Sinnes zu berauben, verstößt gegen Verfassungsgrundsätze und läßt sich strafrechtsdogmatisch nicht begründen. Zu Recht verweist Bertuleit 4* auf eine - vor dem Hintergrund des politischen Drucks, unter dem das Gericht bei seiner Entscheidung stand49 - brisante Tatsache: "Schlüpft die Lesart der Verwerflichkeitsklausel des Nötigung, S. 171 ff. 47 BVerfGE 73, 206 (247 ff.). 48 Bertuleit, JA 1989, 16 (21). 49 Hierzu Kapitel 1, IV.

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BGH aus dem Kokon der 'dogmatischen Struktur' des § 240 StGB, so entpuppt sie sich als der lediglich geplante Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums!" 50 2. Beurteilungsmaßstab Die obergerichtliche Rechtsprechung51 knüpft - übrigens auch nach der Entscheidung des ersten Senats52 - beim Verwerflichkeitsurteil durchgängig an sozialethische Wertungen an. Die Beurteilung, ob die Anwendung von Gewalt zu dem vom Täter erstrebten Zweck verwerflich ist, hängt danach davon ab, ob die Beziehung der Nötigungshandlung zu dem angestrebten Zweck nach allgemeinem Urteil sittlich zu mißbilligen ist. Die Grenze der Strafwürdigkeit wird erst erreicht, wenn das Vorgehen des Täters unter Berücksichtigung aller Umstände eindeutig so anstößig ist, daß es als gröberer Angriff auf die Entschlußfreiheit anderer der Zurechtweisung mit den Mitteln des Strafrechts bedarf. In diesem Sinne weist die Verwendung des Wortes "verwerflich" auf einen erhöhten Grad sittlicher Mißbilligung hin. Entscheidend ist, ob die Anwendung der Gewalt über das billigenswerte Maß hinausgeht, sozial unerträglich ist. Der 1. Senat will nunmehr den Boden dieser gefestigten Rechtsprechung verlassen53. Er erklärt weniger moralische Kriterien, als vielmehr das Rechtsempfinden des Volkes zum Maßstab der Verwerflichkeitsprüfung und schlägt vor, stärker auf die soziale Unerträglichkeit des Verhaltens abzustellen54 bzw. völlig auf Definitionen zu verzichten. Wer sich in diesem Punkt von der Entscheidung Klarheit erhofft hatte, findet sich im Nebel wieder. Zu den Begrifflichkeiten des Senats im einzelnen: a) Abgestellt wird nicht auf das Recht, sondern das Rechtsempfinden, eine reine Wortspielerei. Worin nämlich der begriffliche Unterschied zwischen Rechtsempfinden, Rechtsgefühl und allgemeinem Sittengesetz bestehen soll, bleibt im Dunkeln.

50 Mitgeteilt von Miebach, NStZ 1988, 132: "Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu der Handlung, Duldung oder Unterlassung, die erzwungen werden soll, verwerflich ist." 51 Vgl. etwa BGHSt 2, 194 (196); 17, 328 (331 f.); 18, 389 (391). 52 Vgl. etwa OLG Düsseldorf, NJW 1989, 51; BayObLG, NJW 1989, 1621. 53 Doppelbödig ist, daß eine Vorlage an den Großen Senat nicht einmal erwogen wird, denn natürlich handelt es sich auch hier um eine immer gleiche Rechtsfrage und eine deutliche Abweichung von der bish. Rspr. Mit der Argumentation - Einzelfallentscheidung in jedem Prozeß hätte der 1. Senat wie zuvor der 2. Senat überhaupt keine Entscheidung treffen dürfen. 54 Im Anschluß an den vorlegenden 4. Senat des OLG Stuttgart, NStZ 1988, 129.

I . Die Entscheidung des BGH ( . Senat)

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Dem Senat war offensichtlich nicht bewußt, wie sehr er sich mit dieser Argumentation auf's Glatteis begibt. Schon vor der Entscheidung hat Würtenberger 55 unter Rückgriff auf empirische Untersuchungen eindrucksvoll den rasanten und dauerhaften Wandel des Rechtsbewußtseins der Bevölkerung gerade im "politisch-rechtlichen" Bereich deutlich gemacht. Bei der jungen Juristengeneration ist diese Entwicklung interessanterweise sogar eher noch stärker ausgeprägt56. Eine vom Ersten Deutschen Fernsehen in Auftrag gegebene Umfrage des Emnid-Instituts im März 1987 ergab, daß 64 % der Bevölkerung selbst Richtern das Recht zu Sitzblockaden zugesprochen haben57. Angesichts dieser Tatsachen dürfte zumindest zweifelhaft sein, daß eine Mehrheit in der Bevölkerung eine Bestrafung von Sitzdemonstranten befürwortet. Bemerkenswert an diesen Ausführungen des Senats ist auch, daß das Gericht damit der weit überwiegenden Zahl der Strafgerichte 58 sowie zumindest der Hälfte der Mitglieder des 1. Senats beim BVerfG ein falsches (verwerfliches?) Rechtsempfinden, Rechtsbewußtsein unterstellt. Oder soll hier zwischen dem Rechtsempfinden der (Verfassungs-)Justiz und dem des Volkes unterschieden werden? Der Senat selbst bringt in diesem Zusammenhang den unseligen Begriff des "gesunden Volksempfindens" ins Spiel. Der Hinweis sei gestattet, daß sich der Begriff des "Rechtsempfindens des Volkes" nicht weniger mißbrauchen läßt59. Konsequent hat denn auch das LG Bad Kreuznach dem BGH entgegengesetzt60: "Die Kammer sieht sich in ihrer (gegenteiligen) Auffassung durch einen Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung ... und zahlreiche Instanzgerichte bestätigt sowie dadurch, daß die Öffentlichkeit Blockadeaktionen mit wesentlich stärkeren Behinderungen und aggressiveren Verhaltensweisen ohne sittliche Mißbilligung toleriert, ja ihnen mitunter sogar verständnisvollen Beifall gezollt hat. Insbesondere die öffentliche Reaktion auf die - über die Massenmedien verbreiteten und daher offenkundigen - Vorgänge in Duisburg-Rheinhausen vom 10.10.1987 und die öffentlichen "Freisprechungen" der Blockierer durch hochrangige Repräsentanten von Politik und Justiz haben deutlich gemacht, daß von einem allgemeinen Konsens in der Bevölkerung, Verhaltensweisen wie

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Würtenberger, NJW 1986, 2281 (2283 ff.). Würtenberger, aaO, 2284. 57 Vgl. Fritz, Simon-FS, 403 (433), Fußn. 100. 58 Hierzu Kapitel 1, III. 59 Noch schärfer: Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2582). Zur Kritik vgl. auch Brink/Keller, KJ 1983, 115. 60 LG Bad Kreuznach, NJW 1988, 2624 (2629). 56

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die des Angeklagten als sittlich-moralisch anstößiges, kriminelles Unrecht zu bewerten, keine Rede sein kann. Da den betreffenden Regierungsvertretern und Strafverfolgungsbehörden nicht unterstellt werden kann, daß sie wesentlich schwerwiegendere Nötigungstatbestände ... nur deshalb für straffrei erklärt haben, weil Strafverfolgung politisch nicht opportun wäre, kann ihr Verhalten nur als signifikanter Ausdruck einer weitverbreiteten Akzeptanz derartiger Aktionen in der Bevölkerung verstanden werden." b) Der Begriff der sozialen Unerträglichkeit wurde vom BGH zuvor schon synonym mit dem Begriff der sozialethischen Mißbilligung verwendet (s.o.). Unklar bleibt, ob der erste Senat nunmehr abweichend von der bisherigen Rechtsprechung an den von Roxin 61 geprägten Begriff des sozialwidrigen Verhaltens anknüpfen will, der neuerdings wieder von Baumann62 und Dreher 63 in die Diskussion gebracht wurde. Problematisch ist dieser Begriff in mehrerlei Hinsicht: Zum einen wird ein unbestimmter Rechtsbegriff durch einen anderen ersetzt. Auch die von Roxin angebotenen sozialen Ordnungskriterien bedürfen ja ihrerseits wiederum wertender Ausfüllung. Wie wenig Klarheit der "neue" Begriff bringt, veranschaulicht eindrucksvoll die Tatsache, daß Baumann jedenfalls kurzfristige demonstrative Sitzblockaden noch als "sozial angemessene Meinungsäußerung" betrachtet, während dies von Dreher vehement abgelehnt wird. Aus diesem Grund wurde ein entsprechender Vorschlag bei den Beratungen über eine Gesetzesnovellierung im Justizministerium auch wieder fallengelassen 64. Zum anderen bedeuten Roxins weitgehend auf Notstandsgesichtspunkte abstellende Ordnungsprinzipien (Güterabwägungsprinzip, Prinzip des Vorrangs staatlicher Zwangsmittel, Autonomieprinzip) eine zu starke Einengung der Verwerflichkeitsklausel und damit eine Ausweitung des Nötigungstatbestandes. Die Verwerflichkeitsklausel verliert ihre Funktion als notwendiges Tatbestandskorrektiv, wenn sie nur unwesentlich weiterreicht als die Notrechte 65.

61 Roxin, JuS 1964, 373 ff. Ebso., aber mit deutlicher Kritik auch an der Unzulänglichkeit dieser Begriffsbildung: Welzel, Lehrbuch, S. 327. 62 Baumann, ZRP 1987, 265 (267): Soziale Unangemessenheit. Zustimmend: Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (54). 63 Dreher, MDR 1988, 19 (20). 64 Vgl. Miebach, NStZ 1988, 130 (132). 65 So auch OLG Stuttgart, StrVert 1987, 538 (539).

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Schließlich beinhaltet die Gleichsetzung der Verwerflichkeit mit der Sozialwidrigkeit die Gefahr, aus dem Umstand, daß ein Verhalten gegen andere Rechtsvorschriften etwa des Versammlungs- oder des Straßenverkehrsrechtes verstößt, auf die 5/ra/rechtswidrigkeit rückzuschließen. Wie von Untergerichten teilweise versucht66, würden in Betracht kommende Ordnungswidrigkeiten oder auch nur zivilrechtswidrige Verhaltensweisen in unzulässigerweise mittelbar in den Rang eines Strafgesetzes erhoben 67. Ein gesteigertes Unwerturteil i.S. einer Moralwidrigkeit wäre entbehrlich. Die Funktion der Verwerflichkeitsklausel würde damit aber in ihr Gegenteil verkehrt, besteht ihre Aufgabe doch darin, zu Gunsten des Täters dessen Strafbarkeit zu beschränken68. c) Auf all diese häufig geäußerten Bedenken geht der 1. Senat mit keiner Silbe ein. Der Begriff wird, gleichsam im Vorübergehen, nur angedeutet, vielleicht um ein Tor aufzustoßen für nachfolgende rechtspolitische Argumente. Noch im gleichen Satz wird er relativiert durch den Vorschlag, doch ganz auf Definitionen zu verzichten. Daß der Verzicht auf Subsumtion "jeder Subsumtionstechnik widerspricht" 69, kann nur ironisch festgehalten werden. Der 1. Senat beurteilt unter Verzicht auf einen Beurteilungsmaßstab: "Bei der Prüfung der Verwerflichkeit sind alle Umstände zu berücksichtigen." Aber wie? Die Antwort ist das Gericht schuldig geblieben. 3. Rechtssystematisches Argument Der Senat setzt an der besonderen Funktion der Rechtswidrigkeit im Straftatsystem an: Der Rechtswidrigkeit kommt nicht nur Bedeutung für die Strafbarkeit des Täters zu. Gerechtfertigtes Verhalten verkürzt vielmehr auch den Freiheitsraum der Betroffenen und deren Schutzrechte, denn gegen rechtmäßiges Verhalten sind staatliche Eingriffe ebenso unzulässig wie die Notwehr Privater (sog. Notwehrprobe). Diese Funktion der Rechtfertigungsgründe komme auch § 240 Abs. 2 zu. Sie lasse unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) eine Beschränkung auf nach außen erkennbare objektive Umstände unverzichtbar erscheinen.

66 Vgl. etwa das von OLG Stuttgart, StrVert 1987, 538, aufgehobene Urteil des AG SchwäbischGmünd, Az: 8 Cs 901-904/86-16. Verteidigt von Offenloch, JZ 1988, 12 ff. 67 Diese Gefahr sehen auch OLG Stuttagrt, StrVert 1987, 538 (539), sowie Bertuleit, JA 1989, 16 (20). 68 So ausdrücklich BVerfGE 73, 206 (238 f., 252 ff.). Ostendorf, StrVert 1988, 489, beurteilt dagegen die Verwerflichkeitsklausel schon nach bish. Rspr.praxis als strafbarkeitserweiternd. 69 Ostendorf, StrVert 1988, 489.

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Kap.2: Problemstellung

Zunächst zur Ausgangsthese: Der Senat negiert damit die besondere Funktion der Verwerflichkeitsklausel, was um so unverständlicher ist, als er eingangs bei seinen "strukturellen Überlegungen" diese Sonderrolle besonders hervorgehoben hat. Bertuleit 70 hat diesen Widerspruch treffend auf den Punkt gebracht: "Wenn der BGH sich gezwungen sieht, einerseits die Indizwirkung der Gewaltausübung abzulehnen und andererseits "zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen" die für die Bestimmung der Rechtswidrigkeit allgemein geltenden Grundsätze beachtet wissen will, versucht er sich an der Quadratur des Kreises. Abs. 2 stellt entweder eine positive oder eine negative Rechtswidrigkeitsregel dar." Nach ständiger Rechtsprechung grenzt die Verwerflichkeitsklausel gerade nicht Unrecht von rechtmäßigem Verhalten ab. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die Grenze für erhöhtes strafwürdiges Unrecht festzulegen. Der Verzicht auf die strafrechtliche Sanktion durch das Urteil "nicht verwerflich" bedeutet keineswegs rechtliche Billigung oder Erlaubnis. Vielmehr können andere Sozialkontrollen ein Verbot aussprechen, Sanktionen verhängen, Eingriffe zulässig machen. Im Bereich der Sitzblockaden kommen hier in erster Linie Geldbußen nach Straßenverkehrs- bzw. Versammlungsrecht, aber auch die Möglichkeit einer polizeilichen Auflösung der Versammlung in Betracht. Angesichts gänzlich fehlendenden Unrechtsbewußtseins sowie der hohen "Rückfallquote" der Blockierer stellt die letztgenannte Maßnahme, dies sei nur am Rande bemerkt, auch eine wesentlich effektivere Möglichkeit zum Schutze Betroffener dar. Aus der "Rechtmäßigkeit" i.S. § 240 Abs. 2 StGB folgt deshalb keineswegs71, daß ein Angriff auch rechtmäßig i.S. § 32 Abs. 2 StGB ist. Während im einen Falle nur die Strafrechtswidrigkeit bezeichnet wird, ist der Begriff im anderen Falle umfassender als rechtswidrig i.S. der Gesamtrechtsordnung zu verstehen. Zwar ist zuzugeben, daß die in Ordnungswidrigkeitentatbeständen geschützten Rechtsgüter der Allgemeinheit nach herrschender und richtiger Auffassung nicht notwehrfähig sind. Dies gilt jedoch nicht für den Notstand. Letztlich handelt es sich ohnehin nur um ein Scheinargument: In allen problematischen Fällen stehen den Betroffenen private Notrechte deshalb nicht zur Verfügung, weil es an der Erforderlichkeit fehlt: die primär zur Wahrung des Rechts berufene staatliche Gewalt hat Vorrang 72.

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Bertuleit, JA 1989, 16 (22). Es sei denn, das Verhalten verstoßt auch sonst gegen keine Norm. Dann aber ist erst recht an dessen Strafwürdigkeit zu zweifeln. 72 Zum Vorrang staatlichen Handelns s.u. Kapitel 8,1.7, II. 5 b (2). 71

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Beide Ausgangshypothesen des 1. Senats sind also falsch: § 240 Abs. 2 StGB ist kein allgemeiner Rechtfertigungsgrund mit Wirkung für die Gesamtrechtsordnung (wie etwa Notwehr und Notstand). Die Beurteilung der Tat als nicht verwerflich verkürzt nicht den Freiheitsraum Dritter 73 . Damit entfällt schon das entscheidende Argument, mit dem der Senat erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit der Klausel begründet. Ohnehin: Das Argument ist kühn, wenn man sich vor Augen hält, daß sich der Senat in derselben Entscheidung nur wenige Sätze zuvor weigert, auch nur in Ansätzen einen Maßstab für die Beurteilung der Verwerflichkeit zu definieren. Der Hinweis auf den Bestimmtheitsgrundsatz begegnet zudem rechtssystematischen Bedenken: Bei der Verwerflichkeitsklausel, so das BVerfG 74, handelt es sich um ein tatbestandsregulierendes Korrektiv, das die Strafbarkeit beschränkt und dessen Anwendung sich zu Gunsten des Täters auswirkt. "Da diese Einschränkung von den Umständen des Falles abhängt, entzieht sie sich einer im voraus bestimmbaren normativen Umschreibung in ähnlicher Weise wie die Güterabwägung im Falle des Notstandes (§ 34 StGB) oder der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB). In derartigen Fällen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber sich mit sprachlich verständlichen wertungsabhängigen Begriffen begnügt und deren Anwendung im Einzelfall dem Richter überträgt." Das BVerfG macht damit mehreres deutlich: Im Bereich der Rechtfertigung sind, da es sich um täterbegünstigende Normen handelt, wenn überhaupt, dann nur sehr viel geringere Anforderungen an die Bestimmtheit der Regelung zu stellen75. Der Hinweis auf die Güterabwägung beim rechtfertigenden Notstand zeigt zum einen, daß Rechtfertigungsgründe generell von unbestimmten, wertungsabhängigen Rechtsbegriffen geprägt sind. Zum anderen macht er auch deutlich, daß eine umfassende Abwägung aller die Tat prägenden Interessen stattzufinden hat. Das 73 Wie hier: Arzt, JZ 1988, 775 f.; Bertuleit, JA 1988, 21; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 322 f.; Kaufmann, NJW 1988, 2583; Kühl, StrVert 1988, 135; Prittwitz, JA 1987, 28; Ostendorf, StrVert 1988, 489; Otto, BT, § 27 III lb; Rudolph, DRiZ 1988, 133 f.; Schäfer in LK, § 240 Rz 69; Weichen, StrVert 1989, 459 ff. Verkannt von Schmitt Glaeser, BayVBl 1988, 457. Wie selbstverständlich diese Erkenntnis NichtStrafrechtlern ist, zeigte sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG in Sachen Sitzblockaden, als der jetzige Präsident des BVerfG, Herzog, heftig und unwirsch einen entsprechenden Einwand des bayrischen Justizministers zurückwies, der in der zu fällenden Entscheidung ein Präjudiz für versammlungsrechtliche und polizeiliche Maßnahmen sehen wollte, vgl. Tonbandprotokoll vom 15.7.1987, Az: 1 BvR 713/83 u.a. 74 BVerfGE 73, 206 (238 f.). 75 Siehe bereits oben FN 9.

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Kap.2: Problemstellung

BVerfG hindert damit die Fachgerichte keineswegs, Kriterien für die Beurteilung zu definieren. Der Hinweis auf die §§ 34, 193 StGB spricht aber eher für eine umfassende Interessenabwägung (nach zu definierenden Kriterien), als für ein Ausblenden von für die Tatbeurteilung wichtigen Gesichtspunkten. Im Ergebnis interpretiert der 1. Senat ein Grundrecht des Beschuldigten unzulässigerweise in ein Grundrecht des Opfers auf Rechtsklarheit für Gegenmaßnahmen um. Der Bestimmtheitsgrundsatz soll die Strafbarkeit des Beschuldigten eingrenzen, nicht erweitern. Eine so restriktive Auslegung der Verwerflichkeitsklausel läßt sich verfassungskonform jedenfalls unter Hinweis auf den Bestimmtheitsgrundsatz nicht begründen. 4. Fehlen objektivierbarer Bewertungsmaßstäbe Für den Ausschluß der Rechtswidrigkeit durch Rechtfertigungsgründe knüpft das Gesetz an objektive Kriterien an. Die Zielsetzungen der Demonstranten seien aber weder objektiv festzustellen noch zu beurteilen, so läßt sich das vierte dogmatische Argument des Senats auf einen Nenner bringen. Tatsächlich lassen sich die Ziele der Demonstranten aber nicht mehr und nicht weniger als in anderen Rechtfertigungssituationen feststellen. Das objektive Element liegt sogar oft deutlicher zutage als bei Notrechten, wo u.U. erst aufgrund diffiziler Wertungen (Rechtswidrigkeit, Gegenwärtigkeit des Angriffs bzw. der Gefahr) oder aufgrund subjektiver Einlassungen festgestellt werden kann, ob der Täter in - zulässiger - Ausübung eines Notrechts oder etwa aus Rache gehandelt hat. Eine finalisierende Betrachtungsweise ist insoweit unumgänglich und - wie dargestellt - weder auf Tatbestands- noch auf Rechtfertigungsebene in irgendeiner Weise ungewöhnlich76. Im besonderen Fall muß auf die Ziele der Demonstranten zudem nicht indiziell geschlossen werden. Diese werden vielmehr mit Flugblättern, Transparenten und durch das Rufen von Parolen für jedermann sichtbar und hörbar gemacht. Sie werden "verobjektiviert 1177. Gilt dies für den Inhalt des Protests, so gilt dies um so mehr für die Form der Meinungsäußerung, den demonstrativen Protest. In beiden Fällen handelt es sich um Tatsachen, die objektiv feststellbar sind.

76 77

So auch Bertuleit/Herkströter, KJ 1987, 346. Vgl. Ostendorf, StrVert 1988, 489.

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Schwierigkeiten ergeben sich somit nicht bei der Feststellung der Nötigungsziele, sondern allein bei deren Bewertung. Mit diesen Schwierigkeiten begegnen wir aber einem geradezu typischen Problem der Rechtfertigungsdogmatik. Der Gesetzgeber hat bei der Nötigung die Unrechtsbeurteilung der Justiz übertragen. Die Strafjustiz muß sich dieser Aufgabe stellen, da die Norm vom BVerfG für hinreichend bestimmt erklärt wurde. Bei allgemeinen Rechtfertigungsgründen hat sie damit keine Probleme. Dies war auch bei § 240 Abs. 2 StGB nicht der Fall, ehe die Norm zum Politikum wurde. Unzulässig ist es jedenfalls, die umfassende Prüfung der Verwerflichkeit wegen Unmöglichkeit abzulehnen und Beschuldigte deshalb - unter Zugrundelegung einer nur eingeschränkten Prüfung - zu bestrafen 78. Über die von vier Richtern beim Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen und von der Rechtsprechung der OLGe weitgehend übernommenen Kriterien, wird man sich im einzelnen streiten können. Die Schwierigkeit, klare Kriterien herauszuarbeiten, entbindet aber nicht von der Notwendigkeit, dies zu tun. Einen Beitrag hierzu zu leisten, ist u.a. Ziel dieser Arbeit 79 . Auf zwei Punkte soll bereits hier eingegangen werden: (1) Seine ablehnende Haltung gegenüber den vom BVerfG herangezogenen Kriterien begründet der BGH 80 u.a. damit, daß er zwischen einer Rechtfertigung im Zivil- und Strafrecht unterscheidet. Dies ist - wie noch aufzuzeigen sein wird 81 - zwar grundsätzlich zulässig, nicht jedoch in der Form, wie es der BGH tut. Zivilrechtswidriges Verhalten braucht nicht auch strafrechtswidrig zu sein, denn das Strafrecht fordert ein erhöhtes Unwerturteil. Umgekehrt kann aber ein Verhalten, das (sogar) zivilrechtlich gerechtfertigt ist, niemals strafrechtswidrig sein. Insoweit ist die Lehre von der Einheit der Rechtsordnung unbestritten. (2) Die Entscheidung nach den vom BVerfG vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien hinge nach Auffassung des 1. Senats "damit letztlich von der nicht kalkulierbaren politischen Einstellung des zuständigen Richters" ab. Erstaunlich ist die Offenheit, mit der der Senat sein Mißtrauen gegenüber der Instanz-Justiz ausdrückt. Fast möchte man meinen, er habe das 78 79 80 81

So auch Ostendorf, StrVert 1988, 490. Vgl. unten Kapitel 11 und 12. BGHSt 35, 280. Siehe unten Kapitel 10.

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Kap.2: Problemstellung

Vertrauen in die Justiz verloren! 82 Wertungen, auch politische Wertungen zu treffen, gehört zum Kernbereich richterlicher Tätigkeit. Dies gilt vor allem dann, wenn der Begriff des "Politischen" so weit gefaßt wird, wie es der 1. Senat hier - zu Recht - tut 83 . Das Argument wirkt zudem pharisäerhaft, denn auch die Nichtberücksichtigung von Fernzielen beruht ja auf einer politischen Entscheidung, wie die vom Senat angestellten rechtspolitischen Überlegungen eindrucksvoll belegen. Kramer M hat dies treffend angeprangert: "Er (der Senat), der jegliche inhaltliche Bewertung der politischen Ansicht für des Teufels hält, verurteilt die Forderung der Friedensbewegung nach Beseitigung der Mittelstreckenraketen als 'eigenwilligen, von der überwiegenden Mehrheit für ungeeignet erachteten Weg'". 5. Rechtspolitische Argumente Mit den vorstehenden Ausführungen sollten die rechtsdogmatischen Ausführungen des BGH erschüttert werden. Arthur Kaufmann 85 hat aber zu Recht darauf hingewiesen, daß sich die Frage der Berücksichtigung von Fernzielen bei § 240 Abs. 2 mit den Mitteln der juristischen Methode weder in die eine noch in die andere Richtung eindeutig klären läßt. Die Antwort hängt letztlich vom jeweiligen Vorverständnis des (Be-)Urteilenden ab. Ausschlaggebend für die Entscheidung des 1. Senats war deshalb wohl auch ein rechtspolitisches Argument: "Wollte man derartige Formen der politischen Auseinandersetzung als rechtmäßig ansehen, ... so könnte dies die Schleusen für schwerwiegende Beeinträchtigungen des inneren Friedens öffnen." Schmitt Glaeser86 gelingt es in seiner Anmerkung gar diese dramatisierende Sprache noch zu steigern, indem er die hier zu beurteilende Frage als ein "Problem der Erhaltung des inneren Friedens unsreres staatlichen Gemeinwesens und

82 Gegen diese Tendenz der Disziplinierung von Richtern durch Obergerichte und Justizministerien in Zusammenhang mit Zeitungsanzeigen gegen die Raketenstationierung auch: Kühnert, betrifft JUSTIZ 1987, 33; Rudolph, DRiZ 1988, 131 (133): "Welches Armutszeugnis für eine freiheitliche Republik, einen Fall wie Lübeck nach vier Jahren noch nicht ad acta gelegt zu haben. Welcher Kleinmut eines demokratisch gewählten Justizministers, dem freien Wort von Richtern und schlimmer noch -dem Vertrauen der demokratischen Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit ihrer Richter so nachhaltig zu mißtrauen!" 83 BGHSt 35, 270 (280): n... wird es kaum Anliegen geben, die sich nicht unter ein solches die Öffentlichkeit wesentlich berührendes Thema stellen lassen." 84 Krämer, betrifft JUSTIZ 1989, 108 f. 85 Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2582). 86 Schmitt Glaeser, BayVBl 1988, 454 (456, 458 f.).

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damit eine Frage der staatlichen Existenz überhaupt11 darstellt und als Alternativen Anarchie, Chaos und Bürgerkrieg an die Wand malt. Auch hier begegnen wir schon bei der Ausgangsthese dem bereits benannten dogmatischen Fehler. Wer die Verwerflichkeit in § 240 Abs. 2 StGB verneint, bejaht damit noch nicht die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens. Funktion der Verwerflichkeitsklausel ist nicht, rechtswidriges von rechtmäßigem Verhalten zu trennen. Vielmehr ist ihre Aufgabe, die Grenze für erhöhtes strafrechtliches Unrecht zu definieren. Es geht also nur um die Frage, ob ein an sich schon (verwaltungs-)rechtswidriges Verhalten zusätzlich kriminalisiert werden soll. Dieser Unterschied wird zwar häufig vernebelt, er ist dogmatisch aber weder bestritten noch bestreitbar 87. Auch das nächste Argument des Senats ist nicht stimmig: Es gäbe kein Ziel, das die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts Dritter und ihre Benutzung als Instrument zur Erzwingung öffentlicher Aufmerksamkeit rechtfertige. Das BayObLG88 gar sieht die sittliche Mißbilligung eines solchen Verhaltens "in der darin zum Ausdruck kommenden Mißachtung der Menschenwürde". Noch einmal: es geht bei § 240 Abs. 2 nicht um Rechtfertigung sondern nur um eine Beseitigung der Strafrechtswidrigkeit des Verhaltens. Andererseits gehört es gerade zum Wesen der Rechtfertigung, die Instrumentalisierung von Rechtsgütern zur Durchsetzung von Interessen zu erlauben. Niemand käme auf die Idee, das Notstands- oder Nothilferecht deshalb zu versagen, weil damit andere instrumentalisiert, in ihrer Menschenwürde verletzt würden. Ob dies der Fall ist, läßt sich nicht abstrakt, sondern nur nach umfassender Abwägung aller beteiligter Interessen beurteilen. Auf diese Abwägung kann nicht deshalb verzichtet werden, weil es - merkwürdigerweise ausgerechnet hier - nicht möglich sein soll, geeignete Beurteilungskriterien zu finden, zumal diese für die Strafzumessung ohnehin herausgearbeitet werden müssen. Womit wir bei der entscheidenden Frage angelangt sind, der vom Senat in erfreulicher Offenheit dargelegten folgenorientierten Betrachtung: An mehreren Stellen versucht der Beschluß den Eindruck zu erwecken, als sei hier ausschließlich das Verhalten einer kleinen, radikalen Minderheit zu beurteilen. Daran ist richtig, daß eine politische Minderheit mehr auf spektakuläre Aktionen angewiesen sein kann als die Mehrheit. 87 Um die "Lehre von der Einheit der Rechtsordnung" aufrecht erhalten zu können, wird § 240 Abs.2 StGB aus diesem Grunde von einer verbreiteten Ansicht als Tatbestandsmerkmal interpretiert. 88 BayObLG, NJW 1988, 718 (719).

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Kap.2: Problemstellung

Tatsächlich ist es aber so, daß Sitzdemonstrationen zu den häufigst eingesetzten Protestaktionen in der Bundesrepublik gehören. In den letzten Jahren haben mehrere tausend solcher Blockaden stattgefunden. Häufig findet sowohl das Ziel als auch der Weg dorthin die Zustimmung weiter Bevölkerungskreise, belegt etwa durch die Blockaden in Rheinhausen, wo eine ganze Stadt, oder in Wackersdorf, wo eine ganze Region an den Protesten mitwirkte. Wenn die Protestziele, wie der BGH unterstellt, von der Mehrheit der Bevölkerung angestrebt werden, was bei den Zielen Abrüstung und Ausstieg aus der Atomenergie nach jüngeren Umfragen 89 tatsächlich zutrifft, so kann andererseits die "strukturelle Gewalt" nicht außer Betracht bleiben, "die stumme Gewalt der ökonomischen Verhältnisse, die vielfältigen Formen sozialer Abhängigkeit, die Zerstörung der Existenz von Natur und Mensch"90, mit der moderne Großtechnologien oft gegen den Mehrheitswillen durchgesetzt werden. Die Frage stellt sich: Wird der innere Friede denn hergestellt durch eine Kriminalisierung der Sitzdemonstranten? Läßt sich einem Massenphänomen wie den Sitzblockaden überhaupt mit den Mitteln des Strafrechts begegnen oder wird nicht erst dadurch der innere Friede gefährdet? 91 Bilden diese und ähnliche Aktionen nicht auch ein wichtiges Ventil für Bürgerunmut? Wird die politische Auseinandersetzung nicht gerade dadurch radikalisiert, daß Bürger, die sich in echter Sorge für die Belange der Gemeinschaft engagieren, die allenthalben immer mehr Recht bekommen, durch ihre Kriminalisierung vor den Kopf gestoßen werden? Trägt es wirklich zum inneren Frieden bei, wenn Bürger noch Jahre nach Abschluß des INFVertrages oder der Absage an das Projekt Wackersdorf mit Strafverfahren wegen ihres Eintretens gerade für diese Ziele überzogen werden? Man könnte es mit Ostendorf 92 auch umgekehrt formulieren: "Erst mit der Schleusenöffnung können sich der Unwille, die Bitterkeit, die Ängste entladen, können existentielle Konflikte bereinigt werden. Die strafrechtliche Verhinderung solcher Entladungen beseitigt nicht den inneren Unfrieden. Ganz offensichtlich hat der Senat aber eine andere Vorstellung vom inneren Frieden, nämlich den Wunsch nach Ruhe und Ordnung - und das in einer demokratisch organisierten Gesellschaft. Für eine demokra89

Vgl. "SPIEGEL-Umfirage", Heft 9/89, S. 51 f. So Riehle, DuR 1987, 10. 91 Hierzu u.a.: Fritz, Simon-FS, 428; Janknecht, NJW 1986, 2412. Grundlegend schon früher: Herzog, Maunz-FS, 145 ff. 92 Ostendorf, StrVert 1988, 490. 90

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tisch organisierte Gesellschaft ist die Gewährleistung, abweichende politische Positionen darzustellen, existentiell. Insofern gibt es kein Grundrecht, in Ruhe gelassen zu werden." Hat nicht umgekehrt die Störung des inneren Friedens in Wahrheit ganz andere Ursachen?93 Ist sie nicht etwa, wie Arthur Kaufmann 94 es formuliert, darin begründet, daß "stark politisch angereicherte Sachverhalte nach uferlosen Straftatbeständen" beurteilt werden sollen? Droht nicht so das Strafrecht zum Zwecke politischer Disziplinierung ausgenutzt und als Mittel politischer Machtsicherung in einem Staat mißbraucht zu werden 95, dem es augenscheinlich an legalen Möglichkeiten der Bürgerpartizipation fehlt 96? Dem inneren Frieden dienlich ist sicher auch nicht die offen zutagetretende selektive Strafverfolgung in diesem Bereich, die sich dazu noch auf mehreren Ebenen vollzieht: Strafverfolgung scheint willkürlich, wenn die Blockade vor dem EUCOM in Stuttgart am 12.12.1982 zu Massenfestnahmen und anschließenden Strafverfahren führt, während eine weit größere Blockade am gleichen Tag vor dem Atomwaffenlager "Golf 1 in Großengstingen völlig unbehelligt bleibt. In vielen Fällen wird von Festnahmen dann abgesehen, wenn sich Prominenz an Blockaden beteiligt, während die "einfachen Leute" anderntags wieder die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Selektiv verfahren wird schließlich auch bezüglich der Protestinhalte: Werden Mitglieder der Friedens- und Ökologiebewegung verfolgt, bleiben Bauern, Fernfahrer und Stahlarbeiter bei weit schwereren Eingriffen in Rechte Dritter straflos (s.u.III). Größten kriminalpolitischen Bedenken begegnet schließlich die vom 1. Senat vorgenommene Grenzziehung: Politisch motivierte Gewaltbetätigungen jedweder Art, "vom Terror bis zur Sitzblockade"97, werden in eine Reihe gestellt. Durch die Ausblendung der Fernziele werden die Unterschiede eingeebnet: Bis zum ehemaligen Verfassungsrichter, sie sind alle kriminelle Gewalttäter!

93 Vgl. die Begr. des vom Saarland eingebrachten Amnestiegesetzes, BR Drs. 181/88: "Der Streit um die Stationierung von Mittelstreckenraketen hat den inneren Frieden nicht nur in der BRD schwer erschüttert." 94 Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2582). 95 In diese Richtung zielt etwa die Kritik von Arthur Kaufmann, aaO.; Lüderssen, Kriminologie, S. 163; Prittwitz, JA 1987, 26. 96 Daß es damit weit besser steht als in fast allen Staaten der Erde, kann an diesem Befund nichts ändern! Daß das Bedürfnis nach stärkerer Bürgerpartizipation bei politischen Entscheidungsprozessen besteht, belegen die von Würtenberger, NJW 1986, 2283, zitierten Studien. 97 So griffig von Schmitt Glaeser, BayVBl 1988, 459, auf den Punkt gebracht.

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Kap.2: Problemstellung

Der Vorwurf aber, in verwerflicher Weise rechtswidrig und damit kriminell gehandelt zu haben, berührt den moralischen Status von Menschen, die sich oft unter großen Opfern für höchste Gemeinschaftswerte einsetzen, auf das allerempfindlichste 98. Zwischen einem bloßen Ordnungsverstoß und kriminellem Unrecht besteht im Bewußtsein der Bevölkerung sehr wohl ein qualitativer Unterschied, der sich auch durch theoretische Überlegungen nicht wegdiskutieren läßt". Wer hier die Grenzen zu eng zieht, nimmt in Kauf, daß die Grenze zwischen gewalttätigem und gewaltlosem Verhalten im Rahmen politischer Auseinandersetzungen ihre Konturen verliert 100. Die Tür hier zuzumachen, wäre vor allem deshalb politisch kurzsichtig, weil nachweislich gerade in der jungen, engagierten Generation der Anteil der Bevölkerung besonders hoch ist, der die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes bejaht101. III. Politische Bewertung von Fernzielen in der Praxis Bei der Strafverfolgung demonstrativen Protests in der Form von Blockaden werden Fernziele durchaus bewertet. Ihre Bewertung ist dabei oft von ausschlaggebender Bedeutung für die Einleitung von Strafverfahren. Bewertungskriterein werden freilich weder offengelegt noch dogmatisch begründet. So blieben die LKW-Fahrer, die 1984 für mehrere Tage den AutobahnGrenzübergang Kiefersfelden blockierten und dadurch zehntausende von Autofahrern an der Weiterfahrt hinderten, von einer Strafverfolgung gänzlich verschont. Ebenso unbehelligt ließen die Behörden drei Jahre später, im April 1987, LKW - Fahrer, die die deutsch-dänische Grenze blockierten. Auch die Maßnahmen gegen die LKW-Blockaden an den Grenzübergängen Lindau und Füssen im Oktober 1989 können nur als wohlwollend bezeichnet werden 102. Für Bauern gehören Traktorblockaden an Grenzübergängen seit vielen Jahren zum gängigen Ausdruck des Protests. Als im Dezember 1987 Kumpel und Stahlarbeiter im Ruhrgebiet eine ganze Stadt von der Außenwelt abschnitten, um auf ihre drohende Arbeitslosigkeit aufmerksam zu machen103, blieben die Strafverfolgungsbe98

So zu Recht: Kaufmann, NJW 1988, 2584. Dies ist aber wohl intendiert von Arzt, JZ 1988, 776. 100 Worauf die vier "unterlegenen" Richter beim BVerfG ausdrücklich hinweisen. 101 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2287. 102 I n Lindau wurde mehr als 10 Stunden über eine Räumung verhandelt; nur gegen einen Teil der Fahrer wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet; die Blockade in Füssen wird nur als Ordnungswidrigkeit eingestuft; vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen, BT-Drucksache 11/5422. 103 Vgl. Der Spiegel Nr. 4/88, S. 96; Tageszeitung vom 3.12. und 11.12.1987, jew. S. 1, Unter99

III. Politische Bewertung von Fernzielen in der Praxis

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hörden ebenso untätig wie bei der Frankfurter Theaterbesetzung, mit der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und der örtlichen FDP die Aufführung eines Theaterstücks mit nach ihrer Auffassung antisemitischem Inhalt verhinderten. Diese Eingriffe in Rechte Betroffener waren in allen geschilderten Fällen erheblich massiver als bei den Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen, an denen oft nur wenige Leute teilnahmen. Allein die von den Demonstranten verfolgten Fernziele konnten für die unterschiedliche Handhabung ausschlaggebend sein, was Arthur Kaufmann zu dem Schluß veranlaßte, daß die Fernziele für die Friedensdemonstranten in der Praxis straßegründend wirkten 104. Einige Staatsanwaltschaften sehen generell von der Strafverfolgung gegenüber "politischen" Blockaden ab. Sie argumentieren i.d.R. damit, daß aufgrund der von den Betroffenen verfolgten Ziele jedenfalls strafwürdiges Unrecht entfalle. Es gibt aber auch Staatsanwaltschaften, die nach den verfolgten Zielen selektieren. Ihr Verhalten erweckt zuweilen den Eindruck, als ob auch im Strafrecht der Opportunitätsgrundsatz, nicht das Legalitätsprinzip gelte, als handele es sich um die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, nicht um die Verfolgung von Straftaten. Die Vermutung liegt nahe, daß in politischen Angelegenheiten Staatsanwaltschaften zuweilen die Strafverfolgung nicht dann einleiten, wenn sie sich i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO zum Einschreiten verpflichtet wähnen, sondern dann, wenn ein politisches Interesse die Einleitung eines Strafverfahrens opportun erscheinen läßt.105 Der Gedanke an Opportunität, allerdings nicht im strafrechtsdogmatischen, sondern im politischen Sinne drängte sich auch bei dem Verhalten von Politikern anläßlich der beschriebenen Aktionen auf. So versicherte der bayerische Ministerpräsident Strauß den blockierenden LKW-Fahrern auf der Inntal-Autobahn per Handschlag "seiner vollen Unterstützung" 106. Die Kumpel im Ruhrgebiet wußten sich der Rückendekkung hochrangiger Landespolitiker sowie des Bundesarbeitsministers Blüm sicher. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Hier soll nicht der Kriminalisierung von Bauern, LKW-Fahrern und Arbeitern das Wort

titel: Stahlarbeiter blockieren Rheinbrücke und Straßen / Wenn's hier knallt, sind die Chaoten kleine Lichter. Duisburgs Oberstadtdirektor hatte seinen Bediensteten sogar ausdrücklich frei gegeben und sie zur Teilnahme aufgefordert. 104 Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2583). 105 Diesen Befund konstatierte 1953 bereits Grimm, Politische Justiz, S. 154. 106 Am 25.2.1984, vgl. Der Spiegel Nr. 4/88, S. 96; Die Zeit Nr 49/84, S. 20. 5 Reichcrt-Hammer

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Kap.2: Problemstellung

geredet, sondern lediglich auf den unerträglichen Mißstand hingewiesen werden, wie im Bereich politischer Fernziele mit zweierlei Maß gemessen wird. Abgestellt wird nicht auf das "unmittelbare Nötigungsziel" (Schaffen größerer Öffentlichkeit). Die Praxis nimmt vielmehr eine inhaltliche Bewertung des politischen Anliegens vor. Handelt es sich um ein Anliegen der jeweiligen politischen Klientel, wird die Tat nicht verfolgt. Die unterschiedliche Bewertung der Ziele durch die Strafverfolgungsbehörden war freilich Anlaß heftiger Diskussionen innerhalb der Richterschaft 107. Sie blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Blockaderechtsprechung: Wenn schon erheblich stärkere Eingriffe im egoistischen, materiellen Einzel- oder Gruppeninteresse ohne sittliche Mißbilligung von der Gesellschaft hingenommen würden, so wurde geurteilt, dann müßte dies erst recht bei weniger einschneidenden Handlungen im Interesse von wesentlichen Gütern der Allgemeinheit gelten. In diesen Fällen erreiche das Verhalten der Angeklagten nicht die Grenze strafwürdigen Unrechts 108. Roß und Reiter werden beim Namen genannt, Fernziele berücksichtigt und bewertet.

107 Vgl. Kuhnert, betrifft JUSTIZ 1987,33; Rudolph, DRiZ 1988,131, sowie die Anzeige von 554 Richtern und Staatsanwälten in: Die Zeit Nr. 8 vom 13.2.1987. 108 Vgl. OLG Köln, StrVert 1985, 459; OLG Zweibrücken, StrVert 1987, 206 (207 f.); LG Ellwangen, Az.: 3 Ns 216/86-10. Im einzelnen hierzu oben Kapitel 1, III.

Z w e i t e r

T e i l

Fernziele und Unrecht

Kapitel 3

Fernziele - ein schillernder Begriff I. Fernziele als Unrechtsmerkmale Das Problem der Einbeziehung von Fernzielen in die strafrechtliche (Unrechts-) Betrachtung ist keineswegs neu. In vielen Fällen - sowohl auf Tatbestandsebene wie auch auf der Ebene der Rechtswidrigkeit - stellt das Strafrecht nicht nur auf die unmittelbaren Folgen der Tatbestandsverwirklichung ab, sondern fragt danach, was der Täter mit seiner Tat letztlich bewirken will, wobei in vielen Fällen der Unwertgehalt der Tat danach unterschiedlich beurteilt wird. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen: (1) Ein Mensch tötet einen anderen, - um an die ersehnte Erbschaft zu gelangen (Habgier -

§ 211),

- um einen Todkranken auf dessen Wunsch von seinen Schmerzen zu befreien (§ 216). (2) Die Ärztin narkotisiert die Patientin, um durch eine Operation ihr Leben zu retten (gerechtfertigter ärztlicher Heileingriff). Der Mafioso narkotisiert sein Opfer, um es zu berauben (gefährliche Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls, § 223 a). (3) Die Forscherin tötet werdendes menschliches Leben in vitro (sog. embryonenverbrauchende Forschung),

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Kap. 3: Fernziele - ein schillernder Begriff

- um Heilmethoden für Krebs oder Aids zu erforschen (u.U. gerechtfertigt, vgl. § 2 Abs. 2 DE ESchG 19861), - um Menschen nach erwünschten Kriterien zu züchten, - um die Strahlungswirkung von Atomwaffen zu testen (für beide Fälle soll unstreitig ein Straftatbestand eingeführt werden). (4) Ein Embryo wird getötet - von einem Arzt, der der Frau in einer Konfliktlage hilft (gemäß § 218 a gerechtfertigte Abtreibung), - von einem Arzt als Vater, der keinen Unterhalt bezahlen möchte (§ 218 Abs. 1 - strafbarer Schwangerschaftsabbruch). (5) Eine Person führt Heroin ein - als Lockspitzel, um einen internationalen Hehlerring auszuschalten, - als Händler, um möglichst viel Geld zu verdienen. (6) Ein Güterzug wird von Jugendlichen blockiert - um einmal auszuprobieren, wie lange es dauert bis die Polizei kommt (u.U. strafbare Nötigung), - von Gegnern des Faschismus, um einen Judentransport nach Auschwitz aufzuhalten (durch Nothilfe und Notstand gerechtfertigt, jedenfalls nicht verwerflich i.S. § 240 Abs. 2 StGB). In allen genannten Fällen verfolgen die Täter Ziele über die eigentliche, unmittelbare Tatbestandsverwirklichung hinaus, die den Unwertgehalt der Tat in einem anderen Licht erscheinen, zuweilen sogar die Strafbarkeit völlig entfallen lassen. Dies hängt jeweils davon ab, ob die Rechtsordnung diese Ziele positiv oder negativ bewertet. Äußerlich liegen innerhalb der verschiedenen Fallgruppen jeweils genau die gleichen oder aber zumindest vergleichbare Tatabläufe vor. Die Unterschiede im Unwertgehalt erklären sich ausschließlich aus den von den Tätern letztlich verfolgten Zielen.

1 § 2 Abs. 2 des Entwurfs eines Embryonenschutzgesetzes 1989 (Kabinettsentwurf) sieht diesen Rechtfertigungstatbestand allerdings nicht mehr vor. Zur Kritik vgl. Rössner in: Günther/Keller, S. 247 ff.

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Der Begriff des Fernziels

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II. Der Begriff des Fernziels Was aber ist unter dem Begriff "Fernziel" zu verstehen? Ist er dekkungsgleich mit dem Begriff der Absicht oder mit dem Motiv des Handelns ? 1. Absicht, Motiv und Fernziel Nach einer früher von der Rechtsprechung2 und heute noch vor allem von Baumann/Weber 3 vertretenen Ansicht liegt Absicht dann vor, wenn ein bestimmtes Ziel Hauptbeweggrund für das Handeln des Täters ist. Die im Tatbestand genannte Absicht sei aber nicht gleichzusetzen mit dem Endzweck des Täterverhaltens. Hauptbeweggrund sei nicht das "letzte", sondern das erste, das nächstliegende Motiv des Handelns. Demgegenüber sieht die heute h.M.4 in der Absicht eine gesteigerte Form des direkten Vorsatzes. Absicht ist danach dann gegeben, wenn es dem Täter gerade darauf ankommt, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges herbeizuführen oder aber den Umstand zu verwirklichen, für den das Gesetz absichtliches Handeln voraussetzt. Die h.M. rückt vom Merkmal des Hauptbeweggrundes ab und hebt auf die Zielvorstellung ab5. Unter Absicht ist danach der zielgerichtete Erfolgswille zu verstehen, der zugleich Beweggrund des Handelns sein kann, damit jedoch nicht zwangsläufig identisch ist. Begrifflich ist daher zwischen der Zielvorstellung des Täters und dem Beweggrund oder Motiv seines Handelns zu unterscheiden. In vielen Fällen dürfte der Meinungsstreit indes - worauf Baumann/Weber zu Recht hinweisen6 - müßig sein, da beide Meinungen zu gleichen Ergebnissen führen. So wenig wie die A.M notwendigerweise das Endziel als Gegenstand der Absicht betrachtet, sehen Baumann/Weber den Beweggrund als letztes und eigentliches Motiv der Tat.

2 Z.B. RGSt 27, 217 (220); 44, 87 (91); 55, 257 (260); BGHSt 15, 53. Der BGH trennt aber auch heute noch nicht immer klar zwischen Absicht und Motiv, benutzt diese Begriffe teilweise auch synonym (s.u. Entscheidung zu den Sitzblockaden). 3 Baumann/Weber, AT, § 26 III 2. 4 Vgl. BGH, GA 1985, 321; BGHSt 21, 283 (284 f.); BGHSt 16, 1 (5); BGHSt 13, 219 (221); Wessels, AT, § 7 II 1; Jescheck, AT, § 29 III la; Oehler, NJW 1966, 1633. 5 Vgl. insbesondere BGHSt 16, 1. 6 Baumann/Weber, AT, § 26 III 2.

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Kap. 3: Fernziele - ein schillernder Begriff

Die Absicht beschreibt somit die Intensität, mit der ein Erfolg, ein Ziel angestrebt wird. Motiv ist der Beweggrund für das Handeln. Anschaulich charakterisiert Zipf das Motiv als treibend, die Absicht dagegen als ziehend. Die Definition der Merkmale Absicht und Motiv bringt freilich die hier interessierende Frage nach dem Begriff Fernziel nicht wesentlich voran. Zu unterscheiden ist zwischen Absicht und Motiv einerseits, sowie dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, andererseits. Literatur und Rechtsprechung beschäftigen sich mit dieser Frage ausschließlich im Hinblick auf die im Gesetz geforderten Absichten. Die Absicht wird also bezogen auf im Gesetz vorgegebene Merkmale bzw. im Falle der Tatbestände mit überschießender Innentendenz auf die im Gesetz geforderten entsprechenden Tendenzen. Dabei ist man sich einig darin, daß der tatbestandlich erstrebte Erfolg nicht das Endziel des Täters zu sein braucht. Es genügt vielmehr, daß er ihn als Nah- oder auch Zwischenziel erreichen will, weil er ihm auf dem Weg zum Fernziel weiterhilft. 8 Damit wird allerdings nur festgestellt, daß es ausreicht, wenn sich die Absicht des Täters zumindest auch auf das Nahziel erstreckt, und zwar auch dann, wenn der Täter darüberhinaus noch ein Fernziel verfolgt, das zu Erreichen sein eigentliches Anliegen ist. Verletzt z.B. ein engagierter Umweltschützer einen Politiker, weil er damit das Land vor den Gefahren der Atomenergie bewahren will, so kann diese Körperverletzung - obgleich vielleicht nur bedauerter Zwischenschritt gleichwohl absichtlich begangen sein. Der Wille des Täters, der das Opfer tötet, um an dessen Geldbörse zu gelangen, ist nicht in erster Linie auf die Tötung gerichtet, dennoch kann er die Tötung absichtlich begangen haben. Das heißt allerdings keineswegs, daß das Fernziel hiermit für das Unrecht bewertungsneutral wäre. Ganz im Gegenteil kann das Fernziel des Umweltschützers sein Handeln - etwa im Falle einer Notstandslage rechtfertigen. Das Fernziel des tötenden Räubers im obigen Beispiel macht die Tötung zum Mord. Nahziel und Fernziel sind objektive Begriffe, gleichzusetzen mit dem tatbestandlichen - bzw. bei den Delikten mit überschießender Innentendenz mit dem intendierten - oder aber einem darüberhinaus erstrebten Erfolg, der das Verhalten u.U. rechtfertigt.

7

Maurach/Zipf, AT/1, § 23 Rz 55. Vgl. Wessels, AT, § 7 II 1, sowie Oehler, NJW 1966, 1633 (1637), der allerdings nicht zwischen Fernziel und Beweggrund differenziert. 8

II. Der Begriff des Fernziels

71

Absicht und Motiv dagegen sind subjektive Begriffe. Sie können, müssen sich aber nicht notwendig auf die vom Täter verfolgten Nah- bzw. Fernziele beziehen. Letztere sind Gegenstand von Absichten bzw. Motiven. Werden über den tatbestandlichen Erfolg hinaus weitere (Fern-)Ziele verfolgt, die von der Rechtsordnung negativ bewertet werden, so sind diese Fälle strukturell vergleichbar den Delikten mit überschießender Innentendenz. Wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes wirkt sich das Streben nach einem weiteren Erfolg jedoch bei der Unrechtsbegriindung nur dann aus, wenn ein (Qualifikations)Thtbestand das weitere Ziel ausdrücklich unter Strafe stellt.

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Kap. 3: Fernziele ein schillernder Begriff

Tatbestandlicher Erfolg

Vorsatz (u.U. Absicht)

Weiterer Erfolg (Fernziel)

i.d.R. Absicht (Zielsetzung)

Diesselbe Struktur findet sich bei Fallgestaltungen, in denen eine Rechtfertigung in Betracht kommt, also dort, wo die Rechtsordnung Ziele positiv bewertet: Tatbestandlicher Erfolg Handlungswnwert

Weiterer Erfolg (Fernziel) Handlungswert (z.B. Verteidigung eines Rechtsguts)

Vorsatz (u.U. Absicht)

Rettungswille (Zielsetzung)

Eine klare Abgrenzung zwischen Nah- und Fernzielen ist weder für die zuletzt angestellten strukturellen Überlegungen noch für die Definition der subjektiven Merkmale Absicht bzw. Motivation erforderlich und findet sich - soweit ersichtlich - in der diesbezüglichen Literatur auch nirgends. 2. Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den Sitzblockaden Das BVerfG geht - wie gesehen - von einem mehrgliedrigen Zweckbegriff in § 240 Abs. 2 StGB aus. Es unterscheidet zwischen: - den unmittelbaren Nötigungsfolgen, d.h. den durch die Sitzblockaden verursachten Behinderungen, allgemein also dem tatbestandlichen Erfolg, - dem unmittelbaren Nötigungsziel, der Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen, - und dem Fernziel, dem Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung. Auch hier ist eine Abgrenzung von Nah- und Fernziel wenig hilfreich. Vielmehr geht es allein um die inhaltliche Wertung, welche Ziele bei der Unrechtsbeurteilung zu berücksichtigen sind.

. Der Begriff des Fernziels

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3. Begriffsbestimmung Die vorangegangene Analyse macht mehreres deutlich: (1) In vielen Fällen, wenn nicht sogar im Regelfall, verfolgen Täter mit ihrer Tat verschiedene Ziele, die zueinander in einem Stufenverhältnis stehen und die u.U. auch mit verschiedener Intensität erreicht werden sollen. So kann das zunächst angepeilte Ziel u.U. nur in Kauf genommen werden, um ein weiteres Ziel zu erreichen. (2) Der konturlos in die Diskussion geworfene Begriff Fernziel vernebelt die eigentlichen Probleme mehr, als er diese erhellt. Es gibt keinen allgemein zu benennenden Unterschied in der dogmatischen Behandlung von Nah- und Fernzielen. Nützlich ist eine Differenzierung zwischen verschiedenen Zielen nur dann, wenn sie dogmatisch verankert werden kann. Dogmatisch zu unterscheiden sind der tatbestandliche Erfolg und darüberhinaus verfolgte Ziele. Wie diese im einzelnen zu bewerten und wo sie dogmatisch einzuordnen sind, wird im weiteren Verlauf der Arbeit darzulegen sein. Der Begriff Fernziel ist deshalb allenfalls insofern von beschränktem - Nutzen, als damit über die Verwirklichung des objektiven (Grund-)Tatbestandes hinausgehende Ziele gekennzeichnet werden. (3) Über die Tatbestandsverwirklichung hinausgehende Ziele zu erreichen, ist häufig zugleich auch treibendes Motiv für das Handeln. Entscheidendes Motivationselement kann dabei das Streben nach dem Endziel sein. Zwingend ist dies indes keineswegs. Die Motivation kann sich auch in einer gefühlsmäßigen Reaktion erschöpfen (Mitleid, Provokation), ohne daß ein konkretes Ziel verfolgt wird. Häufig ist auch nicht das Endziel, sondern ein ganz anderes Zwischenziel für die rechtliche Bewertung einer Tat entscheidend. So kann etwa die Motivation einer Ärztin, die einen Patienten behandelt (Körperverletzung), ausschließlich darin bestehen, Geld zu verdienen (Endziel). Das für die rechtliche Bewertung entscheidende Zwischenziel liegt aber darin, den Patienten nach Aufklärung und unter Respektierung seines Willens (Einwilligung) zu heilen. (4) Auseinanderzuhalten sind danach folgende Begriffe: im Bereich des Objektiven der tatbestandliche Erfolg und ein darüber hinaus verfolgtes Ziel, im Bereich des Subjektiven der Vorsatz, nicht notwendigerweise in Gestalt der Absicht, der (zumindest auch) auf das weitere Ziel gerichtet ist, sowie die Motivation des Täters.

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Kap. 3: Fernziele - ein schillernder Begriff

(5) Fast jedes vom Täter verfolgte Ziel verkörpert schließlich einen Wert oder einen - nicht notwendig strafrechtlich erfaßten Unwert, denn die Rechtsordnung bewertet nahezu jegliches Verhalten.

Kapitel 4

Fernziele und Unrechtsbegründung I. Analyse des Unrechts Zur Klärung der Frage, wie sich über die Verwirklichung des objektiven (Grund-)Tatbestandes hinausreichende Ziele des Täters unrechtskonstituierend auswirken können, bedarf es zunächst einer Analyse der (straf-)unrechtsbegründenden Elemente. 1. Was macht sachlich den Unwertgehalt einer Straftat aus? Strafrecht schützt Werte, indem es Unwerte mißbilligt. Für das materielle Unrecht kommen drei Unwerte in Betracht: Erfolgs-, Handlungs- und dies ist im einzelnen allerdings umstritten - Gesinnungsunwert. Der Tattypus, den die einzelnen Tatbestände verkörpern, gliedert sich auf in einen bestimmten Taterfolg und eine bestimmte Tathandlung. Heute besteht deshalb weitgehend Einigkeit darüber, daß sich der Unwert einer Straftat nur bei Berücksichtigung sowohl des Erfolgs- als auch des Handlungsunwerts einer Tat vollständig erfassen läßt1. Ihren Unrechtscharakter erfährt eine Handlung maßgeblich dadurch, daß sie einen Erfolg verursacht oder zumindest intendiert 2. So bleibt im Bereich der Fahrlässigkeitstat "gottsträflicher Leichtsinn" straflos, wenn es noch einmal gut gegangen ist3. Der Erfolg wiederum ist nicht für sich unrechtskonstituierend, sondern bedarf einer bestimmten Tathandlung. So bleibt die verschuldete (aber tatbestandslose) Nichterfüllung eines Vertrags selbst dann straflos, wenn der 1 Vgl. Jescheck, AT, § 24 m 1 ff.; Günther, Verurteilungen, S. 242 ff. m.w.N. in FN 28; Naucke, Einführung, § 6 III 5 a; Welzel, Lehrbuch, § 11 II. 2 Ausnahme: Schlichte Tätigkeits- und Gefährdungsdelikte. Freilich kann auch in der Gefährdung bereits ein "primärer Erfolgsunwert" gesehen werden, vgl. Wolter, Straftatsystem, S. 25 ff., 109 ff. 3 Vgl. Engisch, Einführung, S. 162.

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

Vertragspartner dadurch einen Millionenschaden erleidet, während der kleinste Betrug mit Strafe bedroht ist. Der Erfolgsunwert der Tat liegt in der Verletzung oder Gefährdung eines Handlungsobjekts (Angriffobjekts), in dem sich jeweils ein Rechtsgut verkörpert. Der Handlungsunwert einer Tkt besteht sowohl aus den äußeren Modalitäten des Täterverhaltens als auch aus den Umständen, die in der Person des Täters liegen. Demgemäß ist zwischen tatbezogenem und täterbezogenem (personalem) Handlungsunwert zu unterscheiden4. Durch ihre Aufnahme in den Straftatbestand werden Erfolgs- und Handlungsunwert zum Erfolgs- bzw. Handlungsunrecht. War die ältere Lehre noch davon ausgegangen, daß alle objektiven, d.h. der "äußeren" Tatseite angehörenden Deliktsbestandteile dem Unrecht, alle subjektiv-seelischen Merkmale dagegen der Schuld zuzuordnen seien, hat sich in der neueren Dogmatik seit Entdeckung der sog. subjektiven Unrechtsmerkmale in Gestalt der bei einzelnen Delikten erforderlichen besonderen Absicht (z.B. bei §§ 242, 263 StGB) weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, daß innerhalb des Handlungsunrechts auch personale Bestandteile eine Rolle spielen. Die Lehre vom personalen Handlungsunrecht ist heute weitgehend anerkannt5. Die Frage lautet heute nur noch, welche personalen Merkmale als Bestandteile des Handlungsunrechts angesehen werden müssen. Das Rangverhältnis von Handlungs- und Erfolgsunrecht wurde anderwärts6 bereits ausgiebig diskutiert und bedarf hier keiner weiteren Erörterung. Festzuhalten bleibt lediglich, daß sich nach heute allgemeiner Auffassung das Unrecht nicht in der von der Täterpersönlichkeit losgelösten Erfolgsverursachung (Rechtsgüterverletzung) erschöpft. Die Handlung ist vielmehr zu beurteilen als Werk eines bestimmten Täters: Welche Zielsetzung er der objektiven Tat zwecktätig gegeben, aus welcher Einstellung heraus er sie begangen hat, welche Pflichten ihm dabei oblagen, all das bestimmt maßgeblich das Unrecht der Tat neben der etwaigen Rechtsgüterverletzung oder -gefährdung mit 7 .

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Vgl. Jescheck, AT, § 24 III 3 f.; Günther, Verurteilungen, S. 248 f. Zurückgehend auf Mezger und Welzel. Nachweise zum Meinungsstand bei Jescheck, AT, § 24 III 4 (FN 30); Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13ff., Rz 52 ff; Ebert/Kühl, JURA 1981, 231 ff.; Rudolphi, Maurach-FS, S. 51 ff; Lampe, Das personale Unrecht, S. 206 ff. 6 Vgl. Günther, Verurteilungen, S. 242 ff; Wolter, Straftatsystem, S. 25 ff, 64 ff; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 79 ff. 7 So Welzel, Lehrbuch, § 11 II. 5

I. Analyse des Unrechts

77

2. Die Elemente des Handlungsunrechts im einzelnen a) Tktbezogene Elemente des Handlungsunwerts leiten sich ab aus8 der Aktualität , d.h. dem Grad der Gefährdung des Rechtsguts Bsp: Höherer Unwert bei Vollendung gegenüber Versuch, bei Verletzung gegenüber Gefährdung; Intensität der Rechtsgutverletzung Bsp: Die Zerstörung beinhaltet einen höheren Unwertgehalt als die bloße Beschädigung; Art und Weise der Rechtsgutsverletzung Bsp: Gefährlichkeit des Thtmittels, so stellt List ein Minus gegenüber Gewalt dar. Dagegen zählen die Eigenschaften des Tatobjekts (je wertvoller, desto höher der Unwertgehalt) nicht zum Handlungs- sondern zum Erfolgsunwert einer Tat9. b) Zum personalen Handlungsunwert10 zählen zum einen die objektivtäterschaftlichen Merkmale. Diese finden sich bei - Tatbeständen, bei denen die Täterschaft durch objektive Merkmale, die eine bestimmte Pflichtenstellung beschreiben, auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist (z.B.: § 203 StGB - Verletzung von Privatgeheimnissen durch Ärzte etc.; Garant beim unechten Unterlassungsdelikt; Amtsdelikte) oder - Tatbestände, bei denen bestimmte Personen wegen der mit der Tat verbundenen Pflichtverletzung schwerer bestraft werden als andere (z.B.: § 246 2. Hs. StGB - veruntreuende Unterschlagung). - Hierher gehören schließlich auch die Fälle, in denen sich ein erhöhter oder verminderter Unwert aus der besonderen Beziehung zwischen Täter und Opfer ergibt (z.B.: §§ 216, 217 StGB - Tötung auf Verlangen und Kindstötung).

8 Vgl. auch die Fallgruppen bei Günther, Verurteilungen, S. 252 ff., und die dort dargestellten Beispiele. 9 A.A. Günther, Veruteilungen, S. 252,254, der diese Eigenschaften ebenfalls dem Handlungsunwert zuordnet. 10 Vgl. hierzu Jescheck, AT, § 24 m 4, § 30.

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

Der erhöhte oder verminderte Unwert folgt also aus einer besonderen Beziehung des Täters zum Rechtsgut. c) Anerkannt sind ferner auch subjektive Merkmale als Bestandteile des personalen Handlungsunrechts. Ihre Aufgabe ist es, den auf die Rechtsgutsverletzung gerichteten Handlungswillen des Täters näher zu kennzeichnen und dadurch der im Deliktstatbestand enthaltenen äußeren Unrechtsbeschreibung den inneren Unwertakzent zu verleihen. Häufig beschreibt schon das Gesetz besondere subjektive Tatbestandsmerkmale, die unstreitig Bestandteile des personalen Handlungsunrechts sind, indem sie den Handlungswillen des Täters näher charakterisieren. Dies veranlaßt selbst Baumann, der bei der Anerkennung von subjektiven Unrechtsmerkmalen ansonsten für größte Zurückhaltung plädiert, zu dem Zugeständnis: "Die Lehre von den subjektiven Unrechtselementen angreifen, hieße dem Gesetzgeber die Freiheit der Tatbestandsformulierung bestreiten"11. Durchgesetzt hat sich die Lehre von den subjektiven Unrechtselementen zunächst bei den "Absichtsdelikten" (Delikten mit uberschießender Innentendenz). Hierzu zählen Delikte, bei denen der Täter einen Erfolg anstrebt, den er zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes nicht zu erreichen braucht. Ohne das subjektive (personale Element) kann hier der Deliktscharakter gar nicht bestimmt werden. Bsp.: § 242 StGB - Zueignungsabsicht bei Diebstahl, § 229 StGB - Absicht der Gesundheitsbeschädigung, § 267 StGB - Täuschungsabsicht im Rechtsverkehr. Der nächste Schritt bei der Durchsetzung der Lehre von den subjektiven Unrechtselementen war ihre Anerkennung bei den sog. Tendenzdelikten (Delikte mit intensivierter Innentendenz). Kennzeichen dieser Gruppe ist, daß die Tathandlung durch eine Willensrichtung des Täters beherrscht wird, die ihr erst das eigentliche Gepräge oder die besondere Gefährlichkeit für das geschützte Rechtsgut verleiht. Tendenzdelikte enthalten einmal die Sexualdelikte (§§ 174 ff. StGB), soweit sie nicht schon nach ihrem äußeren Erscheinungsbild eindeutig sexualbezogen sind. So wird z.B. die frauenärztliche Untersuchung erst

11

Baumann/Weber, AT, § 20 II.

I. Analyse des Unrechts

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dann zur sexuellen Handlung, wenn sie zu dem Zweck, mit der Tendenz erfolgt, eigene oder fremde Geschlechtslust zu erregen oder zu befriedigen. Ebenfalls zu den Tendenzdelikten zählen nach verbreiteter Ansicht12 Tatbestände mit Konstitutionsmerkmalen wie Geschäfts-, Gewerbs-, Gewohnheitsmäßigkeit oder Beharrlichkeit (§§ 144, 180 a I, II Nr.l, III, 181 a I, 184 a, 260, 292 III, 293 III, 302 a I I Nr. 2 StGB u.a.m.). In einem weiteren Sinne gehören hierher schließlich die Tatbestände, die finale Tätigkeitsworte verwenden. Beispiele dafür bilden die Merkmale "sich zueignen" in § 246, eine Straftat "vereiteln" in § 25813, eine falsche Tatsache "vorspiegeln" in § 263, eine echte Urkunde "verfälschen" in § 267, dem Wilde "nachstellen" in § 292, "entführen" in § 237 (BGHSt 29,233) oder "verführen" in § 182. Fraglich ist hierbei sogar, ob es überhaupt möglich ist, Tathandlungen rein objektiv - und dies bedeutet auch: frei von Wertungen - zu beschreiben. Als Beispiel mag das anerkannt objektive Tatbestandsmerkmal "Wegnahme" beim Diebstahl dienen. Wer Wegnahme als Bruch und Neubegründung von Gewahrsam definiert, den Gewahrsam unterdefiniert in tatsächliche Sachherrschaft mit Herrschafts willen, bekommt spätestens bei dieser Unterdefinition ein subjektives Element in das objektive Tatbestandsmerkmal der Wegnahme14. Bei allen diesen Delikten kann von der Innenseite der Tat nicht abgesehen werden, ohne daß die Tat ihren eigentlichen Sinngehalt als strafwürdiges Unrecht verlöre. d) Nach ganz h.L. bildet der Vorsatz als der unmittelbar gegen den Normbefehl gerichtete Handlungswille das Kernstück des personalen Handlungsunrechts.15 Für die finale Handlungslehre ergibt sich die Einordnung des Vorsatzes in das Handlungsunrecht des Tatbestandes von selbst, denn wenn die Handlung ihrer Natur nach nur als finale Sinneinheit verstanden werden kann, dann muß der Tatbestand, da er verbotene Handlungen beschreibt, alle finalen Momente und damit auch den Vorsatz umfassen. Aber auch vom Standpunkt der sozialen Handlungslehre aus, die in der tatbestandsmäßigen Handlung eine vom menschlichen Willen beherrschte 12

Vgl. z.B. Jescheck, AT, § 30 II 2 c; Maurach/Zipf, AT/1, § 22 Rz 53. Vgl. KG, StrVert 1988, 141 (142): Tatbestandsmäßig sind allein solche Handlungen, die dazu dienen, den Beschuldigten der Bestrafung zu entziehen und auch mit dieser Zielrichtung vorgenommen werden; insoweit enthält bereits der objektive Tatbestand des § 258 StGB ein subjektives Element." 14 Vgl. Baumann/Weber, AT, § 12 II 1 b. 15 Vgl. Jescheck, AT, § 24 III 4c m.w.N. zum Meinungsstand in FN 34, 36 sowie § 30; a.A. Baumann/Weber, AT, § 26 I, II 2. 13

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

rechtlich-soziale Sinneinheit erblickt, ist es konsequent, den Vorsatz zumindest auch16 dem subjektiven Unrechtstatbestand zuzuordnen: - So gibt es im geltenden Recht zahlreiche Vorsatztatbestände, die eine zweckgerichtete Handlungsbeschreibung enthalten. Beispiele hierfür wurden bereits oben bei den Tendenzdelikten genannt. Bei diesen Delikten läßt sich der Unrechtsgehalt der Handlung ohne Rückgriff auf den Tatbestandsvorsatz gar nicht bestimmen, weil sonst der eigentliche Handlungssinn verlorenginge 17. - Unstreitig ist auch, daß der Tatbestandsvorsatz beim Versuch ein subjektives Unrechtselement und nicht etwa ein Schuldelement darstellt, da allein der Vorsatz Auskunft darüber geben kann, welcher Tatbestand überhaupt verwirklicht ist. Weshalb sich an dieser systematischen Einordnung etwas ändern soll, wenn eine Tat vom Versuch in das Stadium der Vollendung übergeht, läßt sich nicht überzeugend begründen. - Außerdem zeigen die Fälle, in denen der Gesetzgeber strafrechtliche Sanktionen an vorsätzliche, aber schuldlose Tatbegehung knüpft (§§ 63, 64, 69, 70, 323 a StGB), daß trotz Wegfalls der Schuld vom Vorsatz als Steuerungsfaktor der Tat nicht abgesehen werden kann, weil sonst die Handlung, auf die sich die Rechtsfolge bezieht, nicht als tatbestandsmäßige Handlung festzustellen wäre. Den insoweit im Gesetz vorausgesetzten Vorsatz als Verhaltensform (Tatbestandsvorsatz) bezeichnet der BGH als natürlichen Vorsatz, um ihn vom Vorsatz als Schuldform abzugrenzen. - Die Unrechtsmerkmale müssen schließlich auch aus dem richtigen Verständnis der Strafrechtsnormen entwickelt werden. Dabei ist davon auszugehen, daß der in der Rechtsnorm verkörperte Wille der Rechtsgemeinschaft auf ein bestimmtes Verhalten des einzelnen gerichtet ist: Aufgabe des Strafrechts ist es, den Menschen im Hinblick auf den Schutz der für die Gemeinschaft unentbehrlichen Werte zu inhaltlich richtigem Wollen anzuleiten. Um den Eintritt sozialschädlicher Erfolge zu verhindern, sucht sie ihren bestimmenden Einfluß bei der Willensentschließung des Täters zur Geltung zu bringen. Unrichtiges Wollen ist demgemäß eine jede Willensbetätigung, durch die die strafrechtlich

16 Teilweise wird hier die Lehre von der Doppelnatur (oder Doppelfunktion) des Vorsatzes sowohl als Element des subjektiven Tatbestands wie auch als Schuldelement vertreten, vgl. z.B. Wessels, AT, § 5 III 5 m.w.N.; Jescheck, AT, § 24 III 5. 17 Vgl. BGHSt 24, 115 (120 ff.), wo bei der Frage der Zueignung auf den "sozialen Gesamtsinn des Geschehens" abgestellt wird.

I. Analyse des Unrechts

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geschützten Gemeinschaftswerte bewußt in Gefahr gebracht werden. Verboten ist eine Willensbetätigung, durch die der Deliktserfolg angestrebt wird, aber auch eine Willensbetätigung, die in dem Bewußtsein stattfindet, daß der Deliktserfolg damit notwendiger- oder möglicherweise verbunden ist. Damit ergibt sich aus dem Inhalt der Norm, daß außer den subjektiven Unrechtsmerkmalen i.e.S. auch der tatbestandsmäßige Handlungswille selbst Bestandteil des Handlungsunrechts ist.18 3.

Gesinnungsmerkmale als Bestandteil des Unrechts

Nicht alle Bestandteile einer Strafvorschrift, die seelische Faktoren beschreiben, gehören jedoch zu den subjektiven Unrechtsmerkmalen und damit zum personalen Handlungsunrecht. Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen diesen und Merkmalen der Schuld. Umstritten ist hierbei die systematische Einordnung sogenannter Gesinnungsmerkmale. Vor dieser Frage ist freilich zu klären, welche Merkmale überhaupt mit dem Begriff erfaßt werden sollen. Auch dies ist im einzelnen nicht unstreitig. Oft lassen sich Merkmale auch nicht eindeutig zuordnen 19. Dies ist z.B. der Fall bei den Mordmerkmalen "grausam" und "heimtückisch", wenn man hier im einen Fall zu einer objektiven Situation, nämlich der Zufügung besonderer Schmerzen, eine unbarmherzige Gesinnung fordert 20, oder im anderen Fall gleich die subjektive Situation der Arglosigkeit mit der objektiven Situation der Wehrlosigkeit verkoppelt 21. Zur Feststellung des Gesinnungsunwerts führt - so NolP 2 - das negative Werturteil über die Motive der Tat und die Gesinnung, die sich in der einzelnen Tat ausdrückt. Von dieser in der Einzeltat sich ausdrückenden aktuell-einmaligen Gesinnung ist zu unterscheiden die dauernde die Täterperson bestimmende Gesinnung, die lediglich die für die Strafzumessung bedeutsame Prognose über das künftige Verhalten des Täters ermöglicht.

18

Vgl. Jescheck, AT, § 24 III 4 c; Wessels, AT, § 5 i n 4. Vgl. hierzu Baumann/Weber, AT, § 12 II 1 b. 20 H.M., vgl. BGHSt 3, 180 (181); 3, 264; BGH, NStZ 1982, 379; Dreher/Tröndle, § 211 Rz 7; Horn in SK, § 211 Rz 43; Jähnke in LK, § 211 Rz 55; dagegen läßt Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 27, Kenntnis der Schmerzen ausreichen. 21 H.M., vgl. BGHSt 2, 251; 7, 218; 9, 385; 28, 211; 30, 115 f.; Dreher/Tröndle, § 211 Rz 6; Jähnke in LK, § 211 Rz 41 f. 22 Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 31. 19

6 Reichert-Hammer

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

Als Gesinnungsmerkmale gelten z.B.: - die Mordmerkmale - das Merkmal rücksichtlos in § 315 c I Ziff. 2 StGB, - die Tatbestandsalternativen "roh mißhandelt" und "durch böswillige Vernachlässigung" in § 223 b, - die Tatbestandsvariante "mittels eines hinterlistigen Überfalls in § 223 a. Als Ergebnis heftiger Kritik von Seiten der Rechtslehre23 wurden im Zuge der Strafrechtsreform jedoch zahlreiche Gesinnungsmerkmale wieder aus dem Strafgesetzbuch entfernt. So enthielt beispielsweise der mittlerweile aufgehobene § 170 c die Formulierung: "wer einer von ihm Geschwängerten gewissenlos die Hilfe versagt". § 170 d a.F. verlangte eine Kindesgefährdung dadurch, daß in gewissenloser Weise Fürsorgepflichten vernachlässigt werden. § 133 Abs. 2 und § 27 a a.F. benannten eine Strafschärfung bei gewinnsüchtiger Absicht. § 3 Abs. 1 Ziff.2 Wirtschaftsstrafgesetz 1954 schließlich beinhaltete den Begriff verantwortungslos. All diese Begriffe wurden durch objektivierbare Begriffe ersetzt. Vermehrt finden sich dagegen in neueren Strafgesetzen - entweder zur Bestimmung einer Strafschärfung oder als Abgrenzung von bloßen Ordnungswidrigkeiten - Konstitutionsmerkmale wie hartnäckig, gewerbs-, gewohnheits- und geschäftsmäßig. Auch diese Merkmale werden nicht rein objektiv bestimmt, sondern enthalten subjektive (Gesinnungs-)Elemente. Sie werden allerdings im allgemeinen bereits zu den Tendenzdelikten gerechnet24. Über diese auch heute noch in Strafgesetzen enthaltenen speziellen Gesinnungsmerkmale hinaus rechnet beispielsweise Noll 25 die Tendenzdelikte allgemein hierher. Die gleiche Handlung könne je nach Gesinnung des Täters erlaubte ärztliche Untersuchung oder unzüchtige Handlung sein. Unabhängig von der Terminologie ist jedenfalls für die Tendenzdelikte anerkannt, daß die vom Täter verfolgten Ziele schon den Wert- bzw. Unwertgehalt der Tat prägen und nicht erst bei der Schuld zu berücksichtigen sind.

23 24 25

Vgl. Jescheck, AT, § 42 n 3b; Baumann/Weber, AT, § 20 12. S.o. 2 c. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe., S. 35.

I. Analyse des Unrechts

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Im übrigen bleibt festzuhalten: der Gesinnungsunwert begründet für sich allein keine Rechtswidrigkeit. Es kann immer nur um die Frage gehen, ob die in der zu beurteilenden Tat zum Ausdruck kommende Gesinnung des Täters mit darüber entscheidet, ob eine Handlung überhaupt strafrechtliches Unrecht darstellt (z.B. bei den Konstitutionsmerkmalen) oder aber das Unrecht der Tat i.S. einer Erhöhung oder Ermäßigung beeinflußt (vgl. §§ 223 b, 211 einerseits, §§ 216, 217 StGB andererseits). Vertreten werden hier alle denkbaren Positionen. Die Diskussion um die Gesinnungsmerkmale stellt - so Baumann26 - eine jetzt allerdings differenziertere Neuauflage des alten Streits um die Frage der Anerkennung subjektiver Unrechtselemente dar. Die Rechtsprechung sieht in allen diesen Merkmalen Bestandteile der tatbestandlichen Unrechtsbeschreibung. Dementsprechend behandelt der BGH die §§ 211 und 212 StGB als zwei selbständige Tatbestände mit jeweils unterschiedlichem und abschließend umschriebenem Unrechtsgehalt 27 . In der Literatur werden Gesinnungsmerkmale teils ausschließlich als Kennzeichen des personalen Handlungsunrechts28, teils als reine Schuldbestandteile29 betrachtet, wieder andere Autoren vertreten eine differenzierende Auffassung, wonach Gesinnungsmerkmale teilweise zum Unrecht (unechte), teilweise zur Schuld zu rechnen seien (echte)30. Über die Einordnung im einzelnen herrscht jedoch weitgehend Uneinigkeit. Jescheck und Lenckner zählen beispielsweise die Mordmerkmale der 2. Gruppe, die Gröblichkeit der Begehungsweise und die Hinterlist bei § 223 a StGB zum Unrechtstatbestand, während sie die Merkmale der Roheit und Böswilligkeit bei § 223 b StGB sowie die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe zur Schuld rechnen. Baumann/Weber dagegen ordnen sämtliche Mordmerkmale dem Unrechtstatbestand zu. Wie willkürlich die Differenzierungslösung ist, zeigt sich z.B. auch darin, daß Schmidhäuser das

26 27

105. 28

Baumann/Weber, AT, § 20 I 2. Vgl. BGHSt 1, 370; 6, 330; 22, 377; im Grundsatz wiederum bestätigt durch BGH-GS-St 30,

Vgl. Jähnke in LK, vor § 211 Rz 46 ff.; Horn in SK, § 211 Rz 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT/1, § 2 Rz 43 ff.; Maurach/Zipf, AT/1, § 22 Rz 55 f. Für diefrüher h.L.: Welzel, Lehrbuch, S. 62, sowie grundlegend JZ 1952, 72 ff. 29 So die Lehre von den speziellen Schuldmerkmalen, vgl. Gallas, ZStW 67, 1 ff., 46; Haft, AT, 3. Teil, § 4, 2.; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 217 ff., inzwischen aber abweichend in ATLehrbuch, 8/92 ff, 10/124 ff., und AT-Studienbuch, 5/93 f, 7/131: zum Teil auch Unrechtsmerkmale. 30 So Jescheck, AT, § 2 II 3; Schmidhäuser, AT-Lehrbuch, 8/93; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 122; Baumann/Weber, AT, § 20 I 2.

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

Merkmal der Rücksichtslosigkeit in § 315 c StGB dem Unrecht, Jescheck das gleiche Merkmal der Schuld zuordnet 31. Richtig ist die Ansicht32, daß Gesinnungsmerkmale stets sowohl Unrechtsais auch Schuldelemente enthalten. Da sie immer einen verletzten Wert angeben, bedeuten sie immer auch eine Steigerung des Unwertes der Tat. Die Objekte strafrechtlicher Wertung wie Handlung, Vorsatz, Ziele, Motive und Gesinnung können grundsätzlich alle einer doppelten Wertung unterliegen, objektiv unter dem Gesichtspunkt des Unrechts und subjektiv unter dem Gesichtspunkt der Vorwerfbarkeit. Die so heiß umstrittene Trennung von Wertungsobjekten, die nur dem Unrechts- und solchen, die nur dem Schuldurteil unterworfen sind, ist kein logisch zwingendes Postulat33. Für den Bereich der besonderen Absichten und 'Tendenzen" sowie des Vorsatzes entspricht dies heute bereits herrschender Meinung34. Es ist nicht einzusehen, weshalb für Gesinnungsmerkmale etwas grundsätzlich anderes gelten sollte, zumal eine logisch eindeutige Abgrenzung zu den Absichts- und Tendenzdelikten nicht möglich ist.35 Der personale Handlungsunwert einer Tat wird also auch gekennzeichnet durch die in verschiedenen Tatbeständen enthaltenen Gesinnungsmerkmale. Die darin umschriebene Handlungsmodalitäten, Motivationen und Ziele des Täters prägen das Unrecht mit: Eindeutig trägt das StGB beispielsweise bei den Tötungsdelikten Abstufungen hinsichtlich des Gesinnungsunwerts bereits im Unrechtsbereich durch verschiedene Tatbestandsausbildungen mit unterschiedlichen Strafrahmen Rechnung: Je verwerflicher die Motivation des Täters erscheint, desto erheblicher ist der Grad des Unwerts der Tat. So beinhaltet eine Tötung aus niedrigen Beweggründen (§ 211 StGB) gegenüber einem Totschlag (§ 212 StGB) einen höheren Unwertgehalt 36. 31 Auf die dogmatischen Schwierigkeiten bei der Konzeption Jeschecks weist zutreffend hin: Jähnke in LK, vor § 211 Rz 47 f. 32 So Günther, Verurteilungen, S. 252,255 sowie implizit auch in JR 1985,268 (270); Jakobs, AT, 8/98; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 41 ff; Paeffgen, GA 1984, S. 255 ff.; in diese Richtung auch Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 6. Im Ergebnis entspricht dies der Linie der Rechtsprechung. 33 So nun auch Schmidhäuser, AT-Lehrbuch, 8/94. 34 Vgl. Jescheck, AT, § 24 III 5 m.w.N.; Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 13, Rz 55 und 120; Wessels, AT, § 5 III 5; Lackner, § 15 Anm. II 5 q Rudolphi in SK, § 16 Rz 3. Kritisch bezüglich einer Zuordnung auch zur Schuld: Maurach/Zipf, AT/1, § 22 Rz 6. 35 Vgl. oben die unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der Zuordnung der Konstitutionsmerkmale Gewerbsmäßigkeit etc. sowie der Tendenzdelikte überhaupt; wie hier Maurach/Zipf, AT/1, § 22 Rz 55. 36 Vgl. Günther, Verurteilungen, S. 255 - Fallgruppe 7.

Fernziele und Unrechtsbegründung

Aber auch die Privilegierung des § 216 StGB erklärt sich nicht nur abstrakt aus der besonderen Beziehung zwischen Täter und Opfer, sondern aus der speziellen - positiver bewerteten - Motivation (Mitleid mit dem Lebensmüden) und Zielsetzung des Täters (z.B. Befreiung von Schmerzen). Die Tötung nichtehelicher Kinder bei der Geburt durch die Mutter wird deshalb privilegiert (§ 217 StGB), weil der besondere Gemütszustand der Mutter ihre Motivation weniger verwerflich erscheinen läßt. Demgegenüber stellt die Tötung des gleichen Kindes in derselben Situation durch einen Dritten mit dem Ziel, Unterhaltszahlungen zu vermeiden, gesteigertes Unrecht dar (§ 211 StGB - Habgier). Auch das Merkmal "Rücksichtslosigkeit" bei § 315 c Abs. 1 Ziff.2 StGB verändert den Unwertgehalt der Tat entscheidend: eine bloße Verkehrsordnungswidrigkeit wird zur Straftat. Hier wird das Gesinnungsmerkmal zum Konstitutionsmerkmal der Straftat. II. Fernziele und Unrechtsbegründung 1. Überblick Bei der Analyse der unrechtsbegründenden Faktoren spielen "Fernziele", d.h. Ziele, die der Täter über die Verwirklichung des objektiven (Grund)Tatbestandes hinaus verfolgt, in verschiedenen Zusammenhängen eine Rolle: Dies gilt zunächst für die Delikte mit überschießender Innentendenz. So muß sich beim Diebstahl der Wille des Täters zunächst auf das Nahziel "Wegnahme einer fremden beweglichen Sache" beziehen. Aber erst seine weiteren Ziele, die dauernde Enteignung des bisherigen Eigentümers sowie die persönliche Aneignung der Sache, entscheiden über seine Strafbarkeit. Verfolgt der Täter dagegen über die Wegnahme hinaus das Ziel, die Sache nur vorübergehend in Gebrauch zu nehmen, bleibt er, von den Fällen des § 248 b StGB (unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs) abgesehen, straflos. Bei einem zusammengesetzten Delikt wie dem Raub kommt ein drittes Ziel hinzu. Erstes "Ziel", bzw. erster Schritt zur Tatbestandsverwirklichung ist die Zwangswirkung des Nötigungsmittels auf das Opfer, zweites Ziel die Wegnahme. Das dritte und eigentliche Ziel, auf das es dem Täter ankommt, ist die Zueignung der Beute. Das Erstziel ist Mittel zur Erreichung des zweiten. Die Zwangsausübung mit dem Ziel der Wegnahme einer täterfremden Sache macht die Nötigung verwerflich i.S. § 240 Abs. 2 StGB. Das dritte Ziel, die Zueignung der Sache, charakterisiert schließlich erst den Unwertgehalt des Raubes. Der Unwertgehalt der Tat

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

läßt sich hier also nicht aus einer isolierten Betrachtung der Täterziele erklären. Erst die Kombination der Ziele macht den Unwertgehalt aus, charakterisiert den Delikttypus. Bei den Delikten mit intensivierter Innentendenz und den Thtbeständen, diefinale Tätigkeitswörter verwenden, entscheidet zwar auch die Zielsetzung des Täters über dessen Strafbarkeit ("vorspiegeln", 'Verfälschen", "nachstellen", "vereiteln"). Hier verfolgt der Täter aber immer nur ein Ziel. Der Frauenarzt, der eine Frau sexuell belästigen will, verfolgt nur dieses eine Ziel. Er will die Frau in Wirklichkeit nicht untersuchen. Fernziele spielen dagegen wiederum eine Rolle bei den sogenannten Gesinnungsmerkmalen und hier wiederum vor allem bei den Tötungsdelikten. Diese sollen deshalb im folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen werden. 2. Zum Beispiel: Die Tötungsdelikte a) Unrechtserhöhende Faktoren - Übersicht Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung unterscheiden sich - wie dargestellt - nicht erst in der Schuld, sie stellen vielmehr schon verschieden schweres Unrecht dar. Anstelle eines einheitlichen Abgrenzungskriteriums wie etwa früher das Merkmal der Überlegung, das Mord und Totschlag unterschied37 - werden die Tötungsdelikte heute durch eine vielschichtige Kasuistik voneinander abgeschichtet, so z.B. durch 38: - Verschiedenartige Tötungsmodalitäten: Bei besonders gefährlicher oder brutaler Tatausführung (heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln) liegt erhöhtes (Mord-)Unrecht vor. Man könnte auch sagen: Das über das Töten hinausreichende weitere Ziel, etwa dem Opfer besondere Qualen zuzufügen, wirkt mordqualifizierend und damit unrechtssteigernd. Darüberhinaus stellt die Rechtsprechung bei diesen Mordmerkmalen zusätzliche Erfordernisse an die innere Tatseite39. - Unterschiedliche Motivation: Mordlust oder andere niedrige Beweggründe erhöhen das Unrecht, bei der Tötung aus Mitleid, infolge einer Provokation oder im Erregungszustand einer Geburt liegt dagegen vermindertes 37 Vgl. hierzu Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 4 m.w.N. Eine Übersicht zum früheren Meinungsstand gibt Welzel, JZ 1952, 72. 38 Zu diesen Einteilungskriterien vgl. Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 5. 39 Vgl. den guten Überblick bei Eser, NStZ 1981, 383 ff.

Fernziele und Unrechtsbegründung

Unrecht vor. Auch hier lassen sich vielfach, so insbesondere bei den niedrigen Beweggründen, Ziele formulieren, die zu erreichen das Motiv für das Handeln bilden40. Diese wird in vielen Fällen mit den in § 211 StGB genannten Zielsetzungen zusammenfallen. - Bestimmte Zielsetzungen: Tötet der Täter mit dem Ziel der Befriedigung des Geschlechtstriebes, um materiellen Vorteil zu erlangen oder aber um eine andere Straftat zu ermöglichen bzw. zu verdecken, erhöht dies das Unrecht, will er das Opfer dagegen auf dessen Wunsch von schweren Leiden befreien, vermindert dies das Unrecht der Tat. Die Fragwürdigkeit der Mordmerkmale sei im folgenden einmal dahingestellt und vom "real existierenden Strafrecht" ausgegangen. b) Die verschiedenen Zielsetzungen im einzelnen Das Femziel, das der Täter über das AfaAziel Töten hinaus verfolgt, ist also ein Faktor, der bei den Tötungsdelikten das Unrecht beeinflußt. Im folgenden wird beispielhaft untersucht, welche Zielsetzungen im einzelnen und unter welchen Voraussetzungen Einfluß auf den materiellen Unrechtsgehalt ausüben: - Durch die in Gruppe 3 erfaßten Zielsetzungen wird zum Mörder, wer einen Menschen tötet, um eine andere Straftat entweder zu ermöglichen oder zu verdecken. Der mordqualifizierende Unwert der Ermöglichungsabsicht liegt darin, daß die Tötung als Mittel zur Begehung weiteren kriminellen Unrechts dient. Die besondere Verwerflichkeit der Verdekkungsabsicht ist darin zu erblicken, daß ein Menschenleben, sei es als Opfer der zu verdeckenden Tat, als Tatzeuge oder als Verfolger vernichtet wird, um die eigene oder auch fremde Bestrafung zu vereiteln. - Zur Befriedigung des Geschlechtstriebs tötet, wer mit dem Ziel sexueller Befriedigung tötet oder tötet, um den Geschlechtsverkehr zu ermöglichen oder zu verdecken. - Das Streben des Täters nach materiellen Gütern um jeden Preis, auch um den Preis eines Menschenlebens stellt den Grund dar für den gesteigerten Vorwurf einer aus Habgier begangenen Tötung41.

40

Siehe auch unten b). Zur Definition der Begriffe Motivation und Zielsetzung vgl. Kapitel 3,1 2.1. und 2.3. 41 St. Rspr., vgl. BGH, NJW 1981, 932.

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Kap. 4: Fernziele und Unrectsbegrndung

- Schließlich wird auch eine Tötung aus niedrigen Beweggründen oft deshalb angenommen, weil der Täter mit der Tötung weitere Ziele verfolgt: - so bei der Tötung der Ehefrau, um ein Liebesverhältnis zu einer anderen Frau ungestört und ohne finanzielle Belastungen fortsetzen zu können42, - bei der Tötung mit dem Ziel, sich dadurch bessere Karrierechancen zu eröffnen bzw. sich einen sicheren Posten (im KZ) zu erhalten 43, - oder bei der Tötung der Ehefrau, um den Verlust des Sorgerechts zu verhindern 44. c) Bewertungskriterien Bei allen genannten Fallkonstellationen leitet sich das erhöhte Mordunrecht aus den vom Täter mit der Tötung bzw. über die Tötung hinaus verfolgten Zielen ab. Dabei kann sich erhöhtes Unrecht schon aus dem Ziel an sich ergeben, etwa dort, wo das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau verletzt wird. In vielen Fällen werden die Ziele aber isoliert betrachtet - von der Rechtsordnung sogar anerkannt. Sexuelle Kontakte sind gesellschaftlich durchaus erwünscht, das Streben nach Karriere und finanziellem Wohlstand oder gar die Ausübung des elterlichen Sorgerechts stellen von der Gesellschaft in höchstem Maße anerkannte Werte dar. Wie die Privilegierungen der §§ 257 Abs. 3, 258 Abs. 5 StGB sowie das Auskunftsverweigerungs- und Schweigerecht in §§ 55 und 243 Abs. 4 Satz 1 StPO zeigen, wird dem Täter grundsätzlich auch zugebilligt, seine eigene Bestrafung in bestimmtem Umfang zu vereiteln. Die Ziele dürfen jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Die Rechtsordnung gestattet nicht das Streben nach diesen Zielen um jeden Preis. Das gegenüber dem "Normalfall 11 einer Tötung erhöhte Unrecht, die größere Verwerflichkeit der Tat folgt in diesen Fällen nicht aus dem Ziel an sich, sondern aus dem Verhältnis von Mittel und Zweck. Erhöhtes (Mord-)Unrecht 45 liegt dann vor, wenn ein krasses Mißverhältnis besteht zwischen der Tötung (Nahziel) und dem mit ihr erstrebten weiteren, in § 211 StGB umschriebenen, von der Rechtsordnung an sich akzeptierten Ziel. Leitgedanke dieser negativen Bewertung bestimmter Ziele ist, daß sie

42

Vgl. BGHSt 3, 132. Vgl. BGH bei Holtz, MDR 1984, 441 f. 44 Vgl. BGH, StrVert 1984, 72. 45 So jedenfalls die h.M. Teilweise wird allerdings auch nur eine Schuldsteigerung angenommen. Hiergegen schon überzeugend: Welzel, JZ 1952, 72 ff. Vgl. auch in diesem Kapitel, I 3. 43

Fernziele und Unrechtsbegründung

alle Ausdruck übertriebener Eigensucht sind, eigene Ziele hier in besonders rücksichtsloser Weise auf Kosten anderer verwirklicht werden 46. Wann freilich - außer in den gesetzlich umschriebenen Fällen der Rechtfertigung - besteht kein krasses Mißverhältnis zwischen der Tötung eines Menschen und einem auch noch so positiven Ziel? Diese Überlegung führt deutlich die Fragwürdigkeit insbesondere des Mordmerkmals des "sonstigen niedrigen Beweggrundes" vor Augen47. Die vom BVerfG vorgeschriebene restriktive Tatbestandsauslegung kann hier jedenfalls nicht ernst genug genommen werden. d) Fernziele und Werte Fernziele können aber nicht nur Unwerte sondern auch Werte verkörpern. So wird der Unwert der Tat gemindert, wenn der Täter das Ziel verfolgt, dem Opfer dessen ausdrücklichen und ernsthaften Todeswunsch zu erfüllen (§ 216 StGB). Das Unrecht wird durch den Rechtsgutsverzicht des Opfers gemindert. Hierzu genügt aber nicht der objektive Rechtsgutsverzicht. § 216 StGB verlangt vielmehr weiter, daß der Täter durch das Verlangen des Opfers zur Tötung bestimmt wird. Die Tötung muß mit der Zielsetzung erfolgen, den Todeswunsch des Opfers zu erfüllen. e) Motivbündel Häufig verfolgt der Täter mit der Tötung nicht nur ein, sondern mehrere, von der Rechtsordnung unterschiedlich bewertete 48 Ziele. So bot das Opfer in einem vom BGH entschiedenen Fall dem Täter für die Tötung Geld, der Täter erstrebte zudem den Geschlechtsverkehr, tötete aber auch mit dem Ziel, den eindringlichen und lange gehegten Todeswunsch des Opfers zu erfüllen 49. Strebt der Täter mit der Tat verschiedene Ziele an (sog. Motiv- oder besser Zielbündel 50), so ist nur dann auf das einzelne Ziel abzustellen, wenn alle Voraussetzungen einer Privilegierung eingreifen. § 216 StGB

46 St. Rspr., vgl. BGH bei Holtz, MDR 1984,441 (niedrige Beweggründe); BGH, NJW 1981,932 (Habgier). Ebenso Baumann, NJW 1969,1280 f.; Paeffgen, GA 1982,269. Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 5: "Besondere sozialethische Verwerflichkeit''. 47 Zur Kritik vgl. Geilen, Bockelmann-FS, S. 642 f.; Plack, Plädoyer, S. 220 ff. 48 Diese Bewertung kann z.B. der unterschiedlichen Strafdrohung in verschiedenen Tatbeständen entnommen werden. So wird das in § 216 benannte Ziel weniger negativ bewertet als die in § 211 genannten. Positiv bewertet wird das Ziel, sich eines rechtswidrigen Angriffe in einer rechtfertigenden Situation zu erwehren. 49 Vgl. BGH, NJW 1981, 932 f. 50 Ein solches Zielebündel dürfte sogar im Normalfall vorliegen.

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Kap. 4: Fernziele und Unrectsbegründung

stellt einen selbständigen Tatbestand dar. Liegen seine Voraussetzungen vor, so ist eine Bewertung der Tat als Mord oder auch als Totschlag ausgeschlossen51. Im Ausgangsfall hatte sich die Getötete aber in einem ihre freie Selbstbestimmung ausschließenden Zustand befunden, weshalb § 216 StGB tatbestandlich nicht eingreifen konnte. In allen Fällen, in denen eine Privilegierung nicht greift, ist nicht auf das einzelne Ziel abzustellen. "Vielmehr ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters, insbesondere der Vielheit der ihn beherrschenden Vorstellungen und Erwägungen, so wie sie wirklich bestimmend geworden sind, festzustellen, wie das oder die entscheidenden Motive, durch welche der Tötungsentschluß seine wesentliche Kennzeichnung erfahren hat, zu bewerten sind"52. Mordunrecht liegt in diesen Fällen nur dann vor, wenn das Streben nach den mordqualifizierenden Zielen, etwa bei der Habgier nach dem materiellen Vorteil, bewußtseinsdominant gewesen, und nicht durch entlastende Umstände wie etwa Mitleid mit einer Schwermütigen oder Handeln aus akuter Not relativiert ist.

53

Im Ausgangsfall hat der BGH ausdrücklich festgehalten, daß das vom Angeklagten verfolgte, von der Rechtsordnung (§ 216 StGB) in seinem Unrechtsgehalt als weniger schwerwiegend beurteilte Ziel, dem Opfer seinen eindringlichen Todeswunsch zu erfüllen 54, das Unrecht der Tat soweit mindern kann, daß selbst bei gleichzeitig, aber nachrangig verfolgten mordqualifizierenden Zielen (Habgier, sexuelle Befriedigung) kein Mordunrecht vorliege. Genauso verhält es sich, wenn der Täter zwar nicht voll gerechtfertigt ist, sein Handeln aber entscheidend von der Vorstellung mitgeprägt ist, gerechtfertigt zu handeln. Auch beim Notwehrexzeß bzw. bei der Putativnotwehr, also nur partiellem Eingreifen von Rechtfertigungsgründen, ist bereits der Unwertgehalt der Tat u.U. erheblich gemindert, sodaß Mordunrecht selbst dann ausscheidet, wenn dem Täter der Tod des Opfers

51 Heute allgemeine Auffassung, vgl. etwa BGHSt 2, 258 ff.; Eser in Schönke/Schröder, § 216 Rz 2; Jähnke in LK, § 216 Rz.2. 52 So der BGH in ständiger Rechtsprechung zu den niedrigen Beweggründen und zur Habgier, vgl. BGH, NJW 1981, 933; BGH bei Holtz, MDR 1984, 441 und 1977, 809; BGH, GA 1974, 370 jeweils m.w.N.). Vgl. auch Eser, NStZ 1981, 383 (384 f.). 53 Oder wie Paeffgen, GA 1982, 261 ff., es ausdrückt, wenn es die beherrschende Kraft im Handlungsprozeß darstellte. 54 Dies war tatrichterlich nicht eindeutig festgestellt, weshalb die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen wurde.

m. Grenzen der Berücksichtigung von Fernzielen im Tatbestandsbereich

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zugleich auch gelegen kommt, um an eine Erbschaft zu gelangen oder Unterhaltszahlungen zu ersparen 55. 3. Fernziele und Gesinnung Der Unrechtsgehalt einer Tht wird in vielen Fällen also aus einer Kombination verschiedener vom Täter verfolgter Ziele geprägt. Ein über den objektiven (Grund-)Tatbestand hinaus reichendes Ziel zu verfolgen, mag zwar in vielen Fällen Ausdruck einer bestimmten, etwa besonders verwerflichen (hemmungslose, übersteigerte Eigensucht) oder auch politischen Gesinnung sein. Ebenso wie sich Motivation und Zielsetzung voneinander begrifflich unterscheiden lassen, lassen sich aber auch Zielsetzung und Gesinnung begrifflich voneinander trennen. Oben56 wurde festgestellt, daß sogenannte Gesinnungsmerkmale stets sowohl Unrechts- als auch Schuldelemente beinhalten. Soweit Tatbestände bestimmte Ziele als unrechtssteigernd oder -mindernd hervorheben, geben sie immer auch einen verletzten Wert (Unwert) bzw. einen positiv zu beurteilenden Wert an. Dem entspricht denknotwendig eine Steigerung bzw. Minderung des Unrechts der Tat. Die daraus abzuleitende, in der konkreten Tat zum Ausdruck kommende Gesinnung des Täters erhöht bzw. vermindert dagegen seine persönliche Schuld. Insofern ist es auch nicht richtig von "Gesinnungsunrecht11 zu sprechen. III. Grenzen der Berücksichtigung von Fernzielen im Thtbestandsbereich XJmzohlsbegründend oder -steigernd können Fernziele nur berücksichtigt werden, wenn sie tatbestandlich umschrieben sind. Hier bilden der Bestimmtheitsgrundsatz sowie das Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) unbedingte Grenzen. Es ist deshalb, um auf das bereits genannte Beispiel zurückzukommen, unbestritten, daß die Mordmerkmale in § 211 Abs. 2 StGB, jedenfalls insoweit abschließend gekennzeichnet sind, als nur bei positivem Vorliegen eines dieser Merkmale qualifiziertes Mordunrecht angenommen werden kann. Fehlt es daran, so scheidet § 211 StGB selbst dann aus, wenn der Täter auch noch so verwerfliche Ziele verfolgt 57. Auf Bedenken hinsichtlich 55 56 57

III 4.

Vgl. hierzu grundlegend: Günther, JR 1985, 268 ff. In diesem Kapitel, I. 3. Vgl. Dreher-Tröndle, § 211 Rz 2; Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 7; Wessels, BT/1, § 2

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

seiner hinreichenden Bestimmtheit stoßen muß dabei ein so vage formuliertes Tatbestandsmerkmal wie die Formel "oder sonst aus niedrigen Beweggründen". Freilich versucht die Rechtsprechung dem Problem durch eine sehr restriktive Auslegung dieses Mordmerkmals Rechnung zu tragen 58. Insbesondere bei politischer Zielsetzung des Täters ist hier sorgfältig darauf zu achten, ob die Wertsetzungen der Rechtsordnung eine Bewertung des Ziels als niedrig zulassen59. Viel interessanter im Rahmen dieser Arbeit aber: Können Fernziele zugunsten des Täters berücksichtigt werden? Auch hier ist die Antwort für den Bereich des gesetzlichen Tatbestandes im Grundsatz negativ. Auch Unrechtsmindernd können Fernziele im Tatbestandsbereich nicht beliebig zur Geltung gebracht werden. Ein von der Rechtsordnung positiv bewertetes Ziel ist zunächst dann einzubeziehen, wenn ein Tatbestandsmerkmal dies vorsieht (z.B. § 216 StGB). Dabei handelt es sich dann aber definitionsgemäß nicht um ein Femziel. Zulässig sind ferner die sog. teleologische Reduktion des Tatbestandes wie auch die Analogie zu Gunsten des Täters 60. Eine Grenze für diese Rechtsinstitute setzt allerdings der Wille des Gesetzgebers. Kein Raum für eine Analogie besteht deshalb dort, wo es an einer analogiefähigen Regel fehlt, wie auch da, wo einer Vorschrift der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen ist, daß eine über bloße Auslegung hinausgehende Einengung oder Erweiterung nicht zulässig sein soll61. Diese Einschränkungen folgen letztlich aus dem Bestimmtheitsgrundsatz. Dieser ist zwar in erster Linie Prozeßgrundrecht. Er erfüllt aber auch objektive Funktionen. Der einzelne hat zwar ein Recht darauf, daß das Bestimmtheitsgebot eingehalten wird. Das gebotene Maß an Bestimmtheit ist jedoch an objektiven Maßstäben ausgerichtet 62, so insbesondere an

58

Vgl. hierzu den bereits oben zitierten "Karrierefall" des BGH bei Holtz, MDR 1984, 441. Grundsätzlich zur Notwendigkeit restriktiver Tatbestandsauslegung: BVerfGE 45, 187; 54, 112. 59 Hierzu unten Kapitel 6, II 1. 60 Hierzu Baumann/Weber, AT, § 13 II; Eser in Schönke/Schröder, § 1 Rz 24 ff.; Jescheck, AT, § 15 III 2. 61 Vgl. Eser in Schönke/Schröder, § 1 Rz 35 m.w.N. 62 Vgl. Kunig in v.Münch, GGK, Art. 103 Rz 1, 21 ff., 28.

III. Grenzen der Berücksichtigung von Fernzielen im Tatbestandsbereich

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- der Gleichheit vor dem Gesetz, - der Vorausberechenbarkeit des Rechts, die dem Schutz des Normadressaten dient und die verhaltensdeterminierende Wirkung von Normen erst ermöglicht, - und - nicht zuletzt - an der Entscheidungszuständigkeit des Gesetzgebers über die Strafbarkeit 63. Diese Funktionen erlauben keine beliebige Berücksichtigung tatbestandlich nicht umschriebener Faktoren, auch nicht, wenn sich dies zu Gunsten des Täters auswirkt. Mit der oben schon erwähnten Rechtsprechung des BVerfGwonach der Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Rechtswidrigkeit deutlich relativiert wird, läßt sich dies durchaus in Einklang bringen. Der Tatbestand umschreibt den Unrechtstypus. Dieser muß vom Gesetzgeber bestimmt und für jeden Bürger klar erkennbar sein. Rechtfertigungs- bzw. Strafunrechtsausschließungsgründe 65 dagegen beschreiben Ausnahmesituationen, atypische Fälle, in denen solches (gesteigertes Straf-)Unrecht gerade nicht vorliegt. Die Vielgestalt der Lebenswirklichkeit erlaubt hier keine abschließende Positivierung. Eine Durchbrechung des Bestimmtheitsgebots stellen freilich die Lehre von der Sozialadäquanz und das Geringfügigkeitsprinzip dar. Beide Rechtsinstute sind allerdings gerade hinsichtlich ihrer Anwendung im Bereich des gesetzlichen Tatbestandes äußerst umstritten. Nicht zu unterschätzen sind schließlich die Spielräume, die die Möglichkeiten zulässiger Auslegung eröffnen. Auch dies sei zum Abschluß nochmals am Beispiel der Mordmerkmale aufgezeigt. Bei einigen Mordmerkmalen, so etwa bei der Heimtücke66, beschreitet die Rechtsprechung den Weg einer restriktiven Gesetzesauslegung, indem sie hier als zusätzliches (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal eine "feindliche Willensrichtung" des Täters gegenüber dem Opfer fordert 67. Verfolgt der Täter gegenüber dem Opfer feindliche Ziele, wird Mord bejaht. Wird sein Handeln dagegen von achtenswerten Zielen bestimmt, z.B. bei einer Tötung zum vermeintlich Besten des Opfers (Ersparen von Not oder Schande), wie insbesondere beim mißglückten Mitnahmesuizid,

63

Vgl. Eser in Schönke/Schröder, § 1 Rz 17 m.w.N. BVerfGE 73, 206 (238 f.). Zu dieser Problematik siehe auch Kapitel 2, II 3; Kapitel 4, III; Kapitel 5, II; Kapitel 10; Kapitel 12,1 2. 65 Hierzu unten Kapitel 10 - 12. 66 Ähnlich wird beim Mordmerkmal "grausam" eine "gefühllose, unbarmherzige Gesinnung" verlangt, vgl. RGSt 76, 299. 67 Vgl. BGHSt 9, 385 (390). 64

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Kap. 4: Fernziele und Unrechtsbegründung

soll kein erhöhtes Mordunrecht vorliegen 68. Für die Fälle des Motivbündels verlangt die Rechtsprechung darüberhinaus zumindest bei einigen Mordmerkmalen eine Gesamtbewertung der Tht, also eine Abwägung aller Beweggründe, Ziele und Interessen, die für den Täter handlungsleitend waren 69. Die wohl herrschende Lehre von der negativen Typenkorrektur 70 sucht "solchen Halbheiten" zu Recht abzuhelfen, indem sie den Mordmerkmalen lediglich indizielle Bedeutung beimißt und stets eine Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters und aller Tatumstände verlangt. Dies eröffnet die Möglichkeit, nicht nur bei altruistisch motivierter Heimtücke, sondern auch bei Tötung aus Verdeckungsabsicht Mord zu verneinen, wenn der Täter hier gleichzeitig achtenswerte bzw. weniger verwerflich erscheinende Ziele verfolgt. Der in sich völlig verunglückte, zu Recht umstrittene Mordtatbestand mit seiner oft als ungerecht empfundenen, unausweichlichen Strafdrohung lebenslanger Freiheitsstrafe bildet hier freilich eine Ausnahme. Zumeist bewegen sich die Spielräume restriktiver Auslegung in sehr viel engeren Bahnen. Durchsetzen konnte sich die Lehre von der negativen Typenkorrektur in der Praxis bisher nicht einmal beim Mord. Festzuhalten bleibt deshalb: Über die geschriebenen Tatbestandsmerkmale hinausgehende (Fern-)Ziele des Täters können im Bereich der Unrechtsbegründung nur in sehr begrenztem Umfang im Rahmen der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen berücksichtigt werden. Weitere Korrekturmöglichkeiten bilden das Geringfügigkeitsprinzip sowie die Lehre von der Sozialadäquanz. Grundsätzlich aber gilt: Aufgabe des Tatbestandes ist es, verallgemeinernd einen Unrechtstypus festzulegen. Atypische Fälle werden nur dann nicht erfaßt, wenn sich Sinn und Zweck der Vorschrift entnehmen läßt, daß der Gesetzgeber entsprechendes Verhalten generelP nicht unter Strafe stellen wollte und sich diese Interpretation mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbaren läßt.

68 69 70

Vgl. BGHSt 9, 385; 11, 143; BGH bei Holtz, MDR 1981, 267. S.o. n 2 e). Vgl. Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 10; Günther, JR 1985, 268 ff.; Horn in SK, § 211

Rz 6. 71

D.h. nicht nur in der besonderen Situation des Einzelfalles.

1

Kapitel 5

Die Berücksichtigung von Fernzielen Charakteristikum der Rechtfertigungsgründe I. Die Grundstruktur der klassischen Rechtfertigungsgründe Während also im Bereich der Tatbestandsmäßigkeit Fernziele des Täters negativ nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn dies ausdrücklich bestimmt ist und positiv auch nur ausnahmsweise bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen in Betracht kommen, ist es geradezu ein Charakteristikum der Rechtfertigungsgründe, Ziele, die der Täter mit oder über die Tatbestandsverwirklichung hinaus verfolgt, wertend zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Exemplarisch kann dies am Beispiel der Notwehr aufgezeigt werden. Verfolgt der Täter mit der Tatbestandsverwirklichung (bis hin zur Tötung des Angreifers) das Ziel, sich oder einen Dritten gegen einen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen, entfällt das Unrecht der Tat. Dies gilt freilich nicht unbeschränkt, die Rechtfertigung ist vielmehr an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft: Rechtsgüter des Handelnden oder eines Dritten müssen objektiv und noch fortdauernd gefährdet sein (Notwehrlage). Die Handlung muß dem Ziel der Angriffsabwehr objektiv dienen (Erforderlichkeit der Notwehrhandlung). Sie ist bestimmten normativen, wenn auch sehr weit gefaßten Grenzen unterworfen (Gebotenheit der Abwehrhandlung). Schließlich muß das Ziel auch subjektiv angestrebt werden (Verteidigungswille bzw. zumindest Kenntnis der Notwehrlage). Damit ist die Grundstruktur der klassischen Rechtfertigungsgründe aufgezeigt: Bei Vorliegen einer objektiv zu ermittelnden Gefahrenlage muß das Handeln dem Ziel der Gefahrenabwehr objektiv dienen und bestimmte normative Grenzen beachten. Subjektiv muß das Ziel der Gefahrenabwehr angestrebt werden. Diese Grobstruktur gilt nicht nur für die Notwehr. Sie läßt sich, wenn auch naturgemäß mit Abweichungen insbesondere hinsichtlich der normativen Einschränkungen, auf den rechtfertigenden

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Kap.5: Die Berücksichtigung von Fernzielen

Notstand übertragen und dient auch als Grundmodell 1 für § 218 a StGB, wobei dort in den Fällen des Absatzes 2 an die Stelle einer Gefahrenlage die Notlage der Schwangeren tritt. IL Allgemeine Prinzipien der Rechtfertigung Nach überwiegender Ansicht lassen sich die Rechtfertigungsgründe auf zwei Grundsituationen zurückführen, die auch als Prinzip des überwiegenden bzw. des mangelnden Interesses umschrieben werden2: (1) Das Interesse am Schutz des verletzten Rechtsguts gerät in Widerstreit mit anderen, wichtigeren Interessen und wird durch diese verdrängt, so z.B. bei Notwehr und Notstand, oder (2) es entfällt deshalb, weil der Inhaber des .Guts in der konkreten Situation auf Schutz verzichtet (z.B. bei der Einwilligung). Freilich handelt es sich auch im letzteren Fall um eine Interessenabwägung, da hier der Gebrauch der persönlichen Freiheit mit dem geschützten Rechtsgut, vor allem aber mit dem Gemeinschaftsinteresse an der Erhaltung der Güter kollidiert. Die Einwilligungsbefugnis des Rechtsgutsinhabers hat ihre Wurzel zwar in der verfassungsrechtlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit. Dem Selbstbestimmungsrecht sind aber da Schranken gezogen, wo seine Verwirklichung auf gewichtigere Gegeninteressen trifft 3. Ein Beispiel hierfür bilden ärztliche Eingriffe in die Körperintegrität. Trotz Einwilligung ist nicht jeder Eingriff gerechtfertigt. Die Rechtfertigung ist vielmehr abhängig von der rechtlichen Bewertung des mit dem Eingriff verfolgten Ziels. Als Grenze ist hier vor allem § 226 a StGB zu beachten. Entscheidend ist danach, ob die Tht gegen die guten Sitten verstößt. Ein Verstoß gegen die guten Sitten liegt nach der Rechtsprechung4 dann vor, wenn eine Handlung "dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zuwiderläuft". Diese Formulierung ersetzt freilich einen unbestimmten 1 Auch hier mit einer Reihe spezifischer, zusätzlicher Erfordernisse. Der Abbruch ist nach § 218a nur gerechtfertigt innerhalb bestimmter Fristen bei einem Eingriff durch einen Arzt, nach Beratung und mit Einwilligung der Schwangeren. 2 Vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 32 ff. Rz 5 ff.; ders., Notstand, S. 133 ff.; ders., GA 1985, 295 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 169 ff. 3 Vgl. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 74 ff., einerseits; Lenckner, GA 1985, 302 f., andererseits. 4 Vgl. BGHSt 4, 24 (32); 4, 88 (91).

IL Allgemeine Prinzipien der Rechtfertigung

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Begriff durch einen anderen. Um den Bedenken hinsichtlich des - im Bereich der Rechtswidrigkeit allerdings nur eingeschränkt geltenden Bestimmtheitsgebots Rechnung zu tragen, ist die Annahme eines Verstoßes gegen die guten Sitten auf die Fälle zu beschränken, in denen allgemein gültige Wertmaßstäbe, die vernünftigerweise nicht anzweifelbar sind, zu einem eindeutigen Sittenwidrigkeitsurteil führen 5. Streitig ist, ob insoweit die Tat isoliert von dem mit ihr verfolgten Zweck, d.h. allein nach Art und Umfang des tatbestandsmäßigen Rechtsgutsangriff zu betrachten ist6 oder ob auch dem Thtzweck Bedeutung zukommt, wie die h.M. zu Recht annimmt7. Ohne Einbeziehung des Tatzwecks ist eine sachgerechte Beurteilung gar nicht möglich. Soweit der Täter positive Ziele verfolgt (z.B. Organentnahme zwecks Transplantation), soll dem auch nach der Gegenmeinung Gewicht beizumessen sein (Kompensierumaßstab wird. Da die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstoßen muß, ist der Verzicht des Rechtsgutschutzes stets mitzuberücksichtigen. Bei geringfügigen Eingriffen wirkt sich der sittenwidrige Zweck nicht so stark aus, daß der Körper schützenswert bleibt, obwohl der Rechtsgutsträger selbst auf diesen Schutz verzichtet. Unproblematisch gerechtfertigt ist danach der ärztliche Heileingriff, ein Eingriff also, der objektiv wie auch subjektiv dem Ziel dient, (1.) den Patienten zu heilen und (2.) den Willen des aufgeklärten und deshalb selbstverantwortlich handelnden Patienten zu verwirklichen. In allen anderen Bereichen bestehen jedoch schwierige Abgrenzungsprobleme, die jeweils eine eingehende Interessenabwägung notwendig machen. Beispielhaft seien genannt8: - "Heif-eingriffe mit experimentellem Charakter: Hierzu zählen das Humanexperiment und der Heilversuch, in neuester Zeit die sog. GenTherapie"; - fremdnützige Eingriffe (Blut- und Organspende zu Gunsten Dritter); - funktionsverändernde Eingriffe (Psychochirurgie, Geschlechtsumwandlung, Sterilisation);

5 Vgl. BGHSt 4, 32; Eser in Schönke/Schröder, § 226 a Rz 6. Noch restriktiver: Horn in SK, § 226 a Rz 9. 6 So etwa Hirsch in LK, § 226 a Rz 9. 7 Vgl. RGSt 74, 94; Dreher/Tröndle, § 226 a Rz 9; Eser in Schönke/Schröder, § 226a Rz 7. 8 Vgl. zum Ganzen Eser in Schönke/Schröder, § 223 Rz 49 f. 7 Reichert-Hammer

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Kap.5: Die Berücksichtigung von Fernzielen

- kosmetische Eingriffe (zur Vermeidung seelischer Belastungen, zur Identitätstäuschung); - Fälle von Patientenunvernunft. Der Streit, ob sich alle Rechtfertigungsgründe auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen lassen, kann im Rahmen dieser Arbeit freilich dahinstehen. Der beschränkte Nutzen solcher Einteilungen ist verschiedentlich hervorgehoben worden9. Im Bereich politisch zielgerichteten Verhaltens erlangen ohnehin nur die Rechtfertigungsgründe der ersten Gruppe Bedeutung, deren Gemeinsamkeit jedenfalls darin besteht, daß sie einen Interessenkonflikt zu Lasten des vom Täter verletzten Rechtsguts regulieren. Dies gilt für die Notwehr, den Notstand, die Pflichtenkollision und die Wahrnehmung berechtigter Interessen auf der einen Seite ebenso wie für die zahlreichen hoheitlichen Eingriffsrechte auf der anderen Seite. In allen diesen Fällen können bedrohte Werte oder Interessen nur dadurch geschützt werden, daß der Handelnde andere Werte oder Interessen verletzt 10. Eine straftatbestandsmäßige Handlung, mit der der Täter das Ziel verfolgt, bedrohte Werte und Interessen zu schützen, ist dann gerechtfertigt, wenn an der Zulassung des Eingriffs in die fremde Interessensphäre nach den Wertmaßstäben der Rechtsordnung ein überwiegendes Interesse besteht. Verschieden sind nur Art und Inhalt dieser Interessen, aber auch, wie weit das Prinzip des überwiegenden Interesses bei den einzelnen Rechtfertigungsgründen konkretisiert ist11. Bei §§ 32, 218 a StGB etwa gibt der Gesetzgeber genauere Kriterien zur Hand als bei § 34 StGB, wo er sich auf die Wiedergabe des allgemeinen Rechtfertigungsprinzips beschränkt. Mehreres bleibt zum Abschluß hervorzuheben: (1) Die Ebene der Rechtswidrigkeit stellt sich als klassisches Feld der Lösung von Interessenkonflikten heraus. Hier bestimmt sich, in welchen Fällen vom Täter verfolgte Ziele ausnahmsweise einen tatbestandsmäßigen Eingriff in Rechte Dritter erlauben. Von Günther n ist die (Straf-)Rechtswidrigkeit deshalb zu Recht als "Domäne der Gegeninteressen" bezeichnet worden. 9 So etwa von Baumann/Weber, AT, § 19 III 3 a; Hirsch in LK, vor § 32 Rz 48; Jescheck, AT, § 31 II 3. 10 Vgl. Lenckner, GA 1985, 295 (303 f.). 11 Vgl. Lenckner, GA 1985, 295 (305 f.). 12 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 172 ff.

IL Allgemeine Prinzipien der Rechtfertigung

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(2) Jeder Versuch der Rückführung von Rechtfertigungsgründen auf ein allgemeines Prinzip darf den materialen Charakter der Rechtswidrigkeit nicht antasten13. "Die Rechtsordnung kann wegen der immer stärker werdenden sozialen Bindung des Menschen Rechtsgüter nicht absolut, sondern nur relativ schützen. Sie hat auf die mannigfaltigen Gebundenheiten des Individuums Rücksicht zu nehmen, muß in bestimmten Bereichen Rechtsgüter preisgeben, in anderen Bereichen bestimmte Angriffsarten auf Rechtsgüter zulassen. Auch daraus ergibt sich, daß nicht nur wenige Rechtfertigungsgründe bestehen können: Bei jedem einzelnen Tatbestand ist zu fragen, welche der bisher bekannten Rechtfertigungsgründe relevant werden können und auch, ob nicht neue Rechtfertigungsgründe aufgestellt werden müssen."14 Die Zahl der Rechtfertigungsgründe ist damit grundsätzlich offen. Dies folgt schon aus der Grenzenlosigkeit ihres Herkunftsbereichs, der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, aber auch daraus, daß sie teilweise wie etwa die allgemeinen Regeln des Völkerrechts - der Regelungskompetenz des nationalen Gesetzgebers entzogen sind. Entscheidend ist jedoch, daß die äußeren Verhältnisse und die herrschenden Wertvorstellungen der Gesellschaft sich ändern 15, sodaß immer wieder neue Rechtfertigungsgründe entstehen oder bestehende wegfallen oder ausgedehnt bzw. eingeschränkt werden können. Daraus folgt, daß eine gesetzliche Regelung gar nicht abschließend sein dürfte 16. Die Existenz überpositiver Rechtfertigungsgründe ist deshalb allgemein anerkannt. Andererseits findet der materielle Charakter der Rechtswidrigkeit formale Grenzen. Zwar ist die Zahl möglicher Rechtfertigungsgründe grundsätzlich unbegrenzt. Sie werden jedoch nur dann berücksichtigt, wenn sie nach ihrer Entwicklung aus dem materiellen Rechtswidrigkeitsgedanken durch Rechtsprechung und Lehre in einen zwar erweiterungsfähigen, aber doch stets erneut zu schließenden Katalog aufgenommen sind. Diese formale Beschränkung gründet auf mehreren Erwägungen: Nur die normative und soziologische Anerkennung fester Rechtfertigungsgründe vermag vor reinen Einzelfallentscheidungen nach individuellem Rechtsgefühl des Urteilers zu bewahren. Nur sie sichert Berechenbarkeit und

13 Vgl. hierzu Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 112 ff., 141 f.; Baumann/Weber, AT, § 19 II, III 3 a; Jescheck, AT, § 24 I 3, § 31 III 2, 3; ders. in LK, vor § 13 Rz 38; Rärin, Kriminalpolitik, S. 12 f. Kritisch Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 ff. Rz 50, vgl. aber auch vor §§ 32 ff. Rz 28. 14 Baumann/Weber, AT, § 19 III 3 a.E. 15 Z.B. die Bedrohung des Staates durch äußere Feinde, die Verankerung demokratischen und rechtsstaatlichen Bewußtseins in der Bevölkerung (vgl. Weimarer Zeit und Bundesrepublik). 16 Hierzu Jescheck, AT, § 31 II 4, III 2.

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Kap.5: Die Berücksichtigung von Fernzielen

Transparenz des Strafrechts. Rechtfertigungsgründe sind Eingriffsrechte. Solchermaßen erlangte Rechtssicherheit ist deshalb nicht nur für den Täter, sondern auch für das Opfer von höchster Bedeutung17. Der letzte Gesichtspunkt macht deutlich, warum dort, wo es nicht um rechtliche Billigung, sondern wie bei § 240 Abs. 2 StGB nur um den Ausschluß strafrechtlichen Unrechts geht, die Anforderungen an Rechtssicherheit und Bestimmtheit (noch) geringer sind. (3) Schon aus dem bisher Gesagten folgt, daß dem Bestimmtheitsgrundsatz auf der Ebene der Rechtswidrigkeit keine Bedeutung zukommen kann18. Dies gilt darüberhinaus auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung normierter Rechtfertigungsgründe. So trifft etwa § 34 StGB keine Bestimmung darüber, wann eine Rechtfertigung im Einzelfall anzunehmen ist. Diese Feststellung muß das Gesetz wegen der Vielfalt möglicher Fallgestaltungen den Gerichten überlassen. Eine wirkliche Entscheidung des Gesetzgebers ist nur dort möglich, wo er eine ganz bestimmte, in dieser Form immer wiederkehrende Konfliktsituation regeln will. Ein Beispiel hierfür liefert § 218 a StGB, wobei der Gesetzgeber den Gerichten auch hier weite Spielräume offengehalten hat 19 .

17 18 19

So zutreffend: Tiedemann, JZ 1969, 721. Vgl. auch Jescheek, AT, § 31 m 3. Vgl. hierzu auch Kapitel 2, II 3; Kapitel 4, in; Kapitel 10, Kapitel 12,1 2. Hierzu Lenckner, GA 1985, 295 (306 f.).

D r i t t e r

T e i l

Politische Fernziele und Rechtfertigung Kapitel 6

Politische Fernziele und Unrecht Dogmatischer Standort: Rechtswidrigkeit L Politische Fernziele 1. Unterschiede werden gemacht Daß unterschiedliche Fernziele von Tätern offenkundig zu Unterschieden in der rechtlichen Bewertung der Tht führen können, wurde bereits dargelegt1. Nicht anders verhält es sich bei politischen Zielen, etwa bei einer strafbaren Handlung (Beleidigung), die in Ausübung eines Grundrechts (Meinungsfreiheit) erfolgt. Vielfach werden auch Unterschiede gemacht, ohne diese offenzulegen oder gar dogmatisch zu begründen. Verdeutlicht wurde dies am Beispiel der Sitzblockaden2. 2. Begriffsbestimmung Der Begriff Femziel wurde definiert als das mit der Tht über die Verwirklichung des objektiven (Grund-)Tatbestandes hinaus eigentlich verfolgte Ziel. Politisches Fernziel ist demnach das mit der Tht verfolgte politische Ziel oder Anliegen. Der Begriff des Politischen ist dabei weit zu fassen. Im modernen Staat stehen alle gesellschaftlichen Bereiche der Gestaltung und Einflußnahme durch die Politik offen. Dies gilt sowohl in thematischer Hinsicht wie auch 1 2

s.o. Kapitel 3, L Vgl. Kapitel 2, m.

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

für die verschiedenen Ebenen der Politik (Kommunalpolitik bis hin zur Weltpolitik)3. Der Begriff umfaßt also nicht nur alle die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen wie Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Arbeitsplätze oder Umweltschutz, sondern bezieht sich auf alle Angelegenheiten, die die Gesellschaft oder auch nur Teile der Gesellschaft betreffen 4. 3. Politische Fernziele - Politische Kriminalität Die Bestimmung dessen, was unter politischen Fernzielen zu verstehen ist, kann nicht ohne Rückgriff auf die bisherige Diskussion um politische Kriminalität 5 vonstatten gehen. Dabei sind verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden6, was gleichzeitig eine Eingrenzung des Gegenstandes dieser Arbeit ermöglicht: (1) Zur politischen Kriminalität werden zunächst alle Straftaten gerechnet, die einen Angriff auf den Bestand oder die Verfassungsordnung des Staates darstellen. Dazu gehören einmal die Handlungen, die durch die besonderen Tatbestände der Staatsverbrechen - insbesondere Hochverrat, Landesverrat und Staatsgefährdung - erfaßt werden. (2) Daneben stehen die Handlungen, deren Strafbarkeit sich aus den Strafbestimmungen des allgemeinen Strafrechts ergibt, die aber zugleich einen Angriff auf den Bestand oder die Verfassungsordnung des Staates enthalten. Hierzu zählen Taten, mit denen die Abtrennung eines Teils des Staatsgebietes erreicht werden soll (Nordirland, Baskenland), aber auch Aktivitäten der Roten-Armee-Fraktion (RAF), die mit der Entführung und Ermordung hochgestellter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Staat erpressen und auf diesem Wege ihr politisches Ziel, die Umwälzung der staatlichen Ordnung, durchsetzen will. Diese zweite Gruppe wird häufig als "politisch motivierte Kriminalität" bezeichnet. Zu Recht hält Grünwald 7 diese Bezeichnung für unzutreffend. 8 3

Vgl. Meyers Neues Lexikon, Band 6, S. 328. Ebenso BGHSt 35, 270 (280 f.); OLG Stuttgart, NStZ 1988, 129 (130); Dreier in Glotz (Hrsg.), S. 63. 5 Der Begriff ist zu unterscheiden von dem der politischen Justiz, der mit negativer Wertung zumindest auch die in rechtsstaatswidriger Weise von den jeweiligen Machthabern aus politischen Gründen gegen ihre Gegner angestrengten Prozesse mit umfaßt, vgl. z.B. Grimm aaO. S. 3 ff., 151 ff., s. auch unten Fallgruppe (4). 6 Hierzu u.a. Grünwald, Aspekte der Bewertung politischer Straftaten, sowie Schünemann, Politisch motivierte Kriminalität, beide in: Politisch motivierte Kriminalität - echte Kriminalität ?, hrsg. von de Boor, S. 20 ff. und S. 49 ff. 7 Grünwald, aaO, S. 22 f. 4

I. Politische Fernziele

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Maßgebend für die Zuordnung einer Straftat zur politischen Kriminalität ist nach seiner Auffassung nicht die Motivation des Täters (möglicherweise ganz eigensüchtig) und auch nicht seine Zielsetzung, allein entscheidend sei die Angriffsrichtung gegen den Bestand oder die Verfassungsordnung des Staates. Grünwald definiert diese Delikte somit als "gegen den Staat gerichtete Verletzungen allgemeiner Strafgesetze". Auf die Zielsetzung will Grünwald deshalb nicht abstellen, weil damit der Bereich der politischen Kriminalität noch zu eng gefaßt würde. Gleichzeitig bestimmt er aber die Angriffsrichtung danach, welchem Ziel die Aktion nach den Vorstellungen der Beteiligten (nicht des einzelnen Beteiligten) dienen soll. Einbeziehen will er also auch diejenigen Beteiligten, die rein persönliche Ziele verfolgen (z.B. den Waffenhändler, die Geliebte, denen der Umsturz gleichgültig ist). Grünwald benötigt die Differenzierung zwischen Angriffsrichtung (Zielvorstellung aller 9) und Zielen der einzelnen Beteiligten nur deshalb, weil er ohne Not Ziel nur als Endziel definiert. Ein dogmatischer Unterschied zwischen Nah-, Zwischen-und Endziel besteht aber, wie bereits dargelegt, nicht. Durch die Tat wirken der Waffenhändler wie auch die Geliebte am Umsturz mit. Diese Mitwirkung mehr können sie durch den konkreten Tatbeitrag ohnehin nicht leisten ist für beide notwendiges Zwischenziel hin zu dem Endziel, Geld zu verdienen bzw. die Liebe zu retten. Ziel und Angriffsrichtung sind also identisch. Beides sind wohlgemerkt objektive Begriffe, die sich allerdings nicht ohne Rückgriff auf die subjektiven Vorstellungen, die Zielsetzung der Täter, klären lassen. Die Definition Grünwalds für diese zweite Fallgruppe als "gegen den Staat gerichtete Verletzungen allgemeiner Strafgesetze" kann freilich dennoch aufrecht erhalten bleiben. (3) Mit den beiden genannten Fallgruppen werden nicht alle Handlungen erfaßt, die zugleich politisches Handeln und straftatbestandsmäßig sind. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen für straftatbestandsmäßige Handlungen, durch die Einfluß auf die Gesellschaft und die Funktionsträger des Staates genommen wurde oder werden sollte, ohne daß der Bestand oder die Verfassungsordnung des Staates angegriffen wurden. 10 An Geschehnissen in der Bundesrepublik sind etwa die o.g. Sitzdemonstrationen zu nennen, soweit man hier den Tatbestand der Nötigung annimmt. Hierzu zählen

8

Wenig hilfreich ist auch die von Schünemann, aaO, S. 51, 53 ff., gewählte Bezeichnung als subjektiv politische Kriminalität, zumal er später (S. 60 f.) allein auf objektive Abgrenzungskriterien abstellt. 9 Welcher? - Hier ist die Definition ungenau! 10 Hierzu Grünwald, aaO, S. 23 f.; Schünemann, aaO, S. 60.

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

aber auch Boykottaufrufe gegen die Volkszählung11, Hausfriedensbrüche und Sachbeschädigungen, die bei Besetzungen der Baustellen von Kernkraftwerken begangen wurden 12 bis hin zu den Sprengungen von Strommasten nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl13. In vielen Fällen, fraglich allerdings bei der letzten Gruppe, wurden diese Handlungen von Menschen begangen, die die Verfassungsordnung gerade verteidigen wollten, die sich auf ihnen (u.U. nur vermeintlich) zustehende Rechte beriefen und nur punktuell dem Mißbrauch staatlicher Macht entgegentreten oder aber schwere Gefahren für die Allgemeinheit abwenden wollten. Ganz deutlich zeigt sich dies darin, daß die Betroffenen in aller Regel ihre Rechte auch bei den Gerichten einklagten14. Hierher gehören aber auch Taten, mit denen ausschließlich eigennützige oder Gruppeninteressen im politischen Raum verfolgt werden. (4) Eine vierte und letzte Gruppe von Straftaten, mit denen politische Zwecke verfolgt werden, bilden diejenigen, die unter Mißbrauch der Staatsgewalt gegen politische Gegner der jeweiligen Regierung begangen werden. Hierunter fallen alle Eingriffe in strafrechtlich geschützte Rechte der Bürger, die von einem Amtsträger im vermeintlichen Staatsinteresse unter Überschreitung der rechtlichen Grenzen vorgenommen werden. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Sachverhalte mit unerlaubten Verhörmethoden bzw. Beweismitteln aufgeklärt werden 15 oder wenn Demonstrationen willkürlich zusammengeknüppelt werden. Anschauungsunterricht für solcherlei Mißbrauch staatlicher Macht mit politischem Fernziel lieferte eindrucksvoll auch die Barschel-Pfeifer-Affäre 16. Einer sehr interessanten Grenzsituation begegnet man schließlich beim Einsatz polizeilicher V-Leute und Lockspitzel.

11 Hier kam es zu zahlreichen Beschlagnahmen von Flugblättern und sogar Veranstaltungsverboten, weil in den Boykottaufrufen die Aufforderung zur Sachbeschädigung an den Erhebungsbögen gesehen wurde, so die jeweiligen Staatsanwaltschaften sowie LG Bonn AZ: 31 Qs 62/87 und OVG Koblenz, NJW 1987, 2250; verneinend u.a. LG Karlsruhe - auswärtige Strafkammer Pforzheim - AZ: Qs 107/87; LG Lübeck StrVert 1987, 298; LG Osnabrück StrVert 1987,398; LG Aachen StrVert 1987, 443; LG Koblenz StrVert 1987, 443; AG Hannover StrVert 1987, 444. 12 Z.B. die Platzbesetzungen in Wyhl, Brokdorf und Wackersdorf. 13 Nach der Atom-Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 hat die Zahl der Straftaten militanter Kernkraftgegner in Baden-Württemberg stark zugenommen. Der Bericht des LKA über die Staatsschutzkriminalität 1986 weist 24 Anschläge auf Einrichtungen der Energieversorgung aus, darunter 21 auf Strommaste. Von 1981 bis 1985 hatte es insgesamt drei derartige Anschläge gegeben. 14 Vgl. für viele diesbezügliche Fälle BVerfGE 65, 1 (Volkszählung); 69, 315 (Brokdorf); BVerfG, EuGRZ 1987, 124 (Boxberg). 15 Vgl. etwa BGHSt 34, 362, mit krit. Anmerkung Fezer, JZ 1987, 936; Grünwald, StrVert 1987, 283; Reichert-Hammer, JuS 1989, 446. 16 Hierzu OstendortfBatschko, RuP 1988, 192 ff.

I. Politische Fernziele

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4. Die Behandlung politischer Ziele in den verschiedenen Fallkonstellationen In allen vier Fallgruppen - so unterschiedlich sie auch sein mögen handeln die Täter mit politischen Zielen. Das Interesse der folgenden Untersuchung wird sich dennoch vornehmlich auf die Fallkonstellationen der dritten sowie Grenzfälle der vierten Fallgruppe beschränken. Dies soll kurz begründet werden: Die rechtsdogmatische Behandlung der ersten Fallgruppe ist vergleichsweise unproblematisch. Das politische Ziel wird bereits vom Tatbestand erfaßt. Nach § 81 StGB (Hochverrat) wird etwa bestraft wer gewaltsam das Ziel verfolgt, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder die verfassungsmäßige Ordnung zu ändern. Das politische Ziel prägt den Unrechtstatbestand. Es handelt sich also nicht um ein Femziel im oben definierten Sinne. In einer Zeit, in der der Staat seine Ordnung nicht mehr als wertneutral und beliebig veränderbar ansieht, sondern in dem die Bürger ihre Wertordnung verteidigen, wird der Angriff auf diese Wertordnung sittlich und rechtlich mißbilligt17. Der Gesetzgeber hat deshalb in den Tatbeständen der Staatsschutzdelikte die eindeutige Wertung getroffen, daß ein Handeln mit dem Ziel, die staatliche Ordnung (gewaltsam) anzugreifen oder zu beseitigen, Unrecht sein soll und unter Strafe gestellt wird. Geschützt werden allein kollektive Rechtsgüter. Das Ziel des Täters, die objektiv feststellbare Gefährdung der staatlichen Ordnung, ist gleichzeitig der Grund seiner Bestrafung. Der Staat kann freilich nicht jedes unbotmäßige Verhalten unter Strafe stellen. Einer klaren Grenze begegnet die Kriminalisierung politischen Verhaltens in den Grundrechten. Bedenken müssen deshalb neu geschaffene oder geplante Tatbestände wie §§ 130 a und b StGB begegnen, die einen erheblichen Eingriff in den Bereich der Meinungs- und insbesondere der Pressefreiheit darstellen.18 Hier sind indes Korrekturen durch eine unabhängige (Verfassungs-)Rechtsprechung möglich. Und selbst wo diese versagt (auch die obersten Bundesrichter werden von der politischen Mehrheit gewählt), besteht noch die Möglichkeit, politische Mehrheiten zu verändern 19. Erst wo der Rechtsstaat in die Herrschaft eines Unrechtsre17 Vgl. Grünwald, aaO, S. 32 f.; Herzog in Jüngel/Herzog/Simon, S. 39 ff.; Simon in Jüngel/Herzog/Simon, S. 55 ff. 18 Vgl. hierzu Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Artikelgesetz, 1988, sowie den Bericht in der Tageszeitung v. 2.12.87: "§ 130 a - die lex taz in Aktion". 19 Eine Änderung der politischen Mehrheiten bewirkte die weitgehende Umgestaltung der durch das

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

gimes verkehrt wird, bietet das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG eine umfassende Rechtfertigung auch für Gewalttaten gegen diese Unrechtsherrschaft mit dem Ziel der Wiederherstellung der Rechtsordnung. Bei den Delikten der zweiten Gruppe werden unmittelbar nur Individualrechtsgüter verletzt. Kollektivrechtsgüter werden nur mittelbar aufgrund des vom Täter verfolgten Fernziels angegriffen. Läßt sich feststellen, daß ein Angriff auf ein Individualrechtsgut zugleich einen Angriff auf die staatliche Ordnung als Ganzes beinhaltet, so mag hierin zwar eine doppelte Rechtsgutsbeeinträchtigung liegen20. Mit Rücksicht auf das verfassungsrechtliche Prinzip der Gesetzesbestimmtheit darf dieses von der Rechtsordnung negativ bewertete Ziel dennoch nicht als unrechtsbegründend oder -steigernd herangezogen werden. Das politische Gemeindelikt der Gruppe 2 ist daher unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgutsverletzung nicht anders zu behandeln als ein schlicht kriminelles Gemeindelikt. Bis zur Grenze des Art. 20 Abs. 4 GG bestehen auch keine Rechtfertigungsgründe für ein Verhalten, durch das die staatliche Ordnung als Ganzes angegriffen wird. Ähnlich klar liegen die Mißbrauchsfälle der vierten Gruppe. Hier sind die verfolgten Fernziele klar rechtsstaatswidrig. Rechtfertigungsgründe sind allenfalls ausnahmsweise in Grenzsituationen denkbar 21. Schwierigkeiten bereiten allein die Fallkonstellationen der Gruppe 3, nämlich die, in denen die Täter von der Verfassungsordnung positiv bewertete Ziele oder doch zumindest solche Ziele verfolgen, bei denen nicht eindeutig feststeht, ob sie positiv oder negativ zu bewerten sind. Völlig systemwidrig wäre es, gerade hier die Fernziele außer Betracht zu lassen. Wichtig ist vielmehr zu erkennen, daß gerade im Bereich der politischen Kriminalität Fernziele in aller Regel berücksichtigt und von allen Organen der Strafverfolgung einschließlich der Gerichte bewertet werden. Lehre und Rechtsprechung müssen sich dieser Aufgabe auch da stellen, wo dies Schwierigkeiten bereitet. Im Vordergrund steht daher die Frage, wie politische Ziele zu Gunsten des Täters im Strafrecht zur Geltung gebracht werden können. Die

1. StrÄG vom 30.8.1951 (BGBl. I, S. 739) ins StGB eingefügten Bestimmungen des politischen Strafrechts durch das 8. StrÄG vom 25.6.1968 (BGBl. I, S. 741). 20 So Schünemann, aaO, S. 60 f. 21 Ausführlich hierzu Kapitel 8, n 9.

I

Tatbestandsmäßigkeit

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vorangegangene Analyse des Unrechts 22, aber auch Sprachregelungen wie Sitzdemonstration oder Sitzstreik zeigen schon an, daß der zentrale Ansatzpunkt solcher Lösungsmodelle im Bereich der Rechtswidrigkeit bzw. der Rechtfertigung zu suchen ist. Vorrangig ist jedoch nach Möglichkeiten der Entkriminalisierung im Tatbestandsbereich zu suchen. II. Tatbestandsmäßigkeit 1. Politische Ziele und Unrechtsbegründung Eine Bewertung politischer Ziele im Unrechtsbereich kann nicht sachgerecht erfolgen, ohne zumindest ein kurzes Schlaglicht auch auf diesen Aspekt zu werfen: Sieht man von der gesetzlichen Neufassung von Tatbeständen ab, die naturgemäß in beide Richtungen ausschlagen kann, dürfen Fernziele zu Ungunsten des Täters nur dann berücksichtigt werden, wenn dies im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Dies verlangen Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot. Darüberhinaus setzen die Grundrechte sowie das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip beliebiger Kriminalisierung politisch zielgerichteten Handelns deutliche Grenzen23. Im Bereich des allgemeinen (nicht politischen) Strafrechts wird die Frage der Bewertung politischer Ziele vor allem im Zusammenhang mit politischen "Morden" diskutiert 24. Streitig ist hierbei insbesonere, inwieweit mit der Tötung verfolgte politische Ziele niedrige Beweggründe i.S. des § 211 StGB darstellen25. Dieses an sich sich schon wegen seiner Unbestimmtheit höchst fragwürdige Mordmerkmal wird bei seiner Anwendung auf politisch zielgerichtetes Handeln noch problematischer, läßt es doch großen Spielraum für Willkür bei der Beurteilung des jeweiligen politischen Gegners26. Kaum geeignet zur Erfassung politisch zielgerichteten Verhaltens ist denn auch die Standarddefinition des BGH 27, wonach nur solche Beweggründe als niedrig i.S.d. § 211 StGB anzusehen sind, die nach allgemeiner sittlicher

22

Kapitel 4 und 5. Hierzu schon oben Kapitel 4, III und in diesem Kapitel, I 4. 24 Vgl. zu den allg. Fernzielen schon oben Kapitel 4, II 2. 25 Grundlegend hierzu Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 20; Geilen, Bockelmann-FS, S. 614, insb. 622 ff., jeweils m.w.N. zum Meinungsstand. 26 Vgl. die Nachweise bei Geilen, Bockelmann-FS, 622 ff., 637 ff. 27 St. Rspr. seit BGHSt 3, 132 (133). 23

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich sind. Auch die unter dem Eindruck der jüngeren deutschen Geschichte naheliegende Unterscheidung zwischen achtenswertem Tyrannenmord und verabscheuungswürdigem Demokratenmord ist zu vordergründig, um die Vielschichtigkeit von politischem Widerstand, idealistischem Gerechtigkeitsstreben und egoistischen Machtgelüsten gerecht zu werden 28. Geht man von der gegenwärtigen Thtbestandsfassung des § 211 StGB als Realität aus, so ergeben sich zumindest Anhaltspunkte für eine Bewertung politischer zielgerichteter Tötungen bei Beachtung folgender Prämissen: Grundlage der Beurteilung ist der vom Täter verfolgte Zweck unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit der darauf zielenden Tat. Maßstab ist das (irechtliche) Wertesystem des Grundgesetzes. Daraus folgt: Geht es dem Täter lediglich aus Rivalitätsgründen um die Beseitigung eines politischen Gegners, so wird dieses Ziel von der Rechtsordnung ebenso negativ bewertet wie dort, wo durch gewalttätigen Widerstand letztlich nur der Weg für die eigene Macht oder die einer sympathisierenden Gruppe freigemacht werden soll. Gleiches gilt für die Fälle, daß sich ein politischer Richter zum Herrn über Leben und Tod aufwirft oder daß der Täter rassistische Ziele verfolgt. Verletzte (Fundamental-)Werte sind hier die Volkssouveränität, das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, sowie im letzten Fall das Diskriminierungsverbot sowie der Gleichheitssatz. Der Schluß von der negativen rechtlichen Bewertung des Handlungsziels auf die Niedrigkeit des Beweggrundes i.S.d. § 211 StGB ist dennoch selbst nach geltendem Recht nicht unproblematisch. Wie wenig selbstverständlich eine solche Wertung ist, zeigt nicht zuletzt das ursprünglich im StGB enthaltene Privileg der nicht entehrenden Festungshaft (später als Einschließung bezeichnet, vgl. § 20 StGB a.F.)29. Eine solche Regelung, die gleichzeitig Achtung vor der Gesinnung des politischen Gegners ausdrükken wie auch die Bewertungsneutralität politischen Handelns dokumentieren soll, wurde zuletzt von Baumann in seinem ersten (privaten) StGBEntwurf von 1963 vorgeschlagen. Seine Formulierung ist vor allem deshalb so interessant, weil sie eine Parallele findet in der immer noch geltenden Tatbestandsfassung des § 211 StGB30: "Wenn das Gesetz Zuchthaus oder Festung androht, darf auf Zuchthausstrafe nur erkannt werden, wenn die 28 29 30

So zutreffend Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 20. Hierzu Geilen, Bockelmann-FS, S. 630 f.; Grünwald, Aspekte, S. 25 f., 32 f. Baumann, § 30 Abs. 2 Entw. StGB 1963.

I

Tatbestandsmäßigkeit

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Straftat auf niedrigen Beweggründen beruht. Niedrige Beweggründe liegen nicht vor, wenn die Straftat aus politischer Überzeugung und ohne Verfolgung persönlicher Vorteile begangen wird." So gerne dieses Beispiel in der Diskussion um die Bewertung (oder Nichtbewertung) politisch zielgerichteter Täten herangezogen wird, so wenig darf vergessen werden, daß der für diese Regelung maßgebliche Gesichtspunkt entfallen ist. Ging man vor allem im vergangenen Jahrhundert noch davon aus, daß angesichts der Wandelbarkeit der Verfassungsordnungen und des territorialen Bestandes der Staaten die den Staat schützenden Normen und ebenso die Verletzungen dieser Normen ethisch wie rechtlich bewertungsneutral seien, so ist - trotz allen Meinungspluralismus - die Zustimmung der Bevölkerung (und auch der Justiz!) zur demokratischen Staatsform heute wesentlich höher als etwa noch in der Weimarer Zeit. Die Staaten der Gegenwart begreifen ihre jeweilige Verfassungsordnung heute als werthaft und wehrhaft, nicht nur als eine von mehreren gleichwertigen Organisationsformen 31. Von immer wieder auftretenden rechtsradikalen Tendenzen abgesehen, lehnen Oppositionsgruppen, die von größeren Bevölkerungskreisen getragen werden, die demokratische, rechtsstaatliche Ordnung keineswegs ab, sondern stellen allenfalls Forderungen in die gegenteilige Richtung: "Mehr Demokratie wagen!" Die Frage, ob politische Ziele Mordunrecht begründen können, braucht im Rahmen dieser Arbeit nicht abschließend entschieden zu werden. Festzuhalten bleibt, daß die moderne Verfassungs- und Rechtsordnung politische Ziele durchaus bewertet. Und ein weiteres ist hervorzuheben: Einigkeit besteht jedenfalls darin, wann bei politisch zielgerichteten Taten kein Mordunrecht vorliegen soll: Danach wird bei Handeln in tatsächlichem oder zumindest vertretbar vermeintlichem Allgemeininteresse sondere Verwerflichkeit des Zieles i.d.R. verneint, dies vor allem dann, wenn der Täter sogar zur Selbstaufopferung bereit ist32. Richtet sich die Tat gegen ein Unrechtsregime, so kann sie sogar gerechtfertigt sein (Art. 20 Abs. 4 GG).

31

Vgl. Grünwald, Aspekte, S. 32 f.; Würtenberger, NJW 1986, 2281 ff. D.h.: Eine Bestrafung erfolgt "nur" wegen Totschlags. Zum Meinungsstand vgl.: Eser in Schönke/Schröder, § 211 Rz 20; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT/1, § 2 Rz 38. Geilen, BockelmannFS, S. 622 ff., hat überzeugend dargelegt, daß aus diesem Grunde die Anwendung des Mordtatbestandes selbst auf terroristische Straftäter der Gegenwart i.d.R. scheitert. 32

die be-

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

2. Möglichkeiten der Entkriminalisierung Zugunsten des Täters kommt eine Berücksichtigung dagegen auf mehrfache Weise in Betracht: durch restriktive Thtbestandsauslegung und dadurch, daß hier das Bagatellprinzip bzw. die Lehre von der Sozialadäquanz in besonderer Weise fruchtbar gemacht werden. Doch zunächst zu einigen grundsätzlichen Überlegungen: a) Funktionale Konsequenzen Allen tatbestandlichen Lösungen ist gemeinsam, daß sie keine "Legalisierung" des Verhaltens bedeuten, sich ihre Wirkung nur auf das Strafrecht beschränkt. Es fehlt in diesen Fällen nur erhöhtes 5/ro/unrecht, während sich das Verhalten gleichwohl in anderen Rechtsgebieten (Polizeirecht, Versammlungsrecht etc.) als rechtswidrig darstellen kann33. Tatbestandsausschluß hat nur zur Folge, daß der Staat auf den Einsatz seines schärfsten Reaktionsmittels, des Strafrechts als ultima ratio, verzichtet. Es bleibt aber die Möglichkeit, ein gegen verwaltungsrechtliche Normen verstoßendes Verhalten zu unterbinden und - greift ein entsprechender Tatbestand ein als Ordnungswidrigkeit zu ahnden. Für den Staat bietet die tatbestandliche Lösung also eine zusätzliche Differenzierungsmöglichkeit. Für die Betroffenen verändern sich" dadurch die Grenzen des rechtlich Zulässigen nicht. Wo zumindest der Grenzbereich zum Strafrecht erreicht ist, liegt i.d.R. ein Verstoß auch gegen Normen des Öffentlichen bzw. des Zivilrechts vor. Ist dies nicht der Fall, läßt sich der Einsatz des Strafrechts als ultima ratio ohnehin nicht, erst recht nicht im politischen Bereich rechtfertigen. Das Verhalten der Betroffenen wird durch den Tatbestandsausschluß also nicht legal, gleichwohl werden sie mit ihrem Anliegen vom Staat nicht als Kriminelle diskreditiert und gesellschaftlich stigmatisiert. Insoweit ist damit auch für die Betroffenen ein erheblicher Vorteil verbunden. Daß dies kein theoretischer Gedanke ist, die Ahndung nur als Ordnungswidrigkeit gegenüber einer Ahndung als Straftat durchaus als qualitativer Unterschied empfunden wird 34 , zeigt die heftige Verteidigung der Friedens- aber auch anderer oppositioneller Bewegungen35 gegen eine Kriminalisierung. Aufgezeigt ist damit aber schon gleichzeitig der Nachteil einer Entkriminalisierung auf Tatbestandsebene für die Betroffenen:

33

Dieser Umstand wird verkannt von Hassemer, Wassermann-FS, S. 325 (333). Diese gesellschaftliche Realität läßt sich nicht dadurch wegdiskutieren, daß Arzt, JZ 1988, 775 (776) von der "antiquierten" Theorie vom qualitativen Unterschied zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat spricht. 35 Ähnlich z.B. auch die Kampagnen gegen die Volkszählungen 1983 und 1987. 34

. Tatbestandsmäßigkeit

111

Politischer Protest bleibt damit repressiven Maßnahmen des Verwaltungsrechts und, für die Betroffenen oft noch einschneidender, zivilrechtlichen Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen ausgesetzt. b) Strukturelle

Schwäche des Ansatzes

Eine Berücksichtigung politischer Ziele im Rahmen der Tatbestandsauslegung mag zwar - insbesondere wegen der Möglichkeit einer Differenzierung hinsichtlich der Grade des Unrechts - große Vorteile bieten. Systematisch ist die Ebene der Tatbestandsmäßigkeit hierfür indes wenig geeignet: Die Tatbestände des StGB umschreiben abstrakt Situationen, in denen typischerweise strafwürdiges Unrecht vorliegt. Straftatbestände gelten allgemein. Ein Verhalten bleibt tatbestandsmäßig unabhängig davon, in welcher Situation der Täter handelt und welche Ziele er über die Tatbestandsverwirklichung hinaus verfolgt 36. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Handlung erfüllt auch dann den Tatbestand der Körperverletzung, wenn der Täter hierdurch einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff mit dem Ziel seiner Verteidigung abwehrt. Dogmatischer Standort für die Berücksichtigung atypischer Situationen ist die Ebene der Rechtswidrigkeit. Straftatbestände umschreiben Erfolgs-und Handlungswnvmfe, Rechtfertigungsgründe37 dagegen Handlungs- und Erfolgswe/te. Dennoch bestehen auch im Bereich des Tatbestandes - wenn auch beschränkte - Möglichkeiten, die Strafbarkeit zu begrenzen. Dies soll für die drei eingangs genannten Möglichkeiten tatbestandlicher Entkriminalisierung im einzelnen verdeutlicht werden: 3. Die dogmatischen Ansätze im einzelnen a) Restriktive

Tatbestandsauslegung

Politischer Protest kann sich entweder gegen die Strafnorm selbst richten oder aber eine straftatbestandsmäßige Handlung nur als "Vehikel" benutzen, um auf ein anderes Anliegen aufmerksam zu machen. Wird eine Strafnorm verletzt, um gegen deren Existenz zu protestieren (Selbstanzeigekampagnen gegen § 218 StGB, Vermummen bei einer Demonstration, 'Totalverweigerung" von Kriegsdienstgegnern), so hilft auch eine restriktive Tatbestandsauslegung nicht weiter. Ist die Strafnorm auch 36

Zu den Ausnahmen, in denen ungenannte Fernziele auch im Tatbestandsbereich unrechtsmindernd wirken, s.o. Kapitel 4 II, III. 37 Sowie Strafunrechtsausschließungsgründe, hierzu s.u. Kapitel 10 - 12.

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

nicht verfassungswidrig bzw. läßt sie sich zumindest verfassungskonform auslegen, kann bei massenhafter Übertretung nur der Gesetzgeber der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz Rechnung tragen. Hierzu kann er aus staatspolitischen Gründen sogar gehalten sein38. In der Praxis entziehen sich Strafverfolgungsbehörden einer solchen Austragung politischer Auseinandersetzungen allerdings häufig dadurch, daß sie entsprechende Rechtsverstöße entweder ignorieren oder aber diesbezügliche Verfahren nach Möglichkeit auf irgendeine Art einstellen39. I.d.R. richtet sich politischer Protest aber nicht gegen die verletzte Strafnorm selbst, sondern benutzt nur Formen, die "zufällig" unter einen Straftatbestand oder zumindest in dessen Grenzbereich fallen, als Vehikel, um davon unabhängige Anliegen deutlich zu machen. Restriktiver Tatbestandsauslegung kann hier die Funktion zukommen, in der historischen Situation typischerweise für bestimmte Anliegen benutzte Protestmittel aus dem Bereich straftatbestandsmäßiger Handlungen herauszunehmen. In diese Kategorie gehört z.B. der Versuch, unbewohnte, dem Verfall überlassene Häuser als nicht mehr hausfriedensfähig zu erklären 40 oder Sitzblockaden dem Gewaltbegriff des § 240 Abs. 1 StGB zu entziehen41. Strukturell ist dieser Weg nur in Ausnahmefällen geeignet, politischen Protest zu entkriminalisieren. Dies aus mehreren Gründen: Die Vielzahl möglicher Tatbestandsverletzungen42 und die Heterogenität der verschiedenen Tatbestände verurteilen von vornherein den Versuch zum Scheitern, ein gemeinsames Tatbestandsmerkmal als Anknüpfungspunkt für restriktive Auslegung zu finden. So hängt es vom "Zufall" des jeweiligen Tatbestandes ab, wo die Restriktion ansetzen kann, und muß für jeden Tatbestand gesondert beurteilt werden 43.

38

Vgl. Herzog, Maunz-FS, S. 145 ff. Beispiele sind hier gerade Verstöße gegen § 218 bzw. gegen das Vermummungsverbot. "Verfahrenslawinen" wegen § 218 wie im Jahre 1988 in Memmingen sind die Ausnahme. 40 Zum Meinungsstand vgl. Hassemer, Wassermann-FS, S. 330; Laker, Ziv. Ungehorsam, S. 222 f.; Küchenhoff, KJ 1982, 156 ff.; Schall, NStZ 1983, 241 ff. 41 Hierzu vgl. BVerfGE 73,206 (242 ff.); Brink/Keller, KJ 1983,107ff.; Calliess, NJW 1985,1506 ff.; ders., NStZ 1987, 209 ff; Dearing, StrVert 1986, 125ff.; Eser in Schönke/Schröder, vor §§ 234 ff. Rz 11ff., § 240 Rz 4 ff; Kühl, StrVert 1987, 122 (124 ff); Wolter, NStZ 1986, 241 ff 42 Vgl. nur die Aufzahlung bei Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 81 ff. Hinzu kommen etwa §§ 305 a, 316 b und damit auch 129 a (!) StGB. 43 Freilich ist auch eine Rechtfertigung auf den jeweiligen Tatbestand bezogen. Dort ist es aber möglich, ein allgemein gültiges Prinzip zu formulieren. 39

I

Tatbestandsmäßigkeit

113

Hinzu kommt, daß politisches Protestverhalten oftmals vom typischen Anwendungsbereich der Strafnorm umfaßt wird, sodaß der auf anderen Umständen beruhenden atypischen Situation jedenfalls auf Tatbestandsebene gar nicht Rechnung getragen werden kann. Aus dem Bereich des Strafbaren herausgenommen werden dort Handlungen allgemein, nicht nur in genau umrissenen Ausnahmesituationen. Im obigen Beispiel bleibt der arme Hausbesitzer, der sein Haus nicht renovieren lassen kann, genauso des Strafrechtsschutzes beraubt, wie der kaltblütige Spekulant, der aus Profitinteresse ganze Stadtviertel aufkauft und verfallen läßt. Eine restriktive Interpretation des Gewaltbegriffs bei der Nötigung ist in ihrer Wirkung nicht auf Sitzblockaden, Demonstrationen und Streiks beschränkt, sondern beinhaltet zwangsläufig auch Konsequenzen für andere Bereiche, etwa sog. 'Telefon- oder Verbalterror" 44. Die Forderung nach restriktiver Tatbestandsauslegung hat ihren Hintergrund insbesondere im Bestimmtheitsgebot und im Analogieverbot. Die Bollwerkfunktion des Art. 103 Abs. 2 GG ist aber nur unvollkommen. Er trägt weder der politischen Situation noch den Zielen der Protestierenden Rechnung. Seine strafrechtslimitierende Wirkung entfaltet er ausschließlich im Hinblick auf die Form, nicht im Hinblick auf den materialen Inhalt der Strafgesetze. Insbesondere hindert er den Gesetzgeber nicht, Verhalten beliebigen Inhalts zu kriminalisieren. Kurz gesagt: Art. 103 Abs. 2 GG garantiert "nur" Rechtssicherheit, aber keine von ihrem materialen Gehalt her sachgerechten Strafgesetze 45. Wird die Notwendigkeit restriktiver Interpretation allerdings aus einem veränderten Rechtsgutsverständnis, aus dem Normzweck sowie aus dem ultima-ratio-Prinzip hergeleitet, so können dabei (gesellschafts-)politische Überlegungen durchaus eine Rolle spielen und dadurch - zumindest indirekt - auch politische Ziele der Handelnden in die Auslegung einfließen. Auch hierfür bietet die Diskussion um den Gewaltbegriff ein Beispiel: Solcher Argumentation begegnet man etwa bei Calliess 46, der den Vertretern eines weiten Gewaltbegriffs vorwirft, die Gesellschaft letztlich nur noch als einzigen Gewaltzusammenhang zu begreifen und den mühsam

44 Wobei allerdings auch hier schon die begriffliche "Aufrüstung" erschreckt. Die Anwendbarkeit der Gewaltalternative auf diese Fälle ist deshalb ebenfalls umstritten. Zum Meinungsstand vgl.: BGH, NStZ 1981, 218; NJW 1982, 189; Brendle, NJW 1983, 727 ff.; Brink/Keller, KJ 1983, 119 f.; Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 4 f., 29 a.E.; Köhler, NJW 1983, 10 ff. 45 Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 210 ff. 46 Calliess, NJW 1985, 1506 (1513). 8 Reichert-Hammer

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

gewonnenen Fortschritt zum Rechtsstaat hinter sich zu lassen. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik von Brink/Keller* 1, die justizstaatliche Auflösung des Nötigungstatbestandes drohe die demokratischen Freiheitsrechte auzuzehren, da sie die Interpendenz verfassungsmäßiger Freiheiten und verfassungsmäßiger Grenzen ihrer Einschränkung durchbreche. Dem wird ein anderes Rechtsgutsverständnis entgegengestellt, das Freiheit nicht als unbegrenzte Freiheit des Individuums, sondern von vornherein als sozialgebundenes Recht versteht 48. Dieser Argumentation läßt sich freilich entgegenhalten, daß die Freiheit des Individuums keineswegs soweit sozialgebunden ist, daß sie nur gegen Gewalttätigkeiten geschützt wäre. Dies zeigt schon die Drohungsalternative bei der Nötigung, aber auch der Betrugstatbestand, der die persönliche Freiheit vor einem Angriff durch List schützt. Die Diskussion um den Vergewaltigungstatbestand geht denn auch gerade in die umgekehrte Richtung. Daß subtilere Formen gesellschaftlicher Gewalt bestehen, ist unbestreitbar. Dagegen anzuschreiben heißt die Realität negieren. So zählt es ja gerade auch zu den Verdiensten der Friedensbewegung, Formen struktureller Gewalt aufgezeigt zu haben. In dieser Erkenntnis liegt gleichzeitig allerdings auch der Grund für das Unverständnis, das von Seiten der Betroffenen der strafrechtlichen Beurteilung von Sitzblockaden als Gewalt entgegengebracht wird. Atomwaffenlager gleichen mit ihren martialischen Befestigungsanlagen der Grenzsicherung der DDR bis in die jüngste Vergangenheit: Zäune, Wachtürme, Bunker, gepanzerte Fahrzeuge, Soldaten mit Maschinengewehren. Gegenüber dieser erdrückenden Übermacht verschwindet die soziale Gegenmacht einer meist kleinen Gruppe von Sitzdemonstranten. In der Schubarth-Entscheidung49 hat der BGH diesem Gesichtspunkt Rechnung getragen und den Gewaltbegriff relativiert. Gewalt gegenüber einem Verfassungsorgan liege nur dann vor, wenn der von gewalttätigen Ausschreitungen ausgehende Druck einen solchen Grad erreiche, daß sich eine verantwortungsbewußte Regierung zur Kapitulation vor der Forderung der Gewalttäter gezwungen sehen könne. Diese Entscheidung erging freilich zu § 105 StGB und wir wissen, daß die h.M. in den Sitzblockadefällen nicht das Verhältnis zwischen Demonstranten und Staatsmacht, sondern das Verhältnis zwischen Demonstranten und unmittelbar Behinderten als maßgebliche Projektionsebene betrachtet. Letztlich entscheidend ist auch nicht ein Streit um Worte (Ist soziale Gegenmacht 47 48 49

Brink/Keller, KJ 1983, 107 (116). Vgl. etwa Brink/Keller, KJ 1983, 123 f. BGHSt 32, 165.

II. Tatbestandsmäßigkeit

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Gewalt?), sondern allein die Frage, ob die Ausübung gesellschaftlicher Gegenmacht zulässig, d.h. rechtmäßig ist, oder, eine Stufe darunter, ob sie mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden werden soll. Auf der Tatbestandsebene wird sich nach der Entscheidung des BVerfG auf absehbare Zeit eine Einschränkung der Strafbarkeit nicht realisieren lassen. So gewichtige Gründe für einen engen Gewaltbegriff bei der Nötigung sprechen50, so betrüblich es sein mag, daß "praktisch jede Verkehrsbehinderung durch Demonstrationen und ähnliche Menschenansammlungen51 - auch bei unbezweifelbar rechtmäßigen Veranstaltungen tatbestandsmäßig als Gewalt i.S. der Nötigungsvorschrift angesehen werden" muß, so groß die Gefahr auch sein mag, daß dadurch die Grenze zwischen gewalttätigem und gewaltlosem Verhalten seine Konturen verliert 52, so wenig erfolgreich wird es auf absehbare Zeit sein, vor nationalen Gerichten die weite Auslegung des Gewaltbegriffs zu rügen 53. Einbrüche in der Rechtsprechung sind an keiner Stelle erkennbar. Die Bedeutung des Gewaltbegriffs wird vielfach aber auch überschätzt. Selbst wenn das Tatbestandsmerkmal Gewalt verneint würde, wird in den meisten Fällen die Drohungsalternative verwirklicht sein54. De lege ferenda ließe sich freilich auch dies verhindern durch eine Reform des Nötigungsparagraphen, die eine Beschränkung der Strafbarkeit auf Nötigung durch Gewalttätigkeit, Drohung mit Gewalttätigkeit und Drohung mit einem Vergehen und Verbrechen vorsehen würde 55. Dies hat dann freilich nichts mehr mit restriktiver Auslegung zu tun. Eine solche Reform ist für die nächsten Jahre auch kaum realistisch. Im Gegenteil wurde ja bereits ein Tatbestand "Sitzblockaden" angekündigt, der bisher nur deshalb nicht realisiert wurde, weil die Entscheidung des 1. Strafsenats eine solche Gesetzesinitiative vorläufig als unnötig erscheinen ließ56.

50

Vgl. etwa noch einmal die Aufzählung bei Kühl, StrVert 1987, 122 (127). Dasselbe gilt für Streik und Aussperrung u.v.m. 52 So das Votum der vier Verfassungsrichter, die sich nicht durchsetzen konnten, vgl. BVerfGE 73, 206 (246). 53 Vgl. zum Ganzen schon oben Kapitel 1, Vorspann. 54 Hierzu vgl. Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 ff.; Brendle, NJW 1983, 729. Angedeutet auch im abweichenden Votum, BVerfGE 73, 206 (246). 55 So der bisher ausgereifteste Vorschlag von Calliess, NJW 1985, 1513, sowie NStZ 1987, 210. Ebenso der Gesetzesvorschlag der Bundestagsfraktion der Grünen, vgl. Frommel, KJ 1989, 484 (492 ff.). 56 Vgl. Bundesjustizminister Engelhard, recht 1988, 46. 51

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Eine Entkriminalisierung im Wege restriktiver Tatbestandsauslegung ist nur dann sinnvoll, wenn hierdurch Handlungen allgemein aus dem Bereich des Strafbaren herausgenommen werden sollen. Wird die Notwendigkeit restriktiver Tatbestandsauslegung nicht nur aus Art. 103 GG, sondern auch aus teleologischen Erwägungen abgeleitet, können zwar politische Gesichtspunkte durchaus in die Auslegung einfließen. So wird beispielsweise für den engen Gewaltbegriff ins Feld geführt, daß gesellschaftliche Auseinandersetzungen möglichst von strafrichterlicher Kontrolle freibleiben und deshalb rechtlich eindeutig zulässige Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzung straftatbestandlich nicht erfaßt werden sollten. Hierbei handelt es sich aber nur um vom Einzelfall losgelöste, allgemeinpolitische Überlegungen. Eine Berücksichtigung der Tatsituation im Einzelfall oder eine Einbeziehung individueller Täterziele ist nicht möglich. Eine natürliche Grenze findet restriktive Tatbestandsauslegung zudem im Wortlaut des Gesetzes sowie in dessen verfassungsrechtlich überprüfbarer Auslegung durch die Strafgerichte. b) Geringßgigkeitsprinzip Im Unterschied zur restriktiven Tatbestandsauslegung eliminiert das Geringfügigkeitsprinzip Verhaltensweisen aus dem Anwendungsbereich eines Straftatbestandes, obwohl der Normtext sie einschließt57. Wie bei der restriktiven Tatbestandsauslegung aber gilt: Bagatellunrecht ist tatbestandslos ohne Rücksicht auf politische Ziele des Täters. Mit Hilfe des Geringfügigkeitsprinzips als Auslegungsregel58 wird - soweit überhaupt anerkannt - das Erfolgsumecht in seinen Randbereichen auf seine Strafbedürftigkeit hin überprüft. Der tatbestandliche "Erfolg", die Beeinträchtigung Dritter, beurteilt sich unabhängig von der Einstellung und den Zielen des Täters als bagatellhaft oder nicht, sodaß auch hier nur eine allgemein gültige Aussage getroffen werden kann. Hinzu kommt, daß die durch Formen politischen Protests begangenen Tatbestandsverletzungen in aller Regel durchaus nicht nur bagatellhaft sind, dies jedenfalls dann, wenn man die engente in Gestalt von Rechtfertigungs- bzw. Strafunrechtsausschließungsgründen entgegentreten.

57

So zutreffend Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 212. Hierzu grundlegend Ostendorf, Das Geringfügigkeitsprinzip als strafrechtliche Auslegungsregel, GA 1982, 333 ff. 53

. Tatbestandsmäßigkeit

117

Interessanterweise trägt die Rechtsprechung zu den Sitzblockaden dem Bagatellprinzip nicht im Rahmen des Thtbestandes (bei der Auslegung des Merkmals Gewalt59), sondern erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung Rechnung60. Dies liegt auf der Linie der Rechtsprechung zur Nötigung im Straßenverkehr. Bei Formen demonstrativen Protests folgt eine Korrektur auf der Rechtswidrigkeitsebene auch zwingend aus Art. 8 GG. c) Die Lehre von der Sozialadäquanz Nachdem die Lehre von der Sozialadäquanz61 bereits überwiegend als überflüssig und als Unterfall teleologischer Auslegung betrachtet wurde 62, feiert sie bei der strafrechtlichen Beurteilung neuer Formen politischen Protests erneut Urständ. So schlägt Baumann63 - allerdings für den Bereich der Rechtswidrigkeit - vor, in § 240 Abs. 2 StGB den Begriff der Verwerflichkeit durch den der "sozialen Unangemessenheit" zu ersetzen64. Ausgangspunkt dieser Lehre ist der Gedanke, daß Straftatbestände Verhaltensformen angeben, die aus der geschichtlich gewordenen Ordnung des Soziallebens schwerwiegend herausfallen. Ein Verhalten, das sich völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung des Lebens bewegt, kann danach nicht unrechtskonstituierend sein, selbst wenn es vom Wortlaut eines Tatbestandes umfaßt wird 65 . Die allgemeine Schwäche der Lehre von der Sozialadäquanz, nämlich die Schwierigkeit festzustellen, welche Verhaltensweisen sozialüblich sind und welche nicht, wird gerade im politischen Bereich besonders deutlich. Voraussetzung dafür, ein Verhalten als sozialadäquat aus dem Bereich des Strafbaren herauszunehmen, ist ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Zulässigkeit oder sogar Erwünschtheit bestimmter Verhaltensweisen (z.B. Teilnahme am Straßenverkehr trotz des bekannten Risikos für Leben und Gesundheit). Ein solcher Konsens besteht aber in politisch umstritte59

So aber gefordert von Baumann, ZRP 1987, 265 (267). Vgl. die o.g. Entscheidungen. So auch schon Rann, JuS 1964, 373 (376 f.). 61 Zurückgehend auf Welzel, ZStW 58, 491 (516); ders., Lehrbuch, S. 55 ff.; vgl. auch Peters, Welzel-FS, S. 415 (419 ff.). 62 Vgl. hierzu Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 70; Samson in SKStGB, vor § 32 Rz 15; in diese Richtung auch schon Welzel, Lehrbuch, S. 58 (allgemeine Auslegungsregel). 63 Baumann, ZRP 1987, 265 (267). 64 Der Versuch, die Lehre von der Sozialadäquanz für die Auslegung des § 240 Abs.2 fruchtbar zu machen, geht zurück auf Rann, JuS 1964, 373 ff. Vgl. zum Ganzen bereits oben Kapitel 2, II 2 b. 65 Welzel, Lehrbuch, S. 56. 60

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Kap. 6: Politische Fernziele und Unrecht

nen Bereichen gerade nicht, weder hinsichtlich der politischen Inhalte und Ziele noch hinsichtlich der zu ihrer Durchsetzung eingesetzten Mittel. Bedenkt man, daß zuweilen noch heute genehmigte, völlig friedlich verlaufende Demonstrationen als Druck der Straße diffamiert werden, so kann von einem gesellschaftlichen Konsens nicht einmal hinsichtlich grundrechtlich verbürgter Protestmittel gesprochen werden 66. Setzt man allerdings umgekehrt für die Kriminalisierung eines Verhaltens einen gesellschaftlichen Konsens über dessen Strafwürdigkeit voraus, beinhaltet der Ansatz erhebliche Sprengkraft für die strafrechtliche Beurteilung neuer Formen politischen Protests. Die Verurteilung von Sitzblockierern bei Aktionen der Friedensbewegung stößt beispielsweise nicht nur in weiten Teilen der Bevölkerung und in Kreisen der Intelligenz auf Protest und Unverständnis, sondern führte auch zu einer der härtesten juristischen Auseinandersetzung der jüngeren Vergangenheit. Hingewiesen sei nur auf die eingangs geschilderte, kontroverse Rechtsprechung so wie auf die neuerdings auch von namhaften Autoren 67 geforderte Amnestie für diese Tätergruppe. Das Merkmal der Sozialadäquanz kann demnach allenfalls Leitlinie sein. Erforderlich ist im Einzelfall eine Konkretisierung, eine Begrenzung auf ganz bestimmte Formen in ganz bestimmten Situationen. Dogmatischer Standort zur Bestimmung solcher Ausnahmesituationen ist aber die Rechtswidrigkeit. III. Rechtswidrigkeit In den Straftatbeständen formuliert die Rechtsordnung abstrakt und generell die Grenzen der allgemeinen Handlungsfreiheit und die Interessen, die sie unter (straf-)rechtlichen Schutz stellt. Der Tatbestand erfaßt nur die den besonderen Unrechts- und Schuldtypus begründenden Merkamle, nicht aber auch die negativen Folgerungen, die sich für eine atypische Situation ergeben. Für eine Berücksichtigung politischer Femziele68, d.h. über die Tatbestandsverwirklichung hinausreichende Ziele, ist die Tatbestandsmäßigkeit deshalb keine geeignete Zurechnungsstufe.

66

Hierzu auch Preuss, Schmid-FS, S. 438 f.; Simon, Schmid-FS, S. 448. Vgl. etwa Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2584); Lenckner, JuS 1988, 349 (355); Frankenberg, JZ 1984, 275. 68 Politische (Nah-)Ziele werden dagegen insbesondere bei den Staatsschutzdelikten explizit unter Strafe gestellt. 67

III. Rechtswidrigkeit

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Um einen ausnahmsweisen Ausschluß von (Straf-)Unrecht geht es dagegen auf der Zurechnungsstufe der Rechtswidrigkeit. Rechtfertigungsgründe umschreiben atypische Situationen, in denen eine Straftatbestandsverwirklichung ausnahmsweise erlaubt ist. Dort wird unter grundsätzlicher Anerkennung des rechtlichen Normenbestandes über ein objektiv bestehendes Recht zur Normabweichung verhandelt 69. Immer deutlicher kristallisiert sich also die Rechtswidrigkeit als entscheidende Betrachtungsebene heraus, auf der politische Fernziele berücksichtigt werden können, aber auch müssen. Bereits oben70 wurde die Rechtswidrigkeit als klassischer Bereich sozialer Konfliktlösungen charakterisiert, als das Feld, auf dem widerstreitende Individualinteressen oder gesamtgesellschaftliche Belange mit den Bedürfnissen des einzelnen zusammenstoßen71. Bei jedem neuen Lebenssachverhalt stellt sich deshalb die Frage, welcher der bisher bekannten Rechtfertigungsgründe relevant werden könnte. Wegen des materiellen Charakters der Rechtswidrigkeit ist darüberhinaus zu klären, ob nicht ein neuer Rechtfertigungsgrund entwickelt werden muß. "Mit den Rechtfertigungsgründen", so bemerkt Roxin72, "dringt die Dynamik sozialer Veränderungen in die Verbrechenslehre ein."

69 Wie hier: Dreher, Schröder-GS, S. 379; Gallas, Beitrage zur Verbrechenslehre, S. 34 f.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 172 ff.; Hassemer, Wassermann-FS, S. 334 f.; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 220 ff.; Schüler-Springorum In Glotz (Hrsg.), S. 81 ff. - Eine solche Differenzierung trifft letztlich auch die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen. 70 Kapitel 5, II. 71 Vgl. Rärin, Kriminalpolitik, S. 15; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 112 f.; Lenckner, GA 1985, 295 ( 302 ff.). 72 Rärin, JuS 1976, 510; vgl. auch Grebing, GA 1979, 98.

Kapitel 7

Die Berücksichtigung politischer Fernziele im Rahmen der Grundrechte I. Einleitung: Grundrechte und strafrechtliche Rechtfertigung Bei einer Vielzahl von Handlungen, die einen Straftatbestand verwirklichen, handeln die Täter mit politischer Zielsetzung. Sie wollen ihre Meinung kundtun, auf gesellschaftliche Mißstände aufmerksam machen oder bestimmte - im weitesten Sinne politische -Ziele durch sozialen Druck durchsetzen. Eine Rechtfertigung solcher Verhaltensweisen kommt zuvorderst durch politische Grundrechte 1 in Betracht. Die Ausübung von Meinungs-, Versammlungs-oder Vereinigungsfreiheit (Streikrecht) beinhaltet sehr oft auch tatbestandsmäßiges Handlungsweisen, angefangen von beleidigenden Äußerungen im politischen Meinungskampf bis hin zu Nötigungen oder gar Freiheitsberaubungen durch Massendemonstrationen oder Massenstreiks. Grundrechte sind Abwehrrechte gegenüber staatlichen Hoheitsträgern. Sie schützen die Bürger folgerichtig nicht nur vor verwaltungs-, hier vor allem vor polizeirechtlichen Maßnahmen, sondern vor jedem staatlichen Zwang, insbesondere auch vor strafrechtlicher Verfolgung. Soweit die Grundrechte reichen, haben die Bürger das Recht, straftatbestandsmäßig zu handeln. Im Strafrecht sind die Grundrechte zunächst schon bei der Normierung und bei der Auslegung von Tatbeständen zu beachten. Ein Tatbestand, der schlechthin die Ausübung eines Grundrechts verböte (z.B. Strafbarkeit der Wehrdienstverweigerung, Strafbarkeit friedlicher Demonstrationen2), wäre danach ebenso verfassungswidrig, wie eine Auslegung von Tatbestän1

Zum Begriff: Herzog in M/D, Art. 8, Rz 10. Durch das III. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 20.5.1970 wurde vorübergehend eine Harmonisierung zwischen den Demonstrationsdelikten des StGB und Art. 8 GG erreicht (vgl. auch Weingärtner, Demonstration und Strafrecht, S. 22). Durch die ständigen Neufassungen, denen insbesondere § 125 StGB seit der Bonner Wende 1983 unterworfen wird, treten aber erneut bedenkliche Kollissionen auf, vgl. hierzu die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer in: BRAK-Mitteilungen 1988, S. 122 f.; Kühl, NJW 1985, 2379; Lenckner in Schönke/Schröder, § 125 Rz 28; Ostendorf in AK-StGB, § 125 Rz 31 ff.; Rudolphi in SK-StGB, § 125 Rz 3c; Strohmaier, StrVert 1985, 470 f.; ZRP 1985, 156. 2

I. Grundrechte und strafrechtliche Rechtfertigung

121

den in der Weise, daß sie de facto die Ausübung eines Grundrechts verwehrten. Bei der Ausgestaltung von Straf- und Bußgeldvorschriften hat der Gesetzgeber die in den Grundrechten verkörperte Grundentscheidung zu beachten und darf nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingreifen. Behörden und Gerichte haben die vom Gesetzgeber normierten grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung des Grundrechts auszulegen und anzuwenden3. Dies gilt insbesondere für Straf- und Bußgeldvorschriften, die explizit in den Schutzbereich von Grundrechten eingreifen (z.B. §§ 25, 26, 29 VersG; §§ 185 ff. StGB). Auf Tatbestandsebene ist also zu prüfen, ob eine Norm oder deren Auslegung generell gegen Grundrechte 4 Verstössen. Ist dies nicht der Fall, so stellt sie jedenfalls für den Regelfall eine zulässige Schranke dar. Auch dann ist aber auf der Ebene der Rechtfertigung weiter zu prüfen, ob der Täter in der konkreten Situation nicht ausnahmsweise in Ausübung eines Grundrechts handelte. In der Regel sind Straftatbestände aber allgemein gefaßt. Sie betreffen eine Vielzahl von Handlungsweisen, die nur ausnahmsweise den Schutzbereich eines Grundrechts berühren. In diesen atypischen Situationen kommt den Grundrechten die Funktion von Rechtfertigungsgründen zu5. Was verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, darf nicht im Bereich des Strafrechts als Unrecht angesehen werden. Eines Rückgriffs auf die - in diese Richtung freilich unproblematisch geltende - Lehre von der Einheit der Rechtsordnung bedarf es hierfür nicht. Strafverfolgung ist Ausübung hoheitlicher Gewalt. Hiergegen schützen die Grundrechte unmittelbar (Art. 1 Abs. 3 GG) 6 . Sie sind Rechtfertigungsgründe i.S. der Gesamtrechtsordnung. Hier entfällt nicht nur strafwürdiges Unrecht, es entfällt das Unrecht der Tat überhaupt. Mehr noch: Entsprechendes Handeln

3

BVerfGE 69, 315 (348 f.) - Brokdorf, ebenso Weingärtner, Demonstration und Strafrecht, S.

22. 4

Oder andere Verfassungsbestimmungen, z.B. Art. 103 Abs. 2 GG - Bestimmtheitsgrundsatz. BVerfGE 73, 206 (248 ff.) behandelt Art. 8 als Rechtfertigungsgrund für an sich strafbares Verhalten; ebenso Herzog in M/D, Art. 8, Rz. 120. Im Strafrecht vgl. Baumann/Weber, AT, § 19 II 2b; Dreier, Widerstandsrecht, S. 56, 67; Fritz, Simon-FS, S. 429 ff.; Hassemer, Wassermann-FS, S. 332; Kühl, StrVert 1987, 130; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 237 ff.; Riehle, DuR 1987, 11; Weingärtner, Demonstration und Strafrecht, S. 22 f. Anders aber verfehlt nur Ostendorf, Streikrecht, Rz 7. 6 Davon zu unterscheiden sind privatrechtliche Duldungspflichten etwa von behinderten Passanten, Autofahrern, Grundstückseigentümern etc. 5

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

wird von der Rechtsgemeinschaft in höchstem Maße gebilligt, weil es mit einer bestimmten Zielsetzung, nämlich zum Zwecke der Ausübung eines Grundrechts erfolgt. Freilich gewähren auch die Grundrechte keine schrankenlosen Rechte. Die Auswirkungen der grundrechtlichen Gewährleistung können zunächst nur soweit reichen wie der Normbereich (Schutzbereich7) des Grundrechts. Darüberhinaus unterliegen auch die politischen Grundrechte einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt oder zumindest - wie Art. 4 Abs. 1 (Glaubens- und Gewissensfreiheit), Art. 5 Abs. 3 (Kunstfreiheit) und Art. 9 Abs. 3 (Vereinigungsfreiheit) immanenten Schranken. Sie werden also auch durch die Strafgesetze limitiert. Diesen Schranken werden jedoch ihrerseits wieder enge Grenzen gezogen durch die im jeweiligen Grundrecht verkörperte Wertentscheidung. Die vom BVerfG für Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit) entwickelte Wechselwirkungstheorie 8 hat sich allgemein durchgesetzt und findet heute auf sämtliche Grundrechte Anwendung. Es würde freilich den Rahmen dieser Arbeit sprengen, würde der Versuch unternommen, sämtliche politischen Grundrechte en detail zu erörtern. Der für eine Rechtfertigung in Frage kommende Bereich soll nur schlaglichtartig beleuchtet werden. II. Art 4 - Glaubens- und Gewissensfreiheit, Recht auf Kriegsdienstverweigerung Dieses Grundrecht hat für politisch zielgerichtetes Verhalten vor allem unter dem Aspekt des sog. "Überzeugungs-" oder besser: "Gewissenstäters"9 Bedeutung erlangt. 1. Die verfassungsrechtliche Diskussion Der Gewissenstäter verweigert aufgrund seiner persönlichen, ethischmoralischen oder religiösen Auffassung einer Rechtsnorm seinen Gehorsam. Relevant wird diese Rechtsfigur also zunächst in den, im Alltag der 7 Zum Begriff und für ein weites Verständnis des Schutzbereichs etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff.; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 237 ff.; Dreier, Widerstandsrecht, S. 64 ff. 8 Ständige Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (208 f.) - Lüth-Urteil; 28, 191 (202); zuletzt 61, 1 (10 f.) Wahlkampf; vgl. auch LG München, AfP 1983, 296 f. - Monitor/Langemann; ebso die h.L., vgl. v.Münch in GGK, Art. 5, Rz 51 ff. 9 Zur Abgrenzung der Begriffe: Peters, Mayer-FS, S. 257 ff., insb. 269 ff.; Ebert, Überzeugungstäter, S. 59 ff. Vgl. neuestens auch Raxin, Maihofer-FS, S. 389 ff., der allerdings Art. 4 GG nicht als Recht, sondern stets nur (sehr fragwürdig) als vorwerfbarkeitsausschließend versteht.

II. Art. 4 - Glaubens- und Gewissensfreiheit

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Bundesrepublik Deutschland relativ seltenen Fällen, wo sich politischer Widerstand gegen eine Strafrechtsnorm direkt richtet. Beispiele hierfür in jüngerer Zeit sind die Selbstanzeigekampagnen gegen § 218 StGB sowie die Totalverweigerer, die auch den Zivildienst wegen dessen Einbindung in die militärische Gesamtkonzeption10 ablehnen. I.d.R. richtet sich politisch zielgerichtetes Verhalten aber nicht gegen die generelle Geltung und Berechtigung der verletzten Strafnorm. Dies gilt auch für die Sitzblockaden. Sitzdemonstranten greifen zwar die Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gewalt bei der Nötigung an. Sie vertreten jedoch nicht die Auffassung, daß es generell und zu jedem beliebigen Zweck zulässig wäre, Straßen zu blockieren. Ihre Gewissensnot entspringt nicht den Regelungen der Straßenverkehrsordnung, sondern der Tatsache des Wettrüstens. Nach heute wohl überwiegender Meinung11 umfaßt die Gewissensfreiheit aber nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu bilden (sog. forum internum), sondern auch die Freiheit, die Gewissensüberzeugung zu verwirklichen. Letztere berechtige nicht nur zur Verweigerung gegenüber staatlichen Befehlen sondern gewähre auch das Recht zum aktiven Handeln gegenüber staatlichen Verboten. Daran ändere sich auch nichts, wenn sich mehrere Menschen mit gleichen Gewissensnöten zu gemeinsamen Handlungen entschließen. Wird der Schutzbereich so weit gefaßt, umfaßt er vielfältige, politisch zielgerichtete Handlungsweisen der vergangenen Jahre: den Stromzahlungsboykott als Entscheidung gegen Kernkraftwerke, die Verweigerung, Krankenkassenbeiträge zu zahlen, als Entscheidung gegen die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen, den Widerstand gegen die Nachrüstung. Diese Aktionen wurden in vielen Fällen von - häufig religiös motivierten - Menschen getragen, die sich durch Befehle ihres Gewissens zum Handeln genötigt sahen oder sehen. Gleichwohl wird Art. 4 Abs. 1 GG auch nach dieser Auffassung nicht zum "Supergrundrecht". Eine Gefahr für den Bestand der Rechtsordnung scheidet schon angesichts der hohen Anforderungen aus, die die Rechtsprechung an die Verbindlichkeit einer Gewissensentscheidung stellt12.

10 Vgl. etwa § 79 ZDG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 4 WPflG; Art. 87b Abs. 2 GG. Hierzu AG Lüneburg, StrVert 1985, 64. 11 Vgl. Herzog in M/D, Art. 4 Rz 129 ff.; v.Münch in GGK, Art. 4 Rz 27; Preuss in AK-GG, Art. 4 Rz 41; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 252 ff. 12 BVerfGE 12, 45 (55): "Jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von Gut und Böse

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Einigkeit besteht vor allem aber darin, daß die Gewissensverwirklichungsfreiheit nicht schrankenlos gelten solle13. Art. 4 GG bleibt zudem in seinem Kern ein Abwehrrecht 14: Der einzelne darf nicht zu einer Handlung gegen sein Gewissen gezwungen werden. Selbstverständlich dürfen aber andere, denen diese Gewissensnot nicht anhaftet, eine entsprechende Handlung vornehmen. Abschließend bleibt festzuhalten: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gilt zwar nicht schrankenlos. Eine Einschränkung ist jedoch nur aus gewichtigen und überwiegenden Gründen des Gemeinwohls zulässig15. Dies eröffnet einer Rechtfertigung politisch zielgerichteten Handelns aus Gewissensnot durchaus Spielräume. 2. Strafrechtsdogmatische Einordnung In Strafrechtsprechung und -literatur findet die Figur des Gewissenstäters seit langem große Beachtung, wobei im politischen Bereich die Frage der Totalverweigerung beherrschend ist. Ausgangspunkt der Diskussion bilden zwei Entscheidungen des BVerfG aus den 60ger Jahren 16, die erst in jüngerer Zeit noch einmal bestätigt wurden 17. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Totalverweigerung läßt sich in wenigen Thesen zusammenfassen: - Art. 4 Abs. 3 GG regelt die Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht abschließend. Betroffene können sich nicht zusätzlich auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen. - Art. 4 Abs. 3 GG gibt kein Recht zur Verweigerung des Zivildienstes. Zur Begründung stellte der 1. Senat zunächst fest, das Zwangsverbot sei ausdrücklich auf den Kriegsdienst mit der Waffe beschränkt. Im Umkehrschluß folgerte er, daß es deshalb nicht gegenüber der Einberufung zum orientierte Entscheidung, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte." Dabei muß sich die Gewissensentscheidung als so starker Zwang auswirken, daß eine Zuwiderhandlung gegen diesen Zwang die Persönlichkeit ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen könnte, vgl. BVerfGE 23, 127 (134). Vgl. auch Herzog in M/D, Art. 4 Rz 158; Frankenberg, JZ 1984, 272. 13 Wobei die maßgeblichen Schranken und das Konkurrenzverhältnis zu anderen Grundrechten im einzelnen noch weitgehend ungeklärt sind, vgl. Herzog in M/D, Art. 4 Rz 148 ff.; v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 28; Preuss in AK-GG, Art 4 Abs. 1 Rz 44 ff.; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 257 ff. 14 Vgl. v.Münch in GGK, Art. 4 Rz 3 ff. 15 Herzog in M/D, Art. 4 Rz 154. 16 BVerfGE 19, 135; 23, 127. 17 BVerfG, NJW 1983, 1600, mit abl. Anm. Krölls, NJW 1983, 1593.

IL Art. 4 - Glaubens- und Gewissensfreiheit

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Ersatzdienst geltend gemacht werden könne, "der nicht einmal notwendig Kriegsdienst sein" müsse18. Der 2. Senat ging wenig später über dieses formale Argument hinaus und berief sich darauf, daß Art. 12 a Abs. 2 GG 19 das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG insoweit beschränke20. - Die Beschränkung der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht gilt auch für den Bereich der Schuld. Das Strafrecht kann aber dem "tatsächlich gegebenen Zustand, der mit Begriffen wie übermächtige Motivation oder unüberwindlicher psychischer Zwang zu umschreiben versucht worden ist", auf einfachrechtlicher Ebene Rechnung tragen. Aus der Tatsache, daß das BVerfG Totalverweigerern eine Rechtfertigung durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit versagt, haben sich dogmatische Ansätze zur strafrechtlichen Behandlung des Überzeugungstäters einseitig auf die Schuld konzentriert 21. Dem ist aber entgegenzuhalten: Wie beim Recht auf Kriegsdienstverweigerung können sich Betroffene bei der Gewissensfreiheit allgemein auf ein Grundrecht berufen. Grundrechte sind Rechtfertigungsgründe i.S. der Gesamtrechtsordnung. Eine Berücksichtigung erst auf der strafrechtsdogmatischen Ebene der Schuld wird der Bedeutung des Grundrechts nicht gerecht. Die Erfahrungen der NS-Zeit "mit dem Gewissensterror, mit der ungenügenden Anspannung des Gewissens in weiten Bereichen und mit der Opferbereitschaft von Menschen aus allen religiösen, politischen und sozialen Schichten" haben den Verfassungsgeber dazu veranlaßt, dem einzelnen an so exponierter Stelle ein Recht einzuräumen, nach seiner Gewissensentscheidung zu handeln22. Die freie Gewissensentscheidung des einzelnen wird vom Staat nicht bloß widerwillig geduldet, sondern positiv bewertet. Die Gewissensfreiheit kann deshalb durchaus - jedenfalls in besonders gelagerten Fällen - rechtfertigende Wirkung entfalten. Dabei geht es nicht darum, daß die Rechtsordnung die Gewissensverwirklichung inhaltlich billigt. Art. 4 gibt vielmehr dem einzelnen das Recht, in den verfassungsrechtlich gesetzten Grenzen 23 auch eine von der Rechtsordnung nicht gebilligte Gewissensentscheidung zu verwirklichen. 18 19 20 21 22 23

BVerfGE 19, 135 (138). Damals noch Art. 12 Abs. 2 GG. BVerfGE 23, 127 (132). Vgl. zuletzt Rärin, Maihofer-FS, S. 389 ff. Hierzu ausführlich Kapitel 9, II 1 (4). Hierzu ausführlich Peters, Mayer-FS, S. 265 ff. Hierzu BVerfGE 32, 98 (108).

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

Aber selbst da, wo der Gewissensfreiheit wie im Bereich der Totalverweigerung verfassungsimmanente Schranken gesetzt sind, muß ein Verhalten mangels Rechtfertigung nicht unbedingt strafbar sein. Das Grundrecht wirkt vielmehr über seine Schranken hinaus. Dem muß das Strafrecht dadurch Rechnung tragen, daß es - wie die h.L. - im Bereich der Schuld oder - wie dies hier vertreten wird - bereits im Bereich des strafrechtlichen Unrechtsausschlusses Korrektive bereithält, die eine Strafbarkeit im Schutzbereich des Grundrechts nach Möglichkeit vermeiden. III. Art 5 Abs. 1 - Meinungsfreiheit 1. Grundrechtskonzept Die Meinungsfreiheit, Kernstück politischer und geistiger Freiheit 24 seit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts 25, bezeichnet zusammenfassend die Grundrechtsverbürgungen des Art. 5 Abs. 1: die Freiheit der Meinungsäußerung und -Verbreitung, die Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren (Informationsfreiheit), die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film. Diese Freiheiten werden durch das Zensurverbot verstärkt und gesichert26. Ergänzt werden sie durch die Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG). Art. 5 GG garantiert damit umfassend die Freiheit zwischenmenschlicher Kommunikation27. Unabhängig von dem Streit um die Frage, ob Art. 5 auch eine institutionelle Komponente beinhaltet28, wird allgemein anerkannt 29, daß sich die volle Tragweite der Grundrechtsgewährleistungen erst aus ihrem Doppelcharakter ergibt: Sie sind zum einen subjektive Rechte und zwar sowohl i.S. klassischer Freiheits(Abwehr)rechte als auch i.S. politischer Mitwirkungsrechte. Darüberhinaus sind sie für die freiheitliche demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend, indem sie den geistigen Kampf, 24

Sie ist "Grundlage jeder Freiheit überhaupt", so BVerfGE 7, 198 (208). Zur geschichtlichen Entwicklung und zum wechselnden Grundrechtsverständnis vgl. HoffmannRiem in AK-GG, Art. 5 Rz 1-7. 26 Vgl. Hesse, VerfR, Rz 386; Herzog in Maunz/Dürig, Art. 5 Rz 1. Teilweise wird hierin auch ein eigenständiges Grundrecht gesehen. 27 BVerfGE 27, 71 (79). Vgl. statt vieler Herzog in M/D, Art. 5 Rz 1; Hoffmann-Riem in AKGG, Art. 5 Rz 8. 28 So will insbesondere Ridder, Meinungsfreiheit, in GR II, S. 243 ff., die "öffentliche Meinungsfreiheit" zu einer besonderen Kategorie ausgestalten und die Presse als Medium der öffentlichen Meinungsbildung den Rechten und Pflichten des Art. 21 GG unterwerfen. Zur Kritik an diesem Konzept vgl. statt vieler Herzog in M/D, Art. 5 Rz 4 ff., 11 ff. 29 BVerfG in st. Rspr., vgl. die Nachweise bei Herzog in M/D, Art. 5 Rz 5 ff., 10a, FN 1 u. 2; Hesse, VerfR, Rz 387; Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 8 ff.; v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 1. 25

III. Art. 5 Abs. 1 - Meinungsfreiheit

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die freie Auseinandersetzung der Ideen und Interessen gewährleisten, die für das Funktionieren dieser Staatsordnung lebensnotwendig sind. Ohne die Freiheit der Meinungsäußerung und der Information, ohne die Freiheit der modernen Massenkommunikationsmittel gibt es keine öffentliche Meinung und damit keine Demokratie. "Nur die freie öffentliche Diskussion über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung sichert die freie Bildung der öffentlichen Meinung, die sich im freiheitlichen demokratischen Staat notwendig pluralistisch im Widerstreit verschiedener und aus verschiedenen Motiven vertretener, aber jedenfalls in Freiheit vorgetragener Auffassungen, vor allem in Rede und Gegenrede vollzieht. Jedem Staatsbürger ist durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG das Recht gewährleistet, an dieser öffentlichen Diskussion teilzunehmen"30. Die Rechte der Meinungsfreiheit entsprießen somit zwei Wurzeln: Zum einen sind sie Menschenrechte, Konkretisierungen der Menschenwürde, und stehen in engem Zusammenhang mit der in Art. 4 GG garantierten Gedankenfreiheit, die "zu Tode verwundet wird, wenn es dem denkenden Menschen verwehrt ist, die Ergebnisse seines Denkens anderen mitzuteilen"31. Ihre Bedeutung beschränkt sich insofern nicht auf die Funktionsfähigkeit politischer Prozesse. Die Kommunikationsfreiheit ist vielmehr "das Grundrecht komunikativer Entfaltung schlechthin, das in allen Lebensbereichen wichtig werden kann"32. Darüberhinaus stehen sie in engem Zusammenhang mit dem demokratischen Prinzip und enthalten insofern konstituierende Elemente objektiver demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnung. Dies hat zum einen Bedeutung für die Auslegung der Rechtsnormen: Grundgedanke und Grundbedürfnisse des demokratischen Prinzips stellen eine weitere systematische Grenze staatlicher Eingriffe dar 33. Hierin erschöpft sich die Bedeutung dieser objektiven Komponente aber nicht: Sie beinhaltet auch einen programmatischen Auftrag an den Staat "gefährdete Freiheit aktiv zu stützen, zu sichern und zu festigen" 34. 2. Grundrecht und Strafrecht - Bedeutung im Rahmen der Arbeit Politischer Protest ist schon definitionsgemäß immer auch Meinungsäußerung35. Sowohl an verfassungsrechtliche wie auch an strafrechtliche 30 31 32 33 34 35

St. Rspr. seit BVerfGE 12, 113 (125). Herzog in M/D, Art. 5 Rz 8. Hoffmann-Riem, Art. 5 Rz 10; Hesse, VerfR, Rz 388; Herzog in M/D, Art. 5 Rz 10a. Herzog in M/D, Art. 5 Rz 9 f. Vgl. hierzu im einzelnen Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 9. H.M., vgl. Dreier in Glotz (Hrsg.), S. 64; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 239, 246. A.A.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

Grenzen kann dieser Protest in zweifacher Hinsicht stoßen: zum einen im Hinblick auf die Ausdrucksform, zum anderen im Hinblick auf den Inhalt der Äußerung. Schon immer bestand ein Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Strafrecht im Bereich der Ehrschutzdelikte, §§ 185 ff. StGB. Diese werden einerseits in Art. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich als Schranke der Meinungsfreiheit genannt, andererseits wird die Strafbarkeit wiederum durch § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen) begrenzt, der allgemein als Ausprägung der Grundrechte des Art. 5 GG verstanden wird 36 . In den Blickpunkt des strafrechtlichen Interesses gerät die Meinungsfreiheit in jüngerer Zeit durch eine immer größer werdende Zahl von Vorschriften, durch die Meinungsäußerung oder deren Verbreitung wegen bestimmter Inhalte unter Strafe gestellt wird. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die §§ 88a (aufgehoben 37), 89, 99 Abs.l Nr.l, 103, 130, 130a, 130b (geplant38), 131, 353 d Nr.l bzw. § l i l a OWiG). In frischer Erinnerung ist auch noch die Diskussion um eine (erweiterte) Strafbarkeit der "Auschwitz-" und in deren Gefolge der "Vertriebenenlüge", die bisher nur in § 194 Abs. 1 und 2 StGB Niederschlag gefunden haben39. Das Recht auf Informationsfreiheit hat auf zwei Arten Bedeutung: zum einen für die Frage, welche Informationen vom Staat geheimgehalten werden dürfen 40, zum anderen was die Information aus verbotenen (z.B. beschlagnahmten) Quellen angeht. Die Pressefreiheit hat Bedeutung einmal, soweit es um die Veröffentlichung von bestimmten Inhalten geht - hier stellt sich auch die Frage der innereren Pressefreiheit zum anderen, vor allem im Bereich des Rundfunks, wo Zugangsbeschränkungen im Medienbereich vorliegen ("Freie

Wassermann, JZ 1984, 265. 36 BVerfGE 12, 125; 42, 152; BGHSt 12, 293; Lenckner in Sch/Sch, § 193 Rz 1 m.w.N. 37 Die von der Bundesregierung beabsichtigte Einführung eines ähnlichen Tatbestandes § 130 b StGB wurde vorerst nicht verwirklicht. 38 Diese Vorschrift wurde entgegen ursprünglichen Plänen wieder aus dem "Gesetz zur Änderung des StGB, der StPO und des Versammlungsgesetzes ..." (bekannt geworden unter Bezeichnung "Artikelgesetz") vom 9.6.1989, BGBl. 1989,1, S. 1059, gestrichen. Zum Inhalt vgl. Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Artikelgesetz, S. 89. 39 Zur rechtl. Bewertung der umstrittenen Äußerung: "Soldaten sind Mörder" grundlegend Giehring, StrVert 1985, 30 ff. 40 Vgl. etwa zur Auskunftspflicht im Strafverfahren: BVerwG, StrVert 1986, 523; BVerfGE 57, 250.

. Art. 5 Abs. 1 - Meinungsfreiheit

129

Radios"41). Im weiteren Sinne gewinnt die Pressefreiheit Bedeutung für den Strafprozeß durch Redaktionsgeheimnis, Schutz von Informanten, bzw. im Gegenteil: durch Beschlagnahme von Fotomaterial 42. 3. Schutzbereich 3.1. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Garantiert wird das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. a) Der Begriff

der Meinungsfreiheit

Rechtsprechung43 und neuere Literatur 44 stimmen darin überein, daß der Begriff "Meinung" i.S. Art. 5 alle Äußerungen umfaßt, die der Bildung von Meinungen dienen: nicht nur die eigene (wertende) Stellungnahme sondern auch Tatsachenmitteilungen, die ja unabdingbare Voraussetzung für die Meinungsbildung sind oder zumindest sein können45. Art. 5 schützt damit umfassend das Recht der freien Rede, mehr noch, das Recht zur freien Kommunikation in jeder Form 46. Hinsichtlich des Inhalts der von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 geschützten Meinungen kennt das GG - vorbehaltlich der Einschränkungen des Abs. 2 keine Grenzen 47. Ein staatliches Meinungsrichtertum zur Beurteilung und Unterscheidung wertvoller- und wertloser, wichtiger und unwichtiger, grundsätzlicher und nebensächlicher Meinungen wäre mit dem Selbstbestimmungsrecht über den Inhalt kommunikativer Entfaltung, mit der staatlichen Neutralitätspflicht und insbesondere mit dem im Demokratieprinzip abgesicherten Grundsatz pluralistischer Offenheit unvereinbar 48. Meinungen und Tatsachen brauchen auch nicht auf politische Gegenstände bzw. auf Angelegenheiten von öffentlicher Bedeutung bezogen sein, wenn41

Dieses Problem wurde inzwischen durch Sendegenehmigungen (z.B. für Radio Dreyeckland) entschärft. 42 Vgl. BVerfG, StrVert 88, 1; Lisken, ZRP 1988, 193. 43 Vgl. etwa BVerfGE 54, 208 (219). 44 Herzog in M/D, Art. 5 Rz 50 ff.; Hesse, VerfR, Rz 391; Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 21; v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 6. 45 BVerfGE 61,1 (8) hält eine Tatsachenmitteilung für geschützt, "weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen ist". 46 Sachlich in Obereinstimmung mit Art. 10 Abs. 1 MRK; hierzu vgl. Herzog in M/D, Art. 5 Rz 55. 47 BVerfGE 61, 1 (7). 48 Hoffmann-Riem in AK-GG, Art 5 Rz 55. 9 Reichen-Hammer

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

gleich bei solchen Gegenständen der Hauptschutzbedarf besteht und sie deshalb auch im Mittelpunkt verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung standen49. Hoffmann-Riem schreibt hierzu: "Das Politische ist kein gegenständlich fixierter Sachbereich, sondern ein Modus. Fast jeder Sachbereich und jedes Problem sind potentiell politisch. Angesichts der Offenheit des Bereichs des Politischen sowie der Verzahnung politischer und unpolitischer Angelegenheiten wären die Bestimmbarkeit und Berechenbarkeit des grundrechtlichen Schutzes gefährdet, wenn er auf politische Angelegenheiten begrenzt wäre" 50. b) Ausdrucksform Meinungsäußerungen sind in jeder Form geschützt. Die Aufzählung in Abs. 1 Satz 1 (Wort, Schrift und Bild) hat nur beispielhaften Charakter. Es ist allgemein anerkannt, daß auch Methoden der Meinungsäußerung und -Verbreitung geschützt sind, die sich selbst bei weitester Interpretation der Begriffe Wort, Schrift und Bild nicht unter diese fassen lassen. Dies gilt insbesondere für Meinungsäußerung durch Gesten, Tragen bestimmter Symbole51 oder das Spielen von Musik52. Umfaßt ist damit auch die Chance, durch die Wahl der Ausdrucksform Aufmerksamkeit auszulösen bzw. die Resonanz für das kommunikative Anliegen zu erhöhen 53. Geschützt sind Ausdrucksformen allerdings nur insoweit, als sie der Übermittlung des kommunikativen Inhalts dienen und sich darauf beschränken. Führt die Wahl der Ausdrucksform zu Rechtsverletzungen, so ist zu differenzieren: Art. 5 GG schützt den geistigen Meinungskampf. Gewalt gegen Sachen oder Personen fällt deshalb schon nicht in den Schutzbereich. Darüberhinausgehend hat das BVerfG 54 eine Handlung dann nicht mehr vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG umfaßt gesehen, wenn der Überzeugungskraft des Arguments durch wirtschaftlichen Druck nachgeholfen werden soll. Will man einer beliebigen Einschränkung des Grundrechts begegnen, darf dies für Fälle nur sozialen Drucks nicht gelten. Hier handelt es sich allein um ein Schrankenproblem 55. 49

Nachweise bei Herzog in M/D, Art. 5 Rz 10a; vgl. auch Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz

22.

50

Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 22. Z.B. "Stoppt Strauß" - Plaketten. 52 Herzog in M/D, Art. 5 Rz 69 ff.; Hesse, VerfR, Rz 392; Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 25; wohl ohne sachlichen Unterschied: v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 9 f. 53 Hierzu vgl. BVerfGE 24, 278 (286) einerseits und BVerfGE 42, 143 (153) zu den Grenzen andererseits. 54 BVerfGE 25, 256 (265). 55 Wie hier Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 247 ff. Nur, wenn der kommunikative Gehalt 51

III. Art. 5 Abs. 1 - Meinungsfreiheit

131

3.2. Die Informationsfreiheit Notwendiges Gegenstück zur Freiheit der Meinungsäußerung bildet die Informationsfreiheit auf Seiten des Empfängers. Wie diese ist sie zum einen Abwehrrecht im klassischen Sinne, zum anderen hat sie aber auch objektivrechtlichen Charakter: Die Informationsfreiheit ist für ein demokratisches Verfassungssystem schlechterdings konstituierend. Insoweit hat also auch die zweite Variante des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 eine Verankerung in Art. 1 wie in Art. 20 GG 56 . Die Rezipientenfreiheit beschränkt sich auf die Zugänglichkeit im Rahmen der für den Zugang geltenden, in verfassungsmäßiger Weise errichteten Ordnung. Die rechtswidrige Beschaffung von Informationen ist durch keines der Grundrechte des Art. 5 Abs.l GG geschützt57. Die Informationsfreiheit gibt damit kein Recht zum heimlichen Ausforschen von Informationen oder zum "Hacken" von Computern. Zumindest im letzteren Fall liegt zwar eine allgemein (einer unbestimmten Vielzahl von Menschen) zugängliche Informationsquelle vor, die enthaltenen Informationen sind aber nicht für die Allgemeinheit bestimmt. Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit können jedoch die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen schützen58.

4. Schranken 4.1. Allgemeine Gesetze Der Begriff der allgemeinen Gesetze bildet eine besonders problematische Begrenzung der Meinungsfreiheit, dies schon allein deshalb, weil eine klare Definition hierfür fehlt 59. Das BVerfG kombiniert die in der Weimarer Zeit entwickelten Definitionen und sieht als allgemeine Gesetze solche an, "die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden

notwendig nicht ohne Rechtsverletzung übermittelt werden könnte: Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 25; Ridder, GR II, S. 274. 56 Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 5 Rz 97 ff.; Herzog in M/D, Art. 5, Rz 82 ff. 57 BVerfGE NJW 1984, 1741 (1743) sowie BGHZ 80, 25 - Wallraff/Bild; BGH NJW 1979, 647 (648 f.) - Telefongespräch Kohl-BiedenkopflStern. 58 BVerfGE 66, 116 - Wallraff/Bild. 59 Frowein, AÖR 105 (1980), S. 169 (180); v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 47.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

Rechtsguts dienen, dem Schutz eines Gemeinschaftswertes, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat"60. An einem allgemeinen Gesetz fehlt es jedenfalls (1) wenn es sich gegen eine bestimmte Meinung richtet (z.B. § 11 des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21.10.1878) oder (2), wenn es sich, ohne eine bestimmte Meinung treffen zu wollen, nur im Schutzbereich eines der in Art. 5 Abs.l Satz 1 und 2 genannten Grundrechte auswirkt 61. Strafgesetze werden, soweit sie meinungs-, presse- und publikationsneutrale Straftaten regeln, ebenso wie die Normen der StPO zu den allgemeinen Gesetzen gezählt. Rechtsdogmatisch schwierig ist dies, wenn die Strafnorm an eine bestimmte Meinung anknüpft. In einem solchen Fall kann die Strafnorm die Grundrechte nur einschränken, wenn dies zum Schutz von verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern unerläßlich ist. Die Rechtsprechung geht auf dieses Problem kaum ein und stellt zumeist ohne nähere Begründung fest, daß die betreffende Norm ein allgemeines Gesetz i.S. Art. 5 Abs. 2 sei62. Einer gesetzlichen Grundlage bedarf auch die Einschränkung der Meinungsfreiheit im besonderen Gewaltverhältnis. Die Diskussion kreist heute vor allem um die verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen Gesetzesbestimmungen. Hier ist in jüngerer Zeit erneut vor allem die Diskussion um die politische Betätigung von Beamten und Richtern entbrannt. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand sie in der Auseinandersetzung um die Blockade des Atomwaffenstützpunktes Mutlangen durch eine Gruppe von Richtern im Jahre 198763.

60

BVerfGE 7, 198 (209 f.); 28 282 (292). V.Münch in GGK, Art. 5 Rz 48. 62 BVerfGE 47, 130 (143) - § 89 StGB; BVerfGE 47, 198 (231), OLG Frankfurt, NJW 1984, 1128 (1129) - § 90a Abs. 1 StGB; BVerfGE 57, 250 (268) - § 99 Abs. 1 Nr.l StGB; BVerfGE 64, 55 (62 f.) - $ 103 StGB. Weitere Nachweise bei Herzog in M/D, Art. 5 Rz 276. Kritisch zu dieser Rspr. v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 50 -"Strafgesetze". 63 Vgl. hierzu Rudolph, DRiZ 1988, 131 ff.; Zuck, MDR 1988, 280. Zum Hintergrund: Die Richterblockade - Mutlangen, 12. Januar 1987, Dokumentation, hrsg. von H. Kramer, 1987. 61

. Art. 5 Abs. 1 - Meinungsfreiheit

133

4.2. Das Recht der persönlichen Ehre Nach der Rechtsprechung des BVerfG bildet auch das Recht der persönlichen Ehre nur insoweit eine die Meinungsfreiheit zulässigerweise einengende Schranke, als es gesetzlich normiert ist, denn eine Grundrechtseinschränkung ohne gesetzliche Konkretisierung verstößt gegen das geltende Grundrechtsverständnis, das Eingriffe in Freiheitsrechte nur auf gesetzlicher Grundlage zuläßt64. Würde man auch Gewohnheitsrecht mit einbeziehen, bestünde zudem die Gefahr großer Rechtsunsicherheit, zumal sich gerade im Ehrenschutz die Auffassungen leicht wandeln. Das Recht der persönlichen Ehre ist derzeit abschließend normiert in den §§ 130, 185 ff. StGB, §§ 374 ff. StPO sowie in §§ 823 ff, 1004 BGB einschließlich des Rechts auf Unterlassung und Widerruf. Es ist kein Unterfall der allgemeinen Gesetze, sondern steht als selbständige Schranke daneben und läßt deshalb eigene Abstufungen zu, die vor allem daraus resultieren, daß auch das Recht der persönlichen Ehre selbst wieder (Wechselwirkung) durch die Meinungsfreiheit beschränkt wird. Rechtsprechung und Lehre sehen übereinstimmend in § 193 StGB eine besondere Ausprägung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung 65. Die Tragweite dieses Grundrechts muß gerade auf die in § 193 StGB gebotene Güterabwägung zwischen Ehre und Meinungsfreiheit - falls Gesichtspunkte der öffentlichen Meinungsbildung eine Rolle spielen einen wesentlichen Einfluß ausüben66. Dem Grundrecht der Meinungsfreiheit kommt dabei ein um so größeres Gewicht zu, je mehr es sich nicht um eine unmittelbar gegen ein privates Rechtsgut gerichtete Äußerung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr und in Verfolgung eigennütziger Ziele, sondern um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt67. Daß Art. 5 GG der politischen Diskussion auch in der Rechtspraxis große Freiräume eröffnet, haben zuletzt die - zu Recht ergangenen - Freisprüche im sog. Frankfurter Soldatenurteil gezeigt68.

64

BVerfGE 33, 1 (16 f.). BGH, JZ 1959, 375 - Badenerland. 66 Seit BVerfGE 12, 113 (125) st. Rspr. 67 St. Rspr., vgl. BVerfGE 7, 198 (212); 61, 1 (11); 66, 116 (139). Vgl. auch BGH, NJW 1963, 902 einerseits und BGH, NJW 1964, 1471 andererseits. 68 Angeklagt war ein Arzt, der auf dem Höhepunkt der Debatte um die Nachrüstung mit Atomraketen in einer Podiumsdiskussion geäußert hatte, Soldaten seien potentielle Mörder, vgl. LG Frankfurt, StrVert 1989,. Hierzu auch BGHSt 36, 83. 65

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

IV. Art 5 Abs. 3 - Kunstfreiheit Auch die Freiheit der Kunst ist nicht nur um ihrer selbst willen sondern auch wegen ihrer Bedeutung für eine freiheitliche Gesellschaft geschützt69. Die Freiheit der Kunst, obzwar kein historisches Freiheitsrecht 70, ist schon deshalb auch ein politisches Grundrecht, weil die Kunst gerade in Zeiten politischer Repression oft einziges Ausdrucksmittel oppositioneller politischer Meinungen ist71. Aber auch in der Bundesrepublik ist die Kunst da, wo sich Opposition nicht auf die Parlamente beschränkt, sondern von Volksbewegungen getragen wird, stets integraler Bestandteil dieser Bewegungen72. Die Kunst kann sich in den Dienst der Politik stellen73, sie kann aber auch selbst zum Politikum werden 74. Was aber ist Kunst? Der Begriff leidet unter der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit seiner Definition 75. Im einzelnen kann hier auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen werden 76. Festzuhalten ist, daß der Schutzbereich der Kunstfreiheit sehr weit reicht. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Veranstalter zuvorderst und eindeutig politische Absichten verfolgen, denn auch der Bereich der "engagierten Kunst" ist von der Freiheitsgarantie mit umschlossen77. Die Freiheit der Kunst ist durch Art. 5 Abs. 3 vorbehaltlos gewährleistet. Weder die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 noch die Schranken des Art. 5 Abs. 2 gelten unmittelbar oder analog78. Grenzen kann die Kunstfreiheit hingegen unmittelbar in anderen Verfassungsbestimmungen finden, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen. Dies gilt namentlich für das durch Art. 2 Abs.l 69

Hesse, VerfR, Rz 401. Erstmals positiviert in Art 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung, vgl. Ladeur in AK-GG, Art. 5 Abs. 3 II Rz 8. 71 Vgl. etwa die Kulturen des Widerstands in Chile und Südafrika, aber auch in der DDR. 72 Z.B.: Liedermacher-Szene innerhalb der Anti-Atomkraftbewegung, die Mitte der 70ger Jahre eine regelrechte Folk-Musik-Welle auslöste; Solidaritätskonzerte für Nelson Mandela 1988 oder gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf bis 1989. 73 Wahlkampftourneen bekannter Künstler für SPD und Die Grünen; Aktion Künstler für den Frieden. 74 Staeck-Plakatausstellung im Bundeshaus. 75 V.Münch in GGK, Art. 5 Rz 80. 76 Vgl. v.Münch in GGK, Art. 5 Rz 80 ff.; Ladeur in AK-GG, Art. 5 Abs. 3 II Rz 9 f. 77 BVerfG, NStZ 1985, 212 - Anachronistischer Zug; ebenso schon BVerfGE 30, 173 (190 f.); vgl. auch Otto, NStZ 1985, 213. Dagegen hatte BayVGH, NJW 1981, 2428, angenommen, daß ein "künstlerischer Aufzug" wegen der im Vordergrund stehenden Prägung der Veranstaltung durch politische Ziele aus dem Kunstbegriff herausfalle. 78 BVerfGE 30, 173 (191 f.); BVerfG, NStZ 1985, 212. 70

V. Art. 8 - Versammlungsfreiheit

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i.V.m. Art. 1 Abs.l GG geschützte Persönlichkeitsrecht. Allerdings zieht die Kunstfreiheit ihrerseits dem Persönlichkeitsrecht Grenzen. Beim Konflikt zwischen Kunst und Strafrecht ist deshalb immer festzustellen, ob die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts derart schwerwiegend ist, daß die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat79. Zu beachten ist allerdings, daß der Schutz der kommunikativen Wirkung eines Kunstwerks nicht die Abwehr solcher Maßnahmen umfaßt, die nicht gegen die Inhalte eines Kunstwerks, sondern gegen äußere Bedingungen seiner Präsentation ergriffen werden. Deshalb kann zum Beispiel - hinsichtlich ihres äußeren Ablaufs - eine "künstlerische Demonstration" nach dem Versammlungsgesetz beurteilt werden 80. V. A r t 8 - Versammlungsfreiheit 1. Charakter des Grundrechts Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens81. Zweck der Versammlungsfreiheit ist der Schutz der für die öffentliche Meinungsbildung im Staat unerläßlichen Meinungsäußerungsund Informationstätigkeit, oder griffiger: der Schutz der kollektiven Meinungsfreiheit 82. Darüberhinaus umfaßt sie den Schutz der sich unmittelbar aus der Anwesenheit einer Menschenmenge ergebenden sozialen Erscheinungsformen, die einen nur geringen Grad an sozialer und rechtlicher Institutionalisierung aufweisen, also jenes Stückes ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftsmäßiger Routine zu bewahren83. Für diesen Aspekt der Versammlungsfreiheit hat sich das Synonym Demonstrationsfreiheit eingebürgert 84. So verstanden bietet die Versammlungsfreiheit ein Korrektiv für unbestreitbare Defizite in der öffentlichen Meinungs- und damit notwendig auch in der staatlichen Willensbildung des modernen demokratischen Staatswesens. Diese Defizite werden hervorgerufen durch die Entschei79 80 81 82 83 84

BVerfG, NStZ 1985, 212. Vgl. Ladeur in AK-GG, Art. 5 Abs. 3 II Rz 20. BVerfGE 69, 315 (Leitsatz 1); Herzog in M/D, Art. 8 Rz 10; Preuß, Schmid-FS, S. 421. Dieser Begriff wurde nun auch von BVerfGE 69, 315 (345) aufgenommen. Hesse, Verfassungsrecht, Rz 404; Preuß, Schmid-FS, S. 421. Vgl. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 18; Kühl, StrVert 1987, 130.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

dung für eine ausschließlich repräsentative Demokratie 85 und die ungleiche Verteilung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht. Der Verfassungsgesetzgeber hat dies erkannt und Art. 8 GG die Aufgabe zugewiesen, dieses Defizit zumindest partiell auszugleichen. Der normative Kern des Grundrechts liegt in seiner anti-institutionellen Stoßrichtung, in der Gewährleistung der Freiheit politischer Opposition außerhalb der formalisierten Kanäle politischer Einflußnahme. Art. 8 hat insofern Kompensationsfunktion 86: "Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflußnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen" 87. Das Demonstrationsrecht hat andererseits auch systemstabilisierende Funktion als Möglichkeit, Unmut und Kritik öffentlich vorzubringen und abzuarbeiten, aber auch als politisches Frühwarnsystem gegen Gefahren und Machtmißbrauch, das rechtzeitig Kurskorrekturen der offiziellen Politik ermöglicht 88. In diesem Sinne haben Demonstrationen, als "Druck der Straße" oft mißtrauisch beäugt89, in der Bundesrepublik wie in allen europäischen Staaten90 die politische Kultur entscheidend verändert und sind zu einem wichtigen Faktor der politischen Meinungsbildung geworden91. Art. 8 GG darf andererseits nicht dahin mißverstanden werden, daß er lediglich das Recht gibt, sich zu politischen Zwecken zu versammeln. Weder der Wortlaut noch die systematische Stellung im Grundrechtsteil 92 tragen eine solche Einschränkung. Im Gegenteil gehört es gerade zum 85

Dies gilt zumindest für die Bundesverfassung. Plebiszitäre Elemente enthalten dagegen seit geraumer Zeit zahlreiche Kommunal- und Landesverfassungen. Vgl. hierzu z.B. Wassermann, JZ 1984, 265 f. 86 Vgl. hierzu auch Leinen in Glotz (Hrsg.), S. 25. 87 BVerfGE 69, 315 (346). 88 BVerfGE 69, 315 (347). Zum ganzen vgl. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 11; Fritz, Simon-FS, S. 403 ff.; Hesse, VerfR, Rz 404; Preuß, Schmid-FS, S. 421 ff.; Ströbele in Kutscha (Hrsg.), Demonstrationsfreiheit, S. 8. 89 Vgl. die Nachw. bei Kutscha in Kutscha (Hrsg.), S. 26 f.; Preuss, Schmid-FS, S. 438 f.; Simon, Schmid-FS, S. 448. 90 Mittlerweile auch und gerade in Osteuropa! 91 Im Jahre 1986 fanden in der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin 7.143 Demonstrationen (Versammlungen unter freiem Himmel) statt, vgl. die Statistiken bei v.Münch in GGK, S. 437 im Anschluß an die Kommentierung zu Art. 8 sowie in Gössner (Hrsg.), Restrisiko Mensch, S. 93 zit. aus Innere Sicherheit, Nr. 1 vom 3.4.1987. 92 Nicht etwa nach Art. 20 GG.

. Art.

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Wesen der Grundrechte, daß ihre Ausübung unabhängig davon garantiert ist, welche inhaltlichen Zwecke damit verfolgt werden sollen. Im Zweifelsfall dürfte eine klare Abgrenzung ohnehin unmöglich sein93. Die nahe sachliche Verbindung der Grundrechte der Art. 5, 8 und 9 GG mit dem Demokratieprinzip zeigt also ihre Hauptzielrichtung. Dahinter fast schon verborgen, weil im freiheitlichen Rechtsstaat kaum problematisch, gibt Art. 8 GG aber auch als Mindestgarantie überhaupt das Menschenrecht, mit anderen zusammenzukommen, verbietet die systematische Isolierung des einzelnen. Insofern aktualisiert und konkretisiert die Vorschrift den Menschenwürdesatz des Art. 1 GG in einem wesentlichen Bereich 94. 2. Schutzbereich Der Schutzbereich des Art. 8 wird ausschließlich durch dessen Absatz 1 bestimmt. Danach haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. a) Der Begriff

der Versammlung

Eine Versammlung i.S. Art. 8 GG liegt nach richtiger Ansicht schon dann vor, wenn sich mindestens zwei 95 Personen treffen. Nach h.M. kann von einer Versammlung aber nur gesprochen werden, wenn die Teilnehmer einen gemeinsamen Zweck verfolgen 96. Problematisch ist dies zum einen bei Spontanversammlungen, d.h. Menschenansammlungen, die oft nur aufgrund eines bestimmten Anlasses (Bau der Berliner Mauer 1961; Kennedymord 1963; Invasion der sowjetischen Armee in der CSSR 1968; Invasion der USA in Grenada 1983; Wiederöffnung der deutsch-deutschen Grenze 1989) ohne Einladung und Vorbereitung zusammenströmen, denen es an jeder inneren Homogenität und 93 Im Zweifel wird der politische Zweck immer bejaht werden können, ja sogar müssen, um einen effektiven Schutz zu gewahrleisten. Abgrenzungsfragen stellen sich ohnehin nur, wenn der Staat repressiv einschreitet. Schon allein hierdurch wird aber jedes davon betroffene Handeln zum Widerstand und damit politisch! Dies zeigt die Erfahrung in anderen Ländern, in denen Freiheitsrechte weniger geachtet werden. 94 Vgl. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 12 ff., 16. 95 Vgl. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 47 f. H.M. 3 Personen, vgl. etwa v.Münch in GGK, Art. 8 Rz 9 m.w.N. Bei der Begriffedefinition im Versammlungsgesetz kann dagegen durchaus sachgerecht von einer größeren Personenzahl ausgegangen werden, da es dort ja nicht um die Gewährung, sondern um Einschränkungen des Versammlungsrechts geht. 96 Dieses Begriffemerkmal dient der Abgrenzung von der bloßen Ansammlung, vgl. v.Münch in GGK, Art. 8 Rz 10.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

Organisation fehlt und deren Teilnehmer u.U. völlig unterschiedliche Ziele verfolgen, angefangen von bloßer Neugier bis hin zu politischer Meinungsäußerung mit völlig unterschiedlicher Tendenz. Problematisch sind ferner die Fälle, in denen eine Versammlung in mehrere Lager aufgespalten ist, deren verschiedene Zielsetzungen u.U. in heftigen Debatten aufeinander prallen und die - gerade im Interesse des demokratischen Meinungsbildungsprozesses dennoch ein vitales Interesse haben, dabei nicht durch staatliche Eingriffe gestört zu werden. In beiden Fällen kann es u.U. schwer sein, überhaupt noch einen abgrenzbaren gemeinsamen Zweck zu formulieren. Mehr als der Zweck, beieinander zu bleiben und miteinander zu streiten oder gar nur gemeinsam ein bestimmtes Ereignis zu verfolgen (Mauerbau), bleibt oft nicht übrig. Dennoch fallen nach allgemeiner Ansicht Spontanversammlungen in den Schutzbereich von Art. 8 GG 97 . Nichts anderes kann für gespaltene Versammlungen gelten. Es ist deshalb sachgerecht, von einer Versammlung bereits dann zu sprechen, wenn das gemeinsame Ziel angestrebt wird, beieinander zu sein und beieinander zu bleiben98. b) Ohne Waffen Das Waffenverbot ist nur eine beispielhafte Konkretisierung des Gebots der Friedlichkeit. Da es bestimmter gefaßt und zur Interpretation des Gebots der Friedlichkeit herangezogen wird, ist es dennoch sinnvoll, es vorab zu behandeln. Waffen i.S.d. Art. 8 GG sind zunächst Waffen im technischen Sinne, d.h. Gegenstände, die bereits zur Verletzung von Menschen hergestellt werden, wie z.B. Schußwaffen, Gummiknüppel, Molotowcoctails oder Stahlschleudern. Anerkannt ist aber auch, daß sog. Waffen im weiteren Sinne hierher zu rechnen sind. Bei letzteren muß zu ihrem bloßen Vorhandensein aber noch eine besondere Intention der Unfriedlichkeit in der konkreten Situation hinzukommen, um den betreffenden Versammlungsteilnehmer vom Schutz des Art. 8 auszuschließen (Stuhlbein für Saalschlacht). Dagegen sind reine Defensivwaffen, die schon aus technischen Gründen nicht zum Angriff geeignet sind, grundsätzlich keine Waffen i.S. von Art. 8 Abs. 1. Dies ergibt sich aus der Zielrichtung der Vorschrift, die sich eindeutig nur gegen solche Versammlungsteilnehmer richtet, von denen Gewalttätigkeiten ausgehen können. Eine Demonstration, die sich durch 97

BVerfGE 69, 315 (349 ff.); Herzog in M/D, Art. 8 Rz 55, 84, 106; v.MOnch in GGK, Art. 8

Rz 10. 98

Herzog in M/D, Art. 8 Rz 49 f.

. Art.

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Mitnahme von Sturzhelmen, Schilden u.ä. lediglich vor den befürchteten Gewalttätigkeiten einer Gegendemonstration oder vor Übergriffen einer überforderten Polizei" schützen will, verliert also nicht allein deshalb den Schutz des Art. 8 GG 100 . Schon der Terminus "passive Bewaffnung" überrascht in diesem Zusammenhang, als es doch allenfalls um eine daraus abzuleitende Gefahrprognose der Polizei hinsichtlich einer möglichen Unfriedlichkeit der Demonstranten gehen kann101. Auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken stößt deshalb die Neuregelung des Demonstrationsstrafrechts 102, die schon die passive Bewaffnung und die Vermummung unter Strafe stellt103. Solange jede auch noch so harmlose Demonstration von Staatsschutz und Verfassungsschutz observiert wird und Teilnehmer durch die Weitergabe solcher Erkenntnisse 104 berufliche Nachteile befürchten müssen, ist der generelle Schluß auf ihre potentielle Unfriedlichkeit unzulässig105. c) Friedlich Art. 8 gewährt das Recht, sich friedlich zu versammeln. Der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit kann aber nicht mit dem von der Rechtsprechung des BGH 1 0 6 entwickelten weiten Gewaltbegriff des Strafrechts gleichgesetzt werden 107. Dagegen spricht bereits, daß die Verfassung die Unfriedlichkeit in gleicher Weise wie das Mitführen von Waffen bewertet, also ersichtlich äußerliche Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder agressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen meint. Angesichts der weiten Fassung des Gesetzesvorbehalts in Abs. 2 besteht zudem keine Notwendigkeit, den Begriff der Friedlichkeit eng zu verstehen und damit den Geltungsbereich der Grund-

99 Bei Großeinsätzen an Objekten der Atomindustrie kommen oft völlig übermüdete Polizisten zum Einsatz. Schon seit langem beklagt die Gewerkschaft der Polizei die unverhältnismäßig hohe Zahl an Überstunden bei Demonstrationen an Großprojekten, denen es an der notwendigen gesellschaftlichen Akzeptanz fehlt. Die Polizei sei bei solchen Einsätzen "verheizt" worden, so der ausgeschiedene Vorsitzende der GdP, Schröder, in der mündl. Verhandlung über die Sitzblockaden vor dem BVerfG. Vgl. auch ders. in Glotz (Hrsg.), S. 17 ff. 100 Herzog in M/D, Art. 8 Rz 68. 101 So auch Herzog in M/D, Art. 8 Rz 68 und 75. 102 §§ 17 a, 27 VersammlG. 103 Zur Kritik vgl. etwa Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen, Artikelgesetz, 1988, S. 33 ff. 104 Regelanfrage im öffentlichen Dienst aber auch in der Industrie in sog. "sicherheitsrelevanten" Bereichen, z.B. bei der Firma Siemens in München. 105 Vgl. auch BVerfGE 65, 1 (43) - Volkszählung; Herzog in M/D, Art. 8 Rz 75. 106 BGHSt 23, 46 (49 ff.). 107 So die ganz h.M., vgl. BVerfGE 69, 315 (359 f.); 73, 206 (248 f.) mit zahlreichen weit. Lit.nachw.; Herzog in M/D, Art. 8 Rz 64 ff., 71.

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rechtsgewährleistung von vornherein derart einzuschränken, daß der Gesetzesvorbehalt weitgehend funktionslos wird 108 . Das GG geht gerade auch im Bereich des politischen Thgeskampfes nicht von irgendwelchen Harmonievorstellungen aus. Zulässig sind vielmehr auch erbitterte Auseinandersetzungen - auch mit Außenstehenden. Deshalb fällt eine Versammlung nicht schon deshalb aus dem Schutzbereich von Art. 8 GG, weil es auf ihr nicht "friedlich zugeht", d.h. weil sie einen erregten und hitzigen Verlauf nimmt oder weil sie im Umgang der Teilnehmer untereinander oder mit Außenstehenden den Boden bürgerlicher Anständigkeit verläßt 109. Dagegen verhält sich nach herrschender Ansicht ein Teilnehmer unfriedlich, wenn er Gewalt gegen Personen oder Sachen anwendet110. Eine Differenzierung zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen wird mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Zum Teil wird darauf abgestellt, wie leicht sich die Zerstörung von Sachen auch als Beeinträchtigung von Leben, Gesundheit und Freiheit auswirken kann111. Diese Befürchtungen bestehen zu Recht und lassen sich historisch belegen, etwa da, wo sich Gewalt gegen Sachen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Juden, Türken, Asylanten, Sinti oder Flüchtlinge aus Osteuropa richtet. Da das Grundrecht unabhängig vom Inhalt des Anliegens gewährt wird, wäre auch keine Differenzierung zwischen Gewalt gegen die Normalbevölkerung und Gewalt gegen das "Establishment" möglich. Das BVerfG 112 knüpft an solche geschichtlichen Erfahrungen an, zieht interessanterweise aber auch Effizienzüberlegungen heran: Auf der Vermeidung von Gewalttätigkeiten müsse eine Rechtsordnung, die nach Überwindung des mittelalterlichen Faustrechts die Ausübung von Gewalt nicht zuletzt im Interesse schwächerer Minderheiten beim Staat monopolisiert habe, strikt bestehen. Dies sei Vorbedingung für die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit als Mittel zur aktiven Teilnahme am politischen Prozeß und - wie die Erfahrungen mit den Straßenkämpfen der Weimarer Republik gezeigt hätten - für eine freiheitliche Demokratie auch deshalb unverzichtbar, weil die Abwehr von Gewalttätigkeiten freiheitsbegrenzende Maßnahmen auslöse. Von den Demonstranten könne ein friedliches

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Hierzu vgl. BVerfGE 73, 206 (248); Herzog in M/D, Art. 8 Rz 69 ff. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 72; v.Münch in GGK, Art. 8 Rz 19. 110 BVerfGE 69, 315 (360); Herzog in M/D, Art. 8 Rz 72; v.Münch in GGK, Art. 8 Rz 23a. Dagegen differenzierend zw. Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen: AG Frankfurt, JZ 1969, 200 (205); Hannover, KJ 1968, 51 (58); Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 8 Rz 18. 111 Herzog in M/D, Art. 8 Rz 72. 112 BVerfGE 69, 315 (360). 109

. Art.

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Verhalten um so mehr erwartet werden, als sie dadurch nur gewinnen könnten, während sie bei gewalttätigen Konfrontationen am Ende stets der Staatsgewalt unterliegen und zugleich die von ihnen verfolgten Ziele verdunkeln würden. Hierin liegt freilich ein logischer Fehlschluß: Würde man ein Recht zu (begrenzter) Gewalt gegen Sachen bejahen, dürfte die Staatsmacht ja gerade nicht zugunsten des Opfers eingreifen. Gerade dies macht aber eine Beschränkung notwendig. Der Schutz des Art. 8 umfaßt also keine Gewalttätigkeiten i.S. einer physischen Verletzung von Personen und Sachen. Zwischen der Einflußnahme mit rein geistigen Mitteln und der Anwendung physischer Gewalt gibt es aber eine reiche Vielfalt von Formen der Einflußnahme durch sozialen Druck, die alle in den Schutzbereich fallen. Neben der geistigkommunikativen enthält Art. 8 GG auch eine physisch-psychische Komponente. Insofern bestehen Parallelen zu anderen Grundrechten: dem in Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Streikrecht, dem Recht auf Aussperrung 113, der durch Art. 14 GG garantierten Möglichkeit der wirtschaftlichen Einflußnahme durch Investion(sverweigerung) oder der durch Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG geschützten Möglichkeit der Einflußnahme auf politische Parteien durch Spenden. Die Funktion des Art. 8 besteht nicht nur darin, den Austausch und die Übermittlung geistiger Inhalte zu ermöglichen, sondern darüber hinaus, zuweilen primär, in der Möglichkeit der dramatischen und expressiven Darstellung einer Botschaft. Ziel ist die Beeindruckung derjenigen, die nicht Teil der Versammlung sind, in erster Linie der staatlichen Organe und der Öffentlichkeit 114. Dementsprechend sind auch Sitzblockaden, LKW-Blockaden oder Blockaden von Arbeitern vor Werkstoren Versammlungen i.S. von Art. 8 GG, unabhängig davon, ob eine Behinderung Dritter gewollt ist oder nur in Kauf genommen wird 115 . d) Unfriedlichkeit

eines Teils der Demonstranten

Die Unfriedlichkeit eines Teils der Demonstranten beraubt keineswegs auch alle anderen Versammlungsteilnehmer ihres Grundrechtsschutzes. Dies folgt schon daraus, daß Art. 8 nicht der Versammlung als solcher, sondern jedem einzelnen Versammlungsteilnehmer Rechte verleiht 116. Nur 113

Sofern ein solches anerkannt wird. BVerfGE 69, 315 (343); Preuß, Schmid-FS, S. 424 ff.; Prittwitz, JA 1987, 24; Leyrer in Finckh/Jens, S. 85 ff. Kritisch dagegen Wassermann, JZ 1984, 265. 115 So BVerfGE 73, 206 ( 248 f.); Preuß, Schmid-FS, S. 425 ff., 429 ff; Tiedemann, JZ 1969, 717 (722). 116 BVerfGE 69, 315-Leitsatz 4 (359 ff.); im einzelnen hierzu: Herzog in M/D, Art. 8 Rz 73 f., 114

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so kann das Grundrecht effektiv gewährleistet werden. Ansonsten könnten nur wenige Störer - u.U. sogar durch die Staatsorgane eingeschleuste VLeute oder Provokateure - die Auflösung einer Versammlung erzwingen. Falsch ist es deshalb, eine Unfriedlichkeit der Versammlung als ganzer schon dann anzunehmen, wenn sich die Ordnungsgewalt des Leiters gegen die Gewalt einzelner Teilnehmer nicht durchsetzen kann117. Hier ist es vielmehr Aufgabe der Polizei, die friedlichen Teilnehmer zu schützen118. 3. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit 3.1. Versammlungen unter freiem Himmel119 a) Verhältnis der Absätze 1 und 2 Art. 8 Abs. 2 GG bezieht sich allein auf Versammlungen unter freiem Himmel, enthält aber insoweit einen außerordentlich weit gefaßten Gesetzesvorbehalt. Dieser bezieht sich jedoch allein auf die "physisch-räumliche Dimension", also die soziale Erscheinungsform der Versammlung. Ihre "geistig-komunikative Dimension", die Meinungsinhalte unterliegen allein den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG 120 . Dies bedeutet aber nicht, daß die Geltungskraft dieser Grundrechtsverbürgung auf den Bereich beschränkt bleibt, den der Gesetzgeber ihr unter Respektierung ihres Wesensgehalts beläßt. Vielmehr ist hier nach heute wohl unbestrittener Ansicht 121 ein ähnlicher Inversionsschluß zu ziehen, wie nach dem Lüth-JJrteil des BVerfG 122 bei dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2. Weder der Gesetzgeber noch die seine Gesetze vollziehende Verwaltung dürfen die Versammlungsfreiheit hinter jedem noch so untergeordneten anderen Rechtsgut zurücktreten lassen. Beide müssen bei Eingriffen in die Versammlungsfreiheit Güterabwägungen vornehmen und dabei dem besonderen Gewicht Rechnung tragen, das Versammlungs und Demonstrationsfreiheit für die Stellung des Bürgers im demokratischen Staat sowie für die öffentliche Meinungsbildung besit-

115 ff.; Hoffmann-Riem in AK-GG, Art 8 Rz 23. 117 So aber v.Münch in GGK, Art. 8 Rz 19. 118 Wie hier BVerfGE 69, 315 (360 ff.) m.w.N.; Herzog in M/D, Art. 8 Rz 116 ff. 119 Zur Abgrenzung von Versammlungen in geschlossenen Räumen vgl. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 91; v.Münch in GGK, Art. 8 Rz 31. 120 Herzog in M/D, Art. 8 Rz 22 f.; Preuss, Schmid-FS, S. 432 ff., der noch eine dritte, die physisch-psychische Dimension unterscheidet; Weingärtner, Demonstration und Strafrecht, S. 12 ff. 121 BVerfGE 69, 315 (348 f.); Herzog in M/D, Art. 8 Rz 94. 122 BVerfGE 7, 198 (207 ff.).

. Art.

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zen und das ihnen darüberhinaus auch für die Stellung als Einzelperson in ihrer gesellschaftlichen Umwelt zukommt. Die Ausübung der Versammlungsfreiheit darf nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzt, das Grundrecht in seinem Wesensgehalt nicht angetastet werden (Art. 19 Abs. 2 GG). Zulässig sind zunächst bestimmte Ordnungsregeln, wie sie im Versammlungsgesetz vorgesehen sind. Hierzu gehört etwa die Pflicht zur Anmeldung, deren Zulässigkeit das BVerfG unter ausdrücklichem Hinweis darauf bestätigt hat, daß diese bei Spontandemonstrationen nicht eingreift und ihre Verletzung nicht schematisch zur Auflösung oder zum Verbot berechtigt 123 . Ebenfalls vom BVerfG bestätigt wurde die grundsätzliche Möglichkeit, Versammlungen aufzulösen bzw. zu verbieten, allerdings nur mit den bereits oben aufgezeigten Restriktionen, also nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung wichtiger Gemeinschaftsgüter und der Maßgabe, daß i.d.R. nur eine nachträgliche Auflösung in Betracht kommt, das repressive Verbot also nur wenigen Ausnahmefällen vorbehalten bleibt 124 . Erst mit dem rechtmäßigen Verbot bzw. der rechtmäßigen Auflösung der Demonstration entfällt Art. 8 GG als denkbarer Rechtfertigungsgrund 125. Insofern kann von einem "Grundrechtsschutz durch versammlungsrechtliche Verfahrensvorschriften" gesprochen werden126. Dies führt zur eigentlichen Kernfrage: Unter welchen Voraussetzungen ist die Auflösung einer Demonstration möglich? Oder umgekehrt: Welche Handlungsweisen werden durch Art.8 GG gerechtfertigt? b) Grenzen der Versammlungsfreiheit Eine Auflösung ist zunächst dann möglich, wenn die Versammlung schon nicht in den Schutzbereich des Art. 8 fällt, also insbesondere, wenn sie unfriedlich ist. Eine Auflösung kommt ferner bei einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Betracht ( § 15 Abs. 1 VersG), allerdings nur als ultima ratio, wenn das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist und eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des 123

BVerfGE 69, 315 - Leitsatz 2a (349 ff.). BVerfGE 69, 315 - Leitsatz 2b - (352 ff.); 73, 206 (249 f.). 125 BVerfGE 73, 206 (250). 126 Grundlegend hierzu Weichert, StrVert 1989, 459 ff. 124

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Freiheitsrechts ergibt, daß dies zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist 127 . Demgemäß rechtfertigt keineswegs jedes beliebige Interesse eine Einschränkung dieses Freiheitsrechts. Aus bloßen verkehrstechnischen Gründen kommen Veranstaltungsverbote nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht, zumal in aller Regel ein Nebeneinander der Straßenbenutzung durch Demonstranten und fließendem Verkehr durch Absprachen und Auflagen erreichbar ist (Kooperationsmodell des BVerfG 128). Doch auch da, wo dies nicht möglich ist, sind jedenfalls Behinderungen und Belästigungen, die sich zwangsläufig aus der Massenhaftigkeit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck nicht vermeiden lassen, von Dritten hinzunehmen. Dies beginnt mit dem schlichten Effekt, daß sich dort, wo eine größere Versammlung stattfindet, niemand anderer mehr aufhalten kann. Vor allem aber führen größere Versammlungen und Umzüge stets zu Beeinträchtigungen des Straßenverkehrs, was gerade in den Hauptverkehrszeiten beträchtliche Belastungen für Unbeteiligte mit sich bringen kann. In Rechtsprechung und Literatur besteht mittlerweile Einigkeit, daß derartige Behinderungen durch Art.8 GG gerechtfertigt werden. Dies soll aber nur dann gelten, wenn sie als sozial-adäquate Nebenfolge mit rechtmäßigen (?) Demonstrationen verbunden sind und sich auch durch zumutbare Auflagen nicht vermeiden lassen. An dieser Voraussetzung fehle es, wenn die Behinderung Dritter nicht nur als Nebenfolge in Kauf genommen, sondern beabsichtigt werde, um die Aufmerksamkeit für das Demonstrationsanliegen zu erhöhen 129. Dieses ersichtlich auf Sitzblockaden zugeschnittene Abgrenzungskriterium versagt in allen Grenzfällen. Handelt es sich noch um eine sozialadäquate Beeinträchtigung, wenn die Demonstration betont langsam geht oder fährt 130? Wie ist es, wenn sie fast steht? Müssen sich kirchliche Prozessionen beeilen? Müssen politische Demonstranten schneller gehen als eine Fronleichnamsprozession mit vielen Stationen? Wer entscheidet, welches Tempo der Zweck einer Demonstration erfordert?

127 128

ff.

Vgl. Herzog in M/D, Art. 8 Rz 102 ff. BVerfGE 69, 315 (316-Leitsatz 3, 354 ff). Kritisch hierzu Hoffinann-Riem, Simon-FS, S. 379

129

BVerfGE 69, 115 (353); 73, 206 (249 f.); Herzog in M/D, Art. 8 Rz 60, 96, 101. Wie etwa die go-slow-Demonstrationen auf der Autobahn Rosenheim-Innsbruck aus Protest gegen die Naturzerstörung durch den Nord-Süd-Transit-Verkehr in Tirol 1988 oder auf der Berliner AVUS gegen die Tempobegrenzung 1989. 130

. Art.

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145

Soll dieses Kriterium nicht zu einer rigiden Restriktion des Demonstrationsrechts führen, was vom BVerfG mit Sicherheit nicht intendiert war, ist es für die Praxis schon deshalb völlig unbrauchbar, weil es den Teilnehmern jeder Demonstration ja gerade darum geht, ihrem Anliegen möglichst starke Beachtung, möglichst große Aufmerksamkeit zu verschaffen. Demonstrationen finden deshalb in aller Regel nicht zu nachtschlafender Zeit, sondern in den Hauptgeschäftszeiten statt. Jede Demonstration nimmt Beeinträchtigungen Dritter nicht nur in Kauf, sondern zielt darauf ab, um die Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu erhöhen. Ihre Teilnehmer wollen sich nicht nur ausdrücken, sondern beeindrucken. Kommunikative Wirkungen gehen über die geistig-kommunikative Dimension einer Versammlung hinaus gerade auch von ihrer physisch-psychischen Dimension aus. Die körperliche Anwesenheit einer Menschenmenge ist keine bloß notwendige Nebenfolge einer Demonstration, sondern ihr konstituierendes Element. Erst dadurch wird jene Wirkungssteigerung für die Botschaft erreicht, um deretwillen die Sozialform Demonstration gewählt worden ist. Der Kern der Freiheit des Art. 8 besteht geradezu in der Freiheit, sich den Staatsorganen und der Öffentlichkeit kollektiv aufzudrängen 131. Um ein Beispiel zu nennen: Natürlich war es bei den Großdemonstrationen der Friedensbewegung in Bonn zu Beginn der achtziger Jahre bewußt und gewollt einkalkuliert, eine solche Masse von Menschen zu mobilisieren, daß die Regierungsstadt durch diesen massiven Protest völlig in Beschlag genommen wurde. Tatsächlich kam der Verkehr in und um die Stadt völlig zum Erliegen, ganze Autobahnabschnitte wurden gesperrt und zu Parkplätzen umgewandelt. Hunderttausende mußten bei diesen Demonstrationen riesige Umwege in Kauf nehmen oder erreichten erst gar nicht ihr Ziel. Zehntausende von Anwohnern wurden gezwungen, die Botschaft der Demonstranten durch Sprechchöre, über Megaphone oder durch Musikgruppen zur Kenntnis zu nehmen. Es wäre geradezu abwegig zu behaupten, diese Zwangswirkungen wären nicht beabsichtigt gewesen, um die Aufmerksamkeit für das Anliegen zu erhöhen. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Demonstrationen rechtmäßig waren. Diese Abgrenzung ist aber auch deshalb problematisch, weil sie statt auf objektive Kriterien auf den - vor allem für die Polizei in der aktuellen Lage - nur schwer nachprüfbaren inneren Willen der Demonstranten abstellt. Schon Gerichten, denen hierfür wesentlich mehr Zeit zur Verfügung steht, fällt es oft schwer, die schwierige Abgrenzungsfrage zwischen 131 So insbesondere Preuß, Schmid-FS, S. 430 f.; Bertuleit-Herkströter, KJ 1987, 337; Tiedemann, JZ 1969, 723. Vgl. auch BVerfGE 69, 315 (345). 10 Reichert-Hammer

146

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dolus eventualis und direktem Vorsatz zu entscheiden. Letztlich würde dies dazu führen, daß die Polizei zum Maßstab nähme, ob das Demonstrationsanliegen nach ihrer Auffassung auf weniger beeinträchtigende Weise zum Ausdruck gebracht werden könnte. Richtigerweise kann es deshalb nur um die objektive Frage gehen, welche Beeinträchtigung noch verhältnismäßig ist, um eine Güterabwägung zwischen dem Recht der Versammlungsteilnehmer auf Demonstration und den beeinträchtigten Rechten Dritter 132 . Diesen Weg ist bezeichnenderweise auch die Rspr. zum Streikrecht gegangen, die zunächst ebenfalls auf das wenig taugliche Kriterium der Sozialadäquanz abgestellt hatte 133 . Auch die Rspr. des BVerfG zu Art. 8 GG läßt solche Gedanken anklingen, etwa beim Kooperationsmodell oder da, wo sie geringfügige Behinderungen generell zuläßt, selbst dann, wenn sie beabichtigt sind134. Legt man Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte zugrunde, so läßt sich zunächst einmal feststellen, daß das Ausmaß der von Dritten hinzunehmenden Behinderungen mit der Größe einer Demonstration wächst. Dieser relative Maßstab sagt freilich noch nichts über die Qualität zulässiger Beeinträchtigungen aus. Das BVerfG hat hierfür - wie gesagt - den Begriff der Sozialadäquanz eingeführt. So untauglich dieser Begriff auch wegen seiner Unbestimmtheit sein mag, macht er jedenfalls den historisch-dynamischen Charakter des Grundrechts deutlich. Augenscheinlich wird dieser, wenn man sich vergegenwärtigt, daß noch die zu Beginn der sechziger Jahre erstmals stattfindenden Ostermärsche z.T. auf einsame Landstraßen eingewiesen, Lautsprecher und bestimmte Sprechchöre verboten wurden 135. Im Gegensatz hierzu ist heute selbst die Demonstrationsform der Menschenkette136 anerkannt 137, die eine Effektivierung der von einer Menge ausgehenden Zwangswirkungen bedeutet.

132 Ebenso Herzog in M/D, Art. 8 Rz 94; Fritz, Simon-FS, S. 419 ff.; Preuss, Schmid-FS, S. 433 ff; Tiedemann, JZ 1969, 723; Wassermann, JZ 1984, 265. 133 BAG GS AP Nr. 1 zu Art. 9 (Sozialadäquanz); Nr. 43 zu Art. 9 GG (Verhältnismäßigkeit). Vgl. hierzu Kittner in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 66; Zöllner, Arbeitsrecht, § 40 IV 1 b m.w.N. 134 BVerfGE 73, S. 46. 13S Zur Geschichte des Demonstrationsrechts: Kutscha in Kutscha (Hrsg.), S. 14 ff. Zur Nachkriegsrechtsprechung vgl. auch BGH, NJW 1954, 438 (439). 136 Z.B. der Friedensbewegung, einstündig, auf der Bundesstraße von Stuttgart nach Ulm im Dezember 1983; der Studentenbewegung im Dezember 1988 in Tübingen über mehrere Hauptverkehrsstraßen hinweg; zuletzt der Opposition quer durch die DDR im Dezember 1989. 137 So ausdrücklich BVerfGE 69, 315 (355), jedenfalls im "Kooperationsmodell".

. Art.

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147

Jede Zeit ist also zunächst einmal durch einen historischen Standard zulässiger Demonstrationsentfaltung geprägt 138. Was den einen erlaubt wird, kann anderen nicht versagt werden. Dies gilt umfassend: Beeinträchtigungen, die etwa bei einer Sportveranstaltung oder einem Fastnachtsumzug hingenommen werden, dürfen bei "politischen" Demonstrationen nicht verboten werden 139. Daß eine Unterscheidung nach Demonstrationsinhalten - jedenfalls im Rahmen der Grundrechtsgewährleistung des Art. 8 nicht zulässig ist, versteht sich von selbst140. Gibt ein historischer Standard keine Anhaltspunkte, so ist ein Ausgleich der Interessen nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu finden 141. Dabei ist zu beachten, daß die Ausübung des Grundrechts mit dem öffentlichen Verkehrsraum ein knappes und daher gesetzlich und administrativ zu bewirtschaftschaftendes Gut in Anspruch nimmt. Andererseits verlangt die Bedeutung der Versammlungsfreiheit als demokratisches Grundrecht, daß ihr Raumbedarf hohe Priorität genießt. Hohe Priorität bedeutet nicht jederzeitiger Vorrang, sondern die verfassungsrechtlich zwingende Berücksichtigung des Umstandes, daß der öffentliche Charakter einer Demonstration die Wahl unter den in Betracht kommenden öffentlichen Straßen und Plätzen erheblich einschränkt. Die Dringlichkeit eines ganz spezifischen Raumbedarfs sinkt mit der Zunahme zumutbarer Alternativen. Dies bedeutet einerseits, daß Demonstrationsteilnehmer regelmäßig Vorrang genießen vor den Teilnehmern des individuellen Straßenverkehrs. Andererseits ist deshalb i.d.R. auch die ordnungsbehördliche Zuweisung einer Demonstrationsroute mit Art. 8 GG vereinbar. Wo aber die symbolische Bedeutung eines ganz bestimmten Ortes (Atomwaffenlager, "Stasi"-Gebäude in der DDR) die notwendige Kulisse für die öffentlichkeitswirksame Darstellung eines Anliegens darstellt, verdichtet sich die Priorität zu einem Anspruch auf den Demonstrationsort. Eine Verlegung der Demonstration wäre nicht mehr nur eine räumliche Regelung, sondern griffe bereits in den inhaltlichen Bereich der Versammlungsfreiheit ein. Aus diesem Grund dürfen auch Ort, Tempo und Ausdrucksform der Versammlung nur sehr behutsam reglementiert werden 142. Es steht den

138 I n diesem Sinne für eine Erweiterung "sozial-adäquater Nebenfolgen": Riehle, DuR 1987, 11; Fritz, Simon-FS, S. 419. Ähnlich zuvor schon Preuß, Schmid-FS, S. 422 ff., 436 ff. 139 So zutreffend AG Frankfurt, JZ 1969, 200 (204). 140 Vgl. Baumann, NJW 1987, 37. 141 Wie hier insb. Preuss, Schmid-FS, S. 433 ff.; Hoffmann-Riem in AK-GG, Art. 8 Rz 46, 55. 142 Vgl. BVerfGE 69, 315 (343); 73, 206 (249).

148

Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

Versammlungsteilnehmern grundsätzlich frei, zu gehen, zu stehen, zu sitzen oder zu liegen ("die in"). Örtliches und zeitliches Ausmaß zulässiger Beeinträchtigung von Rechten Dritter sind freilich abhängig von der Größe der Demonstration und dem Gewicht der entgegenstehenden Interessen. Befristete, vorher angekündigte (Kooperation!) Sitzblockaden vor Militäreinrichtungen sind daher i.d.R. durch Art. 8 GG gerechtfertigt. Dies gilt um so mehr dann, wenn nur einer von mehreren Ausgängen blockiert wird, zumutbare Handlungsalternativen also zur Verfügung stehen. Sitzblockaden beinhalten keine größere Effektivierung der Zwangswirkung als eine Menschenkette, sie sind oft sogar Menschenketten. Ihre Zulässigkeit folgt aber auch aus einer weiteren Überlegung: Zweifelsohne zulässig wäre es, mit einer sich bewegenden Demonstration vor einen symbolträchtigen Ort zu ziehen und dort, etwa zum Halten von Reden, für geraume Zeit zu verharren. Entscheidend fällt schließlich auch ins Gewicht, daß staatliche Organe im Interesse effektiven Grundrechtsschutzes Beeinträchtigungen in höherem Maße hinzunehmen haben als private Dritte 143 . 4.2. Versammlungen in geschlossenen Räumen Insoweit gehört Art.8 zu den wenigen Grundrechten, die keinem besonderen Gesetzesvorbehalt unterliegen. Dennoch gilt auch dieses Grundrecht nicht schrankenlos. Einschränkungen sind allerdings nur im dringenden Gemeinschaftsinteresse möglich und müssen aus dem GG selbst hergeleitet werden 144. Strafrechtliche Probleme stellen sich v.a im Zusammenhang mit Hausbesetzungen. Festzuhalten ist hier zunächst, daß Art. 8 nach allgemeinem Verständnis nicht die Benutzung fremden Eigentums garantiert 145. Es besteht deshalb grundsätzlich keine Pflicht privater Dritter, Grundstücke oder Räume für Versammlungen zur Verfügung zu stellen146. Ausnahmsweise - wenn der Eigentümer über ein Monopol verfügt - kann aber ein Kontrahierungszwang bestehen147. Nach h.A. enthält Art.8 auch keine

143 Wie hier: Preuss, Schmid-FS, S. 433 ff.; Bertuleit/Herkströter, KJ 1987, 336 ff.; Fritz, SimonFS, S. 419 ff.; Leyrer in Finckh/Jens, S. 85 ff.; Tiedemann, JZ 1969, 722 f.; jedenfalls im Ergebnis ebso. Wassermann, JZ 1984, 265. Vom Grundsatz ahnlich: Herzog in M/D, Art. 8 Rz 94 ff., vgl. aber auch Rz 61 ff. 144 BVerfGE 30, 173 (193); 39, 334 (367); 67, 213 (228). 145 Herzog in M/D, Art. 8 Rz 25, 40 ff., 128 f. 146 Eine solche Pflicht ergibt sich aber aus Art. 9 Abs. 3 für Arbeitgeber gegenüber Gewerkschaften, s.u. VI. 147 Herzog in M/D, Art. 8 Rz 41.

VI. Art. 9 Abs. 3 - Streikrecht

149

Förderungspflicht des Staates. Die Benutzung öffentlicher Räume richtet sich deshalb nach den allgemeinen Gesetzen148. Diese Überlegungen machen schon klar, daß die Besetzung von Grundstücken oder Räumen nicht auf Art. 8 gestützt werden kann 149 . Art. 8 findet hier eine immanente Schranke im Eigentumsrecht des Art. 14. Sitzblockaden im Inneren von Gebäuden scheitern ebenfalls hieran. Sie sind gleichwohl Versammlungen i.S. Art. 8 GG, weshalb § 239 StGB im Lichte des Grundrechts eng auszulegen ist und damit verbundene Freiheitsbeschränkungen deshalb nur vom Tatbestand erfaßt werden, wenn sie erheblich sind. VI. Art 9 Abs, 3 - Streikrecht 1. Einführung Zum Schluß ein kurzer Blick auf das Streikrecht: Hergeleitet aus Art. 9 Abs. 3 GG und im Grundsatz allgemein anerkannt, ist das Streikrecht wie das Recht auf Aussperrung - bis heute ein umkämpftes Recht 150 . Zentrales Problem des gesetzlich nicht geregelten Arbeitskampfrechts ist die Grenzziehung zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Arbeitskämpfen. Im einzelnen ist hier vieles stark umstritten. Die Schwierigkeiten einer klaren Grenzziehung gründen zum einen in den starken Interessengegensätzen, die in diesem Bereich aufeinanderprallen, zum anderen ergeben sie sich aus der Vielfalt der Erscheinungsformen. Unterschiede bestehen sowohl in der Art der Kampfmittel wie auch in den verfolgten Zielen. Beide, Ziele und Mittel, unterliegen zudem einem ständigen historischen Wandel. So haben die zurückliegenden harten Auseinandersetzungen der Tarifparteien um eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit sowie die Einführung neuer Technologien mit hohen Rationalisierungseffekten zur Ausformung neuer Arbeitskampftaktiken auf beiden Seiten geführt. Der geplante europäische Zusammenschluß wird weitere Konfliktfelder aufwerfen: Die immer noch bestehende Massenarbeitslosigkeit, unterschiedliche Standards

14S

Herzog in Maunz/Dürig, Art. 8 Rz 42 f. kann sich eine Duldungspflicht ausnahmsweise aus der Sozialbindung (Art. 14 Abs.2 GG) ergeben. Zu Betriebsbesetzungen anlaßlich von Arbeitskämpfen s.u. VI. 150 Zur Geschichte des Streikrechts: Däubler in Däubler (Hrsg.) Rz 1 ff.; Kittner in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 5 ff.; Steinkühler, Schmid-FS, S. 129 ff. Statistische Übersicht bei v.Münch, GGK, Anhang zu Art. 9; Däubler in Däubler (Hrsg.) Rz 72a.

150

Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

der Entlohung, der sozialen Sicherungssysteme und der Mitbestimmung in den verschiedenen Ländern auf der einen Seite, zunehmende Unternehmermacht durch wirtschaftliche Zusammenschlüsse auf der anderen Seite lassen befürchten, daß künftige Arbeitskämpfe an Härte zunehmen werden. Zumindest eines ist bereits sicher: Sie werden neue Formen des Arbeitskampfes hervorbringen. 2. Der rechtmäßige Streik im Spiegel der Rspr. des BAG a) Allgemeine Rechtmäßigkeitserfordernisse Die Rspr. des BAG 151 sowie die h.L. 152 beschränken das Streikrecht auf eine Annexfunktion des Tarifvertragssystems. Erlaubt ist danach nur der von einer Gewerkschaft als tariffähiger Arbeitskampfpartei organisierte und geführte Streik, mit dem ein tarifrechtlich zulässiges Regelungsziel verfolgt wird. Zum Streik darf erst dann aufgerufen werden, wenn die Friedenspflicht 153 erloschen ist. Streikmaßnahmen müssen zudem verhältnismäßig sein. Dies bedeutet insbesondere, daß grundsätzlich Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, ein vereinbartes Schlichtungsverfahren durchgeführt und das Scheitern der Verhandlungen festgestellt sein müssen (ultima-ratio-Prinzip 154). Gegenüber dem Kampfgegner ist das Gebot der Fairness zu beachten (z.B. durch Einrichtung eines Notdienstes zur Instandhaltung betrieblicher Anlagen). Begrenzungen ergeben sich u.U. auch aus der Gemeinwohlbindung, insbesondere bei Streiks in Krankenhäusern und Versorgungsbetrieben (Notversorgung) 155. Innerhalb dieser Grenzen steht den Kampfparteien ein Recht auf eine freie Wahl der Kampfmittel zu. Dies schließt auch die Ausbildung neuer Kampfformen

151

St. Rspr. seit BAG AP Nr. 1 (GS), 44 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Vgl. etwa Scholz in M/D, Art. 9 Rz 316 ff.; Brox, Arbeitsrecht, Rz 306 ff.; Zöllner, Arbeitsrecht, § 40 II, VI. 153 Aus einem früheren Tarifvertrag oder Schiedsspruch. 154 Vgl. BAGE 23, 292 (307 f.) 155 Vgl. Bieback in Däubler (Hrsg.) Rz 454 ff. 156 BAG AP Nr. 1, 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 152

VI. Art. 9 Abs. 3 - Streikrecht

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b) Was folgt daraus für einzelne Kampfmaßnahmen? Das ultima-ratio-Prinzip wurde von der jüngeren Rspr. des BAG 1 5 7 deutlich relativiert. Danach sind Warnstreiks zulässig, bei denen noch während laufender Thrifverhandlungen befristet die Arbeit niedergelegt wird. Dies soll auch dann gelten, wenn nach einem bestimmten Plan täglich wechselnde Unternehmen kurzfristig bestreikt werden. Solche Arbeitsniederlegungen könnten als milder Druck auf die Arbeitgeberseite dazu beitragen, die Thrifverhandlungen zu beschleunigen, indem sie die Kampfbereitsschaft der Arbeitnehmerseite demonstrierten. Letztlich trägt diese Rspr. dem Gedanken Rechnung, daß sich die Verhältnismäßigkeit von Kampfmitteln von außen nur schwer beurteilen läßt. Die Gewerkschaften haben diesen Freiraum im Rahmen ihres Konzepts der "Neuen Beweglichkeit" für eine nadelstichartige Kampftaktik genutzt. Zum Teil konnten dadurch größere Streiks mit erheblichen gesamtgesellschaftlichen Folgewirkungen verhindert werden 158. Vom BAG 1 5 9 ebenfalls für zulässig erklärt wurde die sog. "MinimaxStrategie" (Femstreik) der Gewerkschaften, mit der durch die Konzentration von Streiks auf wenige wichtige Betriebe (z.B. der Autoindustrie 1984) mit minimalem Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt werden soll (Blockade auch der Zulieferbetriebe in anderen Tarifgebieten). Durch die Novellierung des § 116 AFG, die die Zahlung von Arbeitslosengeld an mittelbar vom Streik betroffene Arbeitnehmer i.d.R. versagt, dürfte der "Streik mit Fernwirkung" allerdings zur stumpfen Waffe geworden sein. Die Rspr. gestattet den Gewerkschaften schließlich auch, vor bestreikten Betrieben Streikposten aufzustellen, um Arbeitswillige umzustimmen. Sie erlaubt jedoch lediglich ein "gütliches Zureden" sowie den "Appell an die Solidarität" 160, nicht jedoch Tätlichkeiten und Beleidigungen161.

157

BAGE 28, 298; BAG AP Nr. 51, 81, 83 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, BAG, DB 1988, 1952 ff. Zustimmend: Hanau, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, S. 10 ff.; Kittner in AG-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 66; Bieback in Däubler (Hrsg.), Rz 337 ff. Kritisch: Brox, Arbeitsrecht, Rz 319; Zöllner, Arbeitsrecht, § 40 VI 4 a bb. 1S8 Z.B. bei allen größeren Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst Ende der achtziger Jahre. 159 BAG EzA Nr. 36 zu Art 9 GG Arbeitskampf. 160 BAG AP Nr. 34 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 161 Wobei hier aber Art. 5 GG auch eine harte verbale Auseinandersetzung zuläßt. Zu den Grenzen vgl. LAG Köln, EzA Nr. 53 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; LAG Schleswig-Holstein, DB 1987, 55 ff.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

Rechtswidrig ist dagegen der wilde Streik, da sich nach st. Rspr. des BAG nur Koalitionen i.S. Art. 9 Abs. 3 GG auf das Streikrecht berufen können. Der Streik muß also von einer tariffähigen Partei (Gewerkschaft) geführt werden 162. Ein wilder Streik kann allerdings von einer Gewerkschaft übernommen werden 163. I.d.R. rechtswidrig sollen auch Sympathie- bzw. Solidaritätsstreiks sein, mit denen nicht direkt an der Thrifauseinandersetzung beteiligte Arbeitnehmer einen Arbeitskampf unterstützen 164. Dasselbe gilt für Bummelstreiks oder Dienst nach Vorschrift von Beamten, da hierin eine Umgehung des Streikverbots für Beamte gesehen wird 165 . Nach h.M. rechtswidrig sind schließlich auch Betriebsbesetzungen und blockaden. Diese Formen des Arbeitskampfes wurden von der IG Druck und Papier in die Diskussion gebracht ("kollektives Anbieten der Arbeit im Betrieb" 166), da der technische Fortschritt dort den herkömmlichen Streik zu einer stumpfen Waffe werden ließ: Die Arbeit läßt sich zumindest eingeschränkt trotz Aussperrung mit wenigen Streikbrechern fortsetzen. In anderen Fällen sind sie oft letztes Mittel, um gegen eine Betriebsstillegung zu protestieren. Die Rspr. 167 nimmt diese Veränderung der Kampfparität bisher hin, indem sie dem Arbeitgeber das absolute Hausrecht zugesteht. Arbeitnehmer haben nach dieser Auffassung kein Recht, gegen den Willen des Arbeitgebers am Arbeitsplatz zu verbleiben. In der Literatur wird dies z.T. heftig angegriffen 168. c) Zulässige Kampfziele Allein zulässig ist nach Rspr. und h.L. der Streik, der tarifrechtliche Ziele zum Inhalt hat. Wegen fehlender Tarifbezogenheit nicht vom Streikrecht gedeckt sei deshalb der politische (Demonstrations-)Streik 169. Der

162 BAG AP Nr. 1 (GS), 41 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. In der Lit. Str., ablehnend z.B. Däubler in Däubler (Hrsg.) Rz. 120 ff. 163 BAGE 15, 174 (194); 22, 162 (164). 164 BAG, DB 1985, 1695. A.A. h.L., vgl. Bieback in Däubler (Hrsg.), Rz 367 ff.; Kittner in AKGG, Art. 9 Abs. 3 Rz 66; Zöllner, Arbeitsrecht, § 40 XI jew. m.w.N. 165 BGH AP Nr. 61 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 166 Vgl. Berichte Ober 14. ord. Gewerkschaftstag in FR vom 13. u. 16.10.86. Ähnlich IG Metall, vgl. Berichte im Handelsblatt v. 26. und 277283.1987, jew. S.l. 167 BAG, DB 1978, 1403; LAG Hamm, DB 1976, 343; LAG Schleswig-Holstein, DB 1987, 55. 168 Vgl. etwa Ostendorf, Kriminalisierung des Streikrechts, Rz 31ff., 59ff.; Andratzke, Deutsche Polizei Heft 4/87, 18ff.; Bieback in Däubler (Hrsg.), Rz 415.1.S.d.Rspr. dagegen Hanau, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, S. 27 m.w.N. zum Meinungsstand in FN 42. 169 Vgl. Brax, Arbeitsrecht, Rz 322; Zöllner, Arbeitsrecht, §§ 39 n 5, 40 II 1, XII.

VI. Art. 9 Abs. 3 - Streikrecht

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politische Streik richtet sich in erster Linie nicht an den Thrifpartner, sondern an die Öffentlichkeit und den Staat, um z.B. ein gesetzliches Vorhaben zu erreichen (oder zu vereiteln). Nach h.M. ist er selbst dann rechtswidrig, wenn mit ihm arbeitsrechtsbezogene Ziele verfolgt werden, wie z.B. mit den Streiks gegen das Betriebsverfassungsgesetz 1952170. Erneut entflammt ist die Diskussion um die Zulässigkeit dieser Kampfform, als der DGB im März 1986 dazu aufrief, Protestkundgebungen gegen die Neufassung des § 116 AFG auch während der Arbeitszeit durchzuführen. Nach allgemeiner Meinung zulässig ist jedoch der politische Streik, selbst in der Form des Generalstreiks, wenn er zur Verteidigung der Verfassungsordnung unternommen wird (Art. 20 Abs. 4 GG) 171 . Zulässig war danach nach heutiger Auffassung der Generalstreik gegen den KappPutsch 1920 und wäre auch ein Generalstreik gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 gewesen. Wie unentbehrlich der Generalstreik für die Durchsetzung freiheitlicher Verfassungen ist, führen uns in diesen Tagen die Demokratiebewegungen in Osteuropa vor Augen. 3. Politischer Demonstrationsstreik Politische Demonstrationsstreiks finden in der Bundesrepublik relativ häufig statt172, so zuletzt etwa der Streik auf der Lufthansa-Werft in Hamburg aus Protest gegen die Massaker an der rumänischen Bevölkerung 173. Teilweise wurden sie sogar von den Arbeitgebern unterstützt (17. Juni 1953, Mauerbau 1961, Schleyerermordung 1977). Für ihre Zulässigkeit sprechen eine Reihe von Argumenten: a) Die Grenze von politischem und nichtpolitischem (tarifpolitischem?) Streik ist kaum zu ziehen, weil Fragen der Arbeitszeit und Lohnhöhe, sobald sie ganze Industriezweige betreffen, auch allgemein-politischer Natur sind174. Dies liegt schon daran, daß Tarifabschlüsse immense ge-

170 LAG Frankfurt, RdA 1953, 195. Vgl. auch LAG München, NJW 1980, 957 zum Versuch der Gewerkschaft RFFU vom Dezember 1979, durch einen auf vier Stunden befristeten Streik gegen die geplante Auflösung des NDR zu protestieren. 171 Vgl. Scholz in M/D, Art. 9 Rz 376; Kittner in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 66; Ridder in AKGG, Art 20 Abs. 4 Rz 7. 172 Vgl. die Auflistung von Schumann in Däubler (Hrsg.) Rz 188. 173 Am 20.12.1989 traten dort 800 Arbeiter in den Ausstand, weil sie die Staatsmaschine des rumänischen Diktators Ceausescu überholen sollten, vgl. ötv-magazin Nr. 1/90, S. 2. 174 Wie hier. Schmid, GewMH 1954,1 f.; Pereis, Schmid-FS, S. 147; Schumann in Däubler (Hrsg.) Rz 187. Der Obergang zum zulässigen koalitionsrechtlichen Demonstrationsstreik ist zudem fließend, vgl. Bieback in Däubler (Hrsg.) Rz 402 ff.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

samtwirtschaftliche Folgewirkungen zeitigen: Die Gewerkschaften erstreben mit Lohnerhöhungen eine Stärkung der Massenkaufkraft und damit verbunden eine Nachfrageerhöhung auf dem Binnenmarkt. Die Arbeitgeber betonen die Kostenseite und eine möglicherweise damit verbundene Schwächung der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Wegen der gesamtwirtschaftlichen Wirkungen versucht auch die Bundesregierung zumindest argumentativ, jeden größeren Tarifstreit zu beeinflussen. So warnte z.B. der Bundeswirtschaftsminister vor den im Frühjahr 1990 anstehenden Tarifauseinandersetzungen vor der Gefahr inflationärer Tendenzen durch starke Lohnerhöhungen sowie vor der Gefahr sich vergrößerenden Fachkräftemangels durch weitere Arbeitszeitverkürzungen. Der Gesetzgeber greift schließlich insofern in den Tarifkonflikt ein, als er den ihm vom Richterrecht überlassenen Spielraum ausnutzt, um die Rahmenbedingungen für Arbeitskämpfe festzulegen 175. Streiks erhalten also allein aufgrund der gesellschaftspolitischen Relevanz der erhobenen Forderung, insbesondere angesichts einer anderen oder sogar gegenläufigen Politik der jeweiligen Regierung einen politischen Charakter. Unpolitische Arbeitskämpfe gibt es nicht. Neben und mit der Vereinbarung von Tarifverträgen werden stets auch weitergehende politische (Fern-)Ziele verfolgt. b) Der politische Demonstrationsstreik ist kein Angriff auf das Monopol der parlamentarischen Willensbildung176. Er ist ein demokratisches Mittel, um die Einflußnahme der Wirtschaft auf den politischen Entscheidungsprozeß - über die von ihr kontrollierte Presse, über die Finanzierung von Parteien, über das informelle Zusammenwirken mit der hohen Bürokratie etc. - wenigstens ansatzweise auszugleichen. Wenn diese Einflußnahme legal ist, muß den Gewerkschaften ein ebenfalls legales Gegengewicht zugebilligt werden, das den politischen Demonstrationsstreik als letztes Mittel einschließt177. Der moderne Staat ist vielfältigem Druck verschiedener Interessengruppen ausgesetzt. Der anglo-amerikanische Rechtskreis hat für die als selbstverständlich vorausgesetzte Beeinflussung von Abgeordneten das Wort Lobbying geprägt. Dies bedingt, daß sich der Staat nie "neutral" verhält. Abhängig von den politischen Mehrheitsverhältnissen nähert er 175

Vgl. etwa die versch. Fassungen des § 116 AFG. So aber z.B. noch Brax, Arbeitsrecht, Rz 322. 177 So Pereis, Schmid-FS, S. 147; Schmid, GewMH 1954, 1 f.; Kittner in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 66; Schumann in Däubler (Hrsg.) Rz 193. 176

VI. Art. 9 Abs. 3 - Streikrecht

155

sich mehr der Position der einen oder der anderen Interessengruppe an. Das Postulat eines neutralen, über den Interessengruppen stehenden Staates war schon immer eine Fiktion, hinter der sich die Parteilichkeit des Staates zugunsten der jeweiligen Oberschichten verbarg 178. Wenn davor gewarnt wird, der politische Streik werde zu einem verfassungsmäßigen Problem von besonderem Rang, insbesondere im Blick auf die Abhängigkeit der modernen hochindustrialisierten Gesellschaft von der Integrität der Wirtschaft 179, so gilt dies nicht minder für die unzweifelhaft legale Pression der Wirtschaft auf politische Entscheidungen180. Hier bestehen Parallelen: So wie es für das Funktionieren einer modernen, marktorientierten Wirtschaftsordnung unentbehrlich ist, Kampfparität zwischen den Tarifparteien zu gewährleisten, so kann eine moderne Demokratie nur funktionieren, wenn die verschiedenen Interessengruppen ausgewogen ihre Interessen zur Geltung bringen können. Ansonsten besteht die Gefahr, daß eine Gruppe so stark benachteiligt wird, daß das Gleichgewicht im Staat gestört wird und Konfliktpotentiale sich in unkalkulierbarer Weise entladen. Dementsprechend hat die Rechtsprechung längst anerkannt, daß derart erzeugter Druck sozialer Gruppen auf die Staatsorgane zulässig ist und nicht etwa eine gemäß § 105 StGB strafbare Nötigung von Staatsorganen darstellt 181. Auch gegenüber den Arbeitgebern liegt i.d.R. keine Nötigung vor, weil von diesen ja nichts erzwungen werden soll 182 . Richtigerweise geht es deshalb in erster Linie um die Frage, ob und wenn ja inwieweit der politische Streik arbeitsrechtlich zulässig ist.

178

Ausführlich hierzu Pereis, Schmid-FS, S. 149 m.w.N. Forsthoff/Hueck, Schriftenreihe der BDA, Heft 6, S. 20. 180 Z.B. Abwanderungsdrohung des Hoechst-Konzerns als Reaktion auf verschärfte Umweltschutzauflagen (Kartierung) durch die rot-grüne Landesregierung in Hessen. 181 BVerfGE 5, 85 (232) - KPD-Verbot: "An sich ist es daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß "Interessentengruppen" auf die Mitglieder des Parlaments einzuwirken versuchen; auch Massenaktionen der Arbeiterschaft sind grundsätzlich nicht unzulässig."; BGHSt 32, 165 (174 ff.) - Schubarth. Vgl. auch Protokolle des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 5. Wahlperiode, 87. Sitzung, S. 1724 ff.; 96. Sitzung, S. 1935 ff. Ebenso Scholz, Jura 1987, 192. 182 Ebenso Scholz, Jura 1987, 192. Anders u.U. bei bipolaren Auseinandersetzungen um eine staatliche Maßnahme. Dort kann das Verhalten jedoch gemäß Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt sein, s.u. d). 179

156

Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

c) Das Grundgesetz hat in Art. 9 Abs. 3 GG den Wortlaut der Weimarer Verfassung übernommen: Gewährleistet wird das Recht, zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden und Arbeitskämpfe zu führen. Gegenüber der Weimarer Verfassung wurde dieses Recht noch verstärkt, weil es staatliche Organe unmittelbar bindet (Art. 1 Abs. 3 GG). Die Interessenvertretung gegenüber dem Staat gehört zum verfassungsrechtlich geschützten Tätigkeitsbereich der Koalitionen. Z.T. ist der Einfluß staatlicher Wirtschafts- und Strukturpolitik so stark, daß der Einfluß der konkreten Arbeitgeber dahinter fast verblaßt (z.B. Subventionen für die Stahl- und Werftindustrie oder den Kohlebergbau). Nimmt man diese Verfassungsbestimmung ernst, so müssen der Koalition auch entsprechende Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen an die Hand gegeben werden. Mit der zunehmenden staatlichen Einflußnahme auf das Wirtschaftsgeschehen wächst für die Koalitionen die Notwendigkeit, auf staatliche Entscheidungen Einfluß zu nehmen183. Das Tarifvertragssystem ist in diesem Zusammenhang zwar ein wichtiges und i.S. einer Mindestgarantie einzurichtendes, nicht jedoch das einzige Handlungssystem zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Für die Weimarer Verfassung war deshalb anerkannt, daß auch der politische Demonstrationsstreik, der auf die Förderung der Wirtschaftsbedingungen zielt, zulässig sei184. In diesem Sinne fordert auch das ILOAbkommen Nr. 87 185 , daß Gewerkschaftsorganisationen die Möglichkeit haben müssen, zu Proteststreiks zu greifen, insbesondere wenn es um die Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Regierung geht. Demzufolge umfaßt die durch das GG vorgegebene Betätigungsfreiheit die gesamte Breite der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, ohne daß es dabei auf den Adressaten ankommen kann186. d) Ist somit der mit dem Ziel der Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen geführte politische Demonstrationsstreik grundsätzlich zulässig, so ist noch keine Aussage darüber getroffen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmaß dies im einzelnen gilt. Für das Demonstrationsrecht ist anerkannt, daß zur politischen Willensbildung auch Rechte Dritter beeinträchtigt werden dürfen. Grenzen ergeben sich jedoch durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Entsprechendes 183

Vgl. Schumann in Däubler (Hrsg.) Rz 187; Kittner in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 69. Ausführlich hierzu Pereis, Schmid-FS, S. 148ff.; Schumann in Dflubier (Hrsg.) Rz 191 ff. 185 BGB1. 1956 II, 2072. 186 Wie hier: Schumann in Dflubler (Hrsg.) Rz 190ff.; Pereis, Schmid-FS, S. 147; Schmid, Zum politischen Streik, S. 1 f.; Kittner in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rz 2, 30, 66, 69. 184

VI. Art. 9 Abs. 3 - Streikrecht

157

gilt hier. Dies bedeutet, daß ein so gravierender Eingriff in die Rechtssphäre Dritter nicht für jedes beliebige Ziel gerechtfertigt sein kann. Zulässig ist ein Streik aber dann, wenn gegen ein Gesetzesvorhaben protestiert werden soll, mit dem in die Kampfparität eingegriffen wird, oder wenn es um die existentielle Bedrohung von Arbeitsplätzen geht (etwa durch Streichung von Subventionen für ganze Industriezweige). Was das Ausmaß zulässiger Streiks angeht, so sind zumindest zwei Kriterien zu nennen. Zum einen kann hier sachgerecht das vom BVerfG zu Art. 8 GG entwickelte Kooperationsmodell auf das Verhältnis der Koalitionspartner übertragen werden. Zum anderen gilt: Je bipolarer der Streit zwischen den Koalitionen um eine staatliche Maßnahme geht, je 'stärker der Druck der Arbeitgeberseite auf die zuständigen staatlichen Organe ist, um so eher müssen sie auch Beeinträchtigungen der Gegenseite im Interessenstreit hinnehmen (Parallele zu Art. 5 GG). Zusammenfassend läßt sich feststellen: Der zeitlich begrenzte politische Demonstrationsstreik zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kann eine legale Aktionsform im Rahmen der demokratischen Verfassungsordnung darstellen. 4. Arbeitskampf und Strafrecht Zu differenzieren ist zwischen der Zulässigkeit von Arbeitskämpfen auf verschiedenen Ebenen. Bei der bisherigen Betrachtung ging es vor allem um die Frage, inwieweit die Verfassung das Streikrecht garantiert. Davon zu unterscheiden sind die zivil- und die strafrechtliche Ebene. Soweit die verfassungsrechtliche Garantie reicht, ist ein Verhalten natürlich auch in diesen Rechtsgebieten als rechtmäßig zu beurteilen. Darüberhinaus können aber weitergehende, rechtsgebietsspezifische Regelungen gelten. So ist im Zivilrecht zu differenzieren zwischen der einzelvertraglichen, der tarifvertraglichen und der deliktischen Ebene187. Rechtsgebietsspezifische Besonderheiten folgen schließlich auch aus dem ultima-ratio-Prinzips im Strafrecht. Zu differenzieren ist ferner zwischen der Rechtmäßigkeit des Verhaltens einzelner Streikender und der Rechtmäßigkeit des Streiks insgesamt. Es würde den Rahmen dieser Arbeit freilich sprengen, die mögliche Strafbarkeit jeder einzelnen Streikform oder jedes denkbaren Übergriffs zu unter-

187

Vgl. Zöllner, Arbeitsrecht, § 40 I 2, III - V.

158

Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

suchen188. Exemplarisch sollen die Tatbestände der §§ 240, 253 StGB in Bezug auf den Gesamtstreik herausgegeriffen werden. Im Arbeitskampf wird von beiden Seiten kollektiver Druck durch Störung der Arbeitsbeziehungen ausgeübt. Eine Strafbarkeit kommt hier, wie aufgezeigt, nur insoweit in Betracht, als sich dieser Druck an die gegnerische Tarifvertragspartei richtet. Legt man die - auch hier natürlich kritikwürdige 189 - Auffassung der Rechtsprechung zugrunde, so werden i.d.R. sowohl die Gewalt- wie auch die Drohungsalternative der Tatbestände der §§ 240 (Nötigung) und 253 StGB (Erpressung) verwirklicht. Soweit die Garantie des Art. 9 Abs. 3 GG reicht, ist der Streik jedoch gerechtfertigt. Zu berücksichtigen ist hier weiter, daß auch das Arbeitsrecht und das Polizeirecht einen Streik nur äußerst zurückhaltend als rechtswidrig bewerten. Ein Verhalten, das aber nicht einmal zivilrechts-bzw. polizeirechtswidrig ist, kann niemals strafrechtswidrig sein (ultima ratio). In diesem Sinn hat die zivilrechtliche Rspr. eine zweifache Privilegierung anerkannt. Zum einen arbeitet das BAG mit der Rechtsvermutung, daß ein gewerkschaftlicher Streik im Rahmen des Schutzbereichs des Art. 9 Abs. 3 GG geführt wird und zulässigerweise Arbeits- und Wirtschaftbedingungen gilt, also rechtmäßig ist 190 . Zum zweiten billigt es einen Beurteilungsspielraum mit der Möglichkeit eines sanktionslosen Rechtsirrtums zu, wenn Gewerkschaften tarifpolitisches Neuland betreten 191. Aber auch darüberhinaus ist nicht jedes Verhalten strafbar. Vielmehr ist im einzelnen zu prüfen, ob es auch verwerflich ist. Dies wird nicht schon bei jeder geringfügigen Übertretung der Grundrechtsgewährleistung der Fall sein. Erforderlich ist vielmehr eine umfassende Abwägung aller auf dem Spiel stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der jeweiligen Situation. Unter Berücksichtigung dieser Umstände muß sich das Verhalten als sozial unerträglich darstellen und wegen seines grob anstößigen Charakters sozialethisch in besonderem Maße zu mißbilligen sein192. Das Verwerflich-

188 Vgl. etwa Ostendorf, Kriminalisierung des Streikrechts, Rz 22 ff.; Schumann in Däubler (Hrsg.) Rz 238 ff. 189 Vgl. statt vieler Brink/Keller, KJ 1983, 120 ff. 190 BAG AP Nr. 47 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; allerdings restriktiver in DB 1984, 1147 f. 191 BAG AP Nr. 62 zu Art. 9 Arbeitskampf, vgl. auch BVerfG AP Nr. 63 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 192 Vgl. etwa BGHSt 17, 328 (332); 18, 389 (391).

VII. Zusammenfassung

159

keitsurteil weist somit weit über den oben bereits erörterten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinaus. Gegenüber § 826 BGB beinhaltet sie eine gesteigerte Sittenwidrigkeit 193. Bei Arbeitskämpfen wird es deshalb i.d.R. an der Strafrechtswidrigkeit fehlen 194. Demgemäß sind z.B. spontane Arbeitsniederlegungen, begrenzte politische Demonstrationsstreiks 195, aber auch aus existentiellen Gründen durchgeführte Betriebsbesetzungen (bei drohender Betriebsschließung) nicht als verwerflich zu beurteilen. Eine zurückhaltende Anwendung von Strafrechtsnormen ist nicht zuletzt deshalb geboten, weil das Zivil- und Arbeitsrecht gegen arbeitsrechtswidrige Streiks wesentlich wirksamere Sanktionen vorsehen, die von der Lohneinbuße bis hin zur Kündigung und eventuellen Schadensersatzforderungen reichen. Das Strafrecht als ultima ratio bleibt somit auf Extremfälle beschränkt. VII. Zusammenfassung Die heute in der Verfassung verankerten politischen Grundrechte wurden von den Bürgern im Laufe der Jahrhunderte erkämpft. Sie unterliegen einem historisch-dynamischen Wandel, der in beide Richtungen ausschlagen kann. Die Geschichte zeigt aber, daß die Tendenz hin zu einer Erweiterung von Bürgerrechten und Bürgerpartizipation geht. Dementsprechend war das Niveau der Freiheitsrechte in Deutschland noch sie so hoch wie heute. Politischen Freiheitsrechten fällt in erster Linie die Aufgabe zu, einen Ausgleich für ungleiche wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse in der Gesellschaft zu schaffen. Aktionsformen, mit denen i.d.R. schwächere gesellschaftliche Gruppen für ihre Interessen eintreten und sozialen Druck ausüben, unterliegen ebenso einem ständigen, in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen begründeten Wandel, mit dem die Grundrechtsgewährleistung nicht mithalten kann und z.T. aus übergeordneten Gesichtspunkten auch nicht

193 Ebenso Zöllner, Arbeitsrecht, § 40 IV 2; Schumann in Däubler (Hrsg.) Rz 245; Andratzke, Deutsche Polizei Heft 4/87, S. 20 f. 194 Ebenso Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 25, 28. 195 Soweit eine Nötigung Oberhaupt in Betracht kommt, weil bei bipolaren Auseinandersetzungen auch Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt werden soll.

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Kap. 7: Politische Fernziele im Rahmen der Grundrechte

mithalten sollte. In diesem Sinne war ein großer Teil der Handlungen, die heute Grundrechtsschutz genießen, früher strafbar. Auch heute, in einer Zeit sich verschärfender Bedrohungen der Umwelt und des Weltfriedens 196, in einer Zeit härter werdender Verteilungskämpfe auf nationaler wie internationaler Ebene greifen alte (Gewerkschaften) und neue soziale Bewegungen zu neuen Aktionsformen, um ihre Interessen zu vertreten oder auf allgemeine Bedrohungspotentiale hinzuweisen. Selbst bei der hier vertretenen weiten Grundrechtskonzeption, erst recht aber nach h.M., bleibt vielen dieser Formen politischen Protests der Grundrechtsschutz verwehrt. Zum Teil fallen sie zwar noch in den Schutzbereich eines Grundrechts, sie überschreiten aber die vom Gesetzgeber in verfassungsmäßiger Weise gezogenen Schranken. Dies bedeutet freilich nicht, daß solche Verhaltensweisen damit automatisch illegal sein müssen. Es bedeutet zunächst nur, daß sie jedenfalls nicht durch Verfassungsrecht garantiert, nicht grundrechtlich verbürgt sind. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob solches Handeln rechtswidrig ist oder gar strafrechtlich geahndet werden kann. Die Verfassung läßt dem Gesetzgeber einen Spielraum, innerhalb dessen er die Verfassungswirklichkeit gestalten kann. Dieser Spielraum stößt an zwei Grenzen: auf der einen Seite an die Schranken, die gerade noch zulässig sind, um den Bürgern ausreichende demokratische Entfaltung zu ermöglichen, auf der anderen Seite an die Grenze, die die Verfassung einer Entfaltung der Persönlichkeitsrechte des einzelnen setzt, weil höhere Interessen einzelner oder des Staates dagegenstehen. Zu unterscheiden sind also notwendige und zulässige Schranken. Gerade bei letzteren, die ja i.d.R. Handlungsverbote beinhalten, stellt sich immer die Frage, ob es erforderlich und damit zulässig197 ist, diese Verbote mit einer Strafdrohung zu bewehren.

196

Wobei sich hier ja erste Lichtblicke zeigen! Vgl. hierzu Günther, JuS 1978, 8 (11 ff.).

197

Kapitel 8

Die Berücksichtigung politischer Fernziele im Rahmen einfachgesetzlicher Rechtfertigungsgrfinde I. Notwehr - § 32 StGB Die Möglichkeit einer Rechtfertigung politischen Protests durch Notwehr wird meist mit dem pauschalen Hinweis abgelehnt, es fehle schon an einem gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff 1. Eine genauere Analyse ist indes schon deshalb notwendig, um die Gründe für Lücken im Bereich der überkommenen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe erhellen und daraus Konsequenzen ziehen zu können. 1. Grundvoraussetzung: Notwehrfähiges Rechtsgut Voraussetzung einer Rechtfertigung durch Notwehr ist zunächst ein Angriff auf ein notwehrßhiges Rechtsgut. Die Notwehrbefugnis ist nach Ursprung und Funktion kein "allgemeines Unrechtsverhinderungsrecht". Unbeschränkt notwehrfähig sind nur Individualrechtsgüter. Das Notwehrrecht dient weder der allgemeinen Verbrechensbekämpfung noch schützt es Rechtsgüter der Allgemeinheit, da die Allgemeinheit nach allgemeinem Verständnis kein Rechtssubjekt und daher auch kein "anderer" i.S. des § 32 Abs. 2 StGB ist2. Bei Angriffen auf staatliche Rechtsgüter greift die Nothilfebefugnis nur in krassen Ausnahmesituationen, nämlich dann, wenn höchste Güter des Staates bedroht sind, ein Einschreiten der zuständigen Staatsorgane nicht möglich ist und dadurch dem Gemeinwesen ohne private Nothilfe schwerster Schaden drohen würde 3.

1

Vgl. etwa Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 226; Schüler-Springorum in Glotz (Hrsg.), S. 82, FN

14. 2

Vgl. hierzu Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 8; Speidel in LK, § 32 Rz 152 u. 198. BGHSt 5, 245 (247); Lenckner in Schönke/Schröder § 32 Rz 6 f. m.w.N.; a.A. Schroeder, Die Notwehr als Indikator politischer Grundanschauungen, S. 141. 3

11 Reichert-Hammer

162

Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

Schon an dieser Voraussetzung scheitert die Rechtfertigung einer ganzen Reihe straftatbestandsmäßiger politischer Aktionen: Die Nothilfe gibt z.B. keine Befugnis, als "Hilfspolizist" gegen Bestechlichkeit und Amtsanmaßung im Behördenapparat vorzugehen oder eine Gefangenenbefreiung durch Terroristen zu verhindern 4. Das Nothilferecht legitimiert auch nicht, mit symbolträchtigen, aber straftatbestandsmäßigen Aktionen gesundheitsgefährdende Gewässereinleitungen oder Luftverunreinigungen anzuprangern, soweit diese Gefährdung nicht individuell konkretisierbar ist und deshalb nur die Allgemeinrechtsgüter Wasser und Luft beeinträchtigt werden. Erst dort, wo die abstrakte Gefährdung in eine konkrete umschlägt und damit Individualrechtsgüter (z.B. Gesundheit und körperliche Integrität) m/Vbetroffen sind, kann auch eine Notwehr- bzw. Nothilfelage bestehen. Vor allem bei Aktionen der Ökologie- und der Friedensbewegung (Rechtsgut: Frieden, friedliches Zusammenleben der Völker 5 ) versagt das Notwehrrecht also in vielen Fällen schon deshalb, weil kein Individualrechtsgut verteidigt wird, sondern "nur" Interessen, Rechtsgüter der Allgemeinheit geschützt werden sollen. Noch schwieriger wird es bei Aktivitäten von Gewerkschaften oder freien Betriebsgruppen, die nicht mehr durch das Streikrecht gedeckt sind. Hier ist teilweise schon fraglich, ob überhaupt ein anerkanntes Rechtsgut verteidigt wird, etwa bei Aktionen aus Protest gegen Betriebsschließungen oder für die Forderung nach Sicherung der Vollbeschäftigung durch staatliche Programme (Recht auf Arbeit? 6). Die Frage, ob ein Individualrechtsgut betroffen ist, führt unmittelbar zu einer weiteren, in diesem Zusammenhang problematischen Voraussetzung des Notwehrrechts. 2. Angriff auf ein Individualrechtsgut Das Notwehrrecht setzt einen Angriff auf ein Individualrechtsgut voraus. Angriff bedeutet die unmittelbare Bedrohung rechtlich geschützter Güter durch menschliches Verhalten. Die Rechtfertigung eines Verhaltens mit politischer Zielrichtung stößt hier in der Praxis in dreifacher Hinsicht auf Schwierigkeiten: a) Die drohende Verletzung muß zwar vom Angreifer nicht intendiert sein. Auch unvorsätzliche Handlungen stellen deshalb einen Angriff dar, wenn sie ihrer objektiven Tendenz nach unmittelbar auf eine Verletzung 4 5 6

Soweit dadurch nicht Individualrechtsgüter betroffen werden. Hierzu Roggemann, Der Friede - ein Strafrechtsgut wie jedes andere?, JZ 1988, S. 1108 ff. Siehe hierzu näher unten II., 2.

I. Notwehr - § 32 StGB

163

gerichtet sind7. Ein Angriff i.S. des § 32 StGB setzt aber einen konkret bestimmbaren Angreifer voraus. In vielen Fällen - etwa bei Gesundheitsschäden durch Umwelteinwirkungen -wird schon dieser Nachweis nicht gelingen. b) Das Tatbestandsmerkmal Angriff ist zudem ein normativer Begriff, der zu seiner Ausfüllung einer wertenden Betrachtung bedarf und damit dem Einfluß derer unterliegt, die die entsprechende Definitionsmacht besitzen. Ob ein Angriff, d.h. eine unmittelbare und konkrete Bedrohungssituation für ein notwehrfähiges Rechtsgut vorliegt, entscheiden naturgemäß nicht die, die ihren Protest zum Ausdruck bringen, sondern letztinstanzlich die höchsten Gerichte. Hier stecken diejenigen, die als erste in einer Art Pilotfunktion auf neuartige Gefahren hinweisen, in einem besonderen Dilemma: Sie schaffen ja erst die Sensibilität, das Bewußtsein für bestimmte Gefahren in der Bevölkerung. Die Gerichte, besonders die obersten Bundesgerichte, vollziehen solche (Bewußtwerdungs)Prozesse oft erst viele Jahre später nach. Ein Beispiel hierfür ist die Volkszählungsentscheidung des BVerfG 8. Besonders anschaulich kann das Problem unterschiedlicher Definitionsprozesse am Beispiel des Protests gegen die Aufstellung von Pershing IlaRaketen und cruise missiles aufgrund des sog. "Nachrüstungsbeschlusses" der NATO vom 12.12.1979 aufgezeigt werden. Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag stimmten - nach dem damaligen Scheitern der INF-Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR - einer Stationierung dieser Raketentypen zu. Dagegen wandten sich verschiedene Bürger mit einem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde. Im Kern der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.12.19839 geht es um die Frage, von wem eine konkrete Bedrohung von Leib und Leben der Beschwerdeführer, von wem also - um die Parallelität der Rechtsprobleme zu verdeutlichen - ein Angriff auf die Rechtsgüter der Betroffenen ausgeht. Dabei ließen sich beide Rechtspositionen mit gutem Grund vertreten: Die Beschwerdeführer vertraten die Ansicht, eine Aufstellung der Raketen auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland bringe für deren Bewohner die erhöhte Gefahr mit sich, durch einen auf die Standorte dieser Waffen gerichteten nuklearen Präventivschlag der Sowjetunion 7

Einhellige Auffassung, vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 3; Dreher-Tröndle, § 32 Rz 4, jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 8 BVerfGE 65, 1 ff. 9 BVerfGE 66, 39 ff. mit ausführlicher Sachverhaltsdarstellung.

164

Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

oder durch einen von ihr aufgrund eines technischen Fehlers irrtümlich ausgelösten nuklearen "Gegenschlag11 getötet oder verletzt zu werden. Die Beschwerdeführer behaupteten - im Gegensatz zu Teilen der Friedensbewegung - allerdings nicht, daß Ziel einer Aufstellung von Atomraketen die Herbeiführung dieser Gefahr oder gar die Führung eines Angriffskrieges sei. Das BVerfG wies die Beschwerde ab und schloß sich im wesentlichen der Argumentation der Bundesregierung an. Eine Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit der Beschwerdeführer durch das Verhalten deutscher öffentlicher Gewalt, gegen das sich die Verfassungsbeschwerden richteten, sei damit nicht dargetan. Bei der maßgeblichen Quelle dieser Gefährdung handele es sich um Entscheidungen eines fremden souveränen Staates im Zusammenhang weltpolitischer Gesamtlagen und sich wandelnder politischer und militärischer Verhältnisse. Die Richter beim BVerfG werteten den Sachverhalt also anders als die Beschwerdeführer. Sie ließen die Kausalität des gefährdenden Handelns nicht ausreichen, sondern stellten darauf ab, von wem - nach dem vorgelegten Szenario - unmittelbar der Angriff ausging. Ebenso gut hätte man die Verantwortlichen in Militär und Regierung beider Seiten als Angreifer gegen die Rechtsgüter der deutschen Zivilbevölkerung sehen können, da das Gefährdungspotential für einen Atomkrieg allein schon durch die Stationierung taktischer Atomwaffen beträchtlich erhöht wird 10 . c) Eine noch wesentlichere Einschränkung des Notwehrrechts für Aktionen politischen Protests bedeutet aber die Tatsache, daß sich auf der "Opferseite" eine konkrete Gefährdung für bestimmte Rechtsgüter oft gar nicht nachweisen läßt. Auch hier enthält die bereits zitierte Entscheidung des BVerfG zur Stationierung von Mittelstreckenraketen eine aufschlußreiche Parallele. Dort wird u.a. ausgeführt 11: "Nach Lage der Dinge ermangelt es im vorliegenden Fall demgegenüber geeigneter, verläßlicher Verfahren, mit deren Hilfe der Steigerungsgrad der Gefahr für Leib und Leben der Beschwerdeführer im Wege richterlicher Erkenntnis ermittelt werden könnte."

10 Dies ist sowohl unter dem Aspekt der Führbarkeit eines Atomkriegs wie auch unter dem Aspekt der Auslösung eines atomaren Krieges durch technisches Versagen zwischen Militärs und deren Kritikern unstreitig, vgl. hierzu die umfangreichen Literaturnachweise bei Roggemann, JA 1988, S. 1108 (1109) FN 18. 11 BVerfGE 66, 39 (59).

I. Notwehr - § 32 StGB

165

Diese Problematik stellt sich auf ganz ähnliche Weise im Bereich der Umweltgefahren, z.B. bei verunreinigenden Gewässereinleitungen oder Luftimmissionen. Dort tritt eine konkrete Gesundheitsgefährdung oder beeinträchtigung vielfach weit entfernt vom Verursacher auf, u.U. vermittelt über eine komplizierte Nahrungs- und Handelskette. Der einzelne weiß in aller Regel nicht einmal genau, was ihn krank macht12, oder er kann zumindest nicht die Ursachenkette bis zur Quelle nachvollziehen (siehe oben a.). Umgekehrt können oft diejenigen, die gegen eine umweltgefährdende Maßnahme bzw. Anlage protestieren, nicht darlegen, wer konkret durch diese gefährdet oder in seiner Gesundheit beeinträchtigt wird 13 . Und selbst da, wo Zusammenhänge offen zutage liegen, ist ein wissenschaftlicher Nachweis schwierig oder oft nicht möglich (z.B. bei Erkrankungen durch PCP-haltige Holzschutzmittel). Wie groß das Beweisnot-Problem ist, zeigt die Tatsache, daß bei einer Anhörung im Bundestag eine Zahl von etwa 1 Million Chemikaliengeschädigter in der Bundesrepublik genannt wurde 14. 3. Gegenwärtigkeit des Angriffs Das den Angriff bildende Verhalten muß gegenwärtig sein. Dabei stellt nicht schon jede von Menschen ausgehende gegenwärtige Gefahr auch schon einen gegenwärtigen Angriff dar. Der Angriff beginnt, wenn der Angreifer unmittelbar zu diesem ansetzt, d.h. mit einem Verhalten, das unmittelbar in die eigentliche Verletzungshandlung umschlagen soll oder - bei einem unvorsätzlichen Angriff - in eine solche umzuschlagen droht 15. Nicht gegenwärtig ist bei den hier zu beurteilenden Handlungen vor allem der künftige, also auch der in Kürze bevorstehende Angriff 16. Gegenwärtig ist hier lediglich die Gefahr einer künftigen Schädigung. Gerade hier zeigt sich in besonderem Maße die Lückenhaftigkeit einer möglichen Rechtfertigung politischen Protestverhaltens durch die Notwehrbefugnis. Politischer Protest entzündet sich zumeist im Vorfeld während

12 Oft lassen sich die Ursachen umweltbedingter Krankheiten nicht auf eine Ursache zurückführen, sondern sind multifaktoriell bedingt (z.B. anlagebedingte Empfindlichkeit). 13 Wo gegen eine noch nicht in Betrieb genommene Anlage protestiert wird, fehlt es an der Gegenwärtigkeit des Angriffs, hierzu s.u. 3. 14 "Eingebildete Kranke oder Beweisnot der Geschädigten" in: Woche im Bundestag, Heft 5/89 vom 153.1989, S. 23. 15 Vgl. Lenckner in Schönke/Schröder , § 32 Rz 14. 16 BGH NJW 1979, 2053; Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 16 f.

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

der Planung oder des Baus, jedenfalls vor Inbetriebnahme von Anlagen oder vor Durchführung der angegriffenen staatlichen Maßnahmen, also zu einem Zeitpunkt, wo Gefahren erst befürchtet werden oder wo sich Gefahrpotentiale zumindest noch nicht realisiert haben. Es soll ja gerade verhindert werden, daß "das Kind in den Brunnen fallt". Als Beispiele seien der Protest gegen die Verwendung von FCKW 17 bzw. gegen die Abholzung der tropischen Regenwälder genannt: Klimaveränderungen und in deren Folge schwere Gesundheitsgefahren werden hier erst in der Zukunft befürchtet. Dies bedeutet freilich nicht, daß aufsehenerregender, auch straftatbestandsmäßiger Protest nicht gerechtfertigt sein könnte. In solchen Fällen der Abwehr eines künftigen Angriffs wird von einer notwehrähnlichen Lage gesprochen. Eine Rechtfertigung mit Wirkung für die Gesamtrechtsordnung kommt hier jedoch nur aus § 34 StGB in Betracht, dessen gegenüber § 32 StGB strengere Voraussetzungen bereits die zusätzlichen Rechtfertigungserfordernisse enthalten, die hier notwendig sind. Einer Gesetzesanalogie zu § 32 StGB - wie sie in Rechtsprechung und Lehre zum Teil angenommen wird 18 - ist schon deshalb die Gefolgschaft zu versagen, weil die Gegenwärtigkeit des Angriffs eine ganz entscheidende Voraussetzung für die weitgehenden Eingriffsbefugnisse des Notwehrrechts beinhaltet19. 4. Rechtswidrigkeit des Angriffs Auch an der Rechtswidrigkeit des Angriffs fehlt es in vielen Bereichen, wo sich politischer Protest regt. Dies hat zunächst ganz praktische Gründe. Als Beispiel sei das Umweltrecht genannt. Trotz der mittlerweile strengen Voraussetzungen des BImSchG20 können von bestandskräftig genehmigten Industrieanlagen erhebliche Gefahren für Nachbarn und Umwelt ausgehen, z.B. weil entsprechende Gefahren erst nach Bestandskraft erkennbar werden. Hinzu kommt, daß der Nachweis entsprechender Gefahren oft ungeheuer langwierig ist und den Betroffenen dann nichts

17 Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe. Hierin wird die Hauptursache für das sog. "Ozonloch" über der Antarktis und neuerdings auch über der Arktis vermutet. 18 So etwa BGHZ 27, 284 (290); KG, JR 1981, 254 m.w.N.; Larenz, Verhandlungen des 42 DJT, 1957, Bd. 2, D 28; Samson in SK, § 201 Rz 25. Eingehend hierzu: Suppert, Studien zur Notwehr und notwehrähnlichen Lage, insb. S. 356 ff. 19 Wie hier: Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 14; Kratsch, StrVert 1987, 224 ff.; Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 89 (92 f.); Hirsch, JR 1980, 115 (116); Tenckhoff, JR 1981, 255 (256 f.). Zu restriktiv: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 338 ff., der in diesen Fällen generell nur Strafunrechtsausschluß annimmt. 20 Die Genehmigung darf schon bei "erheblichen Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft" versagt werden, § 10 Abs. 1 Ziff. 1 BImSchG.

I. Notwehr - § 32 StGB

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mehr nützt21. Ein Widerruf der Genehmigung ist nur unter engen Voraussetzungen zulässig22. Die Verwaltung tut sich zudem auch aus anderen Gründen (Arbeitsplätze, Entschädigungspflicht 23) schwer, sich zu einem solchen Schritt durchzuringen. Beispiele aus der aktuellen bundesdeutschen Diskussion sind der Streit um Immissionen der Firmen Boehringer in Hamburg, Sonnenschein in Berlin sowie der Pyrolysewerke in Mannheim und Salzgitter. Diese Angriffe auf Rechtsgüter der Betroffenen erfolg(t)en rechtmäßig. Darüberhinaus gibt es strukturelle Gründe: Zu aufsehenerregenden, massiven Formen politischen Protests müssen ja - völlig unabhängig von den Inhalten - in aller Regel nur diejenigen greifen, die einer politischen Minderheit oder aber gesellschaftlichen Gruppen angehören, die nicht über genügend einflußreiche Machtpositionen verfügen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Gesetze werden also in der Regel vom jeweiligen politischen Gegner gemacht. Dieser beherrscht auch die Verwaltung und kann dadurch weitgehend, d.h. in den Grenzen der Verfassung, darüber bestimmen, was rechtmäßig und was rechtswidrig ist. Da wo sich politischer Protest in der BRD in den beiden letzten Jahrzehnten am häufigsten entzündete, nämlich im Bereich umweltgefährdender Großanlagen, wird das besonders deutlich24. Bei der Genehmigung solcher Großanlagen wirken Gesetzgeber und Verwaltung oft eng zusammen25. Sollen bestimmte Projekte politisch durchgesetzt werden, werden die zulässigen Grenzwerte angepaßt. So geriet die von der Bundesregierung 1986 als Rechtsverordnung erlassene TA Luft 26 zur "Lex Buschhaus"27. "Anpassungen" werden auch noch nachträglich vorgenommen. Umweltstaatsanwälte berichten immer wieder von Fällen, wo sie nach langwierigen, mühevollen Ermittlungen endlich Umweltstraftätern auf die Spur kamen und die Überschreitung zulässiger Grenzwerte nachweisen

21

S.u. Kapitel 11 I. 2.3. d. § 21 Abs. 1 BImSchG. 23 § 21 Abs. 4 BImSchG. 24 Ein anderes Beispiel ist der Tierschutz: Der Gesetzgeber schreibt Tierversuche in vielen Fällen ausdrücklich vor. "Tierbefreiungsaktionen" engagierter Tierschützer sind deshalb, so moralisch verständlich sie auch immer sein mögen, stets rechtswidrig. 25 Mit einem eigens für diesen Fall kurz zuvor erlassenen Gesetz verlagerte die bayerische Staatsregierung das Genehmigungsverfahren für die Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe in Wackersdorf vom Landratsamt, das die Genehmigung wegen mangelhafter Planungsunterlagen verweigerte, an den Regierungsbezirk. 26 Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft vom 4.4.1986, GMB1. 1986, S. 95, ber. S. 202. 27 Auf dieses Kohlekraftwerk, das im Zentrum öffentlichen Protests stand, wurde die Altfallregelung angewandt, obwohl das Werk noch nicht endgültig genehmigt und in Betrieb genommen war. 22

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

konnten, die Verwaltung aber mit einer Änderung der Genehmigung auf die tatsächlichen Emissionen reagierte, um Arbeitsplätze und Gewerbesteuer gleichermaßen zu sichern. An sich vorgesehene Kontrollmechanismen geraten leicht ins Hintertreffen. Bürgeranhörungen im Rahmen von Planfeststellungsverfahren werden oft nur als lästiges Übel empfunden 28. Eine gerichtliche Kontrolle erfolgt meist erst nach Jahren, bis zur letzten Instanz kann leicht mehr als ein Jahrzehnt vergehen29. Selbst wenn der Inhalt des Protests letztlich vor Gericht Erfolg hat, wie z.B. die Klage gegen die Daimler-Benz-Teststrecke in Boxberg, sind Protestaktionen wie etwa Platzbesetzungen zur Verhinderung bereits begonnener Baumaßnahmen gleichwohl rechtswidrig. Die baurechtliche Genehmigung bzw. im genannten Fall die Enteignungsverfügung gibt dem Antragsteller vorläufig (Sofortvollzug) ein Recht zur Durchführung der Baumaßnahme unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Verfügung. Derjenige, der vollendete Tatsachen verhindern und der letztlich für richtig anerkannten Rechtsposition zum Durchbruch verhelfen will, ist entweder auf den guten Willen der Bauherrn oder auf die Schnelligkeit der Gerichte angewiesen, wobei bei den rechtlich wie tatsächlich äußerst komplexen Entscheidungen im Umweltbereich auch zumindest Monate bis zu einer Eilentscheidung vergehen können. 5. Notwehrlage - Zusammenfassung Trotz aller Einschränkungen darf nicht übersehen werden, daß Notwehrlagen, an denen sich politischer Protest entzündet, sehr wohl denkbar sind. Am augenfälligsten ist dies bei Protesten gegen Umweltgefahren der Fall. Eine Notwehrlage liegt z.B. da vor, wo von einer identifizierbaren emittierenden Anlage rechtswidrig Luftverunreinigungen ausgehen, die akute oder immer wiederkehrende Gesundheitsbeeinträchtigungen (z.B. PseudoKrupp; Atemwegsverätzungen) bei davon betroffenen Nachbarn hervorrufen. Allein das Vorliegen einer Notwehrlage gibt naturgemäß aber noch kein Recht zu straftatbestandsmäßigem Protestverhalten. Beachtet werden muß weiter:

28 So etwa beim plötzlichen Abbruch der Bürgeranhörung gegen die WAA in Wackersdorf sowie in Mühlheim-Kärlich. Erst Ende der 70ger Jahre wurden entsprechende Verfiahrensrechte durch die Rspr. des BVerfG als subjektive öffentliche Rechte der Betroffenen anerkannt. 29 Das Wyhl-Urteil des BVerwGs erging 13 Jahre nach Anhängigkeit der verwaltungsgerichtlichen Klage (1975-1988).

I. Notwehr - § 32 StGB

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6. Verteidigungshandlung Verteidigung kann sich schon begrifflich nur gegen den Angreifer richten. Aber auch von der Sache her besteht Einigkeit, daß die scharfe Waffe des Notwehrrechts nur insoweit ein legitimes Mittel sein kann, als von der Notwehrhandlung Rechtsgüter des Angreifers betroffen sind. Wirkt sich die Verteidigung zugleich auf unbeteiligte Dritte aus oder ist sie sogar direkt gegen diese gerichtet, so ist sie - durch Notwehr 30 - nicht gedeckt31. Blockaden öffentlicher Straßen zur Erhöhung der Aufmerksamkeit für einen Mißstand32, fallen also nicht unter das Notwehrrecht. Dagegen können Aktionen gegen die Mitarbeiter einer Behörde, die untätig bleibt, obwohl ihr rechtswidrige Emissionen oder Gewässereinleitungen angezeigt wurden, durchaus durch Notwehr gerechtfertigt sein. So gehört das Abkippen von toten Fischen etc. vor den Büros notorisch untätiger Behörden als Aufforderung zum Tätigwerden gegen unzulässige Gewässerverschmutzungen zum "Repertoire" von Organisationen wie Greenpeace33. Soweit in diesen Fällen eine Individualrechtsgutsverletzung nachgewiesen werden kann, sind die verantwortlichen Mitarbeiter der Behörde Mittäter 34 einer Körperverletzung und somit Angreifer i.S. des § 32 StGB. 7. Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung Erforderlich ist die Verteidigung nur, wenn und soweit sie einerseits zur Abwehr des Angriffs geeignet ist und andererseits das relativ mildeste Gegenmittel darstellt. Zur Abwehr geeignet sind zunächst symbolische Aktionen (z.B. Schornsteinbesteigung), um die Presse und auf diesem Wege auch die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung zu alarmieren. Geeignet ist aber auch eine darüberhinausgehende Verteidigung, durch die der Angriff effektiv gestoppt werden kann, so etwa das Zubetonieren eines Abflußrohres, das Abdichten eines Schornsteins oder das Abschalten der Energiezu-

30

In Betracht kommt allerdings eine Rechtfertigung durch Notstand oder, bei Solidarisierung mit dem Protestziel, Einwilligung. 31 H.M., vgl. BGHSt 5, 248; Baumann-Weber, AT, S. 309; Dreher/Tröndle, § 32 Rz 15; Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 31, jeweils m.w.N. 32 Der Mißstand muß objektiv gegeben sein, sonst fehlt es bereits an einer Notwehrlage. 33 Aktionen wie diese können die Straftatbestände des Hausfriedensbruchs, der Beleidigung, Sachbeschädigung und Nötigung erfüllen. 34 Dies jedenfalls, wenn nach vorheriger Anzeige sowohl auf Seiten des Unternehmers wie der Behörde Vorsatz zu bejahen ist. Zur Abgrenzung Täterschaft/Teilnahme in diesem Bereich vgl. Cramer in Schönke/Schröder, vor §§ 324 ff. Rz 39 f.; Seier, JA 1985, 23 (25 f.); Horn in SK StGB, vor § 324 Rz 9.

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

fuhr, um die Betreiber einer Anlage zum Abschalten der Maschinen zu zwingen. An der Geeignetheit fehlt es indes, wenn die Umweltgefährdung durch die Verteidigungshandlung noch vergrößert wird, z.B. durch Explosionen aufgrund des plötzlichen Abschaltens von Maschinen oder durch Überflutungen von Kläranlagen mit noch giftigeren Chemierückständen, weil ein Abflußrohr verstopft wurde. Der Einsatz dieser Mittel ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn den Betroffenen kein gleichwertiges milderes Mittel zur Verfügung steht. Als milderes Mittel ist hier zuvorderst an die Einschaltung der zuständigen Verwaltungsbehörden zu denken. Reagiert diese nicht, kommt eine Anrufung der Verwaltungsgerichte, u.U. ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung in Betracht. Aber auch dann bleibt für Notwehrmaßnahmen noch Raum. Vorrangig sind nämlich nur solche milderen Mittel, die geeignet sind, den Angriff sicher, sofort und endgültig zu beenden. Der Angegriffene braucht auch keine nur vorübergehenden rechtswidrigen Beeinträchtigungen zu dulden35. Bei einer akuten Gefährdung von Individualrechtsgütern (Eigentum, Gesundheit) sind deshalb direkte Maßnahmen gegen den Angreifer möglich, wenn die zuständige Behörde entweder nicht erreichbar (Wochenende, Feiertage) oder aber nicht bereit ist, sofort einzuschreiten. In diesen Fällen ist auch der einstweilige Rechtsschutz ein zu langsames Abwehrmittel (notwendige Suche nach einem Anwalt, Ausarbeiten der Antragsschrift, Bearbeitungszeit bei den Gerichten). Das Notwehrrecht wird auch nicht dadurch eingeschränkt, daß sich der Verteidiger vorher auf die Situation hätte einstellen können36. Eine Beschränkung des Notwehrrechts folgt daher weder aus der Möglichkeit, daß die Behörde etwa schon früher (etwa am Freitag vor einem Wochenende) wegen befürchteter Gefahren hätte eingeschaltet werden können, noch aus der Möglichkeit, daß die Betroffenen gegen die drohende Gefahr um vorbeugenden Rechtsschutz hätten ersuchen können. 8. Normative Einschränkungen des Notwehrrechts Grundsätzlich kommt es bei der Notwehr auf Verhältnismäßigkeitserwägungen zwischen den durch Angriff und Abwehr bedrohten Rechtsgütern nicht an. Ein geringerwertiges Gut kann deshalb regelmäßig auf Kosten eines höherwertigen verteidigt und bewahrt werden. Dennoch wird 35

BGHSt 24, 358; 25, 229; NStZ 1987, 172,322; NJW 1984, 986; Lenckner in Schönke/Schröder § 32 Rz 36 m.w.N. 36 BGH StrVert 1986, 15; Lenckner in Schönke/Schröder § 32 Rz 36.

I. Notwehr- § 32 StGB

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heute allgemein anerkannt, daß auch das Notwehrrecht nicht völlig grenzenlos ist, sondern über die Erforderlichkeit hinaus weiteren normativen Einschränkungen unterliegt 37. Eine solche wird - neben dem gesondert38 noch zu behandelnden Fall der Notwehrprovokation - insbesondere dann angenommen, wenn zwischen der aus dem Angriff drohenden Verletzung von Rechtsgütern des Verteidigers und der mit der Verteidigung verbundenen Beeinträchtigung oder Gefährdung von Rechtsgütern des Angreifers ein ganz ungewöhnliches, krasses, unerträgliches Mißverhältnis besteht39. Die Konkretisierung dieser Faustregel im Einzelfall ist zwar umstritten 40, Einigkeit besteht aber darin, daß die Grenzen für einen Ausschluß des Notwehrrechts sehr eng zu ziehen sind: Diskutiert werden Einschränkungen fast ausschließlich im Hinblick auf eine Verteidigung von Sachwerten von nur untergeordneter Bedeutung bzw. eine nur geringe Beeinträchtigung von Sachwerten und auch nur mit der Konsequenz, daß diese nicht mit der Herbeiführung schwerer Schäden, insbesondere nicht mit lebensgefährlichen oder tödlichen Abwehrmitteln verteidigt werden dürfen. Gleichwohl kommt dieser Schranke auch in den bisher diskutierten Fällen, für die eine Notwehrlage bejaht wurde, also insbesondere den Fällen mit umweltpolitischer Zielsetzung bei gleichzeitiger Individualrechtsgutsverletzung, große Bedeutung zu. Ein krasses, unerträgliches Mißverhältnis läge etwa dann vor, wenn, um nur geringe Gesundheitsbeeinträchtigungen abzuwehren, durch das Abdichten von Rohren oder Schornsteinen die Arbeiter einer Fabrik, die ja ebenfalls Angreifer i.S. § 32 StGB sind, erheblichen Gesundheits- oder sogar Lebensgefahren ausgesetzt würden, etwa weil Maschinen (z.B. schwefelausstoßende Hochöfen) nicht schnell genug zurückgefahren werden können und schwefelhaltige Abgase in die Fabrikhalle ausströmen41. Andererseits kann festgehalten werden, daß auch das geltende Notwehrrecht Maßnahmen erlaubt, die in ihrer Weite fast unvorstellbar sind: So kann ein Bauer, dessen Existenz durch eine rechtswidrige Verseuchung seiner Böden mit Chemierückständen aus einer benachbarten Chemiefabrik auf dem Spiel steht, von der Schußwaffe Gebrauch machen, falls dies

37 In der Regel werden diese Einschränkungen dogmatisch an das Merkmal der "Gebotenheit" angeknüpft, vgl. Baumann/Weber, AT, S. 303; Krey, JZ 1979, S. 702 (714). Zum materialen Prinzip der Einschränkungen vgl. Lenckner in Schönke/Schröder § 32 Rz 45 ff.; Spendel in LK § 32 Rz 254 ff.; Krey aaO. 38 Siehe unten I 9. 39 BGH, StrVert 1982, S. 219 f.; BGHSt 26, 51 (52); Lenckner in Schönke/Schröder § 32 Rz 50 f.; Spendel in LK § 32 Rz 313 ff.; Krey, JZ 1979, 702 (714); F.-C. Schroeder, JZ 1988, S.567 (568). 40 Vgl. hierzu in neuerer Zeit z.B. LG München, JZ 1988, 565 ff. mit Anmerkung F.-C. Schroeder, S. 567 ff. 41 In krassen Fällen kann es freilich schon an der Geeignetheit des Verteidigungsmittels fehlen.

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

- etwa bei Nichterreichbarkeit der zuständigen Behörde am Wochenende das einzige Mittel ist, um die Betreiber zum Einlenken zu zwingen. Für vergleichbare Fälle wird einhellig eine normative oder sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts abgelehnt42. Die Weite der Eingriffsbefugnisses bringt F.-C. Schroeder zutreffend auf den Punkt: "Wenn die herrschende Auslegung der Notwehr bisher nicht zu Unzuträglichkeiten geführt hat, so wohl wegen der schon von RGSt 55, 86 beschworenen sittlichen Auffassungen der Angriffsopfer, wegen der geringen Verbreitung von Schußwaffen und weil es dem Publikum glücklicherweise unbekannt ist, wie weit das Notwehrrecht geht. Sollte sich einmal jemand in den Kopf setzen, es in vollem Umfang und in alle Konsequenzen hinein zu gebrauchen, so könnten geradezu unerträgliche Verhältnisse entstehen."43 Schon das aufgezeigte Fallbeispiel zeigt deutlich, daß die Notwehr wohl kaum der geeignete Bereich sein kann, wo durch eine Ausweitung der tatbestandlichen Voraussetzungen angesetzt werden sollte, um politisches Protestverhalten in größerem Umfang zu rechtfertigen. Die beinahe Grenzenlosigkeit des Notwehrrechts macht dieses Institut insoweit unbrauchbar, da gerade bei der Beeinträchtigung von Rechtsgütern aufgrund eines Handelns mit politischer Zielsetzung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit überragende Bedeutung zukommen muß. Eine Ausweitung der Notwehrvoraussetzungen ermöglichte bürgerkriegsähnliche Zustände. 9. Sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts bei Absichtsprovokation Daran wäre etwa zu denken, wenn sich Mitarbeiter von Organisationen wie "Greenpeace" und "Robin Wood" vor Abflußrohre mit gefährlichen Chemikalien begeben oder auf giftige Abgase emittierene Schornsteine klettern, und eine individuelle Gefährdung der Beteiligten erst durch die konkrete Aktion eintritt. Hier wird die Notwehrsituation erst provoziert. In diesen Fällen, in denen ein Angriff ausschließlich zu dem Zweck herausgefordert wird, den Angreifer unter Ausnutzung der so entstandenen Notwehrlage verletzen zu können, verneint die h.M. 44 - mit unterschiedlichsten dogmatischen Konstruktionen - eine Rechtfertigung und verlangt

42

Vgl. eindrucksvoll statt vieler Spendel in LK, § 32 Rz 315 ff. Schroeder, seinerseits teilweise Frank zitierend, Maurach-FS, S. 139 f. 44 Vgl. Baumann/Weber, AT, § 21 II, 1 b. Umfassend zum Meinungsstand: Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 54 ff. Für die in jüngerer Zeit wieder an Boden gewinnende Gegenauffassung vgl. Bockelmann, Honig-FS, S. 19 (31); Hassemer, Bockelmann-FS, S. 225 (243) sowie insbesondere Spendel in LK, § 32 Rz 281 ff. 43

I. Notwehr - § 32 StGB

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jedenfalls da, wo es dem Provokateur ohne erhebliche Risiken möglich ist, ein Ausweichen vor der Gefahr. Anders stellt sich dagegen die Sachlage dar, wenn von einer verbotswidrig emittierenden Anlage bereits Gesundheitsgefahren für Nachbarn ausgehen. Hier handeln die Akteure in Nothilfe, wobei sie allerdings durch ihre Aktion den Angriff intensivieren. Aus Nothilfe wird Notwehr mit zudem größerer individueller Gefahr, sodaß stärkere Eingriffe (z.B. Abdichten der Emissionsquelle) zulässig werden. Nur insofern liegt also eine "Provokation" vor. Zumindest da, wo eine Nothilfelage bereits bestand und die Erforderlichkeit der entsprechenden Aktion bejaht werden kann (s.o.), dürfte es an den Voraussetzungen fehlen, die für eine Einschränkung des Notwehrrechts unter dem Gesichtspunkt der Notwehrprovokation maßgeblich sind. Es bestünde sonst ein Wertungswiderspruch, die Aktion zunächst als rechtmäßig und damit den Angriff fortdauernd als rechtswidrig zu erklären, den Betroffenen bei ihrer rechtmäßigen Handlung dann aber ihre Abwehrrechte zu beschneiden. Insofern unterscheidet sich die Situation in keiner Weise von der, wo ein Dritter dem Opfer einer Gewalttat zur Seite springt und sich die Gewalt nun in intensiverer Form - der Täter zieht etwa ein Messer - gegen den Verteidiger richtet. In diesem Fall käme wohl niemand auf die Idee, das Notwehrrecht zu beschneiden. 10. Verteidigungswille Ein solcher ist in Fällen politischen Protests nie fraglich, sondern eher schon überausgeprägt. 11. Zusammenfassung Insgesamt läßt sich feststellen, daß insbesondere im Bereich von akuten Umweltgefahren das Notwehrrecht durchaus greifen kann. Eine Rechtfertigung dürfte indes nur in einem engen Bereich in Frage kommen. Dies liegt weniger an den durch Notwehr gestatteten Eingriffsmöglichkeiten als vielmehr an den Notwehrvoraussetzungen. Einschränkungen ergeben sich dabei aus folgenden Gesichtspunkten: (1) Das Notwehrrecht schützt nur Individualrechtsgüter. (2) Angreifer wie Opfer sind oft nur schwer feststellbar und oft nicht miteinander in Beziehung zu bringen.

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

(3) Politischer Protest richtet sich meist nicht gegen einen gegenwärtigen Angriff. Gegenwärtig ist häufig lediglich die Gefahr einer künftigen Schädigung. (4) Es liegt nicht in der Definitionsmacht der Angegriffenen, die Rechtmäßigkeit bzw. die Rechtswidrigkeit des Angriffs zu bestimmen. (5) Im Regelfall bildet zudem die Erforderlichkeit eine erhebliche Schranke. IL Rechtfertigender Notstand In Konfliktfällen muß das Recht die Inanspruchnahme fremder Rechtsgüter zulassen, wenn dies im Vergleich zu dem sonst für ein gefährdetes Rechtsgut eintretenden Schaden als das geringere Übel erscheint. Dieser Leitgedanke liegt dem rechtfertigenden Notstand zugrunde45. Die Gefahr für ein Rechtsgut auf der einen, ein Eingriff in fremde Rechtsgüter auf der anderen Seite - dies gibt auch in hohem Maße die Konfliktlage wieder, die für Aktionen mit politischer Zielsetzung in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik charakteristisch ist46. Dieser Rechtfertigungsgrund bedarf deshalb besonders sorgfältiger Analyse. 1. Notstandsregelungen in BGB und StGB Neben dem in § 34 StGB positivierten allgemeinen Notstandsrecht gibt es eine ganze Reihe von Spezialvorschriften des rechtfertigenden Notstands, so im StGB die §§ 193 und 218a sowie im BGB die §§ 228 und 90447. Sie gehen dem § 34 StGB vor, da sie Spezifizierungen des in § 34 StGB geregelten allgemeinen Rechtsgedankens darstellen und diese Rechtfertigungsmöglichkeit für einen bestimmten Sachbereich konkretisieren. Die Spezialität schließt jedoch nicht aus, daß die in § 34 zum Ausdruck gelangten Grunderfordernisse bei der Auslegung der Spezialbestimmungen zu beachten sind, wie überhaupt eine gegenseitige Beeinflussung der Abwägungsgesichtspunkte stattfindet 48. Sieht man von dieser gegenseitigen Beeinflussung bei der Auslegung ab, läßt § 34 StGB andere Notrechte unberührt und erweitert sie als solche

45

Vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 1; Hirsch in LK, § 34 Rz 1. Ebenso Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 229. 47 Vgl. den Überblick bei Hirsch in LK § 34 Rz 82 ff. 48 Vgl. Hirsch in LK § 34 Rz 82; Dreher-Tröndle § 34 Rz 23; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 308; einschränkend Lenckner in Schönke/Schröder § 34 Rz 6: Rechtfertigung gemäß § 904 BGB nur dann, wenn kumulativ die Voraussetzungen des allgemeinen Rechtfertigungsgrundes gegeben sind. 46

II. Rechtfertigender Notstand

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nicht, sondern formuliert für diesen Rechtfertigungsgrund, der übergesetzlichen Ursprungs ist, die maßgeblichen allgemeinen Wertungsrichtlinien. Die Untersuchung der Notstandselemente orientiert sich deshalb im folgenden an der Regelung des § 34 StGB und greift nur insoweit auf die spezielleren Regelungen zurück, als diese in für die Arbeit wesentlicher Weise von der allgemeinen Notstandsregelung des § 34 StGB abweichen und Eingriffsrechte erweitern. Lediglich die Wahrnehmung berechtigter Interessen wird gesondert behandelt49. Von der Notwehr unterscheiden sich alle Notstandsregelungen wesentlich durch zwei Charakteristika: Sie sind weiter in den Voraussetzungen ausreichend ist eine Gefahr für ein Rechtsgut -aber enger bezüglich der Intensität der gestatteten50 Abwehrmittel. Der Beschränkung über die Erforderlichkeit der Abwehrhandlung hinaus liegt der Gedanke einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung zugrunde: Im Konfliktfall muß das weniger schutzwürdige Rechtsgut bzw. Interesse hinter das höherrangige zurücktreten 51. Ein dritter wesentlicher Unterschied ergibt sich schließlich daraus - insofern ist die Skala der Abwehrmittel wiederum weiter als bei der Notwehr -, daß auch in Rechte unbeteiligter Dritter eingegriffen werden kann52. 2. Notstandsfahige Rechtsgüter Notstandsfähig ist jedes rechtlich geschützte Interesse, gleichgültig, ob es dem Täter oder einem Dritten zusteht, und gleichgültig, von welchem Teil der Rechtsordnung es diesen Schutz erfährt 53. Das Spektrum geschützter Rechtsgüter ist also wesentlich breiter als bei der Notwehr. Notstandsfähig sind insbesondere auch Rechtsgüter der Allgemeinheit (z.B. die Sicherheit des Straßenverkehrs, das Interesse an der Bekämpfung des Rauschgifthandels, das Interesse an der Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung)54, soweit das im Einzelfall betroffene Rechtsgut klar erfaßbar ist. Nicht konkretisierbare Allgemeininteressen erfüllen dagegen schon nicht die Voraussetzungen eines notstandsfähigen Rechtsguts. Wegen der primären Zuständigkeit staatlicher Organe sind zudem besondere Anforderun49

S.u. III. Nach allg. Ansicht gewahrt § 34 ein echtes Eingriffsrecht, vgl. Lenckner in Schönke/Schröder § 34 Rz 1; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 308. 51 Vgl. Lenckner in Schönke/Schröder § 34 Rz. 2; Hirsch in LK, § 34 Rz. 1 ff. 52 Anders nur bei § 228 BGB, der nur die Beschädigung oder Zerstörung der Sache erlaubt, von der die Gefahr ausgeht. 53 Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 9; Hirsch in LK, § 34 Rz 22. 54 Hierzu Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 10; Hirsch in LK, § 34 Rz 23 jeweils mit umfangreichen Rspr.-Nachweisen. 50

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

gen an die Erforderlichkeit der Notstandshandlung zu stellen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß auch Rechtsgüter der Allgemeinheit notstandsfähig sind. Bei genauerer Untersuchung erschließt sich, daß fast alle gegenwärtig in der Bundesrepublik durchgeführten Aktionen politischen Protests Ziele und Interessen zum Gegenstand haben, die notstandsfahige Schutzgüter verkörpern. Hierzu zählen so verschiedene Rechtsgüter wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung55, die Ehre der Juden56 (geschützt z.B. in §§ 185 ff., § 130 StGB), die Pressefreiheit 57 (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), der Erhalt von Wohnraum 58 (Sozialstaatsprinzip, Zweckentfremdungssatzungen der Gemeinden59) und die Existenz bäuerlicher Betriebe (Art. 12, 14, Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Volksgesundheit). Vor allem aber die größten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte, die Ökologie-, die Frauen- und die Friedensbewegung sowie die Gewerkschaften haben sich zum Ziel gesetzt, notstandsfähige Rechtsgüter zu verteidigen bzw. Gefahren von diesen abzuwenden: Aktionen der Ökologiebewegung dienen neben der Verteidigung von Individualrechtsgütern (Gesundheit, Eigentum) auch dem Schutz von überragend wichtigen, elementaren Gemeinschaftsgütern. An vorderster Stelle steht hier der Schutz der Umwelt mit ihren Medien Wasser, Luft und Boden und ihren sonstigen Erscheinungsformen (Pflanzen- und Tierwelt). Zwar anerkennt die h.M. kein Umweltgrundrecht auf Verfassungsebene60, doch ist die Existenz der genannten Rechtsgüter auf einfachgesetzlicher Ebene unbestritten. Sie gewinnen Kontur im Verwaltungsrecht, dort vor allem im WHG, im BImSchG, in den Abfallgesetzen des Bundes und der Länder sowie im AtomG, aber auch im Strafgesetzbuch, in dessen 28. Abschnitt seit dem Jahre 1980 die Straftaten gegen die Umwelt zusammengefaßt sind61. Als weiteres Rechtsgut tritt der Schutz der Volksgesundheit hinzu, der in Art. 2 Abs. 2 GG und im Sozialstaatsprinzip eine

55

Bei Aktionen gegen die Volkszählung oder von Computerhackern. Z.B. Frankfurter Theaterbesetzung anläßlich der Aufführung eines Faßbinderstücks. 57 Springerblockaden 1969; Aktionen der berliner Tageszeitungsredakteure aus Protest gegen rechtswidrige Bespitzelung durch den berliner Verfassungsschutz im Januar 1989. 58 Hausbesetzungen. 59 Aufgrund Art. 6 § 1 Abs. 1 Satz 1 Gesetz zur Verbesserung des Mietrechts, BGBl. I 1971, 1745, i.V.m. den Durchführungsverordnungen der Länder (für Bad.-Württ. abgedruckt in Dürig, Nr. 92). 60 BVerwGE 54, 211 (219); zum Meinungsstand: v.Münch in GGK, Art. 2 Rz 61. 61 Zu den dort geschützten Rechtsgütern Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 324 ff. Rz 8. 56

II. Rechtfertigender Notstand

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besondere Hervorhebung erfahren hat und außerdem etwa im Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz zum Ausdruck kommt62. Aktionen der Frauenbewegung fordern die Einhaltung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 2 GG) ein, der zugleich individuelles Grundrecht wie überindividueller Rechtsgrundsatz ist und der in erheblichem Maße auch ins Privatrecht hineinwirkt 63. Gleichzeitig verteidigt sie die Ehre und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau (geschützt in §§ 174 ff., 185 ff. StGB). Wie hoch diese Rechtsgüter zu veranschlagen sind, zeigt sich darin, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sogar eine staatliche Pflicht festgestellt hat, vor Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts tfra/rechtlichen Schutz zu gewähren64. Auch die Friedensbewegung beruft sich neben der Verteidigung von Individualrechtsgütern wie Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum auf das verfassungsrechtlich (Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 24 Abs. 2 GG) wie strafrechtlich (§§ 80, 80a StGB) hinreichend konkretisierte Rechtsgut Frieden 65. Roggemann 66 hat dies wie folgt zusammengefaßt: "Dieses vom Grundgesetzgeber in unübersehbaren inhaltlichen Zusammenhang mit anderen Menschenrechten gerückte, elementare Recht auf Frieden, das unlösbar mit dem Grundrecht auf Leben verknüpft ist, mag in seinem Inhalt im einzelnen umstritten sein, ebenso wie der bisherige strafrechtliche Friedensschutz unvollkommen ist. Unbestreitbar scheint aber, daß es sich um ein transnationales Rechtsgut von besonderem Rang handelt, das sowohl kollektive völkerrechtliche als auch individuelle menschenrechtliche Wirkungen entfalten kann." Ähnliches gilt für Arbeitskämpfe, die nach h.M. nicht mehr durch Art. 9 GG gedeckt sind, also etwa Betriebsbesetzungen aus Protest gegen Betriebsschließungen oder um die Demontage von Maschinen zu verhindern. Zwar anerkennt die Verfassung kein Recht auf Arbeit 67 . Ein solches

62

BVerfGE 7, 377 (414); 9, 39 (52); 17, 269 (276); 53, 135 (145); Hufen, S. 100. Zu Meinungsstand und aktueller Diskussion bezüglich dieses Grundrechts: Gubelt in v.Münch, GGK, Art. 3 Rz 2, 4, 73 ff. 64 Vgl. EuGMR NJW 1985, 2075 f. Diese Pflicht folgt aus Art. 8 Abs. 1 MRK, aber auch aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. 65 Die Rspr. trennt hier meist nicht scharf zwischen der Gefahr für den Frieden und der für Leib und Leben einzelner Menschen, vgl. etwa OLG Köln NStZ 1985, 550 (551), das zwar die Gefahr eines Atomkriegs bejaht, aber die Gegenwärtigkeit der Gefahr und die Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts für das Leben der Angekl. verneint. Falsch ist es auch, daß das Gericht beim Notstand auf die Unmittelbarkeit abstellt. Darauf kommt es nur bei der Notwehr an (Angriff). 66 Roggemann, JZ 1988, 1108 (1109). 67 Zum Meinungsstand: Gubelt in v.Münch, GGK, Art. 12 Rz 1, 25. 63

12 Reichert-Hammer

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

folgt auch nicht aus dem Sozialstaatsprinzip. Im Hinblick auf die zum Schutz des Arbeitsplatzes bestehenden Vorschriften und das Sozialstaatsprinzip anerkennt aber eine ständige Rechtsprechung68 das Interesse an der Erhaltung der Arbeitsplätze in einem Betrieb sowie die Aufrechterhaltung der Produktion als notstandsfähige Rechtsgüter. Diese Rechtsprechung wurde interessanterweise in der Nachkriegszeit, also einer Zeit des Arbeitsplatzmangels entwickelt. Sie gewinnt deshalb besondere Bedeutung vor dem Hintergrund immer noch steigender Massenarbeitslosigkeit und härterer Verteilungskämpfe in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert 69. Das OLG Oldenburg 70 führt dazu in seiner Urteilsbegründung aus: "Gerade in einer Zeit der Teilbeschäftigung ist ein gesicherter Arbeitsplatz als ein Rechtsgut zu betrachten, dessen Wert beispielsweise den eines Sacheigentums ... häufig weit übersteigen wird." 3. Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut Eine Gefahr besteht dann, wenn nicht nur die gedankliche Möglichkeit, sondern eine auf festgestellte tatsächliche Umstände gegründete Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht71. Dies ist in vielen Fällen unstreitig (z.B. Gefährdung von Arbeitsplätzen). Unproblematisch läßt sich eine Gefahr auch dann feststellen, wenn sich ein eingetretener Schaden rückblickend als deren Realisierung darstellt (Flugzeugabsturz bei Flugvorführungen 72; Extrembeispiele: Seveso, Harrisburgh, Tschernobyl, Hiroshima). "Gäbe es hinterher noch einen objektiv nachträglichen Beobachter, so wäre sein Urteil wohl, was Kinder gern in dem Wort "siehste!" zusammenfassen." 73 In allen anderen Fällen bedarf es zur Feststellung der Gefahr einer Prognose, wobei die Umstände, welche der Prognose zugrunde gelegt werden, tatsächlich gegeben sein müssen. Dies gilt allerdings nur für solche Tatsachen, die offenkundig sind. Dagegen erstreckt sich das 68 BGH MDR bei Daliinger 1975, 723; BayObLG NJW 1953, 1602; OLG Hamm NJW 1952, 838; OLG Köln NJW 1953, 1844; OLG Düsseldorf, NJW 1970, 674; VRS 30, 39; OLG Koblenz NJW 1963, 1991; StA Mannheim, NJW 1976, 586 m.Anm. Wernicke S. 1233; OLG Oldenburg NJW 1978, 1869; zustimmend: Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 9; Hirsch in LK, § 34 Rz 22. 69 Vgl. schon heute die Arbeitskampfe in der Stahlindustrie des Ruhrgebiets (Hattingen, Rheinhausen). 70 OLG Oldenburg, NJW 1978, 1869. 71 BGHSt 18, 271; 19, 371; 22, 341 (345); Dreher-Tröndle, § 34 Rz 3; Hirsch in LK, § 34 Rz 23; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 12; Baumann-Weber, AT, § 22 II la; Palandt-Heinrichs § 228 Anm.2b. 72 Etwa bei der Flugkatastrophe von Ramstein am 28.8.1988 oder bei zahlreichen Abstürzen von Tieffliegern im Jahre 1988 über der Bundesrepublik, z.T. in unmittelbarer Nähe von Atomkraftwerken. 73 So Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 90.

I

Rechtfertigender Notstand

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Prognoseurteil auch auf maßgebliche Anknüpfungstatsachen, die in der konkreten Situation nicht voll aufklärbar sind74. Abzustellen ist bei der Beurteilung auf den Zeitpunkt der Handlung (ex-ante-Betrachtung)75. a) Beurteilungsmaßstab Umstritten ist, welcher Beurteilungsmaßstab der Prognose zugrunde zu legen ist. Nach der strengsten hierzu vertretenen Auffassung 76 kommt es maßgebend auf die Sachkunde an, welche das gesamte menschliche Erfahrungswissen im Zeitpunkt der Handlung umfaßt, wobei diese Sachkunde insofern situationsgebunden ist, als besondere Erkenntnismittel, die in der konkreten Situation auch einem mit Höchstwissen ausgestatteten Beobachter nicht zur Verfügung stünden, außer Betracht bleiben müssen. Die überwiegende Meinung in der Literatur begnügt sich mit geringeren Anforderungen: sie stellt entweder auf einen sachkundigen Beobachter77 oder sogar nur auf einen verständigen Beobachter aus dem Verkehrskreis ab78, wobei jeweils das Sonderwissen des Täters berücksichtigt werden soll. Diese Auffassungen, die eine Parallelität zu entsprechenden Definitionen im Tatbestandsbereich herstellen wollen, weiten den Gefahrbegriff also aus. Dies erscheint im Falle des § 34 StGB vor allem deshalb bedenklich, weil das Bestehen einer Gefahr hier Voraussetzung eines echten Eingriffsrechts ist, also nicht nur (Straf-)Tatbestandslosigkeit des Verhaltens nach sich zieht, sondern auf Seiten der Betroffenen auch eine entsprechende Duldungspflicht begründet. Ist das Urteil objektiv falsch, so kann dem Betroffenen eine solche Pflicht nicht schon deshalb auferlegt werden, weil ein besonnener Beobachter aus dem Verkehrskreis des Handelnden zum gegenteiligen Ergebnis gekommen wäre 79. So verlockend eine Verringerung der Anforderungen an den Gefahrbegriff gerade im politischen

74

Wie hier: Hirsch in LK, § 34 Rz 27 f.; Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 95 ff. und 105; Dornseifer JUS 1982, 761 (763); Wolter, Objektive Zurechnung, S. 171 ff. Ohne diese Einschränkung: Baumann-Weber, AT, § 22 n la; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz. 13. 75 Dies tut auch die Mindermeinung, vgl. Hirsch in LK, § 34 Rz 27; Dornseifer, JuS 1982, 761 (763); Schaffctein, Bruns-Festschrift, S. 89 (92). 76 Baumann-Weber, AT, § 22 II la; Blei, AT, § 44 III 3; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 14. 77 Hirsch in LK, § 34 Rz 29 ff.; Jakobs, AT, 13. Abschn. Rz 13; Lackner, § 34, Anm. 2a; Samson in SK, § 34 Rz 7; Wessels, AT, § 8 IV, 1. 78 Schaffctein, Bruns-Festschrift, S. 98 ff; Dornseifer, JUS 1982,761 (763 f.); Maurach/Zipf, AT/1, § 27 III 3, Rz 15. 79 So völlig zu Recht Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 14; Armin Kaufmann, WelzelFestschrift, S. 393 (400).

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

Bereich bei Taten mit "Warnfunktion" wäre 80, so schnell würde diese Ausweitung des Eingriffsrechts auf die Betroffenen zurückschlagen, dies vor allem vor dem Hintergrund, daß nach wohl überwiegender Meinung § 34 StGB grundsätzlich auch auf staatliches Handeln anwendbar ist81. In Erinnerung gerufen sei in diesem Zusammenhang nur der Abhörfall Traube 82. Andererseits bleibt der strenge Maßstab "Höchstwissen der Zeit" eine Fiktion. Er scheitert an seiner mangelnden praktischen Handhabung. Das von dieser Auffassung vorausgesetzte Maximalwissen ist überhaupt nur theoretisch denkbar. Im Strafprozeß ist es nicht zu erlangen, denn die richterliche Urteilsfindung kann sich als Hilfsmittel allenfalls normaler Sachverständiger bedienen, nicht jedoch des gesamten menschlichen Erfahrungswissens 83. Realistischerweise kann deshalb nur auf das Beurteilungsvermögen eines sachverständigen Beobachters abgestellt werden, der über das Spezialwissen des Täters verfügt. Dabei erübrigt es sich zwischen durchschnittlichen und besseren Sachverständigen zu differenzieren 84. Von einem gerichtlichen Sachverständigen wird erwartet, daß er in seinem Fachgebiet umfassend informiert ist. Ist er dies nicht oder werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, müssen mehrere Sachverständige gehört werden. Ein Mehr an Erkenntnis ist Gerichten nicht möglich. b) Grad der Gefahr und Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts In den hier in Frage stehenden politisch umstrittenen Bereichen begegnen wir der Problematik meist in abgewandelter Form: Politischem Streit liegen fast überall unterschiedliche Auffassungen in der Wissenschaft zugrunde. Bei der Produktion von Kernenergie etwa oder bei der Stationierung von Atomwaffen ist die Gefahrbeurteilung in Expertenkreisen höchst umstritten. Die Gefahren moderner Technik werden zwar heute nur noch selten völlig in Abrede gestellt. Doch werden die Größe der Gefahr und die Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts, teilweise auch die

80 Hierzu noch ausführlich unter dem Aspekt des Auschlusses strafrechtlichen Unrechts: Kapitel 11,1 1. 81 Zum Meinungsstand ausführlich: Hirsch in LK, § 34 Rz 6 - 20; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 7; Ostendorf JZ 1981, 171 f. Ausführlich hierzu in diesem Kapitel II 9. 82 Vgl. hierzu z.B. Amelung, NJW 1977, S. 833 ff. Kritisch ebenso Grebing, GA 1981, 81 (102 ff.) m.w.N. Schon etwas skuril wird es, wenn man einen verständigen Beobachter aus Geheimdienstkreisen zum Maßstab nähme! 83 Zur Kritik: Hirsch in LK, § 34 Rz 31; Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 98. 84 So aber wohl Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 14.

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Gefahrursache (z.B. beim "Waldsterben") bei fast allen Gegenständen öffentlichen Streits höchst unterschiedlich bewertet. Es fehlt also an menschlichem Erfahrungswissen, das eindeutige Schlüsse zuließe. Jede Seite mag dies zwar behaupten. Zumindest aber ziehen hochrangige Wissenschaftler unterschiedliche Schlüsse85. Vor diesem Hintergrund und in Kenntnis dieser unterschiedlichen Sichtweisen entzündet sich politischer Protest. Sowohl der "sachkundige" wie auch der "verständige Beobachter aus dem Verkehrskreis der Protestierenden" wissen darum, daß die Gefahrbeurteilung nicht einheitlich ausfällt. Ihnen obliegt es, hier eine Abwägung vorzunehmen. Dies gilt in gleicher Weise für die Gerichte. Auch die Richter sind auf diesem Gebiet Laien und bedürfen sachverständigen Rates. Dies bedeutet freilich auch, daß diejenigen, die politischen Protest auch mit dem Mittel straftatbestandlicher Handlungen äußern, in hohem Maße das Risiko tragen, welcher von u.U. mehreren in der Wissenschaft vertretenen Meinungen sich die Gerichte anschließen. Zu klären ist daher vor allem, welcher Grad an Gefährdung und welche Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts erforderlich ist, damit von einer notstandsrelevanten Gefahr gesprochen werden kann. Eine exakte begriffliche Fixierung, gar eine Festlegung auf Prozentzahlen ist hier naturgemäß nicht möglich. Rechtsprechung und Literatur greifen deshalb auf Faustformeln zurück: Eine Gefahr für ein Rechtsgut besteht danach dann, wenn der Eintritt eines Schadens nicht völlig fern liegt86, naheliegt87 oder ernstlich zu befürchten ist88. Auf welche dieser Faustformeln man sich verständigt, ist zweitrangig, da auch sie wiederum wertender Ausfüllung bedürfen. Als maßgebliches Ausfüllungskriterium greift deshalb eine im Vordringen begriffene Lehre 89 schon hier auf die Interessenabwägungsklausel zurück, in deren Rahmen sowohl das Gewicht der betroffenen Rechtsgüter wie auch der Grad der ihnen drohenden Gefahren zu berücksichtigen ist: Je höher das geschützte Interesse zu veranschlagen ist, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu 85

Zum Problem der "Beweislast" auch Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 89 f. Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 15. 87 BGHSt 18, 271 (272 f.); Baumann-Weber aaO; Dreher-Tröndle § 34 Rz 3; Hirsch in LK, § 34 Rz 32. 88 BGHSt 22, 341 (345). 89 Schaffctein, Bruns-Festschrift, S. 104 f.; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 15; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 231; in diesem Sinne auch Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 90; aJi. Hirsch in LK, § 34 Rz 34, der allerdings allgemein nur geringe Anforderungen an das Wahrscheinlichkeitsurteil stellt. 86

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

stellen. Dies sollte um so mehr dann gelten, wenn in der Wissenschaft verschiedene Meinungen vertreten werden, ohne daß bisher von einem gesicherten menschlichen Erfahrungswissen gesprochen werden kann. Da bei vielen der genannten Taten mit politischer Zielsetzung hohe und höchstrangige Rechtsgüter geschützt werden sollen (s.o. 2.), läge es deshalb nahe, auch schon eine geringe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts für die von § 34 StGB geforderte Gefahrenlage ausreichen zu lassen. Diese Konsequenz wird teilweise dadurch zu umgehen versucht, daß bestimmte Gefahren, insbesondere solche, die jeden treffen oder die sich als Folge einer gesetzlichen Regelung ergeben, von vornherein aus dem Schutzbereich des § 34 StGB herausgenommen werden 90. Sieht man einmal davon ab, daß diese Gesichtspunkte ohnehin erst bei der Interessenabwägung (s.u. 6.) zu Buche schlagen91, wo z.B. im einzelnen zu untersuchen ist, inwieweit Beeinträchtigungen durch den Gesetzgeber beabsichtigt waren, so kann schon begrifflich die Gefahr für ein Rechtsgut nicht dadurch beseitigt werden, daß sie zu dulden ist, oder dadurch, daß eine große Anzahl von Menschen, u.U. die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik, davon betroffen ist. Im Gegenteil, die drohende Rechtsgutsverletzung wiegt um so schwerer, je mehr Menschen davon berührt werden. Es beinhaltet zudem einen Wertungswiderspruch, einerseits die Skala notstandsfähiger Rechtsgüter sehr weit zu fassen, andererseits aber Gefährdungen eines großen Teils dieser Rechtsgüter (Umwelt, Frieden, Erhaltung des Arbeitsplatzes) wieder aus dem Schutzbereich herauszunehmen. Nichts anderes kann gelten, wenn die Notstandslage durch das weitere Erfordernis eingeschränkt wird, es müsse sich um Gefahren handeln, "die über die allgemeinen Lebensrisiken - auch diejenigen in einer modernen, durch die Fortschritte der Technik geprägten Gesellschaft - hinausgehen"92. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieser Kunstfigur "allgemeines Lebensrisiko" kurzerhand all die Gefahren zugeordnet werden (so explizit die Gefahren der Atomkraft und eines Atomkrieges), gegen die sich in der Bevölkerung massiver Widerstand regt und die von der Allgemeinheit offensichtlich eben gerade nicht als solches akzeptiert werden. Gefahren 90

Hirsch in LK, § 34 Rz 38. Etwa die Abwägung Gefahr für Arbeitsplätze contra Umweltschutz. Wie hier Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 8. 92 Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 8, der sich dabei aber zu Unrecht auf OLG Köln NStZ 1985,550 (551) beruft, das nicht die Gefahr einer Vernichtung des Lebens durch einen Atomkrieg als notstandsfähig ablehnt, sondern nur die Konkretisierung der Gefahr im Einzelfall und deren Gegenwärtigkeit verneint. 91

II. Rechtfertigender Notstand

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für höchstrangige Rechtsgüter zählen nach dieser Auffassung zum allgemeinen Lebensrisiko, dem der einzelne wehrlos ausgeliefert ist, während ihm das Notstandsrecht gegenüber Gefahren für vergleichsweise nachrangige Rechtsgüter (z.B. Ehre) verbleibt! Eine derart weitgehende Gefahrtragungspflicht ist der Rechtsordnung fremd. In keinem Rechtsgebiet werden Gefahren für höchste Rechtsgüter, deren Tragweite im voraus oft noch völlig unbekannt sind, Bürgern generell zugemutet. Zwar mag aus einzelnen Gesetzen folgen, daß bestimmte Gefahren von den Bürgern zu tragen sind. Dies ist aber - wie dargelegt - ausschließlich eine Frage der Interessenabwägung (s.u. 6.), wo im Einzelfall zu untersuchen ist, ob nach der gesetzlichen Wertung die konkret beanstandete Gefahr hinzunehmen ist oder nicht. Zu prüfen bleibt freilich immer, ob die Gefahr - zumindest als Dauergefahr - konkret und aktuell besteht. Nicht jedes entfernte Risiko birgt eine notstandsrelevante Gefahr in sich. Hier scheint die Rechtsprechung in der Tat teilweise von einer anderen Gefahreinschätzung auszugehen als die Widerstand übenden Bürger 93. Diese Praxis ist vor allem deshalb bedenklich, weil - bis auf wenige Ausnahmen - zu der strittigen Gefahrenprognose nicht einmal Sachverständige gehört werden. Die eigene Sachkunde des Gerichts dient als alleiniger Maßstab94. Während bei fast jedem Verkehrsunfall Sachverständige bemüht werden, maßen sich Gerichte ab und an bei den höchst komplizierten und umstrittenen Gefahrenlagen im politischen Bereich das "Höchstwissen der Zeit" einfach selbst zu. Richter, die wie der Frankfurter Amtsrichter Jahn in einem Blockadeverfahren eine umfangreiche Beweisaufnahme durchführen, werden dann leichter Hand als profilierungssüchtig abgetan. Diese Kritik, das darf nicht vergessen werden, betrifft aber nur einen Teil der Gerichte. Überwiegend wird hier mit der prozeßrechtlichen Figur der Wahrunterstellung gearbeitet, um eine ausufernde Beweisaufnahme zu vermeiden. Aber auch aus einem zweiten Grund stößt eine restrikte Rechtsprechung hinsichtlich der Gefahrbeurteilung bei Aktionen im politischen Raum auf Bedenken: Geht es nämlich um die Anwendung der Notstandsregelung auf staatliches Handeln, werden - wegen der überragenden Bedeutung der verteidigten Rechtsgüter -oft nur geringe Anforderungen an die Gefahrprognose gestellt. Eine solche Zweispurigkeit - extensive Beurteilung bei politischen Zielen des Staates, restriktive Auslegung bei politischen Zielen

93

OLG Köln NStZ 1985, 550 (551). Den Widerspruch, einerseits auf Höchstwissen abzustellen, andererseits sich aber auf die eigene Sachkunde bzw. "gewöhnliche" Sachverständige zu verlassen, rügen auch: Schaffctein, Bruns-Festschrift, S. 101; Hirsch in LK, § 34 Rz 31 a.E. 94

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einzelner Bürger - kann nicht akzeptiert werden. Denn in beiden Fällen geht es um hochrangige Rechtsgüter und in beiden Fällen geht es um das gleiche Recht95. Andererseits lassen sich Schwierigkeiten hinsichtlich der Gefahrbeurteilung insbesondere bei einem Mangel an gesichertem Erfahrungswissen oder bei Dauergefahren nicht leugnen. Und natürlich schätzen Bürger Gefahren häufig auch falsch ein. Als Ergebnis ist somit festzuhalten: Weil und soweit bei Taten mit politischer Zielrichtung häufig hochrangige Schutzgüter wie die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen oder die Bewahrung vor existenzvernichtenden Katastrophen verteidigt werden, ist selbst dort die von § 34 StGB geforderte Gefahrenlage anzunehmen, wo Entwicklungen begegnet wird, die hinsichtlich des Schadenseintritts einen relativ geringen Wahrscheinlichkeitsgrad aufweisen 96. Die Größe der Gefahr sowie die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts sind freilich Faktoren, die bei der Erforderlichkeit der Abwehrhandlung wie auch bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind. 4. Gegenwärtigkeit der Gefahr Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sie alsbald oder in allernächster Zeit in einen Schaden umschlagen kann (Augenblicksgefahr, etwa Gefahr für Arbeitsplätze bei drohender Betriebsschließung; Gesundheitsgefahr durch Entweichen radioaktiver Dämpfe). Anders als bei der Notwehr, die einen gegenwärtigen Angriff verlangt, genügt beim Notstand aber auch eine Dauergefahr, bei der infolge eines gefahrdrohenden Zustandes von längerer Dauer ein Schaden jederzeit eintreten kann97. Darüberhinaus wird allgemein die Gegenwärtigkeit der Gefahr auch dann bejaht, wenn der Eintritt des drohenden Schadens - insoweit anders als bei der Dauergefahr - zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten ist, jedoch feststeht, daß er nur durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann98.

95

Nämlich um § 34 StGB. Anders u.U. bei öffentlichrechtlichen Eingriffeermächtigungen. Im Ergebnis ebenso Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 231; Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 89 f. 97 BGHSt 5, 371 (373); BGH NJW 1966, 1824; 79, 2053. 98 So schon das RG in st. Rspr., vgl. etwa RGSt 66, 222 (225); zuletzt BGH NJW 2053 (2054) mit insoweit zust. Anm. Hirsch JR 1980, 115 (116), Hruschka NJW 1980, 21 (22) und Schroeder, JUS 1980, 336 (339); zum Meinungsstand allgemein: Baumann/Weber, AT, § 22 II la; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 17; Hirsch in LK, § 34 Rz 36 f. 96

II. Rechtfertigender Notstand

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Anders als bei der Notwehr die Gegenwärtigkeit des Angriffs erweist sich das Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr beim Notstand also nicht als große Hürde für die Rechtfertigung politisch gezielten Handelns. Notstandslagen können auch weit im Vorfeld der Notwehr entstehen". Selbst Aktionen, die erst in der Zukunft sich auswirkende Gefährdungen (z.B. "Ozonloch", Klimaveränderungen durch Abholzen tropicher Regenwälder) anprangern oder deren Verursachung verhindern, fallen in den Schutzbereich der Notstandsregelung, sofern die Ursache dieser Gefährdungen bereits in der Gegenwart angelegt ist 100 . Ob es sich in diesen Fällen noch um eine gegenwärtige Gefahr handelt, die ja begrifflich immer einen künftigen Schaden voraussetzt, oder streng genommen erst um eine künftige Gefahr, kann dahinstehen101. Entscheidend ist, daß der Begriff der Gegenwärtigkeit in den Notstandsvorschriften nicht ausschließlich vom zeitlichen Abstand des drohenden Schadenseintritts her zu bestimmen ist, sondern einen qualitativen Gesichtspunkt darstellt: Charakteristisch für den Notstand ist, daß die Zwangplage, entweder zu handeln oder den drohenden Schaden hinzunehmen, eine gegenwärtige ist 102 . Einschränkungen ergeben sich gleichwohl aus zwei Gesichtspunkten: (1) Es muß feststehen, daß der Schaden nur durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann. Ist ein Schaden erst in der Zukunft zu befürchten, so ist sofortiges Handeln nur dann angezeigt, wenn die Gefahr sich ständig vergrößert, es also wenig wahrscheinlich erscheint, daß sie auf andere Weise wieder entfällt, und es bei Beginn des drohenden Erfolgseintritts voraussichtlich zu spät wäre, ihr wirksam entgegenzutreten, oder sich bis dahin das Ausmaß der angezeigten Abwehrhandlung unverhältnismäßig gesteigert haben würde 103. Bei der Mehrzahl schwerer Umweltgefahren dürften diese Voraussetzungen gegeben sein, was das Wettrüsten angeht, ist die Beurteilung inzwischen weniger eindeutig.

99 Zur Problematik, daß damit das Erfordernis der Gegenwärtigkeit des Angriffe bei der Notwehr "glatt überspielt" wird: Schroeder, JUS 1980, 336 (338 f.). Zur notwehrähnlichen Lage s.o. in diesem Kapitel, I 3. 100 Ebenso Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 231. 101 Vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 17 einerseits und Hirsch in LK, § 34 Rz 37 andererseits. Wie bedeutungslos dieser Streit ist, zeigt die Tatsache, daß das Tatbestandsmerkmal "drohende Gefahr" in § 228 BGB inhaltsgleich ausgelegt wird, vgl. Palandt-Heinrichs § 228 Anm. 2b. 102 Hirsch und Lenckner aaO; BGH NJW 1951, 769. 103 Hirsch in LK, § 34 Rz 37; BGH LM § 904 BGB Nr. 3.

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(2) Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und die Notwendigkeit des sofortigen Einschreitens beurteilen sich nach den gleichen Kriterien wie das Vorliegen einer Gefährdung überhaupt, also nach sachverständigem ex-ante-Urteil. Bei weit in der Zukunft liegenden Schadensereignissen mit i.d.R. multifaktoriellen Verursachungsketten (Waldsterben, Ozonloch, Kriegsgefahr) dürften klare wissenschaftliche Aussagen noch schwieriger zu erhalten sein als bei kurzfristig zu erwartenden Schäden. 5. Gefahr nicht anders abwendbar Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein. Inhaltlich ist hiermit nichts anderes gemeint als mit dem Merkmal "erforderlich" bei der Notwehr 104 : Die straftatbestandsmäßige Handlung muß zur Gefahrabwendung geeignet und zugleich das hierfür mildeste Mittel sein. Festzustellen ist die Erforderlichkeit nach denselben Regeln, die auch über das Vorliegen einer Gefahr entscheiden: So wie dort eine Prognose bezüglich eines zukünftigen Schadenseintritts zu stellen ist, geschieht dies hier unter dem Gesichtspunkt der Schadensabwendung. a) Geeignetheit In Frage gestellt wird meist schon, ob straftatbestandliche Handlungen mit politischer Zielsetzung überhaupt geeignet sein können, Gefahren abzuwenden. Dies ist eindeutig in den Fällen zu bejahen, in denen die Schadensverursachung selbst verhindert werden soll. Hierzu zählen etwa Aktionen der Umweltschutzorganisation "Greenpeace", die Schlauchboote an Gifttanker kettet, um deren Auslaufen und damit die sog. Verklappung von Dünnsäure in die Nordsee zu unterbinden 105, desweiteren bei Platzbesetzungen, um den Bau eines Atomkraftwerkes zu verhindern, oder Blokkaden, mit denen Arbeiter zur Rettung ihrer Arbeitsplätze den Abtransport von Maschinen unmöglich machen. Problematischer ist die Geeignetheit dort, wo - wie in der Mehrzahl der Fälle - der Protest nur appelativen Charakter hat: Gefahren sollen gar nicht in eigener Person beseitigt werden. Vielmehr sollen die jeweils für die Gefahrverursachung bzw. für die Gefahrenabwehr Verantwortlichen mit plakativen, öffentlichkeitswirksamen Mitteln nachdrücklich aufgefordert

104 Hirsch in LK, § 34 Rz 50; Grebing, GA 1979, 81 (85); Armin Kaufmann, Welzel-Festschrift, S. 401; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz. 18. Ausnahme: Ausweichpflicht, da der Aspekt der Bewährung der Rechtsordnung bei § 34 entfällt. 105 Geschehen z.B. am 1.6.1988 in Nordenham, um das Verklappungsschiff "Kronos" am Auslaufen zu hindern, s. Natur Heft 1/89, S. 56.

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werden, Schritte zur Gefahrabwendung einzuleiten. Hier wird das zu schützende Rechtsgut durch die Tat nicht unmittelbar, sondern allenfalls mittelbar gerettet, wobei die Finalität der appelativen Aktionen vor allem dann umstritten bleibt, wenn Eingriffe nicht in Rechtsgüter der für die Gefahr Verantwortlichen, sondern in Rechtsgüter unbeteiligter Dritter vorgenommen werden (Blockade einer Rheinbrücke aus Protest gegen die Agrarpolitik). Das Geeignetheitskriterium verlangt freilich nicht, daß die Notstandshandlung tatsächlich gelingt. Es genügt, daß eine erfolgreiche Gefahrabwendung nicht ganz unwahrscheinlich ist, während es erst eine Frage der Interessenabwägung ist, wie groß das Risiko eines Mißlingens im Einzelfall sein darf: Je höherwertig das Rechtsgut und je größer der Grad der ihm drohenden Gefahr, um so geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Gefahrabwendung 106. Von vornherein als ungeeignet auszuscheiden sind deshalb nur solche Handlungen, durch welche die Rettungschancen nicht oder nur ganz unwesentlich erhöht werden. Als offenkundig ungeeignet (nicht nur unangemessen) erwiesen haben sich sog. "militante Aktionen" wie das Umsägen von Hochspannungsmasten oder gar Entführung und politischer Mord. Erreicht wurde hierdurch weder ein "Wachrütteln der Bevölkerung" noch eine i.S. der Akteure positive Beeinflussung der Politik. Einzige Folge dieser Aktionen war, daß sie die Begründung für eine Verschärfung des politischen Strafrechts lieferten 107. Diese Folgenabschätzung hätte sich auch mühelos einer exante-Betrachtung erschlossen. Vereinzelt haben Gerichte aber auch Blockadeaktionen, die als Appell an die Verantwortlichen zur Abwendung eines Atomkrieges beitragen sollten, die Rechtfertigung mangels Geeignetheit versagt 108: "Es ist also richtig, daß die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland ständig an Leib und Leben gefährdet sind. Aber diese Gefahr wird nicht dadurch abgewendet, daß man sich auf die Straße setzt." Diese Argumentation hat sich aus zwei Gründen zu Recht nicht durchgesetzt: Legt man die genannten Kriterien zugrunde, so kann es nicht darauf ankommen, ob das Schutzgut durch die Handlung unmittelbar oder nur mittelbar gerettet werden kann. Entscheidend ist allein, ob eine Ursache 106

Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 19; Hirsch in LK, § 34 Rz 51. Zuletzt: Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus vom 21.12. 1986, BGBl I 1986, S. 2566. 108 L G Stuttgart, Urt.v. 23.12.1983, Az: 37 Ns 1619/83; so auch OLG Köln NStZ 1985, 550 (551). 107

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gesetzt wurde, die zur Rettung beitragen kann. Schon die bloße Minderung einer Gefährdung, ja sogar die Abwendung einer Gefahrsteigerung reichen aus109, denn ebenso wie bei der Notwehr kann die Rechtfertigung nicht deshalb versagt werden, weil der Handelnde hinsichtlich des Maßes hinter der erforderlichen Abwehrhandlung zurückgeblieben ist. Bei der Notwehr wird dies selbst dann angenommen, wenn von vornherein zu erwarten war, daß die ergriffene Maßnahme zur Abwehr nicht genügen würde 110. Da die Begriffe nach allgemeinem Verständnis deckungsgleich sind, kann für den Notstand nichts anderes gelten. Was den speziellen Fall angeht, so ist es obendrein unsinnig, nur auf eine einzelne Blockadeaktion abzustellen. Die Prüfung der Geeignetheit muß sämtliche Umstände berücksichtigen. Dazu gehört, daß in der damaligen historischen Situation weltweit derartige spektakuläre Aktionen stattfanden, an denen sich Millionen von Menschen beteiligten, um sich gegenseitig - in Ost 111 und in West - ihren Friedenswillen zu demonstrieren. Diese "Bewußtseinsarbeit" bewirkte, daß sich damals eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Raketenstationierung aussprach. Daß durch diese massive Willenskundgebung der Abrüstungsprozeß - im Westen wie im Osten - beeinflußt wurde, kann deshalb ernsthaft nicht in Abrede gestellt werden. Spektakuläre Aktionen haben zudem nicht nur in Rüstungsfragen die Sensibilität der Bevölkerung wie auch der Regierung geschärft. Noch unmittelbarer kann dies für den Bereich des Umweltschutzes nachgewiesen werden, wo z.B. der hohe Sicherheitsstandard deutscher AKW, aber auch allgemein die im internationalen Bereich relativ strenge Umweltschutzgesetzgebung auf den enormen Druck oft auch straftatbestandsmäßiger Aktionen betroffener Bevölkerungskreise (z.B. Bauplatzbesetzungen) zurückzuführen sind und selbst von Betreiberseite darauf zurückgeführt werden. Im Bereich der Atomkraft führte dies ja sogar zu einem Umdenken, das weitere Neubauten von AKW unwahrscheinlich macht112. An der Geeignetheit solcher Maßnahmen für die Willensbildung der Regierung zu zweifeln, hieße auch an der demokratischen Willensbildung zu zweifeln. Sieht man einmal von der obrigkeitsstaatlichen, einer lebendi-

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Ebenso Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 89; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 232. Zur Notwehr vgl. BGHSt 25, 229; Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 35. 111 Z.B.-damals noch sensationell-die Pflugscharbewegung in der DDR. 112 Bei einer Spiegelumfrage im Februar 1989 (vgl. Spiegel Nr. 9/89, S. 53) sprachen sich 79 % der Befragten für eine Stillegung der bestehenden Atomkraftwerke aus, nur noch 11 % befürworteten den Bau neuer Anlagen. In der Politik geht es entsprechend nur noch um die Frage, in welchem Tempo ein "Ausstieg" realisiert werden kann. 110

I

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gen Demokratie fremden Schicksalsergebenheit der Gegenauffassung ab, so wäre es geradezu machtmißbräuchlich, würden sich Regierung und Gesetzgeber von dem massiv bekundeten Willen großer Teile der Bevölkerung völlig unbeeindruckt zeigen. Daß dies offensichtlich nicht der Fall ist, zeigt auch ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich: In einem Interview der Tagesschau vom 12.12.1988 bekundete der Dekan der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin sein Befremden darüber, daß erst das rechtswidrige Verhalten der Studierenden (Besetzung der Universitätsgebäude und Vorlesungslfstreiks ,t bei den Studentenprotesten im WS 88/89) die verantwortlichen Politiker zum Einlenken brachte und erst aufgrund dieser Aktionen der völlig überlasteten Hochschule 20 Mio. D M zusätzlicher Mittel zur Verfügung gestellt wurden 113. b) Erforderlichkeit Dies bedeutet freilich noch nicht, daß diese Aktionen auch gerechtfertigt sind. Entscheidende Bedeutung kommt nämlich der Frage zu, ob es sich bei dem Eingriff in fremde Rechtsgüter jeweils auch um das mildeste Mittel zur Gefahrenabwehr handelt. Eine Rechtfertigung scheidet aus, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen möglich sind. Zwei Gesichtspunkte bedürfen hier näherer Erörterung: (1) Ein milderes Mittel kann insbesondere eine nicht straftatbestandsmäßige Handlung darstellen (z.B. eine legale Demonstration anstelle einer nicht nur symbolischen Sitzblockade114). Im Einzelfall kann sogar die Inanspruchnahme eines strafrechtlich geschützten Gutes im Vergleich zu einer nicht straftatbestandsmäßigen Handlung das mildere Mittel sein115 (Besteigung des Daches eines Stromversorgungsunternehmens - Hausfriedensbruch gegenüber massivem Stromzahlungsboykott - nur zivilrechtliche Vertragsverletzung). Ein milderes Mittel ist zudem nur dann vorrangig, wenn es gleichermaßen zur Gefahrabwendung geeignet ist. Um zum Ausgangsbeispiel zurückzukehren: Eine gewöhnliche Demonstration von wenigen Leuten vor einem Atomwaffenlager ist sicherlich

113 Ein anderes Beispiel ist der endgültige Verzicht auf die Wiedraufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Im Ergebnis wie hier: Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 232; Lenckner, JuS 1988, 349 (354); Schüler-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 88. 114 Z u den Grenzen einer Rechtfertigung nach Art. 8 GG s.o. Kapitel 7, V 3.1. 115 Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 20 mit weiterem Beispiel.

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weniger geeignet, die Bevölkerung und die verantwortlichen Politiker auf Kriegsgefahren hinzuweisen (und damit einen kleinen Beitrag zu deren Beseitigung zu leisten) als eine Blockade, bei der sich diese Leute am Eingangstor festketten. Dies schon deshalb, weil die Presse fast ausschließlich über spektakuläre Aktionen berichtet. Eine Großdemonstration mit vielen tausend Leuten wäre zwar zumindest ebenso effektiv. Darauf als Vergleichsmaßstab abzustellen verbietet sich aber, weil die einzelnen Beteiligten für sich keine Großdemonstration durchführen können und eine solche zudem ungeheure finanzielle Anstrengungen verlangt. (2) Eine erheblich wichtigere Schranke folgt aus einem anderen Gesichtspunkt: Stets Vorrang vor individuellem Handeln hat die staatliche Gefahrenabwehr. Dies soll nach verbreiterter Ansicht insbesondere für Eingriffe zur Rettung und Erhaltung von Rechtsgütern der Allgemeinheit gelten. Genausowenig wie die Notwehr ist der Notstand ein allgemeines "Unrechtverhinderungsrecht". Nur dort, wo eine rechtzeitige und effektive Einschaltung staatlicher Stellen nicht möglich ist oder staatliche Stellen ihre Hilfe verweigern 116, bleibt Raum für Notstandshandlungen. Im Vordergrund steht dabei ein Zuhilferufen der Polizei. Darüberhinauskommt aber ein Tätigwerden aller zuständigen Verwaltungsstellen in Betracht, wobei sich gerade im Umweltbereich eine Fülle möglicher Ansprechpartner ergibt. Grundsätzlich sind alle rechtlich geordneten Verfahren, die zur Abwehr einer drohenden Gefahr zur Verfügung stehen (Petitionen, Verwaltungsverfahren, gerichtlicher Rechtsschutz) auszuschöpfen, ehe selbst in Rechtsgüter Dritter eingegriffen werden darf. Problematisch ist diese Einschränkung des Notstandsrechts in mehrfacher Hinsicht: - Neue Technologien, neue Werkstoffe, eine kaum kontrollierbare Hochrüstung, soziale Umwälzungen in bisher nie gekanntem Ausmaß, immer höherer Lebensstandard in den Industrieländern bei immer größerer Armut in den Entwicklungsländern, haben -um nur einige der Ursachen zu nennen - eine unübersehbare Vielzahl neuartiger Gefahrenquellen geschaffen. Hinzu kommt, daß gerade im Bereich der Umweltgefahren, aber auch im Rüstungsbereich, eine Kumulation von Gefahren dadurch eingetreten ist, daß mangels Problembewußtseins in der Vergangenheit Ursachenforschung und -Vermeidung unterblieben sind.

116

Instruktiv hierzu der sog. "Spannerfair, BGH NJW 1979, 2053.

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- Staatliche Stellen stehen diesen Gefahren, aber auch der großen wirtschaftlichen Potenz mit ihrer überlegenen Technologie auf der Verursacherseite, oft völlig überfordert gegenüber. Es mangelt an Personal, technischen Einrichtungen und Überprüfungsmöglichkeiten 117, an gesetzlichen Eingriffsbefugnissen sowie klar abgesteckten Kompetenzbereichen. Die Verwaltung wird vielerorts zu einem anachronistischen Reparaturbetrieb degradiert. - Regierung und Gesetzgebungsorgane leiden zum Teil unter fehlendem Problembewußtsein, sind ebenfalls überfordert oder lassen sich durch sog. - meist ökonomische - "Sachzwänge" von für notwendig erkannten Maßnahmen abhalten. So werden Gesetze bzw. Produktionsge- oder verböte nur zögerlich erlassen und Haushaltsgelder lieber in neue, gefährliche aber gewinnträchtige Technologien (z.B. GentechnologieProgramm) investiert, statt sie für die Kontrolle bestehender Techniken zu verwenden. - Dort wo Problembewußtsein existiert, wird die Verwaltung durch Schadenersatzforderungen bei möglicherweise voreiliger Warnung verunsichert (Fall Birkel 118 ). - EG-Recht verhindert oft auf nationaler Ebene längst für notwendig erkannte Maßnahmen zur Gefahrenabwehr (Katalysatorautos, Produktionsverbot für FCKW, Verbot von Plastikflaschen). Dieses Problem wird sich durch den EG-Binnenmarkt ab 1993 weiter verschärfen. - Gerichtlicher Rechtsschutz ist oft langwierig und teuer. In den Fällen, in denen der Schadenseintritt erst in fernerer Zeit zu erwarten ist, verneinen die Gerichte zudem das Rechtsschutzinteresse. - Staatlicher Schutz scheidet zuweilen aber auch schon deshalb aus, weil ein solcher gegenüber neuartigen Gefahrenpotentialen faktisch gar nicht möglich ist. Ein Beispiel für solche faktischen Grenzen ist der Datenschutz. Computer-'Hackern" gelang es zu Demonstrationszwecken selbst in streng geheime Datenspeicher der NATO und des Pentagon einzudringen oder durch "Viren" Programme renommierter Kernforschungszentren zu zerstören 119. 117

I m Umweltschutzbereich ist dies offenkundig. Einblick in einen anderen Bereich verschaffte der Skandal um die Lieferung einer Chemiewaffenfabrik nach Libyen: Nur 66 Beamte im Bundesamt für Wirtschaft kontrollieren jährlich 100.000 Ausfuhranträge für "strategische Güter". Hierzu Manfred Ruck, zuständiger Referatsleiter, in der Zeit vom 5.1.1989: "Die Situation ist bei uns so, daß eine ordnungsgemäße Sachbearbeitung nicht möglich ist". Vgl. zu diesem Vorgang auch Südwestpresse vom 10. und 11.1.1989. Mit der Aufklärung der weitverzweigten "Libyenaffäre" war übrigens lange Zeit ein einziger Mitarbeiter bei der StA in Offenburg betraut. 118 Die Fa. Birkel macht Schadenersatz in Höhe von 43 Mio. DM gegen das Land BadenWürttemberg geltend, weil der Firma - nach ihrer Darstellung - der Verkauf verdorbener Nudeln nie nachgewiesen werden konnte. 119 Vgl. zuletzt die Hintergrundberichte zu einem Fall von Hackerspionage im Spiegel Nr. 10 vom 6.3.1989, S. 112 ff. sowie in der TAZ vom 4.3.1989, S. 3.

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

Angesichts dieser Probleme frägt sich, ob es richtig ist, an die Erforderlichkeit - wie verschiedentlich gefordert wird 120 - strenge Anforderungen zu stellen. Der BGH hat sich im sog. "Spannerfair 121 - dort hatte der Täter, um seine persönliche Freiheit gegenüber einer vom Angreifer ausgehenden Dauergefahr (mehrmaliges nächtliches Eindringen) zu schützen, zweimal auf den fliehenden Angreifer geschossen und diesen in Gesäß und Rücken getroffen! - mit der lapidaren Feststellung begnügt: "Die Gefahr war, weil alle anderen Maßnahmen, insbesondere die Inanspruchnahme der Polizei und sogar die Abgabe eines Schreckschusses ohne Erfolg blieben, nicht anders abwendbar." Dabei hatte der Täter die Polizei in der konkreten Situation gar nicht bemüht. Allerdings war es dem Angreifenden bei einer früheren, gleichartigen Gelegenheit gelungen, vor dem Eintreffen der Polizei zu fliehen. Die Rechtsprechung des BGH im "Spannerfall" stieß erstaunlicherweise in diesem Punkt nur vereinzelt auf Kritik 122 . Zumindest insoweit, als auch die Erforderlichkeit des zweiten Schusses bejaht wurde, wäre m.E. eine genauere Prüfung angezeigt gewesen. Bei § 34 StGB handelt es sich um ein weitgehendes Eingriffsrecht mit der Konsequenz, daß derjenige, in dessen Rechte eingegriffen wird, sich nicht zur Wehr setzen und seinerseits keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen darf. Um eine chaotische Ausübung des Selbsthilferechts zu vermeiden, darf deshalb der Vorrang staatlicher Abwehrmaßnahmen nicht vorschnell preisgegeben werden. Zwei weitere Beispielsfälle mögen die Problematik veranschaulichen: - Im Jahre 1981 erreichten die Eltern der entführten 4-jährigen Nina von Gallwitz die Freilassung ihrer Tochter gegen Zahlung eines Lösegeldes von 1,5 Mio DM. Zusätzlicher "Preis" für die Freilassung war die Ausschaltung der - bereits ermittelnden - Polizei. Eine mögliche Strafverei-

120 BGHSt 3, 7 (9 ff.); Grebing, GA 1979, 81 (85); Hirsch in LK, § 34 Rz. 50; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 232; Lenckner, JuS 1988, 349 (354); Schroeder, JuS 1980, 336 (339). 121 BGH NJW 1979, 2053 (2054) mit insoweit zust. Anm. Hirsch JR 1980, 115 (116) und Hruschka NJW 1980, 21. Auch Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 20 und § 35 Rz 1 folgt dem BGH insoweit kritiklos. 122 Soweit ersichtlich verneint nur Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 338 eine Rechtfertigung des Verhaltens. Auch er vermeidet eine Kriminalisierung durch Bejahen eines Strafiinrechtausschließungsgrundes der notstandsähnlichen Lage. Verhaltene Kritik übt auch Schroeder, JuS 1980, S. 336 (340), der im Ergebnis aber ebenso wie Hirsch und Hruschka, aaO, rechtfertigenden Notstand annimmt und seinerseits in der FAZ vom 15.9.1981 und vom 25.5.1982 einer bedenklichen Ausweitung der Notrechte das Wort redet.

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telung soll hier durch § 34 StGB gerechtfertigt sein, obwohl die Polizei sich willens und in der Lage sah, selbst einzuschreiten123. - Beim fTuwat M-Spektakel der Berliner Hausbesetzerszene im Jahr 1981 folgte einem Demonstrationszug ein von Geschäftsleuten angeheuerter Trupp junger Leute, die mit Baseballschlägern bewaffnet waren, um mögliche gewaltsame Übergriffe auf Geschäftsräume schon im Keim zu ersticken (Ziele: Verteidigung des Eigentums Dritter, Rechtsbewährung, Rettung vor dem Chaos). Die Berliner Polizei hatte in diesem Fall einen Großeinsatz unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgelehnt, weil sie offensichtlich von einer anderen Gefahrbeurteilung ausgegangen war. Bei dem Demonstrationszug kam es tatsächlich zu keinen gewaltsamen Ausschreitungen. Im Falle von Übergriffen hält F.-C. Schroeder aber den Einsatz solcher Privatkommandos unter zwei Gesichtspunkten für gerechtfertigt: zum einen dann, wenn die Polizei aufgrund falscher Gefahrbeurteilung oder aus Opportunitätsgründen von einem Eingreifen absieht, zum anderen dann, wenn ein effektiver Schutz durch die Polizei deshalb nicht möglich ist, weil Übergriffe an vielen Stellen gleichzeitig erfolgen 124. Jedenfalls soweit es sich um die klassischen Bereiche polizeilicher Gefahrenabwehr und Verbrechensbekämpfung handelt, wird hier m.E. der Vorrang staatlicher Eingriffsrechte vorschnell preisgegeben. Allzuleicht mag hier mancher dem Irrtum erliegen, polizeiliche Konfliktstrategie sei immer effektiver als eine "weiche Linie". Bürgerwehren und Selbsthilfekommittees in den USA sowie ein nahezu unbeschränkter Zugang zu Schußwaffen mögen uns ein warnendes Beispiel sein, dies um so mehr, als es in den zuletzt genannten Fällen ja nicht einmal nur um Notstand, sondern auch um Notwehr geht, einem Eingriffsrecht also, das nahezu keinen normativen Einschränkungen unterliegt. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß es sich bei der Erforderlichkeit in erster Linie um eine Tatsachenfrage handelt und dabei nur solche Alternativen in Betracht zu ziehen sind, durch die die Gefahr ebenso schnell und sicher abgewendet werden kann125. Erst auf der nächsten Stufe, im Rahmen der Interessenabwägung, erfolgt die normative Abwägung zwischen dem Interesse des einzelnen an der Verteidigung von Rechtsgütem auf der einen und gesamtstaatlichen Interessen auf der anderen Seite.

123

F.-C. Schroeder, FAZ vom 25.5.1982, S. 12. F.-C. Schroeder in FAZ vom 15.9.1981, S. 12: "Insoweit bestehen klare Ausnahmen von dem staatlichen Gewaltmonopol." 125 Insofern gleich wie bei der Notwehr, s.o. I 7. 124

13 Reichert-Hammer

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

Abschließend bleibt festzuhalten, daß der BGH im "Spannerfall" in Einklang mit dem ganz überwiegenden Schrifttum - bei einer Dauergefahr für ein untergeordnetes Rechtsgut (!) - die Anforderungen an eine vorrangige Einschaltung staatlicher Stellen deutlich relativiert hat. Der BGH hat zwar nur entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) angenommen. Ausdrücklich weist er aber darauf hin, daß für einen rechtfertigenden Notstand "nach Lage der Dinge einiges spricht". Weder die Rspr. noch die Literatur stellen an die Erforderlichkeit beim rechtfertigenden Notstand höhere Anforderungen als beim entschuldigenden Notstand126. c) Welche Schlüsse folgen hieraus für die oben beschriebenen Aktionen mit (umgekehrter?) politischer Zielsetzung? Zunächst: Es gibt keinen Grund, bei der Abwehr von Gefahren für Allgemeinrechtsgüter strengere Anforderungen zu stellen als bei der Abwehr von Gefahren für Individualrechtsgüter. Der Vorrang staatlicher Eingriffsrechte besteht unabhängig vom Rechtsgut. Bei den beschriebenen Taten mit politischer Zielsetzung lassen sich die betroffenen Rechtsgüter ohnehin kaum voneinander trennen: Gefahren für die Umwelt sind zumindest langfristig - immer auch Gefahren für die Gesundheit. Gefahren für den Frieden sind gleichzeitig Gefahren für das Leben der einzelnen. Die Rechtsgutsbeeinträchtigung ist in diesen Fällen meist sogar größer. Der Rückgriff auf eine Gefährdung des Allgemeinrechtsguts erfolgt oft ja nur deshalb, weil - wie dargestellt 127 - eine konkrete Gefahr für ein Individualrechtsgut nicht nachweisbar ist. Auch dürfen an die Bürger keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden 128. Zwar wird man auch dort, wo Behörden bereits in vergleichbaren Fällen untätig geblieben sind, zunächst den Versuch verlangen müssen, ein Einschreiten der Verwaltung zu erwirken 129. Weigert sich aber die zuständige Behörde tätig zu werden, ist sie dazu nicht in der Lage oder ist Eile geboten, z.B. weil die Behörde am Wochenende nicht erreichbar

126 Allgemein hierzu Hirsch in LK, § 35 Rz 42 ff. Teilweise werden in die Bestimmung des relativ mildesten Mittels bei § 35 auch bereits Zumutbarkeitserwägungen einbezogen, vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, § 35 Rz 13a; Jescheck, AT, § 44 I 2; dies führt aber umgekehrt zu einem engeren Begriff der Erforderlichkeit bei § 35. 127 S.o. I 2 c. 128 Ausdrücklich für eine Begrenzung möglicher milderer Alternativen unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit: Schroeder JuS 1980, 336 (340). Nicht zu verwechseln mit dem Merkmal der Zumutbarkeit bei § 35, dazu Lenckner in Schönke/Schröder, § 35 Rz 13 a.E. 129 Insofern zu weitgehend BGH, NJW 1979, 2053 (2054).

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ist und sich die Gefahr zwischenzeitlich wesentlich erhöhen würde, darf wie bei der Notwehr - zur Selbsthilfe geschritten werden 130. An der Erforderlichkeit fehlt es aber i.d.R. dann, wenn ein rechtlich geordnetes Verfahren zur Abwehr der drohenden Gefahr zur Verfügung steht. Dieser Grundsatz erfährt jedoch Ausnahmen: - Gerichtlicher Rechtsschutz scheidet zunächst da als milderes Mittel aus, wo kein Rechtsweg gegeben ist. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn "nur" eine Gefährdung von Rechtsgütern der Allgemeinheit geltend gemacht wird - hier fehlt oft schon das Rechtsschutzinteresse -, oder wenn es sich um internationale Probleme handelt, auf deren Lösung deutsche Behörden nur bedingt Einfluß nehmen können (Atomraketen, Zerstörung des Regenwaldes). In all diesen Fällen fehlt es an individuell geltend zu machenden Rechten: Der Einzelne hat keinen Anspruch darauf, daß staatliche Stellen das ihnen mögliche zur Gefahrabwendung beitragen (z.B. Einfluß innerhalb der NATO; Import-und Verwendungsverbot von tropischen Edelhölzern etc.)131. - In Eilfällen ist auch der einstweilige Rechtsschutz ein zu langsames Abwehrmittel. Dies gilt nicht nur bei Augenblicksgefahren, sondern auch dann, wenn in der Zwischenzeit bereits vollendete Tatsachen (Sachzwänge) geschaffen werden, z.B. wenn eine Anlage bereits während des Verfahrens mit hohem finanziellen Aufwand nahezu fertiggestellt wird. 132 - Erforderlich kann die Notstandshandlung zu guter Letzt auch dann sein, wenn Gerichte Rechtsschutz deshalb verweigern, weil sie den Anspruch inhaltlich für unbegründet halten. Dies ist etwa dort der Fall, wo Gefahren erst nach der gerichtlichen Entscheidung offenbar werden, oder wo sich vorgebrachte Gefahrenpotentiale erst später als wahr erweisen133. Eine solche Situation kann sich zwischen den Instanzen ergeben, wenn Untergerichte Gefahren falsch beurteilt haben, aber auch dann, wenn ein Rechtsbehelf keinen Erfolg hatte und der Rechtsweg deshalb erschöpft ist. Die Strafgerichte sind an die Gefahrbeurteilung durch die Verwaltungsgerichte nicht gebunden.

130

S.o. I 7. - Siehe dort auch zum einstweiligen Rechtsschutz. Wie hier Hirsch in LK, § 34 Rz 52. So hat BVerfGE 66, 39 ff., die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen mangels direkter Verantwortlichkeit eines Trägers deutscher öffentlicher Gewalt als unzulässig abgelehnt. Die Erforderlichkeit bejahen bei fehlender Aktivlegitimation auch: Dreier, Widerstandsrecht, S. 68; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 233. 132 Wie hier: Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 233. 133 Vgl. z.B. aber auch §§ 17, 20, 21 BImSchG. 131

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

- Eine solche Abweichung wird sich freilich nur in Ausnahmefällen ergeben. I.d.R. folgt aus der Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Pflicht, die Gefahr zu tragen. Dieser Gesichtspunkt kommt indes erst bei der Interessenabwägung zum Tragen. An der Erforderlichkeit der Selbsthilfehandlung zur Abwendung der Gefahr fehlt es in Fällen einer erfolglosen Ausschöpfung des Rechtswegs gerade nicht, da Rechtsschutz als milderes Mittel nicht mehr in Betracht kommt 134 . Auch wenn an die Erforderlichkeit strenge Maßstäbe angelegt werden, verbleibt also durchaus Raum für Notstandshandlungen. Dieser ist um so größer, je akuter die Gefahr ist und je weniger Behörden in der Lage sind, Gefahren zu erkennen und abzuwehren. Wer sich gegen entsprechende Gefahren zur Wehr setzen will, hat freilich i.d.R. zuerst Behörden und Gerichte um Hilfe zu ersuchen. Inwieweit der Handelnde das Risiko auf sich nehmen muß, daß die weniger einschneidende Maßnahme nicht zum gewünschten Erfolg führt, ist wiederum eine Frage der Interessenabwägung und hängt vom Grad der drohenden Gefahr und dem Wert des zu schützenden Rechtsguts ab 135 . 6. Interessenabwägung Die Interessenabwägung beinhaltet nach verbreiteter Ansicht eine fast unüberwindliche Hürde für die Rechtfertigung einer Vielzahl von Formen politischen Protests. Doch zunächst zu den Voraussetzungen: 6.1. Abwägungskriterien Vorzunehmen ist eine Abwägung aller im Einzelfall widerstreitenden schutzwürdigen Interessen. Dabei ist entscheidend, daß nach der Gesamtlage des konkreten Falles das Interesse am Schutz des bedrohten Rechtsguts und damit an der Zulassung einer sonst verbotenen Handlung das Interesse an der Unterlassung dieser Handlung wesentlich überwiegt. Hierfür bedarf es einer sorgfältigen Analyse der konkreten Kollisionslage, um so den Interessenkonflikt in allen seinen Einzelheiten offenzulegen und die Faktoren zu gewinnen, die in die Gesamtabwägung einzustellen sind. Maßgeblich sind insbesondere136

134

So auch Hirsch in LK, § 34 Rz 52. Hirsch in LK, § 34 Rz 52; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 20. 136 Eine ausführliche Übersicht auch der Rspr. geben: Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 23 ff.; ders., Notstand, S. 90 ff.; ders., GA 1985, 295 (309 ff.); Hirsch in LK, § 34 Rz 55 ff. 135

I

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- das abstrakte Rangverhältnis der betroffenen Rechtsgüter (Güterabwägung), das sich zum Teil auch aus spezialgesetzlichen Wertungen ergibt (z.B. Arbeitsplätze contra Umweltschutz), - die Art der konkreten Verletzung und die Größe des konkreten Schadens auf Seiten des bedrohten wie auch auf Seiten des durch den Eingriff verletzten Gutes, - der Grad der den kollidierenden Rechtsgütern drohenden Gefahren, - die Größe der Rettungschancen einerseits bzw. eines weiteren Schadensrisikos auf der Eingriffsseite andererseits, - das Vorliegen eines Aggressiv- oder Defensivnotstands, d.h. die Frage, ob der Betroffene ein Unbeteiligter oder gerade derjenige ist, in dessen Verantwortungsbereich die abzuwendende Gefahr ihren Ursprung hat 137 . Betrachtet man allein diese Kriterien, so könnte man der Auffassung Schüler-Springorums 138 durchaus zustimmen, daß es in den dargestellten Fällen politisch zielgerichteten Verhaltens "gar nicht so schlecht bestellt" sei um eine Rechtfertigung aus § 34 StGB: Der abstrakte Vergleich der Rechtsgüter, die Größe des drohenden Schadens im Vergleich zu den zwar nicht nur bagatellhaften, dennoch aber verhältnismäßig geringen Einschränkungen auf der "Opferseite", die Größe der Rettungschancen und die Dringlichkeit von Abwehrmaßnahmen, all dies sind Faktoren, die - das objektive Vorliegen einer Gefahr vorausgesetzt - in vielen Fällen das Pendel in Richtung auf eine Rechtfertigung hin ausschlagen lassen. Daß dem in der Praxis nicht immer so ist, hat mehrere Gründe: "Nicht selten", so Lenckner 139, "wird die im Rahmen der Interessenabwägung erforderliche Wertentscheidung auf eine Eigenwertung des Richters hinauslaufen, was dann in der Tat dazu führt, daß hier immer ein letzter Schuß irrationaler Erwägungen hinzukommt". Dieses Problem stellt sich freilich nicht nur hier, sondern - wie bereits aufgezeigt - auch schon früher bei der Gefahrbeurteilung etwa dann, wenn kein einheitliches menschliches Erfahrungswissen zur Verfügung steht. Und noch an einem dritten Punkt ist dieser Faktor zu bedenken. Wenn, wie noch aufzuzeigen sein wird, im Interesse der Rechtssicherheit verwaltungs- oder verfassungsgerichtliche Entscheidungen hinzunehmen sind, dann spielt auch gerade bei gesellschaftlich und wissenschaftlich besonders umstrittenen Fragen bei diesen Entscheidungen immer ein gutes Stück richterlicher Subjektivität mit hinein. Mehr als deutlich hat sich dies ja im Strafrecht bei der fast 137

Siehe hierzu auch unten 6.3. SchCller-Springorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 76 (91). 139 Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 44; ders., Notstand, S. 180ff.; ebenso Rärin, JuS 1976, 511. 138

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schon ideologisch geführten Diskussion um die Frage der Verwerflichkeit bei § 240 Abs. 2 StGB gezeigt. Doch auch da, wo die Entscheidung nach den bisher genannten Gesichtspunkten zugunsten eines Eingriffs ausfallen würde, kann eine Rechtfertigung noch nicht ohne weiteres angenommen werden. Zusätzliche Einschränkungen können sich ergeben aus dem Autonomieprinzip sowie aus der Bedeutung der Rechtsordnung im ganzen (hierzu unten 6.3.). Doch zunächst zu Argumenten, die immer wieder gegen eine Berücksichtigung "politischer" Ziele ins Feld geführt werden. 6.2. Argumente gegen eine Rechtfertigung politischen Verhaltens Politische Ziele, so heißt es immer wieder, dürften nicht gewichtet werden. Dies ist richtig, soweit es um Demonstrationsinhalte geht. Soweit ein politisches Ziel aber darin besteht, Gefahren abzuwehren, die Gesellschaft vor Schaden zu bewahren, darf die Interessenabwägung hier natürlich nicht anders verlaufen als bei "unpolitischem" Handeln. Eine Differenzierung erfolgt nach dem Gewicht des zu verteidigenden Rechtsgutes. Die Gewichtung ergibt sich nicht nur aus dem Vergleich abstrakter Strafdrohungen. Vielfach enthalten Gesetze Abwägungsmaßstäbe (z.B. zwischen Umweltschutz und Eigentum, Umweltschutz und Erhalt von Arbeitsplätzen). Im einzelnen kann hier auf die umfassende Literatur zum Notstand verwiesen werden. Unbestritten dürfte aber sein, daß Rechtsgütern wie Frieden, Überleben der Menschheit, Gesundheit der Menschen größeres Gewicht beizumessen ist als dem Interesse an einer Lohnerhöhung oder Steigerung des Unternehmensgewinns. Andererseits können aber auch die letztgenannten Interessen unterschiedlich zu gewichten sein, je nachdem von welcher Basis und von welcher gesellschaftlichen Situation auszugehen ist: Eine Lohnerhöhung kann existentielle Bedeutung haben oder auch nur der Wohlstandsmehrung dienen, Unternehmensgewinne können sich als Partikularinteressen darstellen oder aber makroökonomisch von Bedeutung

Das Gewicht eines Anliegens läßt sich also sehr wohl bewerten, wobei es bei Notstand bzw. notstandsähnlicher Lage nicht auf das Rangverhältnis der mit verschiedenen Aktionen im politischen Raum verfolgten Interessen ankommt, sondern auf den Vergleich des verteidigten und des angegriffenen Rechtsguts. 140

Zur Bewertung eigennütziger im Gegensatz zu gemeinwohlorientierten Zielen s.u. Kapitel 11, I 4 a; Kapitel 12, II 3 d.

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63. Allgemeine normative Begrenzungen des Notstandsrechts a) Mißachtung fremder Autonomie Richtet sich die Tat gegen einen Unbeteiligten (aggressiver Notstand), wird dem Betroffenen mit der Notstandshandlung ein Sonderopfer durch einen Eingriff in seine Rechts- und Herrschaftssphäre aufgezwungen. Bei der Interessenabwägung ist deshalb nicht nur die Rechtsgutsbeeinträchtigung als solche, sondern auch die Mißachtung fremder Autonomie zu berücksichtigen. Ein überwiegendes Interesse kann deshalb nur angenommen werden, wenn besondere Schutz- und Beistandspflichten bestehen oder wenn das gerettete Gut unverhältnismäßig viel mehr Schutz verdient (vgl. § 904 BGB). Ist dies der Fall, findet das Selbstbestimmungsrecht seine Grenze und wird durch die Forderung nach menschlicher Solidarität ersetzt. Dabei gilt als Leitlinie: Je weniger hoch der Rang eines persönlichen Rechtsguts ist, desto mehr tritt das beachtliche Persönlichkeitsinteresse am Unterbleiben einer Notstandseinwirkung zurück. Konkret bedeutet dies: Während bei Beleidigung, Nötigung oder einer Verletzung des Berufsgeheimnisses Notstand in Betracht kommen, bildet das Autonomieprinzip eine absolute Grenze bei erheblichen, insbesondere körperlichen Eingriffen in die Person141. Der Anspruch auf Selbstbestimmung und Respektierung der Person wirkt sich aber nur da aus, wo der Notstandstäter in Rechtsgüter Unbeteiligter eingreift. Rührt die Gefahr von demjenigen her, in dessen Rechtsgut eingegriffen wird (defensiver Notstand), so bleibt das Autonomieprinzip außer Betracht 142. § 228 BGB bringt dies positivrechtlich zum Ausdruck, indem er den Verteidigungscharakter bei der Interessenabwägung dahingehend mit in Ansatz bringt, daß es genügt, wenn der durch die Verteidigungshandlung angerichtete Schaden nicht außer Verhältnis zu der abgewendeten Gefahr steht. § 228 BGB rechtfertigt einen Defensivnotstandseingriff zwar nur in Sachen. Hieraus ist jedoch der allgemeine, im Rahmen der Interessenabwägung bei § 34 StGB heranzuziehende Rechtsgrundsatz entwickelt worden, daß beim defensiven Notstand gegen den Gefahrurheber der verursachte Schaden den verhinderten nur nicht wesentlich überwiegen darf. Selbst Eingriffe in die Körperintegrität werden "in maßvollen Grenzen" 143 für zulässig erachtet 144. 141 Eingehend hierzu: Hirsch in LK, § 34 Rz 68; Lenckner, Notstand, S. 111 ff.; ders. in Schönke/Schröder, § 34 Rz 38, ders., GA 1985, 311. 142 Übersehen von Lenckner, JuS 1988, 349 (354). 143 Die Einhaltung dieser Grenzen wird allgemein im o.g. Spannerfall bejaht! 144 Baumann/Weber, AT, § 22 II lb; Hirsch JR 1980, 115 (116f.); ders. in LK, § 34 Rz 72;

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Für fast alle Äußerungsformen politischen Protests - eine Ausnahme bilden auch hier terroristische Gewalttaten - ist das Autonomieprinzip keine unüberwindliche Hürde. Es zeigt sich aber, daß hinsichtlich des Abwägungsmaßstabes auch dort zu differenzieren ist zwischen Aktionen, die sich gegen den Urheber bzw. den für eine Gefahr Verantwortlichen richten, und solchen, die sich gegen unbeteiligte Dritte 145 wenden. b) Allgemeine Rechtsprinzipien Die Notstandshandlung ist jedoch nicht nur in ihren Folgen für die Betroffenen zu sehen. Zusätzlich ist zu fragen, ob die Tat mit den allgemeinen Grundprinzipien vereinbar ist, auf denen die Rechtsordnung beruht. "Es kann sein, daß dabei oberste rechtliche und moralische Werte auf dem Spiele stehen, die bei der Abwägung gleichfalls zu berücksichtigen sind"146 . Diese Einschränkung ist nicht erst bei der Angemessenheitsklausel147, sondern richtigerweise bereits im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen14*. Im Ergebnis wirkt sich der dogmatische Streit freilich nicht aus. Eine Rechtfertigung politisch zielgerichteten Verhaltens kann danach unter verschiedenen Gesichtspunkten scheitern: (1) Ausscheiden soll eine Rechtfertigung in Fällen sog. "Sozialnot", d.h. bei allgemeinen Gefahren, bei denen dem ganzen Volk Schaden droht. Entwickelt wurde dieser Gedanke in der Rechtsprechung an Fällen, wo in der Nachkriegszeit, einer Zeit der Lebensmittelbewirtschaftung, einzelne sich unter Umgehung der Bewirtschaftungsbestimmungen zusätzlich Nahrungsmittel verschafften, um einen infolge der mangelhaften Versorgung drohenden Gesundheitsschaden von sich abzuwenden. Ein aktuelles Beispiel könnten etwa Hausbesetzungen von im Sanierungsverfahren befindlicheri 149 Häusern sein, durch die sich einzelne in Zeiten allgemeiner Wohnungsnot "an der Warteschlange der Berechtigten vorbei" Wohnraum beschaffen wollen150. Laker will diesen Gesichtspunkt unbesehen auch auf die "auf ähnlicher argumentativer Basis operierenden Blockaden gegen Nachrüstung und Atomenergie" übertragen, die ihm deshalb "prima facie Hruschka NJW 1980, 21 (22); Jescheck, AT, § 34 IV 5; Lenckner, Notstand, S. 102 f.; ders. in Schönke/Schröder, § 34 Rz 30; Schroeder JuS 1980, 336 (340). Dagegen nur für Strafunrechtsausschluß: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 338 ff. 145 Wobei dieses Kriterium noch näher zu präzisieren ist, s.u. Kapitel 12, n 3.4. 146 Lenckner, Notstand, S. 116 ff.; ders. in Schönke/Schröder, § 34 Rz 40 ff. 147 So aber BGH NJW 1976, 680 (681). Ebenso Grebing, GA 1979, 81 (89 ff.). 148 Baumann/Weber, AT, § 22 II lb (S. 351); Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 46; Hirsch in LK, § 34 Rz 78 ff. 149 Anders bei spekulativem Leerstand! 150 Vgl. zu entspr. Hausbesetzungen in Berlin: Spiegel Nr. 13 v. 273.1989, S. 23 ff.

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nicht rechtfertigungsfähig erscheinen"151. Ist dieser oberflächliche Vergleich zwingend? Gemeinsam ist beiden Fallgestaltungen in der Tat das Vorliegen einer allgemeinen, dem ganzen Volke drohenden Gefahr. Wie aber wird der Ausschluß der Rechtfertigung in Fällen der Sozialnot begründet? "Entscheidend ist", so Lenckner 152, "daß die Rechtsordnung das, was sie hier dem Täter gestatten würde, allen anderen gleichfalls erlauben müßte. Genau dies kann sie jedoch nicht, weil dies das Ende jeder geregelten Versorgung bedeuten würde. Eben deshalb muß sie es aber auch dem Täter versagen, daß er sich über die Bestimmungen hinwegsetzt, die eine gerechte Verteilung des Wenigen, was vorhanden ist, gewährleisten sollen. Das gebietet der oberste Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz". Begründet wird die Einschränkung also insbesondere damit, daß dann allen Bürgern ein Eingriffsrecht gewährt werden müßte, was in seiner Konsequenz erheblich mehr Schaden als Nutzen brächte. Dahinter steht der Gedanke, daß Individualinteressen sozial gebunden sind, sich Egoismen einzelner nicht zum Nachteil der Gemeinschaft auswirken dürfen. Dies verdient uneingeschränkt Zustimmung. Beim Protest gegen Nachrüstung und Atomenergie begegnet uns aber gerade der umgekehrte Fall: Das Handeln dient nicht egoistischen Interessen einzelner, sondern der Abwehr von Gefahren für die Gemeinschaft (BVerfG: gemeinwohlorientierte Ziele). Verletzt wird andererseits nicht eine zum Schutz von Gemeinschaftsgütern erlassene (Straf-)Norm. Der Eingriff wendet sich vielmehr gegen Individualrechtsgüter. Aus diesem Grunde lassen sich die "Sozialnot"-Fälle nicht auf die vorliegende Konstellation übertragen. Dies gilt im übrigen auch für andere Protestziele, z.B. bei Aktionen für den Erhalt von Arbeitsplätzen. Auch hier liegt zwar eine allgemeine Notsituation vor (Massenarbeitslosigkeit), gleichwohl richten sich die Aktionen nicht gegen Interessen der Allgemeinheit, sondern lediglich gegen Individualinteressen des Arbeitgebers. (2) Aus ähnlichen Gesichtspunkten wie bei der Sozialnot, soll eine Rechtfertigung auch in bestimmten Fällen individueller Not scheitern. Als Beispielsfall dient meist der mittellos Kranke, der stiehlt oder einen Betrug begeht153, um die zur Heilung einer schweren Krankheit erforderliche aufwendige Spezialbehandlung zu bezahlen, die nicht von der Krankenversicherung getragen wird, ein Beispiel, das bei weiteren Leistungs151

Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 234. Lenckner, Notstand, S. 118. 153 Durch Vortauschen einer Versicherungsdeckung oder eigener Zahlungsfähigkeit. 152

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kürzungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft vielleicht wieder mehr Realitätsgehalt erlangen wird. Bei Ausländern hat es schon heute Aktualität 154 . Hier soll sich die Verneinung des überwiegenden Interesses aus zwei Gesichtspunkten ergeben: Zum einen sei es "undenkbar, daß die Rechtsgemeinschaft dem einzelnen ein Opfer auferlegen dürfte, das sie selbst, obwohl dafür 'zuständig', nicht zu bringen bereit" sei155. Zum anderen wirke sich das in der Verfassung verankerte Rechtsprinzip des Gleichheitssatzes bei der Interessenabwägung (bzw. in § 904 BGB bei der Frage der Verhältnismäßigkeit der Schäden) dahingehend aus, daß eine Besserstellung einzelner gegenüber der Allgemeinheit, die auf die Möglichkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sei, nicht unter Berufung auf rechtfertigenden Notstand herbeigeführt werden könne156. Beide Gesichtspunkte sind im Kern zutreffend: Gemeinschaftsaufgaben dürfen nicht auf einzelne abgewälzt werden mit der Folge -der Eingriff wäre ja rechtmäßig -, daß diese sich nicht mehr dagegen wehren dürfen 157. Auch muß verhindert werden, daß das Notstandsrecht zur Bedürfnisbefriedigung einzelner auf Kosten der Gemeinschaft oder privater Dritter mißbraucht wird. Im Bereich der Sozialversicherung sind zudem die Grenzen zu beachten, innerhalb derer der Gesetzgeber Belastungen Bürgern zuweist158. Andererseits hat das übergeordnete Interesse der Gemeinschaft nicht durchgängig Vorrang. Es ist ein, wenn auch gewichtiges Interesse, das in die Gesamtabwägung einzustellen ist. Insbesondere bei existentiellen Gefahren - etwa einer lebenswichtigen Operation im obigen Beispiel159 oder in Fällen echter Obdachlosigkeit bei Hausbesetzungen (wenn Sozialwohnungen nicht zur Verfügung stehen und Wohnraum zu Spekulationszwecken leersteht) - kann durchaus auch einmal das Individualinteresse Vorrang genießen. (3) Im Interesse des Rechtsfriedens sind Mehrheitsentscheidungen, d.h. vor allem Entscheidungen des Gesetzgebers, grundsätzlich hinzunehmen. 154 Praktisch geworden ist dieser Fall in Tübingen mehrmals bei Ausländern, die lebenswichtige, aber extrem teure (z.B. 65.000 DM) mikrochirurgische Eingriffe durchführen ließen, ohne diese bezahlen zu können. 155 Lenckner, Notstand, S. 161; ders. in Schönke/Schröder, § 34 Rz 41 e. 156 Hirsch in LK, § 34 Rz 69. 1S7 §§ 228 Satz 2, 904 Satz 2 BGB gewähren allerdings Schadensersatz. 158 Allgemein hierzu unten (3). 159 Hier ist zudem eine Garantenpflicht des Arztes zu bejahen, die auch das Autonomieprinzip relativiert.

II. Rechtfertigender Notstand

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In unserem Zusammenhang betrifft dies insbesondere gesetzliche Wertungen hinsichtlich Gefahrtragungspflichten. Als Beispiele hierfür mögen dienen: - der Mehrheitsbeschluß des deutschen Bundestages zur Raketenstationierung, - Grenzwerte für zulässige Immissionen nach dem BImSchG i.V.m. der TA Luft 160 , - Risiken, die zwangsläufig mit bestimmten, vom Gesetzgeber zugelassenen Gefahrenquellen (z.B. Straßenverkehr 161) verbunden sind, - Gefahren für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund des Volkszählungsgesetzes, - die Gefahr für Arbeitsplätze oder Produktionseinbußen als vom Gesetzgeber in Kauf genommene Folge gesetzlicher Regelungen zum Umweltschutz, zur Unfallverhütung oder zur Wirtschaftslenkung 162, - die Gefahr für Arbeitsplätze durch Unternehmerentscheidungen: Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG umfaßt auch das Eigentum an (Groß-)Unternehmen. Daß solches Eigentum gleichzeitig Herrschaft über Menschen bedeutet, stellt es in einen gesteigerten sozialen Bezug (z.B. Mitbestimmungsgesetz, Sozialplan), ändert aber nichts daran, daß der Kapitalseite das Letztentscheidungsrecht über Investitionen verbleibt 163 . Dies umfaßt auch Entscheidungen über Rationalisierung, Betriebsschließungen, Standortverlagerungen etc. Gerade im Umweltbereich greift der Gesetzgeber aber fast ausschließlich auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurück ("Stand der Technik", "soweit Vermeidung und Verwertung technisch möglich"164) oder er läßt gerade in umstrittenen Bereichen große Regelungslücken, sodaß auf gesetzliche Wertungen nicht zurückgegriffen werden kann165. In diesen Fällen ist eine genaue Abwägung im Einzelfall notwendig. Soweit eine solche erforderlich ist, konkretisiert die behördliche Genehmigung die vom einzelnen zu tragenden Gefahren. Ist der Betroffene nicht 160 Vgl. § 48 BImSchG. Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA-Luft) v. 4.4.1986, GMB1. S. 95, ber. S. 202. Eine TA-Lärm wurde bisher noch nicht erlassen. 161 Kein Notstandsrecht gegen mit Straßenverkehr verbundene Dauergefahr, wohl aber bei Konkretisierung der Gefahr im Einzelfall. 162 Vgl. Hirsch in LK, § 34 Rz 38 m.w.N., der allerdings fälschlicherweise schon das Vorliegen einer Gefahr verneint (s.o. 3.); Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 41. 163 Hierzu BVerfGE 50, 290 (349 f.) - Mitbestimmungsgesetz; Bryde in v.Münch, GGK, Art. 14 Rz 22. 164 Vgl. etwa § 3 Abs. 6 und § 5 BImSchG. 165 Eingehend zu diesem Problem: Lenckner, Notstand, S. 164 ff.

204

Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

bereit, diese Gefahren hinzunehmen, so hat er sich vorrangig rechtlich geordneter Verfahren 166 der Konfliktlösung zu bedienen, d.h. insbesondere um gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen (s.o. 5. zur Erforderlichkeit). Ausnahmen gelten bei Eilbedürftigkeit sowie naturgemäß dann, wenn es an einem öffentlichrechtlich durchsetzbaren Anspruch bzw. an der Klagebefugnis fehlt. Rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte sind im Interesse des Rechtsfriedens hinzunehmen, es sei denn dem Urteil lag eine nunmehr erkennbar falsche Gefahrbeurteilung zugrunde. Dann aber ist wiederum vorrangig an ein Gesuch um nachträgliche Anordnungen (§ 17 BImSchG), eine Stillegung (§ 20 BImSchG) oder den Widerruf der Genehmigung (§ 21 BImSchG) zu denken. Das Interesse der Allgemeinheit an der Ordnungs- und Friedensfunktion des Rechts ist andererseits nur ein in die Gesamtabwägung einzustellendes Kriterium. Es nimmt das Ergebnis der Interessenabwägung nicht vorweg. Denn ob der Geltungsanspruch der Rechtsordnung im Einzelfall zugunsten des gewahrten Interesses zurücktritt, ist gerade erst das durch die Interessenabwägung gesuchte Ergebnis 167. Dies gilt um so mehr, solange eine ausdrückliche Regelung der Konfliktlage fehlt. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: - Umweltgefährdende Stoffe dürfen zwar produziert werden, solange weder eine Genehmigungspflicht noch ein Produktionsverbot bestehen. Wird dadurch aber in Rechte Dritter oder in Rechtsgüter der Allgemeinheit eingegriffen, können diese Rechte dennoch überwiegen. - Häuser darf der Eigentümer zwar grundsätzlich - selbst zu Spekulationszwecken - leerstehen lassen. Bei einer Hausbesetzung kann die Abwägung der widerstreitenden Interessen aber u.U. dann zu einer Rechtfertigung der Tat nach § 34 StGB führen, wenn der Täter aus tatsächlicher Wohnungsnot, d.h. aus echter Obdachlosigkeit heraus handelt168. Ausnahmen von der Mehrheitsregel werden vor allem im Hinblick auf Akte zivilen Ungehorsams diskutiert. Sie sollen deshalb auch in diesem Zusammenhang behandelt werden 169.

166 Vgl. hierzu Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 41; Grebing, GA 1979, 81 (95 ff.). Z.B.: Kein Hausfriedensbruch durch Private, wenn Hausdurchsuchung bzw. Beschlagnahme möglich. 167 Vgl. Hirsch in LK, § 34 Rz 69; Lenckner GA 1985, 212. 168 Vgl. Schall, NStZ 1983, 241 (247). 169 S.u. IV.

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Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Bindung an Mehrheitsentscheidungen, gesetzliche Wertungen und letztinstanzliche Gerichtsurteile beinhaltet erhebliche Schranken für eine Rechtfertigung in den hier diskutierten Bereichen. Dennoch bleiben Bereiche, in denen eine Rechtfertigung in Frage kommt. Dies betrifft zum einen die Fälle, wo das Engagement Fragen betrifft, wo höchste Rechtsgüter verteidigt werden, zwar (noch170) Regelungslücken bestehen, eine gerichtliche Geltendmachung des Anliegens deshalb nicht möglich ist, aber die verfolgten Ziele gleichwohl in Einklang mit denen von Gesetzgeber und Regierung stehen (Aktionen gegen die Benutzung von Treibgas, Abholzung der Regenwälder, soweit Eingriffe sich in Grenzen halten). Zum anderen kommt eine Rechtfertigung da in Betracht, wo sich Widerstand gegen rechtswidrige Maßnahmen richtet und behördlicher oder gerichtlicher Rechtsschutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist. 7. Weitere Notstandsvoraussetzungen Bei dem hier zugrundegelegten Verständnis der Notstandsregelung läuft die Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB leer 171 . Am subjektiv erforderlichen Rettungswillen wird es in den diskutierten Fällen ebensowenig wie bei der Notwehr fehlen. Das Erfordernis einer pflichtgemäßen Prüfung der Notstandslage wird von der h.M. zu Recht abgelehnt, wäre hier aber auch nicht problematisch. 8. Zwischenbilanz Fast alle beschriebenen, gegenwärtig in der Bundesrepublik durchgeführten Aktionen politischen Protests haben Ziele und Interessen zum Gegenstand, die notstandsfähige Schutzgüter verkörpern. Hindernisse für eine Rechtfertigung bestehen aber vor allem beim Nachweis einer notstandsrelevanten Gefahr, wegen des grundsätzlichen Vorrangs staatlicher Maßnahmen der Gefahrenabwehr sowie aufgrund normativer Einschränkungen bei der Interessenabwägung, nach der das Mehrheitsprinzip, rechtstaatliche Verfahren der Konfliktlösung sowie die Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen zu beachten sind.

170

Sozusagen im "Vorgriff auf Gesetzgebung. Baumann/Weber, AT, § 22 lb; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 46 m.w.N.

171

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

9. Nachbetrachtung: Der Notstand des Staates 9.1. Anwendbarkeit des § 34 StGB auf hoheitliches Handeln Bei der Auslegung des § 34 StGB muß immer mitbedacht werden, daß sich auch Amtsträger bei hoheitlichem Handeln auf Notstandsrechte berufen können. Berufen können bedeutet, daß sie es tatsächlich mit Erfolg tun können, weil die Praxis, Verwaltungsbehörden 172 und Rechtsprechung173, sie ihnen gewährt. Die Rechtsprechung läßt eine Berufung auf § 34 StGB selbst da noch zu, wo die StPO oder öffentlich-rechtliche Normen eine abschließende Regelung enthalten. Dieses Vorgehen ist - zu Recht - beileibe nicht unbestritten, sondern seit fast zwei Jahrzehnten Gegenstand heftiger Diskussionen. Die Kritik richtet sich vor allem dagegen, § 34 StGB als Generalermächtigungsnorm für hoheitliche Eingriffe zu mißbrauchen174. Der weiten Auslegung der Rechtsprechung ist aus diesem Grunde auch kaum jemand gefolgt 175. Die Lehre ist vielmehr in drei etwa gleich starke Lager gespalten: Zum Teil hält sie den Rückgriff auf Notstandsregeln jedenfalls da für zulässig, wo es an abschließenden gesetzlichen Regelungen fehlt 176 , wobei vor allem praktische Bedürfnisse der Verbrechensbekämpfung ausschlaggebend sind. Die Gegenposition hält die Anwendung von § 34 StGB generell für ausgeschlossen, soweit in Freiheitsrechte von Bürgern eingegriffen wird 177 . Hierfür spricht vor allem das verfassungsrechtliche Prinzip des Gesetzesvorbehalts. Die Position, Notrechte ergänzend als Ermächtigungsgrundlage

172 Z.B. Bundesnachrichtendienst bei Abhörfall Traube, Justizministerium Baden-Württemberg bei heimlicher Verteidigerüberwachung in Stuttgart-Stammheim. 173 BGHSt 27,260 - Kontaktsperre; einschränkend (aber nur bei der Interessenabwägung): BGHSt 31, 304 (307) und BGHSt 34, 39 (51) - heimliche Tonbandaufeeichnung; OLG München, NJW 1972, 2275 - Einschleusen eines Polizeispitzels in Privatwohnung; OLG Frankfurt, NJW 1975, 271 Blutentnahme an Leiche. Ähnlich die Legitimierung des Einsatzes verdeckter Ermittler, wobei sich die Rspr. (vgl. BVerfGE 57, 250, 284; BGH NJW 1984, 2300) dort allerdings seit BGH GA 1975, 333 auf die begründungslose Wiederholung der Formel beschränkt: "Nach gefestigter Rechtsprechung ist der Einsatz von Lockspitzeln zur Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität notwendig und zulässig." 174 Vgl. etwa Amelung, NJW 1977, 833; Böckenförde, NJW 1978, 1881 ff.; Hirsch in LK, § 34 Rz 7 ff.; Reichert-Hammer/Renzikowski, JA 1990 (W+V), 153 (154). 175 Soweit ersichtlich nur: Gössel, JUS 1979, 162, aber schon einschränkend: GA 1980, 154 und JZ 1984, 361 (363); Lange, NJW 1978, 784 ff. 176 Vgl. etwa Dreher/Tröndle, § 34 Rz 24 f.; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 7 und 41 c; Roxin, JuS 1976, S. 505 (509 f.). 177 Vgl. etwa Amelung, NJW 1977, 833, und NJW 1978, 623; Amelung/Schall, JuS 1975, 565 (569 ff.); Grebing, GA 1979, 81 (95 ff.); Hirsch in LK, § 34 Rz 7 ff.; De Lazzer/Rohlf, JZ 1977, 207; Rogall, JZ 1987, 847 (850) Samson in SK, § 34 Rz 3 a,b, 5 a,b.

II. Rechtfertigender Notstand

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für hoheitliches Handeln heranzuziehen, dürfte angesichts immer dichterer Normierung im Gefolge eines beinahe atemlosen gesetzgeberischen Reformeifers 178 in diesem Bereich immer weniger haltbar sein. Inzwischen gehen selbst die von der Innen- und Justizministerkonferenz beschlossenen "Thesen zum Einsatz Verdeckter Ermittler" davon aus, daß § 34 StGB nicht als gesetzliche Generalermächtigung herangezogen werden kann 179 . In gleicher Weise hat das Volkszählungsurteil des BVerfG das Bewußtsein für die Notwendigkeit spezialgesetzlicher Regelungen geschärft. Hierauf verweist ausdrücklich der Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1988180. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet diese radikale Auffassung aber, daß staatliche Hoheitsträger für Handlungen sogar bestraft werden, die andere gerechtfertigt hätten vornehmen können181. Eine im öffentlichen Recht wohl herrschende, im Strafrecht im Vordringen begriffene Lehre versucht deshalb, die sich widerstreitenden Interessen miteinander in Einklang zu bringen. Sie geht von einem gespaltenen Rechtswidrigkeitsurteil aus. Die Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns beurteile sich allein nach öffentlich-rechtlichen, an der Verfassung zu messenden Normen, die als Ermächtigungsgrundlage notwendig wie auch abschließend seien. §§ 32, 34 StGB erweitern staatliche Eingriffsbefugnisse danach nicht. Soweit es aber um die Straßarkeit des einzelnen Beamten gehe, fänden die Notrechte, namentlich §§ 32, 34 StGB Anwendung und beseitigten zumindest (erhöhtes) strafrechtliches Unrecht 182. Diese Lehre verhindert also eine verfassungsrechtlich unerträgliche Überdehnung staatlicher Eingriffsbefugnisse, trägt andererseits aber auch dem von der Gegenposition vorgetragenen unabweisbaren Bedürfnis Rechnung, "sozialschädliche Folgen materiell unberechtigter Bestrafungen 11183 zu vermeiden. Diese Lösung ist sachgerecht, denn sie trägt der Tatsache Rechnung, daß im Strafrecht andere Abwägungsfaktoren maßgebend sind als im Verwal178

Beginnend mit dem Gesetz zur Ergänzung des 1. StrVRG 1974. Zur Übersicht über die Reformen bis 1984 vgl. Cobler, Kritische Justiz 1984, 407 ff.; zu 1987 in Kraft getretenen und geplanten weiteren Neuregelungen vgl. etwa Baumann, StrVert 1986, 494; Dencker, Kritische Justiz 1987, 36 und StrVert 1987, 117; Kühl, NJW 1987, 737 Rogall, GA 1985, 1 und NStZ 1986, 385. 179 Nr. 3.2 der Thesen. 180 Dokumentiert in StrVert 1989, 172 ff.; vgl. dort Begründung A. 2a. 181 Sofern die Voraussetzungen der §§ 32, 34 StGB vorliegen! 182 Vgl. für das Verwaltungsrecht: Böckenförde, NJW 1978, 1881 (1882 ff.); Götz, Polizeirecht, Rz 324, 407 f.; Paul Kirchhof in Merten (Hrsg.), S. 69 f., 77 f.; ders., Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten, S. 28. Im Strafrecht vgl.: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 42 f.; 367 ff.; Seebode, Klug-Festschrift, S. 359 (371 ff.); Ostendorf, JZ 1981, 165 (169 f., 171 f.); Schmidhäuser in Merten (Hrsg.), S. 59 f., 62 f. sowie Aussprache S.80. Unklar Dreher/Tröndle, § 34 Rz 24. 183 So Roxin, JuS 1976, 505 (510).

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

tungsrecht. Geht es dort nämlich primär um die Frage, ob Eingriffe in Freiheitsrechte der Bürger verfassungsrechtlich legitimierbar sind, steht im Strafrecht die Frage im Vordergrund, ob der Rechtsgüterschutz zusätzlich eine Kriminalisierung des Täters erfordert. Die Verhaltensanweisung folgt also allein aus dem Verwaltungs- bzw. Verfassungsrecht 184. Im Strafrecht geht es um die Frage, ob erhöhtes, kriminelles Unrecht zu sanktionieren ist. 9.2. Notwendigkeit der Gleichbehandlung Wenn aber die Notrechte in der Praxis auch auf hoheitliches Handeln Anwendung finden, so muß in jedem Falle sichergestellt werden, daß nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. An Gefahr, Erforderlichkeit der Gefahrenabwehr sowie an die Interessenabwägung sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie bei Privatpersonen. Exekutive und Rechtsprechung erliegen hier allzu leicht der Versuchung, den sie - nach ihrem Verständnis - positiv zu Eingriffen berechtigenden Normen die handlungsbestimmende Kraft einer Regelermächtigung beizumessen und von dieser ausschließlich nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten Gebrauch zu machen. Fehlt eine spezialgesetzliche Eingriffsbefugnis, so wird in der Praxis jede polizeilich als notwendig betrachtete Maßnahme (Ziele: Verbrechensbekämpfung, Sicherheit des Staates) über § 34 gerechtfertigt, so z.B. die verdeckte Ermittlung, die heimliche Gesprächsüberwachung (Traube) oder die automatische Datenerhebung und der automatische Datenabgleich bei der Rasterfahndung 185. Nehmen wir als Beispiel den Einsatz verdeckter Ermittler, den die Rechtsprechung und ein Teil der Lehre 186 zur Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität für zulässig erachten. Die Rechtsprechung hat sich bisher zwar nicht der Mühe unterzogen, hierfür eine dogmatische Begründung zu liefern. Inhaltlich stellt sie jedoch - wie die Lehre - erkennbar auf Notstandsgesichtspunkte ab. Daß die Praxis sich hier scheut, die Notstandsvoraussetzungen detailliert zu prüfen, hat seinen Grund. Legt man nämlich ebenso strenge Maßstäbe zugrunde, wie sie an das Verhalten der Bürger gestellt werden, so fehlt es häufig gleich an mehreren Notstandsvoraussetzungen. Diese Tendenz zu extensiver Auslegung läßt sich an jedem einzelnen Merkmal aufzeigen 187:

184

Mißverstanden von Hirsch in LK, § 34 Rz 16. Zur Kritik vgl. Hirsch in LK, § 34 Rz 8; De Lazzer/Rohlf, JZ 1977, 207 (213). 186 Vgl. etwa Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 41 c. 187 Vgl. hierzu die ausführlichen Fallanalysen von Grebing, GA 1979, 95 ff. 185

II. Rechtfertigender Notstand

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a) Gegenwärtige Gefahr für ein notstandsßhiges Rechtsgut Gefahren gibt es immer. Dies scheint das Leitmotiv zu sein. Aber nur selten bestehen Gefahrenlagen so eindeutig wie bei der Schleyerentführung 1977.188 Für § 34 StGB reicht ja nicht jede abstrakte Gefahr, etwa die, daß irgendwann irgendwo in der Bundesrepublik mit Sicherheit jemand Opfer einer bestimmten Straftat wird. Erforderlich ist die konkrete Gefährdung eines spezifizierbaren Rechtsguts. Zum Fall Traube" schreiben De Lazzer/Rohlf: "Soweit ersichtlich sind jedenfalls noch nirgends auch nur hypothetische Sachverhaltskonstellationen beschrieben worden, in denen die bloße Mutmaßung einen Notstandstatbestand begründen könnte." 189 Auch im Falle des Einsatzes von V-Leuten fehlt bei Einsatzbeginn in aller Regel ein spezifizierbares Opfer. Beim Drogenhandel wäre hier immerhin an den Kreis der Süchtigen oder der auf Suchtmittel Ansprechbaren zu denken. Hat man ein potentielles Opfer, so fehlt zudem die Kenntnis des Angreifers und auch die Beziehung zwischen Angreifer und konkretem Opfer ist unbekannt. Der Polizei geht es hier noch schlechter als Umweltschützern, die zumindest die emittierende Anlage kennen und wissen, daß es irgendwo Opfer bestimmter Gesundheitsrisiken (z.B. Pseudokrupp) gibt, aber den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs nicht erbringen können. Was bleibt, ist der Rückgriff auf Allgemeinrechtsgüter, im Falle des Drogenhandels etwa Volksgesundheit, Familie oder gar die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft 190. Und selbst hier wird man oft nur mit der Annahme einer Dauergefahr weiterkommen. Teilweise ist sogar das Vorliegen einer Gefahr überhaupt, insbesondere aber der Grad der drohenden Gefahr äußerst streitig, so etwa im Betäubungsmittelbereich beim Handel mit Haschisch191 und mehr noch im politischen Bereich, bei der Observation von Gruppen, die sich mit gesellschaftskritischen Inhalten befassen (Stichwort: "anschlagsrelevante Themen", z.B. Gentechnologie, Atomenergie, IWF etc.). Man sieht, daß schon die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr in Grenzbereichen auf mindestens ebensogroße Schwierigkeiten stößt wie in 188

Vgl. BGHSt 27, 260 - Kontaktsperre. De Lazzer/Rohlf, JZ 1977, 207 (212). Kritisch auch Grebing, GA 1979, 102 ff., der in diesem Fall jedenfalls die Erforderlichkeit verneint. 190 Vgl. die Begr. z. Änd. des BtMG, BT-Drs. VI/1877, S. 5 ff. 191 Dessen Legalisierung verbreitet gefordert wird. 189

14 Reichen-Hammer

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

den zuvor erörterten Bereichen politisch gezielten Bürgerhandelns. Diese Schwierigkeiten mögen in weiten Teilbereichen überwindbar sein, sie machen aber deutlich, daß eine genaue Analyse im Einzelfall erforderlich wäre. b) Erforderlichkeit Hieran fehlt es in jedem Fall, wenn gesetzlich geregelte (legale) Einsatzmethoden ebenfalls zum Erfolg führen würden. Dies gilt auch dann, wenn die Polizei hierfür mehr Zeit bzw. Arbeitseinsatz benötigt192. Hier sind zuvorderst die weitgehenden Eingriffsbefugnisse zu überprüfen, die in der StPO bereits geregelt sind. Ein gegenüber dem Einsatz nicht-polizeilicher V-Leute milderes Mittel ist der Einsatz von Polizisten193. Schließlich ist auch zu fragen, ob der Weg des Einsatzes verdecker Ermittler von unten nach oben gegen die Hintermänner des organisierten Verbrechens wirklich immer der erfolgversprechendere ist. Bedenkt man, welche erstklassigen Adressen in jüngster Vergangenheit im Zusammenhang mit illegalen Waffenschiebereien genannt werden und daß in diesem Zusammenhang auch noch der Verdacht auf die unerlaubte industrielle Herstellung von Betäubungsmitteln besteht (Imhausen), so wäre im Einzelfall zumindest zu bedenken, ob nicht der Weg von oben nach unten (z.B. Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen / Telefonüberwachung dort) im Einzelfall wirkungsvoller wäre. Beim Einsatz verdeckter Ermittler gegen politische Gruppen wäre als milderes Mittel zuvorderst an einen politischen Dialog zu denken. Es verstärkt nicht eben die Glaubwürdigkeit des Staates, wenn er zunächst mit aller Macht gegen massiven Bürgerwillen Großprojekte durchsetzt, um sie kurze Zeit darauf wieder aufzugeben (z.B. die Atomanlagen in Kalkar, Hamm-Uentrop und Wackersdorf). c) Interessenabwägung Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen darf nicht einseitig auf die im Einzelfall vielleicht nur geringen Beeinträchtigungen persönlicher Freiheit gegenüber der Effizienz polizeilicher Ermittlungen abgestellt werden. Schon bei dieser Abwägung wird jedoch in vielen Fällen ein

192

So auch Amelung/Schall, JuS 1975, 569. § 163 1 des Entwurfs eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1988 gebietet dies ausdrücklich. Für eine weitergehende Rechtfertigung besteht spätestens nach dessen Inkrafttreten keine Möglichkeit mehr, s.u. c). 193

II. Rechtfertigender Notstand

211

Überwiegen persönlicher Rechtsgüter anzunehmen sein194. Mit zu berücksichtigen sind darüberhinaus die Folgen, die der Einsatz illegaler Fahndungsmethoden für den Rechtsstaat als ganzen, das Ansehen von Polizei, Justiz und anderer staatlicher Organe sowie für die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen haben kann. Gewisse Einschränkungen hat die Rechtsprechung hier durchaus selbst gezogen: So gestattet sie den Einsatz verdeckter Ermittler nur in Fällen besonders schwerer Kriminalität. Einer heimlichen Telefonüberwachung über §§ 100 a, 100 b StPO hinaus wird die Rechtfertigung versagt, wenn sie ausschließlich zum Zwecke der Beweisgewinnung erfolgt 195. Viel weitergehend sind sind aber zusätzlich die Wertungen der Gesamtrechtsordnung, insbesondere verfassungsrechtliche und gesetzgeberische Entscheidungen, hinzunehmen196. Dies gilt für Hoheitsträger in noch weit stärkerem Maße als für Privatleute. Der Katalog staatlicher Eingriffsmöglichkeiten ist - wie festgestellt - in der StPO und in den Polizeigesetzen der Länder abschließend geregelt. Dies schließt eine Rechtfertigung darüberhinausgehenden Handelns mit Wirkung für die Gesamtrechtsordnung aus. In Betracht kommt dann allenfalls ein in seiner Wirkung auf das Strafrecht beschränkter Strafunrechtsausschluß. Nur so können auch entsprechende Notstandsvorbehalte bei der Regelung des polizeilichen Schußwaffengebrauchs verfassungskonform ausgelegt werden. Dies hat freilich zur Konsequenz, daß der strafrechtliche Spielraum, der hier staatlichen Hoheitsträgern eingeräumt wird, spiegelbildlich auch der "Gegenseite", nämlich den Bürgern eingeräumt werden muß197. Wird nämlich die Heranziehung von Notstandsregeln auch auf staatliche Hoheitsträger damit begründet, daß diese nicht schlechter gestellt werden dürfen als andere Bürger, so hat dies auch im umgekehrten Sinne zu gelten.

194

Vgl. etwa Geilen, JuS 1975, 380 (383). BGHSt 31, 296 (301 f.; 31, 304 (307); 34, 39 (51 f.). 196 So zutreffend Amelung/Schall, JuS 1975, 569, und Grebing, GA 1979, 98 f., 101 f., 104 ff., der diese Gesichtspunkte - ohne sachlichen Unterschied - erst bei der Angemessenheit prüft. Übersehen wird dies von Roxin, JuS 1976, 511. 197 Siehe hierzu unten Kapitel 11. 195

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

III. Wahrnehmung berechtigter Interessen Nach ganz h.M. beinhaltet § 193 StGB einen Rechtfertigungsgrund ausschließlich für die Ehrschutzdelikte, wobei schon umstritten ist, ob sich die Rechtfertigung auch auf die §§ 187 und 189 StGB bezieht198. Ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen wird bis heute von niemandem behauptet. Ende der sechziger Jahre unternahm jedoch ein Teil der Lehre 199 den Versuch, das Rechtfertigungsprinzip der Wahrnehmung berechtigter Interessen auf andere Tatbestände auszudehnen. Dies sollte möglich sein bei Tatbeständen mit besonders gemeinschaftsbezogenen Rechtsgütern, "die so tief in das zwischenmenschliche und gesellschaftliche Leben hineinverwoben sind, daß sich ihr Gebrauch in besonders starkem Maße an den Interessen anderer stößt."200 Untersucht wurde das Prinzip der Wahrnehmung berechtigter Interessen insbesondere im Hinblick auf die Freiheitsdelikte und die §§ 201 ff. StGB. Von Eser 201 wurde dabei offengelassen, ob es sich nicht schon um ein Tatbestandskorrektiv handele, die "rechtfertigende" Wirkung sich also auf das Strafrecht beschränke. Als weiteres Rechtfertigungsprinzip hat sich diese Lehre zu Recht nicht durchsetzen können: Soweit § 193 StGB als Ausprägung von Art. 5 GG verstanden wird, kann seine rechtfertigende Wirkung nicht über die Reichweite des Grundrechts hinausgehen202. Lenckner 203 verweist deshalb darauf, daß § 193 StGB insoweit seine für die Rechtfertigung konstitutive Funktion überhaupt an Art. 5 GG abgegeben hat. Soweit § 193 StGB als Anwendungsfall des allgemeinen Prinzips der Güter- und Interessenabwägung betrachtet wird, können außerhalb des speziellen, durch Art. 5 GG geprägten Schutzbereichs der Ehrdelikte keine geringeren Anforderungen an die Rechtfertigung gestellt werden, als dies beim rechtfertigenden Notstand der Fall ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß § 193 StGB im Gegensatz zu den klassischen Notwehr» und Notstandsrechten nicht nur auf die Sicherung bestehender Werte gerichtet ist, sondern auch der Schaffung neuer Werte dient. Hier-

198

Zum Meinungsstand: Lenckner in Schönke/Schröder, § 193 Rz 2 f. Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, 1969; Schröder in Schönke/Schröder, 17. Aufl., Rz 62 a vor § 51. Ähnlich: Noll, ZStW 77, 31ff.; Tiedemann, JZ 1969, 721. 200 So Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 46. 201 Eser, Wahrnehmung berechtigender Interessen, S. 20 f. 202 Zum Strafunrechtsausschluß vgl. aber Kapitel 11, U 2. 2°3Lenckner in Schönke/Schröder, § 193 Rz 1. 199

IV. Ziviler Ungehorsam als eigenständiger Rechtfertigungsgrund?

213

aus kann allenfalls eine Einschränkung, keine Erweiterung des Abwägungsmaßstabs folgen 204. Was die Anwendung der Lehre auf § 240 StGB angeht, so wird nur ein unbestimmter Rechtsbegriff (Verwerflichkeit) durch ein genauso unbestimmtes Rechtfertigungsprinzip ersetzt. Die verdienstvoll herausgearbeiteten Kriterien können ebenso direkt in die Auslegung des § 240 Abs. 2 StGB einfließen 205. Sowohl die Auswahl der untersuchten Tatbestände, wie auch die für eine Ausweitung des Prinzips genannten Kriterien machen im übrigen deutlich, daß es der Lehre mehr um eine Vermeidung der Strafbarkeit denn um die Rechtfertigung des Verhaltens geht. Die gerade angestellte Analyse belegt denn auch nur, daß die rechtfertigende Wirkung des § 193 StGB begrenzt ist. Geht es dagegen allein um den Ausschluß strafrechtlichen Unrecht, so kann sich der Grundsatz der Wahrnehmung berechtigter Interessen durchaus für eine weitere Entkriminalisierung eignen206. IV. Ziviler Ungehorsam als eigenständiger Rechtfertigungsgrund? In der ersten Hälfte der achtziger Jahre entbrannte eine heftige Diskussion über Zulässigkeitskonzepte zivilen Ungehorsams, die zeitweise große Teile der politischen Öffentlichkeit beschäftigte und binnen kürzester Zeit einen ungewöhnlichen Ausstoß wissenschaftlicher Publikationen hervorbrachte. Seinen vorläufigen Höhepunkt und Abschluß fand dieser Streit im Sitzblockaden-Urteil des BVerfG. Das Gericht stellt dort lapidar fest, es sei widersinnig, zivilen Ungehorsam als Rechtfertigungsgrund geltend zu machen, da zu dessen Wesen ja gerade die Bereitschaft zu symbolischen Regelverletzungen gehöre. Ziviler Ungehorsam schließe also per definitionem Illegalität und damit das Risiko entsprechender Sanktionen ein 207 . Gesetz ist Gesetz - ist es wirklich so einfach? Im Kern geht es um die Frage, ob neben dem in Art. 20 Abs. 4 GG positivierten, klassischen Widerstandsrecht gegen eine verbrecherische Obrigkeit ein sog. "kleines" Widerstandsrecht der Normallage, ein Wider-

204 Zur Kritik an der Wahrnehmung berechtigter Interessen als "übergesetzlichem" Rechtfertigungsgrund vgl im einzelnen Lenckner, Noll-GS, S. 243 ff. sowie ders. in Schönke/Schröder, Rz 80 vor §§ 32 ff. ^Hierzu unten Kapitel 12. 206 Siehe hierzu Kapitel 11, insbesondere II 3. ^BVerfGE 73, 206 (252).

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Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

standsrecht "der alltäglichen praktischen Vernunft" existiert 208. Doch zunächst: 1. Was ist Ziviler Ungehorsam? "Ziviler Ungehorsam bedeutet, daß wir aus Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten bewußt die uns vorgegebenen Grenzen überschreiten. Ziviler Ungehorsam verbreitet kein Chaos, sondern er dramatisiert einen unerträglichen Unrechtszustand. Durch seine unbeirrbare Offenheit und Dialogbereitschaft spricht er das Gewissen der Menschen an. Der Weg und das Ziel 209 bilden eine Einheit. Die Gewaltfreiheit ist unser Weg. Sie erfordert ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein und Selbstdisziplin. Wir werden niemals Menschen bedrohen, gefährden, verletzen oder gar töten. Die Mittel des Zivilen Ungehorsams sind nicht Macht und Gewalt, sondern Argumente und Leidensbereitschaft." 210 Ziviler Ungehorsam ist also zunächst keine rechtliche Kategorie, sondern zugleich politische Strategie und Lebensform. Im Unterschied zum Widerstandsrecht gegenüber einem Unrechtssystem verfolgt ziviler Ungehorsam das Ziel, einzelnen gewichtigen staatlichen Entscheidungen zu widerstehen, um einer für verhängnisvoll und ethisch illegitim gehaltenen Entscheidung durch demonstrativen, zeichenhaften Protest bis zu aufsehenerregenden Regelverletzungen zu begegnen. Es geht nicht um eine effektive Lähmung staatlicher Funktionen, sondern um ein dramatisches Einwirken auf den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung211. Über die Definitionsmerkmale der Aktionsform besteht weitgehend Einigkeit. Ziviler Ungehorsam steht für (1) eine bewußte Regelverletzung212 als Mittel zum Zweck eines (2) öffentlich bekundeten, (3) ethischnormativ begründeten, (4) symbolischen Protests, (5) der gewaltlos bleibt und (6) für dessen Folgen einzustehen der Protestierende bereit ist. Letzteres beinhaltet weder eine Anerkennung des Sanktionsapparates noch der

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Z u dieser Terminologie vgl. Dreier in Glotz (Hrsg.), S. 57; Hassemer, Wassermann-FS, S. 326, 340; Arthur Kaufmann in Bill/Scholz (Hrsg.), S. 65 ff. 209 Zum Konzept der sozialen Verteidigung vgl. Theodor Ebert, Gewaltfreier Aufstand, 1978. 210 Zitat aus der Broschüre: Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung, Tübingen 1987. 211 Vgl. Denkschrift der EKD: Evangelische Kirche undfreiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985, S. 21 f. Vgl. hierzu auch Jüngel/Herzog/Simon, Evangelische Chisten in unserer Demokratie, Beiträge aus der Synode der EKD, 1986. 212 Nicht notwendig einer Strafnorm.

IV. Ziviler Ungehorsam als eigenständiger Rechtfertigungsgrund?

215

übertretenen Norm noch schließt es einen Kampf ums Recht aus. Es bedeutet nur, daß sich der Ungehorsame dem Strafverfahren offensiv stellt, indem er es zum integralen Bestandteil des Protests macht. Der Protest wird wiederholt und dramatisiert. Dadurch, daß sich der einzelne dem Strafverfahren unterwirft, bringt er den Staat in größere Legitimationsschwierigkeiten als durch die Aktion selbst. Sein "leidender Gehorsam" wird zum eindrucksvollen Mittel geistigen Widerstands213. 2. Zulässigkeitskonzepte Zwei Konzeptionen stehen sich hier gegenüber, eine materiell-rechtliche und eine prozedurale. Erstere formuliert die Voraussetzungen gerechtfertigten zivilen Ungehorsams in Anlehnung an § 34 StGB als neuen materiellen Rechtfertigungsgrund, ein traditioneller, systemimmanenter Lösungsansatz214. Im Grunde hat dies nichts mit zivilem Ungehorsam zu tun, sondern ist ein Beitrag zur Rechtfertigungsdogmatik 215: Letztlich verbirgt sich dahinter nichts anderes als eine weite Interpretation anerkannter grundrechtlicher bzw. einfachgesetzlicher Rechtfertigungsnormen. Diesbezügliche Möglichkeiten einer Rechtfertigung wurden in dieser Arbeit bereits erschöpfend ausgelotet216. Ein weitergehender Ansatz ist prozeduraler Natur. Der Weg der verfassungsmäßigen staatlichen Entscheidungsfindung wird aus übergeordneten Gesichtspunkten angegriffen. Ein Gegensatz wird konstatiert zwischen Legalität und Legitimität217. Die Legitimität von Widerstandshandlungen wird aus verschiedenen Quellen hergeleitet 218. Die Betroffenen selbst verweisen zumeist auf eine dem Legalitätssystem übergeordnete, historisch oder politisch fundierte Verantwortungsethik 219, andere greifen auf naturrechtliche Begründungen 213 Z u den Definitionsmerkmalen im einzelnen: BVerfGE 73, 206 (250 ff.); Dreier in Glotz (Hrsg.), S. 60 ff.; Frankenberg, JZ 1984, 268 ff.; Habermas in Glotz (Hrsg.), S. 32 ff.; Hassemer, Wassermann-FS, S. 328; Artur Kaufmann in Bill/Scholz (Hrsg.), S. 58 f., 65 ff.; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 160 ff., 186 f.; Leinen in Glotz (Hrsg.), S. 23ff.; Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 401; Schily, Schmid-FS, S. 371 ff.; Schüler-Springorum in Glotz (Hrsg.), S. 79; Wassermann, JZ 1984, 263. 214 Vgl. Dreier in Glotz (Hrsg.), S. 60, 69; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 216 ff.; Schüler-Springorum in Glotz (Hrsg.), S. 87 ff. 215 So auch Hassemer, Wassermann-FS, S. 341 f. 216 In diesem und im vorigen Kapitel. 217 Vgl. etwa Habermas in Glotz (Hrsg.), S. 36 ff. 218 Vgl. zum ganzen Frankenberg, JZ 1984, 272ff.; Hassemer, Wassermann-FS, S. 331ff.; 342 ff. 219 Vgl. etwa Schily, Schmid-FS, S. 372; Fritz Kuhn, MdL Die Grünen, in: Streitgespräch mit

216

Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

zurück und kreieren ein "Widerstandsrecht zweiter Klasse". Ein dritter Ansatz stellt sich dem Problem auf der Ebene des Minderheitenschutzes und arbeitet drei Einschränkungen der Mehrheitsregel heraus 220: (1) Vorläufige Minderheiten dürfen nicht in permanente transformiert werden, der politische Prozeß der Mehrheitsbildung muß offen bleiben; (2) der Grundsatz und die Regeln prozeduraler Gleichheit dürfen nur mit Zustimmung der Minderheit geändert werden; (3) irreversible Entscheidungen sind verboten. Eine ähnliche Begrenzung der Mehrheitsregel fordert schließlich Schily 221: "Zu Entscheidungen und Maßnahmen, die das Überleben des gesamten Volkes auf's Spiel setzen, ist eine Regierung weder durch Wählen noch durch sonstige verfassungsrechtliche Kompetenzen legitimiert." Bei den beiden zuletzt genannten Ansätzen geht es im Kern darum, den Bereich des Unabstimmbaren zu erweitern, zumindest aber für einschneidende Maßnahmen eine neue Qualität der Legitimation einzufordern 222. 3. Kritik an den verfahrensbezogenen Konzepten Allen diesen Ansätzen ist gemein, daß sie zivilen Ungehorsam gegenüber existentiellen Bedrohungen der menschlichen Gattung, z.B. durch Hochrüstung oder Umweltzerstörung, legitimieren. Anstelle des krassen Mißbrauchs der Staatsgewalt bei Art. 20 Abs. 4 GG tritt eine "in etwa gleichwertige Widerstandslage, wie z.B. ein das Überleben der Gattung bedrohendes Versagen der Regierung" 223. a) Unklar bleibt aber schon, wer über das Vorliegen dieser Voraussetzung entscheiden soll. Die einen geben denjenigen das historische Recht zum Handeln, die über überlegene Erkenntnis und moralische Intuition verfügen. Die Entscheidung wird also ohne die Möglichkeit demokratischer Kontrolle einer politischen Avantgarde vorbehalten. Die Vertreter eines naturrechtlichen Ansatzes externalisieren zwar das Problem. Da aber, abgesehen von historischen Vorbehalten, gerade in einer so heterogenen und pluralistischen Gesellschaft wie der unseren kein Konsens darüber besteht, welches Recht "natürlich" ist, bleibt auch hier die Entscheidungsfindung letztlich im Unklaren 224. Hinrich Enderlein, Schwöb. Tagblatt v. 2.5.1987; Leinen in Glotz (Hrsg.), S.24; Habermas in Glotz (Hrsg.), S. 42. 220 Frankenberg, JZ 1984, 266 ff., insb. 273 ff.; Habermas in Glotz (Hrsg.), S. 36 ff., 47 ff. ^Schily, Schmid-FS, S. 373; ähnlich Strecker, Schmid-FS, S. 364 ff.. ^Vgl. hierzu auch Simon, Schmid-FS, S. 449; ders. in Glotz (Hrsg.), S. 100 ff.; Hassemer, Wassermann-FS, S. 339. 223 Frankenberg, JZ 1984, 267. ^Kritisch auch Dreier in Glotz (Hrsg.), S. 55 f.; Frankenberg, JZ 1984, 272; Habermas in Glotz

IV. Ziviler Ungehorsam als eigenständiger Rechtfertigungsgrund?

217

Anders und am entscheidenden Punkt doch wieder ähnlich verhält es sich mit dem dogmatisch am weitesten fortentwickelten Ansatz Frankenbergs. Dieser rekuriert auf "universelle moralische Prinzipien und allgemein geteilte Vorstellungen eines guten und gerechten Lebens"225. Die von ihm genannten Prinzipien (Minderheitenschutz) sind tatsächlich in diesem Sinne universell sein, als sie verfassungsrechtlich anerkannt sind. Doch bei den Folgerungen dürfte es mit der Zustimmung aller bereits vorbei sein: Wenn die Regeln prozeduraler Gleichheit der Disposition der Mehrheit entzogen sind, dann ist es der Minderheit erst recht verwehrt, neue Regeln aufzustellen. Daß und wann eine Entscheidung irreversibel ist, wird gerade da, wo Maßnahmen des zivilen Ungehorsams diskutiert werden, zwischen Mehrheit und Minderheit umstritten sein. Im Gegensatz zur Befürchtung der Betroffenen waren denn auch die Beschlüsse zur Aufbzw. Nachrüstung mit Pershing II-Raketen bzw. zum Einstieg in die Plutoniumswirtschaft (Kalkar, Wackersdorf) revisibel. b) Hassemer 226 weist zudem zu Recht darauf hin, daß für eine Konzeption des zivilen Ungehorsams die These von der ethischen Berechtigung allein nicht ausreiche. Reale Ungehorsamsmaßnahmen werfen vielmehr Fragen nach der Strafbarkeit, der Verfolgbarkeit, der Verpflichtung zum Schadensersatz etc. auf. Im Gegensatz zu der materiell-rechtlichen Rechtfertigungskonzeptionen bleibt die strafrechtsdogmatische Umsetzung fundamental begründeter oder verfahrensbezogener Ansätze völlig im Nebulösen. Wird einerseits von einem "sozialen Notwehrrecht" gesprochen227, werden andererseits Möglichkeiten der Entkriminalisierung auf allen strafrechtlichen Zurechnungsebenen gesucht, mit einer Ausnahme: der Rechtswidrigkeit. Ganz im Einvernehmen mit dem BVerfG stellen etwa Frankenberg und Habermas 228 fest, daß die moralisch-politischen Motive nicht die Rechtswidrigkeit zivilen Ungehorsams aufheben, sondern lediglich eine andere rechtliche Bewertung zulassen als anders motivierte Gesetzesbrüche. Streng genommen handelt es sich damit nicht mehr um eine Zulässigkeitskonzeption, sondern um Begründungen für die Straf- bzw. Sanktionslosigkeit zivilen Ungehorsams. Aus der Zulässigkeit würde, nimmt man den Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung ernst, unweigerlich auch die Rechtmäßigkeit des Verhaltens folgen. c) Dieser letzte Ansatz greift auch deshalb zu kurz, weil er das Problem zivilen Ungehorsams auf den Minderheitenschutz reduziert. Den Minder225

Frankenberg, JZ 1984, 273; ebenso Habermas in Glotz (Hrsg.), S. 37. ^Hassemer, Wassermann-FS, S. 332. 227 So Bertrand Rüssel, zitiert nach Frankenberg, JZ 1984, 272, Fußnote 46. 228 Frankenberg, JZ 1984, 268, 270, 274 f.; Habermas in Glotz (Hrsg.), S. 42.

218

Kap. 8: Berücksichtigung von Fernzielen in Rechtfertigungsgründen

heitenschutz muß nur bemühen, wer eine Verletzung der Mehrheitsregel überhaupt bejaht229. Legt man die oben genannte Definition zivilen Ungehorsams zugrunde, handelt es sich also lediglich um symbolisches Handeln zum Wachrütteln der Öffentlichkeit, so geht es nicht um die Machtfrage. Der Wille der politischen Mehrheit, das Mehrheitsprinzip, wird nicht tatsächlich, sondern allenfalls moralisch in Frage gestellt230. Wer sich moralisch nicht in Frage stellen lassen möchte, sollte nicht das Mehrheitsprinzip vorschieben. Das Mehrheitsprinzip kann ausnahmsweise nur dann berührt sein, wenn sich der Ungehorsam direkt gegen eine Regelung richtet und diese nur durch die Mitwirkung aller funktionieren kann (z.B. Volkszählung, Steuerboykott). Der Ansatz ist auch zu undifferenziert. Er unterscheidet nicht zwischen politischer Mehrheit in den Parlamenten und tatsächlicher Mehrheit in einer Sachfrage. In der Sache ist es den Betroffenen oft relativ schnell gelungen, in den von ihnen erkannten zentralen Überlebensfragen der Menschheit eine Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Dies gilt im Grundsatz jedenfalls für das Erfordernis atomarer Abrüstung, den Ausstieg aus der Plutoniumswirtschaft und aus der Kernenergie überhaupt 231 . Das eigentliche verfassungsrechtliche Problem liegt aber gerade darin, wie solche Mehrheiten in Sachfragen (auch noch während einer Legislaturperiode) in politische Mehrheiten transformiert werden können. Daß unsere Verfassung hier mit dem Demokratisierungsprozeß innerhalb der Gesellschaft nicht mitgehalten hat und deshalb Defizite insbesondere hinsichtlich Bürgerpartizipation und plebiszitärer Elemente aufweist, ist weithin anerkannt 232. Einer Klärung bedürfte in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie verhindert werden kann, daß - etwa bei der Einführung neuer Techniken - auch die politische Mehrheit faktisch schon vollzogene Entwicklungen nur noch nachvollziehen kann. Abschließend bleibt festzustellen, daß ein tragfähiger Ansatz für die Figur des zivilen Ungehorsams als eigenständigem Rechtfertigungsgrund bisher nicht entwickelt wurde.

229

So zu Unrecht Karpen, JZ 1984, 259 ff.; Hassemer, Wassermann-FS, S. 336 f. Wie hier: Kühl, StrVert 1987, 134; Prittwitz, JA 1987, 24; Wassermann, JZ 1984, 265. Vgl. auch Frankenberg, JZ 1984, 271. 231 Vgl. Meinungsumfragen in Spiegel Nr. 9/89, S. 44 ff.; 23/89, S. 160 ff. Ebso die von Glotz und Leinen, jew. in Glotz (Hrsg.), S. 7, 27 genannten Daten. ^Vgl. statt vieler: Wassermann, JZ 1984, 265 f.; Leinen in Glotz (Hrsg.), S. 26 ff.; Simon in Glotz (Hrsg.), S. 99 ff.; ders., Schmid-FS, S. 448. 230

V i e r t e r

T e i l

Politische Fernziele und Strafunrechtsausschluß Kapitel 9

Strafunrechtsausschluß im Zwischenbereich I. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Wie wir gesehen haben, werden Fernziele, d.h. die vom Täter über die Tatbestandsverwirklichung hinaus verfolgten eigentlichen Ziele seines Handelns von der Rechtsordnung bei der Beurteilung strafrechtlichen Unrechts berücksichtigt: Unrechtsbegründend nur ausnahmsweise etwa in Gestalt von zusätzlichen Tatbestandsmerkmalen bei § 211 StGB, wenn die Ziele von der Rechtsordnung negativ bewertet werden; unrechtsausschließend in Gestalt von Rechtfertigungsgründen, wenn die Rechtsordnung den Fernzielen einen positiven Wert beimißt. Soweit positiv zu bewertende Ziele in Frage stehen, ist das Straftatmerkmal Rechtswidrigkeit der geeignete dogmatische Standort zur Berücksichtigung von Fernzielen. Denn typischerweise liegt hier eine Konfliktsituation in der Form zu Grunde, daß der Täter ein an sich positiv zu bewertendes Ziel anstrebt, sich hierzu aber eines Mittels bedient, das einen Straftatbestand verwirklicht. Es besteht also ein Interessenwiderstreit zwischen dem verletzten Rechtsgut und dem positiv zu bewertenden Ziel, das den Schutz eines anderen Rechtsguts intendiert. Die Rechtswidrigkeit, das hat auch diese Untersuchung bestätigt, ist die Domäne der Gegeninteressen. Sie ist der Bereich sozialer Konfliktlösungen, das Feld, auf dem widerstreitende Individualinteressen oder gesamtgesellschaftliche Belange mit den Bedürfnissen des einzelnen zusammenstoßen. In der Regel reicht schon ein Handeln mit positiver Zielsetzung, also ein Handlungswert zur Rechtfertigung aus. Nicht erforderlich für die Unrechtsminderung ist das Erreichen des Erfolgs, also ein entsprechender

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Kap. 9: Strafnrechtsausschluß im Zwischenbereich

Erfolgswert. Ein Handeln in Notwehr etwa ist auch dann gerechtfertigt, wenn dadurch der rechtswidrige Angriff nicht endgültig abgewehrt werden kann. Schließlich ist deutlich geworden, daß Fernziele niemals abstrakt, aus sich heraus von Bedeutung sein können. Bedeutung können Sie nur in ganz bestimmten, eng umrissenen, nach objektiven Kriterien bestimmbaren Situationen gewinnen. Solche Situationen werden in Rechtfertigungsgründen umschrieben. Rechtfertigungsgründe beinhalten aber Eingriffsbefugnisse und damit Duldungspflichten auf Seiten Dritter. In der Praxis greift sogar der Staat wie bei § 34 StGB - auf diese Eingriffsbefugnisse zurück. Ihrer Ausweitung sind aus diesem Grund Grenzen gesetzt. Für die strafrechtliche Beurteilung von Taten mit politischer Zielsetzung bedeutet dies nach herrschendem Verständnis, daß auf der als entscheidend anerkannten Zurechnungsstufe strafrechtsspezifische Korrekturen nicht möglich sind ein wohl unhaltbarer Zustand gerade in einem politisch so sensiblen Bereich. II. Weitere Formen strafrechtlicher Entlastung Rechtfertigung ist jedoch nicht die einzige Form von Entlastung, welche die Rechtsordnung Formen politischen Protests anzubieten hat. In Betracht kommen vielmehr sämtliche Stufen der Zurechnung deliktischen Verhaltens bis hin zu verfahrensrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Die Notwendigkeit einer neuen Systemkategorie läßt sich nicht begründen, ohne nicht zuvor zumindest einen kurzen Blick auf andere, bereits anerkannte Formen strafrechtlicher Entlastung zu werfen. 1. Schuld Auf der Zurechnungsstufe der Schuld geht es nicht um ein objektiv bestehendes Recht zur Normabweichung, auch nicht um einen generellen, nach objektiven Kriterien zu bestimmenden Ausschluß der Strafbarkeit. Schuld bedeutet Vorwerfbarkeit 1. Sie orientiert sich nicht an der Tat, sondern am Täter. Maßgebend ist allein das Individuum in seiner spezifischen Handlungssituation.

1

Baumann/Weber, AT, § 15 I 4; Gallas, Beitrage zur Verbrechenslehre, S. 55 ff.

IL Weitere Formen strafrechtlicher Entlastung

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Schon aus dieser allgemeinen Überlegung wird klar, daß diese Zurechnungsstufe ungeeignet ist, eine allgemein gültige Aussage über politisch zielgerichtetes Handeln zu treffen. Aber auch die Detailanalyse kommt zu keinem anderen Ergebnis: (1) In der Praxis am häufigsten sind die Entschuldigungsgründe, die wie §§ 17 und 20 StGB auf individuellen Defekten des Handelnden beruhen. Sie enthalten, dies hat Hassemei 2 zutreffend festgestellt, "ein Element der Entmündigung, welches denjenigen, der sich mittels einer Rechtsverletzung politisch Gehör verschaffen will, intensiver verletzen kann, als dies eine Verurteilung - unter Zubilligung persönlicher Verantwortlichkeit - zuwege gebracht hätte". Vorrangige Aufgabe der S t r a f j u s t i z ist gerade in diesem Bereich, die Grenzen strafrechtlichen Unrechts mit klaren Konturen abzustecken und dabei den Beschuldigten ernst zu nehmen. Im Einzelfall - vor allem bei neuartigen Aktionen oder bei völlig diffuser Rechtsprechung - mag zwar einmal ein Verbotsirrtum in Betracht kommen. Da die Rechtsprechung aber eine Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins verneint 3 und die Anforderungen an die Vermeidbarkeit des Irrtums immer mehr in die Höhe schraubt, dürften dies seltene Ausnahmefälle bleiben. (2) Auch der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) dürfte im hier fraglichen Bereich ein Exotendasein führen, dies schon wegen seines engen Rechtsgüterkataloges. Beim rechtfertigenden Notstand wurde bereits ausführlich dargetan, wie schwer es im Einzelfall ist, eine notstandsrelevante Gefahr für ein Individualrechtsgut nachzuweisen. Bei altruistischer Zielsetzung hilft dieser Entschuldigungsgrund erst recht nicht weiter, da er ja nur die Gefahrabwendung von sich, einem Angehörigen oder einer anderen dem Täter nahestehenden Person privilegiert. (3) Genausowenig in Betracht kommt der übergesetzliche entschuldigende Notstand. Der Täter wird hier ja gerade nicht mit zwei itectapflichten konfrontiert. Vielmehr stellt er eine von ihm geltend gemachte moralische Pflicht über den ihm von der Rechtsordnung abverlangten Gehorsam. (4) Ein letzter Gesichtspunkt sei zum Schluß genannt: die schon im Zusammenhang mit Art. 4 GG beschriebene Figur des Überzeugungs-

2 3

Hassemer, Wassermann-FS, S. 335. Vgl. hierzu Baumann/Weber, AT, § 19 I, § 27 II 3 d.

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Kap. 9: Strafnrechtsausschluß im Zwiscenbereich

oder besser: Gewissenstäters4 . Auch sie kommt nur für einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt politisch zielgerichteten Handelns in Betracht 5. Während die Rechtsprechung der Gewissensentscheidung fast ausnahmslos erst auf der Rechtsfolgenseite Rechnung trägt 6, hat sich die Figur des Gewissenstäters in der Literatur auch auf der Rechtsanwendungsseite weitgehend durchgesetzt. Diese Entwicklung wurde maßgebend beeinflußt durch Karl Peters, der schon im Jahre 1966 schrieb7: "Wer die aufgezeigten Grenzen bei seiner Gewissenshandlung einhält, handelt dem Recht gemäß. Wie sehr man auch über die dogmatische Einordnung der Gewissenshandlung streiten mag, auf jeden Fall sollte Einigkeit darüber bestehen, daß den Gewissenstäter keine Strafe trifft." Während Peters in Fällen einer Gewissensentscheidung bereits für einen Tatbestandsausschluß, zumindest aber für Rechtfertigung (Prinzip der Sozialadäquanz) plädiert, befürwortet die h.L. heute einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund8. Diese dogmatische Zuordnung überrascht, wird sie doch überwiegend zumindest auch - aus Art. 4 GG begründet9. Sie gründet letztlich auf zwei Entscheidungen des BVerfG. Die eine - zur Totalverweigerung - wurde bereits dargestellt10. Dort hatte das BVerfG eine Rechtfertigung abgelehnt. Für die herrschende Strafrechtsdoktrin bleibt in diesen Fällen nur noch eine Lösung auf der Ebene der Schuld, um der Unrechtsminderung Rechnung zu tragen und eine Kriminalstrafe zu vermeiden. Die zweite Entscheidung betraf einen Fall, wo der Ehemann aus religiöser Überzeugung eine notwendige Bluttransfusion für seine Ehefrau

4 Zur Abgrenzung der Begriffe: Peters, Mayer-FS, S. 257 ff., insb. 269 ff.; Ebert, Überzeugungstäter, S. 59 ff. 5 S.o. Kapitel 7, II. 6 Vgl. etwa BayObLG, JR 1981, 171; anders (übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund): AG Lüneburg, StrVert 1985, 64. 7 Karl Peters, Mayer-FS, 257 (276). Danach hat Peters diese Auffassung in zahlreichen Beiträgen präzisiert, so u.a. in JZ 1972, 85; ZStW 89 (1977), 103; JR 1981, 172. 8 Vgl. etwa Baumann/Weber, AT, § 29 III 2; Ebert, Überzeugungstäter, S. 58 ff.; Jescheck, AT, § 59 VIII 4; Nestler-Tremel, StrVert 1985, 343 (347ff.); Rudolphi, Welzel-FS, S. 630. Ähnlich Rärin, Henkel-FS, S. 195 ff.: Fehlen strafrechtlicher Verantwortlichkeit, sowie ders. neuerdings in Maihofer-FS, S. 389ff. Immer noch zurückhaltend: Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 32 Rz 118 f., dort auch weitere Nachw. zum Meinungsstand. Vgl. auch den Literaturbericht von Peters, ZStW 89 (1977), 103 ff. 9 Vgl. Ebert, Überzeugungstäter, S. 68 ff; Jescheck, AT, § 59 VIII 4; Rärin, Henkel-FS, S. 197; Rudolphi, Welzel-FS, S. 629ff., 633. 10 BVerfGE 23, 127. S.o. Kapitel 7, II.

IL Weitere Formen strafrechtlicher Entlastung

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verhinderte. Das BVerfG hat hierzu ausgeführt 11: "Ein solcher Täter lehnt sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auf; das durch die Strafdrohung geschützte Rechtsgut will auch er wahren. Er sieht sich aber in eine Grenzsituation gestellt, in der die allgemeine Rechtsordnung mit dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit tritt und er fühlt die Verpflichtung, hier dem höheren Gebot des Glaubens zu folgen. Ist diese Entscheidung auch objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wertvorstellungen zu mißbilligen, so ist sie doch nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, daß es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten, der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen. Kriminalstrafe ist ... bei solcher Fallgestaltung unter keinem Aspekt ... eine adäquate Sanktion." Das BVerfG unterscheidet also zwischen objektivem Recht und persönlicher Vorwerfbarkeit. Erst auf der zweiten Ebene wird die Ausstrahlungswirkung des Art. 4 GG erörtert. Daran ist sicher richtig, daß die Gewissenstat in hohem Maße auf einer Konfliktlage beruht, die durch die "Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens" gekennzeichnet wird. Angesprochen ist damit aber nur ein maßgeblicher Aspekt, daß nämlich dem Täter infolge seines abweichenden Gewissensentscheides eine normgemäße Motivation seines Handlungsentschlusses erheblich erschwert ist. Bei diesem Gesichtspunkt handelt es sich aber primär um die Anwendung einfachen Rechts12. Mit der Gewissensfreiheit nach Art. 4 GG hat dies unmittelbar nichts zu tun 13 . Wie dargestellt gewährt Art. 4 GG ein Grundrecht 14. Soweit das Grundrecht reicht, ist die Tat gerechtfertigt. Die Kollision der strafrechtlichen Pflichtnorm mit dem Gewissensgebot beinhaltet zunächst einen für die Rechtswidrigkeit typischen Interessenkonflikt zwischen Gemeinschaft und Individuum. Nur da, wo die Grenzen des Grundrechts überschritten sind, es also "nur" um die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts innerhalb seines Schutzbereichs geht, kommt Schuldausschluß überhaupt in Betracht 15. Nur

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BVerfGE 32, 98 (109). So auch BVerfGE 23, 127 (3. Leitsatz). Ebenso Nestler-Tremel, StrVert 1985, 348, 350. 13 Hier kann es lediglich um die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts gehen, das innerhalb des gesamten Schutzbereichs, auch soweit durch verfassungsimmanente Schranken begrenzt, Wirkungen entfaltet. 14 Vgl. oben Kapitel 7, II. 15 LS. einer solchen Zweiteilung auch Peters, Mayer-FS, 276, 278; ders, ZStW 89 (1977), 103 12

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Kap. 9: Strafnrechtsausschluß im Zwischenbereich

nachrangig geht es in Fällen der Gewissenstat um die Frage persönlicher Vorwerfbarkeit, zunächst aber um die abstrakt generell zu lösende Frage des in Art. 4 GG zum Ausdruck kommenden Toleranzgebotes16. Aber auch da, wo Art. 4 GG nur partiell eingreift, sollte der Unrechtsminderung im Ausstrahlungsbereich des Grundrechts vorrangig auf der strafrechtsdogmatischen Ebene der Rechtswidrigkeit Rechnung getragen werden 17. Zusammenfassend läßt sich deshalb feststellen: Die Zurechnungsebene der Schuld ist allenfalls in Ausnahmefällen dazu geeignet, politisch zielgerichtetem Verhalten den Makel des Kriminellen zu nehmen. 2. Strafzumessung Auf der Ebene der Strafzumessung müssen politische Fernziele berücksichtigt werden. Dies ergibt sich bereits aus § 46 Abs. 2 StGB und ist auch für politische Ziele weithin unbestritten. Die Variationsmöglichkeiten gehen hier bis hin zum Absehen von Strafe. Der Spielraum der Gerichte auf der Rechtsfolgenseite ist freilich fast unermeßlich und einer Kontrolle durch die Instanzgerichte fast gänzlich entzogen. Hinzu kommt, daß die sich in der Entscheidung zu den Sitzblockaden durchsetzenden Richter beim BVerfG den Instanzgerichten keinerlei Kriterien zur Hand gegeben haben, wie die Fernziele bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. In der Praxis wird selbst bei erstmaliger Verurteilung wegen einer Sitzblockade bereits eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen, also immerhin in Höhe eines Monatsgehalts, ausgesprochen. Bei einer vergleichbaren "politisch neutralen" Tat käme wohl kaum mehr heraus! Zu fast schon unauflöslichen Schwierigkeiten kommt es, wenn sich Betroffene weigern, die Geldstrafe zu bezahlen. Dann nämlich bleibt nach erfolgloser Zwangsvollstreckung - nur noch die Ersatzfreiheitsstrafe. Die Zahl der Sitzdemonstranten, die z.T. mehrmonatige Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen mußten, geht bereits in die Hunderte. Dies steht nicht nur in eklatantem Widerspruch zum Unrechtscharakter derartiger Taten, sondern widerspricht auch dem sich aus § 47 StGB ergebenden Gebot, kurze Freiheitsstrafen zu vermeiden. Einziger "Strafeweck" ist in diesen (110). 16 BVerfGE 32, 98 (108): "Als Teil des grundrechtlichen Wertesystems ist die Glaubensfreiheit dem Gebot der Toleranz zugeordnet, insbesondere auf die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen bezogen, die als oberster Wert das ganze grundrechtliche Wertesystem beherrscht." Vgl. auch v.Münch in GGK, Art. 4 Rz 5; Peters, JZ 1972, 85. 17 S.u. Kapitel 11, II 1, 2.

IL Weitere Formen strafrechtlicher Entlastung

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Fällen denn auch die Bloßstellung der Intoleranz des Staates und die Unfähigkeit im Umgang mit Andersdenkenden. Was sich bei Ersttätern in vielen Fällen aber noch über die Zwangsvollstreckung vermeiden läßt, wird bei mehrfach Verurteilten unausweichlich: die Freiheitsstrafe. Täter mit politischen Zielen sind Überzeugungstäter. Setzt der Staat auf Repression statt Dialog, setzt er auf Zwangsmittel statt die angeprangerten Probleme zu lösen, so fordert er diese 'Tätergruppe" eher heraus, als daß er sie einschüchtert. Ein Beispiel auch hier: die Sitzdemonstranten. Immer häufiger kommen Betroffene mit mehrfachen Vorverurteilungen vor die Schranken der Gerichte. Freiheitsstrafen sind die auf Dauer unausweichliche Folge18. 3. Verfahrenseinstellung Eine von verschiedenen Staatsanwaltschaften beabsichtigte Verfahrenseinstellung gemäß § 153 a StPO bei Sitzblockaden der Friedensbewegung scheiterte fast durchgängig an der fehlenden Zustimmung der Betroffenen. Bei Volkszählungsgegnern hat der 2. Strafsenat des OLG Schleswig auf Anregung des Generalstaatsanwalts ein Pilotverfahren gemäß § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt19. Für die Einstellung nach dieser Vorschrift ist die Zustimmung der Betroffenen nicht erforderlich. § 47 Abs. 3 OWiG untersagt zudem ausdrücklich jede Art von Auflagen. Abgesehen von Einzelfällen ist die Verfahrenseinstellung ein höchst untaugliches Mittel zum Umgang mit politisch zielgerichteten Taten. Dies folgt schon aus der Möglichkeit der Willkür und des Fehlens jeglicher Kontrolle: Die Verfahrenseinstellung setzt u.a. voraus, daß kein "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung besteht. Worin ein "öffentliches Interesse" zu sehen ist, ist bisher weithin ungeklärt 20. Es läßt sich nur feststellen, daß die Praxis hier recht eigenwillig verfährt. Zuweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß überall dort verfolgt wird, wo der (mut-

18 So verbüßt z.B. ein Betroffener derzeit eine über neun-monatige Haftstrafe in der JVA Heidenheim (160 Tage Ersatzfreiheitsstrafe für 7 Blockaden in Mutlangen, 4 Monate Freiheitsstrafe für 3 Blockaden in Hasselbach. 19 Lt. Auskunft des Generalstaatsanwalts vom 20.10.1989. 20 Ein "dringendes öffentliches Interesse" an der Klärung dieser Frage wird auch von SchülerSpringorum, Strafrechtliche Aspekte, S. 93, konstatiert. 15 Reichert-Hammer

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Kap. 9: Strafiinrechtsausschluß im Zwischenbereich

maßliche) politische Gegner unbequem wird. In diesen Fällen wird dann auch das öffentliche Interesse selbst bei Bagatellverstößen oder bei hinsichtlich ihrer Strafbarkeit höchst umstrittenen Handlungen (Abschneiden der Kennziffer am Volkszählungsbogen) bejaht. Wo dagegen die eigene politische Basis am Werk ist, bleibt die Justiz des jeweiligen Landes untätig. Beispiele hierfür bilden die schon hinlänglich erwähnten Blockaden von Arbeitern in Nordrhein Westfalen, Bauern in Baden-Württemberg, LKW-Fahrern in Bayern sowie - noch deutlicher -die Behinderung der zuständigen Staatsanwälte bei der Aufklärung von Steuerhinterziehungen zur verdeckten Parteienfinanzierung. In diesem Zusammenhang sollte auch eines nicht vergessen werden: In fast allen Bundesländern sind Generalstaatsanwälte politische Beamte. Wo sich die politischen Mehrheiten ändern, ändert sich auch die Verfolgungspraxis (z.B. Schleswig-Holstein, Berlin). 4. Amnestie / Gnade Was für die Verfahrenseinstellung gilt, gilt natürlich in noch viel stärkerem Maße für Amnestie und Gnade. Sie stellen die schlechteste aller Notlösungen dar. So ist denn auch die gegenwärtige Amnestiedebatte allenfalls Ausdruck schlechten Gewissens über eine als ungerecht und unhaltbar empfundene rechtliche Entscheidung. Die Forderung nach Amnestie wurde immer wieder auch von namhaften Vertretern der Strafrechtslehre 21 erhoben. Der im April 1988 vom Saarland eingebrachte Gesetzentwurf über Straffreiheit von Mitgliedern der Friedensbewegung22 ist jedoch im Bundesrat gescheitert23. Ebenfalls gescheitert ist die von der Bundesregierung geplante Amnestie für Steuerhinterziehungen mit politischer Zielrichtung (Parteispendenaffäre). Der seit 1989 amtierende neue Senat in Berlin arbeitet derzeit an Richtlinien "über die Möglichkeit, die im Zusammenhang mit der Volkszählung 1987 erhobenen Bußgelder nach Prüfung des Einzelfalls im Gnadenwege herabzusetzen"24. Laut Presseberichten betrifft dies ca. 4.000 Volkszählungsgegner.

21 Vgl. etwa Frankenberg, JZ 1984, 275; Lenckner, JuS 1988, 355; Arthur Kaufmann, NJW 1987, 2584. 22 BR-Drucks. 181/88. Zur Haltung der Bundesregierung vgl. BT-Drs. 11/5422. 23 Zur Aussprache vgl. BR-Drucks., 588. Sitzung vom 29.4.1988, S. 128 ff. 24 Lt. Auskunft der Senatsverwaltung für Justiz vom 23.10.1989.

m. Notwendigkeit einer zusätzlichen Systemkategorie

227

Amnestie und Gnade bringen immer nur unvollkommene Lösungen: Zum einen nützen sie nur denen, deren Verfahren noch laufen, während sie weder für bereits vollstreckte Urteile noch für künftige Taten eine Lösung bringen. Zum anderen verschärfen sie die Disparität der Behandlung gleicher Taten in verschiedenen Bundesländern. Amnestie und Gnade sind schließlich rein politische Maßnahmen: Diejenigen kommen in ihren Genuß, die die politische Mehrheit auf ihrer Seite haben. Und dies, so hat sich gezeigt, sind eher Steuerhinterzieher 25 denn auf der Straße protestierende Bürger, wobei sich durchaus diskutieren ließe, wer die heheren Ziele verfolgte. III. Notwendigkeit einer zusätzlichen Systemkategorie Die vorangegangenen Untersuchungen haben aufgezeigt: Die herrschende Strafrechtsdogmatik läßt eine positive Berücksichtigung von Fernzielen nur in zweierlei Weise zu 26 : - Die Tat ist entweder gerechtfertigt, weil ein Rechtfertigungsgrund eingreift, d.h. sie ist erlaubt i.S. der Gesamtrechtsordnung. - Oder sie ist zwar in ihrem Unrechtsgehalt gemindert, bleibt aber dennoch rechtswidrig, auch strafrechtswidrig, denn auch geringeres Unrecht sei rechtswidrig. In diesen Fällen kommt eine Berücksichtigung deshalb nur unter dem Aspekt einer Schuldminderung, was in den dargestellten Fällen meist nur von theoretischer Bedeutung ist, und bei der Strafzumessung in Betracht. Konsequenz: Ist die Tat nicht gerechtfertigt i.S. der Gesamtrechtsordnung wird sie bestraft, wobei lediglich das Strafmaß ein wenig zugunsten des Täters variiert. Die Alternativen sind kurz gesagt: Völlige rechtliche Billigung oder Strafe. Da die Rechtfertigungsgründe durchgängig eng interpretiert werden, wird i.d.R. zu einer Kriminalstrafe verurteilt. Im Bereich der Grundrechte führt dies - wie gesehen - zu dem absurden Ergebnis, daß ein von der Rechtsordnung in höchstem Maße gebilligtes Verhalten übergangslos in ein von der Rechtsordnung am heftigsten mißbilligtes Verhalten, die Verhaltenskriminalisierung, umschlagen kann.

25 Vgl. zuletzt das am 3.8.1988 in Kraft getretene Steuerreformgesetz 1990 (BGBl. I 1988, 1093 = BStBl. 1 1988, 224), das in Art. 17 das "Gesetz über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen" enthält. Siehe auch die Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum "Steueramnestiegesetz" von Klos, wistra 1989, 179 f. 26 Vgl. statt vieler: Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 32 ff. Rz 8, 22, 27; Dreier, Widerstandsrecht, S. 69.

228

Kap. 9: Strafnrechtsausschluß im Zwischenbereich

Die herrschende Strafrechtsdogmatik hat kein Mittel, in einem Zwischenbereich zumindest zu einem Strafunrechtsausschluß zu gelangen. Daß ein solches Bedürfnis in vielen Fällen besteht, zeigt das verbreitete Unbehagen gegen eine Kriminalisierung gesellschaftlich als wertvoll anerkannter Kräfte in der Öffentlichkeit. Die Bezeichnung ihrer Taten als verwerflich und ihre Kategorisierung als Kriminelle hat etwa die Akteure der Friedensbewegung aufs Höchste erzürnt und widersprach zutiefst dem ethischen Empfinden weiter Teüe der Öffentlichkeit bis hinein in die Richterschaft 27. Nicht etwa das als selbstverständlich vorausgesetzte "Abräumen" durch die Polizei28 erregte Anstoß, sondern die nachfolgende Kriminalisierung. In dieser - nach herrschender Dogmatik allenfalls im Rahmen des § 240 Abs. 2 StGB auflösbaren - Situation, haben die vorgeblich politisch neutralen Strafverfolgungsbehörden durch willkürliche Verfolgung von Taten mit politischer Zielsetzung für zusätzlichen gesellschaftspolitischen Sprengstoff gesorgt: Wurden einerseits vergleichsweise unbedeutende Taten (Abschneiden der Kennnummer von Volkszählungsbögen; "Blockaden" von 5-7 Leuten) mit der ganzen Schärfe des Gesetzes verfolgt (von der erkennungsdienstlichen Behandlung bis hin zum Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen oder - im Wiederholungsfalle - von Freiheitsstrafen), blieben auf der anderen Seite selbst massive Eingriffe in Rechte Dritter (LKW-und Traktorblockaden an Grenzübergängen; Erstürmung der Kruppvilla durch um den Fortbestand ihrer Arbeitsplätze bangende Arbeiter) z.T. ausdrücklich unter Hinweis auf die Beachtlichkeit der verfolgten Ziele ungeahndet. Die Rechtsprechung hat vielfach unverhohlen Kritik an dieser willkürlichen Strafverfolgung von Taten mit politischer Zielsetzung geübt und ein Bedürfnis nach einer differenzierteren Beurteilungsmöglichkeit zum Ausdruck gebracht. Dort, wo positiv zu bewertende Ziele im Spiel seien und ein gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich des zu beurteilenden Verhaltens nicht bestehe, fehle es jedenfalls an strafwürdigem Unrecht. In den Kapiteln 7 und 8 wurde eine weite Interpretation von Grundrechten und einfachgesetzlichen Rechtfertigungsgründen vertreten. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß im Bereich von Taten mit 27 Vgl. etwa: Verwerflich? Friedensfreunde vor Gericht, hrsg. von Ute Finckh und Inge Jens, 1985; Mutlangen - unser Mut wird langen! Vor den Richtern in SchwSbisch-Gmünd. Elf Verteidigungsreden wg. "Nötigung", hrsg. von Hanne und Klaus Vack, 2. Aufl. 1986; Rudolph, DRiZ 1988, 131 ff. 28 Wohl allerdings die über die Polizeikostenverordnung eingetriebenen Gebühren, die mit Blick auf aufwendige, aber kostenlose Polizeieinsatze bei sportlichen Großveranstaltungen als ungerecht empfunden werden.

m. Notwendigkeit einer zusätzlichen Systemkategorie

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politischer Zielsetzung - im Gegensatz zu anderen Lebensbereichen29 der Rechtsprechung, ohne dies zu problematisieren, durchgängig eine restriktivere Auffassung zugrundeliegt. Wer aber restriktiv verfährt bei der Auslegung der Rechtfertigungstatbestände, für den stellt sich das Problem eines strafrechtsfreien Zwischenbereichs um so mehr. Wer diese Frage nicht stellt, entfernt sich immer mehr von einem gewandelten Rechtsverständnis in der Bevölkerung30. Diesem gewandelten Rechtsverständnis sollte zumindest insoweit Rechnung getragen werden, als auf eine Kriminalisierung, d.h. eine gesteigerte Verhaltensmißbilligung verzichtet wird. Festzuhalten ist: Das Strafrecht beschränkt sich nicht auf die Frage, ob Eingriffe in Rechtsgüter Dritter oder des Staates rechtmäßig sind. Zu fragen ist darüberhinaus, ob zu der Feststellung allgemeiner Rechtswidrigkeit mit zivil- bzw. öffentlichrechtlichen Abwehrmöglichkeiten und Sanktionen, die strafrechtliche Sanktion für einen effektiven Rechtsgüterschutz hinzutreten muß. Maßgeblich zur Legitimation des staatlichen Strafanspruchs sind zunächst die Strafzwecke. Daß spezialpräventive Zwecke hier nicht durchgreifen, leuchtet auf den ersten Blick ein: Der Resozialisierung bedürfen diese 'Täter" nicht. Sicherung scheitert an rechtsstaatlichen Gesichtspunkten und nützt auch so lange nichts, wie immer neue gesellschaftliche Konfliktherde immer neue Täter schaffen. Die Untauglichkeit individueller Abschreckung durch das Strafrecht zeigt schließlich die tägliche Praxis. Die von ihrer Sache überzeugten Täter sitzen ständig zu Dutzenden Ersatzfreiheitsstrafen ab, um die Ungerechtigkeit ihrer Strafverfolgung zu demonstrieren und anschließend alsbald wieder neue Taten zu begehen. Daß auch generalpräventive Zwecke hier nicht einschlägig sind, hat eine kürzlich von Schöch vorgelegte Untersuchung deutlich gemacht31. Danach ist entscheidende Voraussetzung sowohl für die positive32 wie für die negative33 Generalprävention die moralische Verbindlichkeit der Norm. An dieser fehlt es aber gerade in den einschlägigen Fällen34. Die fehlende

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Spannerfall, Anwendung von § 34 StGB auf staatliche Eingriffe. Vgl. hierzu die scharfe Kritik von Rudolph, DRiZ 1988, 131 ff.; zum gewandelten Werteverständnis: Würtenberger, NJW 1986, 2281 ff. 31 Schöch, Jescheck-FS, 1082 (1099 ff.). 32 Die Ausbildung des Rechtsbewußtseins der Allgemeinheit. 33 Abschreckung der Allgemeinheit. 34 Vgl. nur die Volkszählung sowie die Sitzblockaden. 30

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Kap. 9: Strafnrechtsausschluß im Zwischenbereich

generalpräventive Wirkung zeigt sich auch in der massenhafte Begehung verschiedener Straftaten mit politischer Zielsetzung35. Schließlich ist innerhalb einer bestimmten Bandbreite von Taten gerade wegen der mit ihnen verfolgten werthaften Ziele der Schuldgehalt nicht so groß, daß zu dessen Sühne eine strafrechtliche Sanktion erforderlich wäre. Aber selbst wenn einzelne Strafzwecke bejaht würden, sagt dies zunächst nur etwas über die Geeignetheit des Strafrechts aus. Hinzutreten muß die Erforderlichkeit. Das Strafrecht ist subsidiär. Sein Einsatz stellt die schärfste dem Staat zur Verfügung stehende Waffe dar. Die Kriminalisierung einer Verhaltensweise darf deshalb immer nur das letzte aller zur Verfügung stehenden Reaktionsmöglichkeiten sein. Staatliche Eingriffe in Grundrechte dürfen nicht weitergehen als der Zweck, dem sie dienen, es erfordert. Dies gilt zunächst für die Gesetzgebungslehre36. Dieser Grundsatz muß sich aber auch auswirken auf dogmatische Rechtsinstitute zur rechtsstaatlichen Begrenzung des Strafrechts, wie auch immer sie im einzelnen ausgestaltet werden. Aufgabe der Strafrechtsdogmatik ist es deshalb, Kriterien herauszuarbeiten, die vom einzelnen Ziel abstrahierend, allgemeingültig Situationen beschreiben, in denen auf Kriminalisierung verzichtet werden kann. Wenn der "zivil Ungehorsame nicht nur nicht wie ein Krimineller aussieht37, sondern auch keiner ist"38, muß dem auch strafrechtsdogmatisch Rechnung getragen werden. Eine Verurteilung zur Rettung der herrschenden Strafrechtsdoktrin 39, gleichsam als Ausdruck dogmatischer Phantasielosigkeit, ist keine zulässige Alternative. Der Verlegenheitslösung einer Amnestie40 bedarf es nicht.

35

Sitzblockaden, Hausbesetzungen, Taten im Zusammenhang mit dem Volkszählungsboykott. Zum Kriterium der Erforderlichkeit und zu weiteren Kriterien der Strafgesetzgebungslehre grundlegend Günther, JuS 1978, 8 (11 ff.). 37 Wie sieht denn einer aus? 38 So übereinstimmend: Lenckner, JuS 1988, 355; Kaufmann, NJW 1988, 2583; Schüler-Springorum, Strafirechtl. Aspekte, S. 82. 39 Hierzu auch: Verf., JZ 1987, 618. 40 So Lenckner, JuS 1988, 355. 36

Kapitel 10

Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit Als zutreffender dogmatischer Standort zur Lösung des beschriebenen Interessenkonflikts wurde die Rechtswidrigkeit erkannt. Hier kann auf die Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit zurückgegriffen werden. Um das Verständnis der neuen Lehre zu erleichtern, ist jedoch zunächst eine Vorfrage zu klären: I. Das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit Hier stehen sich im wesentlichen zwei grundlegende Konzeptionen gegenüber: die Lehre von der unrechtsindizierenden Bedeutung des Straftatbestandes auf der einen und die Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand auf der anderen Seite. Die h.M.1 vertritt entsprechend der Definition des Verbrechens als einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung einen dreistufigen Verbrechensbegriff. Bei dieser Konzeption fällt dem Tatbestand die Rolle zu, die Merkmale zu beschreiben, die deri typischen Unrechtsgehalt des verbotenen Verhaltens begründen und dem speziellen Delikt sein individuelles Gepräge verleihen. Der Tatbestand verkörpert danach die Verbotsmaterie, den Delikts- und Unrechtstypus. Ihm soll die Funktion zukommen, die tatbestandsmäßigen von den strafrechtlich irrelevanten Verhaltensweisen zu trennen. Durch die Verwirklichung des Straftatbestandes wird die Rechtswidrigkeit des Verhaltens indiziert. Dem Unrechtstatbestand selbständig gegenüber treten Erlaubnissätze (Rechtfertigungsgründe), die das indizierte Unrechtsurteil im konkreten Einzelfall ausräumen können. Die Tatbestandsmäßigkeit beinhaltet somit kein abschließendes Urteil über das Unrecht. Sie ist nur ein Unrechtselement. Hinzukommen muß die Rechtswidrigkeit der Tat.

1 Vgl. etwa Ebert/Kühl, Jura 1981, 225 ff.; Jescheck, AT, § 25; Wessels, AT, § 5 II; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 ff. Rz 14 ff. m.w.N. zum Meinungsstand.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Zwischen straftatbestandslosem und gerechtfertigtem Verhalten sieht die Lehre vom unrechtsindizierenden Tatbestand Wertungsdifferenzen: Die Auswahl strafrechtstypischen Unrechts aus der großen Zahl rechtswidriger Verhaltensweisen erfolge abschließend durch die Straftatbestände. Die Rechtswidrigkeit markiere dagegen die Grenze zwischen Recht und Unrecht. Gerechtfertigtem Verhalten liege dementsprechend immer eine positive Wertentscheidung zu Grunde. Rechtfertigung bedeute rechtliche Billigung der Tat im Sinne der Gesamtrechtsordnung. Demgegenüber geht die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen2 von einem Gesamtunrechtstatbestand aus: Tatbestand und Rechtfertigungsgründe stehen sich danach nicht als generelles Verbot und selbständige Erlaubnisnorm gegenüber, vielmehr erscheinen die einzelnen Merkmale der Rechtfertigungsnorm als negative, einschränkende Merkmale des Unrechtstatbestandes. Tatbestands- und Rechtswidrigkeit werden zu einer einheitlichen, das Unrecht bezeichnenden materialen Wertungsstufe verbunden, was zu einem zweistufigen Deliktsaufbau führt. Der Gesamtunrechtstatbestand setzt voraus, daß ein Straftatbestand verwirklicht ist und kein Unrechtausschließungsgrund eingreift. Er umfaßt also sämtliche für das Unrecht maßgeblichen Umstände, ob sie das Unrecht begründen oder ausschließen. Praktisch weisen die beiden Lehren heute kaum noch Unterschiede auf. 3 Namentlich beim Irrtum über die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes, wo die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen vor allem praktische Bedeutung erlangt hat, haben sich die Theorien jedenfalls hinsichtlich ihres Ergebnisses weitgehend einander angenähert. Von wesentlicher Bedeutung aber ist, daß maßgeblich unter dem Eindruck der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen nun auch von einer im Vordringen begriffenen - vermittelnden - Lehre 4 anerkannt wird, daß es für die strafrechtliche Bewertung eines Verhaltens nur zwei Wert-

2 Zurückgehend auf R. Frank, StGB, S. 73; Merkel, Lehrbuch, S. 82. In jüngerer Zeit vgl. z.B. Engisch, ZStW 70, 566 (583 ff.), sowie in DJT-Festschrift I 1960, S. 406; Arthur Kaufmann, ZStW 76, 543 (564, 568 ff.); Rann, Offene Tatbestande, S. 121 ff., 173 ff.; ZStW 80, 694 (701); Rudolphi in SK, § 16 Rz 10; Samson in SK, vor § 32 Rz 7 ff.; Schröder in Schönke/Schröder, 17. Auflage, Rz 6 vor § 1; Schünemann, GA 1985, S. 347 ff. 3 Hierauf verweisen auch: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 126; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 19; Wessels, AT, § 5 II 3. 4 So Baumann/Weber, AT, § 19 I u. III 3; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 126; Jakobs, AT, S. 130 ff.; Lackner, StGB, vor § 13 Anm. UI 3a; Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 13 ff. Rz 16 ff., 45; Wolter, Straftatsystem, S. 143; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 220 f. u. 228.

IL Rechtswidrigkeit und Unrecht

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kategorien geben kann: die Rechtswidrigkeit, in der das Werturteil über die im Widerspruch zur Rechtsordnung stehende strafwürdige Tat liegt, sowie die mit der Schuld begründete persönliche Vorwerfbarkeit, die ein Unwerturteil über den Täter enthält. Demgegenüber hat die Tatbestandsmäßigkeit nicht die Bedeutung einer besonderen Wertungsstufe. Es ist zwar weitgehend immer noch richtig, daß tatbestandsmäßige Verhaltensformen solche sind, "die aus den geschichtlich gewordenen Ordnungen des Soziallebens schwerwiegend herausfallen". 5 Ein rechtliches Werturteil ist damit jedoch noch nicht verbunden, denn ob die Handlung im Einzelfall tatsächlich dem Recht widerspricht und sogar strafwürdiges Unrecht darstellt, ergibt sich erst, wenn auch die Frage nach dem Vorliegen von Rechtfertigungsgründen entschieden ist. II. Rechtswidrigkeit und Unrecht 1. Die herrschende Strafrechtsdogmatik Die herrschende Strafrechtsdogmatik unterscheidet die Begriffe streng: Nur dem Unrecht komme materielle Qualität zu. Nur das Unrecht könne qualitativ und quantitativ verschieden sein. Die Rechtswidrigkeit dagegen wird formal verstanden als Widerspruch zu einer Verhaltensnorm. Dieser Widerspruch sei vorhanden oder nicht vorhanden. Rechtswidrigkeit sei keiner Steigerung fähig. Eine Handlung könne nicht mehr oder weniger rechtswidrig sein, sondern nur rechtswidrig oder rechtmäßig6. Die Funktion des Straftatmerkmals Rechtswidrigkeit bestehe darin, die Grenzen von Recht und Unrecht im konkreten Einzelfall abschließend zu bestimmen. 2. Die Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit Gegen diese überkommene Strafrechtsdoktrin wendet sich die von Günther begründete Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit 7. Für sie gilt der Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung nur in eine Richtung: Rechtfertigungsgründe i.S. der Gesamtrechtsordnung, gleichgültig welchem Rechtsgebiet sie entstammen, entfalten ihre Wirkung zwingend auch im Strafrecht. Dies trifft insbesondere auf die in den Kapiteln 7 und 8 bereits erörterten Grundrechte und die klassischen Rechtfertigungsgründe Notwehr und Notstand zu.

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Welzel, Lehrbuch, S. 55. Vgl. z.B. Baumann/Weber § 19 II 2 a; Ebert/Kühl, Jura 1981, 225 (227 f.); Hirsch in LK, vor § 32 Rz 11 ff.; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 50 f. 7 Günther, Strafrechtswidrigkeit, insbesondere S. 89 ff; ders., Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 363 ff. 6

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Damit sei aber über die Staz/rechtswidrigkeit noch kein abschließendes Urteil gefällt. Die Verhängung von Strafe und die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung als einschneidenste dem Staat zu Gebote stehende Sanktionen setzten nämlich eine spezifische, gegenüber der allgemeinen Rechtswidrigkeit gesteigerte Strafrechtswidrigkeit voraus. Diese versteht Günther als materiales Straftatmerkmal. Aufgabe der Strafrechtswidrigkeit sei es nicht, die Grenze zwischen Recht und Unrecht zu markieren, sondern vielmehr in Einklang mit den anderen Straftatmerkmalen die Grenze zwischen strafbaren und nicht strafbaren Verhaltensweisen festzulegen. Strafunrechtsausschluß bedeute nicht rechtliche Billigung, sondern Verzicht auf die besonders gravierende strafrechtliche Mißbilligung der Tat. Folgerichtig erstreckt die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit strafrechtsteleologische Erwägungen auf den Bereich der Strafrechtswidrigkeit und bricht damit auch auf dieser Ebene tragenden Verfassungsgrundsätzen Bahn: dem Gebot der Verhältnismäßigkeit sowie dem Verständnis des Strafrechts als ultima ratio. Die Lehre wurzelt in der Strafrechtsdogmatik: Eine konsequente Anwendung der Lehre von den Graden des Unrechts8 sowie die Erkenntnis, daß es sich bei der Strafrechtswidrigkeit um eine materiale Wertungsstufe handelt, die zu den konstitutiven Unrechtsbestandteilen gehört, erlauben es, Abstufungen im Unrechtscharakter - etwa bei nur geringfügigem Überschreiten eines Rechtfertigungsgrundes - bereits auf der Ebene der Strafrechtswidrigkeit Rechnung zu tragen9. Ein strafrechtsspezifischer Rechtswidrigkeitsbegriff hat strafrechtsdogmatische Konsequenzen10: Bedarf es zur Strafrechtswidrigkeit einer besonderen, gesteigerten Verhaltensmißbilligung, reicht die Kategorie der Rechtfertigungsgründe (Erlaubnissätze) herkömmlichen Inhalts zur Beurteilung strafrechtlicher Rechtfertigung nicht aus. Sie bedarf der Ergänzung durch strafrechtsspezifische Strafunrechtsausschließungsgründe. Diese verleihen einer straftatbestandsmäßigen Handlung im Unterschied zu echten Rechtfertigungsgründen nicht das Prädikat "rechtmäßig" (erlaubt, von der Gesamtrechtsordnung gebilligt), sondern nur das Prädikat "kein strafwürdiges 8 Hierzu: Baumann/Weber, AT, §§ 11 II 2, 19 I; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 114 ff.; Lenckner, Notstand, S. 32 ff.; Noll, Übergesetzl. Rechtfertigungsgründe, S. 45 ff. 9 Zu weiteren dogmatischen Pfeilern der Lehre von der Strafrechtswidrigkeit vgl. Günther, aaO, Fußnote 7. Teilweise wird hierauf noch im Rahmen einer kritischen Würdigung der Lehre eingegangen (s.u. III.). 10 Zu weiteren strafrechtsdogmatischen Konsequenzen insb. bei Irrtum und Teilnahme, Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 373 ff.

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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Unrecht". Sie greifen ein, wenn das Strafrecht auf seine besondere sozialethische Mißbilligung verzichten will, weil trotz Straftatbestandsverwirklichung jedenfalls kein zur Strafwürdigkeit notwendiges gesteigertes Unrecht vorliegt. Der (echte)11 Strafunrechtsausschließungsgrund unterscheidet sich vom Rechtfertigungsgrund herkömmlichen Verständnisses also dadurch, daß er sowohl rechtmäßige als auch rechtswidrige, aber nicht strafwürdige Taten abdecken kann und nur im Binnenbereich des Strafrechts gilt 12 . III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit Die Lehre hat in der strafrechtlichen Literatur große Beachtung gefunden. Vielfach erfuhr sie Zustimmung13. Bereits durchgesetzt hat sie sich für das Verständnis des § 240 Abs. 2 StGB14. Vielfach stieß sie aber auch auf Kritik 15 , wobei die Kritiker teilweise ähnliche dogmatische Kategorien

11 In seiner Habilitationsschrift (vgl. insbesondere Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 257 ff.) unterscheidet Günther zwischen echten und unechten Strafiinrechtsausschließungsgründen. Nur echte Strafunrechtsausschließungsgründe seien strafrechtsspezifischer Natur, während unechte Strafiinrechtsausschließungsgründe eine deklaratorische Rezeption allgemeiner Rechtfertigungsgründe darstellten (z.B. § 32 StGB). Diese komplizierte, wenig übersichtliche Terminologie wird im folgenden nicht beibehalten. Sachlich zu unterscheiden sind lediglich (echte) Rechtfertigungsgründe nach herkömmlichen Verständnis, die die Tat i.S. der Gesamtrechtsordnung billigen, und (echte) Strafunrechtsausschließungsgründe, denen nur die Funktion zukommt, strafwürdiges Unrecht entfallen zu lassen. Günther selbst (Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 385 f.) hat diese terminologische Vereinfachung angeregt. 12 Vgl. hierzu näher Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 253 ff.; ders., Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 385 f. 13 Zustimmend etwa: Amelung, Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Roxin, S. 92 ff.; Gössel, GA 1984, 521; W. Hassemer, NJW 1984, 352; ders., Wassermann-FS, S. 327, 331; Armin Kaufmann, Klug-FS II, S. 291 f.; Kratsch, Verhaltenssteuerung, S. 324; Kühl, StrVert 1987, 122 (135); Küper, JZ 1983, 95; Otto, BT, § 27 III 1 b; Reichert-Hammer, JZ 1988, 617 ff.; Rössner in Günther/Keller, S. 261; Schäfer in LK, § 240 Rz 69; Schünemann, GA 1985, S. 351 ff. Auch Roxin, Oehler-FS, S. 181 ff., bejaht grundsätzlich die Möglichkeit strafrechtsspezifischer Regeln des Unrechtsausschlusses, will ihren Anwendungsbereich aber gegenüber Günther stark einschränken, siehe allerdings auch Fußnote 15 und 16. 14 Für diejenigen, die in § 240 Abs. 2 StGB kein Tatbestandselement sehen, ist sie zwingend. Ein entspr. Verständnis der Funktion des § 240 Abs. 2 StGB liegt deshalb - mit Ausnahme der völlig verunglückten Entscheidung BGHSt 35, 270 -auch durchgängig der Rechtsprechung zugrunde. Zur Literatur vgl. Kapitel 2, Fußnote 72, sowie neuerdings auch Weichert, StrVert 1989, 459 ff. Ausdrücklich Bezug auf Günther nehmen etwa: Kühl, StrVert 1987, 135; Otto, BT, § 27 III 1 b; Schäfer in LK, § 240 Rz 69. 15 So etwa von Hirsch in LK, vor § 32 Rz 10; Lackner, StGB, vor § 13 Anm. III 3a und vor § 32, Anm. II; Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 32 ff. Rz 8 ff.; Hin und hergerissen: Roxin, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, S. 251 ff. = JuS 1988, 430 f.; Rudolphi, Armin Kaufmannes, S. 371 (372 ff.); Triffterer, AT, S. 204; Weber, JZ 1984, 276.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

zur Lösung der angesprochenen Problemfälle entwickeln16. Die Kritik soll im folgenden analysiert werden: Auch die hergebrachte Auffassung steht - wie dargelegt - auf dem Standpunkt, daß das Strafrecht nur gesteigertes Unrecht erfasse. Die Auswahl dieses strafrechtstypischen Unrechts aus der großen Zahl rechtswidriger Verhaltensweisen (Verstöße gegen Verbote und Gebote des Zivilund des öffentlichen Rechts) erfolge aber abschließend durch die Straftatbestände. Da die Straftatbestände lediglich Verhaltensweisen erfaßten, die bereits nach den Regeln anderer Gebiete der Gesamtrechtsordnung mißbilligt würden, könnten auch nur allgemeine, generelle Geltung beanspruchende Rechtfertigungsgründe das Tatunrecht ausschliessen. "Die Unrechtsstufe des Verbrechens ist damit für die überkommene Strafrechtsauffassung das Herrschaftsgebiet des geflügelten Wortes von der Einheit der Rechtsordnung."17 Daraus ergeben sich zwei Kernkritikpunkte an der neuen Lehre: 1. Die Auswahl strafrechtstypischen Verhaltens erfolge abschließend durch die Straftatbestände a) Hält man sich das Verhältnis von Ordnungswidrigkeit und Straftat vor Augen, so besticht diese funktionsbestimmte Unterscheidung auf den ersten Blick. Die Auswahl strafbaren Verhaltens erfolgt hier i.d.R. über (zusätzliche) Tatbestandsmerkmale. Dies gilt für die Mischtatbestände gleichermaßen wie etwa bei Delikten im Straßenverkehr (§§ 315 c, 316 StGB). Doch stimmt bereits die von der h.M. zugrunde gelegte Prämisse nicht: Strafrechtspezifische Erwägungen werden keineswegs abschließend bei der Tatbestandsmäßigkeit angestellt. Die herrschende Strafrechtslehre weist

16 Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 32 Rz 9 ff., unterscheidet zwischen Rechtfertigungsgründen, die ein Eingriffsrecht, und solchen, die nur eine Handlungsbefügnis gewähren. Einen in der Sache ebenfalls ähnlichen Ansatz vertritt Triffterer, AT, S. 204: Er differenziert zwischen Rechtfertigungsgründen im herkömmlichen Sinne und sog. Tatbestandsausschließungsgründen, die in ihrer Wirkung den Strafünrechtsausschließungsgründen Günthers entsprechen. Durch diese m.E. straftatsystematisch verfehlte Zuordnung zum Tatbestand gelingt es ihm, an der Lehre von der Einheit der Rechtsordnung festzuhalten. Raxin, zuletzt in Bockelmann-FS, S. 279 ff., u. ZStW 96 (1984), 641 ff., schließlich führt auf der Ebene der Schuld die strafrechtliche Verantwortlichkeit als zusätzliche Systemkategorie ein (ähnlich: Gössel, Fälle u. Lösungen, S. 8; Maurach/Zipf, AT 1, §§ 32, 33). Zur Auseinandersetzung mit weiteren, in die gleiche Richtung zielenden Ansätzen ausführlich Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 261 ff. 17 Sehr prägnant die h.M. zusammenfassend: Weber, JZ 1984, 276 f.

. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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vielmehr der Strafrechtswidrigkeit eine Funktion zu, die sich von der des Straftatbegriffs und von den Aufgaben aller übrigen Straftatmerkmale grundlegend unterscheidet: Während Straftatbegriff, Straftatbestand und Strafschuld 18 unter strafrechtsteleologischen Aspekten, nach Strafwürdigkeitskriterien und ausgerichtet an Rechtsgüterschutz und Strafzwecken die strafrechtsrelevanten Verhaltensweisen auswählen, soll die Strafrechtswidrigkeit dem Zweck dienen, i.S. der Gesamtrechtsordnung erlaubte von rechtswidrigen Verhaltensweisen zu unterscheiden. Auch vermindertes Unrecht bleibe ja rechtswidrig und damit Unrecht. Dieser vermeintlich so einleuchtende Schluß ist nach keiner Straftatkonzeption zwingend. Beim Blick in die Ferne, auf die Einheit der Rechtsordnung, verliert die herrschende Strafrechtslehre das Naheliegende aus den Augen: die Einheit des Straftatbegriffs 19. Dies gilt zunächst für die Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand. Ein einheitlicher, aus einer materiellen Gesamtwertung gebildeter strafrechtlicher Unrechtsbegriff läßt Unterschiede in den materiellen teleologischen Anforderungen an strafrechtliche Unrechtsbegründung und rechtfertigenden Unrechtsausschluß nicht zu. Von der Notwendigkeit einheitlicher Bewertung ausgehend, gelangten einige Vertreter dieser Lehre in der Vergangenheit jedoch zu einem Fehlschluß: Der Gesamtunrechtstatbestand bilde die Grenze zwischen Recht und Unrecht. Nicht tatbestandsmäßiges Verhalten sei ebenso rechtlich erlaubt wie ein zwar tatbestandsmäßiges, aber gerechtfertigtes Verhalten 20. Eine solche Deutung der Straftatbestandsmäßigkeit verkennt den fragmentarischen Charakter des Strafrechtsschutzes. Geht man von einem einheitlichen Begriff des Strafunrechts aus, verhält es sich vielmehr umgekehrt: So wenig der Verzicht auf die straftatbestandliche Kriminalisierung einer Verhaltensweise notwendig deren Rechtmäßigkeit bedeutet, so wenig läßt der Verzicht auf Kriminalisierung einer Verhaltensweise durch Gewährung eines Unrechtsausschließungsgrundes zwingend den Schluß zu, die beurteilte Handlung sei i.S. der gesamten Rechtsordnung rechtmäßig und erlaubt. Dies kann zwar sein21. Notwendig ist es nicht. Strafrechtswidrigkeit und allgemeines Rechtswidrigkeitsurteil stimmen nach der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand nicht überein: Sie verhalten sich gleichsam i.S. zweier ineinander-

18 Erst recht gilt dies für Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründe sowie für den gesamten Bereich der Strafzumessung. 19 Hierzu Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 119 ff. 20 So Samson in SK, vor § 32 Rz 11; Schaffstein ZStW 72 (1960), 369 (389). 21 Etwa bei §§ 32, 34 StGB.

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Kap. 10 Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

liegender Kreise, erstere bildet eine qualifizierte Form der letzteren 22. Es ist deshalb kein Zufall, daß die neue Konzeption der Strafrechtswidrigkeit gerade bei Anhängern der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand positive Aufnahme fand 23. Für die Lehre vom unrechtsindizierenden Tatbestand dagegen beinhaltet das Eingreifen eines Unrechtsausschließungsgrundes eine weitergehende Wertung als das Fehlen eines Straftatmerkmals. Hier verliert diese Lehre ihre Stringenz: Der Straftatbestand erfaßt nur die strafrechtlich bedeutsamen Verhaltensweisen. Er verkörpert nicht irgendeinen Delikts- und Unrechtstypus, sondern einen Strafdelikts- und Strafunrechtstypus. Infolgedessen indiziert er konsequenterweise nicht nur die allgemeine formale Rechtswidrigkeit einer Handlung, sondern vielmehr eine besondere qualifizierte Rechtswidrigkeit, er hat tfra/unrechtsindizierende Funktion. Die Aufgabe der Strafrechtswidrigkeit besteht folglich in der Prüfung, ob dieses vorläufige, auf den Durchschnittsfall zielende Strafunrechtsindiz zutrifft oder ob im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung atypischer Umstände strafrechtlich relevantes Unrecht entfällt. Eine Wertungsdifferenz, wie sie die h.L. zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit vornimmt, widerstreitet der logisch systematisch begründeten und anerkannten Erkenntnis, daß zwischen actus und actus contrarius Affinität besteht, die Regeln der Unrechtsbegründung also die Regeln des Unrechtsausschlusses determinieren. In diesem Sinne erkennt auch die neuere Lehre vom unrechtsindizierenden Straftatbestand lediglich eine Wertkategorie Unrecht an und mißt dem Streit mit der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand nur geringe praktische Bedeutung bei. b) Wertungsdifferenzen, wie sie die h.M. annimmt, stehen auch im Widerspruch zu der ansonsten einhelligen Auffassung, daß die systematische Einordnung als Straftatbestands- oder Rechtfertigungsmerkmal grundsätzlich nicht ausschlaggebend für die Lösung materialer Probleme sein darf. Hierfür finden sich eine Reihe von Beispielen24: Ist etwa ein Straftatbestand verwirklicht, greift aber ein objektiver Rechtfertigungsgrund wegen Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselements nicht durch, so wird in gleicher Weise nur Versuchsunrecht angenommen wie in den Fällen, in denen es bei Vorliegen des subjektiven

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Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 120 ff. Vgl. etwa Otto, BT, § 27 III 1 b; Roxin, Oehler-FS, 181 ff.; und insbesondere Schünemann, GA 1985, 351 ff. 24 Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 127 f. 23

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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Tatbestandes an einem Merkmal des objektiven Tatbestands fehlt 25. In beiden Fällen fehlt es gleichermaßen am Erfolgsunrecht. Eine ähnliche dogmatische Gleichstellung von Straftatbestand und Strafrechtswidrigkeit liegt darin, daß die ganz h.M. den Erlaubnistatbestandsirrtum analog dem Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) behandelt. In einem Grenzbereich hängt zudem die Einordnung von Straftatmerkmalen von geschichtlich bedingten oder gesetzestechnischen Zufälligkeiten ab. In aller Regel ist zwar eine sachgerechte Zuordnung zum Tatbestand (Unrechtstypus) oder zur Rechtswidrigkeit (Gegenindikation für atypische Fälle) möglich. In einem Grenzbereich jedoch fehlen klare Zuordnungskriterien: Tatbestands- und Rechtfertigungsmerkmale sind austauschbar26. Der Gesetzgeber verfügt hier über einen Gestaltungsspielraum. Anschaulich wird dies bei der Zuordnung der Einwilligung in § 216 StGB als Tatbestandselement einerseits und in § 226 a StGB als Rechtfertigungselement andererseits. Bei der Reform der §§ 218 ff. StGB sah die zunächst beschlossene Fristenregelung eine Tatbestandslösung vor, während es sich bei der geltenden Indikationslösung nach ganz h.M. um Rechtfertigungsgründe handelt. In vielen Fällen ist die dogmatische Einordnung umstritten, so etwa bei §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB, beim ärztlichen Heileingriff sowie bei den dogmatischen Figuren der sozialen Adäquanz, des Geringfügigkeitsprinzips und des erlaubten Risikos. Allein dies macht deutlich, daß zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Strafrechtswidrigkeit keine wesensmäßigen Unterschiede bestehen können. Schließlich wird gerade bei neu zu schaffenden Gesetzen kontrovers diskutiert, ob Ausnahmetatbestände von ihrem Rechtscharakter her (negative) Tatbestandsmerkmale, Rechtfertigungs- oder Strafunrechtsausschließungsgründe darstellen27. Von solchen gesetzgeberischen Zufälligkeiten dürfen aber keine weitreichenden materiellen Wertungen abhängen. c) Die Überhöhung der von der h.M. an den Strafunrechtsausschluß gestellten Anforderungen dokumentiert schließlich eine weitere Konsequenz: Die Wirkung der Rechtfertigung geht erheblich weiter als die

25 So jedenfalls nach h.L., vgl. etwa Baumann/Weber, AT, § 20 I 1 b; § 21 I 3 c; Jescheck, AT, § 31 IV 2; Lenckner, Notstand, S. 192 ff.; ders. in Schönke/Schröder, vor § 32 Rz 15; Maurach/Zipf, AT 1, § 25 Rz 32 ff.; Wessels, AT, § 8 I 2. Ebenso KG, GA 1975, 213. 26 Vgl. Baumann/Weber, AT, § 19 III 3 b; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 128; Lackner, StGB, vor § 32 Anm. II; Verf., JZ 1988, 619; Roxin, ZStW 80, 701; Triffterer, Oehler-FS, S. 210 f. 27 Vgl. etwa zum "Genehmigungsvorbehalt" in § 2 Abs. 2 DE Embryonenschutzgesetz 1987: Rössner in Günther/Keller, S. 247 ff.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Negation der Straftatbestandsmäßigkeit 28. Rechtspolitisch bedeutet dies: Eliminiert der Gesetzgeber eine Verbotsnorm völlig aus dem Strafrecht, entfällt nur die Strafbarkeit. Begnügt er sich hingegen damit, nur einige wenige atypische Konstellationen via "Rechtfertigungsgrund" von der Strafbarkeit auszunehmen, bewirkt er ein Maius, nämlich deren Rechtmäßigkeit mit dem Anspruch der Verbindlichkeit für die gesamte Rechtsordnung. In einigen Fällen originärer Rechtssetzung im StGB wurde dies vom Gesetzgeber tatsächlich beabsichtigt (§§ 34, 218 a StGB29). Daß dem nicht so sein muß, zeigt sich schon darin, daß auch die h.M. eine starre Handhabung ihrer Straftatkonzeption nicht durchhalten kann. Auch sie benötigt in Teilbereichen zur rechtsstaatlichen Begrenzung der Strafbarkeit Korrektive im Bereich der Strafrechtswidrigkeit: So lassen ein Teil der Lehre wie auch sporadisch die Rechtsprechung über das Geringfügigkeitsprinzip, die Sozialadäquanz und das erlaubte Risiko eben doch strafrechtsspezifische Erwägungen auch in die Rechtswidrigkeitsbeurteilung einfließen 30. So werden die §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB von der h.M. zu Recht als Rechtswidrigkeitsregeln betrachtet 31. Die Verneinung der Verwerflichkeit bedeutet keineswegs, daß die Rechtsordnung ein Verhalten rechtlich billigt. Verneint wird lediglich strafwürdiges Unrecht. Eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit bleibt ebenso möglich wie eine polizeirechtliche Auflösung der Versammlung.

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Hierzu Günther, Strafirechtswidrigkeit, S. 129. Was Günther allerdings kritisiert, trifft auch nach seiner Auffassung zu: Die Wirkung der Rechtfertigung geht weiter als die der Tatbestandslosigkeit. An dieser Bewertung ändert sich auch nichts, wenn man mit Rärin, aaO., der Rechtfertigung nur die Funktion der "Legalität" nicht aber die der rechtlichen Billigung beimißt. Denn eine rechtliche Erlaubnis beinhaltet immer auch eine positive Wertung. 29 Freilich nicht ganz unstreitig, hierzu unten 10. 30 Diese Rechtsinstitute sind allerdings sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Existenzberechtigung, wie auch hinsichtlich ihrer dogmatischen Zuordnung umstritten. Zur Sozialadäquanz vgl. Baumann/Weber, AT, § 15 III 1 b, § 19 III 2 b; Hirsch in LK, vor § 32 Rz 26; Peters, Welzel-FS, S. 419 ff. Die Rspr. greift pragmatisch auf das Bagatellprinzip und auf die Sozialadäquanz sowohl beim Tatbestand (z.B. § 142 StGB) als auch bei der Rechtswidrigkeit zurück (§ 240 Abs. 2, nicht Abs. 1)! 31 Für die h.M.: St. Rspr. seit BGHSt 2, 194 (196); Baumann, NJW 1987, 36 (37); Dreher/Tröndle, § 240 Rz 20 ff.; Günther, Strafirechtswidrigkeit, S. 353; Lackner, § 240 Anm. 6; Schäfer in LK, § 240 Rz 66. Zum ganzen: Kapitel 2, II 3 (m.w.N. zur h.M.), und Kapitel 12,1 1. Erblickt man mit einem Teil der Lehre (vgl. etwa Hirsch in LK, vor § 32 Rz 19 ff.) in § 240 Abs. 2 StGB ein Tatbestandsmerkmal, so führt dies zu der widersinnigen Konsequenz, daß ein Verhalten als verwerflich beurteilt werden muß, das durch Grundrechte gerechtfertigt ist. Merkwürdig auch der Ausweg von Hirsch in LK, § 32 Rz 21, der von der Verwerflichkeitsprüfung die Gesichtspunkte ausnehmen will, "die erst für eine etwaige Rechtfertigung interessant werden." Unnötig komplizierend ohne sachlich abweichendes Ergebnis die differenzierende Auffassung von Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 16, 35; Jescheck, AT, § 25 I 2, II: Mittel-Zweck-Beziehung gehört zum Tatbestand, ihre Bewertung als verwerflich zur Rechtswidrigkeit.

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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Wo die h.M. auf solche Korrektive verzichtet, gerät sie zuweilen in unauflösbare Schwierigkeiten. Ein Beispiel ist das "Züchtigungsrecht" des Lehrers: Das Schulrecht jedenfalls in Baden-Württemberg verbietet jede Form körperlicher Züchtigung32. Eine Rechtfertigung durch Gewohnheitsrecht kommt, da contra legem, nicht in Frage. Auch eine Einschränkung der Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz scheidet angesichts des ausdrücklichen und kategorischen Verbots von vornherein aus. Für die h.M. folgt daraus zwingend: Jedes nicht gerade ganz bagatellhafte Fehlverhalten des Lehrers ist strafrechtlich zu ahnden, dazuhin in der qualifizierten Form einer Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB). Über die Unhaltbarkeit dieses Ergebnisses dürfte wohl weitgehend Konsens bestehen33. Doch allein das von Günther entwickelte strafrechtliche Erzieherprivileg bietet hier einen sachgerechten Ausweg34: Das schulrechtliche Verbot bleibt unangetastet. Soweit aber das strafrechtliche Erzieherprivileg reicht, fehlt es an erhöhtem, strafwürdigem Unrecht. Einer disziplinarrechtlichen Ahndung (vielleicht auch nur: einer Entschuldigung des Lehrers bei dem betroffenen Schüler) steht das Erzieherprivileg nicht entgegen. Wer aber Lehrer noch mit der ganzen Schärfe des Gesetzes verfolgen mag, muß spätestens bei den Eltern ins Grübeln kommen. Auch das elterliche "Züchtigungsrecht11 - in der Literatur bereits heftig attackiert 35 wird früher oder später fallen. Ein entprechender Gesetzentwurf wird von der Partei der Grünen ausgearbeitet und auch von der Gewaltkommission angeregt. Geht man davon aus, daß in 60 - 80 % deutscher Familien Kinder noch geschlagen werden 36, so läßt sich unschwer voraussagen, daß einzig ein strafrechtliches Erzieherprivileg unsere Gefängnisse auf Dauer vor Überfüllung retten kann37.

32 Vgl. § 90 Abs. 3 Satz 2 bad.-württ. Schulgesetz. Auch im Strafrecht betrachtet die h.M. ein früher gewohnheitsrechtlich angenommenes Züchtigungsrecht inzwischen selbst da für derogiert, wo noch keine entspr. schulrechtlichen Regelungen bestehen, vgl. etwa Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 176 f., 355 ff.; Lackner, StGB, § 223 Anm. 5 b aa; Rüping/Hüsch, GA 1979, 1 ff. 33 Unverständlich deshalb die Kritik von Raxin, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, S. 254 f., der offenbar contra legem von einem Rechtfertigungsgrund des Lehrers ausgeht, denn auch das bayr. Schulgesetz enthält ein Züchtigungsverbot. 34 Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 355 ff. 35 Vgl. etwa Haft, AT, S. 99; Petri, ZRP 1976, 64 f.; Reichert-Hammer, JZ 1988, 617 ff.; Rolinski, StrVert 1988, 63 ff.; Schneider, Körperliche Gewaltanwendung in der Familie, S. 225, 305; Thomas, ZRP 1977, 181 ff. 36 Vgl. Petri, ZRP 1976, 64; Schneider, Körperliche Gewaltanwendung in der Familie, S. 61 ff. 37 Umfassend zum ganzen: Reichert-Hammer, JZ 1988, 617 ff. 16 Reichert-Hammer

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Im hier zu behandelnden politischen Bereich schließlich wird das bestehende strafrechtsdogmatische Defizit durch nichts mehr entlarvt als durch den Ruf nach Amnestie für Straftaten, deren Entkrimininalisierung sich nach herrschender Strafrechtsdoktrin anders nicht bewerkstelligen läßt38. Diese kurze Untersuchung macht anschaulich, daß es weder zutrifft noch ausreicht, allein der Straftatbestandsmäßigkeit die Auswahl strafwürdiger Verhaltensweisen zuzuordnen. Die aufgezeigten dogmatischen Brüche, Widersprüche und Verlegenheitslösungen lassen sich mit der Lehre von der Strafrechtswidrigkeit überwinden. Für das Erzieherprivileg wurde dies im Beispielsfall dargelegt. Allgemein läßt sich sagen: Mit den Strafunrechtsausschließungsgründen werden den Faktoren, die den Delikts- und Unrechtstypus prägen, gegenläufige, atypische Momente entgegengesetzt, die die Strafwürdigkeit beseitigen, weil sie den Unrechtsgrad der Handlung unter die Schwelle des strafrechtlich Erheblichen drücken. Eine solche Differenzierung ist der überkommenen Strafrechtslehre nicht möglich. Historisch erklärbar 39 folgert sie aus der Existenz von Erlaubnissätzen die an den Strafunrechtsausschluß anzulegenden Maßstäbe, anstelle aus dem Wesen des Strafunrechts die Funktion der Strafunrechtsausschließungsgründe abzuleiten. 2. Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit widerspreche dem Gebot der Einheit der Rechtsordnung Die h.M. ist schon von ihrem gedanklichen Ansatz her nicht in sich schlüssig: Wenn etwa in §§ 142 und 170 b StGB die an sich nur zivilrechtswidrige Nichterfüllung von Verbindlichkeiten in bestimmten Fällen (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, Gefährdung des Lebensbedarf des Gläubigers) zu Strafunrecht erhoben wird, weshalb soll dieses erhöhte Unrecht dann nur in der Weise wieder beseitigt werden können, daß ein Rechtfertigungsgrund eingreift, der das Verhalten i.S. der Gesamtrechtsordnung, also auch mit Wirkung für das Zivil- und Öffentliche Recht billigt? Grundsätzlich läßt sich der Kritik entgegenhalten:40 Die verschiedenen Rechtsgebiete reagieren mit unterschiedlichen Rechtsfolgen auf Verhaltensweisen, um besondere, aus der Gesamtaufgabe der Rechtsordnung 38 39 40

Hierzu Kapitel 9, II 4. Vgl. Günther, Strafirechtswidrigkeit, S. 117. Vgl. hierzu insbesondere Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 89 ff.

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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abgeleitete Teilzwecke und damit die Sachgerechtigkeit der Rechtsordnung zu realisieren. Sie ermöglichen ein friedliches Zusammenleben aller Bürger mittels sachgerechter, durch die Besonderheiten ihrer Regelungsmaterie veranlaßter Differenzierungen. Weder der allgemeine Gleichheitssatz noch das Gebot der Widerspruchsfreiheit schließen eine rechtsgebietsbezogene Relativität der Rechtsbegriffe aus. Als vernünftige Gründe für voneinander abweichende, rechtsgebietsspezifische Regelungen lassen sich die Unterschiede in den Teilaufgaben und die Verschiedenartigkeit der Rechtsfolgen der einzelnen Rechtsgebiete anführen. Eine gerechte, relativ gleiche Behandlung kann auch darin bestehen, mehrere Tatbestände in einer der Natur ihrer Abweichungen entsprechenden Art verschieden zu behandeln. Die Einheit der Rechtsordnung enthebt nicht von der Notwendigkeit, bei jedem Einzelproblem die einschlägigen Wertungen zu ermitteln, zu gewichten und abwägend in Einklang zu bringen. Sie verbietet, daß Wertungswidersprüche entstehen, aber sie beantwortet nicht, ob das der Fall ist. Übertragen auf die Beurteilung der Rechtswidrigkeit bedeutet dies: Jedes Rechtsgebiet zieht nach eigenen Kriterien die Grenze zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Verhaltensweisen. So beinhaltet etwa die öffentlich-rechtliche Baurechtswidrigkeit nicht notwendig einen zivilrechtswidrigen Verstoß (Nachbarrechtsverletzung, Vertragsverletzung 41). Umgekehrt ergeht die Baugenehmigung "unbeschadet privater Rechte Dritter" 42 . Ein einheitlicher Rechtswidrigkeitsbegriff gewinnt erst da Bedeutung, wo es um echte Eingriffsrechte geht. In diesen Fällen dürfen keine Wertungswidersprüche zwischen verschiedenen Rechtsgebieten auftreten, denn Eingriffsrechten entsprechen auf der Gegenseite denknotwendig Duldungspflichten. Eingriffsrechte bestimmen die Grenze zwischen Recht und Unrecht, rechtfertigen ein Verhalten mit Wirkung für die gesamte Rechtsordnung. Aufgabe des Strafrechts ist es hingegen, die Grenze zwischen strafbaren und nicht strafbaren Verhaltensweisen festzulegen. Da nicht jede rechtswidrige Handlung strafwürdiges Unrecht darstellt, nimmt diese Grenze einen anderen Verlauf als die zwischen Recht und Unrecht.

41 Des Bauunternehmers gegenüber dem Kunden. Vielleicht war die Maßnahme sogar in Auftrag gegeben. 42 § 59 Abs. 3 bad.-württ. LBO.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Es besteht also keine Identität zwischen den Rechtswidrigkeitsbegriffen, wohl aber gibt es Wechselwirkungen: Was im Verfassungsrecht, im Verwaltungs-, Prozeß- oder Zivilrecht erlaubt ist, darf nicht im Strafrecht als Unrecht angesehen werden 43. Umgekehrt erweisen sich (sogar) strafrechtswidrige Verhaltensweisen auch im Sinn der Gesamtrechtsordnung als rechtswidrig. Die allgemeine Rechtswidrigkeit unterscheidet sich von der strafrechtlichen nämlich in folgendem: Die Wertung "allgemein rechtswidrig" ist lediglich eine notwendige, nicht bereits eine hinreichende Bedingung für die Strafrechtswidrigkeit. Zwischen Strafrechtswidrigkeit und allgemeiner Rechtswidrigkeit besteht ein Verhältnis der Subordination und Spezialität. Die Strafrechtswidrigkeit offenbart sich damit als Qualifikation des allgemeinen wie des im Zivil- und Öffentlichen Recht beheimateten Rechtswidrigkeitsbegriffs 44. Diese Konzeption wird durch einen weiteren Gedanken gestützt: Gegenstand des Urteils der allgemeinen Rechtswidrigkeit bildet menschliches Verhalten, Gegenstand des Urteils der Strafrechtswidrigkeit lediglich straftatbestandsmäßiges Verhalten. Ebenso wie die Begründung der Strafrechtswidrigkeit ist umgekehrt auch ihr durch einen Rechtfertigungsgrund bewirkter Ausschluß tatbestandsbezogen45: "So viele Tatbestandsverwirklichungen, so viele Rechtswidrigkeitsprüfungen." Ein Notwehrrecht gemäß § 32 StGB kann beispielsweise eine Handlung nur bezüglich einer Körperverletzung (§ 223 StGB), nicht aber bezüglich einer Tötung (§ 212 StGB) rechtfertigen. Noch deutlicher wird dies bei solchen Rechtfertigungsgründen, die wie § 193 StGB oder § 228 BGB an bestimmte Tatbestände oder Gruppen von Tatbeständen gebunden sind.46 Die Verneinung der Strafrechtswidrigkeit einer Tatbestandsverwirklichung besagt also nicht, daß die Handlung rechtmäßig i.S. der Gesamtrechtsordnung wäre. Wenn aber der Ausschluß der Rechtswidrigkeit noch nicht einmal zwingend weitere Straftatbestandsverwirklichungen erfaßt, warum sollte er dann automatisch auch Verletzungen von Normen (Tatbeständen) des Zivil- und Öffentlichen Rechts ergreifen? Es liegt auf der Hand, daß das Rechtswidrigkeitsurteil schon aus diesem Grunde rechtsgebietsspezifischer Differenzierungen bedarf. Und schließlich ein letztes: In anderen Rechtsgebieten haben sich differenzierte Rechtswidrigkeitsbegriffe längst durchgesetzt47. Der strafrechtli43 44 45 46 47

Baumann/Weber, AT, § 19 II 2 b. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 178. Vgl. Dreher, Schröder-GS, S. 381; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 110 m.w.N. in Fußnote 2. Weitere Beispiele bei Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 107. Vgl. die umfassenden Nachweise bei Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 66 ff. Grundlegend

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che Mythos von der "Einheit der Rechtsordnung" wird so zur strafrechtsdogmatischen Fiktion. Neben den beiden genannten, werden noch eine Fülle weiterer Kritikpunkte gegen die neue Lehre ins Feld geführt: 3. Strafunrecht nicht notwendig qualifiziertes Unrecht? Webet** weist darauf hin, daß Strafunrecht mitunter Zivilunrecht erst konstituiere und über § 823 Abs. 2 BGB zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen erst schaffe. Insoweit könne nicht von spezifischem Strafunrecht gesprochen werden. Vielmehr habe man hier von einer Identität der Zivilund Strafrechtswidrigkeit auszugehen. Aber natürlich! Wo ein sogar strafrechtswidriges Verhalten vorliegt, ist es doch sachgerecht, daß das Zivilrecht Rechtsfolgen an das Strafrecht anknüpft 49. Nur umgekehrt bedingt die Zivilrechtswidrigkeit nicht notwendig die Strafrechtswidrigkeit. Im übrigen stimmt auch bereits Webers Prämisse nicht: Über § 823 Abs. 2 BGB wird zwar ein zivilrechtlicher Anspruch, nicht aber zivilrechtliches Unrecht konstituiert. Vielmehr setzt eine Strafnorm, der der Charakter eines Schutzgesetzes i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB zukommt, ihrerseits bereits zivilrechtswidriges Verhalten voraus. Als Beispiel sei § 263 StGB genannt. Das Unrecht einer Täuschung im Rechtsverkehr ergibt sich nicht erst aus dem Betrugstatbestand. Vielmehr dokumentieren die Irrtumsregeln der §§ 119 ff. BGB, die Möglichkeiten der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) sowie des Schadensersatzes aus c.i.c., p.F.V. oder wegen Unmöglichkeit (§§ 281, 325), daß auch das Zivilrecht eine Täuschung nicht billigt, sondern sanktioniert. Zwar behält der Vertrag zunächst Bestand, solange das Verhalten nicht die Grenze des § 138 BGB überschreitet, dies jedoch nur deshalb, weil es nach dem Grundsatz der Privatautonomie dem Betroffenen überlassen bleibt, ob und wie er ein zivilrechtswidriges Verhalten sanktionieren will. Ähnlich beinhaltet ein nach § 315 c StGB strafbares Verhalten bei zivilrechtlicher Betrachtung eine Besitzstörung sowie einen Eingriff ins Eigentum.

ebenso: Paul Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, 1978. Für das Arbeitsrecht vgl. bereits oben Kapitel 7, VI 4. 48 Weber, JZ 1984, 276. 49 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß im Rechtstatsächlichen die Verknüpfung der Rechtsgebiete keineswegs so eng ist, wie es § 823 Abs. 2 BGB vermuten ließe. Wegen der unterschiedlichen Beweislastregeln, vor allem aber wegen der unterschiedlichen Bewertung der Tatbeiträge mehrerer Beteiligter folgt die zivilrechtliche Sanktion der strafrechtlichen keineswegs auf dem Fuße.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Dasselbe gilt für das Verhältnis des Strafrechts zum Öffentlichen Recht und dort insbesondere zum Polizeirecht: Ein polizeirechtswidriger Zustand liegt naturgemäß immer dann vor, wenn eine Straftat begangen wird. Insoweit besteht Rechtswidrigkeitsidentität. Der Bereich polizeirechtswidriger Verhaltensweisen geht indes weit über den Bereich strafrechtswidriger Verhaltensweisen hinaus: Er umfaßt den gesamten Bereich der Prävention! 50 Schon lange bevor eine Tat ins Versuchsstadium gelangt, kann sie sich wegen der drohenden Gefahr für ein Rechtsgut als polizeirechtswidrig darstellen. Nicht verfangen kann schließlich Webers 51 Hinweis auf die ausschließliche Strafrechtswidrigkeit des untauglichen Versuchs. Auch gegenüber dem Versuch eines untauglichen Täters (Falschbeurkundung durch einen Nichtbeamten) oder mit einem untauglichen Mittel (Tötungsversuch mit 10 Schlaftabletten, erst eine Dosis von 20 wäre tödlich) dürften zweifelsohne zivilrechtliche Unterlassungs-und Abwehransprüche bestehen. In vielen Fällen - insbesondere beim untauglichen Täter - ist das Verhalten auch nach Öffentlichem Recht als rechtswidrig zu beurteilen. 52 Hierauf kommt es aber überhaupt nicht an. Die Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit behauptet ja keineswegs, daß ein strafrechtswidriges Verhalten stets auch in allen anderen Rechtsgebieten relevant sein müsse! Ganz im Gegenteil: Sie geht ja davon aus, daß jedes Rechtsgebiet seine "differentiae specificae" aufweist, nach der es für das jeweilige Rechtsgebiet relevantes Verhalten auswählt. Es stimmt also: Was das Strafrecht als strafrechtswidrig einstuft, muß, sollen Wertungswidersprüche vermieden werden, notwendig auch in anderen Rechtsgebieten als rechtswidrig beurteilt werden, aber natürlich nur dann, wenn es in diesem Rechtsgebiet auch relevant (tatbestandsmäßig) ist!

50 Der Grundsatz, daß die Prävention den ureigensten Bereich des Polizeirechts darstellt und im Strafrecht nichts zu suchen hat, gilt nach wie vor, ungeachtet mannigfaltiger Versuche, vor allem das politische Strafrecht in den Bereich der Prävention hinein auszudehnen. Hingewiesen sei nur auf die Diskussion um ein strafbewehrtes Vermummungsverbot (vgl. hierzu auch Baumann, StrVert 1988, 37,39) sowie auf den Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1988 (dokumentiert in StrVert 1989, 172 ff.). 51 Weber, JZ 1984, 276. 52 Bei der Falschbeurkundung durch einen Nichtbeamten dürfte die Amtshandlung wegen des gravierenden Zuständigkeitsmangels in aller Regel nichtig sein. Zumindest liegt dann aber eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, also ein polizeirechtswidriger Zustand vor.

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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4. Gravierende Rechtssicherheitsbedenken?53 Günther selbst54 hat schon darauf hingewiesen, daß die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit keine allein an Verhältnismäßigkeitserwägungen ausgerichtete, zweite positive Unrechtsschranke errichten wolle. Strafunrechtsausschließunggründe sind nicht anders als Rechtfertigungsgründe herkömmlichen Verständnisses eng umrissene Gegenindikatoren, die an den Gesetzeswortlaut, an in der Gesamtrechtsordnung objektivierte gesetzliche Wertungen sowie an die erkennbare Grundentscheidung des historischen Gesetzgebers gebunden sind55. Andererseits darf sich auch nach h.M. eine Lehre von der Rechtswidrigkeit nicht auf eine negative Sicht in der Form beschränken, daß lediglich festgestellt wird, daß kein bereits positivierter Rechtfertigungsgrund eingreift. Sie muß vielmehr - zumindest in Grenzfällen - zu positiven Aussagen vordringen, eine Gesamtbewertung anstellen, die u.U. - wie im bekannten Fall des rechtfertigenden Notstandes - zur Auffindung neuer Rechtfertigungsgründe führt 56. Dieser materiale Charakter der Rechtswidrigkeit bedingt, daß dem Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Rechtswidrigkeit, wenn überhaupt, nur eine sehr beschränkte Bedeutung zukommt57. Soweit es nur um den Ausschluß strafrechtlichen Unrechts geht, reduziert sich diese Bedeutung zusätzlich, da Strafunrechtsausschluß zwar den Täter entkriminalisiert, das Opfer aber nicht zur Duldung zwingt. Soweit Strafunrechtsausschließungsgründe noch nicht gesetzlich positiviert sind, müssen - ebenso wie bei der Entwicklung der Rechtfertigungsgründe - Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft objektive Kriterien entwickeln, bei deren Vorliegen Strafunrechtsausschluß zu bejahen ist. Die Strafrechtswidrigkeit ist - wie festgestellt - der Bereich sozialer Konfliktlösungen, das Feld, auf dem widerstreitende Individualinteressen oder gesamtgesellschaftliche Belange mit den Bedürfnissen des einzelnen zusammenstoßen. Dementsprechend beinhalten Strafunrechtsausschlie53 So vor allem Weber, JZ 1984, 276 (277); Baumann/Weber, AT, § 19 II 2 a; Rärin, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrande, S. 255 f.; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 8. 54 Günther, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 397 f. 55 Hierauf verweist zu Recht auch Armin Kaufmann, Rechtspflichtbegründung und Tatbestandseinschränkung, S. 292. 56 Zum materiellen Charakter der Rechtswidrigkeit bereits ausführlich oben, Kapitel 5, II. Zur Bildung von Rechtfertigungs- und ausdrücklich auch Strafunrechtsausschließungsgründen: Jescheck, AT, § 24 I 3 b. 57 Vgl. oben Kapitel 5, n.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

ßungsgründe nicht anders als Rechtfertigungsgründe herkömmlicher Art materiale, teleologische Wertungen. Diese Wertungen können und sollten mit der Zeit auch vom Gesetzgeber festgeschrieben werden. Bei den §§ 34 und 218 a StGB ist dies geschehen, für die Forschung an Embryonen und genlftherapeutische ,f Eingriffe werden Erlaubnisnormen derzeit diskutiert. Existieren keine gesetzlichen oder zumindest keine strafrechtlichen Regelungen, so müssen diese durch die Strafrechtsprechung mit Blick auf die teleologischen Besonderheiten dieses Rechtsgebiets getroffen werden. Dementsprechend wird traditionell die inhaltliche Ausprägung von Rechtfertigungsgründen als ureigenster Bereich der Rechtsprechung wie natürlich auch im Vorfeld der Strafrechtswissenschaft gesehen. Übertriebene Befürchtungen, die neue Lehre könne nicht verhindern, daß "schwerstbehinderte Neugeborene oder ohne geistige Regungen dahinvegetierende Greise" 58 bar jeden Strafrechtsschutzes gestellt würden, zeugen von einem völligen Unverständnis der neuen Lehre. Hierfür müßte zunächst ein Strafunrechtsausschließungsgrund formuliert werden, der sich auf entsprechende Wertungen stützen könnte. Dies setzte ein gesellschaftliches Bewußtsein voraus, das - im Gegensatz zum gegenwärtigen Strafrecht 59 - die Tötung "unwerten Lebens" als Minimalunrecht einstufte. Solche gesellschaftlichen Wertvorstellungen werden aber bekanntlich unabhängig von und jenseits der Strafrechtsdogmatik durchgesetzt. Durch die von mir allerdings abgelehnte60 - Deutung des § 218 a StGB als Strafunrechtsausschließungsgrund etwa, wird der strafrechtliche Schutz ungeborenen Leben gegenüber der h.M. sogar verstärkt. Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit bewirkt also keinen Zuwachs an Richtermacht, sie schränkt diese sogar ein, weil sie die rechtsfortbildende Kraft der Judikative insoweit auf das Strafrecht beschränkt.61 Mehr noch: Die Diskussion um die Bewertung politischer Fernziele hat gezeigt, daß einem solchen Ansatz Rechtssicherheitsbedenken nicht nur nicht entgegenstehen, sondern die Bildung von klar umrissenen Strafunrechtsausschließungsgründen Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erst hervorbringt. Die strafrechtliche Berücksichtigung von Fernzielen findet nicht mehr diffus, ohne klar benannte Kriterien, in sich widersprüchlich und weitgehend unkontrollierbar im Bereich der Strafzumessung, der 58

Weber, JZ 1984, 277. Das Schwache in besonderem Maße schützt, vgl. etwa §§ 174 ff. StGB oder die von der h.M. zu Recht abgelehnte viktimodogmatische Einschränkung des Betrugstatbestandes. 60 S.u. 10. 61 Hierzu auch Günther, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 397 f. 59

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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Verfahrenseinstellung oder gar auf dem Gnadenwege statt. Die Ausnahmesituationen, in denen es an strafrechtlichem Unrecht fehlt, werden vielmehr klar dort definiert, wo sie strafrechtsdogmatisch hingehören: auf der Ebene der Rechtswidrigkeit. 5. Differenzierte Rechtswidrigkeitsbegriffe führten zu einer Verunsicherung der Bürger Die Rechtssicherheitsbedenken namhafter Kritiker haben noch einen anderen Hintergrund: Falls Rechtfertigungsgründen keine Allgemeingültigkeit für alle Rechtsgebiete mehr zukomme, würden die Bürger verunsichert, sie wüßten nicht mehr, was erlaubt und was verboten sei. Die Rechtsklarheit gehe verloren, wenn ein Verhalten im einen Rechtsgebiet "erlaubt", in einem anderen aber verboten sei. Hinter dieser Kritik verbirgt sich eine verfehlte Einschätzung der Aufgabe des Strafrechts: Das Strafrecht erlaubt nicht, es verbietet unter Strafandrohung. Dies gilt unabhängig von der Frage, welche Rechtswidrigkeitskonzeption vertreten wird. Erlaubnisnormen finden sich allenfalls ausnahmsweise im Strafrecht. Mit zu dem gedanklichen Fehlschluß beigetragen hat eine verhängnisvolle Fehlentwicklung in der Gesetzgebung: Verbotsmaterien in gesellschaftlichen Konfliktfeldern - und damit auch Erlaubnisnormen für Ausnahmefälle - werden zunehmend wieder im Strafrecht geregelt. Das Strafrecht wird, von beiden politischen Lagern in jeweils unterschiedlichen Sachgebieten, zum Mittel der symbolischen Festschreibung der jeweiligen Wertordnung umfunktioniert. Fragen der Erforderlichkeit und Effizienz einer strafrechtlichen Konfliktregelung drohen gegenüber der jeweiligen Statusdarstellung in den Hintergrund zu treten 62. Zu nennen sind hier die Regelung der Abtreibung in §§ 218 ff. StGB63, der diskutierte Entwurf eines Embryo-

62

Kritisch hierzu Lüderssen, StrVert 1987, 163 ff.; Scherer, KJ 1985, 245 ff. Grundlegend zum Problem: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 154 ff.; ders., JuS 1978, 8 ff. 63 Viele der Regelungen beispielsweise in den §§ 218 ff. StGB sind nicht originär strafrechtlicher Natur. Dies gilt etwa für die minituöse Regelung der Beratung oder die Vorschrift, daß der Eingriff durch einen Arzt zu erfolgen habe. Diese rein verwaltungsrechtlichen Regelungen hätten beispielsweise in einem Beratungsgesetz geregelt werden können, an das das Strafrecht (möglicherweise in bestimmten Fällen auch nur das Ordnungswidrigkeitenrecht) Sanktionen anknüpfen könnte.

250

Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

nenschutzgesetzes64 sowie zunehmend auch das Sexualstrafrecht 65 und das politische Strafrecht 66. Aufgabe des Strafrechts ist es demgegenüber nicht, die gesellschaftliche und staatliche Ordnung unmittelbar zu gestalten. Das Strafrecht setzt eine vorgegebene Rechts- und Sozialordnung vielmehr voraus. Spezifikum des Strafrechts ist nicht der Rechtsgüterschutz. Dieser wird durch die Gesamtheit des Rechts gewährleistet. Das Strafrecht verbietet unter Strafandrohung. Besinnt man sich auf diese eigentliche Aufgabe des Strafrechts, so läßt sich damit unschwer das hier skizzierte Verständnis der Strafrechtswidrigkeit verbinden: Die Strafrechtswidrigkeit entfällt danach nicht erst bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes. Primär fällt ihr die Aufgabe zu, Ausnahmesituationen zu charakterisieren, in denen das Strafrecht seinen Schutz, d.h. den Schutz durch Kriminalisierung und Bestrafung, zurückzieht. Das Argument fehlender Transparenz für die Bürger führt sich überdies selbst ad absurdum: Die Bürger müssen sich heute in einer völlig unüberschaubaren Verbotsmaterie zurechtfinden, in der oft nur Spezialisten entscheiden können, ob ein Verhalten nur Zivilunrecht, eine Ordnungswidrigkeit oder gar eine Straftat darstellt. Man denke nur an das Straßenverkehrsrecht etwa im Bereich des § 315 c StGB (Straßenverkehrsgefährdung), an das Lebensmittel- oder das Steuerrecht. Die Verbotsmaterie ist bei weitem nicht abschließend im Strafrecht geregelt. In Grenzbereichen wissen die Bürger schon lange nicht mehr, was verboten und was erlaubt ist. Es ist sehr fraglich, ob dies in einer zunehmend differenzierter und komplexer werdenden Gesellschaft, in der sich neuartige Entwicklungen mit immer neuen und schwereren Gefahrenpotentialen überstürzen, überhaupt noch möglich ist. Zunehmend werden deshalb auch in der Bundesrepublik etwa bei schwierigen Grenzziehungsfragen vor medizinischen Eingriffen Ethikkommissionen befragt. Die Bedeutung klarer, dazu noch allgemein gültiger Grenzen zwischen Verbot und Erlaubnis wird zum Mythos erhoben, entgegen aller Tatsachen und Erfahrungen in der Rechtspraxis.

64 Für alle berührten Rechtsgebiete, insbesondere das Familien-, das Sozial(versicherungs)- und das Gesundheitsrecht sind Regelungen zu treffen. Der Gesetzgeber darf sich nicht auf den strafrechtlichen Sektor beschränken; vgl. hierzu Günther, GA 1987, 440. 65 Von seinem gedanklichen Ansatz her positiv zu nennen ist in diesem Zusammenhang das von der Partei "Die Grünen" eingebrachte "Anti-Pornographiegesetz", das rein zivilrechtliche Instrumente zur Lösung dieses brisanten gesellschaftspolitischen Konfliktfeldes vorsieht. 66 Vgl. zuletzt das sog. "Artikelgesetz" vom 9.6.1989, BGBl. I 1989, 1059.

. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

251

6. Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen führten zu Anarchie und Chaos Gleichfalls fehl geht die Befürchtung Roxins 67, das (nur strafrechtliche) Erzieherprivileg führe "zwischen Lehrer und Schülern zu Prügeleien und noch viel Schlimmerem (bis hin zum Totschlag)". Roxin begründet dieses anarchische Szenario mit dem betroffenen Schülern zugebilligten Notwehrrecht. Aber die h.M. geht hier doch noch viel weiter. Aus dem gesetzlichen Verbot der Züchtigung schließt sie, daß dem Lehrer nicht einmal mehr ein strafrechtliches Privileg verbleibt. Dann aber steht dem Schüler erst recht ein Notwehrrecht zu. Diese Kritik ist ein Beispiel für fehlende folgenorientierte Überlegungen in der Strafrechtsdogmatik. Wesentlich effektiver und einschneidender als die strafrechtliche Sanktion treffen den Lehrer doch die disziplinarrechtlichen Folgen seiner Tat bis hin zum möglichen Verlust des Arbeitsplatzes. Einer zusätzlichen Drohung mit den Mitteln des Strafrechts bedarf es nicht. Dies zeigt auch die bisherige Praxis: Strafverfahren gegen Lehrer werden kaum je einmal bekannt, die meisten Fälle, sofern sie überhaupt zur Anzeige gelangen, werden informell geregelt. In diesem Sinne eröffnet die neue Lehre keine rechtsfreien , sondern - durchaus sachgerecht - strafrechtsfreie Räume. Ihr Verdienst ist es, das ultima-ratio-Prinzip des Strafrechts und damit eines der höchsten Prinzipien des liberalen Rechtsstaats auch auf der Ebene der Strafrechtswidrigkeit zu verteidigen. 7. Das Konzept der Folgenorientierung sei für das Strafrecht untauglich68 Diese Kritik bezieht sich auf das Argument Günthers™, die inhaltliche Bestimmung strafbedürftigen Verhaltens dürfe nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes erfolgen. Eine solch einseitige Orientierung würde zu einem exzessiven Rundumschutz des Rechtsguts durch das Strafrecht führen, der dessen fragmentarischen Charakter widerstritte. Nicht die Rechtsgutsverletzung bilde nämlich das Spezifikum des Verbrechens, sie konstituiere ja auch das zivilrechtliche Delikt und die öffentlichrechtliche Zuwiderhandlung. Die Lösung jedes strafrechtlichen Rechtfertigunsgproblems habe zu berücksichtigen, daß der Einsatz der Straftatfolgen in Frage stehe, daß es also nicht um schlichte rechtliche 67

Roxin, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, S. 255, der offenbar contra legem noch von einer gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsbefugnis ausgeht. 68 Vgl. etwa Hassemer, NJW 1984, 352. 69 Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 161 ff.

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Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

Mißbilligung, sondern um die schärfste Form rechtlicher Mißbilligung eines Verhaltens gehe. Der Verbrechensbegriff müsse deshalb folgenorientiert materialisiert werden. Bei den allgemeinen Anforderungen an das Verbrechen sei zu berücksichtigen, daß die Kriminalisierung und Bestrafung einer Rechtsgutsverletzung in Frage stehe. Auf diesem Hintergrund gebiete es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß ein entsprechend gewichtiger Normverstoß, eine besonders grobe, elementare, schwerwiegende Störung der sozialen Ordnung, nämlich strafwürdiges Unrecht vorliege, das sich durch seine Schwere, seinen Steigerungsgrad, quantitativ von nicht kriminellem Unrecht abhebe.70 Dabei geht es der Lehre von der Strafrechtswidrigkeit 71 - im Unterschied zu einem weitergehenden Konzept der Folgenorientierung 72 - nicht darum, alle mittelbaren wie unmittelbaren Rechts- und Realfolgen in die Rechtsfindung mit einzubeziehen. Berücksichtigt werden sollen lediglich die unmittelbaren gesetzlichen Rechtsfolgen (Strafe, Maßregeln der Besserung und Sicherung), die konditional mit den Verbrechensvoraussetzungen verknüpft sind. Dies gehört unstreitig zum Inhalt teleologischer Begriffsfindung und ist im Strafrecht auch für alle Verbrechensmerkmale anerkannt. Die Besonderheit der neuen Lehre liegt lediglich darin, daß sie diese teleologischen Erwägungen auf den Bereich der Strafrechtswidrigkeit erstreckt. 8. Die neue Lehre sei überflüssig, weil die problematischen Fälle mit dem Bagatellprinzip erfaßt werden könnten73 Lenckner räumt zwar ein, daß es bei minimalen Überschreitungen der Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes trotz Rechtswidrigkeit der Tat an strafwürdigem Unrecht fehlen könne, doch handele es sich dabei um das allgemeine Problem der Strafbarkeit von Bagatellunrecht.74 Das Bagatellprinzip hat sich auf der Ebene der Rechtswidrigkeit aber gerade nicht, im Tatbestandsbereich auch nur lückenhaft durchgesetzt. Von der Rechtsprechung wird es lediglich zur Auslegung einzelner Tatbestände bzw. Tatbestandsmerkmale75 (z.B. bei §§ 142 - Unfallflucht, 239 70 Dies gilt nach heutigem Verständnis insb. auch für das Verhältnis von Ordnungswidrigkeit und Straftat. Zum Meinungsstand vgl. Göhler, vor § 1 Rz 2 ff. 71 Vgl. Günther, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 372 f. 72 Dazu vgl. die Nachweise bei Günther, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 373, Fußnote 23. 73 So Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 32 ff. Rz 8; Weber, JZ 1984, 277. 74 Lenckner in Schönke/Schröder, vor § 32 ff. Rz 8. 75 Anders OLG Hamm, NJW 1980, 2537, das im Bagatellprinzip eine allgemeine tatbestandliche Auslegungsregel sieht; ebenso Ostendorf, GA 1982, 333 ff.

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

253

Freiheitsberaubung, 303 - Sachbeschädigung, 334 - Bestechung), und auch dort nicht durchgängig76 herangezogen. Die h.M. ist ja gerade nicht in der Lage, Bagatellunrecht im Bereich der Rechtswidrigkeit auszuscheiden77, denn auch geringfügiges Unrecht bleibe ja rechtswidrig. Die Lehre vom Strafunrechtsausschluß findet zudem keineswegs nur auf Geringfügigkeitsfälle im herkömmlichen Sinne Anwendung, sondern auch auf Tatbestandsverwirklichungen massiver Art. So hat Günther das Prinzip beispielsweise selbst für Tötungsdelikte fruchtbar gemacht78. Aber auch in den eingangs geschilderten Blockadefällen, wo, wie in Duisburg-Rheinhausen mehrfach geschehen, tausende von Arbeitern Fabriken oder Brücken besetzten und ganze Stadtteile vom Verkehr abriegelten, handelte es sich keineswegs um Bagatellfälle. Dennoch wurde hier von allen Verantwortlichen wegen der von den Demonstranten verfolgten Ziele (Aufmerksammachen auf drohende Massenarbeitslosigkeit) die Verwerflichkeit, d.h. die ftra/rechtswidrigkeit des Verhaltens verneint. 9. Die neue Lehre widerspreche gesetzlichen Wertungen im Bereich des Bagatellunrechts. Nach Auffassung Webers 79 würde die gesetzgeberische Entscheidung, Bagatellunrecht beispielsweise in den Fällen des Ladendiebstahls80 oder der Betriebskriminalität 81 zu bestrafen, unterlaufen, wenn dem Rechtsanwender gestattet würde, Strafwürdigkeitsgesichtspunkte bei der Rechtswidrigkeitsprüfung ins Spiel zu bringen. Dieser Einwand vermag nicht zu überzeugen. Straftatbestände stellen einen Verhaltenstypus unter Strafe. Auf der Ebene der Rechtswidrigkeit können Gegeninteressen, atypische Konstellationen dieses typisierte Unrecht im konkreten Fall wieder beseitigen. Gerade darin, daß sie eben ganz im Sinne der herkömmlichen Rechtswidrigkeitslehre - nur untypische Verhaltensweisen im konkreten Einzelfall berücksichtigt, unterscheidet sich die Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit von denen, die das Bagatellprinzip allgemein im Bereich der Rechtswidrigkeit berücksichtigen

76 So haben einzelne Gerichte z.B. Sachbeschädigung beim Abschneiden der Nummer auf einem Volkszählungsbogen angenommen, dessen Wert allenfalls wenige Pfennige beträgt; vgl. Kapitel 1 Fußnote 32. 77 Ausnahme: § 240 Abs. 2 StGB. 78 Günther, JR 1985, S. 268 ff.; ders., Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 381. 79 Weber, JZ 1984, 277. 80 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, 1974. 81 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz, 1975.

254

Kap. 10: Die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit

wollen. Gegen diese Ansicht mag der Einwand Webers in der Tat berechtigt sein. Im übrigen träfe Webers Einwand dann natürlich auch andere strafrechtsdogmatische Kategorien mit entkriminalisierender Tendenz wie vor allem die Lehre von der Sozialadäquanz und die Lehre vom erlaubten Risiko. 10. Einwände gegen einzelne Strafunrechtsausschließungsgründe Neben grundsätzlichen Einwänden gegenüber der neuen Lehre wendet sich die Kritik auch gegen deren Anwendung im Einzelfall. Problematisch ist dabei vor allem die Uminterpretation gesetzlich positivierter Rechtfertigungsgründe, nämlich der §§ 218 a, 193 StGB. Bedenken ergeben sich dabei einmal aus der Nähe dieser Regelungen zum rechtfertigenden Notstand, für den sie nach allgemeinen Verständnis nur Konkretisierungen im jeweiligen Regelungsbereich beinhalten82. Bedenken ergeben sich zum anderen aus den beiden Vorschriften selbst. § 193 StGB beinhaltet in seinem Kern eine einfachgesetzliche Konkretisierung von Art. 5 GG. Damit wird auch seine ausschließliche Anwendung auf Beleidigungsdelikte begründet. Konkretisierung, nicht nur Nähe zum Grundrecht bedeutet aber zwingend Rechtfertigung i.S. der Gesamtrechtsordnung. Der Widerspruch löst sich freilich auf: Soweit § 193 StGB lediglich Verfassungsrecht ins Strafrecht transformiert, liegt unzweifelhaft ein Erlaubnissatz, ein Rechtfertigungsgrund i.S. der Gesamtrechtsordnung vor. Erstreckt man aber mit einer verbreiteten Meinung83 die Wirkungen des § 193 StGB in den grundrechtsnahen Bereich, so beinhaltet § 193 StGB insoweit keinen Erlaubnissatz, sondern lediglich den Verzicht auf erhöhtes Strafunrecht. Das bedeutet: In einem Zwischenbereich ist das Verhalten zwar nicht strafbar, ein zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch besteht dennoch. Für die Beurteilung des Rechtscharakters von § 218 a StGB stehen der gesetzgeberische Wille und die dogmatischen Konsequenzen der jeweiligen Zuordnung im Vordergrund: Der Gesetzgeber hat gleichzeitig und seither immer wieder die Übernahme der Kosten eines indizierten Eingriffs durch die gesetzliche Krankenversicherung bestätigt. Günther M ist zwar recht zu

82 Auch Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 306 ff., bejaht ja bei § 34 StGB eine zwingende gesetzliche Wertung für eine Rechtfertigung. 83 Vgl. u.a. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 309 ff.; Lenckner in Schönke/Schröder, § 193 Rz 1; Rudolphi in SK-StGB, § 193 Rzl. 84 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 314 ff.

III. Die Kritik an der Lehre von der spezifischen Strafrechtswidrigkeit

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geben, daß die Wertungen im Straf- und im Sozialversicherungsrecht nicht zwingend parallel laufen müssen85. Aus der immer wieder bestätigten Parallelität der Regelungen kann dennoch der Schluß gezogen werden, daß die Indikation des § 218 a StGB auch rechtfertigend i.S. § 200 f RVO wirken sollte. Zudem erschiene es merkwürdig, würde man bei einem indizierten Schwangerschaftsabbruch ein Nothilferecht (auch gegenüber dem Arzt!) zulassen. Schließlich müßte bei einem Verständnis des § 218 a StGB nur als Strafunrechtsausschließungsgrund die Polizei jeden Eingriff unterbinden, da der Eingriff ja rechtswidrig bliebe. Dies hat der Gesetzgeber aber mit Sicherheit nicht gewollt. Die Kritik im Detail, am Ergebnis einer einzelnen Wertung, stellt jedoch nicht die Konstruktion an sich in Frage. Wegen des dogmatischen Streits um die Einordnung des Nötigungsnotstandes wird auch niemand die Existenz des Notstandsrecht bezweifeln. Der eigentliche, innovative Anwendungsbereich der neuen Lehre liegt ohnehin im Bereich der praeter legem gebildeten Rechtfertigungsgründe, wo sich die Lehre durchgängig bewährt und einer rechtsstaatlichen Begrenzung der Strafbarkeit Wege bahnt.

85 So könnte man die Krankenkassenfinanzierung durchaus entfallen lassen, freilich mit allen damit unweigerlich verbundenen sozialpolitischen Konsequenzen.

Kapitel 11

Der Ausschluß strafrechtlichen Unrechts bei politisch zielgerichtetem Handeln I. Strafunrechtsausschluß bei notstandsähnlicher Lage 1. Einführung Wurde soeben1 festgestellt, daß strafrechtlicher Unrechtsausschluß nicht denknotwendig mit einem Eingriffsrecht i.S. der Gesamtrechtsordnung gleichzusetzen ist, bleibt nunmehr Raum, nach strafrechtsspezifischen Kriterien zu suchen, die zumindest eine Entkriminalisierung politisch zielgerichteten Verhaltens erlauben. Wie oben dargelegt2, wird die Konfliktlage in den beschriebenen Fällen politischen Protests in hohem Maße durch eine Interessenkollision gekennzeichnet, wie sie auch für den Notstand charakteristisch ist. Das Notwehrrecht dagegen ist wegen des nahezu völligen Fehlens normativer Einschränkungen wenig geeignet, Ansatzpunkt für eine Konfliktlösung in diesem Bereich zu sein3. Hinzu kommt, daß die Entwicklung eines Strafunrechtsausschliessungsgrundes im Wege der Gesetzesanalogie zu § 32 StGB daran scheitert, daß der Rechtsbewährungsgedanke für das Notwehrrecht konstitutiv ist4. Für den Ausschluß erhöhten strafrechtlichen Unrechts bietet sich dementsprechend der von Günther 5 entwickelte, praeter legem gebildete Strafunrechtsausschließungsgrund der notstandsähnlichen Lage als Lösungsweg an6. Gerade in Fällen politischen Protests tritt typischerweise eine Span1

Kapitel 10. Kapitel 8, II. 3 Vgl. Kapitel 8,1 8 a.E. 4 Hierzu: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 326. 5 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 326 ff. 6 Auf Notstandskriterien im Rahmen des Strafunrechtsausschlusses bei § 240 Abs. 2 StGB stellen ebenfalls ab: Rärin, JuS 1964, 373 ff.; Tiedemann, JZ 1969, 717 (721 ff.), sowie diejenigen, die das Prinzip der Wahrnehmung berechtigter Interessen auf andere Tatbestände ausdehnen wollen, 2

I. Strafunrechtsausschluß bei notstandshnlicher Lage

257

nungslage ein, die für diesen spezifisch strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund charakteristisch 7, für die herrschende Strafrechtsdoktrin jedoch unauflösbar ist: Einerseits erscheint mit Blick auf den Täter eine Mißbilligung der Tat sogar durch das Strafrecht als überzogen8. Andererseits scheitert die rechtliche Billigung aus übergeordneten Gesichtspunkten: wegen der Ausgestaltung als Eingriffsrecht in Rechte Dritter und den damit verbundenen weitreichenden Konsequenzen für die Rechtsordnung im ganzen9. Die notstandsähnliche Lage ist ein offener, bisher nicht abschließend konturierter Strafunrechtsausschließungsgrund. Strafunrechtsausschluß ist überall da zu erwägen, wo Einschränkungen des rechtfertigenden Notstands mit dessen Charakter als Eingriffsrecht in Rechte Dritter oder im Hinblick auf negative Folgen für die Rechtsordnung im ganzen begründet wurden. Wo aber liegen solche Hindernisse, die einer Rechtfertigung nach § 34 StGB entgegenstehen? "Schwachpunkte11 bilden insbesondere - der Nachweis einer notstandsrelevanten Gefahr 10, - der Vorrang staatlicher Maßnahmen der Gefahrenabwehr 11 sowie - normative Einschränkungen bei der Interessenabwägung, nach der das Mehrheitsprinzip, rechtsstaatliche Verfahren der Konfliktlösung und die Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen zu beachten sind12. 2. Gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut 2.1. NotstandsfShiges Rechtsgut Voraussetzung für Strafunrechtsausschluß ist ebenso wie bei einer Rechtfertigung nach § 34 StGB, daß Aktionen politischen Protests Ziele und Interessen zum Gegenstand haben, die notstandsfähige Schutzgüter

vgl. etwa Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 20 f., 46 ff., 68. Für Strafiinrechtsausschließungsgründe muß aber ein anderer Abwägungsmaßstab gelten! 7 Hierzu: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 331 u. 342; zur vergleichbaren Situation beim elterlichen Züchtigungsrecht: Verf., JZ 1988, 617 ff. 8 Vgl. hierzu Kapitel 9. 9 Vgl. Kapitel 8, II. 10 Vgl. Kapitel 8, II 3 und 4. 11 S.o. Kapitel 8, II 5. 12 Vgl. Kapitel 8, II 6. 17 Reichert-Hammer

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Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

verkörpern 13. Dies ist, wie schon ausführlich erörtert 14, im Bereich der bisher beschriebenen Aktionen kaum problematisch. 2.2. Schwierigkeiten beim Nachweis einer notstandsrelevanten Gefahr Schwieriger ist dagegen in einigen Fällen der Nachweis einer konkreten Gefahr für das jeweilige Schutzgut. Dies hat zwei Gründe 15: (1) Bei § 34 StGB wird an die Gefahrprognose ein strenger Maßstab angelegt: Maßgeblich ist das Beurteilungsvermögen eines sachkundigen Beobachters, der über das Spezialwissen des Täters verfügt. Grund für diesen strengen, objektivierenden Maßstab ist der Charakter des § 34 StGB als Eingriffsrecht: Ein Irrtum über das Vorliegen einer Gefahr oder eine falsche Gefahreinschätzung rechtfertigen nicht, daß Dritten eine Duldungspflicht auferlegt wird. (2) In vielen politisch umstrittenen Bereichen fehlt es an gesichertem menschlichen Erfahrungswissen für eine Gefahrprognose. Anerkannte Wissenschaftler vertreten konträre Meinungen. Hier sind die Bürger von der Gefahreinschätzung durch die Gerichte abhängig, also davon, welcher gutachterlichen Meinung sie sich anschließen bzw. welche Auffassung sie aus eigener Sachkunde vertreten. Mit Blick auf den Rechtsfrieden ist diese Entscheidung maßgebend, soweit es um die Rechtfertigung des Verhaltens geht, wobei allerdings zu beachten ist, daß um so geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen sind, je höher das geschützte Rechtsgut zu veranschlagen ist. Beide Gründe können dazu führen, daß die Strafgerichte eine notstandsrelevante Gefahr für ein Rechtsgut nicht anerkennen und eine mögliche Rechtfertigung des Verhaltens schon aus diesem Grunde scheitert. Damit aber nicht genug: Der Ausweg über Irrtumsregeln führt nicht weiter, da den Handelnden bekannt ist, daß Regierung, Verwaltung und möglicherweise auch die Verwaltungsgerichte von einer anderen Gefahrprognose ausgehen16. Keine Lösung bietet auch der entschuldigende Notstand, denn dort werden keinesfalls geringere Anforderungen an den Gefahrbegriff gestellt. Der Bürger trägt deshalb das Risiko für seine abweichende Ge13

Vgl. hierzu Kapitel 8, II 1. Kapitel 8, II 2. 15 Ausführlich hierzu: Kapitel 8, II 3 und 4. Siehe auch Kapitel 8,1 2. 16 Falls hier vor allem in der Rspr. Divergenzen hinsichtlich der Gefahrbeurteilung auftreten, können Irrtumsregeln u.U. allerdings doch zum Zug kommen. 14

I. Strafunrechtsausschluß bei notstandshnlicher Lage

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fahreinschätzung und bezahlt - nach herkömmlicher Doktrin - sein gesellschaftliches Engagement mit seiner Kriminalisierung. 23. Besondere Problemstellung im Strafrecht Dies ist aus mehreren Gründen unbefriedigend: a) Zum einen weisen Gefahreinschätzungen durch Behörden Mängel, aber auch strukturelle Unterschiede zum Strafrecht auf. Mängel ergeben sich daraus, daß Behörden oft keine unabhängigen Kontrollinstanzen darstellen, sondern selbst bestimmte Interessen vertreten oder an politische Vorgaben gebunden sind. Regierungen, Verwaltungen und Gesetzgeber reagieren zudem zwangsläufig nur mit großer Verzögerung auf neue Gefahrpotentiale, die von Forschung und Industrie mit immer größerem Tempo auf immer zahlreicheren Gebieten geschaffen werden (z.B.: Gentechnologie, Datenverarbeitung, neue Informationstechnologien)17. Strukturelle Unterschiede bestehen deshalb, weil an staatliche Eingriffe in einem demokratischen Rechtsstaat strenge Maßstäbe anzulegen sind:18 Besteht keine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage, so richtet sich die Zulässigkeit staatlichen Einschreitens nach der polizeilichen Generalklausel. Die Prognose, daß sich aus einer Sachlage ein Schaden entwickeln kann, wird im Polizeirecht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungssätze getroffen. Der Maßstab ist also vergleichbar mit dem, der auch für eine Rechtfertigung privater Gefahrenabwehr nach § 34 StGB angelegt wird. Ebenso wie dort schwanken die Anforderungen, die an das Maß der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen sind, mit der Größe des zu erwartenden Schadens einerseits sowie der Stärke des Eingriffs in Rechtspositionen der Bürger andererseits. Wie aber verhält es sich in den dargestellten, problematischen Fällen? Begrifflich unterschieden werden im Polizeirecht Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht. Von Anscheinsgefahr wird gesprochen, wenn das Vorliegen von Tatsachen bei sachverständiger Würdigung und hinreichender Sachverhaltsaufklärung den Schluß auf eine mögliche Gefahr zuläßt, diese Gefahr objektiv aber nicht bestand bzw. nicht nachgewiesen werden kann.

17

Hierzu im einzelnen schon oben Kapitel 8, II 5 b (2). Ausführlich zum folgenden: Götz, Polizeirecht, § 7 (Rz 115 ff.); Reichert/Röber, Polizeirecht, Rz 172 ff. 18

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Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

Die h.M. erblickt in der Anscheinsgefahr eine Gefahr i.S. des Polizeirechts und läßt -im Gegensatz zur bloßen Scheingefahr 19 - Eingriffe zu. Gefahrenverdacht wird durch eine im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung unklare Sachlage hervorgerufen. Hier kommt die Behörde bei verständiger Würdigung eines Sachverhalts zu dem Ergebnis, daß Anhaltspunkte für eine Gefahr vorliegen, daß aber gleichzeitig auch Zweifel am Vorhandensein einer Gefahr bestehen. Die Generalermächtigung deckt in diesen Fällen nur einen sog. "Gefahrerforschungseingriff". Bei hinreichendem Verdacht muß der Eigentümer etwa Untersuchungsmaßnahmen (z.B. Probebohrungen) auf seinem Grundstück dulden. Weitergehende Eingriffsermächtigungen zum Schutz hochrangiger Rechtsgüter können sich aus Spezialgesetzen ergeben (z.B. Bundesseuchengesetz). Das bisher Gesagte betrifft die Fälle, in denen sich die Zweifel aus der Sachlage ergeben (Befindet sich Öl im Boden oder nicht?). Problematischer sind aber die Fälle, wo (auch) der Erfahrungssatz, auf dem der Gefährlichkeitsschluß beruht, nicht gesichert ist. In diesem Fall sind Maßnahmen aufgrund der allgemeinen Gefahrenabwehrermächtigung nicht zulässig. Eine Gefahr bzw. eine Gefahrursache muß erst mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen sein, ehe Eingriffe legitimierbar sind, wobei allerdings ausreicht, daß soviel an Erkenntnissen vorliegt, daß mehr für die Schädlichkeit als gegen sie spricht. Spricht der Staat mit seiner großen Autorität etwa voreilig eine Warnung vor bestimmten Produkten aus, so kann dies zu nachhaltigen, in Extremfällen sogar ruinösen Folgen für Wirtschaftsunternehmen führen (Fall Birkel 20 ). Ein genügender Gefahrnachweis ist bei neuartigen Gefahren der Technik aber oft ungeheuer langwierig und schwierig. Dann kann grundsätzlich nur mit den Mitteln der Spezialgesetzgebung eingeschritten werden. Diese Gesetzgebung kann, wie etwa im Arzneiund Lebensmittelrecht, mit dem Mittel des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt arbeiten und dabei die behördliche "Freigabe11 von Stoffen daran knüpfen, daß der Verdacht ausgeräumt ist (Umkehr der Beweislast). Solche Möglichkeiten bestehen aber nur vereinzelt. Im Umweltrecht scheitert eine Ausschöpfung rechtlicher Möglichkeiten zudem oft an wirtschaftlichen Erwägungen. Bei neuartigen Gefahren fehlen gesetzliche Regeln oft 19 Wo keine Tatsachen vorliegen, die bei sachverständiger Würdigung den Schluß auf eine mögliche Gefahr zulassen. 20 Der Nudelhersteller Birkel macht gegen die Landesregierung von Baden-Württemberg eine Schadensersatzforderung in Höhe von 43 Mio. DM geltend, weil diese - nach Auffassung der Firma Birkel - zu Unrecht vor dem Verzehr von Produkten dieser Firma aus Anlaß des sog. Flüssigeiskandals warnte.

I. Strafunrechtsausschluß bei notstandshnlicher Lage

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zur Gänze (Gentechnologie und Reproduktionsmedizin). Im Gesetzgebungsverfahren sind zudem viele Interessen gegeneinander abzuwägen (etwa internationaler Konkurrenzdruck bei der Gentechnologie) und eine große Zahl sehr unterschiedlicher Gefahren und Folgen für die Gesellschaft im ganzen zu bedenken (Technologiefolgenabschätzung). 21 Der Staat sieht sich also oftmals durch mannigfaltige Interessen gehindert, gegen Gefahren einzuschreiten. Er benötigt aber auch sehr viel Zeit, bis er Gefahren nachweisen und gegen sie in einer Weise vorgehen kann, die rechtsstaatlichen Anforderungen genügt. Dies ist das eine. b) Zum anderen ist eine moderne, demokratische Gesellschaft auf kritische Bürger angewiesen, gerade weil der Staat diese Zeit benötigt und gar nicht - es sei denn um den Preis totaler Überwachung - in der Lage ist, alle neuen Gefahrenpotentiale von sich aus zu entdecken. Gegenläufige politische Vorgaben, staatliche Bürokratie, Motivationslosigkeit und Kompetenzgewirr verschärfen das Problem. Oft sind Gefahren bzw. Gefahrursachen aber auch sichtbar, lange bevor sie wissenschaftlich endgültig nachgewiesen werden können (FCKW für Ozonloch, Stickoxyde für Waldsterben). Private sind vielfach besser und schneller in der Lage, neuartige Gefahren zu entdecken und auf diese hinzuweisen als der Staat. Diese unverzichtbare Wachsamkeit und der Druck der Bevölkerung haben dazu geführt, daß eine Fülle gravierender Rechtsverstöße aufgedeckt werden konnte (vgl. etwa Transnuklear-Skandal). Sie sind unersetzliche Grundlage für sog. "Aufdeckungsjournalismus" und sind auch wesentlich mitursächlich dafür, daß die Bundesrepublik im internationalen Vergleich eine strenge Gesetzgebung gegenüber Gefahren moderner Technik vorweisen kann. Beispiele hierfür sind das Umwelt- und das Datenschutzrecht22. Bürgerproteste haben z.B. auch eine Vielzahl zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen bei Atomkraftwerken erwirkt, die - jedenfalls bei neueren Baulinien einen erheblich höheren Sicherheitsstandard aufweisen als entsprechende Anlagen im Ostblock, wo ähnlich starke Protestbewegungen - bisher jedenfalls - nicht existierten. Ähnliches gilt - wohl bisher einmalig auf der Welt - für die intensiven Bemühungen um eine rechtliche Regelung der Gentechnologie23. Diese Aufzählung zeigt auch, daß sich das Problem unterschiedlicher Gefahreinschätzungen bezogen auf einzelne Gefahren mit der Zeit relativiert. Vielfach übernehmen Gesetzgeber und Verwal-

21

Vgl. hierzu auch: Verf. in Beckmann/fetel/Leipold/Reichert, S. 71 ff. Z.B. Berstschutz gegen Flugzeugabstürze. 23 Damit soll keineswegs gesagt werden, daß die bisherigen Bemühungen in den genannten Bereichen ausreichen! 22

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Kap. 11: Strafiinrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

tung, oft auch die Gerichte in einer Vorreiterrolle 24, Ängste und Befürchtungen der Bevölkerung, die sich als reale Gefahren erwiesen haben. Selbst in so "umkämpften" Politikfeldern wie dem der Nutzung der Atomenergie, kommt es allmählich zu einer Annäherung der Positionen25. Dieser gesellschaftlich wichtige Interaktionsprozeß zwischen Protestbewegungen und politischen Entscheidungsträgern sollte nicht geknebelt, sondern vornherein in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Es geht darum, Bürger, die in unserer modernen Gesellschaft eine notwendige und wichtige "Wachfunktion" übernehmen, vor Kriminalisierung zu bewahren. Dabei ist zu bedenken: Jede Einschränkung des Gefahrbegriffs geht unweigerlich auf Kosten der Rettungschancen meist hochrangiger Rechtsgüter, für die sich die genannten Protestbewegungen einsetzen26. c) Schließlich legt auch die Subjektivität richterlicher Gefahreinschätzung27 eher Vorsicht bei übersteigerten Anforderungen an die Gefahrprognose und damit tendenziell den Verzicht auf das Strafrecht nahe. Ein anschauliches Beispiel hierfür gibt BaumannWer vor 30 Jahren durch eine spektakuläre Aktion (z.B. eine kurze Sitzblockade) vor einem "Kohlekraftwerk schlimmster Art" die Öffentlichkeit für das Problem des Waldsterbens hätte wachrütteln wollen, dessen Befürchtungen hätte damals wohl kaum ein Gericht ernst genommen. Um so wichtiger wäre eine solche Aktion aber schon damals gewesen. d) Zu bedenken ist endlich, daß gerade bei Gefährdung von Individualrechtsgütern ein wissenschaftlicher Nachweis oft Jahrzehnte dauern kann. Für den wissenschaftlich, d.h. statistisch mit einer repräsentativen Probandengruppe gesicherten Nachweis der karzinogenen Wirkung eines Stoffes ist i.d.R. eine Langzeituntersuchung erforderlich. Gelingt der Nachweis, ist es für die Betroffenen, die einer entsprechenden Belastung ausgesetzt waren, längst zu spät (Bsp.: Asbest, radioaktive Strahlung).

24

Vgl. exemplarisch BVerfGE 65, 1 ff. - Volkszahlung 1983. Bei einer Spiegelumfrage im Februar 1989 (vgl. Spiegel Nr. 9/89, S. 53) sprachen sich 79 % der Befragten für eine Stillegung der bestehenden Atomkraftwerke aus, nur noch 11 % befürworteten den Bau neuer Anlagen. In der Politik geht es entsprechend nur noch um die Frage, in welchem Tempo ein "Ausstieg" realisiert werden kann. Großprojekte wie Kalkar und Hamm stehen vor dem Aus. 26 So auch Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 100. 27 Siehe hierzu oben Kapitel 8, II 6.3. 28 Baumann, NJW 1987, 36 (37). 25

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2.4. Gefahrbegriff bei notstandsähnlicher Lage Geht es also nicht um Rechtfertigung, sondern nur um Strafunrechtsausschluß - steht Dritten sowie dem Staat also ein Abwehrrecht zur Verfügung - so ist der Weg frei, einen weniger strengen Maßstab an die Gefahrprognose anzulegen: Ein Tatsachenirrtum i.S. § 16 StGB liegt wie festgestellt nicht vor, doch bestehen im Unrechtscharakter gleichfalls Parallelen zur Fahrlässigkeitstat, die methodische Parallelen zur Maßstabsbestimmung zulassen29. Während der Täter beim Erlaubnistatbestandsirrtum irrig Umstände annimmt, die die Tat als gerechtfertigt erscheinen lassen, haben wir es hier mit einer offen abweichenden Gefahrprognose zu tun. Für den sich wehrenden Bürger ist die Gefahr real. Der Vorwurf, der ihm gemacht werden kann, ist zunächst der, daß er die Gefahr anders beurteilt als die zuständigen staatlichen Organe. Solange der Bürger sich nur anders entscheidet als die Verwaltung, hat sein Handeln eher den Charakter eines Ordnungsverstoßes, von Verwaltungsungehorsam. Behörden und Gerichte können irren, wie sich vielfach in der Vergangenheit erwies. Als Beispiel mag die Gefahrprognose für Flugtage gelten: Hätte jemand in Ramstein die Treibstoffzufuhr der Flugzeuge durchschnitten, hätte er den Tod von 62 Menschen verhindern können. Verteidigungsministerium und Gerichte hatten entsprechende Gefahren nicht erkannt. Die Tat wäre also rechtswidrig gewesen. Sollte man einen Bürger aber dafür bestrafen, daß er Gefahren besser einschätzte als die Verantwortlichen? Ein strafrechtlicher Vorwurf kann dem Täter nur dann gemacht werden, wenn er sich sorgfaltswidrig verhalten hat. Dies wirft die Frage nach dem Sorgfaltsmaßstab auf. Dabei ist zu bedenken, daß kein Bürger mit Höchstwissen ausgestattet ist. Ihm stehen z.B. keine geheimen Unterlagen zur Verfügung. Das Strafrecht knüpft Sanktionen aber nirgendwo an Höchstwissen, an Sorgfaltsanforderungen also, deren Erfüllung niemandem, nicht einmal einem durchschnittlichen Sachverständigen möglich ist. Bürger sind gewöhnlich aber auch außerstande, sich zwischen zwei wissenschaftlich vertretenen Meinungen fachkundig zu entscheiden. Erschwert wird die Meinungsbildung zusätzlich durch eine oft schleppende und ungenügende staatliche Informationspolitik, die, statt Vertrauen zu bilden, Mißtrauen schürt. Gerade bei politisch besonders umstrittenen Auseinandersetzungen neigt der Staat dazu, statt durch frühzeitige und rückhaltlose 29 Hierauf verweisen ausdrücklich: Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 101; Armin Kaufmann, Welzel-Festschrift, S. 393 (402), Fußn.26.

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Information Akzeptanz für ein Vorhaben zu schaffen, uninformierte Bürger zu überfahren. Nichts hat beispielsweise die Bewohner der Oberpfalz mehr geärgert als die Äußerung des damaligen bayrischen Justizministers Lang, daß die Wiederaufarbeitungsanlage, wenn nicht in der Oberpfalz, dann nirgends gebaut werden könne. Zu Recht empfanden sie dies als Herabsetzung, fühlten sie sich für dumm verkauft. Der Staat kann von seinen Bürgern aber nicht einen Informationsstand verlangen, den er sich selbst weigert, zu vermitteln. Er kann vom einzelnen Bürger zudem nicht mehr verlangen als das, wozu er selbst in der Lage ist: Abgeordnete im Parlament sind ebenso wie Richter fast ausnahmslos Laien auf dem jeweiligen, politisch umstrittenen Sachgebiet und können deshalb - ähnlich wie die Bürger - nur auf das Urteil von Sachverständigen vertrauen. Auch der Maßstab des sachkundigen Beobachters erscheint deshalb hinsichtlich einer strafrechtlichen Sanktionierung als überzogen. Deshalb läßt eine im Vordringen begriffenen Lehre 30 schon hinsichtlich der Gefahrprognose bei § 34 StGB das objektive Urteil eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden aureichen. Dies wurde mit der h.M. für die Rechtfertigung des Verhaltens abgelehnt31. Soweit es aber um den Ausschluß strafrechtlichen Unrechts geht, verdient diese Lehre Zustimmung. Unterschiedliche Funktionen - dort Eingriffsrecht (auch des Staates32), hier strafrechtsspezifischer Unrechtsausschluß machen unterschiedliche Maßstäbe für die Gefahrbeurteilung möglich, ja sogar zwingend33. Für die Frage strafrechtlicher Vorwerfbarkeit ist allein eine Orientierung an der vom Verkehrskreis erwarteten Leistungsfähigkeit angemessen. Übertragen auf den hier in Frage stehenden Bereich bedeutet dies: Maßstab für erhöhtes strafrechtliches Unrecht ist, ob ein verständiger Bürger aus dem Verkehrskreis aufgrund aller ihm zugänglichen Informationen damit rechnen konnte, daß eine Gefahr vorliegt. Dies wird i.d.R. dann zu bejahen sein, wenn konkrete, überprüfbare Anhaltspunkte für das Bestehen einer Gefahr vorliegen, oder wenn eine wissenschaftlich vertret-

30 Schaffctein, Bruns-Festschrift, S. 98 ff, Dornseifer, JUS 1982,761 (763 f.); Maurach/Zipf, AT/1, § 27 III 3, Rz 15. 31 Dieser Lehre wird zu Recht vorgeworfen, daß sie strafrechtsspezifische Erwägungen auf die Ebene eines Eingriffsrechts überträgt. 32 Dies jedenfalls nach h.M. im Strafrecht, hierzu s.o. Kapitel 8, II 10. 33 Zur Notwendigkeit unterschiedlicher Anforderungen bei unterschiedlichen rechtlichen Funktionen: Blei, AT, § 44 III 3; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 14.

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bare Anschauung die Gefahrbeurteilung teilt. Dabei sind um so geringere Anforderungen an die Gefahrbeurteilung zu stellen, je mehr Informationen von staatlicher Seite zurückgehalten werden 34. Zu klären bleibt die Frage, welcher Verkehrskreis zur Beurteilung herangezogen werden soll. Teilweise werden Aktionen von Berufsgruppen oder abgrenzbaren Teilen der Bevölkerung veranstaltet (Ärzte gegen den Atomkrieg, Richter-, Seniorinnen-, Musikerblokkade). Man könnte deshalb auf die Idee kommen, jeweils auf diese Berufsgruppen abzustellen. Doch handelt es sich hierbei um Ausnahmen, die meisten Aktionen werden von einem heterogenen Querschnitt aus der Bevölkerung durchgeführt. Auch kommt es auf das jeweilige Fachwissen der oben beispielhaft aufgezählten Berufsgruppen meist gar nicht an. Soll deshalb auf die jeweilige "Bewegung" abgestellt werden, Verkehrskreis also die Friedensbewegung, die Ökologiebewegung etc. sein? Auch das hilft nicht viel weiter. Allen Aktionen ist nämlich gemeinsam, daß sich Bürger, die sich für eine bestimmte Frage besonders interessieren oder von einem Problem gemeinsam betroffen sind, als Laien engagieren. Maßstab kann deshalb nicht ein Fachmann, sondern nur ein im jeweiligen Sachgebiet überdurchschnittlich informierter Laie sein. Ergeben sich für einen Laien nach gründlicher Information 35 über die umstrittene Frage begründete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Rechtsgutsgefährdung, so reicht diese Gefahrprognose aus, um eine notstandsähnliche Lage anzunehmen. Warum ein überdurchschnittlich informierter Laie? Bleibt genug Zeit, so kann erwartet werden, daß sich jemand, der in Rechte Dritter eingreift, zuvor umfassend aus allgemein zugänglichen, zumindest populärwissenschaftlichen Quellen informiert. Dies ist freilich nicht zu verwechseln mit einer Prüfungspflicht im Einzelfall, wie sie die Rechtsprechung bei § 34 StGB früher verlangt hat. Strafunrechtsausschluß ist anzunehmen, wenn ein überdurchschnittlich informierter Laie zu einer entsprechenden Gefahrprognose gelangen durfte, unabhängig davon, ob der einzelne eine entsprechende Prüfung vorgenommen und sich ausreichend informiert hat36.

34 35 36

S.o. Kapitel 8, II 3. Auch Art. 5 GG gibt kein Recht auf Information. Diese wird auch gefordert von Tiedemann, JZ 1969, 717 (722). Vgl. Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 103; Lenckner in Schönke/Schröder, § 34 Rz 49.

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Sonderwissen und Sonderfähigkeiten - auch hier in Parallelität zum Fahrlässigkeitsunrecht 37 - sind einzusetzen. Eine Organisation wie Greenpeace, der hochqualifizierte Wissenschaftler mit eigenen Untersuchungslabors auf ihren Schiffen zur Verfügung stehen, muß diese Möglichkeiten ausschöpfen, um z.B. die Gefährlichkeit einer Gewässereinleitung zu untersuchen. Für die notstandsähnliche Lage gilt somit: Maßgebend für die Gefahrbeurteilung ist das objektive Urteil eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden, im besonderen Fall das eines in dem jeweiligen Sachgebiet überdurchschnittlich informierten Laien, der über die speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Täters verfügt. Auch hier gilt wie beim Notstand: Je höher das zu schützende Interesse zu veranschlagen ist, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen. Umgekehrt gilt selbstverständlich analog zur staatlichen Eingriffsbefugnis: Je schwerwiegender der Eingriff, um so sicherer muß die Gefahrbeurteilung ausfallen. Wir haben es also mit einer doppelten Relativierung des Gefahrurteils zu tun 38 , zum einen hinsichtlich besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten, zum anderen aufgrund der Koordinaten Wert des schützenden Interesses / Schwere des Eingriffs. 2.5. Gegenwärtigkeit der Gefahr Bezüglich der Gegenwärtigkeit der Gefahr gilt das oben zum Notstand Gesagte39. Eine Dauergefahr ist allerdings schon dann anzunehmen, wenn eine Gefahr zwar erst nach Vollendung einer Maßnahme droht, durch deren Durchführung aber bereits vollendete Tatsachen geschaffen werden. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn durch die Milliarden verschlingende Realisierung eines Vorhabens (Bau einer umweltgefährdenden Anlage; Planung, Bau und Erprobung neuer Raketen) ökonomische Sachzwänge geschaffen werden, die später eine Entscheidung zugunsten des zu schützenden Rechtsgut vereiteln oder jedenfalls die Abwägung zu Gunsten einer Gefahrhinnahme beeinflussen. Auch hier nämlich ist die Zwangslage,

37 Dort hinsichtlich Spezialkenntnissen unstreitig, vgl. BGHSt 14, 52 (54); BGH JZ 1987, 877 mit zust. Anm. Giesen JZ 1987, 879; Wessels, AT, § 15 II, 3b; Hirsch, ZStW 94, 239 (274); Welzel, Lehrbuch, S. 132; Jescheck, AT, S. 522. Ebenso Wolter, GA 1977, 257, (269) m.w.N. in FN 115. Streitig ist dagegen die Berücksichtigung von Sonderfähigkeiten, vgl. umfassend zum Meinungsstand: Cramer in Schönke/Schröder § 15 Rz 133, 138 ff.; Schroeder in LK, § 16 Rz 147. Diejenigen, die eine Berücksichtigung besonderer Fähigkeiten des Täters ablehnen, grenzen den maßgeblichen Verkehrskreis entsprechend ein, vgl. statt vieler: BGH JZ 1987, 877 (879); Wolter, aaO, S. 269 ff. 38 Vgl. auch Schaffstein, Bruns-Festschrift, S. 102 f. 39 Kapitel 8, II 4.

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entweder zu handeln oder den drohenden Schaden hinzunehmen, eine gegenwärtige. 3. Erforderlichkeit Die Erforderlichkeit der Gefahrabwendungshandlung ist bei notstandsähnlicher Lage zunächst überall dort zu bejahen, wo sie auch beim Notstand angenommen wurde. An der Erforderlichkeit kann es bei § 34 StGB - wie gesehen40 - jedoch insbesondere dann fehlen, wenn Rechtsschutzmöglichkeiten noch offen stehen. Nicht überall, wo Bürger rechtliche Möglichkeiten nicht bis zum Äußersten ausschöpfen, ist ein Verhalten aber sogleich staz/bedürftig. Die Pufferfunktion, die die notstandsähnliche Lage zwischen Rechtmäßigkeit und Kriminalisierung ausfüllt, verhindert einerseits, daß das staatliche Gewaltmonopol durch ausufernde Selbstverteidigung (etwa Selbstjustiz und Bürgerwehr) ausgehöhlt wird, ermöglicht es aber andererseits, den Bereich notwendiger Kriminalisierung einzuschränken41. Geht es nicht darum, den Staat vor Bürgerwehren und Chaos zu schützen, verbleibt dem Staat also die Möglichkeit, entsprechendes Handeln zu unterbinden, ist der Weg frei, auch geringere Anforderungen an die Erforderlichkeit zu stellen. Hierfür besteht im Bereich auch heftig geführter politischer Auseinandersetzungen besonderer Bedarf. a) Symbolische Aktionen 42 Dies gilt zunächst für - zumeist symbolische - Aktionen, mit denen auf einen gravierenden Mißstand bzw. eine Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut aufmerksam gemacht werden soll. Solche Aktionen stellen nicht das staatliche Gewaltmonopol in Frage, sondern bedeuten lediglich eine "ernsthafte Pflichtenmahnung" an die für die Gefahr Verantwortlichen bzw. an die politischen Entscheidungsträger: "Nur so (durch spektakuläre Aktionen) werden für die Allgemeinheit uninteressante Auffassungen und Ziele dann schließlich, auch via Presse, doch 'interessant' berichtet, und damit zur Wahrnehmung gebracht und evtl. diskutiert" 43. Die Geeignetheit solcher Aktionen, Einfluß auf den demokratischen Willensbildungsprozeß zu nehmen und dadurch zur Gefahrenabwehr beizutragen, wurde bereits ausführlich erörtert 44. Erforderlichkeit unter dem Gesichtspunkt der not-

40 41 42 43 44

Vgl. Kapitel 8, II 5 c. Hierzu: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 343. Vgl. auch Kapitel 12, II 2 a und b. Baumann, NJW 1988, 36 (37). S.o. Kapitel 8, II 5 a.

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standsähnlichen Lage kann hier schon dann angenommen werden, wenn Behörden, Regierung und Gesetzgeber trotz Aufforderung untätig bleiben. b) Widerstand

gegen Großprojekte

Ein anderer Bereich, wo es notwendig sein kann, bei notstandsähnlicher Lage geringere Anforderungen an die Erforderlichkeit zu stellen, ist der Widerstand gegen Großprojekte. Im Vordergrund steht hier ein ganz praktisches Problem: die Finanzierung. Schon die Klage gegen einen Planfeststellungsbeschluß über einen kurzen Streckenabschnitt einer Bundesstraße verschlingt allein Anwaltskosten in Höhe von mindestens 50.000 D M pro Kläger und Instanz45. Da die Verwaltungen Verfahren i.d.R. durch alle Instanzen ziehen, zusätzlich durch die Anordnung sofortiger Vollziehbarkeit auch noch einstweiliger Rechtschutz erforderlich wird, belaufen sich allein die Anwaltskosten schon bei kleineren Vorhaben i.d.R. auf einen sechsstelligen Betrag (für jeden Kläger). Der Ausbau des Rechtstaats, hier insbesondere erweiterte Verfahrensrechte (z.B. Einwendungen und Erörterungstermin im Anhörungsverfahren 46) hat paradoxerweise dazu geführt, daß die Wahrnehmung eigener Rechte noch teurer geworden ist: Die Erfahrung hat gezeigt, daß Bürger der Verwaltung wie auch der Betreiberseite nur dann ebenbürtig sein können, wenn sie selbst professionell auftreten, d.h. mit juristischem und naturwissenschaftlichsachverständigem Beistand. Hier entstehen zusätzliche Kosten für Anwaltshonorare im Planfeststellungsverfahren sowie für Gutachten zu mit der Planung verbundenen Gefahren oder möglichen Alternativen (z.B. Ausarbeitung einer bisher nicht berücksichtigten Alternativtrasse). Die bisherige, nur skizzenhafte Aufzählung erhellt wohl ausreichend, daß es so einfach nicht ist, Bürger auf den Rechtsweg zu verweisen. Eine effektive Geltendmachung von Rechten ist nur auf der Basis breiter finanzieller und ideeller Unterstützung denkbar, um Chancengleichheit mit der Gegenseite zu gewährleisten. Zu bedenken ist hier vor allem, daß neue Gefahrpotentiale oft vom Staat mitverantwortet werden, entweder durch Untätigkeit oder dadurch, daß allzu schnell gefährliche Vorhaben genehmigt werden. Sehen sich deshalb Bürger wegen der Übermacht von Staat und Betreibern einerseits, finanziell nur geringer Potenz andererseits in ihrer Ohnmacht gezwungen, zur Selbsthilfe zu schreiten, um auf drohende Gefahren

45 Eine qualifizierte anwaltliche Beratung ist hier nur über Honorarvereinbarungen denkbar. Die Prozeßkostenhilfe findet ihre Grenzen in der Natur der Sache (ungeheuer zeitaufwendiges Mandat, nur wenige Spezialisten verfügen über ausreichende Sachkenntnis). 46 Grundlegend geregelt in § 73 VwVfG.

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aufmerksam zu machen, so mag hierin zwar Unrecht liegen. Nicht notwendig erreicht ein solcher "Hilferuf 1 jedoch den Grad strafwürdigen Unrechts. Erforderlichkeit der Abwehrhandlung bei notstandsähnlicher Lage, kann demzufolge schon dann anzunehmen sein, wenn formal zwar Rechtsschutzmöglichkeiten als milderes Mittel der Gefahrenabwehr zur Verfügung stehen, diese tatsächlich aber nicht sachgerecht wahrgenommen werden können. Freilich darf dies nicht dazu füh-ren, daß Selbsthilfe den Weg zu den Gerichten ersetzt. Erforderlich ist eine Selbsthilfehandlung nur solange, als sie die einzige Möglichkeit darstellt, auf Gefahren öffentlichkeitswirksam aufmerksam zu machen, und soweit damit das Ziel verfolgt wird, durch eine Mobilisierung der Öffentlichkeit die prozessuale Geltendmachung von Rechten im Vorfeld zu ermöglichen bzw. begleitend zu unterstützen. Hier stellt sich sogleich die Frage, ob eine somit als notwendig erkannte Öffentlichkeit nicht auch mittels zweifelsfrei legaler und somit milderer Mittel herstellbar ist. In Betracht kämen etwa Demonstrationen sowie eine breite Öffentlichkeitsarbeit. Aus mehreren Gründen haben sich diese Mittel in der Praxis als nicht gleichwertig herausgestellt. Sozialen Bewegungen, die in Opposition zu Regierungs- und Wirtschaftsinteressen stehen, fehlt - jedenfalls bis heute47 - abgesehen von wenigen Ausnahmen nahezu jeglicher Zugang zu den Massenmedien Presse, Hörfunk und Fernsehen48. Fast alle Bewegungen demokratischer Opposition benutzten oft über Jahre hinweg - ausschließlich legale Möglichkeiten, um auf ihre Ziele (zumeist die Vermeidung von Gefahren für hochrangige Rechtsgüter) hinzuweisen. Wahrgenommen wurden sie über einen engen Zirkel von Aktivisten hinaus jedoch nicht. Sämtlichen Massenmedien ist nämlich das eine gemein: Berichtet wird fast ausschließlich über Spektakuläres, Außergewöhnliches. Eine Demonstration von 20.000 Menschen ist der überregionalen Presse gerade einen Fünfzeiler wert, wobei drei Zeilen darauf verwandt werden, darzustellen, daß die Demonstration gewaltfrei verlief. Der Aufbau eigener Informationssysteme ist wiederum ungeheuer kostspielig und setzt zu seiner Finanzierung voraus, daß bereits die Öffentlichkeit für eine bestimmte Frage "wachgerüttelt" ist. Zumindest in der Anfangssphase des Protests gegen Großanlagen, von denen Gefahren für notstandsfähige Rechtsgüter zu erwarten sind, können 47 Eine Tendenzwende zeichnet sich möglicherweise bei Themen des Umweltschutzes und der Friedenssicherung ab. 48 Auf dieses Problem verweist auch Baumann NJW 1987, 36 (37).

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also spektakuläre und damit oft auch straftatbestandsmäßige Handlungen zur Gefahrabwehr erforderlich sein und zwar zu folgenden, zur Gefahrabwehr geeigneten Zwischenschritten: - zum Wachrütteln der Öffentlichkeit, um diese auf (neuartige) Gefahren hinzuweisen, - zur Herstellung einer kritischen "Gegenöffentlichkeit", - zur Gewinnung eines Unterstützerkreises, der es ermöglicht, Verfahrensrechte und Rechtschutzmöglichkeiten effektiv zu nutzen, - zur Sensibilisierung von Regierung, Verwaltung und nicht zuletzt der Gerichte für neuartige Gefahrpotentiale. Erforderlich sind freilich auch bei notstandsähnlicher Lage nur geeignete Mittel der Gefahrabwehr. Dabei ist - wie schon beim Notstand - davon auszugehen, daß nicht nur die Maßnahmen geeignet sind, mit denen die Gefahr "eigenhändig" beseitigt wird. In einem demokratischen Rechtstaat kann vielmehr kein Zweifel daran bestehen, daß alle indirekten Schritte, vor allem die, die auf eine Nutzung rechtstaatlich gebotener Mittel oder eine sachliche Beeinflussung der Entscheidungsträger hinzielen, ebenso geeignet sind. Hierzu zählen alle Maßnahmen, die den oben genannten Zwischenzielen dienen. Geeignet und erforderlich sind danach vor allem spektakuläre symbolische Aktionen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: (1) Über Jahre hinweg veranstalteten die Oberpfälzer Bürgerinitiativen allwöchentlich "Sonntagsspaziergänge" zum Baugelände der geplanten atomaren Wiederaufarbeitungsanlage, ohne in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Erst die Besetzung des Baugeländes, der Bau eines Hüttendorfes und dessen anschließende gewaltsame Räumung durch die Polizei machten das Problem mit einem Schlag bekannt und Wackersdorf in der Bundesrepublik und dem angrenzenden Ausland zum Begriff. Dies führte dazu, daß im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren insgesamt 881.000 Einwendungen erhoben wurden, u.a. von der Republik Österreich, dem Bundesland Vorarlberg sowie einer großen Zahl bayrischer Städte und Gemeinden. Das Risiko der Verfahrenskosten in mindestens 2-stelliger Millionenhöhe konnte so auf viele Schultern verteilt werden. (2) Kein Mensch bestreitet heute noch ernsthaft die gesellschaftliche Bedeutung von Organisationen wie Greenpeace oder Robin Wood. Beide Organisationen sind geradezu klassische Beispiele für ein unverzichtbares politisches "Frühwarnsystem" in unseren modernen westlichen Demokrati-

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en. Bei seinen Aktionen muß Greenpeace aber denknotwendig gegen Gesetze, meist auch Strafgesetze verstoßen, weil die Mißstände, die angeprangert werden sollen, fast immer (noch) legal sind. Greenpeace wäre undenkbar ohne seine spektakulären, allerdings fast durchgängig straftatbestandsmäßigen Aktionen. Andererseits zeigt das rasant steigende Spendenvolumen von zuletzt ca. 35 Mio. D M im Jahre 1988 die hohe gesellschaftliche Akzeptanz dieser Organisation. Kurz gesagt: Erforderlichkeit ist also da zu bejahen, wo Aktionen i.S. eines politisches Frühwarnsystems notwendig sind und wo dieses politische Frühwarnsystem in effektive rechtliche Schritte umgesetzt werden soll. 4. Interessenabwägung Die Abwägungskriterien sind bei notstandsähnlicher Lage die gleichen wie beim Notstand. Verschieben können sich aber der Abwägungsmaßstab und die normativen Einschränkungen. Die Tatsache, daß nicht jeder Verstoß sogleich kriminalisiert wird, stellt die Bindung an Mehrheitsregel, Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen nicht in Frage, solange dem Staat andere Mittel zur Durchsetzung seiner Autorität zur Verfügung stehen. Im einzelnen gilt hier folgendes: a) Gewicht des geschützten Interesses Daß eine Gewichtung verschiedener Anliegen je nach Bedeutung des Rechtsgutes und des Grades seiner Gefährdung nicht nur möglich, sondern notwendig ist, wurde bereits dargelegt49. Als wenig geeignetes Differenzierungskriterium hat sich beim Notstand die Frage herausgestellt, ob mit einem Verhalten altruistische oder eigennützige Ziele verfolgt werden 50. Soweit sie sich überhaupt voneinander trennen lassen51, sind beide Ziele grundsätzlich gleichwertig. Dies gilt zunächst für die Abwehr von Gefahren für eigene Individualrechtsgüter im Verhältnis zu solchen Dritter 52 , aber auch für die Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter der Allgemeinheit. So betrifft insbesondere die Einschränkung des Notstands durch den Vorrang staatlichen Handelns die Gefahrabwehr von Individualrechtsgütern gleichermaßen wie die von

49

Vgl. Kapitel 8, II 6.2. Vgl. Kapitel 8, II 5 c und 6.2. 51 Vgl. Kapitel 8, II 5 c. 52 Ausnahme nur - wie bei der Notwehr - bei Verzicht des Angegriffenen auf eine Verteidigung, zur Notwehr vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rz 25. 50

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Kap. 11: Strafiinrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

Rechtsgütern der Allgemeinheit. Bei Gemeinwohlzielen sind zwar in stärkerem Maße gesetzliche Wertungen zu beachten. Andererseits wird bei eigennützigen Zielen die Rechtfertigung versagt, wo sie auf Kosten von Gemeinschaftswerten verfolgt werden. Ein Rangverhältnis zwischen altruistischen und eigennützigen Zielen läßt sich beim Notstand also gerade nicht ausmachen. Entscheidend ist vielmehr in beiden Fällen das Gewicht des jeweiligen Anliegens. Nach allem, was bisher herausgearbeitet wurde, ist Strafiinrechtsausschluß vordringlich bei den beiden folgenden "Zielgruppen" zu erwägen: (1) Zum einen dort, wo Öffentlichkeit geschaffen werden soll für eine die Bevölkerung wesentlich berührende Frage. Dies bedeutet gerade nicht, daß die Bevölkerung über das Problem bereits weitgehend unterrichtet oder das Ziel gar bereits "comunis opinio" sein muß. Vielmehr sind damit insbesondere Gefahren angesprochen, von denen ein großer Teil der Bevölkerung (u.U. auch nur einer Region) betroffen ist, Gefahren die also die Interessen einer Vielzahl von Menschen berühren, ohne daß sie bisher im notwendigen Umfang in das allgemeine Bewußtsein Eingang gefunden hätten. Als eigenständiger Abwägungsfaktor tritt hier die funktionale Bedeutung entsprechender Aktionen als politisches Frühwarnsystem in einer modernen Demokratie hinzu53. Je weniger hier der Staat gegen Gefahren einschreitet und die Bevölkerung rückhaltlos über mögliche Gefahren informiert, um so größere Bedeutung kommt Aktionen der Bevölkerung zu und um so eher kann Strafiinrechtsausschluß angenommen werden. (2) Zum anderen in Fällen existentieller Individualnot, also bei Gefährdung wichtiger Individualrechtsgüter. Hierzu zählen der Protest von Arbeitern gegen die "Vernichtung" ihrer Arbeitsplätze ebenso wie der Protest von Bauern gegen die Vernichtung (klein)bäuerlicher Existenzen. Eine weitere Fallgruppe bildet die Wohnraumnot in Großstädten, jedenfalls bei festgestellter Obdachlosigkeit und spekulativem Leerstand von Häusern 54. Auch in diesen Fällen muß ein spektakulärer "Hilferuf' möglich sein, ohne sofort das Risiko der Kriminalisierung einzugehen. Dies gilt umso mehr, als sich das Strafrecht sonst leicht dem Vorwurf einer "Klassenjustiz" ausgesetzt sieht, das gesellschaftlich benachteiligten oder politisch an den 53 In der Analyse wie hier Baumann, NJW 1987, 36 (37 f.), der allerdings nur die Alternativen Zulässigkeit oder Strafbarkeit der Demonstration erkennt und sich dabei für die letztere entscheidet. Gerade die Argumente Baumanns verlangen aber geradezu nach einer Differenzierungsmöglichkeit im Zwischenbereich. Wie kann man denn die gesellschaftliche Bedeutung eines Verhaltens so hervorheben und gleichzeitig dessen Strafbarkeit in Kauf nehmen? 54 Zur notwendigen Differenzierung vgl. Kapitel 8, II 6.4 b.

I. Strafunrechtsausschluß bei notstandsflhnlicher Lage

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Rand gedrängten55 Gruppen letzte Möglichkeiten wirksamer gesellschaftlicher Artikulation nimmt. Beide Fallgruppen betreffen existentielle Bedrohungen. Werden im einen Fall die Lebensgrundlagen der Gemeinschaft gefährdet, so geht es im anderen Fall um die Bedrohung der individuellen Lebensgrundlagen einzelner oder einer Gruppe von Menschen. Beide "Zielgruppen11 sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern für beide gibt es eine gesellschaftliche (ethische) und rechtliche Begründung. Gemeinwohlorientierte, "altruistische" Ziele werden meist in hochrangigen Rechtsgütern verkörpert 56. Der Einsatz für die Gemeinschaft entspricht gleichzeitig den christlichen Idealen der Nächstenliebe und Solidarität, eine Tatsache, die durch das Engagement gerade kirchlicher Gruppen innerhalb der Ökologie- und Friedensbewegung dokumentiert wird. Unverkennbar vor diesem Hintergrund hat auch das BVerfG die positive rechtliche Wertung "altruistischer" Ziele verlangt. Aber auch der Einsatz für eigene Belange ("egoistische Ziele") wird von der Rechtsordnung nicht diskriminiert. Dies zeigt schon die Tatsache, daß notwehrfähig allein Individualrechtsgüter sind. Zu deren Verteidigung können also durchaus stärkere Eingriffe in Rechte Dritter zulässig sein als zur Verteidigung von Rechtsgütern der Allgemeinheit. Auch gesellschaftlich werden eigennützige Ziele keineswegs als geringwertig erachtet. Ein Beispiel hierfür ist die schon mehrfach erwähnte gesellschaftliche Akzeptanz für rechtswidrige Aktionen von Bauern, LKW-Fahrern und Arbeitern, die auch hier wiederum rechtliche Rückwirkungen zeitigen: Bis auf wenige Ausnahmefälle wurden nicht einmal strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. b) Intensität des Eingriffs Schon der Bezug auf das Notstandsrecht macht deutlich, daß auch bei Verfolgung eines der o.g. Ziele nicht schlechthin jeder Eingriff straflos möglich ist. Ein fundamentaler Unterschied liegt zunächst darin, ob die Gefahr eigenhändig beseitigt werden oder der Eingriff nur den o.g. Zwischenzielen 57 dienen und damit eher ein symbolischer Akt sein soll. Ist letzteres der Fall, so wird Strafunrechtsausschluß bei den genannten Zielen in der

55

Beispiel: Kleinbauern, die sich gegen von der Bundesregierung mitgetragene AgrarbeschlQsse der EG wehren. 56 S.o. Kapitel 8, II 1. 57 S.o. 3. 18 Reichen-Hammer

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Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

Regel zu bejahen sein. Für andere Fälle ist eine generalisierende Betrachtung angesichts der Vielzahl der Abwägungsfaktoren nicht möglich. c) Unwesentliche Überschreitung

von Grundrechten

An eine Verschiebung des Abwägungsmaßstabs ist insbesondere auch dort zu denken, wo Grundrechte nur unwesentlich überschritten werden. Anzunehmen wäre dies etwa bei einer geringfügigen Überschreitung des Demonstrationsrechts und zwar - dies versteht sich von selbst - ohne Rücksicht auf die mit der Demonstration geltend gemachten Inhalte58. Hierzu noch näher unter II. d) Geringe Überschreitung des Notstandsrechts bei Gefahr in Verzug Anders als das urteilende Gericht, dem zu seiner Entscheidung beliebige Zeit zur Verfügung steht, muß sich der von Notrechten Gebrauch machende Bürger häufig in Sekundenbruchteilen über sein Vorgehen klar werden. Zumindest da, wo er bei Gefahr in Verzug die Grenzen eines Notrechts in nicht einschneidender Weise verfehlt, sollte das Damoklesschwert der Kriminalisierung von ihm genommen werden 59. Im Bereich politisch zielgerichteten Verhaltens geht es zwar meist um längerfristig angelegtes Vorgehen. Doch sind durchaus Situationen denkbar, wo schnell reagiert werden muß, etwa bei Unfällen ("Störfällen") in der Chemie- bzw. Atomindustrie. Dabei ist zu bedenken, daß es sich bei den Handelnden zumeist um "doppelte" Laien handelt, um Laien nämlich in juristischer wie auch naturwissenschaftlicher Hinsicht60. e) (Defensiv)notstandsähnliche

Lage bei rechtmäßigem Angriff

Bei Erörterung der Möglichkeiten einer Rechtfertigung durch Notwehr 61 wurde darauf hingewiesen, daß - trotz der mittlerweile strengen Voraussetzungen des BImSchG62 - von bestandskräftig genehmigten Industrieanlagen erhebliche Gefahren für Nachbarn und Umwelt ausgehen können. Diese Eingriffe erfolgen rechtmäßig, weshalb eine Rechtfertigung durch Notwehr, i.d.R. aber auch durch Notstand scheitert. Hinzu kommt, daß

58

Auf die Unzulässigkeit einer Differenzierung verweist zu Recht Baumann, NJW 1987, 36 ff. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 343. 60 Hierzu schon oben Kapitel 11,1 2 d. 61 S.o. Kapitel 8, I 4. 62 Die Genehmigung darf schon bei "erheblichen Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft" versagt werden, § 10 Abs. 1 Ziff. 1 BImSchG. 59

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der Nachweis entsprechender Gefahren oft ungeheuer langwierig ist und den Betroffenen dann nichts mehr nützt63. Ein Widerruf der Genehmigung ist nur unter engen Voraussetzungen zulässig64. Die Verwaltung tut sich zudem auch aus anderen Gründen (Arbeitsplätze, Entschädigungspflicht 65) schwer, sich zu einem solchen Schritt durchzuringen 66. Bestehen genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefährdung (z.B. eine erstaunliche Häufung bestimmter Krankheitssymptome), so haben wir es hier mit einer notstandsähnlichen Lage in der Form des Defensivnotstands zu tun. Bleibt die Verwaltung trotz Aufforderung untätig, kann an der Erforderlichkeit von Selbsthilfe kein Zweifel bestehen. Da es nur um den Ausschluß der S/ra/rechtswidrigkeit des Verhaltens geht, fällt auch die Interessenabwägung zugunsten eines Eingriffs aus. Existentiell gefährdet werden höchste Individualrechtsgüter (körperliches Wohlbefinden, Gesundheit, möglicherweise sogar das Leben). Strafunrechtsausschluß ist also zumindest im oben unter b) genannten Umfang zu gewähren. Weil und soweit es aber um höchstrangige Rechtsgüter geht, ist zu erwägen, ob hier nicht auch Eingriffe strafrechtsfrei bleiben sollten, die eine (zeitweilige) Stillegung entsprechender Anlagen zum Ziel haben. Zu bejahen wäre dies insbesondere dann, wenn sich die Gefahrprognose nachträglich als richtig erwiesen hat und erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen bereits eingetreten sind. f) Strafunrechtsausschluß

trotz Notwehrprovokation

Für eine Reihe von Fällen wurde das Notwehrrecht deshalb verneint, weil die Notwehr provoziert war 67. Bei den in der Praxis bisher relevant gewordenen Fällen wird Strafunrechtsausschluß schon nach den oben unter a) und b) genannten Kriterien zu bejahen sein. Zur Klarstellung soll jedoch hervorgehoben werden, daß bei provozierter Notwehrlage jedenfalls die Strafrechtswidrigkeit des Verhaltens entfällt, sofern die übrigen Voraussetzungen einer notstandsähnlichen Lage gegeben sind.

63 64 65 66 67

S.o. 2.3. d. § 21 Abs. 1 BImSchG. § 21 Abs. 4 BImSchG. Zu Beispielen s.o. Kapitel 8,1 4. S.o. Kapitel 8, I 9.

276

Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

II. Strafunrechtsausschluß im Ausstrahlungsbereich der Grundrechte 1. Strafunrechtsausschluß bei grundrechtsnahem Verhalten a) Wertungsdifferenzen

zwischen Verfassungsrecht

und Strafrecht

Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, daß beim Einsatz des Strafrechts im Grenzbereich zu den Grundrechten Zurückhaltung geboten ist68. Das Verfassungsrecht gewährt Bürgern in Art. 5, 8 und 9 GG politische Grundrechte. Stärkere Rechtspositionen sind nicht denkbar: Grundrechte drücken die intensivste Form rechtlicher Verhaltensbilligung aus. Kriminalisierung bedeutet das genaue Gegenteil, nämlich die schärfste Form rechtlicher Mißbilligung. Nach h.M. beginnt die Strafbarkeit aber unmittelbar dort, wo Grundrechtsverbürgungen enden. Diesen unerträglichen Wertungswiderspruch hat Günther wie folgt charakterisiert: "Es liegt auf der Hand, daß die Zone sogar grundrechtlich garantierter und die Zone sogar strafrechtlich verbotener" Verhaltensweisen "nicht nahtlos ineinander überzugehen brauchen, sondern einen Zwischenbereich belassen können, der zwar keinen Grundrechtsschutz mehr genießt, aber auch noch kein strafwürdiges Unrecht darstellt." 69 "Es wäre eine Überreaktion, würde die Rechtsordnung die nur millimeterweise Überschreitung eines Grundrechts ... nahtlos in die stärkste Form rechtlicher Verhaltensmißbilligung übergehen lassen, die Verhaltenskriminalisierung. 70" Zwei Prinzipien sind damit angesprochen: zum einen die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte über ihre zulässig gesetzten Schranken hinaus71, zum anderen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, dem im Bereich der Verhaltenskriminalisierung als härtester staatlicher Sanktion anerkanntermaßen höchste Bedeutung zukommt, die im grundrechtsnahen Bereich zusätzlich verstärkt wird. Auf Tatbestandsebene läßt sich, wie noch darzustellen sein wird, ein notwendiges Regulativ nicht finden 72. Deshalb bedarf es für den aufgezeigten Zwischenbereich der Bildung eines spezifisch strafrechtliche Wertungen berücksichtigenden Strafunrechtsausschließungsgrundes.

68

Kapitel 9 sowie in diesem Kapitel I. 4 c. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 353 (zu Art. 6 - elterliches Erzieherprivileg). Vgl. hierzu auch Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 28. 70 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 314 (Art. 5 - § 193 StGB). 71 Vgl. hierzu auch v.Münch in GGK, Vorb. Art. 1-19, Rz 22. 72 Vgl. auch schon oben Kapitel 4, 6 n, 7 I. 69

I

Strafunrechtsausschluß im Ausstrahlungsbereich der Grundrechte

277

Dabei ist die Pufferfunktion, die Strafunrechtsausschließungsgründe zwischen Grundrechtsgarantie und Strafbarkeit ausfüllen, keine Besonderheit im Umfeld politischer Grundrechte. Dort kommt ihr nur besondere Bedeutung zu73. Ein anderer Bereich, in dem die hier dargelegten Überlegungen eine Rolle spielen, ist das elterliche Erzieherprivileg als Ausfluß von Art. 6 GG. Dort wird die Familie, werden vor allem die Kinder, vor einer unsachgemäßen, familienschädigenden Kriminalisierung der Eltern bewahrt, ohne daß auf die pädagogisch überholte und rechtlich verfehlte Konstruktion eines elterlichen "Züchtigungsrechts" zurückgegriffen werden muß74. Worin liegen nun aber die Wertungsunterschiede zwischen Grundrechtsgewährleistungen einerseits und dem Strafrecht andererseits? Grundrechte begegnen uns im vorliegenden Zusammenhang in ihrer ursprünglichen Funktion: als Freiheitsrechte, unveräußerliche Menschenrechte. Soweit die Grundrechte reichen, können Bürger in Rechtspositionen Dritter wie des Staates eingreifen. Abwehrrechte der Betroffenen bestehen nicht. Der Gesetzgeber kann andererseits Grundrechten Schranken setzen. Dabei hat er - selbst unter Berücksichtigung der in Kapitel 7 aufgezeigten Grundsätze - einen relativ weiten Gestaltungsspielraum. Er kann Freiheitsrechte eher einschränken oder ihnen eher mehr Raum geben. Beides ist verfassungsrechtlich zulässig. Eindrucksvoll wird diese Möglichkeit durch die pausenlosen "Reformen" des § 125 StGB (Landfriedensbruch) vor Augen geführt 75. Im Strafrecht geht es um die Frage, ob Überschreitungen eines Grundrechts sogar mittels der schärfsten, dem Staat zur Verfügung stehenden Waffe, nämlich der Verhaltenskriminalisierung bekämpft und geahndet werden sollen. Dabei kann die Situation entstehen, daß ein Verhalten mit einer Kriminalstrafe belegt wird, das - da in den Schutzbereich eines Grundrechts fallend - bei weiterer, aber ebenfalls verfassungsrechtlich zulässiger Grenzziehung sogar am Grundrechtsschutz teilhätte. Diese Überlegungen verdeutlichen die Notwendigkeit und die Bedeutung eines

73

Vgl. auch Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 309 ff, 311 f. zum Verhältnis Art. 5 GG / § 193

StGB. 74

Hingehend hierzu: Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 61 f., 177, 352 ff.; Verf., JZ 1988, 617 ff. Wobei nicht gesagt werden soll, daß alle Reformentwürfe noch als verfassungskonform zu betrachten sind! Zur Geschichte des Tatbestandes: Lenckner in Sch/Sch, § 125 Rz 1; Strohmaier, Die Reform des Demonstrationsstrafrechts, S. 47 ff., 69 ff. Zur Kritik der bestehenden Regelung: Kühl, NJW 1985, 2379 ff. und 1986, 874 ff.; Ostendorf in AK-StGB, § 125 Rz 31 ff.; Rudolphi in SK-StGB, § 125 Rz 3c; Strohmaier, aaO, S. 137 ff.; ders., ZRP 1985, S. 153 ff. ders., StrVert 1985, S. 469 ff. jeweils m.w.N. 75

278

Kap. 11: Strafiinrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

Puffers zwischen Grundrecht und Kriminalisierung. Sie verdeutlichen ein weiteres: Je mehr Grundrechte eingeschränkt, je enger sie interpretiert werden, um so wichtiger wird als Korrektiv zumindest strafrechtlicher Unrechtsausschluß. Dieses Korrektiv ist geeignet, Zeitströmungen entgegenzuwirken, in denen - politisch motiviert - Grundrechte bis an die verfassungsrechtlich eben noch zulässigen Grenzen (oder vielleicht auch darüber hinaus) eingeschränkt werden. Es ist notwendig, um in einer modernen Demokratie notwendige gesellschaftliche Artikulation ohne das Risiko der Kriminalisierung zu ermöglichen und bestehende Machtgefälle (ökonomische Potenz, Zugang zu Forschungsgeldern, Zugang zu den Medien etc.) auszugleichen76. b) Strafunrechtsausschluß

im Schutzbereich politischer Grundrechte

Die Tatbestandsebene (restriktive, verfassungskonforme Auslegung) bietet hier nur ein unzureichendes Korrektiv. Zu unterscheiden sind zwei Fallgruppen: jene, wo Bürger im Schutzbereich politischer Grundrechte allgemeine Straftatbestände verletzen, und jene, wo spezielle Straftatbestände des politischen Strafrechts Grundrechte beschränken. Zunächst zur ersten Gruppe: Bei Ausübung politischer Grundrechte greifen Bürger fast denknotwendig in strafrechtlich geschützte Rechtspositionen Dritter ein. Bei Wahrnehmung des Demonstrations- und Streikrechts etwa wird typischerweise jedenfalls der Tatbestand der Nötigung erfüllt 77, die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit beinhaltet häufig Delikte der in §§ 185 ff. StGB genannten Art, wobei die Tatbestandsverletzungen in aller Regel nicht nur bagatellhafter Natur sind. Typisches, nicht nur bagatellhaftes Verhaltensunrecht liegt also bei fast jeder Verwirklichung politischer Grundrechte vor. Diesem Unwert stehen aber weitaus größere Handlungs- und Erfolgs werte gegenüber: die Verwirklichung von Freiheitsrechten der Bürger. Diese geben einen Rechtfertigungsgrund i.S. der Gesamtrechtsordnung, das stärkste denkbare Eingriffsrecht in staatliche und private Rechtsgüter Dritter. Dort wo der Grundrechtsschutz endet, ist der Staat zwar zum Eingreifen berechtigt. Doch liegt nicht bei jeder Überschreitung von Grundrechten bereits erhebliches, gar strafwürdiges Unrecht vor, und zwar auch dort nicht, wo Straftatbestände verwirklicht werden. Denn das dort umschriebene Unrecht wird ja nach wie vor durch immer noch partiell vorhandene Gegenwerte aufgewogen. Rechtlich in höchstem Maße erwünschtes Verhalten schlägt nicht von 76

Hierzu schon in diesem Kapitel I. Die Rspr. der Strafgerichte zum Gewaltbegriff dürfte nach der Entscheidung des BVerfG zu den Sitzblockaden auf absehbare Zeit Bestand haben, s.o. Vorspann zu Kapitel 1. 77

I

Strafnrechtsausschluß im Ausstrahlungsbereich der Grundrechte

279

einer Sekunde auf die andere78 in rechtlich in höchstem Maße mißbilligenswertes Verhalten um. In diesem Bereich - zwischen stärkstem Eingriffsrecht und strafrechtlich zu mißbilligendem Verhaltensunrecht - greift der Strafunrechtsausschließungsgrund des "grundrechtsnahen Verhaltens". Neben diese beschriebene Ausstrahlungswirkung der Grundrechte tritt als zweite tragende Säule der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Strafunrechtsausschluß im grundrechtsnahen Bereich ist auch deshalb notwendig, weil es unverhältnismäßig wäre, wenn der Staat bereits bei geringfügiger Überschreitung eines Grundrechts mit dem härtesten ihm zur Verfügung stehenden Mittel vorgehen würde. Anders stellt sich die Situation dar, wo spezielle Tatbestände Grundrechte einschränken. Hier gibt der Gesetzgeber ausdrücklich die Wertung vor, daß derartige (so weit gehende) Überschreitungen eines politischen Grundrechts strafwürdiges Unrecht darstellen. In diesen Fällen muß der Tatbestand selbst einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden. Bedenken begegnen hier in erster Linie § 125 Abs. 2 StGB79 sowie geplante Änderungen des Versammlungsgesetzes80. Aber selbst wenn diese Strafbestimmungen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhalten sollten, ist nicht automatisch jede Übertretung strafbar. Dasselbe gilt für andere politische Straftatbestände (z.B. § 105 StGB), soweit sie politische Grundrechte in verfassungskonformer Weise beschränken. Rechtfertigung durch das entsprechende Grundrecht scheidet zwar aus. Dennoch gibt es Situationen, in denen kein strafwürdiges Unrecht vorliegt. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen: (1) Ein Demonstrant weigert sich, seine "Schutzbewaffnung" abzulegen, weil er sonst schutzlos gewalttätigen Gegendemonstranten ausgeliefert wäre. (2) Eine Demonstrantin hat sich zur Verdeutlichung ihres Anliegens (Protest gegen den Atomkrieg) das Gesicht mit weißer Farbe bemalt, kann diese mangels Lösungsmittels aber nicht entfernen. (3) Eine Demonstrantin weigert sich, ihren Schal aus dem Gesicht zu nehmen, weil sie wegen des Demonstrationsm/w/tt bei Identifikation um ihren Arbeitsplatz (im öffentlichen Dienst?) fürchtet. Auch Lenckner verneint in diesen und ähnlichen Fällen strafwürdiges Unrecht, will dem aber erst im Rahmen von Zumutbarkeitserwägungen Rechnung tragen 81. Hier geht es aber nicht um persönliche Konflikte einzelner,

78

Etwa bei Überschreitung zulässiger Behinderungszeit durch eine Demonstration. Zur Kritik vgl. Fußnote 75. 80 Hierzu: Gemeinsame Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen in: Artikelgesetz, gemeinsame Veranstaltung 19.3.1988 in Bonn von AsJ, HU, RAV, VdJ und Strafverteidigervereinigungen, hrsg. von den Strafverteidigervereinigungen, S. 23 ff. 81 Lenckner in Schönke/Schröder, § 125 Rz 33. 79

280

Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

sondern um einen gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich, um die Grenzziehung von Grundrechten auf der einen und die Frage gesteigerten strafrechtlichen Unrechts auf der anderen Seite. Die Ebene zur Lösung dieser Konflikte ist die (Straf-)rechtswidrigkeit. In den genannten Fällen greift deshalb der Strafunrechtsausschließungsgrund des grundrechtsnahen Verhaltens 82. c) Parallelen im japanischen Recht Interessanterweise hat auch das japanische Recht die Lehre vom strafwürdigen Unrecht aufgegriffen, um rechtswidrige Maßnahmen im Rahmen von Arbeitskämpfen und Demonstrationen zu entkriminalisieren: Selbst wenn ein Arbeitskampf oder eine Demonstration gegen das Arbeits-, Versammlungs oder Polizeirecht verstoße, also rechtswidrig sei, könne gleichwohl - trotz Tatbestandsmäßigkeit -strafwürdiges Unrecht entfallen 83. 2. Ausstrahlungswirkung der Gewissensfreiheit (Art 4 GG) Am Beispiel des schon mehrfach angesprochenen Gewissenstäters84 sei dies nochmals illustriert: Wie dargestellt gewährt Art. 4 GG ein Grundrecht 85. Die Kollision der strafrechtlichen Pflichtnorm mit dem Gewissensgebot beinhaltet einen für die Rechtswidrigkeit typischen Interessenkonflikt zwischen Gemeinschaft und Individuum. Die Verfassung löst diesen Interessenkonflikt dahingehend, daß die Tat gerechtfertigt ist, soweit das Grundrecht reicht. Aber auch soweit das Grundrecht nur partiell eingreift, etwa weil es durch Art. 12 a Abs. 2 GG beschränkt wird, entfaltet es Ausstrahlungswirkungen. Dies hat das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Totalverweigerung und zur Verweigerung einer Bluttransfusion aus religiöser Überzeugung ausdrücklich anerkannt 86. Eberl* 1 hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß nicht jede Schranke, die eine Rechtfertigung nach Art. 4 GG verbiete, auch einer

82 Zu denken wäre freilich auch an eine teleologische Reduktion, bei einem neu geschaffenen und heftig umstrittenen Tatbestand freilich ein gewagtes Unterfangen. 83 Vgl. hierzu: Günther, Die Lehre vom strafwürdigen Unrecht als Beispiel einer Japanisierung des westlichen Strafrechts? in: Coing u.a. (Hrsg.), S. 421 ff. 84 Vgl. bereits Kapitel 7, II; 9 II 1 (4). 85 Vgl. oben Kapitel 7, II. 86 BVerfGE 23, 127; 32, 98. 87 Ebert, Überzeugungstäter, S. 68.

II. Strafunrechtsausschluß im Ausstrahlungsbereich der Grundrechte

281

Entschuldigung nach dieser Norm entgegenstehe. Der Rechtfertigung stehen spezifische Gründe wie etwa der Ausschluß des Notwehrrechts entgegen, Gründe die gegen einen Schuldausschluß ebensowenig durchgreifen wie gegen einen Ausschluß lediglich strafrechtlichen Unrechts. Hier geht es freilich nicht um die Schranken des Grundrechts, sondern um dessen Ausstrahlungswirkung in den Normbereich. Wo es lediglich um den Ausschluß strafwürdigen Unrechts geht, reicht u.U. bereits eine partielle Unrechtsminderung. Anders gesagt: Grenzen sind der Gewissenfreiheit in diesem Bereich erst gesetzt, wo die Beeinträchtigung von Grundrechten Dritter oder elementarer durch die Verfassung geschützter Gemeinschaftswerte strafrechtlichen Schutz erforderlich macht, wobei es auch hier auf eine Abwägung ankommt. Für das Strafrecht bedeutet dies: Dem durch die Tatbestandsmäßigkeit ausgedrückten Unwerturteil wird ein in Art. 4 GG verkörpertes verfassungsrechtliches Werturteil, dem durch die Tat verursachten sozialen Schaden ein sozialer Nutzen gegenübergestellt. Im Falle des Gewissenstäters ist das Unrecht deshalb ausgeschlossen oder jedenfalls gemindert 88. Diese Unrechtsminderung kann zumindest der echten Gewissenstat89 den Charakter kriminellen Unrechts nehmen. Bei der Unterlassungstat wird dies schon wegen deren geringeren Unwertgehalts eher der Fall sein als beim Begehungsdelikt90. Strukturelle Unterschiede bestehen jedoch nicht, weshalb in beiden Fällen eine sorgfältige Abwägung der auf dem Spiele stehenden Güter und Interessen notwendig ist. Auch bei der Unterlassungstat sind Fälle denkbar, in denen auf einen strafrechtlichen Schutz nicht verzichtet werden kann, etwa da, wo das Leben ohne oder gegen den Willen des Opfers aufs Spiel gesetzt wird. Die Grenzen strafrechtlichen Unrechts detailliert abzustecken, würde freilich den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im einzelnen kann auf vorhandene Arbeiten verwiesen werden, die die für den Ausschluß strafrechtlichen Unrechts charakteristische Interessenabwägung widerspiegeln91. Für Strafunrechtsausschluß im Zwischenbereich ist also auch hier Raum. Die bisher herrschende Strafrechtsdoktrin muß in diesen Fällen systemwidrig auf die Zurechnungsebene der Schuld ausweichen. Dogmatisch

88

Ebenso: Ebert, Überzeugungstäter, S. 66; Nestler-Tremel, StrVert 1985, 348 ff. Vgl. hierzu Ebert, Überzeugungstäter, S. 58 ff.; Peters, Mayer-FS, S. 257 ff., insb. 269 ff. 90 Vgl. Peters, JZ 1972, 86; Nestler-Tremel, StrVert 1985, 349. 91 Vgl. etwa Ebert, Überzeugungstäter, S. 68 ff.; Rudolphi, Welzel-FS, S. 622 ff. - beide allerdings erst auf der Ebene der Schuld. Sehr weit: Peters, Mayer-FS, 265 ff., ders., JZ 1972, 85. Speziell zur Totalverweigerung: Nestler-Tremel, StrVert 1985, 348. 89

282

Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

stringenter ist es, gemindertem Unrecht da Rechnung zu tragen, wo es hingehört, auf die Ebene des Unrechts. 3. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) Soweit Art. 5 GG greift, hat § 193 StGB nur deklaratorischen Charakter: Das Verhalten ist gerechtfertigt i.S. der Gesamtrechtsordnung. Die strafunrechtsausschließende Wirkung des § 193 StGB reicht indes weiter als der Geltungsbereich des Art. 5 GG. Auch soweit eine Ehrverletzung nicht mehr vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist, handelt es sich nicht notwendig um strafwürdiges Beleidigungsunrecht. Vielmehr machen die Unbestimmtheit des § 185 StGB sowie die Aufbürdung des Wahrheitsbeweises in §§ 186, 187 StGB eine wirksame strafrechtsspezifische Korrekturmöglichkeit notwendig, um eine Überdehnung des Strafrechtsschutzes zu vermeiden92. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen stellt sich somit, soweit mit ihr von Art. 5 GG nicht mehr gedeckte Ziele verfolgt werden, als gesetzliche Präzisierung des oben aufgezeigten Grundsatzes dar. III. Strafunrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige staatliche Eingriffe in (politische) Grundrechte Gerade in politisch besonders umstrittenen Auseinandersetzungen ist bei staatlichen Entscheidungsträgern eine gewisse Neigung festzustellen, statt durch frühzeitige und ausreichende Information und Diskussion Akzeptanz zu schaffen, uninformierte Bürger zu überfahren und Konflikte durch eine hiervon völlig überforderte Polizei lösen zu lassen93. Immer wieder wird hierbei von rechtswidrigen polizeilichen Übergriffen berichtet. Zu erwähnen sind etwa ausufernde Polizeikontrollen im Vorfeld von Demonstrationen94, erkennungsdienstliche Maßnahmen ohne konkreten Tatverdacht bis hin zu vorläufigem Polizeigewahrsam95. Einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgeworden sind der sog. "Hamburger Kessel", der "Bremer Wanderkessel" sowie der "Berliner Kessel", deren Rechtswidrigkeit nachträglich von den Verwaltungsgerichten festgestellt wurde 96.

92

Vgl. hierzu im einzelnen Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 309 ff. Dieser Befund wird ebenso konstatiert von Hirsch, ZRP 1989, 81 (85). 94 Vgl. BGH, StrVert 1989, 1 ff. zur rechtswidrigen Einrichtung von Kontrollstellen, mit der von Mai bis Oktober 1988 flächendeckend die gesamte Bundesrepublik überzogen wurde. 95 Kritisch zur geplanten Änderung des bayr. Polizeiaufgabengesetzes, durch die die Möglichkeit 14-tägiger Vorbeugehaft geschaffen werden soll ("Lex Wackersdorf): Hirsch, ZRP 1989, 81 ff. 96 Vgl. VG Bremen, Urt. v. 5.12.1988, Az: 4 A 226/86, sowie Bericht in Tageszeitung vom 93

. Strafnrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige Grundrechtseingriffe

283

1. Der strafrechtliche RechtswidrigkeitsbegrifT Aufgrund des besonderen, für § 113 StGB maßgeblichen strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriffes ist Widerstand gegen solchermaßen polizeiliches Handeln nach h.M. 97 in aller Regel dennoch nicht erlaubt. § 113 StGB kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Zum einen beinhaltet er als speziellere Regelung eine Privilegierung gegenüber § 240 StGB98. Zum anderen schränkt er die allgemeinen Notrechte (§§ 32, 34 StGB) ein: In der Vorschrift konkretisiert sich der Konflikt zwischen den verfassungsrechtlich garantierten und prinzipiell gegen rechtswidrige Eingriffe straffrei verteidigungsfähigen Grundfreiheiten des Bürgers einerseits und dem Gewaltmonopol des Ordnung und Sicherheit schaffenden Staates andererseits99. Auf der einen Seite trägt §§ 113 StGB als Privilegierung gegenüber dem allgemeinen Nötigungstatbestand der unrechtsmindernden Kollision mit Rechtsgütern der Betroffenen Rechnung (z.B. Freiheit, Eigentum, Wohnung). Auf der anderen Seite begrenzt er die (Grund)rechte betroffener Bürger. Dies wird besonders deutlich bei verwaltungsrechtlich rechtswidrigen Eingriffen. 100 2. Ein strafrechtlicher Rechtswidrigkeitsbegriff auch für die Bürger ? Greifen staatliche Organe aber in verwaltungsrechtlich rechtswidriger Weise bei einer Zwangsmaßnahme in Freiheitsrechte ein, so treffen zwei der o.g., für Strafunrechtsausschluß maßgebenden Gesichtspunkte zusammen: eine notstandsähnliche Lage101 im grundrechts(nahen) Bereich. Dabei verschiebt sich die Abwägung weiter zugunsten der Betroffenen, wenn über

8.7.1989, S. 1, 2, über die Entscheidungen der VGe Hamburg und Berlin. 97 Zu den Voraussetzungen des "strafrechtlichen" Rechtmäßigkeitsbegriffes der h.M.: Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 21 ff.; v. Bubnoff in LK, § 113 Rz 18 ff. Auf die Kritik an diesem Begriff wird im folgenden noch näher eingegangen. 98 H.M., vgl. BGHSt 30, 235 (236); v. Bubnoff in LK, § 113, Rz 3; Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 68; Horn in SK-StGB, § 113 Rz 2 und 7; Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 46. Kritisch hierzu Hirsch in: Festschrift für Klug, S. 235 ff. 99 So zutreffend: Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 1. Vgl. auch Maurach/Schroeder, BT/2, § 69 II 1. 100 Wie hier: Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 1. Daß es sich bei der Rechtmäßigkeit um ein Unrechtsmerkmal han-delt ist - seit der Neufassung durch das 3. StrRG weitgehend anerkannt, wobei allerdings streitig ist, ob die Rechtmäßigkeit zum gesetzlichen Tatbestand zählt (so Eser in Sch/Sch, § 113 Rz 20; Naucke, Dreher-Festschrift, 459 (471); Rudolphi in SK-StGB, § 113 Rz 30; Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 20) oder - ähnlich wie bei § 240 Abs. 2 StGB - erst die Rechtfertgungsebene betrifft (vgl. Dreher, Schröder-Gedächtnisschrift, 359, 376 ff.; Hirsch in: Festschrift für Klug, S. 235, 247 ff.; Niemeyer JZ 1976, 315). 101 So ausdrücklich: Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 1.

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Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

die durch eine Zwangsmaßnahme notwendigerweise verletzten Freiheitsrechte hinaus in politische Grundrechte (etwa die Demonstrationsfreiheit) eingegriffen wird. In diesen Fällen sind zusätzlich das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip berührt. Bei Widerstandshandlungen ist deshalb zu überlegen, ob nicht auch hier im Einzelfall Strafunrechtsausschluß zu bejahen ist. Der Gesetzeszweck des § 113 StGB würde hierdurch nicht angetastet, denn die Durchsetzbarkeit staatlicher Vollstreckungshandlungen wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß Gegenwehr im Einzelfall straflos bleibt 102 . Andererseits beinhaltet der Verzicht auf Kriminalisierung hier ein notwendiges Korrektiv zum besonderen Rechtswidrigkeitsbegriff, den die Staatsorgane für sich in Anspruch nehmen. Geschieht dies nicht, so läge es etwa in der Hand der Polizei, Widerstand gegen jede rechtswidrige Behinderung von (rechtmäßigen) Demonstrationen und Streiks zu kriminalisieren. 3. Bisher vertretene Auffassungen und ihre Schwächen a) Korrektive

der herrschenden Meinung

Hiergegen mag eingewandt werden, auch der spezielle Rechtswidrigkeitsbegriff bei § 113 StGB bzw. die Irrtumsregeln des Abs. 4 böten dem genügend Einhalt. In der Tat wird nicht jeder auch noch so verwaltungsrechtswidrige Vollstreckungsakt als rechtmäßig i.S. § 113 StGB beurteilt. Gewahrt sein müssen zumindest die sachliche und örtliche Zuständigkeit sowie die wesentlichen Förmlichkeiten 103. Soweit der Amtsträger die sachlichen Eingriffsvoraussetzungen selbst zu beurteilen hat, wird von ihm immerhin eine pflichtgemäße Würdigung der ihm bekannten und erkennbaren Umstände verlangt. Betrachtet man die Rechtsprechung des BGH allerdings genauer, so erfährt man, daß nur ein schuldhafter Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung, Willkür oder Amtsmißbrauch die Handlung des Polizisten rechtswidrig machen104. Auch wenn Literatur und untergerichtliche Rechtsprechung hier in jüngerer Zeit zunehmend strengere Anforderungen stellen mögen105, auch wenn die wohl überwiegende 102

Dies dürfte angesichts der Irrtumsregelung des Abs. 4 unstreitig sein. I m einzelnen hierzu: Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 24 ff. Anders BayObLG JZ 1980, 109 f., das einen Beurteilungsspielraum auch auf wesentliche Förmlichkeiten erstreckt, zutreffend kritisiert von Thiele, JR 1981, 30. 104 BGHSt 21, 334 (363); OLG Stuttgart, NJW1971,629. OLG Celle, NJW 1971, 154, und OLG Hamm, GA 1973, 244 (245), stellen sogar auf grobes Verschulden ab. 105 Teilweise wird gefordert, daß sich die Amtshandlung "objektiv noch im Rahmen des Vertretbaren'' halten müsse, wobei dieser Rahmen allerdings nicht durch den - ohnehin schon weiten Rahmen der verwaltungsrechtlich zulässigen Maßnahmen abgesteckt wird. Maßgeblich sollen vielmehr 103

III. Strafnrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige Grundrechtseingriffe

285

Meinung bei /tecAttintümern auch Rechtswidrigkeit i.S.d. § 113 StGB annimmt 106 : Es bleibt ein Unbehagen über den immer noch riesigen Spielraum der Polizei. Es bleibt ein eklatantes Mißverhältnis zwischen den Sorgfaltsanforderungen, die an die ihren Protest ausdrückenden Bürger gestellt werden, und jenen, die der strafrechtlichen Beurteilung polizeilichen Handelns bei § 113 StGB zugrundegelegt werden 107. Oder wie es Spendel auf den Punkt gebracht hat: "Der größte Feind des Rechtes ist das Vorrecht" 108. Und noch ein weiteres kommt hinzu: In fast allen praktisch relevant gewordenen Fällen handelten die ausführenden Beamten auf dienstliche Weisung ihrer Vorgesetzten (z.B. "Hamburger Kessel", "Bremer Wanderkessel", bei den o.g. Kontrollstellen sowie bei ausufernden ED-Behandlungen in Wackersdorf). In diesen Fällen soll nach h.M. selbst bei Rechtmäßigkeitsmängeln der Weisung der Vollzugsakt rechtmäßig sein (i.S. § 113 StGB), wenn der Vollzugsbeamte die Weisung im Vertrauen auf ihre Rechtmäßigkeit vollzieht, ohne daß er deswegen zu einer Überprüfung berechtigt, geschweige denn verpflichtet wäre 109. Dies ist besonders bedenklich deshalb, weil hierdurch gerade bei politischen Auseinandersetzungen massive, massenhafte polizeiliche Übergriffe privilegiert werden gegenüber dem Versagen eines Amtsträgers im Einzelfall. Was bleibt festzuhalten? In der Mehrzahl der praktisch relevant werdenden Fälle, in denen rechtswidrig in politische Grundrechte von Bürgern eingegriffen wird, bewertet die h.M. die Amtshandlung als strafrechtlich rechtmäßig mit der Folge, daß Widerstand gegen diese Handlungen rechtswidrig ist. Die Rechtsordnung bewertet also die - sonst rechtmäßige - Verteidigung gegen rechtswidrige Maßnahmen als rechtswidrig, weil sie rechtswidriges Verhalten von Vollzugsbeamten für rechtmäßig erklärt. Zu Recht

die Anforderungen sein, die man von einem verständigen Beamten der betreffenden Katagorie (!) in einer derartigen Situation verlangen kann, vgl. OLG Köln NStZ 1986,234 (235); Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 27; Küper, JZ 1980, 633 (635 ff.); Arzt/Weber, LH 5, Rz 133 f. Für Identität zwischen Verwaltungsrechtl. und strafirechtl. Rechtswidrigkeitsbegriff: Benfer, NStZ 1986, 255 f.; Ostendorf, JZ 1981, 165 (171 ff.); Thiele, JR 1979, 397 ff.; Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 22 m.w.N. 106 BGH NStZ 1981, 22 (23); OLG Düsseldorf NStZ 1984, 316 f.; AG Hamburg StrVert 1985, 364 f.; Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 29; wohl auch: BayObLG JZ 1980, 109 (110). AJi. OLG Stuttgart, NJW 1971, 629; v. Bubnoff in LK, § 113 Rz 34; MaurachSchroeder, BT/2, § 69 II 2 c jew. m.w.N. 107 Dies vor allem bei Irrtümern. Vgl. auch Spendel in LK, § 32 Rz 65. 108 Spendel in LK, § 32 Rz 64, seinerseits M.v.Ebner-Eschenbach zitierend. 109 BGHSt 4, 161 (162); OLG Karlsruhe, NJW 1974, 2142; OLG Köln NJW 1975, 889 (890); v. Bubnoff in LK, § 113 Rz 35; Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 31 - allerdings für beschränkte Prüfungspflicht, wenn keine klare Untergebenenstellung. A.A. Arzt/Weber, LH5, Rz 136; Ostendorf, JZ 1981, 165 (169 f., 173); Spendel in LK, § 32 Rz 74 - 103; Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 25.

286

Kap. 11: Strafiinrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

wird moniert, daß sich dies wohl kaum mit der ansonsten so hochgehaltenen These von der "Einheit der Rechtsordnung" verträgt 110. b) Zweck des strafrechtlichen

Rechtswidrigkeitsbegriffs

Wie erklärt sich dann aber der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff? Den Grund für das Festhalten an dieser Konstruktion bei der Strafrechtsreform bildete nicht die Notwendigkeit der Durchsetzung staatlicher Autorität. Hierzu wäre sie denkbar überflüssig. Staatliches Handeln erfolgt ja in aller Regel in Einklang mit der Rechtsordnung. Die Durchsetzung rechtswidrigen Verwaltungshandelns würde die Autorität eines Rechtsstaates dagegen geradezu untergraben und dem im Verwaltungsrecht längst überwundenen Irrtumsprivileg, dem großen Vorrecht des Staates sich irren zu dürfen, zu neuen Urständ verhelfen 111. Daß dies nicht richtig sein kann, zeigen weitgehende Rechtsschutzmöglichkeiten bis hin zu Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen. Welchem Zweck dient also der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff? Er "trägt dem Gesichtspunkt Rechnung, daß sich ein Vollstreckungsbeamter häufig in der Lage sieht, in einem schwierig gelagerten Fall Entscheidungen zu treffen und es ihm oft nicht möglich ist, die gesamten Umstände zu sehen und richtig zu würdigen. Würde hier der strenge verwaltungsrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff zugrunde gelegt, so wäre das Risiko des Beamten zu groß und dadurch die Gefahr gegeben, daß seine Initiative gelähmt würde" 112. Der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff wurde somit in erster Linie entwickelt, um die Vollstreckungsbeamten ihrerseits vor strafrechtlichen Sanktionen zu bewahren, etwa vor einer Verfolgung wegen Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) oder Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB). Dieses Anliegen ist in einem Grenzbereich durchaus sachgerecht, denn nicht bei jeder auch noch so geringen Überschreitung verwaltungsrechtlicher oder strafprozessualer Kompetenzen liegt auf Seiten der Vollzugsbeamten bereits strafwürdiges Unrecht vor, ein schlagender Beweis für die Notwendigkeit differenzierter Rechtswidrigkeitsbegriffe. Der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff kann also als geradezu klassi-

110

Benfer NStZ 1985, 255 (256); Ostendorf JZ 1981, 165 (166); Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz

22. 111

So auch: Spendel in LK, § 32 Rz 64; Arzt/Weber, LH 5, Rz 133. So wörtlich der Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucksache VI/502, S. 5. Ebenso KG NJW 1972, 781 (782); OLG Karlsruhe, NJW 1974, 2142 (2143 f.); OLG Köln NStZ 1986, 234 (235) m.w.N. Vgl. aber auch Thiele, JR 1981, 30 (31), der unter Bezugnahme auf frühere BT-Protokolle einen gesetzgeberischen Willen zur Festschreibung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs überhaupt leugnet. 112

III. Strafiinrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige Grundrechtseingriffe

287

scher Strafunrechtsausschließungsgrund bezeichnet werden. Nur aus dieser Blickrichtung wird auch erklärbar, daß es bei den einzuhaltenden Sorgfaltspflichten auf einen 'Verständigen Beamten der betreffenden Kategorie in einer derartigen Situation" ankommen soll 113 . c) Die Lehre von der Identität der Rechtswidrigkeitsbegriffe Doch muß nicht das, was für die Vollzugsbeamten auf der einen Seite als richtig erkannt wurde, umgekehrt, gleichsam spiegelbildlich auch für die betroffenen, ihre Grundrechte verteidigenden Bürger gelten? Die Tatsache, daß Vollstreckungsbeamte vor überzogener Kriminaliserung geschützt werden sollen, darf nicht auf Kosten bürgerlicher Freiheiten gehen. In der Literatur wird deshalb zum Schutz der Bürger vor unverhältnismäßiger Strafverfolgung zunehmend die Identität der Rechtswidrigkeitsbegriffe gefordert, dies allerdings i.S. des verwaltungsrechtlichen Rechtswidrigkeitsurteils 114. Diese Auffassung hat zur Konsequenz, daß sich Vollzugsbeamte automatisch strafbar machen. Die Fronten scheinen hier verkehrt: Es darf nicht darum gehen, Vollstreckungsbeamte und Bürger im Strafrecht gegeneinander auszuspielen. Erforderlich ist vielmehr eine Lösung, die alle Beteiligten vor unverhältnismäßiger Strafverfolgung schützt. d) Die Irrtumsregelung

des § 113 Abs. 4 StGB

Ehe aber eine solche Lösung entwickelt wird, ist zu klären, ob nicht die Irrtumsregelung in § 113 Abs. 4 StGB ein ausreichendes Korrektiv bildet. Der Hinweis, daß es dogmatisch nicht gleichgültig sein kann, daß Unrechtsgesichtspunkte erst bei der Schuld oder Strafzumessung zum Zuge kommen, mag Praktiker wenig beeindrucken. Die Unzulänglichkeit muß also aus der Regelung selbst erklärt werden. Dabei fällt zunächst auf, daß die Vorschrift hinsichtlich ihres Anwendungsgebietes in mehrfacher Hinsicht beschränkt ist: Sie betrifft ausschließlich die Strafbarkeit nach § 113 StGB und selbst dort nur den Irrtum hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung. Inhaltlich behandelt sie den Irrtum des Bürgers in der Sache wie einen Sonderfall des Verbotsirrtums. Entscheidend ist

113 Die Mm. (vgl. Arzt/Weber, LH 5, Rz 133; Spendel in LK, § 32 Rz 64), die einen geteilten Rechtswidrigkeitsbegriff ablehnt, nimmt bei einem Tatsachenirrtum der Beamten konsequenterweise einen Erlaubnistatbestandsirrtum an. Zur Problematik dieser Auffassung näher unten. 114 Benfer NStZ 1985, 255 (256); Ostendorf JZ 1981, 165 (166); Spendel in LK, § 32 Rz 68; Thiele, JR 1979, 397 ff.; Wagner, JUS 1975, 224 (226 f.); Zielinski in AK-StGB, § 113 Rz 22.

288

Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

zunächst die Vermeidbarkeit, an die wie bei § 17 StGB strenge Anforderungen zu stellen sind115. Damit aber nicht genug. War der Irrtum unvermeidbar, kommt es weiter auf die Zumutbarkeit an, sich mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige Diensthandlung zu wehren. Zumindest letzteres wäre bei einem Eingriff in das Demonstration- bzw. Streikrecht wohl unzumutbar, da es sich um Augenblickssituationen handelt, in denen Rechtsschutz kurzfristig nicht zu erlangen ist, jedenfalls erst dann, wenn der mit der Grundrechtsausübung verfolgte Zweck sich erledigt hat. Letztlich unbrauchbar wird die Regelung allerdings dadurch, daß auch sie wieder an den strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriff anknüpft. Schon James Goldschmidt 116 hat diesen Mißstand im Jahre 1910 angeprangert. Er führe "zu dem absonderlichen Resultat, die Strafbarkeit des Widerstandes abhängig zu machen nicht von dem guten Glauben des Täters, sondern von dem guten Glauben eines Dritten. Das Gesetz kann von dem Einzelnen verlangen zu prüfen, ob eine Handlung des Beamten in Übereinstimmung mit dem Recht sich befindet, ehe er sich dazu entschließt, dem Beamten Widerstand entgegenzusetzen; aber es kann nicht verlangen, daß er den Seelenzustand des Beamten prüfe und untersuche, ob derselbe sich in gutem Glauben befinde und er sich in entschuldbarer Weise geirrt habe, oder ob dessen Irrtum ein grober und leicht vermeidbarer gewesen wäre. Diese letzteren Fragen hat der Richter zu prüfen, wenn ihm die Frage der Strafbarkeit des Beamten, der rechtswidrig gehandelt hat, vorliegt, nicht aber, wenn es sich um die Frage handelt, ob der Widerstand gegen den angeblich rechtswidrigen Angriff gerechtfertigt war. Tatsächlich entsteht aber immer, sobald man dem guten Glauben des Beamten die Kraft beilegt, die Amtshandlung zu einer rechtmäßigen zu erheben, diesselbe Frage, der man nicht ohne Schaudern ins Gesicht sehen kann, nämlich welche Wirkungen sich an den Irrtum des Bürgers über den Irrtum des Beamten knüpfen." 117 Spätestens hier wird die Konstruktion zur Groteske 118. Benfer 119 hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, daß viele Bürger heute die Befugnisse der Polizei bzw. anderer Amtsträger sehr genau

115 Vgl. OLG Köln NJW 1982, 296 (297); v. Bubnoff in LK, § 113 Rz 48; Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 56. 116 Goldschmidt in: Festgabe für Gierke, III (1910), S. 109 (125 f.) 117 Liest man den Beitrag Goldschmidts, so stellt man fest, daß die Diskussion bis heute nicht weit über den bereits zu Beginn des Jahrhunderts erreichten Stand hinaus gekommen ist 118 Vgl. ein ähnlich drastisches Beispiel bei Spendel in LK, § 32 Rz 65. 119 Benfer, NStZ 1985, 255 (256).

III. Strafnrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige Grundrechtseingriffe

289

kennen und in der Lage sind zu entscheiden, ob die Tatbestandsmerkmale einer Eingriffsnorm erfüllt sind120. Im Bereich politischer Grundrechte kommt hinzu, daß wohl kaum ein größerer Streik oder eine größere Demonstration heute noch ohne "ambulanten" Rechtsbeistand (d.h. bei der Aktion gegenwärtige Rechtsanwälte, Richter oder - im Falle gewerkschaftlich organisierter Streiks - Rechtssekretäre) stattfinden. Stellt der Bürger dann fest, daß für die Durchführung eines Grundrechtseingriffs die rechtliche Basis fehlt, so wird von ihm verlangt, daß er sich nur deshalb unterwirft, weil der Beamte örtlich und sachlich zuständig ist und die wesentlichen Formalitäten eingehalten hat 121 . Wehrt er sich gegen die Verletzung seiner verfassungsmäßig garantierten Rechte in Kenntnis des Fehlens der materiellrechtlichen Eingriffsbefugnisse, liegt strafrechtliches Unrecht vor. Er befindet sich zudem im Irrtum (!), im Irrtum nämlich über die strafrechtlichen Rechtmäßigkeitserfordernisse. Dieser Irrtum wiederum ist zweifellos vermeidbar, denn der anwesende Rechtsanwalt, Richter oder Rechtssekretär kann ja Auskunft auch über den strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriff geben. In den relevanten Fällen also läuft die Irrtumsregelung leer. Die Gesamtkonstruktion führt zudem zu rechtsstaatlich untragbaren Ergebnissen. 4. Ein strafrechtlicher RechtswidrigkeitsbegrifF ist überflüssig für § 113 StGB Wie kann aber allen beteiligten Interessen Rechnung getragen werden? Es ist sicher richtig, daß staatliche Vollstreckungsakte von betroffenen Bürgern zunächst und in aller Regel hinzunehmen sind. In der konkreten Situation bleibt den Betroffenen ohnehin kaum etwas anderes übrig. Dies gilt auch für die Fälle, in denen ein Verwaltungsakt zwar rechtswirksam, wenn auch nicht rechtmäßig ist 122 , also etwa da, wo ein Gerichtsvollzieher einen rechtswidrig erlangten Titel vollstreckt oder schuldnerfremde Sachen pfändet. Andererseits wurde in jüngerer Zeit des öfteren in rechtsstaatswidriger Weise massiv in Grundrechte, auch in politische Grundrechte von Bürgern eingegriffen. Soweit hier Widerstandsakte vorkommen, haben sie - angesichts polizeilicher Übermacht und Bewaffnung - ohnehin nur symbolischen Charakter. Bei der Bewertung dieser Akte sollte folgendes bedacht werden: Solange lediglich der Tatbestand des § 113 StGB ver120 Auch dies im übrigen ein Fortschritt zunehmender Demokratisierung und zunehmenden Bewußtseins für Rechtsstaatlicheit! 121 Sowie, wenn der Beamte nicht auf Weisung handelt, nicht zu einer völlig abwegigen Einschätzung gelangt ist. 122 Z u dieser Unterscheidung: Wagner, JuS 1975, 224 (226); Thiele, JR 1979, 397 (398 f.), der selbst allerdings weitergeht und Strafunrechtsausschluß sogar bei Widerstand gegen rechtswidrige, aber rechtswirksame Verwaltungsakte annimmt. 19 Reichert-Hammer

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Kap. 11: Strafnrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

wirklicht wird, bleibt die Eingriffsintensität gering. Der Widerstand wendet sich zudem gegen rechtswidrige Übergriffe des Staates. Im Ergebnis verhilft er dem Recht zum Durchbruch, und zwar nicht irgendeinem Recht, sondern einem politischen Grundrecht, einem Freiheitsrecht. Diese Widerstandshandlungen mögen Verwaltungsungehorsam darstellen. Den Grad kriminellen Unrechts erreichen sie jedenfalls dann nicht, wenn sie gleichzeitig die höchst möglichen Handlungs- und Erfolgs werte verkörpern, nämlich in Verteidigung eines politischen Grundrechts erfolgen. Auch hier erfüllt der Strafunrechtsausschluß die Funktion eines "demokratischen Korrektivs". Behindert der Staat die Ausübung demokratischer Rechte in feststellbar rechtswidriger Weise, so sollte er zumindest auf die Bestrafung betroffener, ihre Rechte verteidigender Bürger verzichten. Dann ist auch wieder Waffengleichheit hergestellt: eine Einschränkung der Strafrechtswidrigkeit auf beiden Seiten. Strafunrechtsausschluß ist zwar da von besonderer Bedeutung, wo in die demokratische Willensbildung (Demonstrationsrecht) bzw. in die Tarifautonomie (Streikrecht) eingegriffen wird. Doch stellt jede rechtswidrige staatliche Zwangsmaßnahme notwendig einen Eingriff in persönliche, durch die Verfassung verbürgte Freiheitsrechte dar. Es ist deshalb sachgerecht, den Ausschluß der Strafrechtswidrigkeit auf den Widerstand gegen alle rechtswidrigen staatlichen Vollzugsmaßnahmen auszudehnen. In der Sache läuft eine differenzierende Rechtswidrigkeitsbetrachtung bei § 113 StGB somit auf die Forderung nach Identität der verwaltungsund strafrechtlichen Rechtwidrigkeitsbegriffe hinaus. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, die Erklärung erschließt sich jedoch schnell: § 113 StGB betrifft ausschließlich die Strafbarkeit Widerstand leistender Bürger. Der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff der h.M. indes bezweckt den Schutz der Vollstreckungsbeamten vor überzogener Kriminalisierung. Er erweist sich deshalb bei § 113 StGB als überflüssig. 5. Notwendigkeit begrenzten Strafunrechtsausschlusses für Bürger und Polizei im allgemeinen Strafrecht Warum dann soviel dogmatischer Aufwand für ein solch lapidares Ergebnis? Die hier dargelegten Überlegungen weisen weit über § 113 StGB hinaus. Hinsichtlich seines Geltungsbereichs ist dieser Strafunrechtsausschließungsgrund nämlich ebensowenig auf § 113 StGB beschränkt wie der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff der h.M. Ausschluß von Strafrechtswidrigkeit ist deshalb unter den o.g. Voraussetzungen ebenso anzu-

III. Strafnrechtsausschluß bei Widerstand gegen rechtswidrige Grundrechtseingriffe

291

nehmen bei einfachen Körperverletzungen, Beleidigungen, Sachbeschädigungen123 und Freiheitsberaubungen 124. Auch dieses Ergebnis ließe sich freilich einfacher erzielen, verzichtete man mit der Mindermeinung völlig auf differenzierende Rechtswidrigkeitsbegriffe. Dann nämlich stünden den betroffenen Bürgern die Notrechte in vollem Umfang zur Verfügung 125. Diese Auffassung geht indes zu weit. Man stelle sich vor: Bei massiven rechtswidrigen Freiheitsberaubungen durch die Polizei, wie beispielsweise geschehen beim Hamburger Kessel, hätten die Demonstranten dann unzweifelhaft in Ausübung ihres Notwehrrechts von der Schußwaffe Gebrauch machen können!126 Bürgerkrieg wäre die Folge. Schon bei relativ geringfügigem Überschreiten ihrer Befugnisse hätten Vollstreckungsbeamte mit massiver Gegenwehr zu rechnen. Es leuchtet ein, daß ein solches Ergebnis nicht wünschenswert wäre. Vernünftig ist deshalb eine Lösung, die die beteiligten Interessen in eine "praktische Konkordanz" bringt: Für die strafrechtliche Beurteilung staatlichen Handelns gilt ein strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff. Dogmatisch handelt es sich hierbei um einen Strafunrechtsausschließungsgrund. Gegenüber dem strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriff der h.M sind aber Einschränkungen geboten. Polizeiliche Übergriffe können ganausowenig grenzenlos straflos bleiben wie Widerstandshandlungen von Bürgern. Bei Individualentscheidungen zieht die h.M. hier bereits selbst Grenzen (Unbeachtlichkeit von Rechtsirrtümern; Prüfungspflicht bei Tatsachenirrtümern). Diese müssen aber auch bei Handeln auf Befehl gezogen werden. Zwar ist es grundsätzlich sachgerecht, daß derselbe Staat, der durch Vorgesetzte seine Amtsträger zu rechtswidrigem Verhalten anweist, ihnen u.U. Informationen vorenthält oder falsche Informationen (z.B. über Gefahrprognosen bei Demonstrationen) gibt, sich gegenüber seinen ausführenden Organen keinen Strafanspruch anmaßen darf. Andererseits darf man aber von untergebenen Beamten in einem demokratischen Staat erwarten, daß sie Anweisungen zumindest auf offenkundige Rechtsfehler (z.B. Fehlen einer Ermächtigungsnorm) überprüfen. Dabei sind die Anforderungen an eine Prüfungspflicht um so strenger, je schwerer der

123

Und zwar auch nach §§ 305 a und 316 b, soweit der rechtswidrige Eingriff von diesen Gegenständen ausgeht. 124 Vgl. zu einer ähnlichen Grenzziehung beim elterlichen Erzieherprivileg Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 354; Verf., JZ 1988, 617 (620 f.). 125 So ausdrücklich Spendel in LK, § 32 Rz 103. 126 Die Erforderlichkeit bietet hier kein ausreichendes Korrektiv. Im konkreten Fall war es den Betroffenen ja schon physisch unmöglich, gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

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Kap. 11: Strafiinrechtsausschluß bei politisch zielgerichtetem Handeln

Eingriff ist 127 . Insgesamt wird man sagen können, daß rechtswidrige Eingriffe nicht in größerem Umfang straffrei bleiben können als dies auf Seiten der Bürger angenommen wird. Für die strafrechtliche Behandlung von Widerstandshandlungen der Bürger gegenüber rechtswidrigen Übergriffen von Vollstreckungsorganen gilt bei § 113 StGB der allgemeine Rechtswidrigkeitsbegriff. Widerstandshandlungen stellen also kein strafrechtliches Unrecht dar 128 . Da bei den allgemeinen Tatbeständen auf Seiten der Staatsorgane ein strafrechtlicher Rechtswidrigkeitsbegriff Gültigkeit hat, ist Widerstand leistenden Bürgern insoweit ein Rückgriff auf die allgemeinen Notrechte versagt. Der strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff beinhaltet nämlich wie dies die h.M. auch für § 113 StGB bejaht - eine normative Einschränkung der Notrechte: Er schützt die im Alltag einem hohen Risiko ausgesetzten Polizeibeamten vor schweren Übergriffen, die die Notrechte, wie oben anschaulich aufgezeigt, ansonsten ermöglichen würden. Dies ist jedenfalls in gewissen Grenzen - notwendig, denn es kann nicht zugelassen werden, daß Polizeibeamte, auf deren Rücken zunehmend gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden, regelrecht "verheizt" werden, wie es drastisch der frühere GdP-Vorsitzende einmal ausgedrückt hat. In den notwendigerweise engen Grenzen - dieses strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs sind Widerstandshandlungen also nicht erlaubt. Sie dürfen unterbunden werden, was in der Praxis ja ohnehin geschieht. Die Bürger können sich ihrerseits aber auf einen Strafunrechtsausschließungsgrund der notstandsähnlichen Lage im grundrechts(nahen) Bereich berufen. Dessen Grenzen wurden oben bereits aufgezeigt. Dieser "Entwurf 1 mag auf den ersten Blick etwas kompliziert erscheinen. Er kann aber für sich in Anspruch nehmen, allen beteiligten Interessen gerecht zu werden und jedenfalls nicht größere Abgrenzungsprobleme zu schaffen als die bisher vorherrschende Auffassung. Hinsichtlich seiner Radikalität verlangt er nicht mehr und nicht weniger als eine strafrechtliche Gleichbehandlung zwischen Polizei und Bürgern.

127

Vgl. hierzu auch Eser in Schönke/Schröder, § 113 Rz 31; Spendel in LK, § 32 Rz 74 - 103. Dabei kann offen bleiben, ob es sich bei der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung um ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes oder einen Strafiinrechtsausschließungsgrund ähnlich § 240 Abs. 2 StGB handelt. 128

Kapitel 12

Nachbetrachtung: Konsequenzen für § 240 Abs.2 StGB I. Dogmatische Grundlagen In Erinnerung gerufen seien zunächst noch einmal die dogmatischen Grundlagen, die bereits zu Anfang der Arbeit (Kapitel 2) herausgearbeitet worden sind. 1. Rechtscharakter Die Verwerflichkeitsklausel verkörpert ein spezielles strafrechtliches Rechtfertigungselement. In ihr begegnen wir dem klassischen Strafunrechtsausschließungsgrund. Hier geht es nicht um die Frage, ob jemand zu einem bestimmten Handeln berechtigt ist, sondern allein darum, ob erhöhtes strafwürdiges Unrecht vorliegt. Umstände, die das beeinträchtigte Rechtsgut, hier die Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit, betreffen, sind zunächst bei der Tatbestandsprüfung zu beachten. Hierzu zählen namentlich Dauer und Intensität der Aktion sowie das Ausmaß der Beeinträchtigung von Rechtsgütern Dritter. Diese Umstände sind bei der Prüfung der Verwerflichkeit in Beziehung zu setzen zum eigentlichen Zweck der Handlung. Hier hat eine Abwägung zu erfolgen zwischen der Rechtsgutsbeeinträchtigung auf der einen, sowie weiteren Zielen, d.h. Rechten und Interessen auf der anderen Seite, zu deren Wahrung der Täter die Rechtsgutsbeeinträchtigung vorgenommen hat. 2. Beurteilungsgrundlage Erforderlich ist eine umfassende Güterabwägung aller auf dem Spiele stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der

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Kap. 12: Nachbetrachtung: Konsequenzen für § 240 Abs. 2 StGB

jeweiligen Situation1. Was die einzustellenden Belange angeht, bestehen Parallelen zur Interessenabwägung beim rechtfertigenden Notstand. Strafunrechtsausschließungsgründe bezeichnen nicht anders als Rechtfertigungsgründe Merkmale, genauer: Umstände und Situationen, die die Strafbarkeit beschränken, deren Vorliegen sich also zugunsten des Täters auswirkt. Im Strafrecht ist seit jeher anerkannt, daß die Ausprägung solcher Rechtfertigungselemente zu den Aufgaben von Rechtsprechung und Lehre zählt. Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG 2 die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz in diesem Bereich auf ein Minimum heruntergeschraubt: "Da diese Einschränkung von den Umständen des jeweiligen Falles abhängt, entzieht sie sich einer im voraus bestimmbaren normativen Umschreibung in ähnlicher Weise wie die Güterabwägung im Falle des Notstandes (§ 34 StGB) oder der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB). In derartigen Fällen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber sich mit sprachlich verständlichen wertungsabhängigen Begriffen begnügt und deren Anwendung im Einzelfall dem Richter überträgt." Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes ist es, den Unrechtstypus festzulegen, d.h. in erster Linie zugunsten des Täters die strafbarkeitsfeegmwdenden Merkmale zu limitieren 3. Umgekehrt bedeutet dies, daß er sich im Bereich der Rechtfertigung nur insoweit auswirkt, als Merkmale, die die Rechtfertigung einschränken, eng auszulegen sind. Dies gilt um so mehr, je unbestimmter die Rechtsvorschrift ist. Diese Frage hat sich dem BGH im "Mensurfall" 4 bei der parallelen Problematik in § 226 a StGB gestellt. Dort ist eine Rechtfertigung dann ausgeschlossen, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. Der BGH führt hierzu aus: "Eine solche Verweisung auf das Sittengesetz ist vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus nicht ohne grundsätzliche Bedenken. Sie kann weitgehende Unsicherheit darüber zur Folge haben, welche Tatbestände5 mit Strafe bedroht sein sollen. Eine derart unbestimmte Vorschrift muß, um in einem Rechtsstaat erträglich zu sein, zugunsten des Angeklagten eng ausgelegt werden."

1

BVerfGE 73, 206 (255 f.); BGHSt 34, 71 (77); Eser in: Schönke/Schröder, § 240 Rz 17. BVerfGE 73, 206 (238 f.). Ebenso: Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 18; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 232 ff., 298 f. mit vielen weiteren Nachweisen in Fußnote 30; Jescheck, AT, § 24 I 3 b, § 31 II 3; Lenckner in Schönke/Schröder, vor §§ 13 Rz 18 a.E., vor §§ 32 ff. Rz 25; Schäfer in LK, § 240 Rz 65. 3 Hierzu bereits ausführlich oben, Kapitel 2, II 3; Kapitel 4, III; Kapitel 5 n; Kapitel 10. 4 BGHSt 4, 24 (32). 5 Gemeint wohl: Tatumstände. 2

I. Dogmatische Grundlagen

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Hierin wird deutlich, daß der Bestimmtheitsgrundsatz niemals zu Ungunsten des Täters herangezogen werden kann. Er ist vielmehr schon vom Ansatz her völlig ungeeignet, den Bereich des Strafunrechtsausschlusses zu begrenzen. Für § 240 Abs. 2 bedeutet dies: Der Bestimmtheitsgrundsatz bildet keine Schranke für die Auswahl der in die Interessenabwägung zugunsten des Täters einzustellenden Belange. Umgekehrt können aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie das Gebot schuldangemessenen Strafens eine umfassende Berücksichtigung aller tätergünstigen Belange gebieten6. 3. Beurteilungsmaßstab Unabhängig davon, ob auf das "allgemeine Sittengesetz", das "Rechtsempfinden des Volkes" oder die "soziale Unerträglichkeit des Verhaltens" abgestellt wird 7, trifft die Entscheidung letztlich der mit der Sache befaßte Spruchkörper nach seinen ethischen Vorstellungen, seinem Rechtsempfinden bzw. seinen rechtspolitischen Überzeugungen. Da niemals Umfragen durchgeführt werden, bleiben die "verobjektivierenden" Maßstäbe Fiktion. Dies gilt unabhängig davon, ob und in welchem Umfang Fernziele in die richterliche Beurteilung Eingang finden. Wertungen sind so oder so zu treffen 8. Das Urteil über die Verwerflichkeit wird um so stärker von Wertesystem und Vorverständnis des Urteilenden geprägt, als klare Kriterien für die Beurteilung fehlen. Je klarer und einleuchtender wertungsausfüllende Kriterien von Rechtsprechung und Lehre herausgearbeitet werden, um so geringer ist der Spielraum, der den Gerichten verbleibt. Einen ersten Ansatz in diese Richtung haben das BVerfG und im Anschluß daran die Strafgerichte unternommen. Bevor näher darauf eingegangen wird, sollen aber (nochmals) einige fundamentale Abwägungskriterien in Erinnerung gerufen werden: - Von Sittenwidrigkeit oder sozialer Unerträglichkeit kann nur gesprochen werden, wenn wenigstens in Ansätzen ein grundlegender Konsens über die Strafwürdigkeit des Verhaltens in Justiz und Bevölkerung besteht. In diesem Sinne hat der BGH in der bereits zitierten "Mensur"-Entschei-

6 Darüber, ob dies notwendigerweise auch eine Einbeziehung sog. Fernziele bedeutet, konnten die Richter des 1. Senats beim BVerfG keine Einigung erzielen, vgl. BVerfGE 73, 206 (257 ff.). 7 Zur Problematik der einzelnen Merkmale s.o. Kapitel 2 II 2. 8 Hierzu ausführlich bereits oben Kapitel 2. Grundlegend hierzu auch Brink/Keller, KJ 1983,107 ff.

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Kap. 12: Nachbetrachtung: Konsequenzen für § 240 Abs. 2 StGB

dung9 festgestellt: "Als Verstoß gegen die guten Sitten kann deshalb in diesem strafrechtlichen Sinne nur das angesehen werden, was nach dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zweifellos kriminell strafwürdiges Unrecht ist." Diese Formel hat in zahllose Urteile zur Verwerflichkeitsklausel Eingang gefunden. Wo es an diesem Fundamentalkonsens fehlt, sollte nicht eine Gruppe ihr Verständnis mit den Mitteln des Strafrechts durchsetzen. - Damit ist auch schon der zweite Punkt angesprochen: Bei § 240 Abs. 2 geht es - wie festgestellt - nicht um Rechtfertigung, sondern lediglich um den Ausschluß "kriminell strafwürdigen Unrechts". Ist nicht die Grenze zwischen Recht und Unrecht, sondern lediglich die Grenze zu strafwürdigem Unrecht zu ziehen, so verschiebt sich der Abwägungsmaßstab erheblich: Die Interessen beeinträchtigter Dritter treten angesichts anderweitiger Schutzmöglichkeiten zurück. Das Prinzip des Strafrechts als ultima ratio, als letzte, weil zugleich schärfste Waffe des Staates, gewinnt an Bedeutung. Deshalb ist hier ein deutlich großzügigerer Abwägungsmaßstab anzulegen als bei der Interessenabwägung beim rechtfertigenden Notstand10. - Gerade im Bereich politischer Auseinandersetzungen ist schließlich die friedensstiftende Funktion des Rechts zu bedenken. Recht soll nicht be~ frieden i.S. von Friedhofsruhe. Im freiheitlichen Rechtsstaat besteht vielmehr der Anspruch an die Recht-Sprechenden, einen möglichst gerechten und von den Beteiligten auch als gerecht empfundenen Interessenausgleich herbeizuführen. Dieser Anspruch rückt mögliche Auswirkungen und Folgen einer Kriminalisierung politischer Auseinandersetzungen ins Blickfeld. Notwendige Fragestellungen müssen etwa lauten: Sollen Menschen, die gewiß "keine typischen kriminellen Gewalttäter" 11 sind, kriminalisiert werden, ohne daß auf ihre eigentlichen Ziele, die Verteidigung fundamentaler Rechtsgüter eingegangen wird. Soll eine von den Betroffenen als besonders hart empfundene Stigmatisierung durch das Urteil "verwerflich" oder "sozial schädlich" und damit die Ausgrenzung eines gesellschaftlichen wichtigen "Frühwarnpotentials" in Kauf genommen werden. Muß wirklich das Strafrecht dafür herhalten, um anderswo bestehende Defizite an Bürgerpartizipation auszugleichen?

9 10 11

BGHSt 4, 24 (32). Verkannt von Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (53). Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2583) - Was auch immer man darunter verstehen mag!

I

Zu berücksichtigende Ziele (Belange)

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IL Zu berücksichtigende Ziele (Belange) Handelt es sich bei der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ihrem Rechtscharakter nach um einen Strafunrechtsausschließungsgrund, so liegt damit die Antwort bereits auf der Hand, daß weitere über die Tatbestandsverwirklichung hinausgehende Rechte, Ziele und Interessen zu berücksichtigen sind. Zu klären bleibt, welche Ziele in die Beurteilung einzugehen haben und wie diese zu gewichten sind. 1. Das unmittelbare Nötigungsziel Das unmittelbare Nötigungsziel muß nach übereinstimmender Auffassung des 1. Senats beim BVerfG Eingang in die Verwerflichkeitsprüfung finden 12. Wenn der Gesetzgeber die Strafbarkeit in § 240 Abs. 2 StGB von sittlichen Wertungen abhängig mache, dann dürfe der Richter bei der konkreten Abwägung den eigentlichen Anlaß und das alleinige Motiv der Tat als einen der wichtigsten Umstände für eine solche Wertung nicht außer Betracht lassen. Soweit es um "unpolitische" Fallgestaltungen geht, ist dies für die Fachgerichte bare Selbstverständlichkeit. Eingangs der Arbeit wurden hierfür bereits Fallbeispiele genannt13. An zwei Beispielen aus dem Bereich der Nötigung im Straßenverkehr kann dies nochmals exemplarisch veranschaulicht werden. (1) Ein Autofahrer verdrängt durch dichtes Auffahren, Betätigung von Hupe und Lichthupe etc. über eine Strecke von mehreren Kilometern sämtliche Fahrzeuge von der Überholspur. Hier läßt sich eine Abfolge verschiedener Ziele unterscheiden: Als "Nahziele" die Lenkbewegung der Vorausfahrenden mit der Folge des Spurwechsels ihrer Fahrzeuge, als unmittelbares Nötigungsziel die schnellere Ankunft am Zielort oder aber die Absicht, einen Verletzten auf schnellstem Wege ins Krankenhaus zu bringen, als denkbare "Fernziele" die rechtzeitige Ankunft zu einem Fernsehfilm oder aber die Lebensrettung eines Patienten. Es leuchtet ein, daß die über die Tatbestandsverwirklichung hinausgehenden Ziele sich unmittelbar auf das Unwerturteil der Tat auswirken14. Verfolgt der Täter allein das eigensüchtige Ziel, möglichst schnell nach Hause zu kommen, so wird man, eine entsprechend intensive Beeinträchtigung der Entschluß-

12 13 14

Vgl. oben Kapitel 1, II. S.o. Kapitel 2, II 1. A.A. Arzt, JZ 1988, 775 (777), der allein auf den Spurwechsel abstellen will.

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Kap. 12: Nachbetrachtung: Konsequenzen für § 240 Abs. 2 StGB

freiheit Dritter vorausgesetzt15, an der Verwerflichkeit nicht zweifeln. Will der Täter dagegen einen anderen (oder auch sich selbst) ins Krankenhaus transportieren, kann es an der Verwerflichkeit selbst dann fehlen, wenn die Notstandsvoraussetzungen etwa mangels Erforderlichkeit nicht vorliegen. (2) Einen anderen Fall hatte das BayObLG16 zu entscheiden: Ein PKW-Fahrer hatte sein Fahrzeug im Stau auf der rechten Fahrbahn abgestellt, war ausgestiegen und weggegangen. Hierdurch wurde der ohnehin schon gestaute nachfolgende Verkehr erheblich beeinträchtigt. AG und LG verurteilten den Angeklagten wegen Nötigung. Auf die Revision hob das BayObLG das Urteil auf. Weil das Urteil zeigt, welch klare Problemsicht möglich ist, wenn kein politischer Hintergrund den Blick trübt, sollen die wesentlichen Teile im Wortlaut wiedergegeben werden: "Es muß also die Verquickung des Mittels mit dem angestrebten Zweck als im sozialethischen Sinn anstößig anzusehen und damit nach allgemeinem Urteil in einem erhöhten Grad sittlich zu mißbilligen sein. Es genügt nicht schon, daß eine rechtswidrige Behinderung eines anderen Verkehrsteilnehmers im Straßenverkehr als vorsätzliche Verkehrsordnungswidrigkeit zu mißbilligen ist. Vielmehr muß die Tat durch Verquickung von Mittel und Zweck in einem solchen Grad verwerflich sein, daß sie ein als Vergehen strafwürdiges Unrecht, also ein über die Erfüllung eines bloßen Bußgeldtatbestandes hinausgehendes Unrecht darstellt. Ob das angewandte Mittel im Verhältnis zum verfolgten Zweck als verwerflich, also als sozial unerträglich anzusehen ist, ist unter Anlegung eines strengen Maßstabes unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Dabei kann auf die Feststellung der Motivation des Täters in der Regel nicht verzichtet werden, weil nach § 240 I I StGB der angestrebte Zweck in seiner Relation zum angewandten Mittel das entscheidende Kriterium für die Rechtswidrigkeit ist. Das LG hat den vom Angeklagten mit seinem Verhalten verfolgten Zweck nicht positiv festgestellt. Es hat lediglich die Einlassung des A., er habe sein Fahrzeug wegen eines Defektes abgestellt, als widerlegt angesehen und das Beweisthema des Hilfsbeweisantrages, der A. habe am Tattag einen Arzttermin ... gehabt, als wahr unterstellt. Das LG 15 Vgl. hierzu den Überblick bei: Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 24, sowie neuerdings OLG Düsseldorf, NJW 1989, 51. 16 BayObLG, NJW 1989, 1621.

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Zu berücksichtigende Ziele (Belange)

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konnte auch nicht feststellen, daß der A. mit seinem Verhalten die Einwirkung auf den fremden Willen als solchen bezweckte, z.B. aus Verärgerung über ein Verhalten eines der nachfolgenden Verkehrsteilnehmer, so daß die Beeinträchtigung der Entschlußfreiheit nur die FolgeWirkung eines anders motivierten Verhaltens war." Im Anschluß äußert der Senat gar Bedenken, ob in einem solchen Fall überhaupt eine Nötigungshandlung vorliege, um dann mögliche Abwägungsgesichtspunkte aufzulisten: "Zum anderen sind verschiedene Beweggründe denkbar, die das Verhalten des A. nicht als im sozialethischen Sinne unerträglich erscheinen lassen würden. Insbesondere würde der vom LG in Erwägung gezogene Grund, daß der A. anhielt, um seiner Frau von der nächsten Telefonzelle aus mitzuteilen, daß der Arzttermin um 18 Uhr sich noch weiter verschieben werde, weil er im Stau stecke, zwar nichts an der Rechtswidrigkeit der begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit ändern, aber es nicht rechtfertigen, sein Verhalten als verwerflich i.S. von § 240 I I StGB zu beurteilen. Als eine im sozialethischen Sinn als anstößig anzusehende und damit nach allgemeinem Urteil in einem erhöhten Grad sittlich zu mißbilligende Einwirkung auf die Entschlußfreiheit anderer kann ein derart motiviertes Verhalten auch dann nicht bewertet werden, wenn es zu einer erheblichen Behinderung führt." Welche Aussagen lassen sich der Entscheidung entnehmen? - Hinsichtlich der Behinderung (Blockade einer Fahrbahn im Stau) zweifelt das Gericht sogar das Vorliegen einer Nötigungshandlung an17. - Rechtsdogmatisch wird § 240 Abs. 2 als Strafunrechtsausschließungsgrund behandelt. Hinsichtlich des Beurteilungsmaßstabes wird - für die Rspr. typisch - pragmatisch sowohl auf sittliche Mißbilligung wie auch auf die soziale Unerträglichkeit des Verhaltens abgestellt. - Wie das BVerfG differenziert das Gericht zwischen in Kauf genommener Folgewirkung (Nötigungserfolg) und eigentlichem, darüber hinaus reichendem Zweck der Nötigung. - Der Zweck der Nötigung wird charakterisiert durch die letztlich für das Handeln entscheidende Motivation des Täters. Gemeint ist damit nichts anderes als das letztlich mit der Tat verfolgte Ziel. Auch im Urteil des BVerfG werden die Begriffe "alleiniges Motiv der Tat" und "unmittelbares Nötigungsziel" synonym verwendet18. 17 18

Vgl. hierzu auch Eser in Schönke/Schröder, vor § 234 Rz 15 f., § 240 Rz 24. BVerfGE 73, 206 (258). Zur Terminologie siehe bereits oben Kapitel 3.

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Kap. 12: Nachbetrachtung: Konsequenzen für § 240 Abs. 2 StGB

- Das Ziel, der Ehefrau die Verschiebung eines Arzttermins mitzuteilen, betrachtet das Gericht als geeignet, der Tat den Charakter kriminellen Unrechts zu nehmen. - Dies soll auch für den Fall gelten, daß es zu erheblichen Behinderungen kommt. Das Urteil des BayObLG steht keineswegs isoliert da. Es ist vielmehr repräsentativ für die Rechtsprechung zu § 240 StGB. So hat auch jüngst das OLG Düsseldorf in einem Urteil zur Nötigung im Straßenverkehr geäußert, daß bei der Verwerflichkeitsprüfung die Motivation des Täters zu berücksichtigen sei19. Beide OLG-Urteile ergingen im übrigen nach der Entscheidung des 1. BGH-Senats vom 5. Mai 1988. Die klare Abweichung von der Rechtsprechung des BGH wurde offenbar verkannt, die zumindest im ersten Falle gebotene Vorlage (bewußt?) übersehen. Ist die Berücksichtigung des eigentlich vom Täter verfolgten Ziels bei unpolitischen Fallgestaltungen selbstverständlich, so darf bei politischem Hintergrund von Straftaten nichts anderes gelten. Der Vorwurf politisch motivierter Urteile liegt sonst auf der Hand. Auch hier haben wir es mit einer Abfolge verschiedener Ziele zu tun, deren Bewertung differenziert betrachtet werden muß. 2. Schaffen erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit a) Ausstrahlungswirkung

der Grundrechte

Eingangs der Arbeit 20 wurde bereits herausgearbeitet, daß das BVerfG mit Bindungswirkung festgestellt hat, daß das "unmittelbare Nötigungsziel", das Erzwingen erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen, im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Vier Richter sind darüberhinaus der Auffassung, daß eine am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte und im Lichte der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 GG erfolgende Auslegung der Verwerflichkeitsklausel dazu führt, daß die Strafgerichte Sitzdemonstrationen nicht als verwerfliche Nötigung qualifizieren dürfen, sofern nicht erschwerende Umstände hinzutreten (z.B. Behinderung von Krankentransporten 21). Diese Richter wollen also das Ziel, durch demonstrativen Protest die öffentliche Aufmerksamkeit für ein Anliegen zu erhöhen, auch über das Demonstrationsrecht hinaus 19 OLG Düsseldorf, NJW 1989, 51. Das Urteil des LG wurde allerdings mit Hinweis auf den "Bagatellcharakter" der Tat aufgehoben. 20 Kapitel 1, II. 21 Zur Bewertung einzelner Kriterien vgl. Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 29.

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zumindest insoweit privilegieren, als es erhöhtes strafwürdiges Unrecht auszuschließen vermag. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst zwei Perspektiven voneinander zu unterscheiden: die Behinderung notwendig durch die Aktion Betroffener sowie der (politische) Druck auf die eigentlichen Adressaten, die verantwortlichen Entscheidungsträger. Was die erste Perspektive angeht, so ist diese allein entscheidend für die Unrechtsbegründung. Die von einer Aktion direkt Betroffenen erleiden reale Beeinträchtigungen, die unter Zugrundelegung des in der Rechtsprechung der Strafgerichte entwickelten weiten Gewaltbegriffs tatbestandsmäßig i.S. § 240 Abs. 1 StGB sind. Anders verhält es sich hinsichtlich der zweiten Perspektive: dem Druck auf die Entscheidungsträger. Auf dieser Ebene bleiben die Handlungen ausschließlich symbolisch. Allein demonstrative Aktionen begründen aus dieser Perspektive weder Unrecht i.S. § 240 StGB noch i.S. § 105 StGB. Sie sind nicht anders zu bewerten als die Einflußnahme wirtschaftlicher Pressure-Groups. Der BGH hat im Schubarth-Urteil 22 - dort bezogen auf den Gewaltbegriff bei § 105 StGB - die Grenze zur Strafbarkeit da gezogen, wo der von den Ausschreitungen ausgehende Druck einen solchen Grad erreicht, "daß sich eine verantwortungsbewußte Regierung zur Kapitulation vor der Forderung der Gewalttäter gezwungen sehen kann, um schwerwiegende Schäden für das Gemeinwesen oder einzelne Bürger abzuwenden". Davon sind rein demonstrative Aktionen weit entfernt. In anderen Nötigungsverfahren wurde seit dem Läpple-Urteil interessanterweise nie mehr der Versuch unternommen, bei der Unrechtsbegründung auf diese Perspektive abzustellen. Zentrale Bedeutung dagegen gewinnt sie beim (Straf-)Unrechtsaitf$cWw/3, also bei der Prüfung der Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB: Für einen Teil der Literatur 23 schlägt die "Mißachtung der parlamentarischen Demokratie" als zusätzliche Gutsverletzung auf der Seite der beeinträchtigten Interessen zu Buche, eine Auffassung, die sich allerdings weder mit strafrechtsdogmatischen Grundsätzen noch mit den Vorgaben des BVerfG vereinbaren läßt: Strafrechtsdogmatisch beinhaltet diese Ansicht einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Umstände, die 22

BGHSt 32, 165. So etwa Brohm, JZ 1985, 501 (510 f.); Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (53). Vgl. auch schon BGHSt 23, 46 (57). 23

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Kap. 12: Nachbetrachtung: Konsequenzen für

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tatbestandlich nicht erfaßt werden, können nicht über den Umweg der Rechtswidrigkeitsprüfung als unrechtsbegründend oder -steigernd herangezogen werden. Darüberhinaus hat das BVerfG eine positive Bewertung des Ziels im Unrechtsbereich vorgeschrieben und lediglich dessen Gewichtung offengelassen. Daß der 1. Senat des BGH 24 einer negativen Bewertung dieses Ziels zuneigt, wird deutlich, wenn er in seinen rechtspolitischen Ausführungen von einer Schleusenöffnung für schwerwiegende Beeinträchtigungen des inneren Friedens spricht. Dem Dilemma strafrechtsdogmatischer Zwänge und verfassungsrechtlicher Vorgaben versucht er dadurch zu entkommen, daß er dieses Ziel ganz ausblendet, frei nach der Devise: Was ich eigentlich negativ bewerten möchte, aber positiv bewerten muß, bewerte ich lieber überhaupt nicht25. Der BGH setzt sich mit dieser Entscheidung in unzulässiger Weise über die verfassungsgerichtlichen Vorgaben hinweg. Daß seine rechtspolitischen Ausführungen überdies fehlgehen, wurde bereits dagelegt26. Der Zweck der Nötigung wird, wie soeben am Beispiel der Nötigung im Straßenverkehr herausgearbeitet wurde 27, als das letztlich mit der Tat verfolgte Ziel definiert. Unmittelbares (eigentliches) Nötigungsziel von Sitzdemonstranten ist es, erhöhte Aufmerksamkeit für ein Anliegen zu schaffen. Das Ziel ist folgerichtig in die Beurteilung einzustellen. Zu klären bleiben lediglich die Bewertungskriterien. Im Vordergrund stehen die Information der Öffentlichkeit, die öffentliche Meinungskundgabe sowie der Demonstrationscharakter der Aktion. Aufgrund verfassungskonformer Beschränkung mögen zwar die Grundrechte der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit kein Recht geben, in dieser Weise in die Handlungsfreiheit anderer Personen einzugreifen 28. Gleichwohl fallen derartige Aktionen in den Schutzbereich beider Grundrechte. Der Begriff der Verwerflichkeit ist deshalb im Lichte der grundlegenden Bedeutung insbesondere des Grundrechts der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit im freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat auszulegen29. Die Bedeutung der Grundrechte strahlt in die Auslegung der

24

BGHSt 35, 270 (282). Auf die Unhaltbarkeit der BGH-Entscheidung in diesem Punkt wurde bereits oben, Kapitel 3, I 2.2 c, hingewiesen. 26 Kapitel 2, II 5. 27 Kapitel 12, II 1. 28 Vgl. hierzu oben Kapitel 7. 29 Vgl. BVerfGE 73, 206 (259) - Sitzblockaden. Zur Bedeutung des Grundrechts: BVerfGE 69, 25

II. Zu berücksichtigende Ziele (Belange)

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Straftatmerkmale hinein aus und zieht ihr enge Grenzen. Dies ermöglicht nicht nur, sondern verlangt logisch zwingend ein gestuftes Rechtswidrigkeitsurteil. Nicht jedes ordnungswidrige Verhalten darf sofort auch mit der härtesten staatlichen Sanktion, der Verhaltenskriminalisierung, belegt werden. Unabhängig vom Demonstrationsinhalt finden deshalb zunächst die Ziele der Meinungskundgabe, Information sowie des demonstrativen Protests positiv Eingang in die Verwerflichkeitsprüfung 30. Ebenso liegt es bei geringfügigen Überschreitungen des Streikrechts. Wird der Bereich zulässiger Grundrechtsausübung nur graduell überschritten, fehlt es an jenem hohen Grad von Verwerflichkeit der Tätergesinnung, welcher allein das schwere sozialethische Unwerturteil der Kriminalstrafe rechtfertigt 31. Wir begegnen mit der Berücksichtigung dieses "Fernziels" einem typischen Anwendungsfall des Strafunrechtsausschließungsgrundes des grundrechtsnahen Verhaltens 32. b) Symbolisches Handeln oder Selbstvollzug Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, in welchen Grenzen demonstrativer Protest straflos bleiben kann. Auch hier haben die vier Richter beim BVerfG 33 Hinweise gegeben. Positiv heben sie hervor, daß die Teilnehmer an Sitzblockaden "im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung durch symbolische Handlungen im eigentlichen Sinn des Wortes Stellung beziehen wollen und nicht - wie etwa bei LKW-Blockaden an Grenzübergängen oder bei den Frankfurter Theaterbesetzungen - eine effektive Zwangswirkung auf einen Entscheidungsträger anstreben und daß sie ein polizeiliches Eingreifen widerstandslos über sich ergehen lassen." Die vom BVerfG zu beurteilenden "Ein-Punkt-Aktionen" waren als eindringliche Pflichtenmahnung an die Verantwortlichen, d.h. die verfassungsmäßigen Institutionen, gedacht. Dies setzt ein grundsätzlich verfassungsbejahendes und in die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen ver-

315 (Brokdorf). 30 Wie hier: OLG Köln, NJW 1986, 2443 (2444); OLG Stuttgart, NJW 1989, 1870 (1871); Baumann, NJW 1987, 36 (37), und ZRP 1987, 265 (267); Bertuleit, JA 1989, 16 (26); Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 28 f.; Leyrer in Finckh/Jens, S. 85 ff., 93; Prittwitz, JA 1987, 17 (28). 31 Zur Abgrenzung Straftat - Ordnungswidrigkeit: Jescheck, AT, § 7 V 3b. 32 Vgl. oben Kapitel 11, II 1. 33 BVerfGE 73, 206 (259).

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trauendes Politikverständnis voraus. Absicht dieser vier Richter war es, eine deutliche Grenze zwischen Aktionen dieser Art und gewalttätigen Aktionsformen zu ziehen, die i.d.R. ein Politikverständnis aufzeigen, das von Resignation bzw. enttäuschtem Vertrauen in die Funktionsfähigkeit demokratischer Entscheidungsstrukturen bis hin zum Willen nach revolutionärem Umsturz reicht. Es fällt auf, daß da, wo - wie etwa in Wackersdorf - Strafverfolgungsbehörden diese Grenze nicht respektierten, sich Berührungsängste zwischen beiden Formen des Widerstands mit der Zeit verlieren. Das BVerfG unterscheidet also zwischen symbolischer Aktion und Selbstvollzug der geforderten Politik. Angesprochen ist damit die zweite Betrachtungsebene, der Druck auf die Entscheidungsträger. Nur insoweit bleiben Aktionen auf einer ausschließlich symbolischen Ebene. Einer negativen Bewertung unterliegt ein Verhalten nur dann, wenn sich sein Zweck nicht in der Steigerung der öffentlichen Wirkungschance, der Ausübung von (Ein-)Druck auf Entscheidungsträger erschöpft, sondern darüber hinausgehend effektiver Zwang auf Entscheidungsträger ausgeübt wird, oder Blockadeteilnehmer ihre Entscheidung an deren Stelle setzen und selbst den gewünschten Erfolg herbeiführen 34. Solange ein Anliegen nur massenhaft und mit Nachdruck vertreten, auf einen Mißstand nur mit Vehemenz aufmerksam gemacht wird, bewegt sich das Verhalten noch im Schutzbereich der Gundrechte, ein Umstand, der bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Was bedeutet dies konkret? Symbolhaft im Verhältnis zu staatlichen Entscheidungsträgern ist ein Verhalten immer dann, wenn für den Staat keine ernsthafte Gefahr damit verbunden ist, wenn staatliche Institutionen - notfalls mit Zwangsmitteln - die Situation beherrschen können. In unterschiedlichen historischen Situationen mag diese Grenze unterschiedlich weit zu ziehen sein. Von symbolhaftem Protest wird man jedenfalls so lange sprechen können, wie eine Versammlung friedlich i.S. von Art. 8 GG 35 bleibt. Bedienen sich die Akteure des Protests allein der Mittel passiver Resistenz, werden allein Hindernisse bereitet, sei es in Form von Menschenketten, sei es in Form von Bäumen oder Traktoren, bleibt das Verhalten in diesem Sinne symbolisch. Symbolisch wären danach auch die bereits mehrfach genannte LKW-Blockade auf der Brennerautobahn oder die Frankfurter Theaterbesetzung. Letztlich entscheidend ist, daß im

34

So auch: Bertuleit, JA 1989, 16 (25 f.); Frankenberg, StrVert 1987, 395 (397); vgl. auch schon Tiedemann, JZ 1969, 717 (723). 35 Vgl. hierzu Kapitel 7, V 2 b, c.

. Zu berücksichtigende Ziele (Belange)

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Konfrontationsfall jedenfalls rechtmäßig handelnder Staatsgewalt kein aktiver Widerstand entgegengesetzt wird. Das bisher Gesagte bedeutet freilich nicht mehr und nicht weniger als daß der Gesichtspunkt demonstrativen, nur symbolhaften Protests bei der Verwerflichkeitsprüfung positiv in die Gesamtabwägung Eingang finden muß. Ob die Grenze zur Strafbarkeit des Verhaltens überschritten wird, entscheidet sich erst bei der Abwägung aller Faktoren, insbesondere dem Ausmaß der Beeinträchtigung direkt Betroffener. Die Grundrechte wirken jedoch auch in diese Abwägung hinein. c) Der Sozialbezug der Freiheitsrechte Zu beachten ist zunächst, daß ein Verhalten sich nur aus seinem jeweiligen sozialen Kontext heraus beurteilen läßt. Das Rechtsgut der Willensfreiheit besteht in der sozialen Wirklichkeit niemals als unbegrenzte Freiheit eines isolierten Individuums. Je nach Lebenssituation ist sie mehr oder weniger begrenzt. Im privaten Bereich etwa reicht sie weiter als im Arbeitsleben oder in der Öffentlichkeit, wo sie durch ihren Sozialbezug engeren Grenzen unterworfen ist36. Im öffentlichen Leben gehören Freiheitsbeschränkungen zum Alltag. Kilometerlange Staus im täglichen Berufsverkehr prägen ebenso selbstverständlich das Leben in einer modernen Massengesellschaft wie das Gedränge in der Fußgängerzone oder am Badestrand. Die Tarifpartner drohen sich ebenso selbstverständlich mit Streik und Aussperrung wie die Wirtschaftslobby Regierungen und Parlamente unter Druck setzt. Niemand kam etwa auf die Idee, gegen den Vorstand der Fa. Hoechst wegen Nötigung zu ermitteln, als dieser mit Abwanderung ins Ausland drohte, um härtere Umweltauflagen der damaligen rot-grünen Koalition in Hessen abzuwehren. Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, daß Freiheitsbeschränkungen unterschiedlich danach beurteilt werden müssen, ob sie innerhalb einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Personen erfolgen oder im Rahmen eines kollektiven, demonstrativen Handelns. In der privaten Auseinandersetzung zweier Menschen spielen etwa psychischer Druck bzw. Herrschaftssituationen, gleich ob ökonomisch, geschlechtsspezifisch oder sonstwie bedingt, eine sehr viel größere Rolle als bei kollektivem, demon-

36 Grundlegend hierzu: Callies, Der Begriff der Gewalt im Systemzusammenhang der Straftatbestände, S. 9 f.; Bertuleit, JA 1989, 25 f.; Bertuleit/Herkströter, KJ 1987,344 f.; Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 46 ff. 20 Reichert-Hammer

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strativem Protest. Dort wird die Auseinandersetzung auf eine unpersönliche Ebene verlagert, der Kommunikationsakt bleibt - zunächst - weitgehend einseitig. Demonstrative Aktionen können Dritte in ihrer Freiheit allenfalls zum Ausweichen (Umwegen) zwingen bzw. Verzögerungen hervorrufen, aber nicht in ihrem persönlichen Bereich verletzen. Mit anderen Worten: Kollektiver Protest erreicht erst bei intensiverer Ausübung den gleichen Grad an Willensbeeinträchtigung, den gleichen Grad von körperlichen bzw. psychischen Zwangswirkungen wie Auseinandersetzungen im privaten Bereich. Generell gilt, daß Behinderungen in einer modernen Massengesellschaft in weitem Maße sozialadäquat sind. Die Rechtsprechung zur Nötigung im Straßenverkehr trägt diesem Gesichtspunkt Rechnung. Im Schutzbereich der Grundrechte treten weitere Abwägungsgesichtspunkte hinzu: In einem demokratischen Staat hat kein Mensch Anspruch auf unbeschränkte Ruhe und Freiheit vor der Meinungskundgabe anderer. Für diejenigen, die selbst im öffentlichen Meinungskampf Stellung beziehen, sowie diejenigen, die für eine in der Öffentlichkeit besonders umstrittene Maßnahme arbeiten, gilt dies in besonderem Maße37. Diese Feststellungen korrespondieren mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zur Meinungsfreiheit, die vier Richter des 1. Senats nun auch auf das Demonstrationsrecht übertragen haben. Danach kommt den Grundrechten der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit um so größeres Gewicht zu, je weniger es sich um eine unmittelbar gegen ein privates Rechtsgut gerichtete Äußerung bzw. Handlung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr, sondern um einen Beitrag im öffentlichen Meinungskampf handelt38. Diese verfassungsgerichtliche Vorgabe, die gleichzeitig eine Differenzierung der MeinungswAa/te in eigenützige bzw. die Öffentlichkeit wesentlich berührende Fragestellungen vornimmt, wird bisher ausschließlich unter dem - hier noch bewußt zurückgestellten inhaltlichen, materiellen Aspekt diskutiert. Sie enthält aber auch, vielleicht sogar wesentlicher, ein formales Kriterium, nämlich die Aussage, daß die Grundrechte sich um so stärker auswirken, als Auseinandersetzungen nicht im privaten Bereich, sondern in der Öffentlichkeit stattfinden 39. Dies bedeutet umgekehrt, daß der Schutz von Ehre und persönlicher Freiheit

37

Hierzu bereits Kapitel 2, II 5, und in diesem Kapitel, n 3.4. BVerfGE 66, 116 (139) m.w.N. - Wallraff; BVerfGE 73, 206 (259) - Sitzblockaden. 39 So ganz deutlich: BVerfGE 25, 256 (264) - Blinkfüer. Vgl. etwa auch BGHSt 12, 287 (293 f.) - Badenerland. 38

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in dem Maße abnimmt, in dem Auseinandersetzungen aus dem privaten in den gesellschaftlichen Bereich hinein verlagert werden. Im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte stellen Freiheitsbeschränkungen durch demonstrativen Protest demnach jedenfalls so lange kein strafwürdiges Unrecht dar, als sich die Akteure ohne Widerstand von der Polizei entfernen lassen. Hier gibt es ein ausreichendes und wirksames Korrektiv, Freiheitsbeeinträchtigungen in sozialadäquaten Grenzen zu halten. Solange die Bereitschaft besteht, sich widerstandslos "abräumen" zu lassen, sich also im Konfliktfall jedenfalls rechtmäßig handelnder Staatsgewalt zu beugen, wird ein für strafwürdiges Verhalten notwendiger Grad an Zwang i.d.R. nicht erreicht. Dies gilt auch dann, wenn die Polizei - z.B. wegen der Massenhaftigkeit des Protests (man denke etwa an die Proteste der Rheinhausener Arbeiter und Bevölkerung) - aus Opportunitätsgründen von einer Räumung absieht. Hier ist ohnedies zu beachten, daß Art. 8 GG um so größere Freiheitsbeschränkungen rechtfertigt, je größer die Zahl der Demonstranten ist40. Hinzu kommt, daß Strafverfolgung von einer bestimmten Größenordnung des Protests an ohnehin zur Utopie wird 41 . Hier sind andere Mittel der Konfliktregelung gefragt, es sei denn man wäre bereit, den inneren Frieden nachhaltig aufs Spiel zu setzen42. An der Verwerflichkeit von Sitzblockaden kann es also im Schutzbereich der Grundrechte - unabhängig vom Inhalt des Anliegens -schon allein unter dem Aspekt der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte fehlen. Dabei gilt: Je intensiver die Rechtsgutsbeeinträchtigung ist und je weiter sich das Handeln von zulässiger Grundrechtsausübung entfernt, um so näher gelangt man dem Bereich des nach § 240 StGB Strafbaren. 3. Demonstrationsinhalte Wurde bisher allein auf das formale Kriterium demonstrativen, öffentlichkeitswirksamen Protests losgelöst von dessen Inhalt abgestellt, so entspricht es darüberhinausgehend verbreiteter Auffassung, auch die Protestinhalte im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung wertend zu berücksichtigen.

40 41 42

Vgl. Kapitel 7, V 3.1. Vgl. auch Arthur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2583). Zu denken wäre an einen "Massenkesser, hierzu bereits oben, Kapitel 11, III.

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3.1. Bisher diskutierte Kriterien Einigkeit besteht darüber, daß das Verwerflichkeitsurteil nicht von einer inhaltlichen Bewertung der jeweils verfolgten politischen Ansichten i.S. eines "richtig" oder "falsch" abhängig gemacht werden darf. Auch abwegige Meinungen müssen im Interesse der Meinungsfreiheit ertragen werden. Die grobe Richtung hat bereits Schünemann 43 faustformelartig vor mehr als zehn Jahren gewiesen. An der Verwerflichkeit fehlt es danach dann, wenn die Beeinträchtigung der Allgemeinheit im ganzen noch maßvoll und das von den Demonstranten verfolgte Ziel nach den Wertungen des Grundgesetzes berechtigt ist: "So wird etwa ein Sitzstreik, durch den Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR, die Bedrohung der Pressefreiheit in der BRD, der schleichende Völkermord im Amazonas-Gebiet oder eine einseitig ideologische Indoktrination in der Schule angeprangert werden sollen, erst an der Grenze zu einem allgemeinen Verkehrschaos strafbar, während diese Toleranz gegenüber einer Aktion zur Einführung eines faschistischen Ständestaates oder einer Diktatur des Proletariats nicht geschuldet wäre".

Soweit sie die inhaltlichen Belange in die Abwägung einbeziehen, übernehmen die neuere Literatur 44 und Rechtsprechung45 meist begründungslos die von vier Richtern beim BVerfG vorgeschlagenen Differenzierungskriterien. Unterschieden wird danach, ob die Akteure eigennützige bzw. gruppenspezifische Interessen oder aber gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen die für die Allgemeinheit von wesentlicher Bedeutung sind. Diese Differenzierung wurde bekanntlich vom 1. Strafsenat des BGH zurückgewiesen46. Schon aus diesem Grunde bedarf die Frage, nach welchen inhaltlichen Kriterien die Ziele der Demonstranten beurteilt werden dürfen, gründlicher Diskussion. Doch zunächst der Reihe nach: 3.2. Allgemeine Rechtfertigungsgründe Zu prüfen sind die Demonstrationsinhalte zunächst unter dem Aspekt einer Rechtfertigung durch allgemeine Rechtfertigungsgründe.

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Schünemann in: de Boor, S. 67 f. Vgl. etwa Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 29; Fritz, Simon-FS, 403 (431 f.); Kühl, StrVert 1987, 122 (135 f.); Prittwitz, JA 1987, 17 (28); Rudolph, DRiZ 1988, 131 (134). 45 Zur Rspr. vgl. oben Kapitel 1. 46 BGHSt 35, 270 (281 f.). 44

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Nach herrschender und zutreffender Auffassung ist die Verwerflichkeit ohne weiteres ausgeschlossen, wenn die allgemeinen Rechtfertigungsgründe eingreifen. Diese sind vorrangig und selbständig zu prüfen. Erst wenn allgemeine Rechtfertigungsgründe nicht eingreifen, ist die Bahn frei für die Prüfung der Verwerflichkeitsklausel 47. Für eine Beurteilung von Aktionsinhalten nicht in Betracht kommen die Grundrechte der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Meinungs- und Demonstrationsrecht bestehen für alle y auch vermeintlich abwegige Meinungen ohne Unterschied. "Eine Differenzierung danach, ob die Meinung und das Ziel des Demonstranten in die politische Landschaft passen, findet nicht statt. Fände sie statt (durch Exekutive oder Justiz), so wäre das das Ende des Demonstrationsrechts." 48 Positiv bewertet i.S. einer Rechtfertigung des Verhaltens werden inhaltliche Anliegen dagegen beim Streikrecht (Art. 9 GG), bei der Notwehr (§ 32 StGB) sowie beim Notstand (§ 34 StGB). Inwieweit hier eine Rechtfertigung politisch zielgerichteten Verhaltens möglich ist, wurde bereits oben ausführlich erörtert 49. 33. Der Strafunrechtsausschließungsgrund der notstandsähnlichen Lage Ein weiteres wichtiges Kriterium wurde bereits im vorigen Kapitel herausgearbeitet: Die notstandsähnliche Lage. Die dort entwickelten Gundsätze können im wesentlichen auf die Verwerflichkeitsprüfung in § 240 Abs. 2 StGB übertragen werden 50. Mit dieser Rechtsfigur gelingt es, Struktur in die "Gemengelage aller irgendwie verwertbaren Kriterien zu bringen" und eine allzu "freihändige Entscheidung" der Strafgerichte zu unterbinden. Reine Behauptungen von Werten und deren Ranghöhe werden ersetzt zugunsten von kalkulierbaren

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Dreher/Tröndle, § 240 Rz 20; Kühl, StrVert 1987,122 (130); Lackner, § 240 Anm. 6; Schäfer in LK, § 240 Rz 68 m.w.N. 48 So zutreffend: Baumann, NJW 1987, 36 (37). 49 Vgl. zum Streikrecht: Kapitel 7, V, zu Notwehr und Notstand: Kapitel 8,1 und II. 50 Auf Notstandskriterien im Rahmen des Strafunrechtsausschlusses bei § 240 Abs. 2 StGB stellen ebenfalls ab: Roxin, JuS 1964, 373 ff.; Tiedemann, JZ 1969, 717 (721 ff.); Bergmann, Das Unrecht der Nötigung, S. 187 ff.; sowie diejenigen, die das Prinzip der Wahrnehmung berechtigter Interessen auf andere Tatbestände ausdehnen wollen, vgl. etwa Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 20 f., 46 ff., 68. Für Strafiinrechtsausschließungsgründe muß aber ein anderer Abwägungsmaßstab gelten!

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Kap. 12: Nachbetrachtung: Konsequenzen für § 240 Abs. 2 StGB

Erwägungen über die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des gewählten Mittels im Hinblick auf die letztlich mit der Tat verfolgten Ziele 51 . Hinsichtlich der einzelnen Strukturmerkmale kann auf Kapitel 11 verwiesen werden. Besonderheiten ergeben sich für § 240 StGB insofern, als hier die Eingriffsintensität in aller Regel gering bleibt. Deshalb wird bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen die Erforderlichkeit i.d.R. zu bejahen sein52 und die Interessenabwägung zugunsten der Handelnden ausfallen. Darüberhinaus werden zwei Problemkreise in Zusammenhang mit § 240 Abs. 2 StGB immer wieder genannt: Die Frage, ob die Abwägung anders ausfällt, wenn die direkt von einer Aktion Betroffenen in einem Sachzusammenhang mit dem Inhalt des Anliegens stehen sowie die bereits erwähnte Differenzierung zwischen eigennützigen und gemeinwohlorientierten Zielen. Auf beide Fragen soll im folgenden noch näher eingegangen werden. 3.4. Sachzusammenhang mit der Aktion a) Zahlreiche Gerichte bewerten die Tatsache, ob die von einer Aktion direkt Betroffenen "Beteiligte" oder "Unbeteiligte" sind. So führt etwa das OLG Köln aus53: "Den behinderten Bundeswehrangehörigen stand zwar nicht die Entscheidung über die Frage der Raketenstationierung zu; ihre Tätigkeit in einer Raketenstellung stand aber in einem Zusammenhang mit der Problematik der Raketenstationierung, so daß die Demonstration nicht völlig unbeteiligte Staatsbürger betraf." Demgegenüber sieht das BayObLG SA in einem vergleichbaren Fall in den Soldaten Unbeteiligte. Bereits mehrfach wurde angesprochen, daß die Rechtsordnung im Rahmen der Rechtfertigung zwischen Beteiligten und Unbeteiligten unterscheidet55. Zum ersten Mal unter dem Stichwort "Mißachtung fremder Autono-

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Vgl. die Kritik von Jakobs, JZ 1986, 1063, sowie die entsprechende Forderung von Kühl, StrVert 1987, 122 (136). 52 S.o. Kapitel 11,1 3 a. 53 OLG Köln, NJW 1986, 2443 (2444); ebenso: OLG Düsseldorf, StrVert 1987, 393 (395); OLG Zweibrücken, NJW 1988, 716 (717); zustimmend: Eser in SchönkeSchröder, § 240 Rz 29. Vgl. auch bereits Tiedemann, JZ 1969, 717 (722 f.); Leyrer in Finckh/Jens, S. 94. 54 BayObLG, NJW 1988, 718 (719). 55 So ausdrücklich nun auch BVerfG, Beschluß vom 26.7.90, Az. 1 BvR 237/88, S.6.

II. Zu berücksichtigende Ziele (Belange)

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mie" beim Notstand56: Der Anspruch auf Selbstbestimmung und Respektierung der Person tritt nur da besonders ausgeprägt in Erscheinung, wo der Notstandstäter in Rechtsgüter Unbeteiligter eingreift. Rührt die Gefahr von demjenigen her, in dessen Rechtsgut eingegriffen wird (defensiver Notstand), so bleibt das Autonomieprinzip außer Betracht. Gefahrurheber in diesem Sinne sind unproblematisch die für Verursachung bzw. Kontrolle einer Gefahr verantwortlichen Politiker. Verantwortlich in einem weiteren Sinne sind aber auch die Mitarbeiter in einem Unternehmen oder die Soldaten der Bundeswehr. Letztere stehen zwar in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis. Doch steht bereits die Entscheidung, Soldat zu werden, jedem frei 57. Und auch innerhalb der Bundeswehr sind die Zeiten blinden Gehorsams längst vorbei. Die Armee ist Teil des demokratischen Staates geworden, ihre Angehörigen sind mündige Bürger, die für das Ganze Mitverantwortung tragen. Mitverantwortung für die Gefahr ist aber für die Anwendbarkeit der Regeln defensiven Notstands nicht einmal erforderlich. Ausreichend ist, daß die Gefahr aus dem Bereich stammt, dem der von der Rechtsgutsverletzung Betroffene angehört. Hinzu kommt, daß das Autonomieprinzip bei nur geringfügigen Rechtsgutsverletzungen ohnehin stark relativiert wird 58 . Dies bedeutet freilich nicht, daß Betroffene jede Rechtsgutsbeeinträchtigung hinzunehmen hätten, sondern lediglich, daß sich bereits im Bereich der Rechtfertigung der Abwägungsmaßstab verschiebt. Beim Strafunrechtsausschluß wird dieser Maßstab nochmals zugunsten der Akteure verschoben: Der verursachte Schaden darf den nach den Grundsätzen der notstandsähnlichen Lage zu prognostizierenden Schaden nicht wesentlich übersteigen. Das zweite hier maßgebliche Kriterium wurde in diesem Kapitel angesprochen59: Wer öffentlich Position bezieht oder durch seine Funktion in der Öffentlichkeit für Positionen steht, muß im öffentlichen Meinungskampf stärkere Einschränkungen hinnehmen, als dies Privatleute tun müssen. Der Schutz von Ehre und persönlicher Freiheit nimmt in dem Maße ab, die Bedeutung der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit umgekehrt in dem Maße zu, wie Rechtsgutsträger öffentlich exponiert und 56 57 58 59

Vgl. Kapitel 8, II 6.3. a). Dies zumindest seit die sog. "Gewissensprüfung" weitgehend abgeschafft ist. Vgl. Kapitel 8, II 6.3 a. S.o. II 2 c.

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dadurch dem Meinungskampf in besonderer Weise ausgesetzt sind. Sitzblockaden mögen zwar u.U. 60 keine legale Form des Meinungskampfes mehr darstellen. Sie fallen aber in den Schutzbereich der Grundrechte der Art. 5 und 8 GG, die hier zumindest insoweit ausstrahlen, als es eines strafrechtlichen Schutzes für diejenigen von einer Aktion Betroffenen nicht bedarf, die dem Bereich angehören, dem die Gefahr entstammt. b) Andere Gerichtsentscheidungen behandeln die Frage unter einem ganz anderen dogmatischen Gesichtspunkt, so etwa das LG Bremen 61 in einem Urteil zu einer Aktion, mit der über die Verwicklung von Banken ins Südafrikageschäft aufgeklärt werden sollte: "Die Aktion war zur Erreichung des angestrebten Nahziels auch geeignet. Die Adressaten des Protests waren nicht, wie bei einer allgemeinen Verkehrsblockade, beliebige Bürger, sondern gezielt die Bankkunden, die in der Lage waren, für das Anliegen der Demonstranten etwas zu tun, z.B. durch Abziehen ihrer Gelder und Einrichtung von Konten bei Banken, die keine Geschäftsverbindung mit Südafrika haben." "Beteiligte" in diesem Sinne sind damit nicht diejenigen, aus deren Bereich die tatsächliche oder auch nur vermeintliche Gefahr herrührt, sondern die, die zur Gefahrbeseitigung beitragen sollen. Das LG Bremen hat dabei den dogmatischen Standort richtig bei der Geeignetheit des Mittels geortet. Hier wird man sich freilich auch mit der Erforderlichkeit in dem oben bei der notstandsähnlichen Lage beschriebenen Sinne auseinanderzusetzen haben. Insgesamt wird man unter diesem Aspekt mit Eser 62 Verwerflichkeit dann annehmen können, wenn die Beeinträchtigung fremder Freiheit ein generell ungeeignetes Mittel zur Erreichung des erstrebten Zweckes ist. Dabei ist von Bedeutung, ob die Betroffenen für die angegriffenen Gefahren verantwortlich sind, ob sie die Möglichkeit haben, sie abzustellen oder zumindest darauf hinzuwirken. Deshalb braucht selbst die Nötigung an sich Unbeteiligter nicht verwerflich zu sein: Sie kann Mittel zum Aufrütteln der Öffentlichkeit sein, wenn staatliche Organe nicht oder nur ungenügend zur Gefahrenabwehr einschreiten63.

60 61 62 63

Hierzu bereits oben Kapitel 7, V 3.1. LG Bremen, StrVert 1986, 439 (440); auch hier zust. Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 29. Eser in Schönke/Schröder, § 240 Rz 29. Ausführlich hierzu oben Kapitel 8, II 5 a; Kapitel 11,1 3.

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3.5. Die Unterscheidung: eigennützig - gemeinwohlorientiert Was beabsichtigen die vier Verfassungsrichter mit dieser Unterscheidung? Zur Erklärung führen sie aus: "Von kriminell motivierten Nötigungen unterscheiden sich die hier zu beurteilenden Sitzblockaden bereits dadurch charakteristisch, daß die Teilnehmer ... nicht eigennützig handeln ...,f6 4 Es geht also um das, was Arthur Kaufmann zu dem Ausruf veranlaßte: "Das sind doch samt und sonders keine kriminellen Gewalttäter!" 65 Gesucht wird ein plakatives Abgrenzungskriterium zwischen Kriminellem und Nichtkriminellem. Taugen die genannten Kriterien hierzu? Die vier Verfassungsrichter gehen hier von einem Basiskonsens aus, an den sie die Entscheidung knüpfen wollen. Auf die Gefährlichkeit des 6 Gemeinwohlbegriffs haben jedoch bereits Bertuleit/Herkströter* hingewiesen: "Die sich im politischen Prozeß durchsetzenden Kräfte haben ihre besonderen, durchaus eigennützigen und gruppenspezifischen Interessen schon immer als ein allgemeines Interesse - das Gemeinwohl - ausgeben können." In der Tat ist der Begriff nicht wertneutral und stellt keine konstant vorgegebene Größe dar. Was eine Angelegenheit von wesentlicher, allgemeiner Bedeutung ist, wird letztlich durch die Gerichte bestimmt67. Der BGH 68 hat deutlich gemacht, wie leicht sich hier manipulieren läßt: "Begnügt man sich mit allgemeinen Kategorien wie Frieden, Freiheit, Menschenrechte oder Umweltschutz, wird es kaum Anliegen geben, die sich nicht unter ein solches die Öffentlichkeit wesentlich berührendes Thema stellen lassen. Hebt man dagegen auf die zur Diskussion gestellte konkrete Forderung ab, so ist dies keineswegs selbstverständlich. Nicht jeder Weg, der angeblich zu einem allgemein erstrebten Ziel führt, wird die Allgemeinheit in gleicher Weise bewegen." Die Verfassungsrichter selbst haben jedoch einen konkretisierenden Hinweis gegeben, was unter gemeinwohlorientierten Zielen zu verstehen sei. Ihr Gegenstand muß "eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage" sein69. Gemeint ist damit nicht, daß die Bevölkerung über das Problem

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BVerfGE 73, 206 (259). Artur Kaufmann, NJW 1988, 2581 (2583). 66 Bertuleit/Herkströter, KJ 1987, 331 (342 f.). 67 Hier liegen Bertuleit/Herkströter, aaO, falsch, wenn sie meinen, die Mehrheit entscheide dies! Wann wurden denn jemals in einem Strafverfahren Umfragen zu einem solchen Thema durchgeführt? 68 BGHSt 35, 270 (280 f.). 69 Vgl. auch schon oben 2 c. 65

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bereits weitgehend unterrichtet oder das Ziel gar bereits "comunis opinio" sein muß70. Vielmehr sind damit insbesondere Fragen angesprochen, von denen nicht nur einzelne, sondern ein großer Teil der Bevölkerung (u.U. auch nur einer Region) betroffen ist, Fragen bzw. in unserem Zusammenhang Gefahren, die die Interessen einer Vielzahl von Menschen berühren, ohne daß sie bereits notwendigerweise in das allgemeine Bewußtsein Eingang gefunden hätten. Daß der Begriff vom BVerfG hier in diesem Sinne gebraucht wurde, zeigt eindeutig der Hinweis auf den "Wallraff-Beschluß" desselben Senats71, wo Mißstände bei der BILD-Zeitung gerade erst durch die Veröffentlichung Wallraffs aufgedeckt worden sind. Wie weit der Begriff zu fassen ist, wird aus der !lBlinkfüer"-Entscheidung des BVerfG 72 deutlich. Umfaßt sind danach "politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Belange der Allgemeinheit". Das BVerfG deutet damit die hier vertretene Lösung bereits an. Stellt man - wie bei der notstandsähnlichen Lage - zunächst auf die Rechtsgüter (Belange) ab und bezieht erst bei der Erforderlichkeit sowie der Interessenabwägung Aktionsform und Zwischenziele mit in die Prüfung ein, so läßt sich die vom 1. Senat des BGH behauptete Beliebigkeit leicht vermeiden. Die Tatsache, daß Gerichte auch hier Wertungen ziehen müssen, läßt sich nicht ändern. Damit ist freilich noch keine Antwort auf die Ausgangsfrage nach der Privilegierung gemeinwohlorientierter Ziele gegeben. Hilfreich hierfür ist es, nach den Gründen zu suchen, die vier Verfassungsrichter zu einer Privilegierung gemeinwohlorientierter Ziele bewegt haben mag. Betrachtet man den Lebenshintergrund der das Urteil prägenden Richter, hier vor allem des Berichterstatters, Helmut Simon, sowie des Vorsitzenden des 1. Senats, Roman Herzog 73, bedenkt man mehr noch die Tat70

Mißverstanden etwa von Baumann, NJW 1987, 36 (37). BVerfGE 66, 116 (139). 72 BVerfGE 25, 256 (264). 73 Beide Richter arbeiten aktiv in der Evangelischen Kirche. Helmut Simon war Präsident des Evangelischen Kirchentages in Berlin 1989. Zu ihrem heutigen Engagement vgl. etwa ihre Vorträge auf der zweiten Tagung der 7. Synode der EKD 1985 unter dem Thema "Evangelische Christen in unserer Demokratie": Herzog in: Jüngel/Herzog/Simon, S. 39 ff., sowie Simon in: Jüngel/Herzog/Simon, S. 55 ff. Mit der Einbeziehung christlicher Werte ins Recht beschäftigte sich Simon bereits in seiner bonner jur. Dissertation mit dem Titel: "Der Rechtsgedanke in der gegenwärtigen evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Problems materialer Rechtsgrundsätze", hierzu: Eckertz, Simon-FS, S. 43 ff. Zum Leben Simons: H. Albertz, Simon-FS, S. 21 ff.; Benda, Simon-FS, S. 25 ff.; v.Bismarck, Simon-FS, S. 39 ff. 71

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sache, daß sich die Teilnehmer an Sitzdemonstrationen zu einem ganz erheblichen Teil aus christlichen Wertvorstellungen heraus zu ihren Aktionen nicht nur berechtigt sondern sogar verpflichtet fühlen, so verwundert es nicht, daß vier Richter des 1. Senats des BVerfG auf diese Wertvorstellungen Bezug nehmen. Danach ist es - vereinfachend gesagt - verwerflich, auf Kosten anderer Menschen eigennützige, eigensüchtige Ziele zu verfolgen. Altruistische Ziele, der Dienst für den anderen stellen die positiven Gegenwerte dar. Das Gebot der christlichen Nächstenliebe ist das alle anderen Gebote zusammenfassende und ihnen zugleich übergeordnete Gebot, zu dessen Verwirklichung notfalls auch Gesetze übertreten werden dürfen. Deutlich wird dies etwa in Jesu Verhalten gegenüber dem Sabbatgebot, das er mehrmals um der Liebe zum Nächsten willen übertritt 74 . Dieser Wertegegensatz findet im Recht durchaus Parallelen. So könnte man die in den Straftatbeständen positivierte Umschreibung strafrechtlichen Unrechts ebenso vereinfachend auf den Nenner bringen 75, daß strafbares Verhalten dann vorliegt, wenn Täter sich eigensüchtig Vorteile auf Kosten anderer, des Staates oder der Umwelt verschaffen bzw. eigene Interessen auf Kosten anderer oder der Allgemeinheit verfolgen 76. Spätestens im Bereich der Gegeninteressen, auf der Ebene der Verhaltensrechtfertigung, ist ein derart einfaches Schema jedoch zum Scheitern verurteilt. Anklänge finden sich etwa noch beim Ausschluß rechtfertigenden Notstandes in Fällen der Sozialnot77: In allgemeinen Notsituationen darf niemand sein Heil auf Kosten der Solidargemeinschaft suchen. Angesprochen ist hier aber bereits ein Ausnahmefall. Grundsätzlich gilt, daß die Rechtsordnung im Bereich der Rechtfertigungsgründe keinen Unterschied macht zwischen der Verfolgung eigener und der fremder Interessen. Notwehr- und Notstandsrecht bestehen gleichermaßen, ob der Täter den Angriff bzw. die Gefahr "von sich oder einem anderen" abwendet. Grundlegende Unterschiede bestehen bei Notstand und notstandsähnlicher Lage auch nicht zwischen der Abwehr von Gefahren für Individualrechtsgüter und solchen für Rechtsgüter der

74 Die Gesetze sind für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für das Gesetz, vgl. Markus 2, 23-28 //; 3, 1-6. 75 Wenn auch mit nur beschränktem Nutzen! Schon nicht mehr stimmig bei der Drittbereicherungsabsicht in §§ 253, 263 StGB. 76 Zum Tater in seinen sozialen Bezügen" vgl. auch Göppinger, Kriminologie, S. 169 ff, insb. 323 ff. 77 Hierzu oben Kapitel 8, II 6.3. b (1).

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Allgemeinheit. Dies wurde bereits ausführlich dargelegt78. Ebenfalls dargetan wurde, daß bei Taten mit politischer Zielsetzung das Engagement für die Erhaltung von Rechtsgütern der Allgemeinheit untrennbar mit dem Einsatz für Individualrechtsgüter verbunden ist79. Genauso wenig läßt sich zwischen altruistischen und eigennützigen Zielen trennen. Wer für Frieden und Abrüstung, wer für eine saubere Umwelt oder für Gleichberechtigung eintritt, will dies nicht nur für andere, nicht nur für die Gesellschaft, sondern zunächst einmal für sich selbst. Dieses entscheidende Motivationsmoment negiert kirchliche Tradition nur allzu leicht. Ohnehin: In unserer Rechtsordnung ist Eigennutz keineswegs ein negativer Begriff. Unser kapitalistische Wirtschaftssystem basiert geradezu auf diesem Wert. Was folgt aus alledem? Allein entscheidend ist das Gewicht des Anliegens, rechtlich konkretisiert in einem klar zu umreißenden Rechtsgut, sowie Grad und Intensität der Bedrohung dieses Gutes. Diese Faktoren sind in Beziehung zu setzen zu Wert und Ausmaß der beeinträchtigten Interessen. Allein auf diese Abwägung kommt es an. Eine Skala der Wertigkeiten unterschiedlicher Rechtsgüter und Interessen, für die mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen eingetreten wird, ist rechtlich entbehrlich und in so allgemeiner Form auch gar nicht denkbar. Je mehr Menschen freilich von einer Rechtsgutsgefährdung betroffen sind, um so stärker kann dieser Belang in der Abwägung ausschlagen. Eine Gesundheitsgefahr für Millionen von Menschen kann zu intensiveren Eingriffen berechtigen bzw. Strafunrecht eher entfallen lassen, als eine Gefahr für nur einen Menschen80. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Die Verteidigung eines Gemeinschaftswertes bzw. die Abwehr von Gefahren, die einen Großteil der Bevölkerung berühren, kann einen starken, für Strafunrechtsausschluß ausschlaggebenden Belang darstellen. Diese Feststellung bedeutet aber nicht, daß im Umkehrschluß das Eintreten für eigennützige bzw. gruppenspezifische Ziele niederrangiger wäre. Einer solchen Rangskala bedarf es nicht, da allein das jeweils verteidigte Rechtsgut mit dem beeinträchtigten

78 Vgl. Kapitel 8, II 5 c und 6.2; Kapitel 11, I 4 a. Soweit Unterschiede gemacht werden, allenfalls im umgekehrten Sinn: strengere Anforderungen an die Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter der Allgemeinheit, vgl. Kapitel 8, II 5 c. 79 S.o. Kapitel 8, II 5 c. 80 Auf die Abhängigkeit zwischen dem Wert eines Rechtsguts und dem (notwendigen) Grad der Gefahr wurde bereits hingewiesen, vgl. Kapitel 8, II 3; Kapitel 11,1 2.4 a.E.

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Rechtsgut in Beziehung zu setzen ist. Eigen- und fremdnützigen Zielsetzungen sind zudem nicht voneinader zu trennen. Entscheidend bleibt also auch hier der Wert der verteidigten Interessen und der Grad der ihnen drohenden Gefahr. Die Erhaltung von Arbeitsplätzen sowie die Verbesserung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen etwa können durchaus hochrangige Interessen darstellen81. Insbesondere da, wo die wirtschaftliche Existenz bedroht ist, kann die Verwerflichkeit der Nötigung entfallen82. So bleibt ein - fast - versöhnlicher Schluß: Der 1. Senat des BGH hat Recht, wenn er die unterschiedliche Wertigkeit altruistischer und eigennütziger Ziele bestreitet. Er hat freilich zu kurz gedacht: In beiden Fällen kann Strafunrechtsausschluß zu bejahen sein.

81 82

Hierzu Kapitel 8,111 Vgl. hierzu bereits oben Kapitel 11,1 4 (2).

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