Politik mit dem Körper: Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 [1. Aufl.] 9783839412237

Politik machte die 68er-Bewegung vor allem mit dem Körper: In Sit-ins, Teach-ins und Love-ins brachen ihre Akteure mit d

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Polecaj historie

Politik mit dem Körper: Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 [1. Aufl.]
 9783839412237

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. KÖRPER IM PROZESS PERFORMATIVER VERGEMEINSCHAFTUNG
Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68
Performanz versus Herrschaftsrationalität: Zum Politikverständnis der Protestbewegung
Das Théâtre de l’Odéon wird besetzt – die Kaufhäuser brennen! Diskurse der Macht und des Körpers in den Medien und Künsten vor und nach 68 in Frankreich
Pariser Mai 68: Symbolisches Handeln gegen eine durch und durch verwaltete Welt
„WIR haben die Klotüren wieder eingehängt.“ 1968 – ein szenisches Projekt
II. DER UNBEWÄLTIGTE KÖRPER DER GESCHICHTE
In der unermesslichen Weite des Universums: Über die Stellung des Menschen im Theater Klaus Michael Grübers
Der erste Tag von 68: Roman Brodmanns Filmreportage Der Polizeistaatsbesuch vom 2. Juni 1967
Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt
III. DRAMATURGIE DES BEFREITEN KÖRPERS
Theatre of Bodies, Theatre of Ideas: The Case of Dionysus in 69
Physical Theatre and the Dramaturgy of the Actor
Planspiele im Kopf: Produktionsdramaturgie zwischen Körperskepsis und –befreiung
Botho Strauß’ Dialog mit 1968: Vom Theaterkritiker zum kritischen Dramatiker?
IV. INTERMEDIALE PASSAGEN
(1968) Ein Aufnahmezustand: Klang/Körper und Ideologiekritik im Neuen Hörspiel
Sensorial Styles: Commercial Cinema in the Wake of 1968
1968: Contextualizing Contemporary Dance and Dance Theatre
V. NACH-BILDER VON 1968
Inszenierung des Terrors: Die Darstellung der RAF in deutschfranzösischer Vergleichsperspektive
Die Haut als Bühne – der Körper als Aktions-Raum: Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Shakespeares Macbeth
„Let’s Get Physical!“ Vom Atomstück zur Performance: Theatrale Darstellungen der Physik seit den 1960er Jahren
Autorinnen und Autoren
Abbildungen

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Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper

T h e a t e r | Band 14

2009-11-05 17-32-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a1225339564854|(S.

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2009-11-05 17-32-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a1225339564854|(S.

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Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 Unter Mitarbeit von Dorothea Volz

2009-11-05 17-32-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a1225339564854|(S.

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) T00_03 titel - 1223.p 225339564926

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: photocase.com 2009, © Alexander Schneider (Vlaminck) Lektorat & Satz: Friedemann Kreuder, Michael Bachmann und Dorothea Volz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1223-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-11-05 17-32-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01a1225339564854|(S.

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Inhalt

Vorwort

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I. KÖRPER IM PROZESS PERFORMATIVER VERGEMEINSCHAFTUNG Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68 Matthias Warstat

13

Performanz versus Herrschaftsrationalität: Zum Politikverständnis der Protestbewegung Alfred Krovoza

27

Das Théâtre de l’Odéon wird besetzt – die Kaufhäuser brennen! Diskurse der Macht und des Körpers in den Medien und Künsten vor und nach 68 in Frankreich 43 Martin Zenck Pariser Mai 68: Symbolisches Handeln gegen eine durch und durch verwaltete Welt Joseph Jurt

61

„WIR haben die Klotüren wieder eingehängt.“ 1968 – ein szenisches Projekt Dorothea Volz

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II. DER UNBEWÄLTIGTE KÖRPER DER GESCHICHTE In der unermesslichen Weite des Universums: Über die Stellung des Menschen im Theater Klaus Michael Grübers 93 Klaus Dermutz Der erste Tag von 68: Roman Brodmanns Filmreportage Der Polizeistaatsbesuch vom 2. Juni 1967 Karl N. Renner Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt Friedemann Kreuder

99

123

III. DRAMATURGIE DES BEFREITEN KÖRPERS Theatre of Bodies, Theatre of Ideas: The Case of Dionysus in 69 Martin Puchner Physical Theatre and the Dramaturgy of the Actor Patrice Pavis

141

149

Planspiele im Kopf: Produktionsdramaturgie zwischen Körperskepsis und –befreiung Constanze Schuler

167

Botho Strauß’ Dialog mit 1968: Vom Theaterkritiker zum kritischen Dramatiker? Philippe Wellnitz

181

IV. INTERMEDIALE PASSAGEN (1968) Ein Aufnahmezustand: Klang/Körper und Ideologiekritik im Neuen Hörspiel Michael Bachmann Sensorial Styles: Commercial Cinema in the Wake of 1968 Sabine Haenni 1968: Contextualizing Contemporary Dance and Dance Theatre Sabine Sörgel

193

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223

V. NACH-BILDER VON 1968 Inszenierung des Terrors: Die Darstellung der RAF in deutschfranzösischer Vergleichsperspektive 237 Emmanuel Béhague Die Haut als Bühne – der Körper als Aktions-Raum: Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Shakespeares Macbeth 251 Stefan Tigges „Let’s Get Physical!“ Vom Atomstück zur Performance: Theatrale Darstellungen der Physik seit den 1960er Jahren Michael Bopp

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Autorinnen und Autoren

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Abbildungen

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Vorwort Die Studentenrevolte von 1968, deren historische Drehpunkte die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg bei der Westberliner Demonstration gegen den Staatsbesuch des Persischen Schahs Reza Pahlevi im Juni 1967, die Pariser Unruhen und die Besetzung des Théâtre de l’Odéon im Mai 1968, die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA, die deutschen Verzweigungen in radikale Gruppen und die Aktionen der Terroristengruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof waren, schuf sich zur Vermittlung ihrer politischen Botschaften öffentliche Foren durch sogenannte Regelverletzungen. Hier wurden oppositionelle politische Konzepte buchstäblich ausgehandelt, indem die Akteure rigoros mit dem Habitus der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft sowie ihren Normen, Werten und Kulturbegriffen brachen. Die studentische Revolte in Form von Sit-Ins, Teach-Ins, Love-Ins etc. war also in weiten Teilen performativer Natur, erschöpfte sich häufig auch nahezu in ihrem provokanten Vollzug und stellte den revolutionär befreiten Körper ins Zentrum, wie ihn Jürgen Habermas 1969 in Protestbewegung und Hochschulreform theoretisch reformulierte: Die Lebensform des Protestes ist durch sinnliche Qualitäten bestimmt; die hippiesken Züge haben sich alsbald von den Zentren der Hippiekultur abgelöst und verbreitet – sie sind nicht bloße Drapierung. Die Kerne der Protestbewegung – in den angelsächsischen Ländern vor allem, aber auch in der Bundesrepublik – sind Subkulturen, die die Vereinzelung der privaten Lernsituation zugunsten solidarischer Gruppenerfahrungen 1 aufheben sollen.

Spontane Formen von Happenings im öffentlichen Raum werden zu elaborierten Formen von (Straßen-)Theater der direkten politischen Aktion und zur alternativen Vergemeinschaftung nach neosozialistischen Entwürfen verdichtet (Richard Schechners Performance Group, das Living Theatre). Intellektuell-analytische „Operationen am offenen Herzen der Gesellschaft“ werden zum konstitutiven Teil und Ausgangspunkt eines kollektiv verstandenen Produktionsprozesses, in dem es immer auch um die Rückgewinnung des seit der Zeit des Nationalsozialismus suspekten Kollektivs geht. Suchte die deutsche Gesellschaft schon bald nach 1945 die Wiederanknüpfung an die durch das Nazi-Regime verschüttete humanistische Bildungstradition im Sinne einer kompensatorischen Wiederaufbaupraxis – in der gleichwohl das unausgesprochene Bedürfnis nach Aufarbeitung der eigenen Schuld inexplizit präsent war – lasen Regisseure wie Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Peter Zadek und Hans Neuenfels die kanonischen Werke dieser gegenwärtigen Theaterkultur im Lichte ihres Verdrängungscharakters 1

Habermas, Jürgen (1969): Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt a.M., 17.

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Kreuder/Bachmann

und im Bewusstsein des eigenen Unbehagens in bzw. an der deutschen Kultur. In ihren Inszenierungen und den kollektiven Formen künstlerischen Zusammenlebens, die nicht nur häufig in jenen reflektiert wurden, sondern Voraussetzung für die Intensität ihrer künstlerischen Produktionen jenseits der bestehenden Institution Theater waren, setzten diese Regisseure eine bis dato im Sprechtheater nicht gekannte Körperlichkeit der Akteure jenseits ihrer traditionellen Sinnhaftung am dramatischen Figurenkonzept und dem konventionellen Bühnenrahmen in site-specific performances und neuen Räumen wie Messehallen, alten Kinosälen, Fabrikhallen, etc. frei. Wie Constanze Schuler in ihrem Beitrag für diesen Band schreibt, ist es die „sorgfältige Sondierung eines Geflechts aus literarischen Texten, kulturhistorischen Zeugnissen und aktuellen zeitgeschichtlichen Anknüpfungspunkten“, die dafür sorgt, dass es zum stilisierten, (de-)konstruktivistischen oder exzessiv befreiten Spiel mit Körperlichkeit auf der Bühne kommt.2 Dabei werden die körperlichen Ausdrucks- bzw. Kommunikationsformen immer auch im Lichte von Handlungsalternativen gezeigt und machen so die prinzipielle Freiheit des Menschen jenseits festgefügter Normen und Modelle zum Thema. Wird hier bereits eine für die 1968er Bewegung konstitutive synchrone Spannung zwischen Theatralität und Schrift/Kultur sichtbar, tritt sie überdeutlich aus historisierender Perspektive zutage: Im kulturellen Vergleich mit den USA erweist sich die spezifisch deutsche Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Theater, Tanz und anderen Künsten nur mehr bedingt als ein neu initiiertes revolutionäres Körperdenken. Formen der tradierten Theaterpraxis, gesellschafts-soziologisch vorgeprägter Körperdiskurse sowie die Ästhetik der historischen Avantgarden und der Moderne erzeugen letztlich diese revolutionäre Performativität, die den verdrängten Körper theatral in politisches Ereignis ruft. Deutsche Künstler der jungen Generation thematisierten vor allem die auf den Klassikern der deutschen Literatur basierende Bildungstheaterpraxis der Elterngeneration in ihrem kompensatorischen Gestus, während sich die Performance- und Tanzkultur in den USA von den figurenpsychologisch-textzentrierten Vorlagen mythischer Tanzepen des Modern Dance (Martha Graham) sowie des melodramatisch-realistischen BroadwayTheaters in der Nachfolge des Method Actings (Elia Kazan, Tennessee Williams und Arthur Miller) in die figurale Abstraktion wandte. Eine ähnliche Entwicklung findet im westdeutschen Hörspiel der sechziger Jahre statt, das die Materialität des Sprachspiels, des nicht mehr sinnhaften Geräuschs und der Musik ins Zentrum rückt. Im (oft unwissentlichen) Rückgriff auf Hörspielexperimente der Weimarer Republik soll der Hörer zur zentralen Achse des Spiels werden – mitunter geht es um Bewusstseinsveränderung dadurch, dass ihn das Gehörte körperlich, als „akustische Befriedigung“ (Ernst Jandl, Friederike Mayröcker), erfasst. Diese Verbindung von Ideologiekritik und aural transportierter Körperlust zeigt sich gerade auch in der Popkultur. Das ist besonders deutlich in ihren Klangexperimenten, wenn z.B. die Beatles die neunminütige Soundcollage Revolution 9 auf das Weiße Album von 1968 pressen; aber auch, wenn – wie in der psychedelischen Musik – versucht wird, die „befreiten“ Körperbilder der Beat- und Hippiekultur akustisch zu verlängern. 2

Vgl. Schuler in diesem Band, 168.

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Vorwort

Post-68 eröffnen Kunstformen wie Theater und Tanz ein körperorientiertes Experimentierfeld kultureller Praxis, das mit den Mitteln der „performativen Reflexivität“ (Dwight Conquergood)3 von Theater die Skepsis der intellektuellen Vordenker der Revolte (Horkheimer, Adorno, Marcuse) hinsichtlich der Resistenz des individualgeschichtlich bestimmten, libidinösen Körpers gegen den volonté general als Gebot der praktischen Umsetzung der Revolution evident machte. Gerade dieser künstlerische Prozess legte den individualgeschichtlich je verschiedenen Eigensinn des Körpers diesseits seiner ideologisch-politischen Bestimmung frei und stellt die 1968er Bewegung retrospektiv unter Verdacht, im buchstäblichen Sinne Ausläufer einer vorgängigen und sie im eigentlichen Sinne ausmachenden kulturellen Dynamik zu sein, die die Gesellschaften der USA und Europas gleichermaßen umgriff – und zwar diesseits der auf ihr basierenden, national je unterschiedlich formulierten Begriffe von Freiheit: die Freisetzung der allseitigen Bewegungen des Körpers und seines Umgangs mit anderen Körpern und Dingen in Opposition zur bestehenden bürgerlichen Körpernorm und Sexualmoral in der Beat- und Hippiekultur. Dieser exzessive Körper gilt den Skeptikern der Revolte gestern und heute als ihr geheimer Gegenstand. Sie sehen ihn im eigentlichen Sinne ermöglicht durch die Usurpation der durch das Denken und Handeln des liberalen Bürgertums eröffneten Spielräume in einer Wohlstandsgesellschaft. Rund 40 Jahre nach der Studentenrevolte rücken deren politischer und kultureller Rigorismus, das zeigen die gegenwärtigen Debatten in Wissenschaft, Medien und Theater, kaum mehr ins Licht der Erkennbarkeit. So gelangt der Berliner Historiker Paul Nolte zu der These, dass die bundesrepublikanischen Reformen der 60er und 70er Jahre, in langer historischer Perspektive und mit dem Abstand von mittlerweile einer Generation gesehen, eher den Abschluss, das Ende von etwas markierten als den Neubeginn, den Anfang, 4 den Auftakt einer durch sie geprägten neuen Ära.

Im Jahre 2008 hat sich auch das Verhältnis junger Regisseure zur Literarizität von Theatertexten, zu Tanz und Performance als Bestandteil des kulturhistorischen Prozesses, zur Institution Theater als identitätsstiftender Größe im gesellschaftlichen Prozess und zu ihrer eigenen künstlerischen Motivation fundamental verändert. Welche performativen Praktiken revolutionären Körperdenkens verhandelt das Gegenwartstheater jenseits der 68er Utopien im Spannungsfeld fortwährender Körperschwere und sich ideologisch entziehender Dekonstruktion? Die gegenwärtige Aushandlung der vermeintlichen Historizität der 1968er Bewegung in Theater, Medien und Wissenschaft fordert zu erneuten Stellungnahmen heraus. Die Aufsätze des vorliegenden Bandes gehen aus einer Internationalen Konferenz zum Thema „Take Up the Bodies!“ – Theatralität und Schrift/Kultur 1968-2008 hervor, die – rund vierzig Jahre nach der Besetzung des Odéon – 3 4

Vgl. Conquergood, Dwight (1991): Rethinking Ethnography: Towards a Critical Cultural Politics. In: Communication Monographs. 58, 179-194. Nolte, Paul (2006): Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus. München, 45.

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Kreuder/Bachmann

vom 4. bis zum 6. Juli 2008 am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Die Herausgeber verstehen diese Aufsätze als Beiträge zu einer Nach-Geschichtsschreibung, deren zentrale heuristische Optik das in den Blick nimmt, was sich nach wie vor schwer schreibt: den Körper. Ob in Prozessen seiner performativen Vergemeinschaftung oder des Ausdrucks seiner ausgebliebenen Bewältigung in der Geschichte, ob hinsichtlich der Dramaturgien des befreiten Körpers oder auch seiner künstlerischen intermedialen Passagen sowie seiner Nachbilder, markiert er stets jenes inkommensurable Element historischer Verläufe, das alternative Aspekte und Formen seiner nachträglichen Verschriftlichung erfordert. Ein solches Projekt wäre ohne die „kollektive Inspiration“ des Teams am Mainzer Institut in den akademischen Jahren 2007 bis 2009, besonders Peter Marx’, Sabine Sörgels und Constanze Schulers, nicht begonnen und ohne die „performativen Energien“ zahlreicher Helfer kaum zu Ende gebracht worden. Auch ihnen allen sei hier gedankt, namentlich Jasmin Fisel, Kristin Becker und – vor allem – Dorothea Volz.

Mainz, im September 2009

Friedemann Kreuder und Michael Bachmann

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I. Körper im Prozess performativer Vergemeinschaftung



Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 1968 MATTHIAS WARSTAT Ist Theater eigentlich eine „kollektive“ Kunstform? Immer wieder wird das in theaterwissenschaftlicher Literatur, aber auch in programmatischen Manifesten und Künstlertheorien behauptet. Dabei geht es um die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass Theater sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite häufig von größeren Gruppen getragen wird. Wir sprechen von Akteuren und Zuschauern nicht im Singular, sondern fast immer im Plural. Eigenartig ist dennoch die Rede von der „Kollektivität“ bzw. vom „Kollektiven“, denn ein Kollektiv ist nicht einfach irgendeine Art von Pluralität, eine Menge oder eine lose konstituierte Versammlung. Ein Kollektiv ist – nach landläufigem Verständnis – eine Einheit, ein Zusammenschluss von Menschen, die zu gemeinsamen Interessen, Empfindungen und vielleicht sogar zu gemeinsamem Handeln in der Lage sind. Wenn in Theaterdiskursen von Kollektivität die Rede ist, liegen die autoritär-gewaltsamen und zugleich agrarischen Konnotationen des Begriffs („Zwangskollektivierung“) eher fern. Vielmehr denkt man an historische Theaterformen, die – wie etwa das Agitproptheater der Zwischenkriegszeit oder Wanderkomödiantentruppen der frühen Neuzeit – mit einer gemeinschaftsbetonten, jedenfalls gruppendynamischen Praxis in Verbindung gebracht werden. Insofern schwebt, wann immer in theatralen Kontexten von „Kollektiven“ gesprochen wird, hörbar oder unhörbar meist auch der Begriff der „Gemeinschaft“ im Raum. „Kollektivität“ erscheint als ein etwas mehr technischer, etwas weniger romantisierender Begriff für das, was sonst als „Gemeinschaft“ bezeichnet werden müsste. Können wir es also auf Seiten der Akteure oder auch der Zuschauer im Theater mit „Gemeinschaften“ zu tun haben? Ich möchte mich dieser Frage mit einem Beispiel nähern. Das Publikum der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wurde in den vergangenen Jahren, vor allem aber in den 1990er Jahren, gerne als eine „verschworene Gemeinschaft“ bezeichnet. Diese Charakterisierung war nicht immer schmeichelhaft gemeint – vor allem nicht als Kompliment für Frank Castorfs Theater, an dessen unverwechselbaren Mitteln sich die Geister schieden. Implizit ging es um den Vorwurf, der Erfolg des Ensembles erkläre sich nur aus der Symbiose mit einem speziellen, sehr modebewussten Prenzlauer-BergMilieu, das wie eine Art abgeschotteter Fanclub zwecks Selbstbestätigung noch den langweiligsten Wiederaufguss längst bekannter Inszenierungsformen zu goutieren bereit sei. Symbiotische Beziehungen gelten als ungesund und überwärmt, und genau diese Schwächen wurden dem Freundeskreis der 13

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Castorf-Truppe unterstellt. Hinzu kam die Beobachtung, dass sich hier ein teils studentisches, teils neobürgerliches Publikum von zugezogenen Westlern in irregeleiteter Identifikation an den Resten einer irgendwie wilden, allgemein liebenswerten, vor allem aber reichlich naiven Ostmentalität erfreue. Gemeinschaft als harmloser, aber doch pathologischer Milieuverbund einer schwachen, extrem identifikationsbedürftigen Theatergemeinde – soweit die gerne aus Frankfurter oder Münchener Feuilletonredaktionen ventilierte Außenperspektive. Aus der Innenperspektive des Publikums stellte sich die Kollektivität des Castorf-Theaters anders da. Man hatte das Gefühl, eine sehr konstant zusammen arbeitende und zusammen lebende Gruppe bei der Arbeit zu beobachten, die durch eine melancholische und zugleich ironische Haltung zum Alltag verbunden schien. Diese Melancholie konnte für den Zuschauer unter glücklichen Umständen in eine tröstende und positive Energie umschlagen. Castorf-Aufführungen konnten einen geradezu festlichen Charakter annehmen – auch deshalb hatten sie in Berlin ein Liebhaberpublikum, das immer wieder kam und sich von der Gleichartigkeit des Gebotenen nicht abschrecken ließ. Tatsächlich erschloss sich diese spezielle Festlichkeit von Castorf-Inszenierungen nur den regelmäßigen Besuchern. Wer die Arbeiten des Ensembles seit den frühen 90er Jahren verfolgt hatte, erlebte immer wieder dieselben Schauspieler in immer wieder ähnlichen Rollen beim Scheitern an ewig gleichen Konflikten – und beim konsequenten, geradezu trotzigen Weiterträumen der falschen Träume. Viele Faktoren trugen dazu bei, dass die Wiederholung zu einem festlichen Erlebnis werden konnte: mit Sicherheit die enorme Dauer der Aufführungen und die dadurch bedingte Verausgabung der Zuschauer, die mit den körperlichen Verausgabungen der Schauspieler korrespondierte. Dazu die Erotik und das Pathos der Darstellung – wenn alles das sich ideal zusammenfügte, verließ man das Haus am Rosa-LuxemburgPlatz nach vier bis fünf Stunden, als hätte man an einer exzessiven Party gestrandeter Existenzen teilgenommen. Für diese im besten Sinne eigenartige, mit anderen Nuancen aber sicher auch an anderen Ensembles erlebbare Theatererfahrung, könnte der Gemeinschaftsbegriff auch heute noch angemessen sein. Gemeint ist eine Erfahrung starker Identifikation zwischen Akteuren und Zuschauern, wobei unter Akteuren hier eher Schauspieler als dramatische Figuren verstanden werden sollen. Gemeint ist eine Erfahrung, die zusätzlich zu diesen Projektionen über die Rampe hinweg starke Identifikationsphantasien innerhalb des Publikums – d.h. zwischen den Zuschauern – impliziert. Das Beispiel lässt vermuten, dass es so etwas wie „Gemeinschaftserfahrung“ im Theater auch heute noch geben könnte. Darüber wird aber wenig gesprochen, und vor allem wird der Gemeinschaftsbegriff für solche Erfahrungen im Allgemeinen vermieden. Mit dem Gemeinschaftsbegriff gibt es einige Schwierigkeiten, denen ich im Folgenden aus theaterhistoriographischer Perspektive nachgehen möchte. Denn diese Schwierigkeiten bestanden in den Jahren nach 1968 offenkundig auch schon. Die neuen sozialen Bewegungen, die sich aus den Protestinitiativen der späten 1960er Jahre entwickelten, verlagerten das Gravitationszentrum ihrer Arbeit nach 1968 von direkter politischer Aktion auf ein Experimentieren mit veränderten Strukturen des Zusammenlebens und -arbeitens. In dieser Zeit einer kritischen Prüfung des

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Theatrale Gemeinschaftskonzepte

Bestehenden wurde, wie Hajo Kurzenberger in einer Studie gezeigt hat, intensiv nach neuen Formen der Vergemeinschaftung im Theater gesucht.1

1. Produktionsgemeinschaften nach 1968 Zum weithin sichtbaren Ausgangspunkt solcher Suchbewegungen wurde die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, wo Peter Stein mit einer Gruppe von einander lange vertrauten Schauspielern, Regisseuren und Dramaturgen versuchte, ein politisch, organisatorisch und ästhetisch runderneuertes „Theater für Zeitgenossen“ zu machen. Leitgedanke dieser vor allem in den ersten Jahren nach 1970 enorm ausstrahlungskräftigen Arbeit war tatsächlich der Begriff des Kollektivs, der als Lebens- und Arbeitsform für das Theater neu ausbuchstabiert wurde: Das Ensemble lebte, arbeitete, entwickelte und bildete sich in engster gegenseitiger Bezogenheit. In regelmäßigen Versammlungen wurden gesellschaftliche Zielsetzungen formuliert, künstlerische Prioritäten erarbeitet, dramaturgische Varianten diskutiert, aber auch ganz konkret Probenprozesse vorbereitet. Maßgeblich war dabei nicht die Orientierung an historisch-politischen Modellen wie etwa der Rätedemokratie, der Produktionsgenossenschaft oder der revolutionären Kommune. Vielmehr kam es Steins Truppe darauf an, den Beruf des Theatermachers neu zu bestimmen und dessen gesellschaftliche Verantwortung voll und ganz wahrzunehmen. Aus dieser Haltung erwuchs ein prinzipielles Misstrauen gegenüber formalen Hierarchien, organisatorischen Zwängen und scheinbar pragmatischen Entscheidungen. Kommunikation über die einzelnen Berufssparten hinweg war oberstes Prinzip; es gab Wortführer und Leitwölfe, Stein selbst war tonangebend, aber immer nahm man sich in der Anfangsphase die nötige Zeit, um alle Beteiligten argumentativ an den eingeschlagenen Weg heranzuführen. Man kannte sich lange und gut genug, um zu wissen, was man aneinander hatte und wie man zusammenfinden konnte. Dies zeigte sich, so jedenfalls Kurzenbergers Urteil, auch in den Inszenierungen der frühen Schau-bühne. So könne man bei der Mutter, bei Peer Gynt, bei den Sommergästen und bei vielen anderen Produktionen von neuen, originär entstehenden Formsemantiken des Kollektivs sprechen, [...] etwa die szenische Totale, aus der Gorkis Stück entwickelt wird, oder die Mehr2 fachsetzung der Titelrollen in Peer Gynt.

Aber nicht nur die Schaubühne experimentierte mit gemeinschaftlichen Arbeitsformen. Das von dem damaligen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann ermöglichte Mitbestimmungsmodell am Schauspiel Frankfurt wies in eine ähnliche Richtung: An die Stelle eines quasi feudal exponierten Intendanten, wie er damals an vielen deutschen Bühnen üblich war, trat ein dreiköpfiges „Direktoriumskollektiv“, das acht Jahre lang, von 1972 bis 1980, die Geschicke des Theaters leitete. Dieser Wechsel an der Spitze hätte für sich allein genommen an den strukturellen Hierarchien wenig geändert. Jedoch wurde die Dreiteilung der Intendanz von einem neu ausgearbeiteten 1 2

Vgl. zum Folgenden: Kurzenberger 2006. Kurzenberger 2006, 161-162.

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Mitbestimmungsmodell ergänzt. Jedes Ensemblemitglied sollte an den künstlerischen Entscheidungen beteiligt werden, um auf diese Weise Mitverantwortung für die Produktionen zu übernehmen. Entsprechend gab es Vollversammlungen, Abstimmungen und konkurrierende Anträge, offen ausgetragene Konflikte um die künstlerische Ausrichtung, eine regelmäßige Infragestellung von Regiekonzepten, Besetzungslisten und dramaturgischen Positionen, leidenschaftliche Debatten über den Spielplan und dessen gesellschaftliche Relevanz. Der Interessenausgleich erwies sich in Frankfurt als eher noch schwieriger als in Berlin, weil die Gruppe größer und zugleich weit weniger homogen zusammengesetzt war. „Partizipation“ war das Zauberwort, das einen Zusammenhalt trotz aller Zentrifugalkräfte gewährleisten sollte: die Möglichkeit für jeden Einzelnen und für jede Teilgruppe, sich in alle relevanten Entscheidungsprozesse, ganz gleich ob künstlerischer oder organisatorischer Art, umfassend einzubringen. Auf diese Weise lernten Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner und Techniker, sich als Teil eines gemeinsam zu steuernden Ganzen zu begreifen. Jedenfalls der Idee nach. In Berichten von Angehörigen des Schauspiel Frankfurts aus der Zeit des Mitbestimmungsmodells ist viel von Desorganisation, Cliquenbildung, Frustrationen und Blockaden die Rede, aber immerhin scheinen diese Störungen als gemeinsames und prinzipiell auch gemeinsam zu lösenden Problem empfunden worden zu sein.3 Eine ganz anders akzentuierte Intensität von Gemeinschaft erprobte George Tabori in seinem 1975 gegründeten „Theaterlabor“. Der Bremer Staatstheater-Intendant Peter Stolzenberg hatte Tabori ein festes Haus zum Proben und Experimentieren eingeräumt, worauf dieser eine Art permanenten Workshop ins Leben rief. Aus zehn Schauspielern und einem Bühnenbildner formte er eine kontinuierlich zusammenarbeitende Gruppe, in deren Praxis sich therapeutische, psychoanalytische und ästhetisch-dramaturgische Prozesse überlagerten. Ziel war es, eine gemeinsame Identität als Gruppe zu entwickeln, in der sich jeder mit dem eigenen Begehren und den eigenen Verletzungen wieder finden können sollte. So arbeiteten die Schauspieler des Theaterlabors zwar auch an Rollen bzw. an der Konstruktion dramatischer Figuren, in letzter Konsequenz ging es aber um eine Arbeit am eigenen Selbst und an einer – gemeinsam zu konstituierenden – Identität als Gruppe. Geschult an der Pearlsschen Gestalttherapie und an eigenen, ausgiebigen Freud-Studien legte Tabori Wert darauf, die Proben als eine gruppendynamische Bewegung hin zu einer tieferen Erkenntnis des Ichs, des Anderen und der Gruppe auszugestalten. Es leuchtet ein, dass diese Bewegung in einem vor äußerer Intervention geschützten Raum stattfinden musste, und Theater schien als ein solcher Schutzraum zur Selbstfindung einer Gruppe geeignet.4

2. Gemeinschaftsskepsis, Gemeinschaftsprobleme Allen drei einflussreichen Projekten, dem Schaubühnen-Kollektiv, dem Frankfurter Mitbestimmungsmodell und Taboris Theaterlabor, sind in Bezug

3 4

Vgl. Kurzenberger 2006, 164-168. Vgl. Kurzenberger 2006, 168-173.

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Theatrale Gemeinschaftskonzepte

auf das Thema dieses Beitrags zwei bemerkenswerte Restriktionen gemeinsam. Erstens: Obwohl es in allen Projekten offenkundig um gemeinschaftsbetonte Arbeitsformen ging, wurde der Begriff „Gemeinschaft“ in den Selbstäußerungen der Beteiligten tunlichst vermieden. Man sah sich als „Gruppe“, „Ensemble“ oder „Kollektiv“, aber trotz aller Bemühungen, diese Bindungen emotional zu intensivieren und zu verfestigen, blieb jegliche Gemeinschaftsrhetorik tabu. Zweitens: Weder in Berlin, noch in Frankfurt oder Bremen wurde das Publikum in die intendierte Theatergemeinschaft ernsthaft miteinbezogen. Es handelte sich jeweils um „Produktionsgemeinschaften“, die die Akteure enger miteinander verbanden, ohne aber eine Brücke in den Zuschauerraum zu schlagen. Wohl gab es unterschiedliche Versuche der Zuschaueransprache durch Publikumsgespräche, Podiumsdiskussionen, Pressekonferenzen und andere Kommunikationsangebote. Aber diese Formen des Austauschs gingen außerhalb der Aufführungen vonstatten.5 Die Inszenierungen selbst folgten meist eher einer von Brechts epischen Prinzipien inspirierten, distanzierenden Dramaturgie. Keinesfalls ging es darum, über die Rampe hinweg Darsteller und Publikum zu einer identifikatorischen, emotionalen oder rituellen Einheit zusammenzuführen. Gemessen an den Potenzialen des theatralen Dispositivs, das darauf angelegt scheint, Akteure und Zuschauer miteinander in ein Verhältnis zu setzen, könnte man kritisch von „amputierten Gemeinschaften“ sprechen, d.h. von einer Form der Vergemeinschaftung, die einen Großteil der Aufführungsteilnehmer – das Publikum – nicht wirklich einschloss. Trotz aller programmatischen Betonung des (vermeintlichen) Kollektivcharakters von Theater muss man demnach von einer skeptischen Haltung zum Gemeinschaftsbegriff im Allgemeinen und zur Idee einer theatralen Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern im Besonderen sprechen. Ich sehe für diese Gemeinschaftsskepsis im Theaterdiskurs nach 1968 vor allem zwei Gründe, von denen ich den einen nur kurz erwähnen, den anderen dagegen etwas ausführlicher diskutieren möchte. Während sich in England sozial engagierte Theaterprojekte gerne unter dem Label „Community Theatre“ präsentierten6 und US-amerikanische Avantgardegruppen wie das Living Theatre oder die Performance Group auf dionysisch-ritualistisch anmutendem Wege Gemeinschaftserfahrungen ansteuerten,7 blieb die deutschsprachige Theaterszene gegenüber dem Gemeinschaftsbegriff reserviert. Es ist naheliegend, einen Grund dafür in der historischen Diskreditierung des Begriffs durch die Nationalsozialisten zu sehen. Der Gemeinschaftsbegriff erinnerte an Volksgemeinschaft, Massenästhetik, Gleichschaltung und rassistische Ausgrenzung. Bis heute hat sich an dieser Konnotation wenig geändert, und Theatermacher, die sich wie Einar Schleef an neuen chorischen Repräsentationen von Gemeinschaft interessiert zeigen, haben nach wie vor mit kritischen Fragen zu den politischen Implikationen zu rechnen. Chorästhetik, Einheitsrhythmus und Gemeinschaftsrhetorik sind 5

6 7

Die vielleicht direkteste Zuschaueransprache in einer deutschsprachigen Aufführung dieser Zeit, Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (uraufgeführt 1966 durch Claus Peymann), war gerade nicht auf Gemeinschaftsbildung angelegt. Wichtige Programmschriften dieser Richtung finden sich in Kuppers/Robertson 2007. Siehe dazu Fischer-Lichte 2005, 223-229.

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in Deutschland immer noch rechtfertigungsbedürftig. Vor dem Hintergrund ihrer historischen Belastung ist das mehr als gut nachvollziehbar. Was am Gemeinschaftsbegriff in den Jahren nach 1968 störte, war aber möglicherweise nicht nur der desavouierende historische Beiklang, sondern auch die Ahnung, dass die allermeisten theaterbezogenen Gemeinschaftsprojekte des 20. Jahrhunderts als gescheitert betrachtet werden müssen. In der Zwischenkriegszeit waren Formen theatraler Gemeinschaftsbildung in Europa von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert worden. Die Bandbreite politischer Masseninszenierungen, die als rauschhafte Vereinigungserlebnisse angelegt und angepriesen wurden, reichte von den Arbeitermassenspielen der deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten über die russischen Revolutionsspektakel, die Eröffnungsfeiern der Olympiaden, die religiösen Festspiele der katholischen Laienbewegung, die Freilichtaufführungen und Chordramen der bündischen Jugend, bis hin zu den Thingspielen der Nationalsozialisten. Bei allen Gegensätzen in der ideologischen Besetzung und in den zugrunde liegenden Ein- und Ausschlussmechanismen basierten alle diese „theatralen Gemeinschaften“ doch übereinstimmend auf dem Prinzip, vorab trainierte und disziplinierte Chöre (Sprechchöre, Gesangschöre und/oder Bewegungschöre) in Kontakt mit der zunächst relativ ungeordneten Menge der übrigen Teilnehmer der jeweiligen Aufführung zu bringen. Von Beginn an wurde auf eine intensive Identifikation der Zuschauer mit den dargestellten Chören hingearbeitet, die in ihrer Einheit und Geschlossenheit als ideale Repräsentanten der Masse Anerkennung finden sollten. Über die Identifikation hinaus kam es auf die Herstellung eines physischen Gleichtakts an. Wichtig war, dass sich der Zuschauer an den Rhythmus der Chöre gewöhnte, diesen allmählich adaptierte, körperlich mitvollzog und auf diese Weise nach und nach an der Gesamtbewegung partizipierte. Die Synchronisierung der Körper galt als der entscheidende Schritt in einem komplexeren Wirkungszusammenhang: Hat man mit dem Rhythmus die homogenen, aktiven und dominanten Körper des Chores gleichsam in sich aufgenommen, dann ist man auch eingenommen für die politischen, sozialen und sonstigen Besetzungen, die mit diesen inszenierten Körpern verbunden sind.8 Der Trugschluss dieser Wirkungstheorie besteht wohl gar nicht primär in einer hoffnungslosen Überfrachtung des menschlichen Körpers mit Projektionen und Erfahrungsansprüchen von geradezu unbarmherzigem Ausmaß. Weit problematischer als ihr Körperfetischismus erscheint an Gemeinschaftsinszenierungen dieser Art die Vorstellung, dass Gemeinschaft etwas sei, was man sich zu Eigen machen könne, um es dann zu haben – wie ein Eigentum. Mit den rhythmisierten Kollektivformationen der Zwischenkriegszeit verband sich die Hoffnung, dem Subjekt eine Identität gleichsam von außen injizieren bzw. einverleiben zu können, sei diese nun klassen-, rassen- oder national fundiert. Die Idee der „Volksgemeinschaft“ unterschied sich von der Idee der „Klassengemeinschaft“ in vieler Hinsicht diametral, aber beide Konzepte basierten auf der Vorstellung von einer abgegrenzten, stabilen, kompakten Ganzheit, zu deren Teil das Subjekt werden sollte. War das Subjekt erst restlos in diese Entität aufgenommen, dann schien es seinerseits die Gemeinschaft als Besitz für sich reklamieren zu können. Es verfügte über die Ge8

Zum Scheitern dieses Modells theatraler Gemeinschaftsbildung in der Weimarer Arbeiterbewegung siehe Warstat 2005.

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meinschaftsidentität wie über eine Eigenschaft, indem es nun als „proletarisch“, „arisch“ oder „deutsch“ gelten durfte. Dies alles schien allein dadurch erreichbar, dass der einzelne Mensch etwas „zu sich nahm“ (eine chorische Impression, ein Bewegungsmuster, einen Rhythmus), was von außen eindrang. Gemeinschaft als Einnahme von etwas Äußerem: Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass die offenkundige Unzulänglichkeit, das notorische Scheitern theatraler Gemeinschaftsinszenierungen, im Wesentlichen auf diese Fehlkalkulation zurückzuführen ist. Denn die skizzierte historische Linie darf insgesamt keineswegs als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Vielmehr ist die Tradition des Gemeinschaftstheaters im 20. Jahrhundert von Niederlagen und Rückschlägen durchsetzt, und zwar von Anfang an. Die Arbeiterbewegung haderte fortwährend mit ihren Masseninszenierungen und schaffte es zu keinem Zeitpunkt, diese zu einer unhinterfragten Tradition zu erheben. Arbeiterzeitschriften aus den 1920er Jahren sind voll mit Ermahnungen und Kritik an die Adresse der Veranstalter solcher Gemeinschaftsfeste. Bemängelt wurden künstlerische Defizite der Chordarbietungen und Undiszipliniertheiten der Zuschauer, aber auch der emotionale Überschwang des Verbrüderungspathos, zu dem offenbar viele Teilnehmer keinen Zugang fanden.9 Die Nazis gaben ihre anfänglich mit großem Eifer installierten Thingspiele schon Mitte der 30er Jahre wieder auf, was nicht ausschließlich, aber auch nicht zuletzt auf unzureichenden Publikumserfolg zurückzuführen ist. Rezensionen lassen erkennen, dass die gewünschte Bewegung über die Rampe hinweg, ohne die theatrale Vergemeinschaftung nicht vorstellbar ist, allzu häufig an der Statik der Chorformationen scheiterte.10 Die körperbetonten Gemeinschaftsrituale der Neoavantgarde im Stil von Dionysus in 69 oder Paradise Now verliefen, wie die Quellen zeigen, alles andere als harmonisch und wurden schon ein Jahrzehnt später ironisch belächelt.11 Schleef hat – bei aller posthumen Verehrung – mit seinen Chorinszenierungen viel negative Irritationen ausgelöst und kaum Nachfolger gefunden.12 (Den jüngeren Chorinszenierungen eines Christoph 9 Dazu ausführlich Warstat 2005, 224-238 und 337-339. 10 Langlebiger als die Thingspiele waren die manipulativen Masseninszenierungen der NS-Kundgebungen und -Parteitage. Aber auch im Hinblick auf diese Formate nationalsozialistischer Versammlungskultur konstatieren neuere geschichtswissenschaftliche Untersuchungen, dass sie alles andere als reibungslos funktionierten und sicher nicht der Hauptgrund für die Massenwirksamkeit des Nationalsozialismus waren. Vgl. die abwägende Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Kaspar Maase 1997, 198-199. 11 Richard Schechner, der Initiator und künstlerische Vordenker der New Yorker Performance Group, berichtet in seinem Erfahrungsbericht Environmental Theater immer wieder von Missverständnissen und Konflikten mit dem Publikum. Die Probleme zwischen Akteuren und Zuschauern trugen offenbar auch dazu bei, dass die Performance Group in späteren Jahren den partizipatorischen Charakter ihrer Produktionen mehr und mehr zurückschraubte. Vgl. Schechner 1973. 12 Der Regisseur selbst, der sich in der Bundesrepublik immer wieder mit FaschismusVorwürfen auseinander zu setzen hatte, bemerkte rückblickend resignativ: „ChorBildung und Chor-Einsatz werden heute ausschließlich politisch interpretiert, gehören einer linken oder rechten totalitären Gesinnung an. Die Irritierung und Erregung, die von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgehen, werden nur noch als

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Marthaler, Thomas Bischoff, Laurent Chétouane oder Volker Lösch fehlt jene rhythmische Stringenz und auch der – stets gebrochene – Überwältigungsgestus, die Schleefs Chöre auszeichneten.) Angesichts dieser langen Reihe gescheiterter oder mindestens problematischer Strategien gegen Vereinzelung liegt die Annahme nahe, dass die Suche nach Gemeinschaft im Theater des 20. Jahrhunderts letztlich auf einer Illusion beruhte. Der Kern des Missverständnisses lag in der Idee von Gemeinschaft als einer äußeren Entität, die das Subjekt nur noch internalisieren müsse, um subjektive Identität und Gemeinschaft als Entität zur Deckung zu bringen.

3. Gemeinschaft als Droge Selbst noch bei Einar Schleef, jenem besonders skeptischen und reflektierten Schöpfer ambivalenter Kollektivdarstellungen, mit denen die Vorstellung von Gemeinschaft als Entität subtil unterminiert wurde,13 findet sich die problematische Idee von Gemeinschaft als etwas, das von außen eingenommen werden kann. In der Aufführung begegnet das Publikum dem Chor und wird von dessen rhythmischem Sprechen verunsichert, abgestoßen, attackiert oder mitgerissen. Aus der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts ist der Chor auch bei Schleef eine Gemeinschaft, die von außen kommt – um dann als etwas Fremdes, Bedrohliches abgewehrt, manchmal aber auch ange-nommen bzw. internalisiert zu werden. Das oft als skandalös Empfundene an Schleefs Chören war ihr scharfer, unerbittlicher Rhythmus, dem sich das Publikum kaum entziehen konnte und der den einzelnen Zuschauer nicht selten erschöpft und ausgelaugt zurückließ. Was Schleef dem wahrnehmenden Subjekt im Theater entgegenzusetzen glaubt, ist prinzipiell auch dort ein Chor, wo Einzelakteure in Erscheinung treten. In seinem Essay Droge Faust Parsifal (1997) zeichnet er ein trapezförmiges Diagramm, das die Kommunikationsbeziehungen in einer Aufführung modellhaft darstellen soll.14 Eine gestrichelte waagrechte Linie bezeichnet Rampe und Portal. Oberhalb der Rampenlinie – und parallel zu dieser – markiert eine Schriftzeile die Bühnenrückwand. Unterhalb der Rampenlinie – und ebenfalls parallel zu dieser – symbolisiert eine weitere Schriftzeile den Zuschauerraum bzw. dessen hintere, abschließende Wand. Interessant ist nun die Platzierung der Interaktionspartner: In der Mitte der Hinterwand situiert Schleef den Zuschauer. Ihm frontal gegenüber auf der Gegenseite, d. h. in der Mitte der Bühnenrückwand, ist der Autor platziert. Die von Autor und Zuerschreckende Bedrohung empfunden, die an längst überwundene Zustände erinnert“ (Schleef 1997, 8). 13 Günther Heeg beschreibt die Schleefschen Chöre als eine „unabschließbare Bewegung aus Ausstoßen und Ausgestoßensein, Opfern und Geopfertwerden, ein Konfliktfeld ohne Aussicht auf (Er)Lösung“, Heeg 2004, 63. Ulrike Haß spricht in Zusammenhang mit Schleef vom Chor als einer Figur, „die sich in ihrer Pluralität nicht zum Objekt des Blicks eignet“, Haß 2005, 51. Beide Lesarten sehen den Chor bei Schleef also nicht als abgeschlossene Entität, vielmehr als infinite Vielheit, Bewegung oder Relation. 14 Siehe Schleef 1997, 101.

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schauer jeweils ausgehenden Blickradien sind durch zwei Dreiecke markiert, die an der Rampe eine gemeinsame Kante haben. Schleef erklärt die Anordnung folgendermaßen: Augenpunkt Fluchtpunkt. Im Zusammentreffen von Bühne und Zuschauerraum begegnen sich Autor und Publikum. Beide trennen räumlich Rampe und Portal. Der Zuschauer nimmt vom Zuschauerraum den Fluchtpunkt in der unteren Mitte der Bühnenrückwand an und sieht, wie die von dort ausgehenden Linien auf das Portal tref15 fen, von dem reflektiert, sich in seinem Augenpunkt vereinen.

Der eigentlich tätige Pol im Kommunikationsgefüge ist allerdings der Autor: Der Autor schickt jetzt aus sich, dem Fluchtpunkt, die Figuren in die Fluchtlinien, bewegt sie zu sich und von sich, läßt sie bis an die Rampe vor und nimmt sie wieder zurück, er läßt Verschiebungen des Dreiecks zu, Ausweitungsversuche, alles das sieht 16 der Zuschauer in den auf den Fluchtpunkt zustürzenden Linien.

Alle Figuren haben demnach ihren gemeinsamen Ursprung im Autor, von dem sie wie an Stäben in verschiedenen Konstellationen auf den Zuschauer zu an die Rampe geschoben und wieder zurückgezogen werden. „Wie der Autor die Figuren aus sich herausschickt, so auch deren Sprachen, die alle einem Autor gehören, alle einem Sprachvermögen, alle eine Sprache sprechen.“17 Da alle Figuren Teil eines Sprachkörpers sind und von ein- und demselben Bewegungsursprung ausgehen, können sie – auch ohne Synchronizität – als Chor bezeichnet werden. Entsprechend ist Schleef überzeugt, dass es zur Steuerung solcher Figurenkonstellationen „des Chor-Stücks, der Chor-Idee“ bedarf.18 Stets ist es nach dieser Auffassung ein potenzieller Chor, der dem Theaterzuschauer entgegentritt, „die Gemeinschaft der miteinander Arbeitenden, die Gemeinschaft der Figuren, die eine Sprache sprechen, die des Autors“19. Für sich genommen reichen nach Schleef aber weder eine gemeinsame Sprache noch gemeinsames Arbeiten aus, um zur Gemeinschaft zu gelangen. Gemeinschaft bleibt bis zu einem gewissen Grad Utopie, weil sie an ein phantasmatisches Drittes gebunden ist, an ein Supplement, das internalisierbar, konsumierbar, aber nicht vollständig kontrollierbar ist: die Droge. „Grob gesagt“, so Schleef vage, 15 16 17 18 19

Schleef 1997, 101. Schleef 1997, 101. Schleef 1997, 101-102. Siehe Schleef 1997, 102. Schleef 1997, 10. Der Regisseur scheint – ob als Ko-Schöpfer oder Erfüllungsgehilfe – an der Autorenstelle positioniert. Schleef ist sich darüber im Klaren, dass das so skizzierte Theatermodell die Schauspieler jeglicher eigener Gestaltungsmacht beraubt. Wie Stabpuppen werden sie von einem allmächtigen Autor bewegt. Schleef dazu: „Jedem Darsteller müßte das klar sein, trotzdem wird der Sprachleib egoistisch zerstückelt, die vorgegebene, streng durchzuführende Vers-Form aufgebrochen. Diese Fehlversuche verursachen Splitter, mahlen willentlich die großangelegte Kontur eines Werkes, eines Gedankengangs klein. Der Autor wird von den Darstellern vernichtet“ (Schleef 1997, 101).

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Warstat wird die Droge notwendig, um eine gesellschaftliche Utopie zu entwickeln, ihren Einflußbereich aufrecht zu erhalten, folglich die Zahl ihrer Konsumenten zu erhöhen. […] Droge und Utopie einer Gemeinschaft sind untrennbar miteinander verbunden.20

Erst die Droge ermöglicht jene rauschhafte Synthese sozialer und ontologischer Gegensätze, ohne die Gemeinschaftsbildung für Schleef – hierin ganz Nietzscheaner – nicht denkbar ist: „Die Droge vereint Sub- und Objekt, Herr und Knecht.“21 Als Grundmodell dieser an die Droge gebundenen Vergemeinschaftung betrachtet Schleef das christliche Abendmahl, bei dem durch Einnahme von Brot und Wein die Gemeinschaft der Jünger in Jesus bekräftigt wird. Was aber jenseits dieses Archetyps als Droge fungieren kann, bleibt in der Fülle der Beispiele von Droge Faust Parsifal weitgehend offen: Blut, Fleisch, Alkohol, Heroin, Musik und letztlich das Theater selbst – die Stoffe, die eine Entgrenzung des Einzelnen und zugleich dessen Teilhabe an einer Rauschgemeinschaft ermöglichen, sind je nach Situation und kulturellem Kontext unterschiedlich zu wählen. Ganz gleich wie wörtlich oder metaphorisch der Begriff der Droge hier verstanden wird, im Hinblick auf Schleefs Vorstellungen vom Vorgang theatraler Vergemeinschaftung ist er in höchstem Maße aussagekräftig. Gemeinschaft erscheint als etwas, das eingenommen werden kann. Nicht die Gemeinschaft an sich, aber doch die Droge als notwendiger Auslöser für Gemeinschaftsgefühle, wird dem Subjekt von außen zuteil, um dann internalisiert zu werden. Tatsächlich zehren von dieser Hoffnung auf eine Bewegung von außen nach innen die meisten wichtigen theatralen Gemeinschaftsinszenierungen des 20. Jahrhunderts: Der einzelne Aufführungsteilnehmer soll Gemeinschaft empfangen, indem ihm ein Rhythmus, ein Körpergefühl oder auch nur eine chorische Impression gleichsam injiziert werden. In der Droge wird Gemeinschaft zu einem Produkt, einem proprium, das man haben und genießen kann. Das Theater selbst, so der Gedanke hinter Wirkungs-theorien dieser Art, kann die Droge sein: Medium einer Vergemeinschaftung, die allen anwesenden Aufführungsteilnehmern zuteil wird. Das Subjekt muss zwar eine Entgrenzung zulassen, mit sich geschehen lassen, aber diese selbst ist keine ihm abverlangte Leistung. Anstatt Entgrenzung als aktive Leistung zu vollbringen, darf sich das Subjekt auf die Droge verlassen, durch die es ohne eigenes Zutun entgrenzt wird. In einer Fundamentalkritik an Gemeinschaftskonzepten dieser Art empfiehlt der italienische Philosoph Roberto Esposito eine Rückbesinnung auf die etymologischen Wurzeln der lateinischen communitas.22 Zerlegt man diesen Begriff in seine Bestandteile „cum“ und „munus“, so tut sich ein veränderter Bedeutungshorizont auf, in dessen Licht die vertraute Idee von der Gemeinschaft als identitätsstiftender Ganzheit grundsätzlich hinterfragt werden muss. Gemeinschaft ist aus Espositos Perspektive keine Eigenschaft einer Gruppe und schon gar kein Eigentum eines Subjekts. „Gemein“ – „commun“ – ist vielmehr gerade das, was niemandes Eigentum sein kann: eine Leistung, die dem Subjekt abverlangt wird. Eben dafür steht das lateinische Wort „munus“: Es bezeichnet eine Verpflichtung, Schuldigkeit, Leis20 Schleef 1997, 7. 21 Schleef 1997, 478. 22 Esposito 2004.

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tung, und zwar in Gestalt einer Gabe oder eines Amtes. „Munus“ ist Gabe im Sinne von Tribut oder Pflichtteil.23 Das einzelne Subjekt hat etwas zu geben, muss also etwas herausrücken oder gar einen Teil seiner selbst entäußern. Genau das ist für Esposito „Vergemeinschaftung“: nicht ein Prozess der Integration, in dem das einzelne Subjekt zum Bestandteil eines Kollektivsubjekts wird, sondern eine Hingabe oder Entäußerung, in der sich das Subjekt auf ein Unbekanntes, Anderes hin öffnet. Anstatt eine Droge einzunehmen, leistet das Subjekt eine Gabe, die ihm selbst an die Substanz geht. Die Gemeinschaft wird konstituiert von allen denjenigen, die einen solchen Tribut entrichten müssen. Communitas ist die Gruppe derer, die „cum munus“ sind, die also einen Tribut zu zollen oder ein Amt zu erfüllen haben.24 Insofern steht am Ende der Gemeinschaftsbildung kein Identitätsgewinn, sondern eine folgenreiche Entäußerung des Ichs: Wie uns die komplexe, aber zugleich eindeutige Etymologie, die wir beigezogen haben, anzeigt, ist das munus, das die communitas miteinander teilt, weder ein Eigentum noch eine Zugehörigkeit. Es ist kein Haben, sondern im Gegenteil eine Schuld, ein Pfand, eine zu-gebende-Gabe. Und somit dasjenige, was ein Fehlen hervorrufen wird, im Begriff ist, ein Fehlen zu werden, es potentiell schon ist. Die Subjekte der Gemeinschaft sind durch ein „Schulden“ vereint – in dem Sinne, wie man sagt: „Ich schulde dir etwas“, aber nicht „du schuldest mir etwas“ –, das sie nicht vollständig Herren ihrer selbst sein läßt. Und das sie, genauer gesagt, zum Teil oder ganz und gar enteignet, sie ihres anfänglichen Eigentums, ihrer eigentlichsten Eigen-schaft enteignet – nämlich ihrer Subjektivität selbst. […] das Gemeine ist nicht vom Eigenen gekennzeichnet, sondern vom Uneigen(tlich)en – oder, drastischer gesagt, vom Anderen. Von einer – teilweisen oder gänzlichen – Entleerung des Eigenen in sein Negatives. Von einer Abneigung, welche das Eigentümersubjekt überfällt und dezentriert, es dazu zwingt, aus 25 sich selbst herauszugehen. Sich zu alterieren.

Gemeinschaft ist in diesem Sinne ein subjektbezogenes Ereignis, nämlich ein Störfall der Subjektivität. Sie bezeichnet das unvermeidliche Sich-Öffnen des Subjekts, die Hingabe an einen Anderen oder an etwas Anderes. Diese Öffnung steht für einen Mangel und ist weit weniger Genuss als Verpflichtung. Da der einzelne Mensch sich selbst in keiner Weise genügt, muss er für die Außenwelt und den Anderen offen sein. Prototyp dieses Verständnisses von communitas ist die Arbeitsgemeinschaft: ein Zusammenwirken von Menschen, die eine Pflicht oder Aufgabe teilen, also „cum munus“ und darin aufeinander angewiesen sind.

23 Esposito wählt im italienischen Original die Begriffe „dono“, „carica“, „pegno“ und „tributo“. 24 Vgl. Esposito 2004, 7-35. 25 Esposito 2004, 16-17. Hervorhebungen von Esposito.

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4. Gemeinschaft als Aufgabe Das Modell der Arbeitsgemeinschaft, die durch eine allen Mitgliedern gemeinsame Aufgabe verbunden ist, führt zurück zu den theatralen „Produktionsgemeinschaften“, die sich in den Jahren nach 1968 neu zusammenfanden. Theaterkollektive wie die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, das Bremer Theaterlabor von George Tabori oder das nach dem Mitbestimmungsmodell reorganisierte Schauspiel Frankfurt konnten dann funktionieren und darüber hinaus künstlerische Maßstäbe setzen, wenn sich ihre Mitglieder mit einer gemeinsamen Aufgabe identifizierten. Gemeinsam an etwas zu arbeiten, ein gemeinsames Projekt voranzubringen, sich für ein gemeinsames Ziel einzusetzen – diese im Grunde einfachen und nicht sehr theaterspezifischen, aber eben auch nicht zu unterschätzenden Praktiken scheinen immer wieder das profane Zentrum von Gemeinschaftserfahrung im Theater gebildet zu haben. Und einige jüngere Entwicklungen in der Theaterlandschaft deuten darauf hin, dass dieses Potenzial von Theatermachern zunehmend wahrgenommen wird. Erkennbar ist ein Bemühen, auch das Theaterpublikum, die potenziellen Zuschauer, in Produktionsgemeinschaften einzubinden. So leistet sich heute noch das kleinste Stadttheater regelmäßig Theaterprojekte im öffentlichen Raum, für die z.B. Schüler, Senioren oder interessierte Laien gesucht werden. Die Arbeit von Theaterpädagogen, einer traditionell eher stiefmütterlich behandelten Berufsgruppe, hat in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Theaterpädagogen sind für ihre Häuser wertvoll, weil sie Menschen zur aktiven Mitarbeit am Theater gewinnen, indem sie zum Beispiel Jugendklubs gründen, Workshops zu einzelnen Inszenierungen veranstalten oder ältere Abonnenten in festen Diskussionszirkeln zusammenbringen. Dahinter steht die Idee, dass eine Produktionsgemeinschaft nicht nur diejenigen umfassen kann, die das Theater zu ihrem Beruf gemacht haben. Auch das Publikum kann zum Teil der Produktionsgemeinschaft werden, wenn es explizit an der gemeinsamen Aufgabe teilhaben darf. Gegenüber der vermessenen Idee, Gemeinschaft in kurzen, rauschhaften Momenten einer Aufführung stiften zu wollen, etwa durch leibliches Spüren oder rhythmischen Gleichtakt, haben Arbeitsgemeinschaften zwei markante Vorteile, die ich abschließend hervorheben möchte. Zum einen haben sie den Vorteil größerer Kontinuität. Die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt verbindet Menschen über längere Zeiträume. Dieser Aspekt der Dauer scheint für das Gelingen von Gemeinschaft nicht unwesentlich. Zumindest ist ja auffällig, dass auch traditionelle, rituelle Formen der Vergemeinschaftung, seien es Gottesdienste, Gedenkfeiern oder Familienfeste, meist an ein Prinzip der Wiederholung gebunden sind. Wo immer es um die Stiftung tragfähiger und belastbarer Gemeinschaften geht, kommen Formen der Repetition zum Einsatz. Oft entstehen sie aus dem Versuch, Einmaligkeit und Dauer, Hervorhebung und Kontinuität miteinander zu verbinden. Die Arbeitsgemeinschaft kann Dauer auf eine sehr unkomplizierte, selbstverständliche Art herstellen. Zum anderen haben Arbeitsgemeinschaften die Chance, eine Erfahrung von Gleichheit hervorzubringen, und dies ebenfalls im Modus der Selbstverständlichkeit. Sie eröffnen damit eine schmale Aussicht auf eine große politische Idee, die in den bis hierher diskutierten kommunitären Ansätzen und 24

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Projekten noch kaum angeklungen ist. Tatsächlich hat das Gleichheitspostulat, die egalité, in der deutschen Debatte um Gemeinschaft von jeher keine große Rolle gespielt. In der neueren romanischen politischen Philosophie, bei Autoren wie Jacques Rancière, Alain Badiou, Giorgio Agamben oder Roberto Esposito hat Gleichheit als Denkfigur des Politischen dagegen einen hohen Stellenwert. Auf diese Diskurse kann hier nicht mehr ausführlich eingegangen werden. Es scheint mir aber wichtig zu betonen, dass Gleichheit nicht als Auflösung von Subjektgrenzen, als Gemeinschaftsrausch oder Entindividualisierung verstanden werden muss. In manchen emphatischen Gemeinschafsträumen des 20. Jahrhunderts, gerade in der Metapher des Gemeinschaftskörpers, erscheint Gleichheit tatsächlich als Entdifferenzierung: Unterschiede verschwimmen, gehen auf in einem alles umfassenden Organismus. Diese homogenisierende Sicht ist aber nicht zwangsläufig, denn Gleichheit kann auch darin bestehen, dass man an der gleichen Aufgabe arbeitet, in einer gleichartigen Pflicht verbunden ist oder – in Espositos Lesart von communitas – den gleichen Teil zu entrichten hat. Das neuzeitliche Theater hat sich etabliert als eine gesellschaftliche Einrichtung, die immer wieder diesen Tribut abverlangt. Darin unterscheidet es sich nicht unbedingt von anderen Institutionen. Nur dass die Aufgabe, die das Theater seinen Enthusiasten auferlegt, in besonderer Weise den ganzen Menschen, alle Sinne und vielfältige Begabungen erfordert. So kann der theatrale Prozess zu einer umfassenden Gabe werden, bei der man sich schließlich gehörig verausgaben kann – und auch das haben die Jahre nach 1968 gezeigt.

Literatur Esposito, Roberto (2004): Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Berlin. Fischer-Lichte, Erika (2005): Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London, New York. Haß, Ulrike (2005): Chor. In: Fischer-Lichte, Erika/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart, Weimar, S. 4952. Heeg, Günther (2004): Einsamkeit. Schnittstelle. In: Oberender, Thomas/Ulrike Haß (Hg.): Krieg der Propheten. Zur Zukunft des Politischen II. Berlin, S. 56-88. Kuppers, Petra/Gwen Robertson (Hg.) (2007): The Community Performance Reader. London, New York. Kurzenberger, Hajo (2006): Theaterkollektive. Von der „Truppe 31“ zur „Marthaler-Familie“, von der Politisierung der 68er Bewegung zur Privatisierung des Theatermachens in den Neunzigern. In: Gilcher-Holthey, Ingrid u.a. (Hg.): Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation. Frankfurt a.M., New York, S. 153-178. Maase, Kaspar (1997): Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. Frankfurt a.M. Schechner, Richard (1973): Environmental Theatre. New York. Schleef, Einar (1997): Droge Faust Parsifal. Frankfurt a.M. Warstat, Matthias (2005): Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33. Tübingen, Basel. 25



Performanz versus Herrschaftsrationalität Zum Politikverständnis der Protestbewegung ALFRED KROVOZA 1. Einleitung Im Juni 1967 erschien die Voltaire Flugschrift 10 mit dem Titel Demonstrationen. Ein Berliner Modell. Der Herausgeber und Verleger dieser Flugschrift, Bernward Vesper – Sohn des NS-Barden Will Vesper (ich werde auf diese Familienbeziehung noch einmal zurückkommen) – berichtet in einem zweiten Nachwort, an das ursprüngliche angehängt, er habe das Buch am 2. Juni in den Druck gegeben, an dem Tag also, als abends im Laufe der Berliner Demonstration gegen den Schahbesuch der tödliche Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg fiel, das Initial der bundesweiten Protestbewegung. Hastig war das Buch, eine Art Begleitung zu einer Ausstellung des SternPhotographen Bernard Larsson, der die Demonstrationen der Berliner Studenten und Studentinnen von Ende Juni 1966 bis Anfang Juni 1967 im Bild festgehalten hatte, um Schnappschüsse dieser Demonstration und das eindrucksvolle Bild des aus einer Kopfwunde blutenden, auf dem Straßenpflaster niedergestreckten Studenten und das zweite Nachwort ergänzt worden. Der Band enthielt außerdem eine knappe Chronologie der Protestereignisse vom Sommersemester 1965 bis zum Anfang des Sommersemesters 1967, Augenzeugenberichte zu den Demonstrationen sowie Essays und Reden von Herbert Marcuse, Jacob Taubes, Rudi Dutschke u.a.. Die Protestchronik macht überdeutlich, dass mit dem tödlichen Schuss eine unheilvolle Dynamik in Gang gesetzt wurde, die sich vom dort dargestellten Lauf der Dinge unterscheiden sollte: Die Autoritäten, im wesentlichen Universitätsadministration und Universitätsleitung sowie Gerichte und Staatsgewalt, hatten auf den studentischen Protest bisher mit Verboten reagiert (z.B. Verbot einer Podiumsbeteiligung Erich Kubys im Audimax, der Vorführung von Vietnamfilmen aus dem Ostblock, das zeitweilige Verbot aller politischen Veranstaltungen auf dem Gelände der FU sowie das polizeiliche Verbot von Demonstrationen in der Stadt), mit Polizeieinsätzen auf dem Campus gegen studentische Aktionen, gegen Demonstranten in der Stadt und mit der Maßregelung von einzelnen Personen (Ekkehard Krippendorf). Die Reaktion war also so gut wie ausschließlich repressiv; Repression war die Antwort der „schweigenden Väter“. Sie werden uns später, zur Klärung des Verhältnisses von Protestgeneration und Nationalsozialismus, wieder begegnen. Die protestierenden Studenten hatten ihrerseits mit den Mitteln der Spaßguerilla geantwortet. Und nun dieser Schuss. Vor jenem Ereignis hatten die Studenten 27

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zum Beispiel auf ein Demonstrationsverbot mit der berühmten Spaziergangdemonstration reagiert – am 17. Dezember 1966, einem verkaufsoffenen Sonnabend auf dem Kurfürstendamm, teilweise als Weihnachtsmänner verkleidet oder Geschenkpakete schleppend. Ich erinnere auch an das „Pudding-Attentat“ auf den US-Vizepräsidenten Humphrey, das die Kommune I vorbereitet hatte. Sie wurde etwas später wegen dadaistischer Aktionen, Happenings und Provokationen der Linken – was in der Tradition der Situationistischen Internationalen stand – aus dem SDS ausgeschlossen. Das ins Extrem getriebene performative Element von Politik war (noch) nicht mit dem sozialistischen Selbstverständnis des ehemaligen sozialdemokratischen Studentenverbandes vereinbar. Dutschke hat diese Ausschlussentscheidung später bedauert.1 Die Protestbewegung selber hat sie überrollt. Der inkriminierte Aktionsstil verallgemeinerte sich sehr schnell. Mit Verzögerung kam es zu dem Versuch, der teilweise physischen und, wie sich gezeigt hatte, sogar lebensbedrohlichen Repression tatsächlichen Widerstand entgegenzusetzen. Was ich im Folgenden die symbolpolitisch-performative sowie die real- und machtpolitische Dimension der Protestbewegung nennen werde, geriet teilweise miteinander in ein Spannungsverhältnis; zunehmend oszillierte sie zwischen Performanz und häufig auf irrealen Einschätzungen beruhender Quasimachtpolitik. Bestimmte Zerfallsprodukte der Protestbewegung wie die Gründung kommunistischer Parteien unterschiedlicher Observanz Anfang der 70er Jahre oder der „bewaffnete Kampf“ der RAF werden vor diesem Hintergrund verständlicher. Bis zu dem tödlichen Schuss, der den Berichtszeitraum der Flugschrift beendet, sind die Mittel der Protestierenden die konventionellen legalen und, was wesentlicher und für die gesamte Bewegung charakteristisch ist, symbolpolitisch-performativ. Spätestens aber mit dem Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968 in Berlin wurde dann unwiderruflich das quasi machtpolitische Element in der Bewegung präsent. Bereits am Abend dieses Tages war, für die Polizei vollkommen überraschend, eine große Anzahl Demonstranten von der TU zum Springergelände an der Kochstraße gezogen. Lastwagen der Springerflotte brannten. Das Ziel Springerverlag war durch die Verbreitung einer pogromartigen Stimmung gegen die Studenten von Seiten die Presseerzeugnisse des Verlages, die in Westberlin fast ein Monopol hielten, und die vom SDS theoretisch konzipierte Kampagne „Enteignet Springer!“, sinnfällig markiert.

2. Drei Dimensionen der westdeutschen und westberliner Protestbewegung Mit drei Dimensionen oder, wenn man so will, Elementen der Protestbewegung werde ich mich im Folgenden beschäftigen: der performativ-symbolpolitischen, der macht- und realpolitischen und der psychisch-erinnerungspolitischen. Die symbol- und die erinnerungspolitische Dimension behandele ich in getrennten Abschnitten, die machtpolitische an jeweils geeigneter Stelle. Die erinnerungspolitische ergibt sich aus der spezifischen Subjektivität 1

Fichter/Lönnendonker 1977, 105.

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Zum Politikverständnis der Protestbewegung

einer Generation, die zu Recht die Gnade der späten Geburt hätte reklamieren können, deren formative Entwicklungsphase allerdings durch die Täter und Mitläufer des Nationalsozialismus geprägt war. Nicht-deutschsprachige, komparative Studien weisen durchgehend auf den Nationalsozialismus als Vorgeschichte der deutschen Protestbewegung hin und sehen darin ihre differentia specifica, so z.B. Mark Kurlansky in 1968: The Year That Rocked the World.2 Wie ich später zeigen möchte, spielt Performanz, gleichsam als unbewusste Inszenierung, auch in dieser Dimension eine wichtige Rolle. Je stärker die machtpolitische Dimension ausgeprägt war, umso traditioneller war das Politikverständnis der Akteure. Es ist gekennzeichnet durch einen engen Begriff des Politischen und in der Folge davon der Einengung von Partizipationschancen und Demokratisierungsbestrebungen. Diese Einengung war, jedenfalls in den Augen der Protestgeneration, das Merkmal der herrschenden Politik. Von vornherein richtete sich die Protestbewegung gegen Entpolitisierung und Apathisierung, und zwar nicht nur aus taktischen Gründen zum Zwecke der Mobilisierung für bestimmte Ziele, sondern weil sie in der Politisierung nach Möglichkeit aller gesellschaftlicher Lebensbereiche die Utopie ihrer Neuzusammensetzung sah. So war Dutschkes Idee der Wohnkommune eine neue Einheit von Arbeit, Leben und Politik. Unter der Parole „Das Private ist das Politische“ entwarf man Praktiken und Praxisansätze für die Politisierung von Feldern wie Körper, Sexualität, Geschlechterverhältnis, Alltag, Familie, Erziehung und Ausbildung, kulturelle Praktiken – sowohl ästhetischer wie auch alltäglicher Lebensvollzüge – bis hin zur Subjektivität und psychischen Verfassung des Einzelnen. Ich erinnere an die Rolle der Psychoanalyse in der Protestbewegung. Kürzlich ist von einem der zahlreicher werdenden Gegenaufklärer eine Streitschrift mit dem Titel Verteidigung des Privaten3 erschienen: Ist das Ausdruck einer Sorge oder ein Backlash? Diese subjektnahen Bereiche, die mit der Parole „Das Private ist das Politische“ in den Blick gerieten, enthielten, vielleicht bis auf die eine Ausnahme der ästhetischen Praxis, ein gesellschaftlich retardierendes Moment, waren gleichzeitig potentieller Schauplatz und Gelände der Verhinderung individueller Emanzipation und ein nicht zu vernachlässigender Faktor für die Durchsetzung und Nachhaltigkeit gesellschaftlicher Veränderung. In diesen Bereichen wurde, wie Adorno es einmal ausdrückte und die empirischen Studien des Instituts für Sozialforschung über Familie und autoritäre Persönlichkeit ermittelt hatten, der „Kitt“ produziert, der den gesellschaftlichen Status quo garantierte. Wilhelm Reich stand bei der Protestbewegung hoch im Kurs, weil er genau diesen Zusammenhang in der Sexpol-Bewegung zum Ausgangspunkt einer politischen Strategie gemacht hatte. Deswegen wurde er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen – allerdings auch aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Einen der Gründe für das Scheitern der Oktoberrevolution sah die antiautoritäre Fraktion des SDS im leninistischen Revolutionsmodell, das gesellschaftliche Veränderung auf den Kampf um die Macht im Staat reduzierte und das nicht vorsah, die reale Macht an die zurückzugeben, in deren Namen sie erobert worden war. Eine intensivere und langfristige politische Arbeit auf 2 3

Kurlansky 2007, 169 ff. Sofsky 2007.

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diesen Feldern finden wir allerdings erst nach der „Aktionsphase“ der Protestbewegung 67/68, in der Phase der „Entmischung“ ihrer heterogenen Traditionen und politischen Fraktionen und der gleichzeitigen erstaunlichen Verbreiterung des „Protestmilieus“, v.a. um verschiedenste Berufsfelder, in die die inzwischen Examinierten gingen oder die von sich aus eine gewisse Affinität zeigten (Lehrer, Architekten, Stadtplaner und hier und da sogar Juristen und Ärzte). Praktische Spuren und Entwürfe, in der Anfangsphase noch mehr oder weniger gut in ein politisches Gesamtprojekt integriert, gab es selbstverständlich schon in der Aktionsphase. Fast tragisch an dieser Phasenverschiebung war, dass diese „Feldarbeit“, die eine ganz andere Zeitstruktur verlangte als die Phase der großen Protestaktionen, nach dem Zerfall der Bewegung nun nicht mehr über ein einheitliches Politikverständnis und einigende politische Überzeugungen verfügte, die längerfristig zu einem gemeinsamen Konzept gesamtgesellschaftlicher Veränderungen hätten führen können. Sie blieben politisch gesehen ohne ein Gesamtkonzept und damit sozusagen auf einen bereichsspezifischen „Reformismus“ begrenzt. Gerade auch auf diesen für Politik zu entdeckenden Feldern, häufig also in den sozialen Nahbereichen, spielte der antiautoritäre Protest in Gestalt der Provokation eine besondere Rolle, d.h. die symbolpolitisch-performative Dimension. Nämlich dann, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Autoritäten der eigenen Lebenswelt in Elternhaus, Schule und Universität ging sowie um individuelle Selbstveränderung. Es hat diese Protestform gerade nicht nur im Hinblick auf die „großen“ Themen – Krieg in Vietnam, nationale Befreiungsbewegungen, Notstandsgesetzgebung, Meinungsmanipulation und Pressekonzentration – gegeben. Einer der schönsten kritischen und gleichzeitig unterstützenden Kommentare zur Protestbewegung, die ihr professoraler Partisan Peter Brückner verfasste, trägt den Titel Provokation als organisierte Selbstfreigabe4 und hat gerade diese Nahbereiche im Blick. Er präpariert Provokation als Medium individueller Emanzipation und Selbstveränderung heraus, die ihrerseits wieder Voraussetzung und Ergebnis in einem der kollektiven Bereiche sind. Das performative Element, ohne dass es so benannt worden wäre, wird überdeutlich. Eine Anmerkung muss ich an dieser Stelle machen: Ich verstehe Performanz nicht als einen allgemeinen Ansatz kultur- und sozialwissenschaftlicher Analyse im Sinne des „performative turn“5, der von der Prämisse ausgeht, alle kulturellen und sozialen Bildungen seien Ergebnis von performativen Akten. In der Sprachtheorie und Linguistik oder auch Theaterwissenschaft ohne Zweifel ein produktiver Ansatz, ist er in seiner kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Verallgemeinerung die hegelsche Nacht, in der alle Kühe grau sind. Mit dieser ubiquitären Verwendungsweise geht der kritische Impuls dieses Elements verloren, den es in der Protestbewegung hatte.

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Brückner 1983. Vgl. Bachmann-Medick 2006, 104 ff.

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Zum Politikverständnis der Protestbewegung

2.1 D IE PERFORMATIVE D IMENSION : D IREKTE A KTION UND P ROVOKATION In diesem Abschnitt werde ich zwei – es gab sicher mehr – Traditionslinien politischer Aktionsformen und ihre Rezeption in der Protestbewegung andeuten. Sie sind exemplarisch für die performative Dimension. In einem der Hefte der Neue(n) Kritik von 1965, der Hauszeitschrift des SDS, findet sich der Artikel „Die Strategie der direkten Aktion“ des damaligen Frankfurter Soziologie-Studenten Michael Vester, der auch einige Semester an einer amerikanischen Universität studiert hatte. Er empfiehlt der westdeutschen und westberliner Linken jenseits der SPD diese Strategie zum Ausbruch aus dem Ghetto, in dem sie sich bis Mitte der 60er Jahre ohne Zweifel befand. Wie schnell sie es verlassen sollte, wird der Autor kaum geahnt haben. Was ist eine direkte Aktion? Vester schreibt: Sie findet direkt statt am Ort des praktischen Unrechts oder der theoretischen Unrichtigkeit als Gehorsamverweigerung oder kritisches Argument. Direkte Aktion nistet sich am Herzen der inneren Widersprüche des Systems ein, um die Irrationalität 6 seiner „Logik“ zu demonstrieren.

Zwei Formen der direkten Aktion werden in dem Artikel empfohlen: das Sitin und das Teach-in. Das Sit-in sei Sache der von repressiven Maßnahmen und Ungerechtigkeiten Betroffenen selbst und solle ihr politisches Engagement wecken oder erhöhen und in erfahrungs- und eigeninteressennahen Konflikten am Arbeitsplatz, in der Wohnung oder im Wohnquartier und in diskriminierenden Einrichtungen, z.B. im öffentlichen Schulwesen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, den Widerstand an der Basis artikulieren. Dies richte sich auch gegen eine Stellvertreterpolitik sogenannter revolutionärer Avantgarden, die Entmündigung und Apathisierung der breiten Masse nur um ein weiteres Stück verlängere. Diese Aktionsform gehe zurück auf Streikformen der um den Ersten Weltkrieg in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung noch starken anarchistischen und syndikalistischen Strömungen. Gegenwärtig werde sie in der Civil Rights Movement mit Erfolg eingesetzt. Das Go-in wird nicht ausdrücklich erwähnt, vielleicht weil es tendenziell die für die direkte Aktion vom Autor für erforderlich gehaltene Gewaltlosigkeit („ziviler Ungehorsam“) nicht garantieren kann. Schließlich das Teach-in: Es sei die Form direkter Aktion der Intellektuellen. Es sollten „nie geschlossene Veranstaltungen der schon Überzeugten sein“.7 Teach-ins wurde v.a. in der demokratische Rechte einfordernden Free Speech Movement und durch den amerikanischen SDS entwickelt: Berkeley, Columbia und die Universität von Michigan waren hier die Hochburgen. Von bestimmten, auf die Vergangenheit des SDS als Studentenverband der SPD, von der sich die Generation vor den Antiautoritären noch nicht so recht trennen mochte, zurückweisenden Zügen des Beitrages befreit, wurde dieser US-Import vorbildlich für die Protestbewegung. Übrigens war der Autor dieses Beitrages nicht das einzige

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Neue Kritik 30, 17. Neue Kritik 30, 16.

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SDS-Mitglied, das politische Erfahrungen an amerikanischen Universitäten gesammelt hatte. Im Wikipedia-Artikel „Situationistische Internationale“ heißt es so lapidar wie zutreffend: „Im Zuge einer aktuellen Diskussion um die Neubewertung der Bewegung von 1968 in Deutschland [...] kommen die Situationisten und ihre Ziele bisher kaum vor.“8 Die SI, die Sektionen in mehreren europäischen Ländern hatte, aber nur eine geringe Mitgliederzahl aufwies, wurde 1957 gegründet und löste sich 1972 wieder auf. In ihr waren bildende Künstler, Architekten, Stadtplaner, Filmer und politische Theoretiker organisiert. Ihr Ziel war die Umsetzung der Konzepte der Kunst, der in ihr formulierten Bedürfnisse und Utopien in die Alltagsrealität der Menschen, insbesondere der arbeitenden – Stichwort „Entgrenzung der Kunst“, ihr Ende, oder zumindest das ihrer Notwendigkeit –, mithin ihre Befreiung gleichsam aus dem Rahmen des gemalten Bildes in die gesellschaftliche Realität. Ihre Diktion war die der radikalen linken Politik, die andere linke Radikalismen zu übertreffen suchte. Politisch waren ihre Gewährsleute Fourier, der junge Marx und die Anarchisten, ästhetisch die Dadaisten und Surrealisten, die sie gleichwohl scharf kritisierten. Zentrale Gegenstände ihrer Kritik und Politik waren das Alltagsleben unter kapitalistischen Bedingungen und die Stadt, die dieses Alltagsleben organisierte. Dies kehrte in der Protestbewegung wieder, wie auch das Gewicht, das die Gruppe der Subjektivität des Einzelnen und ihrer Veränderung beimaß. Aber noch deutlicher wird ihre Vorläuferschaft, wenn man sich ihre Aktionsformen vergegenwärtigt, den Versuch der exemplarischen Herstellung von „Situationen“, in denen Kunst und Leben zur Deckung kommen, d.h. die Antizipation einer durch die Revolution herzustellenden Zukunft. Das Element der Provokation lag allein schon in der Form einer an Radikalität kaum zu übertreffenden Kritik an der herrschenden Politik – einschließlich der des gesamten linken Lagers und der des real existierenden Sozialismus. Wie ihre unverkennbare Wirkung auf die Protestbewegung, insbesondere auf die Herausbildung ihres performativen Elements, zustande kam, ist schwer zu sagen, ob durch direkte personelle und organisatorische Kontakte, durch die Schriften ihrer Protagonisten, die in den 60er Jahren in Übersetzungen greifbar waren und auf wie immer obskuren Herstellungs- und Vertriebswegen in die Hände der Protestgeneration gerieten, oder ob das alles irgendwie in der Luft lag. Vielleicht wäre noch darauf hinzuweisen, dass die SI das trotzkistische Konzept des Entrismus übernommen hatte: Man schloss sich anderen Gruppen an, um diese im Sinne der eigenen Vorstellungen zu beeinflussen. Eine personell-organisatorische Verbindung jedenfalls war gegeben: Der Cheftheoretiker und Redakteur der Zeitschrift S.P.U.R., des Hausorgans der Münchener Künstlergruppe gleichen Namens, der deutschen Sektion der SI, hieß Dieter Kunzelmann, der uns später als Mitglied des Berliner SDS und Kommunarde der K I wieder begegnet. 1961 wurde die Gruppe wegen „ästhetischem Elitismus“ aus der SI ausgeschlossen und Kunzelmann, der diese Kritik teilte, verließ die Gruppe, um sich nach einem publizistisch-politischen Zwischenspiel 1964 in der in Gründung befindlichen Subversiven Aktion zu engagieren, einer linksradikalen Gruppe mit Münchener und Berliner Mitgliedern. Ihre Zeitschrift 8

de.wikipedia.org/wiki/Situationistische_Internationale (Letzter Zugriff: 30.06.2008).

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Zum Politikverständnis der Protestbewegung

hieß Anschlag. Zu den Berlinern gehörten Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, die sich allerdings in ihren politischen Vorstellungen auf die politische Ökonomie und den Geschichtsmaterialismus von Marx stützten, während die Münchener, dem genius loci folgend, ein utopisch-aktionistisches Revolutionsmodell pflegten. Schon bald nach der Gründung traten die Berliner zusammen mit Kunzelmann, inzwischen nach Berlin übergesiedelt, in den SDS ein: „Durch ihre theoretischen Beiträge und praktische Arbeit übten sie in den folgenden fünf Jahren starken Einfluß auf die Inhalte und Aktionsformen dieses Studentenverbandes aus.“9 Sie führten das aktionistisch-antiautoritäre, d.h. das performative Element in die Politik des SDS ein, das die vor-antiautoritäre Generation der sozialistischen Studenten zunächst kritisch betrachtete, das dann aber für die gesamte Protestbewegung stilbildend wurde. In vielen europäischen Bewegungen der 60er Jahre, nicht zuletzt im Pariser Mai, wird die SI als eine Art Ferment wirksam. 2.2 D AS G O - IN : Ö FFENTLICHKEIT

HERSTELLEN !

Diese beiden Beispiele machen, worauf ich ausdrücklich hinweisen möchte, die Heterogenität der Quellen und Motive der Protestbewegung deutlich; gleichwohl tragen beide zum, wie ich es nenne, performativen Element bei. Eine in der Protestbewegung phantasievoll weiterentwickelte Variante war das Go-in in eine Vorlesung, eine i.d.R. nicht öffentliche Gremiensitzung, in das Rektorat, letztere die Arkanbereiche der noch nicht reformierten Universität, in einen Vortrag in der Stadt, einen Gottesdienst oder in eine Gerichtsverhandlung. Ob auch Theateraufführungen Ziel derartiger Aktionen waren, weiß ich nicht, könnte es mir aber gut vorstellen. Häufig war das Go-in verbunden mit der Parole „Herstellung von Öffentlichkeit!“ und hatte das Ziel, eine Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Damit sollten gesellschaftliche Arkanbereiche, die Transparenz und Partizipation, d.h. demokratische Kontrolle verhinderten, aufgebrochen und Foren mit meinungsmanipulativer Funktion oder begrenzter Öffentlichkeit im Interesse eines erweiterten Meinungsspektrums und der Artikulation von Kritik und eigener politischer Vorstellung geöffnet werden. Dieses Engagement für eine Gegenöffentlichkeit, die eng mit der vom SDS konzipierten Kampagne „Enteignet Springer!“ verbunden, und spätestens seit dem Attentat auf Rudi Dutschke ein zentrales Movens war, ist ebenfalls eine differentia specifica der deutschen Protestbewegung. Nicht zuletzt Habermas’ Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) hatte bei der Konzipierung dieser Kampagne Pate gestanden. Sie war gleichsam aktionistisch gewendet worden. 2.3 Z UR K RITIK

AN DEN

A KTIONSFORMEN

DER

P ROTESTBEWEGUNG

Jedenfalls ist am Go-in die Theatralisierung, ja „Karnevalisierung“ (Michail Bachtin) einer konkreten sozialen Situation als Bedingung der Möglichkeit von politischer Selbstartikulation unverkennbar. Je nach Reaktion der Autoritäten, die die Diskurshoheit hatten, den Zuschnitt der Öffentlichkeit bestimmten bzw. diese auch ausschließen konnten und den Umkreis mögli9

Fichter/Lönnendonker 1977, 81.

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cher Interventionen, Fragen und abweichender Meinungen festlegten, d.h. das lizenzierte Spektrum vorgaben, oder schlicht der Hausherr entschieden darüber, ob aus dem Go-in eine „Sprengung“ wurde oder gar die Polizei das „besetzte Gebiet“ räumen musste. In den Augen der Autoritäten war diese Aktionsform, wie im Übrigen auch fast alle anderen, Rüpelei und Mangel an Respekt, so die wohlwollende, minoritäre Beurteilung. Das Urteil der Mehrzahl lautete eher: kriminelles Verhalten und Terror. Für die Protestierenden bedeutete es, jedenfalls anfänglich, Selbstüberwindung, d.h. Überwindung innerer Widerstände, und war mit Scham und Gewissensbissen verbunden. Diese Generation war nicht an den gleichsam argumentativen und demonstrativen Einsatz ihrer Körperlichkeit und ihres Äußeren sowie kollektive Handlungen gewöhnt. Das hat sich seitdem geändert: Damals waren es Versuche, ein Ich-gerechtes Verhältnis zu inneren Autoritäten zu gewinnen und ihnen nicht zwanghaft zu folgen, letzten Endes also Selbstbefreiungsversuche. Heute scheinen es eher narzisstische Selbstdarstellungen zu sein auf der vergeblichen Suche nach Differenz. Jene antiautoritären Inszenierungen, bei denen sich die Autoritäten häufig sehr ungeschickt verhielten, entlarvten natürlich regelmäßig jenes Stück Herrschaft und deren ultima ratio Gewalt, die neben Ermöglichung und Sicherung Bestandteil jeder Verfahrensregel, ja jeder Norm überhaupt ist. Gehe die Provokation allerdings über die Entlarvung („demonstrative Gewalt“) hinaus, so Jürgen Habermas als Kritiker der Protestbewegung, und werde mit dem Ziel betrieben, die in den Institutionen sublimierte Gewalt, „auf die sich herrschende Positionen stützen“, zur manifesten zu machen, sei das „ein Spiel mit dem Terror“10. Dazu muss man natürlich sagen, dass es nicht ohne weiteres in der Hand der Protestierenden liegt, ob die Gewalt manifest wird. Gerade diesen Typus von Aktion bzw. seine politische Rechtfertigung hatte allerdings Habermas auf dem hannoverschen Kongress Bedingungen und Organisation des Widerstandes aus Anlass der Beisetzung Benno Ohnesorgs als eine „voluntaristische Ideologie“ gebrandmarkt, die er unter heutigen Bedingungen „linken Faschismus“11 nennen müsse. Das war die Antwort auf Rudi Dutschkes geschichtsphilosophische Rechtfertigung des Voluntarismus und der „subjektiven Tätigkeit des einzelnen“12 heute und seine Propagierung des Berliner Aktionsmodells. Dieser berühmt-berüchtigte Linksfaschismusvorwurf hat einen Grund sicherlich auch – Habermas Probleme mit ästhetischen Phänomenen sind notorisch – in der Verkennung des performativen Charakters dieser Aktionsform. Ein weiteres kritisches Argument beruht nicht auf der Verkennung des performativen Elements, sondern richtet sich genau gegen es. Aus dem Kreis der Demonstranten selber kam Kritik an der zunehmenden Ritualisierung der Straßendemonstrationen (vom rhythmischen Wechsel zwischen Laufen und Gehen bis hin zur Rhythmisierung des gesamten Demonstrationsgeschehens über Sprechchöre, „Wechselgesang“ zwischen Megaphon und Demonstranten und „Springprozessionen“) und der Steigerung der nonverbalen Ausdruckselemente. Die Kritiker fassten ihre Vorbehalte in der Formel der „Ästhetisierung der Politik“ zusammen und befürchteten eine Entpolitisierung des 10 Habermas 1967, 75. 11 Habermas 1967, 101. 12 Habermas 1967, 93.

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Zum Politikverständnis der Protestbewegung

Protests. Diese Formel geht auf Walter Benjamin zurück, der sie in der Schlusspassage seines Essays „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) prägte.13 Der Faschismus versuche, den proletarisierten Massen einen „Ausdruck“ in der Konservierung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu geben, während sie bei der rationalen Verfolgung ihrer Interessen diese ändern müssten. Diese Ästhetisierung der Politik, die in der Tat entpolitisiert und bei der man an Aufmärsche, Paraden, Parteitage und Olympische Spiele denkt, gipfele im Punkt des Krieges, der es erlaube, alle technischen Mittel, d.h. alle Produktivkräfte, zu mobilisieren, ohne die Eigentumsordnung zu ändern. Der Preis sei die Opferung derjenigen, denen zu einem Ausdruck verholfen wurde. Während in der Protestbewegung eine Minderheit, weit von jeder politischen Macht entfernt und ein Überraschungsmoment wie die Tölpelhaftigkeit der Autoritäten ausnutzend, ihren prinzipiellen Dissens mit der herrschenden Politik und ihre fundamentale Kritik am gesellschaftlichen status quo öffentlich und provokativ artikulierte, versuchte der Faschismus mit der Ästhetisierung der Politik, Gegentendenzen zu ihrer aus einer paranoiden Weltsicht resultierenden suizidalen Politik, die zentrale gesellschaftliche Machtkonstellationen unberührt ließ und letztlich in die Katastrophe führte, zu integrieren und sich dienstbar zu machen. Dieser Unterschied ist festzuhalten, weil gerade das performative Element, in der Protestbewegung ein genuin politisches Mittel, zum 40. Jahrestag von 68 wieder gerne missverstanden wird, um eine angebliche Gleichstellung mit rechter Politik und Nationalsozialismus zu behaupten, die heute als „Radikalismus von rechts und von links“ eine der Standardformeln deutscher Politik darstellt – 2008 wieder zu finden in Götz Alys Buch Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück.14 Der Autor war übrigens seinerzeit militantes Mitglied der Roten Zelle Germanistik der FU Berlin. Wie derartige Bewegungen immer, so hat auch die Protestbewegung zahlreiche Renegaten produziert. Und der Unterschied ist noch entschiedener festzuhalten, weil die performative Abweichung schließlich als Dispositiv gegen das verkürzte und pseudorationale, untrennbar mit Herrschaftsinteressen verbundene traditionelle Politikverständnis in Stellung gebracht wurde und zu seiner sinnfälligen Enthüllung beitragen sollte. 2.4 D AS O SZILLIEREN

ZWISCHEN SYMBOL - UND MACHTPOLITISCHER

D IMENSION Schon eingangs habe ich darauf hingewiesen, dass 67/68 – mit einem Vorlauf 1965 und 1966 in den Protestmetropolen Berlin und Frankfurt – die Ereignisse eine unheilvolle Dynamik entwickelten, die mit dem Todesschuss auf Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke einen Wendepunkt hervorriefen. Dieser Wendepunkt war eben noch nicht die Entlarvung jenes Anteils von Gewalt in den Institutionen durch demonstrative Gewalt; die Schüsse waren keine reaktive oder provozierte Gewalt – der Versuch des Todesschützen, sich auf „putative Notwehr“ herauszureden, scheiterte sogar – sondern autonome Gewalt. Gleichwohl, aber durchaus verständlich, begann 13 Vgl. Benjamin 1991. 14 Vgl. Aly 2008.

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die Protestbewegung zwischen der machtpolitischen und der symbolpolitischen Dimension zu oszillieren. Damit setzte sie ihre performativen Ressourcen und ihre Kraft zur Delegitimierung aufs Spiel, geriet sie doch in die Zone jener Kritik, die sie selber an der machtpolitischen Verfassung der Gesellschaft zunächst so überzeugend geübt hatte. Ganz deutlich wird das an zwei „Entmischungs“-Resultaten der Protestbewegung, nämlich der Gründung kommunistischer Parteien leninistischen Typs und dem „bewaffneten Kampf“ in den 70er Jahren. Und schon in der Aktionsphase selbst war der Rückgriff auf die anarchistische Formel der „Propaganda der Tat“ und der Aufruf zur „Bildung quasi Netschajewscher Zellen“ (Hans-Jürgen Krahl) zumindest zweideutig. Bevor man aber von einer symbolpolitischen Verschleierung letzten Endes machtpolitischer Vorstellungen redet, sollte man berücksichtigen, dass sich gerade in diesen performativen Kontexten eine politische Empathie mit den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt entwickelte, die in den „Metropolen“ ihresgleichen suchte. Dabei darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass in dieser Zeit vielleicht die letzte Möglichkeit bestand, einem inzwischen vermutlich irreversiblen Prozess, der das Label „Globalisierung“ erhalten hat, das nur unzulänglich wiedergibt, was sich gesellschaftlich und politisch hinter ihm verbirgt, eine andere Richtung zu geben.

3. Die psychisch-erinnerungspolitische Dimension als Generationsschicksal Ich kehre zum Anfang meines Beitrags, zu Bernward Vesper, Mitglied des Berliner SDS und Verleger der ApO, zurück. Er war ein Sohn Will Vespers (1882–1962), eines im NS-Staat wohlgelittenen und geförderten Schriftstellers, der die NS-„Weltanschauung“ vertrat. Dieser Vater pflegte, wie wir aus dem Roman seines Sohnes Die Reise erfahren, seinen Kindern mit dem „Siebenstriemer“ die richtige Haltung beizubringen und beim Rezitieren der eigenen Gedichte in Tränen auszubrechen – eine übermächtige und tyrannische Vatergestalt. „Ja, ich wußte genau,“ lesen wir in dem autobiographischen Roman, den sein Autor einen „Romanessay“ nennt, „daß ich Hitler war, bis zum Gürtel, daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist [...] aber es ist gar nicht Hitler, es ist mein Vater, ist meine Kindheit.“15 Der Roman blieb unvollendet, der Autor nahm sich das Leben. Die Reise, eine im Drogenrausch zurückgelegte Fahrt von Yugoslawien nach Tübingen, macht eindringlich deutlich, dass Vesper an seinen inneren Autoritäten scheitert, die ihn an dem Leben hindern, das er allein für lebenswert hält. Wer sich mit der 68er Bewegung beschäftigt, sollte dies nicht tun, ohne dieses Buch gelesen zu haben. Es ist bei weitem aufschlussreicher als die Archive mit ihren Flugblättern und Broschüren, Resolutionen und Resolutionsentwürfen, den Presseberichten und dem Bildmaterial. Die Jahrgänge 1940 bis etwa 1950, für die die späte Geburt keine Gnade, sondern eher ein Unheil war, wurden in einer hochformativen Entwicklungs15 Vesper 1977, 94.

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Zum Politikverständnis der Protestbewegung

phase mit den Trümmern des „Dritten Reiches“ konfrontiert – Trümmer im wortwörtlichen Sinne in Gestalt zerstörter Städte, vor allem aber Trümmer in psychischer, sozialer und politischer Hinsicht: Vaterlosigkeit, desillusionierte, verwundete, verstümmelte und insofern zerstörte Väter und – vielleicht am verheerendsten – schweigende Väter, Lehrer, deren Ausbildung und erste Berufserfahrungen in die Jahre 33 bis 45 fielen, ebenfalls gezeichnet und schweigend, politische Autoritäten und Funktionseliten, die bis auf Ausnahmen ihren Beitrag zum NS, in welcher Position auch immer, im Zweifel als Mitläufer, geleistet hatten. Sie bildeten eine Handlungs- und Duldungseinheit für ein paranoides Projekt. Dass von einer derart umstellten Generation nicht ohne weiteres das psychoanalytische „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (Freud) der frühen Erfahrungen – schon eher deren „Ausagieren“ – erwartet werden konnte, aber genauso wenig ohne weiteres die diskursivrationale „Aufarbeitung“ der Vergangenheit, wie das damals hieß, liegt auf der Hand. Von der Vätergeneration hätte man allerdings einen selbstreflexiven Umgang mit dem, was geschehen war, erwarten können, ja erwarten müssen. Von der Generation der Kinder konnte man es aus dem elementaren Grund kindlicher Abhängigkeit und Bedürftigkeit nicht erwarten. Und es liegt in der Logik des Verschweigens und Verleugnens, dass nun gerade den Kinder, sofern sie sich dem Protest anschlossen, faschistische Methoden vorgeworfen wurden. Von „braunen Horden“ und „Mob“ war die Rede. In der Psychoanalyse kennt man diese psychische Operation als den Abwehrmechanismus der Verschiebung. Gleichzeitig wurden die Rebellierenden als Minderheit stigmatisiert. Mit dem Stigmatisieren kannte man sich schließlich aus. Und sogar noch nach 40 Jahren werden die sog. 68er für eine Zerstörung des Leistungsprinzips und von Bildungsgütern sowie von Normen, Werten und Moral, ja von Kultur schlechthin verantwortlich gemacht, obwohl die Generation ihrer Väter nicht mehr viel übrig gelassen hatte, was hätte zerstört werden können. Und was sie übrig gelassen hatten, war entwertet. Wenn behauptet wird, die Protestbewegung habe sich kritisch mit der NSVergangenheit beschäftigt, so ist das zu pauschal und nicht ganz richtig. Auffällig ist, dass es keine thematisch fokussierte oder kampagnenförmige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder seinem Nachleben gab, er tauchte nicht einmal als Kongress- oder Teach-in-Thema auf. Allenfalls gab es einzelne Versuche, Personen oder Institutionen, die nach wie vor ihre Rolle spielten, öffentlich namhaft zu machen. Sie blieben aber vereinzelt und hatten keine mobilisierende Wirkung. (Umgekehrt funktionierte es besser: Häufig veröffentlichte die Springer-Presse NSDAP-Mitgliedsnummern von älteren Teilnehmern oder Sympathisanten der Protestbewegung, was immer gehörige Empörung auf dem anderen Ufer des bundesrepublikanischen Flusslaufs hervorrief.) Das sagt aber nichts aus über die tatsächliche Involviertheit in die Vergangenheit. Ganz im Gegenteil. Der Nationalsozialismus und die Vergangenheit waren in anderer Weise, in einem anderen Aggregatzustand, in der Protestbewegung omnipräsent, ja man könnte sie insgesamt als einen groß angelegten Versuch der Vergegenwärtigung und psychischen Erledigung der Vergangenheit interpretieren, selbstverständlich ohne die Behauptung, dass sie darin aufgingen. In der Auseinandersetzung mit den Vätern und der Welt der Väter haben die Protestierenden die Position der Opfer ihrer Vätergeneration eingenommen. Mit ihnen identifizierten sie sich. Wenn man ihre, in 37

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diesem Falle, unbewussten Selbstinszenierungen – wiederum jene performative Dimension also! – im Hinblick auf unbewusste Bedeutungen liest, kommt man zu diesem Befund. Zwar wurden die Protestierenden in der veröffentlichten Meinung mit dem Ziel der Marginalisierung als Minderheit bezeichnet, aber diese verstanden sich selbst auch offensiv als Minderheit. Eine der beliebtesten Demonstrationsparolen war das gemeinsam in besonderer Weise skandierte „Wir sind eine / kleine radikale Minderheit.“ Und Dutschke wiederholte hundertfach an Demonstranten gewendet: „Der kritische Begriff der Masse ist die Minderheit.“ Diese Selbstetikettierung war nicht nur die offensive Übernahme einer Bezeichnung, die Kritiker und Gegner in diskriminierender Absicht verwenden, wie die Impressionisten es vorgemacht hatten, oder eine Provokation des Bürgers und der öffentlichen Meinung. Sie hatte auch eine unbewusste Bedeutung. War man nicht tatsächlich eine Minderheit, die vom – nota bene „postfaschistischen“ – Staat bzw. seinen Organen und einer willfährigen Presse verfolgt wurde? Waren nicht auch Gruppen, die wegen besonderer Merkmale, ethnisch-rassischer, körperlicher, sexueller, politisch-weltanschaulicher, religiöser, Minderheiten also, Opfer der Verfolgung und Vernichtung des Nationalsozialismus geworden? Wurde nicht die Gefahr einer Re-Faschisierung der Bundesrepublik und Westberlins in einer das Groteske streifenden Weise beschworen? Ein Faschismus, der nicht von den Rändern der Gesellschaft her seine politische Karriere in Angriff nahm, sondern in der Mitte der Gesellschaft larviert bereitlag und in einer ihm günstigen Konstellation manifest werden würde? Natürlich entsprachen dieser Befürchtung auch Anteile der äußeren, politischen Realität. Argumente und Fakten ließen sich für sie schon anführen (Große Koalition, das Projekt der formierten Gesellschaft, die Notstandsgesetze). Vor allem aber entsprachen sie einer inneren, psychischen Realität, die in vergangenen Erfahrungen ihre Quelle hatte. Das gilt ebenso für das berühmt-berüchtigte „USA-SA-SS“. Das von den Protestierenden häufig verwendete Wort „Widerstand“ und der damit beschworene Sachverhalt, auch um den Preis einer dramatisierten und verzerrten Wahrnehmung der eigenen Gegenwart, konnte, wenn man mit dem „dritten Ohr“ (Theodor Reik) zuhörte, als nachholender Widerstand gedeutet werden, eines Widerstandes, den die Väter so gänzlich hatten vermissen lassen. Und weiterhin: So gut wie die gesamte Raubdruckproduktion im Rahmen der Protestbewegung machte Bücher wieder zugänglich, die auf den Scheiterhaufen des Nationalsozialismus gelegen hatten: Freud, Reich u.a. Psychoanalytiker, Publikationen aus Anarchismus, revolutionärem Sozialismus und Kommunismus bis hin zu den Vertretern der Kritischen Theorie und den Publikationen aus dem frühen Institut für Sozialforschung, die Autoren häufig Juden, fast immer Emigranten oder Opfer des Nationalsozialismus oder seiner Vorläufer. Vielleicht verband sich damit auch die irreale Hoffnung, das, was geschehen war, wieder gut, wenn schon nicht ungeschehen, machen zu können. In der Interlinearversion des unbewussten Textes waren diese Phänomene unbewusste Identifikationen mit unterschiedlichen Opfergruppen. In den Ängsten der eigenen Frühzeit glaubte man die Ängste der Opfer der Väter zu erkennen, und die Wiederaufnahme und Pflege von gesellschaftskritischen Traditionen und entsprechenden politischen Praxisansätzen, die der Nationalsozialismus zu zerstören gesucht hatte, konnte als Sühne für die Schuld der 38

Zum Politikverständnis der Protestbewegung

Väter und sogar als Milderung einer eigenen Überlebensschuld erlebt werden. Weitere Beispiele performativer Elemente, die in dieselbe Richtung deuten, ließen sich ohne weiteres anführen. Ich will zunächst nur eine gewisse Plausibilität für meine These herstellen, dass alles auf eine unbewusste Identifikation der Protestierenden mit den Opfern ihrer Väter hinweist, die sie ja in gewisser Weise auch waren. Was sie an Kritik aufgrund eigener emotionaler und lebengeschichtlicher Verstrickung nicht intentione recta artikulieren konnten, artikulierte sich in der unbewussten Bedeutung ihrer Selbstinszenierungen, häufig durch den Griff in den Fundus der Emanzipationsbewegungen der „Verdammten dieser Erde“ – von der hochgespannten Formel einer „Rehabilitierung des Anarchismus auf dem Boden der marxschen Theorie selber“, bis zum Absingen der Internationalen. Wenn das tatsächlich das „Ausagieren“ einer unerledigten Vergangenheit ist, dann gibt es eine Diskrepanz zwischen dem manifesten, bewusst vermeinten Sinn der Handlung und ihrem verborgenen Sinn, der unbewusst inszeniert wird. Er muss tiefenhermeneutisch erschlossen werden. Die Psychoanalyse kennt dieses „Agieren“ oder „Ausagieren“ als einen Modus der Aktualisierung von Vergangenheit, er befindet sich im Gegensatz zum Modus des „Erinnern(s), Wiederholen(s) und Durcharbeiten(s)“ (s.o.). Beim Agieren sind die Handlungen des Subjekts zwanghaft und erfolgen unter der Herrschaft des Unbewussten. Das Subjekt wiederholt seine Vergangenheit, ohne zu erkennen, dass es seine ist. Sie ist ihm entfremdet. Er ist Mitspieler in der Inszenierung eines Dramas, dessen ursprünglichen Text er nicht (mehr) kennt. In seiner aktuellen Situation ist die Vergangenheit symbolisch repräsentiert. Als Symbol dient dabei ein Sinnelement des aktuellen Sinnzusammenhangs und bleibt infolgedessen unauffällig. Es muss gedeutet werden. Im Erinnern werden die Spuren der Vergangenheit gedeutet – in der psychoanalytischen Kur mit Hilfe des Analytikers – und ihre neue Bedeutung wird gegen oft erhebliche Widerstände des Subjekts, also mit großem psychischen „Arbeitsaufwand“, in seinen manifesten Sinnzusammenhang integriert, d.h. wiederholt durchgearbeitet. Die Protestierenden – ich erinnere pars pro toto an Die Reise – standen unter dem Eindruck einer traumatisierenden Vergangenheit, vor allem in frühen Entwicklungsphasen. Sie waren aber gerade nicht, wie immer wieder behauptet wird – so zuletzt noch von Götz Aly – mit den Vätern und Tätern identifiziert, sondern mit deren Opfern, deren Erbe sie gleichsam antraten, wenn sie ihre Bücher und Theorien rezipierten, an ihre politischen Traditionen anzuknüpfen suchten und historische Gestalten, die der Nationalsozialismus liquidiert hatte, in den Ahnenstand erhoben. Das ist keine „wilde“ Deutung. Ihre Berechtigung mag einsichtiger werden, wenn man sich klarmacht, wie die Methode der Deutung unbewusster Gehalte beschrieben werden kann. Was heißt psychoanalytisches Verstehen? Alfred Lorenzer formuliert es im Versuch der metatheoretischen Beschreibung des psychoanalytischen Deutens folgendermaßen: Es gibt keine feste Rollenbedeutung im Erleben des Patienten [und des unbewusst motiviert Agierenden, Verf.] ohne Situation, und es gibt kein Erkennen einer Situation ohne szenisches Verstehen. [...] Die Szene bestimmt die Rollenbedeutung. Die konkrete Szene vermittelt Einzeldaten und übergreifenden Sinnzusammenhang. [...] Das Wesentliche der Szene ist [...] nicht ihre physische, sondern ihre psychische

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Krovoza Realität: die Aktualisierung der Triebimpulse und Triebobjekte [...] in einer Objektbe16 ziehung.

Aufgabe des Psychoanalytikers ist es dann, den Patienten so zu führen, dass er eine aktuelle Szene mit einer infantilen Szene, die i.d.R. nur in der analytischen Kur anfällt und dort auch nur larviert, in eine bedeutende Verbindung bringt. Ich halte es für möglich, dass nicht wenige der Protestierenden auf der Suche nach ihren generationsspezifischen infantilen Szenen waren. Hätten sie sie finden können, wären ihnen vermutlich im Abgleich mit aktuellen Szenarien Verzerrungen und unzulänglich an der Realität kontrollierte Verhaltensweisen als Ergebnis eines pathischen Zusammenhangs von frühesten Erfahrungen und je aktuellem Verhalten durchsichtig geworden. Auch diese Schuld fällt auf die Väter zurück. Nun gibt es keine kollektive Psychoanalyse. Sie ist unwiderruflich an die Dyade von Analytiker und Analysand gebunden. Gleichwohl hat Alfred Lorenzer einmal die Protestbewegung im Gespräch als kollektive „wilde Psychoanalyse“, d.h. eine wilde Eigenanalyse, bezeichnet, um bestimmte Züge an ihr hervorzuheben. Eine „wilde Psychoanalyse“ ist nach Freud eine mit unzulänglichen und/oder fehlerhaft eingesetzten Mitteln, i.d.R. von psychoanalytisch nicht trainierten Laien durchgeführte Analyse. Hinweisen wollte Lorenzer damit, so vermute ich, auf eben diese psychischerinnerungspolitische Dimension der Protestbewegung, auf den Aspekt des Selbstheilungsversuchs an ihr. Diese Dimension ist eng verbunden mit der performativ-symbolpolitischen Selbstinszenierungen der 68er und ihrer Suche nach infantilen Schlüsselszenen, insofern wir darin ein Agieren unbewusster Konflikte sehen können.

4. Schluss: Die Zeitstruktur von Aktion und Protest Weist die Performanz in der Protestbewegung, wie ich zu zeigen versucht habe, eine gewisse Zweideutigkeit auf neben der Tatsache, dass sie auch der Grund ihres Erfolges ist, wenn man denn von einem solchen sprechen kann, möchte ich abschließend auf eine ihrer anderen Schranken hinweisen, auf die Zeitstruktur von Aktion und Protest. Ihre Zeitstruktur waren das Hier und Jetzt. „Wir wollen alles, und zwar sofort“ skandierten die streikenden FiatArbeiter. Atemlosigkeit war das Merkmal des Protests: Sie [die Studentenbewegung, Verf.] hatte die Zeitauffassung und das Lebensgefühl des Kairos, wonach jede einzelne Handlung Teil eines umfassenden Radikalisierungs- und Politisierungsprozesses war, auf dessen Höhe man sich jeweils zu befinden hatte, um 17 nicht hinter den Stand der Bewegung und der Aktion zurückzufallen [...].

Das ist weder die Struktur der Reflexionszeit, noch die der Zeit, in der in ausreichendem Umfang jene praktischen Antizipationen und Selbstveränderungen der Akteure erfolgen können, die gerade eine auf radikale Veränderung der Gesellschaft abzielende Politik herstellen muss. In der Protestbewe16 Lorenzer 1970, 121. 17 Demirovic 1998, 90.

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Zum Politikverständnis der Protestbewegung

gung gelang die Vermittlung von Kairos (dem griechischen Begriff für die Gunst des rechten Augenblicks) und praktischer Antizipation, Antizipation einer neuen Gesellschaft in den eigenen politischen Organisationsformen und individuellen Lebensentwürfen, nicht. Die Vermittlung gelang nicht, obwohl sie der Idee nach in der Protestbewegung präsent war. Wie in der Vergangenheit waren zum wiederholten Male Anstrengungen zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft, teilweise in der Phase der Machteroberung zunächst erfolgreich, gescheitert. Waren sie von außen zerschlagen worden oder waren sie an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zugrunde gegangen? Oder vielleicht beides? Jedenfalls war der Sommer der Anarchie wieder einmal nur kurz gewesen.

Literatur Aly, Götz (2008): Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück. Frankfurt a.M. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg. Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß in Hannover. Protokolle, Flugblätter, Resolutionen. Voltaire Flugschrift 12, Berlin 1967. Benjamin, Walter (1991): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band 1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M., S. 471-508. Brückner, Peter (1983): Provokation als organisierte Selbstfreigabe. In: Brückner, Peter: Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegungen. Berlin, S. 11-78. Demirovic, Alex (1998): Bodenlose Politik – Dialoge über Theorie und Praxis. In: Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 – 1995. Bd. 3. Hamburg, S. 71-98. Fichter, Tilman/Siegward Lönnendonker (1977): Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung. Berlin. Kurlansky, Mark (2007): 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte. München. Larsson, Bernard (1967): Demonstrationen. Ein Berliner Modell, Voltaire Flugschrift 10. Berlin. Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. Sofsky, Wolfgang (2007): Verteidigung des Privaten. Eine Streitschrift. München. Vesper, Bernward (1977): Die Reise. Romanessay. Frankfurt a.M. Vester, Michael (1965): Die Strategie der direkten Aktion. In: Neue kritik, zeitschrift sozialistischer studenten 6:30, S. 12-20.

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Das Théâtre de l’Odéon wird besetzt – die Kaufhäuser brennen! Diskurse der Macht und des Körpers in den Medien und Künsten vor und nach 68 in Frankreich MARTIN ZENCK I. Der Theaterskandal um Jean Genets Les Paravants Im Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers schreibt die kritische Theoretikerin der Gewalt im Juni 1968, dass die Kinder des 21. Jahrhunderts „das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848“.1 Ohne die radikale Zäsur hier bestreiten zu wollen, besagt Arendts Kommentar doch soviel, dass die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration des kalten Krieges und mit den politisch missbrauchten Machtverhältnissen der kriegstreiberischen USA ein solches Konfliktpotential entfesselt hatte, dass die Kritik an diesen aktuellen Zuständen nun nicht länger theoretisch bleiben konnte, sondern sich in der politischen Praxis Bahn brechen musste. Obwohl das Jahr 68 auch in den Medien und Künsten einen Einschnitt markierte, zu denken wäre etwa an Pasolinis Film Teorema2 und an die Sinfonia von Luciano Berio, finden sich durchaus auch vor 68 im Bereich der ästhetischen Praxis Artefakte, welche die neue politische Praxis auf ihre Weise vorwegnahmen. Dazu gehören die Kollektiv-Komposition der Jüdischen Chronik (1963), das Oratorium Die Ermittlung von Peter Weiss mit der elektronischen Musik von Luigi Nono unter dem Titel Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (1963) und die Aufarbeitung des Dritten Reichs mit den jeweiligen Folgelasten für die BRD und DDR aus der Perspektive der Nachkriegszeit in Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands (1972), der im Sinne der romantischen Dichtungstheorie Kunst und Kritik, Literatur, Geschichtsschreibung und Selbstreflexion in einem ist. Zu den weiteren Voraussetzungen für 68 in Paris zählt die Vorgeschichte des Théâtre de France im von Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault seit 1949 bespielten Théâtre Marigny das 1959 ins Théâtre de l’Odéon wechselte. 1968 wurde es von den Studenten besetzt – mit den bekannten Folgen, dass Kulturminister André Malraux die Demissionierung Barraults von der Direktion des Odéon-Theaters erzwingen konnte. Barrault gründete dann ein kleines Straßentheater am Elysée-Montmartre, wo kurz zuvor noch Catch1 2

Brief vom 26. Juni 1968 von Hannah Arendt an Karl Jaspers (Arendt/Jaspers 1985, 715-716). Vgl. dazu Zenck 2008.

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Kämpfe stattgefunden hatten. Doch diese weitere Geschichte der Compagnie Renaud-Barrault braucht uns hier nicht zu interessieren. Gerade die Vorgeschichte des Théâtre de l’Odéon von 1966 bis zu seiner Auflösung 1968 bezeugt den Sachverhalt, dass dieser Zusammenhang von Vorgeschichte und Schließung nicht mehr gegeben war, d.h. dass die Studenten ihn nicht wahrnehmen konnten oder wollten. Die Demonstration und Besetzung des Odéon im Mai 68 bekundet die gereizte Irritation der Studenten gegenüber einem Theater, das sie als Staatstheater der politischen Macht sahen. Das Odéon war aber nur von außen betrachtet, mit Blick auf die internationale Außendarstellung, Verwaltung und Finanzierung, ein staatstragendes Theater, nicht aber aus der Innenperspektive. Im Odéon wurden die radikal modernen ästhetischen Theaterkonzepte fortgesetzt, die bereits in den frühen 60er Jahren entwickelt worden waren. Aus heutiger Sicht mag es ein abgründiges Missverständnis von Seiten der studentischen Besatzer gewesen sein, im Odéon ein mit der Comédie Française vergleichbares, elitäres Staatstheater zu erkennen. Die Devisen der Theatertruppe der Compagnie Renaud-Barrault waren dagegen alles andere als konservativ und staatstragend: Auf der einen Seite wurde das klassische Repertoire unter der Prämisse der Sprechbarkeit gespielt, damit es dem Publikum als zeitgenössisch erschien – der Streit drehte sich dabei auch um die Lesbarkeit griechisch-antiker Texte und deren Aktualisierung durch Paul Claudel, Albert Camus, Jean Giraudoux, Jean-Paul Sartre und Jean Anouilh, ein Streit, an dem sich der renommierte Theaterkritiker Roland Barthes, der selbst antikes Theater gespielt hatte, seit den 50er Jahren vehement beteiligte.3 Auf der anderen Seite wurden durchweg Autoren der unmittelbaren Gegenwart wie Natalie Sarraute, Jean Genet, Samuel Beckett, Marguerite Duras, Arthur Adamov und Eugène Ionesco in mustergültigen Inszenierungen gespielt. Inszeniert wurden diese durchaus auch von anderen Regisseuren als Barrault, welche, wie Roger Blin, von den „kleineren“, aber populären Theatern des TNP (Théâtre National Populaire) in Paris kamen und nun im Odéon ihr Forum fanden. Der einzige moderne Repertoire-Schwerpunkt, den Barrault nicht akzeptierte, war Brechts episches Theater der Distanz, dem gegenüber Barrault eine Theaterpoetik der Verkörperung der Figur und eine schwebende Gestik des Raums, vor allem durch die Pantomime entgegensetzte (z.B. in den Fußgängern der Luft von Ionesco). Diese Position brachte ihn auch frühzeitig in eine Gegnerschaft zu Roland Barthes, der das Berliner Ensemble seit der Pariser Aufführung der Mutter Courage 1954 in der Zeitschrift des Théâtre populaire hymnisch feierte und in dem legendären Artikel „La vaccine de l’avantgarde“ (1954) den theatralen Ansatz von Barrault grundsätzlich in Frage stellte.4 Dagegen, dass die Compagnie Renaud-Barrault ausschließlich konservative und staatserhaltende Interessen verfolgt habe, spricht auch der Rückblick auf die Aktivitäten des Théâtre Marigny, das auf Initative von Barrault 1956 die „Domaine musical“ (Abb. 1)5 gründete und zunächst die Werke der Wiener 3 4 5

Ich erinnere an seinen wichtigen Beitrag „Comment représenter l’antique“ in der Zeitschrift Théâtre populaire von 1955 (Barthes 2002a). Vgl. Barthes 2002b. Vgl. dazu Aguila 1992; die entsprechenden Uraufführungen innerhalb der Konzertreihe der „Domaine Musical“ am Théâtre Marigny sind mittlerweile auch als CD-

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Schule, dann Stravinsky und schließlich das Repertoire der damaligen Avantgarde spielte, darunter auch zahlreiche Uraufführungen von Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Henri Pousseur, Hans-Werner Henze, Mauricio Kagel, Pierre Boulez, Edgar Varèse und Olivier Messiaen. Eine solche Allianz von Theatermoderne und musikalischer Avantgarde in einer Institution des Theaters im Marigny ist von einzigartiger Bedeutung, weil dadurch, wie vor allem bei Pierre Boulez, dem musikalischen Leiter der Compagnie Renaud-Barrault, eine der Avantgarde verpflichtete Bühnenmusik6 zu den neuen wie den klassischen Werken des Theaters komponiert wurde und umgekehrt neue Inszenierungsstrategien des Theaters auf solche des klassischen wie des neuen Musiktheaters übergriffen.

Abb. 1: Plakat mit dem Programm aus der „Domaine Musical“ Vom Repertoire, von den Inszenierungsstrategien und von den – wie im Falle der „Domaine Musicale“ – Neugründungen des Theaters aus betrachtet, fällt es also heute ausgesprochen schwer, die Entscheidung der Studenten für die Besetzung des Odéon von 1968 zu verstehen, die unter dem grundsätzlichen Kritikpunkt stand, dass das Théâtre de l’Odéon ein konservatives Staatstheater sei. (Es war nur formell neben der Comédie Française das zweite im Verbund des Théâtre de France). Dass die ministerielle Bürokratie durch einen entsprechenden Beschluss diese Entscheidung der Aufkündigung von anderer Seite noch besiegelte, um ein unbequemes und die Öffentlichkeit herausforderndes Theater schließen zu lassen, steht dabei auf einem anderen Blatt. Zu einseitig erscheint deswegen der von Manfred Brauneck gegebene Hinweis, dass die Schließung des Odéon und die Kündigung von Barrault als dessen Leiter auf die allzu „konziliante Haltung gegenüber den studentischen Besetzern des Odéon während der Mai-Revolten“7 zurück zu führen sei.

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Edition erschienen (auf dem Label Accord, 2006, mit Werken von Strawinsky, Webern, Schönberg, Berg, Debussy, Boulez, Berio, Stockhausen, Nono u. a. unter der Leitung des Dirigenten Pierre Boulez). Vgl. dazu vor allem die einstündige Bühnenmusik von Pierre Boulez zur Tetralogie der Orestie von Aischylos in der Inszenierung von Jean-Louis Barrault (Zenck 2003). Brauneck 1998, 393; vgl. zu dieser Frage differenzierter: Mignon 1986.

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Zu vermuten ist eher, dass der Vorgang, der von staatlicher Seite zur Schließung führte, auch wiederum seine Vorgeschichte hatte: Genets Theaterstück Les paravants8, das durchaus als eine Kritik an der französischen Politik im Algerienkrieg (1954-1962) und als deutliche Auseinandersetzung des offiziellen Umgangs mit den Algeriern im damaligen Frankreich in der Folgezeit zwischen 1962-1966 angesehen werden kann. Das Stück hatte zunächst erst 1961 in der Regie von Hans Lietzau seine Uraufführung in Deutschland im Berliner Schlosspark-Theater, bis es danach 1966 zur äußerst umstrittenen, französischen Premiere im Odéon in der Inszenierung von Roger Blin kam.9 Hier darf an den Zusammenhang mit dem Manifest der 121, der Erklärung über das Recht zum Ungehorsam im Algerienkrieg erinnert werden, das u. a. von Arthur Adamov, Pierre Boulez, Michel Butor, René Leibowitz, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Marguerite Duras und eben auch von dem Regisseur Roger Blin unterzeichnet wurde, nicht aber von Genet. Zumindest ist der ganze Vorgang der Schließung des Odéon nur vor dem Hintergrund einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu begreifen: Während der Trend gerade auf einem neuen performativen Theater, auch des Living Theatre, lag, einer Theaterpraxis, der sich auch Jean Vilar im Forum d’Avignon verpflichtet fühlte und die sich von einem Theater der Texte grundsätzlich verabschiedet hatte, wurde gleichzeitig übersehen, wie stark dieses neue Körpertheater seine Voraussetzungen eben im Theater der Avantgarde, im Körpertheater des Schreies bei Antonin Artaud10 und in den Actes sans paroles von Samuel Beckett hatte. Von der Geltung der neuen Theaterpraxis aus gesehen, mag das Odéon rückständig gewesen sein, von der Genese aber, die diese Geltung des neuen Theaters auch in anderen Theaterinstitutionen ermöglichte, war die Arbeit der Compagnie Renaud-Barrault im Théâtre Marigny und dann im Théâtre de l’Odéon durchaus fortschrittlich. Denkbar ist aber auch eine andere Erklärung für die Besetzung des Odéon, hält man an der Unterscheidung zwischen Theaterpraxis und der Institution des Theaters als einem architekturalen Repräsentationsraum von Macht fest. Demnach galt der Angriff und die Besetzung des Odéon durch die Studenten der äußeren Selbstdarstellung des französischen Staates im Raum und in der Institution „Theater“ und nicht der Theaterpraxis der Compagnie, obwohl der Satz „Barrault est mort“ gerade auch den Theatermacher und genialen Pan8

Es ist hier an die doppelte Aktualität in der Modernität von Jean Genets Les Paravants zu erinnern: Einmal plante Pierre Boulez mit Jean Genet eine gemeinsame Oper, die aber über szenische Entwürfe von Seite Genets nie hinaus gediehen ist, weil der Autor sozusagen darüber verstarb, zum anderen hält die szenische, auch räumlich gestaffelte Bühnendramaturgie in ihrer Bedeutung bis heute an, wie ich dies ausführlich an der Interpretation von Adriana Hölszkys Die Wände dargestellt habe (Zenck 2007, 2834.) 9 Vgl. ausführlich zur Inszenierung von Roger Blin und seinem Theaterkonzept: Aslan 1972, 13-107; vgl. auch die lesenswerte Inszenierungsgeschichte der Paravants von Michel Corvin 2000, 298-322, insbesondere zu Roger Blin, 300-309. 10 Vgl. das Sonderheft der Zeitschrift der Theaterkompanie, die sogenannten Cahiers Renaud–Barrault über Artaud, das im Mai 1958 erschienen ist: „Antonin Artaud et le Théâtre de Notre Temps“.

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tomimen Barrault treffen sollte. Es ist ein altes Spiel, was hier gespielt wird, eines der Macht mit der Gegenwelt. Dem amtierenden Staatsminister Malraux kam die Besetzung des Odéon gerade im rechten Augenblick, da er sich für weitere Aufführungen der Paravants nach den anhaltenden Auswirkungen des Algerienkrieges auch und gerade nach 1962 kaum erwärmen konnte. Und so ließ er, der zusammen mit Charles de Gaulle das Théâtre de l’Odéon 1959 eröffnet hatte, dieses prominente Theater 1968 schließen – und zwar keineswegs aus dem gleichen Grund, aus dem heraus sich die Studenten für die Besetzung entschlossen hatten. Dennoch führte beides unter entgegengesetzten Vorzeichen zum „Aus“ des Théâtre de l’Odéon. Das über dem Portal des Theaters aufgehängte Spruchband mit der Aufforderung „Etudiants! Ouvriers! L’Odéon est ouvert!!!“ (Abb. 2) hat wohl den Studenten und Arbeitern, zumindest den Bühnenarbeitern gefallen, weniger aber dem Kulturminister Malraux, der für ein exklusives Staatstheater war.

Abb. 2: Odéon mit Spruchband

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II. Die Pariser Mai-Unruhen und die kalifornische Protestbewegung in Luciano Berios Sinfonia von 1968 Einleitend hatte ich mich gegen die Vorstellung einer einseitig eingreifenden zeitlichen Zäsur im Jahr 1968 ausgesprochen. Wie Burkhart Steinwachs in seinem wichtigen Beitrag über die Frage „Was leisten literarische Epochenbegriffe?“11 gezeigt hat, stehen hinter der Markierung von radikal gesuchten Einschnitten der Historie immer auch geschichtsphilosophisch oder theologisch implizierte Vorstellungen einer neuen Zeitrechnung. Deswegen habe ich hier einen Weg eingeschlagen, der sowohl die Vorgeschichte von 68 als auch die Folgen der bis heute anhaltenden Wirkungsgeschichte der 68er berücksichtigt. Obwohl ich mich bisher für eine stärkere Gewichtung der Vorgeschichte von 68 ausgesprochen habe, die eben erst die Geschehnisse auch interpretativ bestimmbar machen, möchte ich doch hier auch auf ein gleichsam für 68 epochemachendes Werk eingehen, das ich im Zusammenhang mit Pasolinis Film Teorema von 1968 bereits genannt hatte: Es ist die Leonard Bernstein, dem genial ekstatischen Mahler-Dirigenten, gewidmete Komposition Sinfonia aus dem Jahre 1968 von Luciano Berio. Dieses Werk wurde im gleichen Jahr in New York in der vorerst noch viersätzigen Fassung unter der Leitung des Komponisten mit dem New York Philharmonic Orchestra und den Swingle Singers uraufgeführt und dann ein Jahr später in der fünfsätzigen Fassung bei den legendären Donaueschinger Tagen für Neue Musik durch das Orchester des Südwestfunks durch Ernest Bour mit dem Chor der Swingle Singers gespielt. Wenngleich keine Kollektiv-Komposition, wie sie von André Souvtchinsky im selben Jahr als Gemeinschaftskomposition mit Stockhausen, Kagel, Berio und Boulez vorgeschlagen, aber nicht realisiert worden war, so greift die Sinfonia dennoch das Konzept einer „Politisierung der Ästhetik“ auf, indem sie nicht nur ganz unmittelbar Signale und Impulse der Pariser Mai-Bewegung und ihre Zusammenhänge mit der kalifornischen Protestbewegung aufnimmt, sondern sich selbst als öffentlich wirksamen Ausdruck der Protestbewegung inszeniert. Gemäß der Unterscheidung von Werk und Dokument, die Walter Benjamin trifft,12 ist diese fünfsätzige Sinfonia also beides in einem: ein Dokument der Historie, dem die einschlägigen Daten und Fakten eingeschrieben sind, und zugleich ein auratisches Kunstwerk, dem sein Ursprungsort dennoch mit jeder sich scheinbar von ihm entfernenden Aufführung eingetragen ist, „eine einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag“, um hier nochmals Benjamins AuraBegriff zu zitieren.13 Die fünf Sätze der Sinfonia lassen sich wie folgt charakterisieren: der erste Satz verhandelt Texte des französischen Strukturalisten Claude LéviStrauss (aus Das Rohe und das Gekochte), der zweite ist im Gedenken an den ermordeten Martin Luther King geschrieben, der dritte Satz stellt eine Hommage sowohl an den Mahler-Dirigenten Leonard Bernstein als auch an das Scherzo der Zweiten Sinfonie von Gustav Mahler dar, in das verschiedene 11 Steinwachs 1985. 12 Vgl. zur Unterscheidung von Werk und Dokument als unterschiedliche „Fakten“ der Geschichtsschreibung bei Walter Benjamin ausführlich: Zenck 2007. 13 Vgl. Benjamin 1991

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Text- und musikalische Zitatschichten hinein montiert sind. Der vierte Satz war zunächst eine Art Coda zur ganzen Sinfonie, während dann der neu für Donaueschingen hinzu komponierte fünfte Satz deutliche Reminiszenzen an den ersten Satz enthält. Ich greife hier den dritten Satz der Mahler-Collage heraus, um an dem entsprechenden kompositorischen Verfahren Luciano Berios Implikationen einer politischen Ästhetik hörbar, fühlbar und sichtbar zu machen. Zuerst und zunächst sind Berios Zitate entlang der Folie von Mahlers Scherzo aus der Zweiten Sinfonie keine durchlaufende Bestätigung der jeweiligen Ausdruckscharaktere. Es sind Zitate des Einspruchs gegen die angebliche Ohnmacht der Aufklärung, die Mahlers Selbst-Zitat im Lied von der Fischpredigt des heiligen Antonius zu Padua formuliert. Während Mahlers Lied die Vergeblichkeit der Aufklärung festhält, weil alles beim Alten bleibt, die Fische je nach ihren Eigenarten so bleiben wie bisher und auf die Predigt nicht hören wollen, rebelliert die Musik Berios und mit ihr eben die Zitatschichten gegen solches unentschiedene Einerlei archaischer Universalien, die Menschen und Tiere gleichermaßen charakterisieren sollen. Um ein solches Interpretament nicht von der Hand weisen zu können, verfährt der Komponist Luciano Berio aber keineswegs unlinear, indem er den Kontrast von durchlaufend oder doch durchschossener Folie und Zitationsschichten beibehalten würde. Während die Zitate im Scherzo-Teil durchaus Invektiven und Eingriffe gegen die animalische Kreislauffigur der Natur markieren, fehlen solche Kontrastierungen im Trio-Teil spätestens dann, wenn parallel zum sentimentalischen Charakter auch der wehmutsvollen Ferne von Glück der berühmt berüchtigte Walzer aus dem Rosenkavalier angestimmt wird. Aber auch im verhalten zurückgenommenen Trio-Teil verfährt der Komponist nicht uniform, weil auch gerade dort wiederum Einspruch erhoben wird gegenüber einer Schönheit, die für immer vergangen sein und nur noch als unstillbare Sehnsucht ihren Ort in der zurückliegenden Geschichte haben soll. Insgesamt handelt es sich in diesem dritten Satz um vier CollageSchichten, bei denen ich einstweilen offen lassen will, ob vom Komponisten nicht eine dezidierte Technik der Montage und des Schnitts gesucht worden ist. Folgende vier Überlagerungen, die sich gegenseitig durchdringen, können in diesem Satz unterschieden werden: erstens die relativ durchlaufende Folie des Scherzos aus Mahlers Zweiter Sinfonie, die der Widmungsträger Leonard Bernstein so unvergleichlich wild und zugleich atmosphärisch aufgeladen dirigiert hat. Zu prüfen wäre, ob Berio hier nicht eher dem musikalischen Gestus des Dirigierens von Bernstein als der Partitur Mahlers gefolgt ist. Zweitens punktuelle Zitate aus der abendländischen Musik von Johann Sebastian Bach über Beethoven und Brahms bis hin zu Debussy, Ravel, Alban Berg, Stravinsky und Luciano Berio selbst. Diese Zitate werden an bestimmten Rändern des Scherzos von Mahler angesiedelt, so als habe er nach Berio bereits selbst sein Scherzo mit der Musik der Tradition angereichert und einem Eklektizismus gehuldigt, einem Verfahren, das das der Post-Moderne bereits vorweg nimmt.14 Drittens und viertens tauchen immer wieder geflüs-

14 In Klammern sei vermerkt, dass die Position des Eklektizismus im Verhältnis zur setzenden Neuheit und zur Irreduzibilität in der Moderne keinen einfachen Gegensatz darstellt, denn gerade das 19. Jahrhundert hat seit der berühmten „Préface de Crom-

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terte, schroff skandierte Sprach- und Wortfetzen aus den massierten Klangballungen auf: Dies sind auf der einen Seite Sprachzitate aus Samuel Becketts Roman L’Innomable (Der Namenlose), auf der anderen Seite sprachliche oder phonetische Zitatpassagen von mehr oder weniger deutlich verstehbaren Wortfolgen von den Pariser Mai-Unruhen bis hin zu Solmisations-Silben vor allem über und parallel mit der in sich kreisenden DrehbeweDrehbewegung des Mahler-Scherzos. Von einer politischen Ästhetik im Sinne der 68er kann hier in mehrfacher Hinsicht gesprochen werden. Erstens folgt bereits Mahlers Scherzo nicht mehr dem romantischen Konzept des organischen Kunstwerks, weil es sowohl von den Ausdruckscharakteren als auch von den drei funktionalen Sprachschichten des Ideolekts (der Hochsprache), des Soziolekts (der je gesellschaftlichen Schicht eigenen Sprechweise) und des Dialekts (der regional gefärbten Intonation) mehrfach gebrochen wird. Solche Züge des antiorganischen und nicht geschlossenen Kunstwerks tragen zu seiner Entauratisierung bei, zu einem Kunstwerk, das nicht mehr einen einmaligen und emphatisch zugewiesenen Ort in der Geschichte hat. Diese Aspekte werden von Luciano Berio in seiner Sinfonia entschieden verschärft. Einzubeziehen ist aber bei dieser Argumentation nicht nur die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, das in Film und Hörspiel durch seine technische Wiederholbarkeit seinen „Kultwert“ verliert und nach Benjamin seinen „Ausstellungswert“ gewinnt,15 sondern der Sachverhalt muss nach Maßgabe einer Reproduktionstheorie der Musik deutlich differenziert werden. Während das Objekt, ein Gemälde, ein medial wiederholbarer Film oder ein Hörspiel unabhängig vom Ort der Reproduktion immer gleich bleibt, wird bei der Wiedergabe einer bestimmten Musik auf einer CD nur die Interpretation der Aufführung reproduziert, nicht aber die Musik, die Partitur selbst, die es nur in unendlich vielen Les-/Spielarten und Varianten geben kann. Dabei wächst eben jeder Aufführung eine ganz unverwechselbare Atmosphäre zu, ein auratischer Charakter, den sie je nach Qualität einer Aufnahme auf CD aber verliert auf Grund der Nicht-Abbildbarkeit des Aufführungsraums. Die bereits bei Mahler problematischen Stellen des Innehaltens, des Abbrechens und der Stauung, solche der Zäsur also, werden vor allem von der Partitur aus betrachtet vom Komponisten Berio als thematische Ränder einer Form-Folie aufgefasst, an denen sich die eingesprengten Zitate entlang ranken. Insofern Mahler bereits mit dem eindeutigen, weil ungebrochenen Gefühl eines Zuhause-Seins in den Sprachen bricht und damit die Einmaligkeit einer Ferne, so nahe sie sein mag, nämlich die Aura in Frage stellt, ist die Profanierung der Aura bei Luciano Berio vollkommen durch die Zertrümmerung des historisch singulären Augenblicks hergestellt. Das Kunstwerk ist hier mehr, bereits von der Kompositionstechnik her, zum Ausstellungswert geworden; es hat vor allem auch durch die sprachlichen Eingriffe seinen auratischen „Kultwert“ verloren. Damit hat das Kunstwerk eben nach Benjamin die Chance, diesen artifiziellen und religiösen Charakter abzuwerfen, um zu well“ von Victor Hugo im Eklektizismus eine souveräne Beherrschung und Verwendung historischer Materialien erkannt. 15 Vgl. Benjamin 1991.

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einem Dokument der Geschichte und nicht zu einem einmaligen „Kultwert“ in der Geschichte zu werden. Dieser Aspekt ist der erste wesentliche für ein neues Konzept politischer Ästhetik, selbst wenn die theoretischen Anleihen deutlich von Benjamin herrühren, dem besten Kenner des Unterschieds des Sakralen und Profanen im Kunstwerk, der allerdings eine für die Musik spezifisch notwendige Theorie der Reproduktion nicht ins Spiel bringt, wie sie von Adorno später formuliert wurde. Ich habe diese Position ganz bewusst aufgenommen, um ein um 1968 aktuelles Interpretament (die Benjamin-Lektüre) bei der Sinfonia von Luciano Berio anzuwenden. Ob dieses Werk von Berio im Zuge der Mahler-Rezeption und meine Interpretation bei Adorno auf Beifall gestoßen wäre, darüber muss hier nicht spekuliert werden. Adorno starb am 6. August 1969 und hat dazu nicht mehr Stellung bezogen. Obwohl er durch seinen Briefwechsel mit Benjamin vor allem in den 1930er Jahren mit dessen Theoriebildung bestens vertraut war, war Adorno, dem Kompositionsschüler von Alban Berg, die Entwertung des auratisch-religiösen Kunstwerks zugunsten seines Ausstellungswertes zutiefst fremd. Aus heutiger Sicht dagegen scheint dies genau das Zentrum von Berios Sinfonia gewesen zu sein, diesen Schritt vom „Kult-“ zum „Ausstellungswert“ vollzogen zu haben, allerdings mit der Gefahr, dass diesem „Ausstellungswert“ vor allem in der konservativen Musikwissenschaft16 ein neuer „Kultwert“ eigentümlich wurde. Diesen Schritt – und dies ist der entscheidend zweite Aspekt – einer politischen Ästhetik zur Entauratisierung hat Luciano Berio noch deutlicher als in den Zitatschichten vor allem im kompositorischen Verfahren selbst und in den agitatorisch verlautbarten Kundgebungen in der Sinfonia vollzogen. (Ich argumentiere also hier bei der Frage der Aura und Entauratisierung mehr im Bereich der Komposition, nicht der Aufführung, obwohl beide Sphären, so wenig wie in der Malerei das Bild von der Ausstellung, streng voneinander geschieden werden können.) Einzelnen Stellen der Kontraktion, der schmerzhaften Zusammenziehung, die dann explodieren, ist dies anzuhören. Es sind 16 Die einschlägigen musikwissenschaftlichen Arbeiten haben mit großer Akribie diehistorischen Zitate nachgewiesen, auch haben sie diese im Spannungsfeld von Collage und Zitat diskutiert, weiter die Bedeutung untersucht, die Berios Sinfonia für die Mahler-Rezeption hatte, weniger haben sie aber die politische Sprengkraft dieses Zitatverfahrens innerhalb der Bewegung der 68er herausgearbeitet. Ein Anfang in motu contrario wurde 1969 von Albrecht Riethmüller und mir in einem Vortrag gemacht, der noch unmittelbar unter dem Eindruck der Donauerschinger Uraufführung der fünfsätzigen Fassung in einem von Hans-Heinrich Eggebrecht durchgeführten Colloquium an der Universität Freiburg gehalten wurde. Davon liegt ein Typoscript vor, das die Sinfonia innerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen der 68er lokalisiert (es kann auf Anfrage jederzeit eingesehen werden). Die breite, sich hieran anschließende Sekundär-Literatur hat dieses Werk Berios dann weitgehend losgelöst von seinem historisch-politischen Ursprung und d. h. unabhängig von den Pariser Mai-Unruhen und der Black Panter-Bewegung in den USA betrachtet. Sie hat dieses Werk und seine Wirkung damit einseitig in die Musikhistoriographie und musikalische Analyse verlagert auf Kosten der historisch-gesellschaftlichen Semantik, die die Zäsur oder die Schwellenzeit der 68er bezeichnet. Vgl. exemplarisch zu einzelnen Arbeiten: Budde 1972, Schäfer 1999.

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konvulsivische Verkrampfungen von aufgepeitschten Klangballungen und deren Entladungen, von Vorgängen also, die von den Protestschreien der Studenten entfacht und aufgewirbelt werden. Wesentlich dabei ist die Überlagerung mehrerer Schichten, die sich nicht nur wechselseitig kommentieren, sondern auch gegeneinander richten. So ergibt sich aus den Zitatschichten aus Beckett’s Roman L’Innomable, den Wortfetzen der Pariser Mai-Bewegung, den Solmisationssilben und den Anweisungen an die Aus-führenden, „Keep going“ und „page for page“, eine eigene Szenerie, die dann grundlegend für den agitatorisch-aufstachelnden Charakter der Aufführung wird. Seinen Ausgang nimmt dieses imaginäre Theater in der Anlage des Romans von Beckett, der zum einen eingerahmt wird von Vorgängen, die immer schon begonnen haben – obwohl ständig bezweifelt wird, dass irgend etwas bereits angefangen hat, zum anderen verweisen bestimmte Sätze im Roman ihrerseits auf ein Konzert mit Favorites, auf eine Szenerie mit Rezitation: But now I shall say my old lesson, if I can remember it. I must not forget this, I have not forgotten it. But I must have said this before, since I say it now. I am listening. Well, I prefer that, I must say, I prefer that, I must say, I prefer that – that what – oh you know, […] oh I suppose the audience, well, well, so this is an audience, it’s a public show, you buy your seat and you wait for it to begin, or perhaps it’s compulsory, a 17 compulsory show […]

Später ist dann auch von den Favorites bei Beckett die Rede, die nicht diejenigen sind, die Luciano Berio vor allem an dieser Stelle parallel zum TrioTeil des Mahler-Scherzos zitiert: nämlich den Walzer aus dem Rosenkavalier von Richard Strauss und La Valse von Maurice Ravel. Bestimmend für diese im Konzert mehr oder weniger semantisch verständlichen Wortfetzen in englischer Sprache ist ihr Anweisungscharakter für die Szene der Musik, genauer der Aufführung und für die Situation der protestierenden Studenten in Paris. Damit wird gegen jegliche Form der romantischen Verinnerlichung und Kontemplation die Aktion gesetzt, die die Musik und mit ihr die ganze Szenerie durchzieht. Dieser Satz ist weder reine Musik, dies auch nicht wegen des Zitationsverfahrens, das ständig Versatzstücke aus der Tradition aufruft, noch konkrete Szene eines Musiktheaters, aber ein „Lingual“, das in Form eines quasi-szenischen Oratoriums erstmals von Bernd Alois Zimmermann in seinem Requiem für einen jungen Dichter (1969) vorgelegt wurde. Der dritte Aspekt einer politischen Musik berührt die um 1970 schwelende Kontroverse zwischen einer fortzuführenden Avantgarde und einer reromantisierenden neuen Einfachheit in der Postmoderne. Gegen diesen geradlinigen Rückgriff auf Traditionsbindungen vor allem der romantischen und spätromantischen Musik setzt Luciano Berio in seiner Sinfonia ein Verfahren der Übermalung und eines, das der Literaturwissenschaftler Gérard Genette im Zusammenhang mit seiner Konzeption einer „Literatur auf zweiter Stufe“ ein Palimpsest nannte.18 Gerade im dritten Satz von Berio ha17 Zitatfolge aus Becketts L’innomable, eingeschrieben in der Partitur von Luciano Berio, Sinfonia, 3. Satz, Partitur (Universal Edition, Wien London 1969), T. 232-261. 18 Vgl. Genette 1982.

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ben wir vielfache Übermalungen, Verwischungen von Zitaten in der Vertikalen und Horizontalen, so dass die von der Post-Moderne idealisierte Vergangenheit hier durchbrochen, die geradlinige Folie des Mahler-Scherzos immer wieder durchschossen wird. Im Sinne eines vielfach übereinander geschichteten Konvoluts von Pergamentfolien werden diese immer wieder überschrieben, wobei zunächst die oberste Schicht auch in der Komposition die deutlichste ist, während aber dann nach und nach auch die Schriftzüge der unteren Seiten nach oben hin durchdrücken, so dass das Früheste und weit in der Vergangenheit Zurückliegende das unmittelbar Gegenwärtige wird. In diesem Sinne einer offenen und durchbrochenen Verschränkung von Geschichte und Gegenwart, dem fragmentierten Zitationsverfahren, kann durchaus eine Realisierung einer „Condition postmoderne“ im Verständnis von Jean-François Lyotard aufgerufen werden,19 nicht aber eine einseitig traditionslastige Beerbung einer Neo-Romantik, die allzu leichtfertig in die Nähe der Postmoderne gerückt wird. Unter diesen drei genannten Aspekten einer politischen Ästhetik, des Palimpsests, der Entauratisierung und der imaginär szenischen Musik, ist die Sinfonia von Luciano Berio ein für das Jahr 1968 signifikantes Modell.

III. Die Kollision von politischer und sexueller Revolte: Rituale der Macht und der Ohnmacht in Louis Malles Milou en Mai (1989) Im Gegensatz zu einigen Filmen, die unmittelbar um 1968 entstanden und sich wie Godards Weekend direkt mit den 68ern, mit aus den Fugen geratenden Verhältnissen auseinandersetzten, die gewaltsame Exzesse hervorriefen,20 im Gegensatz zu diesem Genre gibt es einen Film, der sich in verschiedenen Bereichen mit dem Festhalten an alten Ordnungen und dem Verlassen eben dieser Ordnungen befasst. Dabei spielen die politischen Ordnungen und Systeme entweder eine dominierende und in die jeweilige filmische Sequenz einbrechende Rolle, oder diese neuen hereinbrechenden politischen Ordnungen werden nur als Hintergrund vor der eigentlichen Revolte, der sexuellen, thematisiert. In dem von mir ausgewählten Film, der hier neben Jean Genet und Luciano Berio als weiteres Modell für das Interpretament der 68er stehen soll, wächst die sexuelle Emanzipation in dem Maße an, wie sich im Hintergrund gleichsam auf einer Parallelebene die politischen Konflikte verschärfen. Dabei können die sexuellen Exzesse, die innerhalb des Ausnahmezustands des illud tempus eines Rituals tolerabel sind, entweder als Parallelisierung von ansteigender politischer und sexueller Gewalt angesehen werden oder als entlastende Befreiung. Dem Film von Louis Malle ist eine doppelte thematische und daher vergleichbare Struktur eigen. Er wählt ganz lebensweltlich mit der Pariser Mai-Unruhe, von Studenten und Arbeitern ausgelöst und diese beiden Schichten insgesamt erfassend, einen kurzen Ausschnitt aus dem Jahre 1968 aus. Er akzentuiert die sexuelle Revolution so, 19 Vgl. Lyotard 2005. 20 Zu nennen wäre hier unter anderem, wenn auch unter zeitlich verzögerter Perspektive, Bernardo Bertoluccis Film I Sognatori/The Dreamers von 2003.

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dass sie als Ursprung der politischen Revolte zu verstehen ist und nicht umgekehrt, dass die Politisierung des Bewusstseins auch das Sein des Begehrens bestimmt hätte. Ich wende mich zunächst dem dreifachen Ritual im Film von Malle zu, um dann abschließend entsprechende Konsequenzen für die Bewertung der 68er zu ziehen. In Louis Malles Film Milou en Mai treten verschiedene Ereignisse und die politischen Verhältnisse symbolisierende Handlungsweisen miteinander in Verbindung: erstens das Zeremoniell einer Aufbahrung einer Toten und die Verabschiedung von ihr auch im Zusammenhang eines Leichen-schmauses (eines Tisch- und Essensrituals also) und zweitens die intiationshafte und sexuell motivierte Befreiung von der Toten oder die verstärkte, auch ödipal motivierte Bindung an sie (in der Abwehr des Vaters und der Übertragung auf die geliebte Mutter). Drittens wird gezeigt, dass die von Paris von den Studenten und Arbeitern ausgehenden Unruhen der Revolte auch das Land überziehen, so dass die Landbesitzer zum einen aus ihrem feudalen Herrschaftshaus gedrängt werden, zum anderen zunächst die offizielle Beerdigung der Toten scheitert, weil auch die Totengräber in den Streik gezogen sind. Ohne hier den Plot und seine weitreichenden Interpretationsmöglichkeiten zu thematisieren, die unter dem bestimmenden Aspekt eines Essenszeremoniells von Gerhard Neumann erschöpfend behandelt wurden, 21 kann das Ineinander verschiedener Handlungsstränge unter der für die Zeit der 68er charakteristischen Ritualdynamik22 gesehen werden. Zu dieser Dynamik gehört der Sachverhalt, dass von außen und nicht von den Beteiligten aus betrachtet, die Diskurse der Macht und des Körpers in ein fragiles Verhältnis geraten, auch in eines der wechselseitigen Stabilisierung oder Destabilisierung. Vor einer Zusammenfassung unter dem hier tragenden Thema der Ritualdynamik können sechs Aspekte des Rituals23 heraus-gearbeitet werden und dies durchaus im Bewusstsein des Widerspruchs, dass die Rationalitätsdiskurse der 68er eigentlich im vollständigen Gegensatz zur paralangage (Meta- und Parasprache) der „Handlungen ohne Worte“24 im Ritual stehen. Vielleicht ist es gerade der Vorzug des hier herangezogenen Films, dass er neben den politisch-aufklärerischen Debatten aus der Ferne des Geschehens vor allem der emotionellen Kraft des Augenblicks, der politischen Tat wie der spontanen sexuellen Aktion vertraut und nicht den Tiraden der Vernunft. 1. Der Film beginnt mit dem plötzlichen Tod einer älteren Dame (der Mutter und Großmutter eines Familienclans), die dann aufgebahrt, von den nächsten und nahen Verwandten durchaus im Sinne eines religiösen Totenzeremoniells, umschritten und mit gemischten Gefühlen verabschiedet wird. Die einen sind froh, dass sie nun diese hassenswerte Person los sind, die anderen, vor allem der nicht mehr ganz so junge Sohn (Michel Piccoli), können 21 Neumann 2008. 22 Vgl. dazu ausführlich den SFB 619 der DFG unter dem Titel „Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive“ an der Universität Heidelberg (www.ritualdynamik.de). 23 Einige der hier entwickelten Überlegungen habe ich in einer freien und mündlichen Einführung der von mir geleiteten Sektion „Life-Cycle-Rituals. Körperinszenierungen in Ritualen/Todesritualen“ vorgetragen (vgl. Zenck 2003, 49-51.) 24 Vgl. zur Definition der Rituale als „Handlungen ohne Worte“ die ausführliche Diskussion bei Wulf 1997, 1029.

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sich nicht von ihr lösen, weil die Nabelschnur nie durchtrennt wurde; weitere interessieren sich eher nur für die Aufteilung des Erbes. Immer wieder kommt es zu einem veritablen Marsch um die Tote, der statt eines Leichenbegängnisses vollzogen wird. 2. Das Zeremoniell der Aufbahrung und Verabschiedung vertieft auf der einen Seite bisher feststehende und auch neu sich herstellende Bindungen (etwa durch die Enkelkinder), auf der anderen Seite überwiegt das Gefühl der Befreiung, die sich in Verbindung mit dem Leichenschmaus auch zu sexuellen Exzessen im Sinne einer begehrlichen Einheit von Gustus und Sexus zu entladen droht. Diese Transgressionen können auf ein bestimmtes Stadium im Ritual zurückgeführt werden: Weil nun die Tote keine Herrschaft mehr über die Lebenden hat, dürfen sich diese nun endlich auch wirklich befreit lebendig fühlen und sich nach der Einsperrung in die alte Ordnung einer Initiation in eine neue Ordnung widmen, die ihnen bisher versagt war. (Besonders deutlich sichtbar wird dies am Lesbenpaar, das die alte Beziehung über Bord wirft und sich heterosexuellen Aktionen zuwendet.) 3. Die im Ritual ausdrücklich erlaubten Lizenzen (im Film dargestellt als Geschlechtertausch und als Vorführung einer freien Liebe vor der Gesellschaft, um auf diese Weise die Befreiung zu dokumentieren und sie damit auch auf andere wunschhaft zu übertragen) werden durch das plötzliche Hereinbrechen eines von der Revolution heimgesuchten Gutsbesitzer-Paares gestoppt und wieder in den Kanon der alten Ordnungen zurückgepfiffen. Das Anti-Ritual des Exzesses (gemessen an der Ordnung des Rituals in der bürgerlichen Gesellschaft) wird ritualisiert, indem es auf die normative Moral wieder eingeschworen wird. 4. Eingerahmt ist dieses Totenritual vom Ritual der Revolte, die von außen für die Aufhebung bourgeoiser Ordnungsvorstellungen sorgen soll. Darin fallen der sexuelle Exzess, der im vollkommenen Vollzug unterbunden wurde, und der gesellschaftliche Ausnahmezustand zusammen, der von Charles De Gaulle verhängt wurde, weil er dem Chaos zunächst nicht mehr Herr zu werden wusste. Erst die zweite Rede General de Gaulles stellt den Hausfrieden in dem Sinne wieder her, dass die alten Ordnungen (der Status Quo) wieder in ihr Recht gesetzt werden, was nur bei Annahme eines doppelten, von verschiedenen Interessengruppen (bürgerlicher und revolutionärer Öffentlichkeit) vertretenen Rituals aus möglich ist, weil die einfache Ordnung im Ritual unumkehrbar ist (es gibt dort nur erfüllte neue Ordnungen oder gescheiterte, aber eben kein zurück zu alten Ordnungen). 5. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist das Verhalten der Toten und der Überlebenden zum Tod entscheidend. Ein solches Verhalten kann nur dann ins Blickfeld rücken, wenn man mit Burkhard Schnepel den „body natural“ vom „body mystical“ unterscheidet.25 So existiert der tote Körper auch noch als spiritueller oder als phantasmatischer: Die tote, vorher noch aufgebahrte Mutter und Großmutter begibt sich des Nachts zu ihrem eigenen Grab (weil die Totengräber streiken und sie als Nicht-Begrabene eine Untote bleibt) und trifft dabei nicht zufällig auf den langjährigen Bediensteten, der ihr Grab aushebt. Erst nach dem Ende des Streiks wird dann der katholische Ritus der Beerdigung offiziell vollzogen.

25 Vgl. Schnepel 1995.

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6. Schließlich bleibt die Tote noch am stärksten lebendig in den Vorstellungen derjenigen, die sich nie von ihr haben lösen können: vor allem im schon alt gewordenen Sohn, der auf Grund seiner besonderen Regressivität eine ausgezeichnete, wenn auch ambivalente Nähe zu den Kindern findet. Als das leer geräumte und von allen verlassene Haus von diesem Sohn durchwandert wird, trifft er auf seine das Piano-Forte traktierende Mutter, die bei seinem Anblick bald vom klassischen ins jazzige Idiom fällt. Am Schluss tanzt er mit ihr den Totentanz aller Totentänze der bürgerlichen Gesellschaft: den Walzer.26 Zusammenfassend lässt sich Folgendes ausführen. Im Film von Louis Malle werden bestimmte für das Ritual/Totenritual charakteristische Aspekte tragend: das Ritual im Ritual oder Ritual und Gegenritual, wie es von Gerhard Neuman mit Victor Turner aufgerufen wird; weiter gibt es Tabu-Verletzungen, die innerhalb des Exzesses im Ritual legitimiert werden, welche dann allerdings unter wieder geordneten Verhältnissen gleichsam nach dem Ende des Spiels im Ritual wieder von einer normativen Moralität gezähmt werden. Dieses rituell-sittliche (das eine Ritual) oder unsittliche Verhalten (das Gegenritual) wird wiederum durch eine weitere Rahmung entgrenzt und überschritten, und zwar durch die 68er Revolte in Frankreich. Das Ritual ist hier jeweils gemeinschaftsbildend und kulturell identitäts-stiftend; es grenzt aber auch dadurch andere aus, die ihr eigenes Ritual spielen wollen (die Jüngeren den Älteren gegenüber und umgekehrt, obwohl sonst die politischen und weltanschaulichen Konflikte quer durch die Generationen und die sozialen Schichten laufen). Durch das Ritual werden jeweils alte Ordnungen verabschiedet und entweder wieder in ihr Recht gesetzt oder durch neue Rituale ersetzt. Die Grenzen, die dabei gezogen werden, bestätigen die bisher markierten Linien oder öffnen sie, wodurch die Lebensverhältnisse in eine neue Rahmung übergehen. Das Ritual hat dabei die Funktion, alte Ordnungen wieder herzustellen oder neue einzusetzen. Dies ist aber nur möglich, wenn entweder ein doppelter Ritualbegriff geltend gemacht oder mit Viktor Turner27 auch von einer Anti-Struktur des Rituals ausgegangen wird, die eine spezifische Kommunität zu bilden imstande ist. Diese Möglichkeit verflacht aber die strikte Ordnung des Rituals, das zwar ausgehandelt werden, aber eben nur in einer Richtung verlaufen kann – ohne die Chance einer Rück26 Vgl. in der raschen und unendlichen Drehbewegung der dem Tod verwandte schnellen Walzer die Walzerfolge in Richard Strauss’ Opera buffa Der Rosenkavalier und in der ebenfalls tödlichen Übersteigerung die Travestie des Wiener Walzers in Maurice Ravels La Valse, der wirklich musikalisch in sich zusammen bricht. 27 Der einfach scheinende Buchtitel „Ritual. Struktur und Anti-Struktur“ von Viktor Turner ist in seiner inhaltlichen Ausformulierung zunächst widersprüchlich, weil er im genannten Buch eine hierarchisch gestaffelte Ordnung auf eine bestimmte repressive Struktur der „Gesellschaft“ bezieht, während er für die „Communitas“[Gemeinschaft] eine Anti-Struktur geltend macht, in der gerade soziale Oppositionen zugelassen und ausgehandelt werden. Aber im Prozeß der Vergemeinschaftung arbeitet Turner dann dennoch auch eine „Struktur“ heraus, die er im Ritual als einem „sozialen Drama“ auf ein Vier-Stadien-Gesetz oder auf van Genepps Drei-Stadien-Gesetz von Segregation – Liminalität – Intergration (Angliederung an neue Ordnungsverhältnisse) zurückführt. Vgl. Turner 1969.

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kehr. Wenn also die Irreversibilität des Rituals, seine Abfolge bestimmter Stadien im Sinne von Arnold van Gennep als entscheidend angenommen wird, dann hat dies für die Interpretation der 68er eine folgenreiche Bedeutung. Demnach wäre nicht nur die Revolte der 68er gescheitert, weil General de Gaulle der anwachsenden Anarchie ein Ende bereitet hat, sondern ebenso die Wiedereinsetzung der alten Herrschafts- und Machtverhältnisse. Diese Überlegung könnte insofern konsequent sein, als sie den bis heute geltenden Widerstreit von politischer und sexueller Ökonomie zumindest in Frankreich erklären könnte. An entscheidender Stelle seines Aufsatzes hat denn auch Gerhard Neumann die Möglichkeit dieser Reflexion eingeräumt, wenn er die Situation nach 68 im Hinblick auf das Ende der feudalen Epoche und das Scheitern des Aufstands der Studenten und Arbeiter „als einen doppelten Verlust von feudaler Ordnung auf der einen und revolutionärer, ästhetischer Anarchie auf der anderen Seite“28 bezeichnet. Unter einem anderen Aspekt ließe sich die latent rituelle Struktur des Films von Louis Malle sogar als „deep play“ der 68er Gesellschaft ausweisen. Und dies nicht nur nachträglich unter dem Prinzip einer allgemeinen Aufmerksamkeit für die Historiographie dieser liminalen Phase vor und nach 68, sondern genauer unter dem Prinzip einer besonders ausgezeichneten Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Vielschichtigkeit kultureller Dynamik und die zähe Beharrlichkeit von Machtstrukturen. Die würde es ermöglichen, allzu simplifizierende Lektüren der Geschichte, wie sie nun einmal auch in tendenziell selbstmystifizierenden historischen Darstellungen von 68ern über 68er vorliegen, im Sinne von Foucaults „Verknappungsdiskursen“ zu dekonstruieren.

Resumée: Historisch-gesellschaftliche Semantik von 68 Im vorliegenden Beitrag wurde das Stichjahr 68 von verschiedenen Seiten thematisiert: vom historischen Einschnitt, den dieses Ereignis innerhalb einer sonst relativ homogenen Zeit-Struktur der Geschichte bedeutet und der mit Arendt in einen Vergleich mit 1848 gerückt wurde; von einer radikalen Zäsur, die mit geschichtsphilosophischen und theologischen Implikationen den Beginn einer neuen Zeitrechnung markiert, um mit den früheren katastrophischen Einschnitten von 1933 und 1945 zu konkurrieren und sie gegebenenfalls vergessen zu machen (wenn nicht gar zu löschen, was im Sinne einer neuen Chronologie läge); von einer liminalen Phase (im Sinne Hans Blumenbergs und Viktor Turners), die isoliert gar nicht hinreichend interpretiert werden kann, weil die im ersten Teil aufgezeigte Vorgeschichte von 1968 gerade im Streitfall der Uraufführungsgeschichte von Genets Les Paravants deutlich die politischen Vorbedingungen dokumentiert, die zur Schließung des Théâtre de l’Odéon geführt haben. Es war ein äußerst hintersinniger, wenn nicht kulturfeindlicher Akt der Schließung des Odéon durch den damaligen Kulturminister Malraux, der die Allianzen zwischen dem Theaterdirektor Barrault und den Studenten vorschob, um damit ein politisch brisantes Theaterstück aus der öffentlich immer kontroverser werdenden Diskussion um die Algerischen Emigranten in Frankreich zu ziehen. Und so wenig die Vorgeschichte von 68 mit ihren eindeutigen Hinweisen überzuakzentuieren 28 Neumann 2008, 179.

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ist, die dann zu einer Dramatisierung der Ereignisse um 68 führten, so wenig sind dann die Folgen von 68 außerhalb einer historisch-gesellschaftlichen Semantik (Koselleck) von 68 zu diskutieren. Die politischen Verzweigungen in revolutionäre Splittergruppen und die militanten Radikalisierungen etwa der RAF sind integraler Bestandteil der 68er-Revolte, ohne dass die Folgeerscheinungen direkt auf 68 zurückdatiert werden könnten. Denn weder kann (nach Max Weber29) von der Bedeutung, die ein historisch-kulturelles Phänomen in seiner Entstehung hat, auf dessen Geltung noch kann umgekehrt von dessen Geltung auf die Genesis geschlossen werden.

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29 Weber 1922, 261.

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Pariser Mai 68 Symbolisches Handeln gegen eine durch und durch verwaltete Welt JOSEPH JURT 1. Ausgangspunkt Ich bin ein 68er! 2008, in dem Jahr, in dem ich diesen Aufsatz schreibe, bin ich nämlich 68 Jahre alt geworden. 1968 war ich 28. Trotzdem kann ich mich wohl nicht im vollen Sinne des Wortes als „68er“ bezeichnen. Ich war kein Akteur; ich war nicht mehr Student, sondern stand schon im Berufsleben als Lehrer in einem Lehrerseminar in der Zentralschweiz. Ich verfolgte aber die Revolte der Studenten mit größtem Interesse. Während des ganzen Sommers 68 wohnten meine Frau und ich in der Cité Universitaire in Paris, weil ich damals in der französischen Nationalbibliothek an einem kleineren Forschungsprojekt arbeitete. Hier bekam ich etwas vom „68er Geist“ mit. Es war wohl relativ ruhig. Die Sorbonne wurde von Polizisten bewacht. Die gepflasterten Straßen im Quartier Latin waren mit Asphalt überdeckt worden. Aber etwas hatte sich verändert. Es herrschte ein Klima großer kommunikativer Offenheit. Jeder sprach mit jedem. Der Geist von 68 hat mich zweifellos beeinflusst. Ich hatte eine feste Anstellung als Lehrer. Ich hätte ein Leben lang auf dieser Stelle bleiben können. Hier in Paris empfand ich nun plötzlich Angst vor der Verbürgerlichung, Angst davor, dass sich nun das Leben immer auf denselben Gleisen bewegen, dass die Berufstätigkeit zur Routine werden könnte. Darum begann ich, mich umzusehen, bewarb mich für ein zeitlich beschränktes Forschungs-Projekt, gab eine Lebenszeitstelle für eine Assistenten-Stelle in Deutschland auf, die (mit einem Zweijahres-Vertrag) prekär war und nicht die Sicherheiten bot, die ich vorher in der Schweiz genoss. Bereut habe ich es nicht. Ausgelöst wurde das alles auch durch die Ereignisse von 68. Es gibt wohl für jede Generation ein bestimmendes historisches Ereignis. Für unsere Generation war es der Mai 68. Aber auch für Kollegen, die etwas älter sind als ich, die damals schon Hochschullehrer waren, war 68 ein einschneidendes Ereignis. 2007 erschien unter dem Titel Romanistik als Passion ein umfangreicher Sammelband mit Zeugnissen von emeritierten Romanisten. Fast alle sprechen von 68 als einer traumatischen Erfahrung.1 In Freiburg publizierte die Universität im Rahmen ihres 550-Jahr-Jubiläums den Band Erzählte Erfahrung, nachdenkliche Rückblicke Freiburger Professoren aus den Jahren 1988 bis 2007. In der Einleitung schreibt der Rektor: 1

Erler 2007.

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Jurt Bei beinahe allen hier versammelten Gelehrten [wirken] die Unruhen der 68er Jahre nach. Die Stellungnahmen sind sowohl im Blick auf die Ereignisse selbst wie auf die hochschulpolitischen Folgen für die Universitäten einhellig vernichtend, mit [einer] Ausnahme, [die] [...] im Unterschied zu den meisten anderen Beiträgern, die Perspek2 tive des damaligen Mittelbaus und der Studenten auszieht.

Ich darf nun sagen, dass ich diese Einschätzung – auf der Basis meiner Erfahrungen in der Schweiz und in Frankreich – nicht teilen kann. Ich empfand und empfinde 68 als eine Befreiung. Man muss nur daran denken, wie eng und muffig die Verhältnisse vor 68 waren. Ich muss allerdings sagen, dass ich die damalige Situation an den deutschen Hochschulen nicht kannte. Ich kam erst 1974 nach Deutschland. Heute und eigentlich schon seit einiger Zeit gibt es indes auch eine starke Polemik gegen die sogenannten 68er.3 In Deutschland stellt man eine nicht übersehbare Abrechnung mit der damaligen Revolte fest. Der Historiker Götz Aly, der damals selbst mitmachte, vergleicht die Bewegung von 68 in einem Buch mit dem unzweideutigen Titel Unser Kampf mit der Bewegung der jungen Nationalsozialisten im Jahre 1933 – vor allem wegen des untoleranten Stils und der Stoßrichtung des Widerstands gegen das „System“.4 Eine unsägliche Verkürzung! In Frankreich berief sich Nicolas Sarkozy im Wahlkampf auch auf linke Denker wie Jean Jaurès und Léon Blum. Wovon er sich aber ganz entschieden distanzierte, das war vom Mai 68. Dieses Erbe, das in seinen Augen für den Zerfall vieler Werte verantwortlich sei, wolle er „liquidieren“. Mit dieser Parole traf er die Befindlichkeiten von Senioren, die ihre Angst von damals nicht vergessen hatten, nicht aber die der Mehrheit der Franzosen. Gemäß einer Umfrage im Magazin Le Nouvel Observateur solidarisieren sich heute 77 Prozent der Befragten in Frankreich mit den Studenten und den Streikenden von damals. Für 84 Prozent hat der Mai 68 wichtige Folgen für die Gesellschaft gezeitigt. In der Bedeutungsskala rangiert der Mai 68 gemäß dieser Umfrage noch vor dem Ende des Kalten Krieges, vor dem Algerienkrieg und vor dem Wahlsieg der Linken von 1981.5 Serge July, selber ein Akteur der 68er Bewegung, räumt ein, dass es objektiv gesehen während der letzten 50 Jahre wichtigere Ereignisse gab, aber für die französische Gesellschaft habe damals zum letzten Mal eine Bewegung, die Art und Weise zusammenzuleben und die Zukunft zu denken, neu erfunden. Es habe für die Generation, die 68 erlebt habe, in der Folge kein wichtigeres Ereignis gegeben.6 Historiker vergleichen den Mai 68 in Frankreich heute mit der Französischen Revolution. Auch an diesem Ereignis entzündet sich eine heftige Debatte für und wider, die belegt, dass 1968 noch nicht historisch geworden ist. Die starken Reaktionen zeigen, dass der Mai 68 zu einem Kristallisationspunkt von sozialen Phantasmen geworden ist, denen man aber heute durch eine historische Analyse begegnen muss.

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Schramm 2008, 8. Siehe Audier 2008. Vgl. Aly, 2008a; Aly 2008b; Grottian/Narr/Roth 2008. Etchegoin/Courage 2008. July 2007, 7.

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2. Deutungen von damals (1969) Die Auseinandersetzung mit dem Mai 68 begann schon unmittelbar danach. 1969 zählte man bereits 80 Bücher über die Mai-Ereignisse. In der Schule, in der ich damals unterrichtete, bat man mich um einen Vortrag über die MaiEreignisse, der dann im Juni 1969 in zwei Wochenendausgaben der Zeitung meiner Heimatstadt veröffentlicht wurde – etwas, was heute absolut undenkbar wäre. Ich habe den Artikel im Archiv der Zeitung wiedergefunden und blicke nun mit einem gewissen archäologischen Interesse auf das zurück, was ich damals geschrieben habe.7 In der Einleitung schrieb ein Redakteur der Zeitung: Die Analyse der Ereignisse selber, die im Mai 1968 Frankreich erschüttert haben, ist in vollem Gange. Dass dabei auch die Stimme der Jungen selber gehört werden muss, selbst wenn sie nicht in allem unsere Zustimmung finden sollte, scheint uns selbstverständlich zu sein. Der Verfasser des nachfolgenden Berichts hat einen Teil seiner Studien an der Sorbonne absolviert; er lebte zeitweilig in der Pariser Cité Universitaire. Wir betrachten seine Darlegungen als Diskussionsbeitrag.

Im Beitrag untersuchte ich zunächst Ursachen der Studentenunruhen, um dann die Ereignisse selbst zu analysieren. Zunächst zu den Ursachen: Zuerst wurde der internationale Charakter der Studentenbewegung unterstrichen. Die Studentenbewegung sei ein globales Phänomen. Es sei abwegig, in den Studentenunruhen nur eine bürgerliche Revolte, eine Dekadenzerscheinung des Spätkapitalismus zu sehen. Wie könnte man sich dann den Aufstand der tschechoslowakischen, polnischen und jugoslawischen Studenten erklären, die doch unter einem sozialistischen Regime geboren wurden. Studenten in Ost und West wollten dasselbe: Freiheit der Kritik und Selbstbestimmung, eine freiere und bessere Welt. Die Studentenbewegung sei international, sie richte sich nicht gegen ein Regime, eine politische Richtung, sondern gegen einen Lebensstil, der durch die Welt der Technik und die Produktionsforderungen der fortschrittlichen Industriegesellschaft geprägt werde. Die Struktur der westlichen und der östlichen Länder ähnle sich vielmehr als die Ideologen wahrhaben wollen. Herbert Marcuse habe seit langem auf diese Verwandtschaft hingewiesen. In seinen Augen sei auch die westliche Gesellschaft wegen der ökonomisch-technischen Gleichschaltung durch die Manipulation der Bedürfnisse totalitär. Die Studenten lehnten diese ganze Gesellschaft ab. Einzelne Ereignisse seien bloß Auslöser der Revolte: so der Vietnamkrieg und die Rassenfrage in den USA, die Notstandsgesetze und die Manipulation der Massen durch den Springerkonzern in Deutschland, ein völliges Fehlen der Meinungsfreiheit in Polen, die schlechten Wohnverhältnisse in den Studentenwohnheimen in Prag, die Besetzung der Pariser Sorbonne durch die Polizei am 3. Mai 1968 in Frankreich. Bei der Analyse der Ursachen in Frankreich wurde zuerst auf den Ausgangspunkt Nanterre mit der Bewegung des 22. März von Daniel CohnBendit hingewiesen. Die Besetzung der Universität sei schon ein Jahr zuvor im prophetischen Film La Chinoise von Godard vorausgesehen worden.8 In 7 8

Jurt 1969. Vgl. aus heutiger Sicht: Baecque 2008a.

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der von Bidonvilles umgebenen Universität werde die Entfremdung von Universität und Gesellschaft besonders offensichtlich.9 Als zweiter Grund wurde die Diskrepanz zwischen den wachsenden Studentenzahlen und den unsicheren Berufschancen erwähnt. Viele Studenten wüssten nicht, ob sie mit ihrer eingeschlagenen Studienrichtung einen Broterwerb finden würden. Diese soziale Unsicherheit erschaffe ein revolutionäres Bewusstsein, das sich gegen die bestehende Gesellschaft richte. Schließlich wurde die zentralistische Universitätsstruktur angeführt. Sie werde von einer autoritären Administration beherrscht. Der Aufstand der Studenten sei so ein teils emotionaler, teils rationaler Protest gegen die immer unentrinnbareren Zwänge einer durch und durch verwalteten Welt. Der Zerfall der Studentengruppierungen wurde als ein letzter Grund aufgeführt. Das Studenten-Syndikat UNEF wurde von der Regierung nicht mehr als repräsentativ anerkannt. Die KP hatte ihren Studentenverband (U.E.C) an die Kandare genommen. Der Zerfall der Studentenorganisationen und die daraus resultierende Heimatlosigkeit der Studenten sei einer der Hauptgründe des Ausbruchs der Maiunruhen. Was die Analyse der Ereignisse betrifft, wurde schon damals deren historische Bedeutung unterstrichen. Dazu bloß einige Zitate: „Eine ungestüme und selbstlose Jugend begeistert sich für die öffentliche Sache wie nie seit einem Jahrhundert.“ (Pierre Abraham, Europe). „Die ganze Gesellschaft von oben bis unten wurde erschüttert wie nie seit der Befreiung im Jahre 1944“ (J.-M. Vincent, Les Temps Modernes). „Wir haben soeben die erste Phase der ersten post-marxistischen Revolution in Westeuropa erlebt.“ (Esprit). Hinsichtlich der Charakteristika der Mai-Ereignisse unterschied ich vier Aspekte: 1. Der Aufstand war in erster Linie eine spontane Aktion. Er entsprang nicht einem vorbereiteten Plan, setzte nicht eine Ideologie in die Tat um. Die Ereignisse waren selbst für die Studenten unerwartet. In der Aktion einten sich Studenten, die sich in keiner Diskussion einig waren. 2. Der transitorische Charakter, den der Studentenstatus mit sich bringt, erklärt dann den weitgehend symbolischen Charakter ihrer Aktionen. Die Besetzung der Sorbonne am 13. Mai wurde zu einem großen Fest des Wortes, wo in endlosen Diskussionen direkte Demokratie gespielt wurde. Am 13. Mai führten die Studenten die Arbeiter in einer gewaltigen Demo von DenfertRochereau ins Quartier Latin und öffneten ihnen so einen Bereich, der vorher ein gutbürgerliches Ghetto war. Am 17. Mai marschierten die Studenten zu den Renault-Werken und stellten so den Brückenschlag zur Arbeiter-Klasse her. Am 15. Mai wurde das Odéon als „Bastion des bürgerlichen und gaullistischen Kulturlebens“ gestürmt. Am 24. Mai entfachten Studenten in der Börse als dem „Tempel des Kapitalismus“ ein Feuer. In den Straßenschlachten errichteten die Studenten Barrikaden aus Pflastersteinen – ein Symbol der Kämpfe des 19. Jahrhunderts. Alle diese Aktionen waren ohne bleibende Wirkung; sie funktionierten bloß als Zeichen. 3. Der studentische Protest verstand sich weiter als Kritik an der Gesellschaft schlechthin. Die kulturelle Debatte mündete in eine soziale und politische Kritik. Der Protest weitete sich aus in eine Ablehnung der gesamten Konsumgesellschaft, die die Freiheit einschränkte. Die Studenten forderten

9

Ebenfalls aus heutiger Sicht: Lemire 2008.

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Persönlichkeitsrechte ein und protestierten gegen die Entpersönlichung durch eine geschlossene, hierarchische Gesellschaft. 4. Schließlich ortete ich in der Revolte auch eine Suche nach spirituellen Werten. „Die Maikrise“, so sagte Malraux auf Radio Europe 1 im Juni 1968 „offenbarte die pathetische Suche nach neuen Werten der Zivilisation in einer Welt, die sich plötzlich dieser Werte beraubt sieht und daran erstickt.“

3. Die Einschätzung heute Was ist angesichts der historischen Distanz und der neueren Untersuchungen von der Analyse von 1969 zu halten, die ja nicht so sehr eine persönliche war, sondern die den Diskursstand ein Jahr nach den Ereignissen wiedergab? Zweifellos würde man die sehr allgemeinen Ausführungen über den totalitären Charakter der Gesellschaft in Ost und West heute differenzieren. Serge July führt etwa auch Frankreich-spezifische Gründe an. Frankreich hatte sich seit 1945 innerhalb kürzester Zeit modernisiert. Hochgeschwindigkeitszüge, das Überschallflugzeug Concorde, die Atomkraftwerke zeugten davon. Im Alltagsleben blieben die traditionellen autoritären Strukturen jedoch bestehen, in den gaullistischen Milieus ebenso wie innerhalb der Kommunistischen Partei.10 D ER W ANDEL

DER SECHZIGER J AHRE

Man würde heute den Wandel nicht mehr bloß auf die Ereignisse des einen Monats Mai zurückführen. Heute weiß man, dass ein gesellschaftlicher Wandel sich schon seit dem Beginn der 60er Jahre abzeichnete. In einem Beitrag im Sammelband Mai-Juin 68 über die Formen der häuslichen Herrschaft wird eine erste Lockerung in den 60er Jahren festgestellt: Die Kinder werden früher eingeschult; Körperstrafen werden verpönt. Frauen dürfen – endlich! – ab 1964 ohne die Erlaubnis des Mannes ein Konto eröffnen und einen Pass beantragen. Das Ordnungsdispositiv war schon vor 1968 Gegenstand eines Aushandelns.11 Die symbolische Ordnung bekam auch Risse im Bereich der Hochschule, die vorher einer sozialen Elite vorbehalten war. Von 1960 bis 1967 nahm die Studentenzahl in Frankreich um 130 Prozent zu. Die Demokratisierung erwies sich indes als trügerisch. Die beiden Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron stellten in ihrer damals vielbeachteten Untersuchung Les héritiers (1964) fest, dass das Studium nicht per se die soziale Mobilität förderte, da das kulturelle Kapital des Ursprungsmilieus für den Erfolg entscheidend blieb.12 Der ab 1965 einsetzende studentische Anti-Imperialismus im Kontext des Vietnamkrieges war nicht eine Weiterführung des früheren Antikolonialismus, sondern wurde durch die sich nun ausbildenden trotzkistischen und maoistischen Gruppen strukturiert. Zu den politisiertesten Gruppen zählte die 1956 gegründete Studentenorganisation Union des Etudiants 10 July 2007, 9. 11 Memmi, 2008. 12 Pudal, 2008; siehe auch Chapoulie et al. 2005.

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Communistes (UEC), die auf ihrem Höhepunkt etwa 6000 Mitglieder zählte und mit ihrer Zeitschrift Clarté große Resonanz fand. Die Organisation verfolgte aber eine relativ autonome Linie gegenüber der KP, die die Gruppe wieder der Parteidisziplin unterordnen wollte. Das gelang 1965 durch den Ausschluss oder den Austritt fast der Hälfte der Mitglieder, von denen sich viele unter den Aktivisten des Mai-Aufstandes wiederfanden, während die KP mit ihren autoritären, teilweise stalinistischen und gleichzeitig puritanischen Methoden der Studentenrevolte wenig abgewinnen konnte.13 Wenn ähnlich wie für die Französische Revolution nach den intellektuellen Ursprüngen der Mai-Revolte gefragt wird, so stellt man eine große Resonanz des kritischen Denkens fest (Marcuse, Nizan, Fanon) und zugleich auch neue kostengünstige Formen der Verbreitung, etwa durch den Pariser Verlag Maspero. Hinsichtlich des Wandels, der sich nun in den 60er Jahren abzeichnete, verweist Frédérique Matonti auf die Verschiebung der Grenze zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Schon der Wissenschaftshistoriker Canguilhem hatte diese Frage aufgegriffen; für seinen Schüler Michel Foucault stand sie vor allem in seiner Histoire de la Folie von 1961 im Zentrum. Diese Forschungen führten dazu, die Formen sozialer Repression in den „Irrenhäusern“ und in den Gefängnissen anzuklagen. Der Strukturalismus, der ab den 60er Jahren den Existentialismus ablöste, wurde immer wieder als unpolitisch eingestuft. Matonti zeigt aber auf, dass diese Denker (Foucault, Barthes, Lacan, Althusser), die an marginalen Institutionen lehrten und sich gegen die herrschenden akademischen Tendenzen artikulierten, damals nicht nur als intellektuell, sondern auch als politisch radikal rezipiert wurden. Foucaults Denunzierung des Humanismus als eine Ideologie etwa in Les mots et les choses (1966) fand hier durchaus Gehör und Althussers strukturalistische Marx-Lektüre erschien als Garantie der politischen Dimension des Strukturalismus.14 D IE M AI -E REIGNISSE Die symbolische Dimension der studentischen Aktionen wird auch heute hervorgehoben Mit den Kategorien des Soziologen Erving Goffman (Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum)15 kann man durchaus eine Logik der Demonstrationen erfassen. Bei den Demonstrationen ging es um Präsenz an Orten im öffentlichen Raum, denen eine symbolische Bedeutung zukommt. Zunächst kämpften extreme Rechte und extreme Linke um den Raum der Universität in Nanterre und dann an der Sorbonne. Das Eindringen der Polizei in die Universität wurde als Profanation empfunden. Die Bereiche der Herrschaft – das Parlament, der Elysée-Palast, das Fernsehgebäude – blieben von den studentischen Demonstrationen verschont. Die Gewalt der Ordnungskräfte gegen die Studenten während der Barrikadennacht vom 10./11. Mai weckte die Solidarisierung der Gewerkschaften, deren Demonstration von „ihrem“ Raum, dem Place de 13 Matonti/Pudal, 2008. 14 Matonti 2008; Revel 2008. 15 Goffman 1971.

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la République, ausging. Die große gaullistische Demonstration vom 30. Mai verstand sich als Antwort und fand bezeichnenderweise auf der offiziellen Prachtstraße, den Champs-Elysées, statt.16 Von der Mai-Revolte haben sich vor allem die Bilder der Pflastersteine werfenden Studenten und der die Manifestierenden niederschlagenden CRS17 eingeprägt. Gleichzeitig betonen damalige Akteure, dass sich die Gewalt in Grenzen hielt. Das Faktum, dass die Unruhen sich im Wesentlichen auf das Quartier Latin beschränkten, belegt nach Daniel Cohn-Bendit, dass es sich um eine Revolte und nicht um eine intendierte Machtergreifung gehandelt hatte.18 Es gab bei den Ordnungskräften fast 2000 Verletzte und bei den Manifestierenden etwa 1500. In Lyon wurde ein Polizist getötet, zwei Arbeiter kamen in den Peugeot-Werken in Sochaux um und ein Gymnasiast, der den Polizisten entkommen wollte, ertrank in Flins. Serge July betont aber, dass es bei beiden Seiten eine Selbstbeschränkung der Gewalt gab und dass während der ganzen Unruhen kein Schuss fiel.19 Schließlich entstanden im Anschluss an die Studenten-Revolte in Frankreich auch keine terroristischen Vereinigungen wie die roten Brigaden in Italien20 und die RAF in Deutschland.21 Dieses Faktum wurde unter anderem auch darauf zurückgeführt, dass die Bewegung Gauche prolétarienne die Gewalt zu kanalisieren verstand und dass die Polizei subtilere Infiltrationsmethoden anwandte.22 Bei den Fragen nach den Bildern vom Mai 68, die sich den Zeitgenossen eingeprägt haben, werden die Barrikaden und die Sorbonne, die Gegendemonstration auf den Champs Elysées und ganz am Schluss die besetzten Renault-Werke genannt. Es ist in der Tat erstaunlich, dass dieser Streik – der größte Streik Frankreichs mit 9 Millionen Streikenden während drei Wochen – sich so wenig ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Der Generalstreik zur Volksfrontzeit blieb in der Erinnerung haften, weil er mit einem politischen Sieg einherging, während 1968 die Gewerkschaften sich auf quantitative Forderungen beschränkten, indes die Wahlen von Juni 1968 einen Kontersieg der Gaullisten brachten. 1936 war die Arbeiterklasse zu einem Akteur geworden, nach 1968 fragmentierte sie sich immer mehr.23

16 Mathieu 2008. 17 Siehe dazu Jobard 2008. 18 Cohn-Bendit 2008, 44-45. 19 Vgl. July 2007, 1: „De manière spontanée, il y a eu une autolimitation de la violence de la part des manifestants, décrétée et accepté par tous, à travers tout le pays. L’irréparable n’a pas eu lieu: la rue est tout, sauf folle […] Aucune arme à feu ne fut utilisée durant les semaines de Mai. Le même phénomène se retrouve parmi les forces de l’ordre qui, sous la responsabilité du Premier ministre Georges Pompidou et du préfet de Paris Maurice Grimaud, cherchent à éviter à tout prix le dérapage catastrophique qui transformerait la révolte en insurrection. A Paris, personne ne tire, ni les policiers ni les batisseurs de barricades, tandis que la Garde nationale tire à plusieurs reprises aux Etats-Unis, que la police réprime dans le sang des manifestations étudiantes en Pologne, au Brésil, au Mexique, en Italie, en Allemagne. “ 20 Siehe Girard 2008. 21 Siehe Linhardt 2008. 22 Siehe Zancarini-Fournel 2008a. 23 Pudal/Retière 2008; Vigna 2008a.

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Dass der Umbruch vom Mai und Juni 1968 alle Sphären der Gesellschaft erfasste, konnte man erst aus der Langzeitperspektive erkennen: Belege finden sich im Bereich der Kunst und der Architektur, wo das alte Rollenverständnis hinterfragt und die Kreativität aller gefördert wird,24 für den Bereich des Films,25 der Schule und der Hochschule, wo eine autoritäre Pädagogik in Frage gestellt wird zugunsten innovativer pädagogischer Experimente.26 Selbst im Bereich der politischen Macht wird eine Veränderung festgestellt. Nach den Mai-Ereignissen zeitigte die charismatische Machtausübung durch de Gaulle nicht mehr dieselbe Wirkung; eine egalitärere politische Ordnung setzte sich unter Pompidou durch.27 Boris Gobille, einer der Herausgeber des Sammelbandes Mai-Juin 68, wendet sich so dagegen, Mai und Juni 68 nur als Generationenkonflikt, als Lockerung der Sitten, als ludischen Hedonismus zu sehen. In seinen Augen wurde hier die gesamte symbolische Ordnung in Frage gestellt, die gängige vertikale und horizontale Arbeitsteilung, die jedem eine bestimmte Rolle und Funktion zuweist. Davon zeugten die bisher verkannten neuen Beziehungen zwischen Studenten und Arbeitern, die Aufhebung der Barrieren zwischen Fachleuten und Laien und die neue Wertschätzung der Kreativität, die auch das alltägliche Leben verändern sollte.28 All das scheint der Kulturhistoriker Michel de Certeau damals zusammengefasst zu haben, als er schrieb: „En mai dernier on a pris la parole comme on a pris la Bastille en 1789.“29 L ANGZEITFOLGEN Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von empirisch feststellbaren sozialen Veränderungen in der Folge der Legitimitätskrise von 1968. Die gauchistischen Bewegungen wandten sich nun neuen Problematiken zu, zum Beispiel der Entfremdung der Arbeiter und ihrem Streben nach Autonomie.30 Innerhalb der Arbeiterschaft ließ sich eine Opposition gegenüber autoritären Strukturen der Betriebe und der Bevormundung durch GewerkschaftsVerantwortliche feststellen.31 Auch die Medien, die unter einer massiven staatlichen Kontrolle standen, vor allem das Fernsehen, veränderten sich hinsichtlich des Stiles, aber auch durch größere Professionalität, was eine stärkere Politisierung keineswegs ausschloss.32 Selbst bei den jungen Bauern manifestierte sich ein neues Berufsverständnis, das sich in neuen genossenschaftlichen Praktiken äußerte.33 Im Bereich der Schule ging es nicht mehr darum, Wissen einzutrichtern, sondern die Schüler als eigenverantwortliche Personen

24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Violeau 2008. Mariette 2008; Baecque 2008b. Damamme 2008; Laval 2008. Gaiti 2008. Gobille 2008. Certeau 1994, 40. Sommier 2008; Brillant 2008. Vigna 2008b; Hatzfeld 2008. Zancarini-Fournel 2008b; Lagneau/Lévèque 2008. Bruneau 2008.

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zu betrachten, die man auf ein eigenständiges Erwachsenenleben vorbereiten musste.34 Im Kontext der 60er Jahre ließ sich zweifellos eine Lockerung der vormals so strengen Sitten feststellen. „Peace and Love“ waren bereits Schlüsselbegriffe der Beat-Generation in Kalifornien gewesen. Wenn in Frankreich mit dem Ende des Algerienkrieges (1962) eine Periode des Friedens eingeläutet wurde, so bedeutete dann das Ende dieses Jahrzehnts auch das Ende einer kleinbürgerlichen, verschlafenen Periode. Es war bezeichnend, dass die Studentenrevolte in Nanterre sich an der Forderung der Studenten nach freiem Zugang zu den Zimmern der Kommilitoninnen in den Studentenheimen entzündete! Die meisten schulischen Einrichtungen waren damals noch nach Geschlechtern getrennt. Erst 1967 wurde ein Gesetz über die Empfängnisverhütung („Loi Neuwirth“) vom Parlament verabschiedet, allerdings zunächst mit drakonischen Einschränkungen. Eine junge Frau unter 21 Jahren brauchte für ein Pillen-Rezept das Einverständnis der Eltern.35 Wenn im Mai und Juni 68 sich die jungen Frauen massiv an den Demonstrationen beteiligten, so wurden ihnen zunächst keine führenden Positionen zugebilligt. Dann aber bildete sich an der Sorbonne die Gruppe Féminin Masculin Avenir (FMA), die mit den in Paris lebenden amerikanischen Feministinnen des Women’s Lib in Kontakt stand. Die Geburtsstunde einer breiteren Bewegung, des Mouvement de Libération des Femmes (MLF), war der 26. August 1970, als Frauen am Grab des Unbekannten Soldaten einen Kranz für die „unbekannte Frau des Soldaten“ niederlegten.36 Die Frauen optierten auch für radikalere Protestformen, so wie sie im Mai 68 in der Studentenbewegung erprobt wurden. Beim MLF handelte es sich um eine relativ lose Struktur, die die Formen männlicher Herrschaft klassenübergreifend bekämpfen wollte. Der Kampf für die Legalisierung der Abtreibung bildete eine der Hauptachsen des Kampfes, vor allem auch mit dem Manifeste des 343 salopes vom April 1971, das auch Simone de Beauvoir unterzeichnete.37 In der Folge bildete sich eine eigene Bewegung, die das Recht der Frauen auf ihren Körper verteidigte: das Mouvement pour la Liberté de l’Avortement et de la Contraception (MLAC). Der Erfolg stellte sich dank politischer und professioneller Unterstützung (in der 68er Bewegung involvierter junger Ärzte des Groupe d’Information Santé [GIS])38 ein mit der Proklamierung des Gesetzes vom Januar 1975, das den Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer 10-WochenFrist legalisierte. Wenn die Frauenorganisationen in der Öffentlichkeiten auf die zahlreichen Diskriminierungen aufmerksam machten, unter denen Frauen zu leiden hatten, so lösten sie auch auf der individuellen Ebene bei den Frauen einen Bewusstwerdungsprozess aus, der sie ermunterte, ihre Rechte wahrzunehmen, und eröffneten so einen Raum der Möglichkeiten, der vor 68 noch nicht denkbar war. Cathrin Achin und Delphine Naudier konnten das sehr schön in einer Fallstudie zu einer Provinzstadt (Auxerre) aufzeigen.39 34 35 36 37 38 39

Pagis 2008. Siehe Rebreyend 2008. Rochefort 2008a. Siehe dazu Zancarini-Fournel 2008a; Fournier 2008. Siehe dazu auch Garcia 2005. Achin/Naudier 2008.

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R EVOLUTION

DES

K ÖRPERS

Das neue kulturelle Klima artikulierte sich auch in einem neuen Verständnis des Körpers. Im Laufe der 60er Jahre hatten sich neue Körper-Praktiken entwickelt, die die traditionellen Normen überschritten40 und die als Zeichen einer Gegen-Kultur galten, die später aber auch von der Mode und der Konsumindustrie vereinnahmt wurden. Zuerst manifestierte sich der Wandel etwa in den Frisuren der ‚braven’ Rebellen, der Beatles, bis hin zu viel radikaleren körperlichen Manifestationen einer Jugendkultur. Mit den Monokinis äußerte sich eine neue Haltung zum Körper, die von einer puritanischen Umwelt als Provokation betrachtet, dann aber auch von der Werbeindustrie aufgegriffen wurde und die den erotisierten Körper der Frau zu ihrem bevorzugten kommerziellen Vektor machte.41 Die Disziplinierung des Körpers durch Schule, Familie, Fabrik, Gefängnis wurde nun wahrgenommen und in Frage gestellt. In den Gymnasien revoltierten die Schüler gegen die strikten Normen (Hosenverbot für Mädchen, Verbot der langen Haare für Jungen). Wenn die Gauchisten durchaus noch eine „revolutionäre“ Disziplin vertraten, so plädierte Raoul Vaneigem von der situationistischen Bewegung in seinem Traité de savoir-vivre à l’usage des jeunes générations (1967) für Freiheit und Genuss und widersetzte sich mit politischen Kriterien einem System des Zwanges und der Unterdrückung. Die Begeisterung für eine sanfte Gymnastik und für die Kurse in Ausdruckstanz belegten eine analoge Tendenz. Theoretisch begleitet wurde die Bewegung durch Foucaults Analyse in Surveiller et punir (1975), der die vielfältigen Formen einer Biopolitik aufzeigte, die sich in die Diskurse, in das Wissen und das Begehren einschlichen. Auch Pierre Bourdieus Habitus-Begriff ging davon aus, dass sich Herrschaftsstrukturen und namentlich auch die männliche Herrschaft in den Körper einschreiben.42 P OLITISIERUNG

DES

THEATERS

Die neue Einschätzung des Körpers und die Politisierung aller Gebiete manifestierte sich auch im Bereich des Theaters. Die Wirkung vom Mai 68 auf die Welt der Bühne wird nach Olivier Neveux vorschnell auf die Besetzung des Odéon am 15. Mai und danach des Festivals von Avignon im Sommer 68 reduziert.43 Schon 1967 hatte die Zeitschrift Partisans eine ganze Nummer dem Thema „Théâtre et politique“ gewidmet. Erstmals sprach man wieder von einem militanten Theater, das sich vor allem an amerikanischen Vorbildern orientierte, so an Stücken, die gegen den Vietnamkrieg gerichtet waren: V comme Vietnam von Armand Gatti (1967) oder Napalm von André Benedetto (1967). Es handelte sich dabei um kein breites Phänomen. 40 Siehe Rochefort 2008b. 41 Zu dem 1965 vom Modeschöpfer André Courrèges lancierten Minijupe siehe Nowinski 2008. Die Autorin fragt sich allerdings, ob der Minijupe vor allem einem männlichen Begehren entgegenkommt oder als selbstbewusste Affirmation des eigenen Körpers zu interpretieren ist. 42 Siehe Jurt 2008, 58-69. 43 Neveux 2008.

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Im Mai 68 gewann das Fest im Rousseauschen Sinn Überhand über das Theater. Die Theater waren fast alle geschlossen und einzelne Truppen spielten in besetzten Betrieben. Die Besetzung des Odéon durch das Comité d’action révolutionnaire (CAR) war ein Vorgang, der über die Welt des Theaters hinausging – die Schauspielergewerkschaft (SFA-CGT) hatte sich im Übrigen davon distanziert. Von Ende Mai bis Mitte Juni versammelten sich die Leiter der Théâtres populaires und der Kulturhäuser auf Einladung von Roger Planchon in Villeurbanne und publizierten dann ein Manifest, in dem sie vor allem ihr Anliegen zum Ausdruck brachten, ein breiteres Publikum anzusprechen und die kulturelle Aktivität zu demokratisieren. Beim Festival von Avignon, zu dem keine französischen Truppen eingeladen waren, wurde auch Jean Vilars Autorität in Frage gestellt. Es ging turbulent zu und weitere Vorführungen des sehr körperbetonte Stückes des Living Theatre Paradise Now wurden von den Behörden untersagt.44 Im Anschluss an die Erfahrungen vom Mai 68 stellte man im Bereich des Theaters eine starke Politisierung der Praxis und der Debatten fest, die sich vor allem auf die Frage nach der sozialen Funktion der Institution konzentrierte. Wenn die einen unterstrichen, das Theater sei per se politisch, so griffen andere in ihren Stücken konkrete politische Themen (Feminismus, Einwanderung, Regionalismus) auf. Wieder andere orientierten sich an verschütteten Traditionen des Volkstheaters. Im Gefolge des Grand Magic Circus stellte man die Körperlichkeit in den Vordergrund. Das Théâtre du Soleil und die Truppe des Aquarium führten ihre Stücke in der Cartoucherie von Vincennes auf, einem bedeutenden Ort militanter Aktivitäten. Im Kontext von 1968 entwickelte sich so in Frankreich im Bereich des Theaters ein dynamisches, innovatives, aber auch widersprüchliches Schaffen, von dem auch die Zeitschrift Travail théâtral zeugte, die dann 1978 ein Versanden dieser Aktivitäten feststellen musste. K RITIK

DER

E NTFREMDUNG

Der im Mai 68 initiierte Wandel war vor allem kultureller und nicht so sehr politischer Natur. Serge July, der damals zu den extrem-linken Akteuren gehörte, gesteht heute gegen seine damaligen Überzeugungen ein, dass der Wandel vor allem kultureller Natur war.45 Auch Daniel Cohn-Bendit unterstreicht die dominante libertäre Dimension gegenüber den maoistischtrotzkistisch Positionen. Die 68er Bewegung sei zuerst eine Bewegung für die Autonomie und die persönlichen Lebensentscheidungen der Individuen gewesen. „Le début des années 68 est en réalité, et avant tout, une révolte pour la vie quotidienne, la musique, le rapport entre les hommes et les 44 Siehe dazu Loyer 2008. 45 Vgl. July 2007, 13: „L’histoire est amère pour tous les généraux du gauchisme (dont je fus) qui planifiaient d’inévitables révolutions et qui ont assisté, impuissants, à la naissance d’un nouveau monde qui leur tournait le dos en pleurant de rire et en leur faisant des grimaces, en réalisant certains de leurs rêves les plus chers au prix de nouvelles aliénations […] Les révoltés d’hier ne sont pas devenus pour autant des politiciens […) En France, la génération de 1968 est restée du côté de la société, de la culture, de l’entreprise.”.

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femmes, la vie, la sexualité, la libération. C’est cela qui fait 68...“46 Diese Dimension äußerte sich auch in den zahllosen Graffitis, in deren Poesie sich die Revoltierenden wiedererkannten. Die Mauern von Paris, so Cohn-Bendit, beschützten die Anonymität des Dichters, aber der Dichter sprach zu jedermann und jeder fand sich darin wieder.47 Nach Cohn-Bendit war sich die 68er Bewegung einig in ihrem Ziel: die Freiheit für das Volk von Vietnam, Freiheit für jeden einzelnen. Wo man sich nicht mehr einig war, das war hinsichtlich der Frage nach dem Weg, der zu einer freieren Gesellschaft führen könne. Die maoistisch-trotzkistischen Gruppen orientierten sich am Modell der chinesischen Kulturrevolution, an Vietnam, ohne sich um die stalinistischen Methoden von Ho Chi Minh zu kümmern. Wieder andere plädierten für das kubanische Modell, ohne die Freiheitsfrage zu stellen. „Bref, ces groupuscules ont une conception politique révolutionnaire de la révolte qui les amène à des propositions de société abominables.“48 Boris Gobille hat das, was Cohn-Bendit im Rückblick spontan formulierte, konzeptualisiert. Aus der Analyse der diskursiven Produktion des Mai 68 gehe hervor, dass sich im Laufe der Ereignisse ein Konflikt innerhalb der involvierten politischen Gruppierungen und Aktionskomitees abzeichnete. Den traditionellen marxistisch-leninistischen revolutionären Modellen machte eine immer stärker werdende „Künstlerkritik“ die symbolische Autorität streitig.49 Das Konzept Künstlerkritik ist von Luc Boltanski und Eve Chiapello in die Diskussion eingebracht worden.50 Innerhalb der Mai-Bewegung standen sich so zwei Idealtypen eines revolutionären Imaginären gegenüber: Der erste Typus, der Analyse von Boris Gobille folgend, war der der außerparlamentarischen linksextremen Gruppierungen. Das Bezugssystem war hier die Oktoberrevolution und die leninistische Theorie. Das Proletariat galt als das zentrale revolutionäre Subjekt Der Marxismus wird vor allem in der Lesart von Lenin, Trotzki oder Mao rezipiert. Der zweite Typus des revolutionären Imaginären wurde von den Studenten getragen, die sich nicht im Rahmen linksextremer Gruppierungen mobilisierten. Die Bezugnahme auf den Marxismus äußerte sich vor allem in der Form der Künstlerkritik am Kapitalismus. „Kritisiert werden die fortschreitende Umwandlung der Welt in eine reine Warenwelt, die Entzauberung des Alltags und die Unechtheit der menschlichen Beziehungen. Die Lösungen lauten: Befreiung der Sprache und Befreiung der schöpferischen Kraft, sexuelle Befreiung und Selbstverwal46 47 48 49 50

Cohn-Bendit 2008, 50. Cohn-Bendit 2008, 20-21. Cohn-Bendit 2008, 50. Gobille 2004; Gobille 2005. Die „Künstlerkritik“ artikulierte sich erstmals unter der Julimonarchie in Frankreich, als es dem Bürgertum gelang, gleichzeitig die ökonomische und die politische Macht zu erobern. Die Künstlerkritik konzentrierte sich vor allem auf die Engstirnigkeit, die ‚Dummheit’ des Bürgertums (siehe etwa die Korrespondenz von Flaubert), die schöpferische Einfallslosigkeit und die Unterwerfung unter das Nützlichkeitsprinzip. Die Opposition gegen den bürgerlichen Mief artikulierte sich im Lebensstil als Bohémien oder als Dandy, vor allem aber in der Konzeption des l’art pour l’art, die den wirtschaftlichen Erfolg als für die Kunst kompromittierend einschätzte. Siehe dazu Chiapello 1998; Boltanski/Chiapello, 1999.

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tung.“51 Die Kritik richtet sich gegen Institutionen, Organisationen, Hierarchien und Autoritäten. Historische Referenz sind die Räte – von der Pariser Kommune bis zu den katalonischen Räten von 1936. Mit der Losung „Das Leben verändern“ beruft man sich auf Rimbaud und André Breton, auf den Surrealismus und die Situationisten.52 Der Begriff der Avantgardepartei wird abgelehnt und die theoretische Reflexion als nicht so bestimmend angesehen. Wenn Denker bemüht werden, dann eher Freud, Wilhelm Reich, die Frankfurter Schule oder Henri Lefebvre als Lenin oder Mao. Als Inkarnation einer „permanenten Revolution“ erscheint Che Guevara. Die Sozialkritik wird nicht abgelehnt, tritt aber hinter der Künstlerkritik zurück Das Konzept der Revolution wird neu interpretiert. Die Verbreitung der Künstlerkritik und des Künstler-Imaginären ist nach Boris Gobille einer der bemerkenswertesten Aspekte des Mai 68. Sie ermöglichte potentiell auch eine Symbiose zwischen den Schriftstellern und den revolutionären Projekten der studentischen Aktionskomitees.53 Mit der Künstlerkritik wurde man hellhörig nicht allein für die Phänomene der Ausbeutung in der Arbeitswelt (Sozialkritik), sondern für die Formen der Entfremdung in zahllosen Bereichen auch außerhalb der Arbeitswelt. Hier setzten sich die Folgen am Nachhaltigsten durch.

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51 Gobille 2004, 177. 52 Siehe dazu Chollet 2008. 53 Gobille 2004, 177. Boris Gobille stellt in diesem Kontext auch eine Neukonfigurierung der Hierarchien literarischen Legitimität fest. Der Pol der Großproduktion wurde von der revolutionären Re-Problematisierung der schöpferischen Praxis wenig berührt. Die Schriftsteller dieses Pols identifizierten sich mit der herrschenden Ordnung und mit den bestehenden Institutionen und konnten in der Studentenrevolte nur eine Manifestation der Anarchie sehen. Der Pol der Avantgarde wurde durch die Krise viel mehr herausgefordert. Die Vorstellung, dass ein jeder über ein schöpferisches Potential verfügt, stellt das Konzept einer professionellen Avantgarde in Frage. Gehör finden hier nun auch die Vorstellungen der Surrealisten und der Situationisten, die die „Trennung von Kunst und Leben“ durch die Verwandlung des ganzen Lebens in ein Kunstwerk überwinden wollen. Die Gruppe Tel Quel, die die „gute“ ästhetische und politische Radikalität repräsentierte, wurde vor allem durch die Nähe zur KP etwas delegitimiert. Ihr erwuchs nun durch andere avantgardistische Gruppen um die Zeitschriften Change von Jean-Pierre Faye und Action poétique Konkurrenz. Diese standen der Radikalität der Studentenbewegung näher und betonten über den Bezug auf die linguistische Theorie Noam Chomskys die These einer universellen Kreativität viel mehr als die Gruppe Tel Quel mit ihrem „Kult des Textes“.

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„WIR haben die Klotüren wieder eingehängt.“ 1968 – ein szenisches Projekt DOROTHEA VOLZ

Mainz 1967. Eine Demonstration gegen die Notstandsgesetze bahnt sich ihren Weg durch die Innenstadt.1 Vor dem Mainzer Stadttheater (heute Staatstheater) soll der friedliche Protestmarsch der Studenten mit einer Abschlusskundgebung enden – doch einige anwesende Frankfurter Aktivisten haben andere Pläne: Sie nutzen die Örtlichkeit zum antibürgerlichen Protest. Ihr Versuch, das Theater, in dem gerade eine Vorstellung der Operette Frau Luna von Paul Lincke gezeigt wird, zu stürmen, stößt jedoch auf wenig Gegenliebe. Schnell bildet sich aus den demonstrationseigenen Reihen eine Kette von Aktionsgegnern, die diesen Übergriff auf den Theaterraum zu verhindern suchen. „Diskussion!“ – diese unmissverständliche Aufforderung des Mainzer Intendanten beendet schließlich den Angriff auf sein Haus und leitet über in eine öffentliche Gesprächsrunde, für die er auch selbst auf dem Podium Platz nimmt. Hier wird der Theatermann schnell zum Ziel der Kritik und so fordert ihn die Vorsitzende der universitären Studentenvertretung (AStA) auf, sich für sein „verdummende[s] und niveaulose[s] Programm“ zu rechtfertigen. Johano Strasser, einer der Mitveranstalter, erinnert sich: Der Intendant hörte geduldig zu, nickte ein paar Mal, und als er endlich zu Wort kam, sagte er, dass er selbst auch lieber ein anspruchsvolleres Theaterprogramm bieten würde, ihm aber dafür das Publikum fehle. So habe sich der AStA der Universität, der seines Wissens von lauter kritischen Studentenorganisationen getragen werde, als 2 Sondervorstellung für die Studentenschaft Charleys Tante gewünscht.

So den Wind aus den Segeln genommen, einigen sich Protestler und Intendant rasch auf folgendes Vorgehen: Zehn Demonstranten, darunter auch Strasser, erhalten die Möglichkeit, mit dem Theaterpublikum zu diskutieren: Als wir nach dem Schlussapplaus die Bühne betraten, blieb das überraschte Abonnementspublikum sitzen und hörte sich geduldig an, was wir zu sagen hatten. Keine Proteste, keine Fragen. Womöglich glaubten die Menschen da unten im Parkett, unser Auftritt gehöre noch zum Programm. Als sich nach zwanzig Minuten immer noch

1

2

Diese Nacherzählung basiert auf den Erinnerungen von Johano Strasser, online unter: einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/993/auf_sie_mit_gebruell.html (letzter Zugriff: 02.09.2009). Siehe Anm. 1.

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Volz nichts tat, die Theaterbesucher immer nur verständnislos, aber freundlich zur Bühne 3 blickten, traten wir einigermaßen irritiert ab.

Mainz 2008. Auf dem Mainzer Bahnhofsvorplatz versammelt sich eine Gruppe von ca. 50 Studenten zum Protestmarsch durch die Innenstadt. Ihr Auftreten irritiert einige Passanten, die mit Kopfschütteln, belustigtem Grinsen und vereinzelt mit der Aufforderung, die Studenten sollen doch besser mal nach Hause gehen, reagieren. So mancher Mainzer mag direkt an einen Werbegag denken, doch weit entfernt von einem als theatral markierten Raum und begleitet und bewacht von echten Polizeiwagen wird dieser Eindruck erheblich gestört. Ob echt oder nicht, an diesem Morgen sind die Studenten weder zu übersehen, noch zu überhören – mit Trillerpfeifen ausgestattet und um den Hals die aus Hotels bekannten „Bitte nicht stören“-Türschilder, halten sie Plakate mit der Aufschrift „Meinungsfrei“, „Mir doch egal“ oder „Leergut“ in Händen. Das Motto prangt auf dem größten Banner und verkündet die Devise „Wir wollen nix!“ Nach der Einübung einiger prägnanter Sprechchöre setzt sich der Zug Richtung Innenstadt in Bewegung. Die Reaktionen der Fußgänger und Autofahrer auf die offiziell angemeldete Demonstration für mehr Desinteresse bleiben im beschriebenen Rahmen, woran auch die direkte Ansprache durch Parolen wie „Ihr seid uns egal“ und „Eure Probleme gehen uns nichts an“ nicht viel ändert. Nach einer Dreiviertelstunde endet der Protestmarsch mit einer öffentlichen Abschlusskundgebung auf dem Schillerplatz. Aus dem Café in unmittelbarer Nähe kommt keine Beschwerde über den geschäftsschädigenden Lärm, ganz im Gegenteil: Die Angestellten helfen mit dem Zugang zu einer Steckdose für den Verstärker aus und ermöglichen so den Rednern, ihre kurzen Statements in beeindruckender Lautstärke vorzutragen. Hinter einem schwarzen Pult, einer Art Kanzel, wird in Varianten die immergleiche Botschaft verkündet und die Zuhörerschaft zu mehr kollektivem Desinteresse aufgefordert.4 1967 scheitert die Mobilisierung des Theaterpublikums nicht nur an Desinteresse, Unverständnis oder, wie Strasser betont, der Kluft zwischen der Lebenswirklichkeit der Studenten und der des bürgerlichen Publikums, sondern auch am Veranstaltungsort. Eine sichtbare Handlung wird vom Publikum nicht vollzogen, denn die Aufforderung zur Selbst-Mobilisierung steht im Widerspruch zu den Konventionen des theatralen Rahmens, an dem sich die Zuschauer orientieren. Für sie wird, wie Strasser anmerkt, der Auftritt der Studenten zu Theater. Die Demonstration von 2008 hingegen besetzt öffentliche Räume. Sie oszilliert zwischen der Unglaubwürdigkeit der Aussage und der Glaubwürdigkeit des Auftritts, spielt also mit dem Widerspruch zwischen Botschaft und Übertragungsmittel. Lautstark wird der Ruf zur Vereinzelung und das Ende jeder Form der Einmischung gefordert – und dafür die Mittel der öf3 4

Siehe Anm. 1. Ein Zusammenschnitt einer Aufnahme der Demonstration ist auf youtube abrufbar unter www.youtube.com/watch?v=GiiqohP-PkM Vgl. den Artikel von Verena Töppers 2008, online unter www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,563995,00.html (letzter Zugriff: 03.09.2009).

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fentlichen Meinungsäußerung, des Bewegungs- und Sprechchores genutzt. Geworben wird für eine Absage an die Gemeinschaft; der Auftritt hingegen ist Vorführung einer solchen. Hier steht weniger das konkrete Ziel eines Protests, sondern der Protest als konkretes Mittel im Zentrum. Mit der Form der Demonstration wird experimentiert und mit der erzeugten Irritation gespielt. Das alltägliche Treiben in den Einkaufsstraßen wird für einen kurzen Moment durch eine gezielte Aktion gestört: Die „meinungsfreien“ Studenten proben die Provokation und die Selbst-Inszenierung im öffentlichen Raum. Zwar bleiben, damals wie heute, die Reaktionen weitestgehend aus, jedoch ist 2008 das mangelnde Echo ein absehbares und einkalkuliertes Risiko der Demonstration. Der Aktion an sich schadete dies nicht – sie hat dennoch ihr Ziel erreicht.

1968 – ein szenisches Projekt Die „Demonstration für mehr Desinteresse“ war Teil des Probenprozesses und damit auch des Projekts 1968. Dahinter verbarg sich eine praktische Lehrveranstaltung der Mainzer Theaterwissenschaft, für die der Berliner Regisseur Marcel Bugiel und die Frankfurter Dramaturgin Heike Wintz die kreative Leitung übernommen hatten. 37 Studierende hatten sich angemeldet und sollten sich innerhalb von drei kurzen Probenwochen für die Erarbeitung eines szenischen Abends damit auseinandersetzen, was das Jahr 1968 für sie bedeutet und was sie mit der 68er-Bewegung verbinden und verbindet. Der Weg, der für diese Annäherung gewählt wurde, zollt der Gruppengröße und dem kleinen Zeitfenster Tribut, implizierte aber bereits eine Deutung im Hinblick auf die Studentenbewegung als soziale Bewegung, in der weit über den politischen Protest hinausgehend etablierte kulturelle Werte, Lebensformen und emotionale Verhaltensmuster zur Disposition gestellt werden. In ihrer Identitätspolitischen Revolte wird die Repräsentation eines neuen Habitus und Lebensstils erstmal zu einer zentralen Mobilisierungsressource und 5 zur Basis ihrer kollektiven (Protest-)Identität.

Denn im Selbstversuch wurde nicht der Gedanke vor die Tat gestellt, nicht aus einer Idee ein bestimmtes Verhalten entwickelt, sondern ein Verhaltensrahmen vorgegeben, ein „Lebensstil“ erprobt, um damit ein Verständnis für die Ideen von damals zu entwickeln. Für die Suche nach kollektiven Erinnerungen und individuellen Verbindungen, nach Bildern und Utopien, sollten die Studenten für Probenzeit und Aufführung – soweit realisierbar – „Kommune werden“6.

5 6

Fahlenbrach 2008, 11. Vgl. den Flyer des Szenischen Projekts.

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Volz

D IE K OMMUNE I

ALS

A USGANGSPUNKT

DER

A NNÄHERUNG

Gegen ein auf Existenzsicherung fokussiertes materielles Wertesystem, das die Nachkriegsgeneration etabliert hatte, starteten die jungen Erwachsenen von 68 einen „Frontalangriff auf tradierte Existenzformen.“7 Die Protestmittel waren vielfältig, führten zur Einverleibung öffentlicher Räume, zur Politiierung des Privaten – und in Berlin im Februar 1967 auch zur Gründung der Mutter aller Wohngemeinschaften, der Kommune I, kurz K I genannt. Der Begriff „Kommune“ ist seither eng verbunden mit dieser Lebensform, was ein Blick in das Lexikon zur Soziologie belegt, in dem Kommune u.a. definiert wird als „eine Lebens- und Wohngemeinschaft, die von der Protestbewegung seit 1967 als Vorgriff auf eine emanzipierte Gesellschaft entwickelt wurde.“8 Dabei kommt der K I eine zentrale Stellung zu, denn der „Mythos Kommune“ wird geprägt durch die Bilder dieser Lebensgemeinschaft, die sich medienwirksam selbst inszenierte und mit beißender Ironie provozierte.9 Durch geschickte Selbstdarstellung eröffnete sich die K I ein öffentliches Forum. Vier Jahrzehnte später speist sich dieser Mythos vor allem aus den damals entstandenen Fotografien, die von ihren Entstehungszusammenhängen losgelöst einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis eingenommen haben. Durch die Verkürzung auf wenige einprägsame Zeichen und Symbole […] wird eine Tradition erfunden, die eine Kontinuitätsbrücke zwischen den Generationen, über den Einschnitten und jenseits 10 der Kontroversen darstellt.

So erhalten die Bilder der K I ein Kommune-Klischees am Leben, das vor allem durch Freiheitsideale geprägt ist. Fernab vom Kleinfamilienleben wird die Wohn- und Lebensgemeinschaft zu einer Oase der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. „Kommune leben“ bedeutet für die Bewohner der K I auch den Verzicht auf Privateigentum, die Aufhebung der Besitzansprüche in materieller Hinsicht, sowie das Ende der Zweierbeziehungen. In der Kommunerealität gestaltete sich dies problematisch: Das Gruppengefüge blieb auch nach der Auflösung der Paarbeziehungen nicht hierarchiefrei, einzelnen Mitgliedern haftete die Zuschreibung der „Therapeuten“ an, und das Kollektivleben brachte viele Reibungspunkte und Spannungen mit sich. „Irgendwie wollte die Verwandlung der Gruppe in eine zärtliche Kohorte nicht glücken“,11 so Ulrich Enzensberger, einer der Gründungsmitglieder der K I. Dennoch entstand in dieser Zeit eine Fotografie, die bis heute den Mythos maßgeblich prägt: der bekannte Rücken-Akt. Die Bewohner sind hier unbekleidet und mit dem Gesicht zur Wand abgebildet, Arme und Beine sind gespreizt, so dass die Pose an eine Polizeirazzia erinnert. Um das Bild ranken sich heute, wie 7 8 9

Fahlenbrach 2008, 12. Rammstedt 1994, 347 Erinnert sei hier nur an eine der ersten öffentlichen Aktionen, das sogenannte Pudding-Attentat. Vgl. Enzensberger 2006, 107-129. 10 Bude 2005, 418. 11 Enzensberger 2006, 109.

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Enzensberger konstatiert, diverse „groteske Legenden“, so wird es z.B. – seiner Meinung nach „vollends abwegig – als Sexfoto“ gelesen.12

Abb.1: Remake der berühmten K I-Aktfotografie Die Auseinandersetzung mit der Kommune begann für einige der Teilnehmer des Szenischen Projekts 1968 mit eben diesem Bild. Auf der Suche nach einem geeigneten Pressefoto und Werbemittel schlug ein Teil der Gruppe vor, diese berühmte Fotografie nachzustellen. Dabei wurde in der Reproduktion zwar ein Klischee bedient, zugleich stellten sich die Projektteilnehmer aber auch in eine direkte Traditionslinie mit der K I: Die Studierenden bedienten sich der Wirkung von Nacktheit und schufen sich durch dieses Bild Öffentlichkeit. Von einem Tabubruch und einer Provokation, wie sie die Kommune 68 inszenierte, kann zwar keine Rede mehr sein, aber auch damals bildete das Foto nicht Wirklichkeit ab,13 sondern ist vielmehr als Aktion zu lesen. Auch wenn die Nachstellung der Fotografie somit keine Annäherung an das Leben in der Kommune darstellte, so war es doch eine Verkörperung der Mittel der 68er Bewegung. Das Originalbild reiht sich ein in eine Kultur der Aktion, die die Kommune I vielleicht am konsequentesten umsetzte, um eine „Revolution der gesamten Lebensverhältnisse vom Zentrum bis zur 12 Enzensberger 2006, 160. Folgt man den Erinnerungen von Ulrich Enzensberger, so entstand dieser Bild kurz nach der Ermordung Benno Ohnesorgs: „Die Kommune drohte in diesen Tagen zu zerfallen. Die Gerichtsverfahren, unser bevorstehender Rausschmiß aus der Uni, der Haftbefehl gegen Fritz [Teufel], die Hetze, der an Ohnesorg begangene Totschlag oder Mord, an dem man uns die Schuld gab, all das tat seine Wirkung“ (Enzensberger 2006, 161). 13 Die auf dem Original abgebildeten Dagmar Seehuber bestätigte: „Bei dieser Gelegenheit habe ich zum ersten Mal alle nackt gesehen und ich bin überzeugt, dass es den anderen genauso ging.“ Zitiert nach Holmig 2008, 114.

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Spitze“ zu erreichen. Dabei bediente sich die K I der „gezielten Regelverletzung“, die sich in einer Vielzahl „einzelner, zufälliger und lokaler Provokationen“ äußerte.14 Ziel dieser Nachstellung war weniger die Wiederholung der Provokation, als die Wiederholung der Handlung selbst. R EENACTMENT

DER

K OMMUNE I

Die „Wiederholung einer Handlung“ wird von Erika Fischer-Lichte beschrieben als „‚re-enactment’ und ‚re-experiencing’ eines Repertoires von Bedeutungen, die bereits gesellschaftliche eingeführt sind.“15 Die Nachstellung der Aktfotografie war eine solche „Wiederholung einer Handlung“, deren Ziel nicht der Versuch einer Provokation oder die Herstellung eines bestimmten Bildes war, sondern das Nacherleben einer bestimmten Bedeutung. Für die Teilnehmer implizierte dies eine persönliche Grenzüberschreitung, die sie am und mit dem eigenen Körper erfuhren. Als Nebenprodukt entstand ein Bild, das dem Projekt eine gewisse Medien- und Publikumsaufmerksamkeit garantierte. Auch die weitere Annäherung an das (tatsächliche) Kommuneleben in den Probenwochen kann als Reenactment verstanden werden, das folgende Aspekte versuchte zu umfassen: […] reenactment is fun. It indulges the twin passions of work and play […] It licenses dressing up, pretending and improvising, casting oneself as the protagonist of one’s own research, and getting others to play along. Of course, it also calls for discomfort 16 and enforced self-growth.

Hierfür mussten allerdings zuerst gewisse „Spielregeln“ etabliert werden, damit trotz der spezifischen Lehrveranstaltungscharakteristika des Projekts ein solches Reenactment überhaupt ermöglicht werden konnten. Für den Probenprozess bedeutete dies die Einführung gemeinsamer Elemente, die den Tagesablauf durch die Kommune strukturierten: Jeden Morgen stand ein einstündiges Warm-Up für alle auf dem Plan. Danach wurden in einer basisdemokratischen Diskussionsrunde der jeweilige Tagesverlauf und das weitere Vorgehen abgesteckt. Das Mittagessen, das eine täglich wechselnde Kochgruppe zubereitete, wurde gemeinsam an einer langen Tafel eingenommen.17 Zwar wurde dann das große Kollektiv in etwas kleineren Spezialistengruppen für Text, Requisite, etc. aufgeteilt, doch die genannten Alltagsrituale etablierten sich als gemeinsame Kernelemente.18 Für drei Wochen wurde jeder Tag ein Tag in der Projektgemeinschaft, auch wenn trotz gelegentlicher gemeinsamer Abendgestaltung doch im eigenen Bett geschlafen wurde. Bereits die so limitierte gemeinsame Zeit wurde als extrem inten14 15 16 17

Bude 2005, 420. Fischer-Lichte 2004, 39. Fischer-Lichte bezieht sich hier auf Judith Butler. Agnew 2004, 327. Zur Bedeutung von gemeinsamen Mahlzeiten als Gruppenritual vgl. Audehm/Zirfas 2001, 54-66. 18 Natürlich fehlten wesentliche Elemente eines „authentischen“ Kommune-Lebens und beinhaltete bereits der Projektcharakter nur die Möglichkeit einer Annäherung.

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siv und privatsphäre-raubend betrachtet, zum Teil auch als „discomfort“ erlebt. Für drei Wochen sollte sich alles um die Kommune drehen. Im Rahmen der Aufführung wird diese Intensität durch einen vorgelesenen „Tagebucheintrag“ folgendermaßen kommentiert: Ein Teil der Teilnehmer versuche, „Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, und zwar oft an so vielen Fronten gleichzeitig, dass sie eigentlich gar kein Privatleben mehr haben.“19 Die gemeinsamen Tagesgestaltung betteten den einzelnen in die Gemeinschaft ein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Für drei Wochen sollte sich alles um die Kommune drehen, was wiederum zum Kernelement der finalen Aufführung wurde. Das Stück reflektiert und führt vor, was in der Probenzeit passierte, denn für 1968 galt nicht, dass sich die Performance sich nur auf den Moment der Aufführung, erstreckte, sie wird nicht vom ersten Zuschauer, der kommt, und vom letzten, der geht, bestimmt, sondern sie umfasst auch, was in der Vor- und Nachbereitung passiert, „the production is part of the performance“.20 Um aus den Kleingruppen eine aktive Gemeinschaft zu bilden, wurde zudem mit Gruppenaktionen gearbeitet, zu denen auch die eingangs erwähnte Demonstration gezählt werden kann. Als kollektive öffentliche Aktionen wurden Protestformen der 68er Bewegung nacherlebt, zugleich die Materialgrundlage für das eigene Projekt gesammelt und an der Gruppenzusammengehörigkeit gearbeitet. E INFACH MAL EIN H APPENING – G EMEINSCHAFTSAKTIONEN Das Leitmotiv der Inszenierung wurde die Darstellung verschiedene Wege der Gemeinschaftsbildung21 durch kollektives Erleben, sei es durch gemeinsame Tai-Chi-Übungen, durch Bewegungs- und Sprechchöre, Gruppendiskussionen, die gemeinsame Suche nach der sexuellen Freiheit durch ein Happening. Letzteres wurde bereits im Probenprozess in der Mainzer Innenstadt veranstaltet.22 Das Happening nimmt eine zentrale Stellung unter den Protestmöglichkeiten der 68er ein und wirkt als Verbindung von „politischem Protest mit einer provokativen öffentlichen Repräsentationsästhetik“.23

19 Dieses und die weiteren Aufführungszitate stammen, ebenso wie die Überschrift des Aufsatzes, aus dem mir vorliegenden Textbuch zu 1968. Ich habe das Projekt als Produktionsleiterin betreut, daher fließen in diesen Aufsatz auch interne Beobachtungen der Probenzeit in die Beschreibung und Analyse mit ein. Textbuch 2008, 26. 20 Kershaw 1992, 22, in Bezug auf und in Ausdehnung der Performance-Definition von Richard Schechner. 21 Die Reflexion über die Gemeinschaftsbildung beschränkt sich im Folgenden auf den Aufbau eines Gruppengefühls unter den Projektteilnehmer. Zur Problematik des Gemeinschafts-Begriffs vgl. Matthias Warstats Aufsatz in diesem Band. 22 Die Happenings wurden, wie auch die Demonstration, in die spätere Aufführung via Video eingebunden. Vgl. z.B. www.youtube.com/watch?v=FrG21HjguE4. 23 Fahlenbrach 2008, 13.

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Volz Sit-ins, Go-ins, Teach-ins, Spaziergangdemos und Happenings verbinden traditionelle Formen öffentlicher Demonstration mit aktionistischen Konzepten der Situationisten. Der Anspruch dieser actions directes ist es, unmittelbar ins öffentliche Geschehen einzugreifen.24

Mit ihren „direkte Aktionen“ im öffentlichen Raum blockierten die 37 Teilnehmenden von 1968 z.B. einen Durchgang in der Mainzer Einkaufsmeile, indem sie sich als Gruppe schlafend auf den Boden legten, ein zur Decke umfunktioniertes Banner mit dem Slogan „Konsum macht müde“ über sich. An anderer Stelle wurde durch Massenbetteln auf Armut hingewiesen, was zu einer erbosten Reaktion einzelner Ladenbesitzer führte. Vor dem Theater wurden einzelne Kommilitonen in einer Auktion zum Schnäppchenpreis angeboten und damit geworben, dass sie trotz Universitätsabschluss auch zu praktischen Arbeiten fähig seien. Und zu guter Letzt wurde eine Ruheoase gebaut und Passanten angeboten, sich dort niederzulassen und mit Ohropax ausgerüstet dem schnellen Treiben für einige Minuten zu entfliehen. Diese Happenings können als kreativer Akt zur Gruppenbildung verstanden werden. Der kollektive Protest spielte alles andere als eine beiläufige Rolle; in seiner Entschiedenheit und in seinem provokativen Gestus beförderte und stabilisierte er die soziale 25 Identität der Herausforderer.

1968 versuchte über den Weg des „kollektiven Protests“ die künstliche Nachbildung einer sozialen Bewegung in Miniatur. Ende der 60er Jahre als „neuartige Technik der Regelverletzung“26 und Mittel der Provokation eingesetzt, war der öffentliche Protest ein Weg, den fehlenden Zugang zu anderen Mitbestimmungsquellen auszugleichen. Wichtig war dabei, Öffentlichkeit und Publikum zu generieren.27 Für das Projekt 1968 stand jedoch nicht die Bildung einer Gegenöffentlichkeit, sondern der Aspekt der Identitätsbildung im Zentrum. Alle vier Aktionen stellten eine Präsenz der Gruppe im öffentlichen Raum dar und dienten der Etablierung eines Gruppengefühls. Gemeinschaft wurde erzeugt über den Weg der Aktion, die „unmittelbar ins öffentliche Geschehen“ eingreift. Statt, wie in herkömmlichen Demonstrationen, in Frontstellung zur angeklagten Umwelt zu gehen, verfolgen die Protestakteure eine Strategie symbolischer Vereinnahmung und besetzen als symbolisch formierte Menge den öffentlichen Raum – und 28 zwar physisch und ideell.

Diese physische Ausdehnung des Kollektivkörpers, der im öffentlichen Raum präsent wird,29 zwingt die Umwelt zur Reaktion – zum Beispiel, indem durch ein Happening der Weg versperrt wird und sich der Passant entschei24 25 26 27 28 29

Fahlenbrach 2008, 13. Rucht 2008, 160. Bude 2005, 420. Rucht 2008, 156. Fahlenbrach 2008, 13. Fahlenbrach 2008, 14.

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den muss, ob er dies umgeht oder sich durch eine Meinungsäußerung zu dieser Aktion positioniert. Die beschriebenen vier Happenings können nur schwer auf einen ideellen Konsens eingeschworen werden; das Feindbild „Konsum“ bildet den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Problematik, sich für solche Aktionen einem konkreten Gegner entgegenzustellen und damit auch ein konkretes Ziel des eigenen Handels zu formulieren, taucht in vielen Varianten auch im Rahmen der Aufführung von 1968 auf. „In a pluralistic society the ‘enemy’ to be attacked is not easy to identify.”30 Bereits für die alternative Theaterszene der 60er und 70er Jahre stellt Baz Kershaw fest, dass klare Aussagen durch eine ideologische Vielfalt der Gegenkultur und die Schwierigkeit, ein Feindbild zu generieren, erschwert werden. Zwar wird im Protest der „Kollektivkörper […] zum Symbol, die Demonstration zur symbolischen Handlung“31, zugleich wird der Kollektivprotest aber auch zu einer Möglichkeiten der Selbsterfahrung: Der einzelne Teilnehmer agiert körperlich aktiv, er denkt mit und fühlt mit. Im kollektiven Handeln wird zugleich „individuelle Entgrenzung“ als auch „individuelle Autonomie“ erfahrbar.32 Direkte Aktionen, Happenings und Straßentheater werden nicht mehr nur als Mittel der politischen Auseinandersetzung oder symbolische Politik betrachtet, sondern als separierende oder gemeinschaftsbildende Praktiken, die im Handlungsvollzug auf Werte verpflichten, und als Aufbrechen von Freiheitsräumen im hic et nunc aufgefasst 33 werden können.

Der Protest, hier in Form des Happenings, wird also zu einer Gemeinschaftserfahrung, über der sich der Einzelne seiner Zugehörigkeit zum Kollektiv vergewissert und sich das Kollektiv als solches etabliert. Nicht in der Abwehrhaltung gegenüber möglicher Kritik, sondern im Vollzug der öffentlichen Handlung bildete sich ein Gruppengefühl. „W ENN

HEUTE

1968

WÄRE …“

Die finale Aufführung von 1968 beschreibt in vielen kleinen Szenen die Suche nach neuen Lebens- und Protestformen, die ihren Ursprung innerhalb der Wohn- und Lebensgemeinschaft nehmen. Das Reenactment des Kommunelebens, wie es in der Probenzeit stattgefunden hat, wird zum Thema der Inszenierung und bildet eine Grundkonstante für die Aufführung, bei der meist alle Mitspielenden zugleich auf der Bühne stehen. Aber nicht nur die Form, auch der Inhalt wird durch die Erlebnisse der Probenzeit geprägt. Die Auseinandersetzung mit der 68er Bewegung findet im Rahmen einer Selbstverortung statt. 68 ist die Blaupause, der sich die Projektteilnehmer zugleich annähern und von der sie sich abzuheben versuchen. Mit einer solchen Selbstverortung beginnt das Stück: Die Protagonisten liegen in einer Schlaf30 Kershaw 1992, 80. Kershaws Untersuchung bezieht sich auf die britische Theaterlandschaft. 31 Fahlenbrach 2008, 14. 32 Fahlenbrach 2008, 14. 33 Klimke/Scharloth 2008, 2.

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position auf der Bühne, im Hintergrund wird ein Video der Demonstration für mehr Desinteresse eingespielt. Nach einigen Minuten verstummt das Video und aus der liegenden Menge erheben sich zwei Frauen. Sie treten an die Rampe, nehmen das Mikrofon in der Hand und beginnen mit einer manifestartigen, im Wechsel vorgetragenen Selbstbeschreibung ihrer Generation. Mit Ideen von Revolte und Revolution haben diese Studentinnen nicht mehr viel gemein. Die Zustandsbeschreibung steht in direkter Beziehung zu Ulrich Enzensbergers Einleitung seines Buches Die Jahre der Kommune I, worin er die Mitglieder der K I u.a. als „Erfinder der Spaßgesellschaft“ und „brave Bürgersöhnchen“ bezeichnet, die die Klotüren ausgehängt hätten.34 Am Ende seiner Beschreibung jedoch steht der Weg durch die Institutionen als Verlust aller Ideale. Für die Protagonistinnen von 1968 gelten andere Vorzeichen: Sie bezeichnen sich als „Spießerkinder“, träumen von der Kleinfamilie und haben keine ökologischen, sondern ökonomische Probleme mit dem Besitz eines Autos. Ihr Fazit richtet sich nicht gegen das, was die „Alt-68er“ heute leben. Im Gegenteil: Das Haus in der Toskana ist für sie nicht Zeichen einer angepassten Spießigkeit, sondern ein unerreichbarer Traum. Was die Studenten damals wollten, gilt in der Gegenwart von 2008 kaum als erstrebenswert oder ist immer noch nicht erreicht. Das Ziel scheint eine neue „Bürgerlichkeit“: „WIR haben die Klotüren wieder eingehängt.“ Nach dieser deutlichen Abgrenzung folgt eine ganz individuelle Suche nach einer Verbindung zur 68er Bewegung: Alle Darsteller erheben sich und fallen sich nacheinander ins Wort. In polyphoner Disharmonie erklingt anschwellend der Satz „Wenn heute 1968 wäre…“, der mit persönlichen Entwürfen vervollständigt wird. Dabei deuten die Aussagen auf eine Selbstverortung hin, die von kollektiven Erinnerungen und von ikonographierten Bildern zehrt. Referiert wird auf das Leben in der Kommune, auf Rudi Dutschke und den Kampf um persönliche, politische und sexuelle Freiheiten, auf Aktionen und Happenings und immer wieder auf das Leben in einer Gemeinschaft und die Übernahme von Verantwortung. Parallel zum Anschwellen dieser Statements verlassen die Protagonisten die Bühne, klettern über Lehnen und Sitzflächen und rücken den Zuschauern zu Leibe. Sie erobern den Zuschauerraum, ermöglichen mit dieser verspielten Annäherung dem Publikum aber auch, das Individuum aus der Masse zu filtern und einzelne Statements aus dem Stimmengewirr zu sondieren. „Hallo, ich heiße Anna.“ Dieser Satz beendet die Szene. ANNA ist als einzige auf der Bühne geblieben. Sie stellt sich vor und erzählt von ihrem Leben, ihren Ängsten und Träumen. Sie berichtet von ihrem Alltag in einer Dreier-WG, den sie gerne als aktiveres Miteinander erleben würde und wünscht sich gemeinsame Kochabende. Sie schildert die Angst vor dem eigenen Ungenügen und ihrem Wunsch nach einer entschleunigten Welt. In ihrem Monolog vermischt sich die Privatperson mit der Darstellerin, denn Anna spielt ANNA. Die Protagonisten behalten in 1968 ihre realen Namen, die Identität des einzelnen wird nicht hinter einer fiktiven verborgen, wenngleich auch niemand auf der Bühne explizit sich selbst spielt. Die Vorstellung einzelner Gruppenmitglieder wird zum retardierenden Moment der Aufführung: Immer wieder wird in der Überleitung zweier Spielszenen ein Blick auf eine individuelle Biografie erlaubt. Die Protagonisten befinden sich in einer 34 Enzensberger 2006, 9

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Dialektik zwischen Ich und Gruppe. Hier gilt: „Das Kollektiv, das so etabliert wird, soll eine die Individualität aller Beteiligten respektierende Gemeinschaft“ bilden.35 ANNA steht für sich und schließt damit nicht aus, zugleich Teil und Repräsentantin der Gruppe zu sein. Im Hinblick auf das erste Gruppenmanifest wird die Radikalität zugunsten einer Sehnsuchtsbeschreibung zurückgenommen. Der Wunsch nach mehr Miteinander wird durch die Erprobung kollektiver Lebensweisen auf der Bühne umgesetzt – der Prolog des Stücks endet mit dem „Einzug der Kommune“. Während ANNA noch spricht, schleppen die anderen Protagonisten bereits lautstark Matratzen und Kisten auf die Bühne, richten sich ein und „werden Kommune“.36

Die Politisierung des Privaten 1968 endet mit einer Gruppenchoreographie zu Bernadette la Hengsts Lied Her mit der Utopie. Das Problem der Annäherung an 68 wird als ein Mangel an politischen Zielvorstellungen interpretiert. Die Utopien, die 1968 aufleuchteten, haben ihre Strahlkraft verloren. Auf ihrem Marsch durch die Institutionen sind sie gebogen, gebrochen oder in ihr Gegenteil ver37 zerrt, ausgehöhlt oder aber veralltäglicht worden.

Im Rahmen der Aufführung wurden mehrere Momente geschaffen, die die Politisierung des Privaten thematisierten. Aber ob es sich um eine Schulung im Maoistische Denken handelt oder um die Gruppensitzung zur Freien Liebe, bei der sich unter Bezug auf Wilhelm Reich übereinander rollende Körper im wenig lustvollen Sex-Talk abmühen, ob mit einem kurzen Reenactment von Paradise Now eine Anknüpfung an die Theatergeschichte und das Living Theatre und damit an eine Tradition der Gemeinschaftsproduktion unternommen wird – alle Versuche sind zum Scheitern verurteilt. Die Ausgangslage des Lebens in einer Wohngemeinschaft, also eine Verbindung zwischen der studentischen Lebenssituation 1968 und 2008, scheint für eine wirkliche Annäherung ungenügend. Es existiert keine studentische Generationenfolge zwischen 1968, 1988 und jetzt 2008. Auch die Studentenrolle steht kaum mehr für eine generationsspezifische Dynamik der jungen Generation, wie sie in Deutschland immer wieder beschworen wur38 de.

Wie ANNA bereits zitiert wurde, ist eine Wohngemeinschaft nicht zugleich eine Lebensgemeinschaft. Für 1968 steht statt der Lebensgemeinschaft die Produktionsgemeinschaft im Vordergrund. Die Gemeinschaftsbildung geht den Weg kollektiver Aktionen und kollektiver Arbeit an einem Kollektivprojekt. Die Aufführung wiederholt in gewissem Sinne Probenprozesse und er35 36 37 38

Gemeinschaftsbegriff von Richard Schechner, zitiert nach Fischer-Lichte 2004, 87. Zitiert nach dem Flyer für 1968. Gilcher-Holtey 2008, 8. Böhnisch/Schröer 2008, 144.

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innert Momente der jüngsten Vergangenheit. Über die Wiederholung bestimmter Bilder und Momente bildet sich Gemeinschaft und vergewissert sich zugleich ihrer selbst. „Identität ist eine Sache des Bewußtseins, d.h. des Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes.“39 Für diesen Prozess wird ein Gegenüber benötigt, eine Gruppe, die einerseits die Identität des Einzelnen bedingt und andererseits das Ergebnis des Zusammenspiels der individuellen Identitäten, aus denen sich die Gruppe erst herausbildet, ist.40 In diesem Sinne bildet der Probenprozess die Voraussetzung der Aufführung von 1968 als Kollektivprojekt, ebenso elementar ist aber auch die jeweilige Selbstbestätigung der Gruppe im Rahmen der einzelnen Aufführungen. Die Wiederholung performativer Akte der 68er Bewegung, vom nachgestellten K I-Foto über Happenings bis hin zum gespielten Zitat von Paradise Now, ermöglicht keinen direkten Zugang zu einer studentisch-revolutionäre Vergangenheit. Es sind weniger die großen Gesten und Entwürfe, die hier eine Auswirkung zeigen, als vielmehr das Leben in der Gemeinschaft. So wird im Stück reflektiert: „Also ich würde sagen, dass Kommune auch politisch ist. Wie willst du denn sonst das System verändern, wenn nicht über deine Lebensform?“ Statt einer offenen Politisierung des Privaten findet eine Privatisierung des Politischen statt. Dass auch dieser Privatisierung durchaus das Potential zur Utopie inhärent bleibt, zeigen die starken Momente der Aufführung: Zu Serge Gainsbourgs und Jane Birkins Hit aus dem Jahr 1969 Je t’aime…moi non plus sieht man die Protagonisten eng umschlugen in Zweiergruppen auf der Bühne tanzen. Die Vertrautheit, die hier ausgestrahlt wird, drängt zum Verdacht, dass zumindest temporär etwas entstanden sein muss, was sich mit Enzensbergers Worten als „Verwandlung der Gruppe in eine zärtliche Kohorte“ beschreiben lässt. 41

Schlussbemerkung Eine Annäherung an die politischen Ziele und Ideale der 68er-Bewegung hat mit dem Selbstversuch 1968 nicht stattgefunden. Formen wurden ausprobiert und verworfen und dieser Prozess zu einem inhaltlichen Fundament der Aufführung, so wurde 1968 zu einem Moment der Reflektion über den durch die performativen Mittel in Gang gesetzten Gruppenbildungsprozess. Zugleich war die Aufführung aber auch ein weiterer Moment des Erlebens dieses Prozesses, womit sich 1968 selbst als performative Aktion zeigte, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend.42 Die Auseinandersetzung der Projektteilnehmer mit der 68er Bewegung war weniger eine tief greifende Beschäftigung mit Inhalten. Stattdessen bildeten Mythen und Zitate eine Basis kollektiver Erinnerung, von deren Bild es sich abzuheben galt. Die temporäre Gemeinschaftsbildung und das konsequenten Erleben und Aushalten gemeinschaftlicher Prozesse wirkte für einen 39 Assmann 1992, 130. 40 Das Individuum ist bei Assmann in zwei Teile gegliedert, die beide kulturell de terminiert werden: in individuelle Identität (Geburt, Dasein, Tod) und personale Identität (soziale Anerkennung). Vgl. Assmann 1992, 131f. 41 Enzensberger 2006, 109. 42 Vgl. hierzu Fischer-Lichte 2004, 27.

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Teil der Projektteilnehmer weit über den Rahmen des Projekts hinaus, so feierte im Sommersemester 2009 die Gruppe Brandsatz an der Mainzer Universität die Premiere ihres ersten Stücks. Die Theatertruppe erarbeitete es sich basisdemokratisch und entwickelte im Kollektiv die Ideen zur Umsetzung – Brandsatz besteht ausschließlich aus Teilnehmern des Szenischen Projekts von 2008.

Literatur Audehm, Kathrin/Jörg Zirfas (2001): Familie als ritueller Lebensraum. In: Wulf, Christoph et al. (Hg.): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaft. Opladen, S. 27-116. Agnew, Vanessa (2004): Introduction: What is reenactment? In: Criticism 46:3, S. 327-339. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Böhnisch, Lothar/Wolfgang Schröer (2008): 1968 – Politische Generation – 1988 – Unpolitische Generation – 2008? In: Baader, Meike Sophie (Hg.): „Seid realistisch, verlangt das Unmöglich“. Wie 1968 die Pädagogik bewegte. Weinheim und Basel, S. 142-152. Bude, Heinz (2005): Achtundsechzig. In: Francois, Etienne/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. München. S. 418-430. Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967-1969. München. Fahlenbrach, Kathrin (2008): Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung im Spannungsfeld von Kultur-Revolution und Medien-Evolution. In: Klimke, Martin/Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kulturund Mediengeschichte der Studentenbewegung. Bonn, S.11-21. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. Gilcher-Holtey, Ingrid (2008): 1968. Eine Zeitreise. Frankfurt a.M. Holmig, Alexander: Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion, Kommune I und die Neudefinition des Politischen. In: Klimke, Martin/Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Bonn, S. 107-118. Kershaw, Baz: (1992) The Politics of Performance. Radical Theatre as Cultural Invention. New York. Klimke, Martin/Joachim Scharloth (2008): Maos Rote Garde? “1968” zwischen Kulturrevolutionärem Anspruch und subversiver Praxis – Eine Einleitung. In Klimke, Martin/Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Bonn, S.1-7. Rammstedt, Otthein (1994): Kommune. In: Fuchs-Heinritz, Werner et al. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. Opladen, S. 347. Rucht, Dieter (2008): Die Ereignisse von 1968 als soziale Bewegung: Methodologische Überlegungen und einige empirische Befunde. In: GilcherHoltey, Ingrid (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos. Frankfurt a.M., S. 153-171.

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II. Der unbewältigte Körper der Geschichte



In der unermesslichen Weite des Universums Über die Stellung des Menschen im Theater Klaus Michael Grübers KLAUS DERMUTZ Die Pilger sind erschöpft, kauern sich an die Mauer des Klosters, murmeln Gebete und hängen ihren Gedanken nach. Ein Begräbniszug zieht vorüber, auf der einfachen Bahre liegt ein Skelett. Die Pilger erheben sich und neigen ihr Haupt. Der Tod bricht plötzlich in das Leben der Pilger ein und errichtet eine Mauer aus Schweigen. Wenn der Leichenzug in der Gasse verschwunden ist, gehen die Gottessucher langsam und nachdenklich in den Hof des Klosters. Der Zar Boris Godunow betritt den Innenraum. Er tut dies mit der Selbstverständlichkeit eines Machthabers, dem seine Untertanen zu Diensten sein müssen. Doch eine kleine Unsicherheit in der Bewegung gibt seinen inneren Zustand preis. Godunow gerät aus dem Gleichgewicht, taumelt leicht, doch schnell fängt er sich wieder und tut so, als wäre nichts geschehen. Godunows Körper ist zur Gänze vergoldet, so ist er vom einfachen Volk in die Ferne entrückt. Godunow herrscht zwar, aber die Erinnerung an die Ermordung des Zarewitsch lässt ihn nicht los. An der Klostermauer ist auf einem Sockel – über dem Haupt von Godunow – ein Engel erschienen, sein Körper ist nackt, einen Flügel hat er zur Seite ausgebreitet, den anderen zur Erde geneigt. Grübers Boris Godunow (Théâtre de la Monnaie, Brüssel, 2006) schloss den verzweifelten und schuldig gewordenen Zaren in ein tiefes Mitleid ein. Diese Inszenierung, die 2008 in einer Überarbeitung am Zürcher Opernhaus zu sehen war, war von jener enormen Verdichtung menschlichen Schicksals und einer gütigen Anteilnahme daran bestimmt, die fast alle Arbeiten von Grüber prägte, jener bewegenden Einfachheit, die aus dem Mitgefühl und der Solidarität kommt. Ganz in diesem Sinne lautete Grübers künstlerisches Credo: Das Theater muss durch die Tränen gehen. Klaus Michael Grüber wird am 04.06.1941 in Neckarelz geboren. Nach dem Studium an der Stuttgarter Schauspielschule gelangt er 1962 auf Empfehlung des Theaterkritikers Siegfried Melchinger ans Piccolo Teatro in Mailand und erhält dort als Assistent von Giorgio Strehler seine Ausbildung zum Regisseur. „Ich habe“, so Grüber in Cordelia Dvoráks 1994 erschienener Monographie Passione teatrale: Giorgio Strehler und das Theater, „das Glück gehabt, am Theater zu einer Zeit anfangen zu können, in der das Theaterhandwerk noch erlernt werden konnte.“ Und weiter: Heutzutage lernt man nichts mehr, man erfindet nur noch. Ich habe auf ganz natürliche Art erfahren, dass im Theater einer ohne den anderen nicht leben kann. Noch heute bin ich davon überzeugt, dass das Theater zu 95 Prozent aus Gesetzen besteht,

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Dermutz die man erlernen, wissen muss. Alles, was ich von diesen Gesetzen weiß, habe ich am Piccolo Teatro gelernt. Wenn man diese Gesetze bricht, brechen will, manchmal brechen muss, ist es notwendig, sie zu kennen. Die fünf Prozent die noch übrig bleiben, verdanke ich dem Vorbild von Giorgio Strehler in seiner Unbedingtheit, seiner Rücksichtslosigkeit, seiner Gefährdung durch sich selbst wie für die anderen, die aber – wie ich es bei Giorgio verstanden habe – immer mit Zuneigung, mit sehr viel Liebe zu tun 1 hat.

Sein Debüt gibt Grüber mit Der Impresario von Smyrna 1967 an den Städtischen Bühnen Freiburg. Bei dem Brecht-Stück Der Prozess der Jeanne d´Arc zu Rouen 1431 führt Grüber als erster Ausländer 1968 am Piccolo Teatro Regie. In Deutschland ist Grübers Arbeit zunächst eng mit dem Intendanten Kurt Hübner verbunden, der den jungen Regisseur nach Bremen einlädt, um den Sturm (1969) zu inszenieren. Aufgrund von Differenzen mit dem Schauspieler entscheidet sich Grüber, selbst den Prospero zu spielen. In Bremen führt Grüber bei Alban Bergs Wozzeck (1971) zum ersten Mal auch in der Oper Regie. Zum Abschluss von Hübners Intendanz inszeniert Grüber mit Bernhard Minetti Das letzte Band (1973). Peter Stein gewinnt Grüber Anfang der 1970er Jahre als Hausregisseur für die Berliner Schaubühne. Nach der Ödön von Horváth-Inszenierung Geschichten aus dem Wiener Wald (1972), in der jede Sentimentalität und Nostalgie vermieden wird, erarbeitet Grüber die Inszenierung von Brechts Im Dickicht der Städte (1973), in der Eduardo Arroyo die Bühne mit Hunderten von alten Schuhen bedeckte. Darauf folgte eine Zusammenarbeit mit den beiden Malern Eduardo Arroyo und Gilles Aillaud für Euripides’ Bakchen (1974). Die Inszenierung fokussiert die destruktiven Kräfte eines dionysischen Lebens. Dionysos (Michael König) ist so sehr in sich versunken, dass er sich auf der Krankenhausliege wie ein Mensch benimmt, der sich nur noch in seiner eigenen Welt bewegt. Grübers Bakchen tragen entscheidend zum internationalen Ruhm der Schaubühne bei. Grüber prägt neben den so unterschiedlichen Ästhetiken von Peter Stein, Luc Bondy und Robert Wilson von 1972 bis zu seiner letzten Schaubühnen-Inszenierung Anfang Februar 1998, Goethes Iphigenie auf Tauris mit einer anarchistischen Angela Winkler in der Titelrolle, über 25 Jahre ganz wesentlich die Geschicke dieser Bühne mit. Die Tschechow-Inszenierung von An der großen Straße (1984) an der Kreuzberger Probebühne der Schaubühne ist einer der Höhepunkte von Grübers 40-jähriger künstlerischer Laufbahn und wird auf vielen Gastspielen hymnisch gefeiert. In Tschechows dramatischer Skizze zeigt Grüber die Menschen auf ihrer irdischen Wanderschaft, einsam, verstört, von einer tiefen Sehnsucht durchdrungen, dass das Leid des Lebens ein Ende haben möge. Seine 1984 an der Comédie Francaise erarbeitete Bérénice-Inszenierung führt zu einer Racine-Renaissance im europäischen Theater. Mit Bernhard Minetti verbindet Grüber nach der ersten Begegnung in Bremen eine enge Beziehung. Minetti spielt 1985 an der Schaubühne die Titelrolle in König Lear, 1987 gibt es in Frankfurt eine zweite Annäherung an Becketts Letztes Band, und 1991 spielt Minetti an der Schaubühne in Maria Zwetajewas Phoenix den Casanova, der im hohen Alter von der Liebe zur 13-jährigen, rotlockigen Franziska (Karoline Eichhorn) ergriffen wird. 1

Dvorák 1994, 64.

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Der Mensch im Theater Grübers

Im Zentrum von Grübers Theater sieht man Menschen, die allein durchs Leben gehen und sich in der unermesslichen Weite des Universums verlieren. Grübers Menschen suchen die Nähe zueinander, müssen jedoch erkennen, dass es eine wirkliche Begegnung nur für Momente gibt. Danach sind sie wieder auf sich selbst zurück geworfen und setzen ihren Weg fort. Grüber begleitet die Menschen auf ihrer Wanderschaft, lässt sie nicht allein. Grübers Protagonisten suchen Gott und hoffen auf Gnade für ihre Sünden. Die lebenslange Wanderschaft war auch das zentrale Themas seines Faust-Salpêtrière, den er 1975 im Pariser Hôpital de la Salpêtrière inszenierte. Grüber erinnerte an diesem Ort der kranken und von der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen, die vom Nervenarzt Charcot behandelt wurden, und rückte das Los von Faust in die Nähe der von einer großen Unruhe durchs Leben getriebenen Menschen. Die Frage einer unerlösten Wanderschaft beschäftigte Grüber auch in seiner zweiten Faust-Inszenierung 1982 an der Berliner Freien Volksbühne. Im Schlussbild brach Faust zu seinem letzten Weg mit einer gefassten inneren Haltung auf. Auf dem Rücken trug Minetti in der Rolle des Faust einen einfachen Rucksack, seine linke Hand umschloss einen langen, knorrigen Wanderstock. Die widersprüchlichen Erfahrungen eines Lebens, das in einer immensen Forscherleistung bestand, gaben Faust die Kraft, den letzten Weg auf Erden in einer zugleich beklemmenden und erlösenden Geradlinigkeit zu Ende zu gehen. Nachdem Faust sich entschieden hatte aufzubrechen, gab es keinen Blick mehr zurück. Grüber galt stets die besondere Wertschätzung der Schauspieler/innen und Regisseure. Für Angela Winkler ist Grüber ein Regisseur, der seine Inszenierungen aus der Stille entwickelte, für Jutta Lampe – sie war seine Marianne, Ophelia und Alkmene – ist Grüber ein großzügiger Mensch, der völlig seiner Intuition vertraute und die Schauspieler/innen liebte. Jeanne Moreau pries Grüber als ihren bedeutendsten Regisseur. Grüber hatte mit Moreau 1986 im Théâtre des Bouffes du Nord Le recit de la servante Zerline erarbeitet und in der Zerline eine Frau gesehen, die der Liebe mit einer unbeirrbaren Radikalität durchs Leben folgt. Für Bruno Ganz hatte Grüber neben vielen anderen Eigenschaften die singuläre Fähigkeit, Inbilder von Lebenssituationen zu erschaffen. Minettis Faust mit dem Wanderstab ist für Ganz ein solches Inbild, in dem das Schicksal des Menschen aufscheint. Das Bild des letzten Aufbruchs, gefasst und klar, zeigt für Ganz die conditio humana. Luc Bondy schrieb einen Hymnus auf Grübers Pirandello-Inszenierung Sechs Personen suchen einen Autor (Freie Volksbühne, 1981) und wandte sich damit gegen das zunächst geringe Interesse des Publikums. Für Peter Stein ist Grüber die wichtigste Begegnung im Theater überhaupt. Peter Zadek fühlt sich in Grübers Inszenierungen in sicheren Händen, Grüber ist für ihn der einzige Regisseur, den er auf Augenhöhe akzeptiert: Er war ein angenehmer Zeitgenosse, eigentlich der einzige Regisseur, der mich interessierte. Er ging ungeheuer frei an die Dinge heran. „Wozzeck“ hat er damals als Operette gemacht, was mich damals besonders interessierte. Ich habe auch solche Sachen gemacht. Seine Inszenierungen hatten immer eine sehr starke atmosphärische Spannung. Ich kann sie nicht beschreiben, aber sie war immer da, ganz egal, wo er arbeitete, ob in der Comédie française oder anderswo. Seine Atmosphäre war immer präsent. Wenn man die mag, ist das sehr gut. Wenn man Langsamkeit gern hat – ich

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Dermutz habe das manchmal sehr gern. Ich mag das flotte Eins-Zwei-Hoppla-Hoppla-Theater überhaupt nicht. Die Langsamkeit war bei Grüber ein großes Plus. Er hat sich mit dem Tempo nie in die Mode verirrt. [...] Ich entwickle mein Vision der Menschen aus den Details, die sie tun. Grüber entwickelt sie aus einer Gesamtvision von der Welt, da spielen Menschen eine Rolle wie Sterne am Himmel. [...] Bei mir ist es eher ein Ameisenhügel [...], am Ende ist immer noch ein Hügel, aber überall liegen die Toten und die Deppen herum. Und es wimmelt von Leben, aber es schwebt nicht von Leben wie 2 bei Grüber.

Grüber ist am Beginn seiner Regielaufbahn auf Maler zugegangen und hat sie fürs Theater gewonnen. So verband Grüber mit Eduardo Arroyo, Gilles Aillaud, Francis Biras, Antonio Recalcati, Titina Maselli eine jahrzehntelange Zusammenarbeit. Gegen Ende seiner Laufbahn nahm er Kontakt zum Maler Anselm Kiefer auf, der für Ödipus in Kolonos (Burgtheater, 2003) und Elektra (Teatro di San Carlo, 2003) die Bühnenbilder und Kostüme entwarf. Grüber hat den Malern grenzenloses Vertrauen geschenkt, er hat ihre Bühnenräume angenommen und seine Regie danach entwickelt. Grüber ließ sich auf die Visionen der Maler ein und gab dadurch seinen Arbeiten die Leichtigkeit und Dichte eines poetischen Realismus. Die Vorstellung, dass Theater sich nur in dafür reservierten Räumen ereignen kann, war Grüber, dem Wanderer zwischen Welten und Spielorten, wesensfremd. Die zentrale Idee der Passage und ihrer Transformation setzte Grüber auch außerhalb der offiziellen Theater um. Für die Winterreise (1977), entstanden nach Textfragmenten von Hölderlins Roman Hyperion, wählte Grüber das Berliner Olympiastadion, das die Nazis bei der Olympiade von 1936 für die Darstellung ihrer Macht benutzt hatten. Rudi (1979), nach dem Roman von Bernard von Brentano, wurde im Hotel Esplanade gezeigt, in unmittelbarer Nähe der Berliner Mauer. Die Uraufführung von Jorge Semprúns Bleiche Mutter, zarte Schwester realisierte Grüber 1995 auf einem Sowjetischen Soldatenfriedhof am Rande von Weimar, und Ödön von Horváths Don Juan kommt aus dem Krieg inszenierte er 2000 mit einer Gruppe von jungen Schauspielern aus Peter Steins Faust am Stadtrand von Hannover an einem Seitenarm der Leine. Grüber hat immer wieder den öffentlichen Raum für seine Theaterarbeit gesucht, um einen Zugang zu den Spuren der Geschichte zu finden. Wie sehr das Eingedenken mit den Orten und Räumen zusammenhängt, hat der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder in seiner Studie Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers (2002) analysiert.3 Ein tiefer Riss geht durch die Menschen, die Grüber auf der einsamen Spur ihres Lebens begleitete. Seine Inszenierungen, die fast alle in enger Zusammenarbeit mit seiner Regie-Mitarbeiterin Ellen Hammer entstanden, sind von der Erfahrung des Scheiterns bestimmt, von Verlust und Verlöschen. Im Untergang scheint freilich ein Gegenbild auf, dass der Tod nicht das Letzte sei. In der Uraufführung von Vladimir Nabokovs Der Pol (Schaubühne, 1996) richtete sich im Schlussbild der gescheiterte Captain Scott (Bruno Ganz) auf und hielt sich an der Zeltstange fest. Der letzte Blick ging über

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Zit. nach Dermutz 2008, 153-157. Vgl. Kreuder 2002.

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Der Mensch im Theater Grübers

eine vom Nordlicht illuminierte Landschaft aus Schnee und Eis. Laut Peter Stein gefallen solche Themen Grüber sehr: Eine weitere grandiose Inszenierung außer den „Bakchen“ war „Bérénice“ an der Comédie française. Der Hyperklassizismus, der in dieser Inszenierung herrschte, das gegenseitig psychisch Fertigmachen auf höchster kaiserlich-königlicher Ebene im antiken Gewand war in einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, dass es plötzlich aufregend wurde und vollkommen übertragbar war für eigene Befindlichkeiten. Das fand ich außerordentlich interessant. Es gab noch eine andere Aufführung, die mir sehr am Herzen liegt, das ist „Empedokles“ gewesen, das fand ich, bei aller Theorie, die in der Sache steckt, bei aller Hyper-Theorie, die wieder Dieter Sturm entwickelt hat, eine Kombination, die absolut hingehauen hat, die Gegenüberstellung des Caspar DavidFriedrich’schen Eisschollengebildes auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein 4 leerer Bahnsteig mit Leuten, die auf einen Zug warten.

Das letzte Bild der letzten Inszenierung: In Ferruccio Busonis Oper Doktor Faust (Opernhaus Zürich, 2006) wurde Thomas Hampsons Abgang in die Tiefe und Finsternis der Bühne durchkreuzt von einem nackten Jüngling, der mit langsamen, andächtigen Schritten von rechts nach links die Bühne überquert und auf den ausgestreckten Armen einen großen grünen Zweig hält. Der junge Mann trägt den Zweig wie ein kostbares Gut. So evozierte Grüber das Bild von Tod und Auferstehung – im sich kreuzenden Abgang von Doktor Faust und im Erscheinen eines nackten, bloßen Menschen.

Literatur Dermutz, Klaus (2008): Klaus Michael Grüber: Passagen und Transformationen. Berlin. Dvorák, Cordelia (1994): Passione teatrale. Giorgio Strehler und das Theater. Berlin. Kreuder, Friedemann (2002): Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers. Berlin.

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Zit. nach Dermutz 2008, 143.

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Der erste Tag von 68 Roman Brodmanns Filmreportage Der Polizeistaatsbesuch vom 2. Juni 1967 KARL N. RENNER Einleitung Kurz vor Fertigstellung dieses Aufsatzes wurde Ende Mai 2008 bekannt, dass der Westberliner Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss, inoffizieller Mitarbeiter der Ostberliner Stasi war. Die öffentliche Diskussion, die diese Information schlagartig ausgelöst hat, belegt einmal mehr die historische Bedeutung des Datums. Dieser Tag bildet die Zäsur zwischen den Wiederaufbaujahren der Adenauerzeit und der demokratischen Aufbruchstimmung unter dem Kanzler Willi Brandt. 2. Juni. Ein Schuss verändert die Republik – dieser Titel einer Gedenksendung, die der NDR 1987 ausstrahlte, fasst die Dimension der damaligen Ereignisse schlagwortartig zusammen.1 An diesem Tag machte der persische Kaiser, Schah Reza Pahlevi, bei seinem Staatsbesuch in Deutschland in West-Berlin Station. Die Berliner Studenten, politisch überaus engagiert, organisierten Anti-Schah-Kundgebungen, die durch Übergriffe einer persischen Schlägergruppe – offensichtlich Mitglieder des iranischen Geheimdienstes – und durch die Inkompetenz der West-Berliner Polizei entsetzlich eskalierten und zu Straßenschlachten entarteten. Dabei wurde bei Einbruch der Nacht der Student Benno Ohnesorg erschossen. Ein Pressefoto zeigt, wie der junge Mann auf den Boden hingestreckt in den Händen einer jungen Frau stirbt.2 Dieses Bild wurde zur Ikone der deutschen Studentenbewegung von 1968. Es ist purer Zufall, dass die Ereignisse dieses Tages nicht allein durch Zeitungsartikel und Fernsehnachrichten dokumentiert sind, sondern dass sie auch zum zentralen Gegenstand eines dokumentarischen Fernsehfilms wurden, der inzwischen zu den Klassikern dieses Genres gehört: Der Polizeistaatsbesuch von Roman Brodmann. Denn zunächst waren für den Film überhaupt keine Aufnahmen in Berlin geplant.3 Der Film sollte den Aufwand für einen Staatsbesuch und – so Brodmann – „die katzbuckelnde Unterwürfigkeit der Gastgeber“4 darstellen. Das ging an einer anderen Besuchsstation, 1 2 3 4

Vgl. Aly 2008, 216. Zur Bedeutung des 2. Juni 1967 als Kommunikationsereignis vgl. Vogel 2002. Zu den Umständen dieser Fotografie vgl. Hoffmann 2007. Zur Entstehungsgeschichte des Films vgl. Hoffmann 1996, 109 ff. Zitiert nach Hoffmann 1996, 109.

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Renner

dem verschlafenen Rothenburg ob der Tauber, viel besser. Erst während der Aufnahmen dort entschloss sich Brodmann, auch in Berlin zu drehen, wo er Zeuge vom Tod Ohnesorgs wurde. Der Film lief am 27. Juli 1967, also knappe acht Wochen nach den dramatischen Vorfällen, in der Sendereihe Zeichen der Zeit in der ARD. Verantwortlich für diese Sendereihe war die Dokumentarabteilung des SDR in Stuttgart. Ihre Redakteure wie Autoren verstanden sich als kritische Journalisten, die eine bewusste Gegenposition zur Wochenschau und zum Kulturfilm einnahmen, zwei Relikten der NS-Zeit, die noch lange nach dem Krieg die Ästhetik und die Darstellungsweise des Filmjournalismus prägten. Die Arbeiten der Stuttgarter Schule, wie diese Gruppe inzwischen bezeichnet wird, lösten immer wieder öffentliche Diskussionen aus und hatten auf die Entwicklung des deutschen Fernsehdokumentarismus einen großen Einfluss.5 Roman Brodmann, der bekannteste Filmemacher der Stuttgarter Schule, wurde 1920 in der Schweiz geboren, wo er als Zeitungs-, Radio- und Fernsehjournalist arbeitete und wegen seines satirischen Stils und seiner kritischen Beiträge weithin bekannt und umstritten war. 1963 ging er nach Deutschland und arbeitete seitdem für Zeichen der Zeit. Brodmann starb 1990. Der Film Der Polizeistaatsbesuch, der ursprünglich nur den Namen Der Staatsbesuch tragen sollte, gilt gemeinhin als ein Dokument der Zeitkritik. Das legt bereits diese Änderung des Titels nahe. So konzentriert sich denn auch die Forschung auf die zahlreichen Ironiesignale in Wort, Ton und Bild. Nicht beachtet wird, dass Brodmann in diesem Film auch ein stringent organisiertes Gefüge semantischer Ordnungsrelationen entwickelt und auf diese Weise mit ästhetischen Mitteln eine Analyse der gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen leistet, die am 2. Juni 1967 zum Ausbruch kamen. Der Film, das ist meine These, dokumentiert den Kollaps einer Gesellschaft, deren Elite die Legitimation ihres gesellschaftlichen Führungsanspruchs verloren hat. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass Brodmann diese Analyse nicht aus historischer Distanz, sondern aus einer zeitgenössischen Perspektive erbringt. Brodmanns Polizeistaatsbesuch ist aber nicht nur ein historisches6, er ist auch ein filmhistorisches Dokument. Er gehört zu den ersten dokumentarischen Produktionen in Deutschland, die von der damals neu entwickelten mobilen 16-mm-Tonfilmtechnik Gebrauch machten. Zwar finden sich im Film nur wenige Passagen, die im Stil des Direct Cinema mit der Living Camera, der bewegten Handkamera, gedreht wurden. Doch Brodmann benutzt die mobilen 16-mm-Kameras, um systematisch Situationen zu beobachten, die man mit den umständlich zu handhabenden Stativkameras nicht erfassen konnte. Damit kann sein Film die Stationen des Staatsbesuchs immer wieder aus einem Blickwinkel zeigen, der sich deutlich vom „offiziellen“ Fernsehbild unterscheidet. Nicht zuletzt deswegen besitzt der Film seine besondere persuasive Qualität. Gattungstheoretisch muss Der Polizeistaatsbesuch als Reportage eingestuft werden. Brodmann erscheint zwar nicht als Reporter im Bild und 5 6

Vgl. Hoffmann 1996 und Ertel 1990. Bezeichnend ist die Aufnahme des Films in die DVD-Kollektion „Deutschlands Schicksalsstunden“, die 2007 von der Wochenzeitung DIE ZEIT herausgegeben wurde.

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Der Polizeistaatsbesuch

auch die Kameraführung entspricht nur in wenigen Passagen dem heute üblichen Reportagestil. Doch der Film ist eindeutig so angelegt, dass er die zentrale Funktion einer Reportage erfüllt, nämlich die Zuschauer „am Geschehen geistig und emotional teilhaben, sie miterleben lassen durch die authentische Erzählung.“7 Um diese perlokutionäre Wirkung zu erfüllen, setzt Brodmann neben der Kameraführung immer wieder auch den Ton gezielt als Gestaltungsmittel ein. Der subjektive Zugang zum Geschehen, ein weiteres Merkmal der Reportage, kommt sehr deutlich in den knappen und ironischen Anmerkungen des Off-Sprechers zum Ausdruck, mit denen Brodmann seine Beobachtungen kommentiert.

Zum methodischen Vorgehen Bei der Wahl meiner Methoden für die Analyse des Films orientiere ich mich an der Differenz von Sinn und Bedeutung. Dabei verstehe ich unter „Sinn“ die Intention der kommunikativen Handlung, die der Autor eines Beitrags mit der Äußerung dieses Beitrags vollzieht, und unter „Bedeutung“ die geordnete Menge alle Propositionen, die sich aus den Aussagen dieses Beitrags ableiten lassen. Sinn und Bedeutung hängen dabei eng zusammen: „Mittels der Bedeutung der Zeichen versucht der Interpret den Sinn ihrer Verwendung zu entschlüsseln.“8 Um diese Unterscheidung am Beispiel von Brodmanns Polizeistaatsbesuch zu verdeutlichen: Der Sinn dieses Films ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staatsbesuch vom Juni 1967, seine Bedeutung ist die geordnete Menge all der Aussagen, die sich aus diesem Film zum Staatsbesuch vom 2. Juni 1967 ableiten lassen. Eine theoretische Begründung für diese Differenzierung liefert die Sprechakttheorie von Searle, die zwischen illokutionären und propositionalen Akten unterscheidet und damit eine Gegenposition zur intentionalen Semantik bezieht.9 Ebenso kann auch die instrumentalistische Zeichentheorie von Keller als Begründung dienen, die das Verhältnis von Sinn und Bedeutung im Rahmen eines semiotischen Ansatzes diskutiert.10 Als interpretationspraktische Konsequenz ergibt sich aus dieser Unterscheidung, dass dem zu untersuchenden Text bzw. Film eine Präferenz gegenüber anderen Selbstzeugnissen des Autors sowie Fremdzeugnissen einzuräumen ist. Dieses Prinzip formuliert bereits die strukturale Textanalyse, die als Regel wissenschaftlicher Interpretationen festhält, dass eine „aus einem ‚Metatext’ erschlossene Intention/Selbstdeutung des Autors eines ‚Textes’ […] die an seinem ‚Text’ nachweisbaren Bedeutungen weder bestätigen noch widerlegen kann.“11 Der Aufsatz entspricht in seinem weiteren Aufbau dieser Unterscheidung von Sinn und Bedeutung. Zunächst stelle ich die rhetorischen Verfahren dar, die Brodmann im Polizeistaatsbesuch zur Umsetzung seiner zeitkritischen Intention verwendet. Danach behandle ich den Gegenstand von Brodmanns 7 8 9 10 11

Haller 1995, 62 Keller 1995, 130 Vgl. Searle 1976, 42 ff. Vgl. Keller 1995, 129 ff. Titzmann 1977, 339

101

Renner

Kritik, die gesellschaftliche Situation von 1967, so wie diese in dem Film erscheint. Hier greife ich zur Analyse auf Lotmans Konzept der semantischen Räume zurück.12 Mit dieser Kombination rhetorischer und semiotischer Analyseverfahren trägt die Untersuchung der Forderung Kellers Rechnung, dass zum Erkennen der Intention einer kommunikativen Handlung immer „auch das Erkennen des Objekts der Intention“ gehört.13

Brodmanns Film als ein Instrument der Zeitkritik Die Untersuchung der rhetorischen Verfahren im Polizeistaatsbesuch kann an die Monographie anschließen, die Frauke Böhm zu Brodmann vorgelegt hat. Da vielen Filmen Brodmanns „eine grundlegende satirische Stoßrichtung zu eigen“ ist, für dokumentarische Filme eher ungewöhnlich, beschäftigt sie sich ausführlich mit den „ästhetischen Verfahren der Ironie und Satire“ und ihrem „zentralen Stellenwert“ in Brodmanns Werk.14 Allerdings ist Böhm einem anderen methodischen Ansatz verpflichtet als dem hier skizzierten. Sie fragt nicht nach der semantischen Organisation der Filme, sondern konzentriert sich auf die Intentionen Brodmanns, also auf den Sinn seiner kommunikativen Handlungen: Im Mittelpunkt der Filmanalysen sollen die kommunikativen Handlungszusammenhänge zwischen Autor und Rezipient stehen. Leitende Fragestellung wird sein: Wie sieht Brodmanns Wirklichkeitskonstruktion unter Berücksichtigung der rezeptionsästhetischen Dimension aus, und welche Wirkungsintentionen haben sich in die Struktur 15 seiner Filme eingeschrieben.

Wie es für diese Herangehensweise charakteristisch ist, setzt sich Böhm intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Polizeistaatsbesuchs auseinander. Diese Befunde behalten auch im Rahmen des hier vertretenen Zugangs ihren Wert, werden jedoch als potentielles kulturelles Wissen – als extratextuelle Annahmen über den Film – nur indirekt in die Filmanalyse miteinbezogen.16 D AS

URSPRÜNGLICHE

K ONZEPT

DES

F ILMS

Nach Vorstellung der Redaktion von Zeichen der Zeit sollte der Film ursprünglich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gepränge damaliger Staatsbesuche liefern. Dass dieses Thema am Beispiel des Schahbesuchs vom 27. Mai bis 4. Juni 1967 abgehandelt wurde, war angeblich den Zufälligkeiten der aktuellen Terminplanung geschuldet. Nichtsdestoweniger bot der Besuch des Schahs die beste Gelegenheit, dieses kritische Konzept zu realisieren. 12 13 14 15 16

Siehe unten, 111. Keller 1995, 130. Böhm 2000, 46. Böhm 2000, 53. Zum Stellenwert des kulturellen Wissens als zusätzliche Prämisse von Textanalysen vgl. Titzmann 1977, 263 ff.

102

Der Polizeistaatsbesuch

Schah Mohammad Reza Pahlavi, der letzte Kaiser von Persien, war nämlich alles andere als ein gewöhnliches Staatsoberhaupt. Er war zum einem ein Star der bundesdeutschen Regenbogenpresse, was seinem Jet-Set-Stil und der Tatsache geschuldet war, dass seine zweite Frau, Soraya, mit der er bis 1958 verheiratet war, eine deutsche Mutter hatte.17 Andererseits war Iran während des Kalten Kriegs ein wichtiger Alliierter des Westens, so dass der Schah hierzulande als ein moderner Staatsmann galt, der ein altes, traditionsverhaftetes Land in die Moderne führen wollte. Außer den iranischen Flüchtlingen in Deutschland sah ihn kaum jemand als den blutigen Diktator, der er wirklich war. Das änderte sich erst nach diesem Staatsbesuch. Auch Brodmanns kritische Pläne, das ist festzuhalten, richteten sich nicht dagegen, dass ein Gewaltherrscher Deutschland besucht und dort wie ein ehrenhafter Staatsmann empfangen wird. Der Gegenstand seiner Kritik sollte ursprünglich das philisterhafte Gebaren der deutschen Gastgeber sein. Im Mittelpunkt sollten weniger die hohen Gäste stehen, als vielmehr „das Drum und Dran, um einen Katalog typischer Begleiterscheinungen dieser aufwendigen Zeremonielle zu entwerfen“18. Dabei entlarvte Brodmann die von Staat und Bevölkerung inszenierten realsatirischen Aspekte der fieberhaften Vorbereitungen und Verschönerungsarbeiten sowie die sich förmlich überschlagende Eilfertigkeit nicht als „schahspezifisch“, sondern als „Zeichen der Zeit“, als ein für jeden Staatsbesuch „typisches“ Ritual.19 I RONIE

ALS

S TILMITTEL

DES

F ILMS

Das rhetorische Mittel, das Brodmann für diese Entlarvung benutzt ist die Ironie. Exemplarisch ist die Darstellung der Ankunft des Schahs auf dem Flughafen Köln-Bonn, wo das Kaiserpaar mit den obligatorischen militärischen Ehren empfangen wird. Zur ironischen Hinterfragung dieses Staatsaktes verwendet Brodmann einen knappen und pointierten OffKommentar und setzt darüber hinaus auch alle anderen filmischen Gestaltungsmittel für diesen Zweck ein: Brodmann platziert die Kamera im Rücken des Ehrenbataillons und tilgt damit die letzte Spur des Glanzvollen und Theatralischen. Das Teleobjektiv erzeugt flache, konturenlose Bilder, in einem zackigen Rhythmus fügt Brodmann extrem fragmentierte Einstellungen aneinander: Hoheitszeichen, Gewehrspitzen, geballte Fäuste, ausgerichtete Mützenränder. […] Als der Schah dann die Gangway herabschreitet, steigert Brodmann seine Inszenierung zu einer furiosen Groteske. Die Salutschüsse, eine passende makabre Kulisse zu diesem gespenstischen Schauspiel, synchronisiert Brodmann mit den Begrüßungsgesten und Huldigungsakten, jeder Handschlag ein Knall, jeder Hofknicks eine Detonation, immer dichter werden Geschützdonner und 20 Verbeugungen.

17 Beim Staatsbesuch 1967 wurde der Schah von Farah Diba, seiner dritten Ehefrau, begleitet. Brodmann spielt aber in seinem Film mehrmals auf die Ehe mit Soraya an. 18 Notiz von Heinz Huber, dem Redaktionsleiters von Zeichen der Zeit, an die Pressestelle vom 19.06.1967. SWR: HA 29/00017. 19 Böhm 2000, 83. 20 Prümm 1996, 43.

103

Renner

Brodmanns Beobachtungen in Berlin, die die zweite Hälfte des Films bilden, sind dagegen deutlich anders gestaltet. Böhm interpretiert dies, gestützt auf Selbstzeugnisse Brodmanns, als eine Änderung seiner ursprünglichen Intentionen, die durch die Vorgänge in Berlin ausgelöst wurde: Den zweiten Teil des Films kennzeichnet ein stilistischer „Bruch“. Während Brodmann in der ersten Hälfte noch ironisch nach dem volkswirtschaftlichen Nutzen pompöser Staatsbesuche fragt und detailliert die öffentliche Verschwendung geißelt sowie den devoten Untertanengeist der Bürger aufdeckt, ändert sich die dokumentarische Perspektive mit den Protesten der Berliner Studenten: Plötzlich ergreift Brodmann Partei, verzichtet auf den ironischen Blick und die kritisch-analytische Distanz. Mit dem studentischen Widerstand gegen den Schahbesuch überrollen die Ereignisse das 21 ursprüngliche Konzept einer glossierenden Betrachtung.

Die Betrachtung des Films ergibt allerdings, dass auch einige Berliner Sequenzen dem Konzept der glossierenden Betrachtung verpflichtet sind, so die Beobachtungen im Pressezentrum und in der Hotelküche. Deutlich anders sind jedoch die Bilder der Demonstrationen und Straßenschlachten. Doch selbst da verzichtet Brodmann nicht auf ironische und sarkastische Bemerkungen wie „Es verstärkt sich der Eindruck, dass die Berliner Polizei ein Freund und Helfer der Studenten nicht sein mag“ (TC 34).22 Ein Verzicht auf das Stilmittel der Ironie lässt sich also anhand des Films nicht nachweisen.

Abb. 1: Distanz, Bebachtungen aus der Ferne mit der Stativkamera Ein klarer Unterschied ist jedoch bei der Kameraführung auszumachen. Die Aufnahmen von den Demonstrationen sind nicht mit einer Stativkamera, sondern mit mehreren Handkameras gedreht. Anders als auf dem Flugplatz beobachten diese Kameras das Geschehen nicht von außen, sondern sind mit21 Böhm 2000, 93. 22 Die Zeitangaben sind ungefähre Werte und beziehen sich auf den Timecode (TC) von Brodmanns Film. Ein Protokoll des Polizeistaatsbesuchs ist unter www.journalistik.unimainz.de/604.php abrufbar.

104

Der Polizeistaatsbesuch

ten drin. Am eindruckvollsten ist das bei den Aufnahmen der „Prügelperser“ zu spüren, die mit ihren Knüppeln die Kameraleute mehrmals nur knapp verfehlen. Unbestreitbar ist, dass Brodmann mit dieser Kameraführung seine krikritisch-analytische Distanz aufgibt. Denn eine Kamera, die an einem Geschehen teilnimmt, ergreift unweigerlich für die Seite Partei, aus deren Position sie dieses Geschehen zeigt.

Abb. 2: Nähe, die Handkamera mitten im Geschehen Nimmt man diese beiden Beobachtungen zusammen, dann ist festzuhalten, dass Brodmann seinen ironischen Blick nicht aufgibt, sondern ihn in einen umfassenden rhetorischen Argumentationszusammenhang einbindet, mit dem er auf die öffentliche Meinung Einfluss nehmen möchte. Damit kommt er einer klassischen Aufgabe des Journalismus nach: ausgehend von einer aktuellen Einschätzung der Fakten einen Beitrag zur Bildung der öffentlichen Meinung zu leisten. Er selbst sagt dazu: […] in Berlin war erkennbar: hier wird’s heiß. Und dann war ganz schnell der Beschluß gefaßt: das Protokoll interessiert mich nur noch ganz zweitrangig, jetzt muß der Film auf zwei Ebenen gestellt werden. Die eine Ebene ist der Schahbesuch, und die andere 23 Ebene ist der Protest dagegen.

23 Brodmann, zitiert nach Hoffmann 1996, 111.

105

Renner 00:00

1. Prolog: Beflaggen der Straßen.

00:44

2. Rothenburg ob der Tauber: Im Hotel Eisenhut a. Üben der Hofknickse b. Der Eisenmann übt die Begrüßungsrede c. Das Schlafzimmer des Schah

04:04

3. Rothenburg ob der Tauber: In der Stadt. a. Die Stadt putzt sich heraus b. Die Polizei bereitet sich auf den Besuch vor. c. Vorbereitungen der Volkstanzgruppe

08:04

4. Flughafen Köln Bonn. a. Aufmarsch des Wachbataillon. b. Ankunft des Schahs.

12:52

5. Köln: Polizisten warten auf den Einsatz.

14:11

6. Köln: Staatsempfang in Schloss Brühl.

18:25

7. Das weitere Programm der Staatsbesuchs a. Köln: Die Kaiserin besucht ein Kunstmuseum. b. Die Polizei bewacht die leere Autobahn. c. Duisburg: Der Schah besucht ein Stahlwerk. d. Die Kaiserin besucht ein Kinderdorf. e. [Berlin: Studenten verteilen Anti-Schah-Tüten.] (gehört inhaltlich zu Block 8 und ist hier dazwischengeschnitten)

f. München: Der Schah in der Oper. 23:56

8. Berlin: Die Nacht vor dem Staatsbesuch. a. Universität: Vollversammlung der Studenten. b. Hotelküche: Die Köche bereiten Spezialitäten vor.

29.37

9. Berlin, innen: Der Morgen vor dem Staatsbesuch. a. Im Pressezentrum. b. Im Einsatzzentrum der Polizei.

30:03

10. Berlin, außen, Tag: Die Ausschreitungen vor dem Schöneberger Rathaus. a. Die Jubelperser. b. Eintreffen des Schahs. c. Die Ausschreitungen der Jubelperser d. Die Polizeiaktion.

37:00

11. Berlin, innen. Der Schah zum Tee beim Bundespräsidenten.

37:16

12. Berlin, außen, Nacht: Die Ausschreitungen vor der Oper. a. Straßenschlacht. b. Der Tod von Benno Ohnesorg. c. Demonstranten verbrennen Zeitungen.

41:11

13. Lübeck, Hamburg: Der Abschluss des Staatsbesuchs. a. Lübeck, St. Marien: Der Schah beim Orgelkonzert. b. Lübeck, Rathaus: Der Abschiedsempfang c. Flughafen Hamburg: Der Abflug des Schahs.

44:03

14. Epilog: Das Aufräumen.

45:12

Ende

Abb. 3: Der Polizeistaatsbesuch – Übersicht über die Film-Sequenzen

106

Der Polizeistaatsbesuch

D IE G LIEDERUNG

DES

F ILMS

Die zeitkritische Argumentation, die Brodmann nun im Polizeistaatsbesuch entwickelt, lässt sich recht klar an der dispositio, an der Gliederung des Films ablesen. (Abb. 3) Fasst man die einzelnen Einstellungen des Polizeistaatsbesuchs anhand räumlicher, zeitlicher und thematischer Kohärenzen zu größeren Einheiten zusammen, dann besteht dieser Film aus 33 Sequenzen, die man wiederum zu 14 Blöcken gruppieren kann (Abb. 4). Misst man die Dauer der einzelnen Sequenzen und ordnet man sie entlang der Wiedergabezeit, so fallen vier Blöcke auf, die als besonders umfangreiche Szenen gestaltet sind. Das sind die Ankunft des Schahs auf dem Flughafen Köln-Bonn, der Staatsempfang in Schloss Brühl sowie die Demonstration und Straßenschlacht in Berlin. Daneben gibt es noch zwei weitere Blöcke, die ähnlich umfangreich, aber nicht strikt szenisch angelegt sind. Das ist die Sequenz über die Vorbereitungen im Hotel Eisenhut in Rothenburg und die Gegenmontage zwischen der Vollversammlung der Berliner Studenten und den Vorbereitungen in der Küche des Berliner Hilton. Rhetorisch gesehen sind diese sechs Blöcke Amplifikationen, die ausgewählte Situationen besonders ausführlich darstellen, um ihre Wirkungen zu steigern.24 Das erlaubt es, sie als Schlüsselsequenzen dieses Films zu betrachten. Das Schema dieser Gliederung macht deutlich, wie Brodmann sein Vorhaben umsetzt, den Film „auf zwei Ebenen“ anzulegen. Die eine Hälfte dieser Amplifikationen dient der Darstellung der offiziellen Seite des Staatsbesuchs, die andere der des Protests dagegen. Die kleineren Sequenzen dienen als Prologe, Übergänge oder als kurze Informationen über das restliche Besuchsprogramm. Man erkennt weiterhin, dass die Gegenstände der jeweiligen Amplifikationen miteinander korrespondieren. Als erstes stellen sie die jeweiligen Besuchsvorbereitungen vor, in Rothenburg übt das Hotelpersonal Hofknickse und in Berlin rufen die Studenten zu Protestveranstaltungen auf. Dann zeigen sie die Ankunft des Schahs, der auf dem Kölner Flughafen mit militärischen Ehren und vor dem Berliner Rathaus von den demonstrierenden Studenten empfangen wird. Schließlich kommen die Gipfelpunkte des Polizeistaatsbesuchs:25 der Empfang in Schloss Brühl mit seinen absurden Sicherheitskontrollen und die Straßenschlacht vor der Berliner Oper mit dem Tod Ohnesorgs. Dieses Schema verdeutlicht, wie Brodmann seinen ironischen Stil in den Aufbau des Films einbindet. Er zeigt zunächst die offiziellen Termine des Staatsbesuchs, die er aus ironisch distanzierter Perspektive darstellt, und zeigt dann aus der Sicht der Protestierenden deren Gegenveranstaltungen. Er verbindet also sein Konzept der glossierenden Beobachtung mit dem Standpunkt, den er bei den Gegenveranstaltungen aufbaut, und entwickelt so eine umfassende Bewertung des gesamten Geschehens. 24 Vgl. Kanzog 2001, 49. 25 Die Einstufung als Gipfelpunkte stützt sich auf explizite Aussagen des OffKommentars. Der Staatsempfang auf Schloss Brühl ist „der gefährlichste Empfang, den es auf Schloss Brühl je gab“ (TC 14:20). Die Straßenschlacht vor der Berliner Oper wird folgendermaßen eingeleitet: „Am Abend geht es wieder in die Oper. Der Polizeistaatsbesuch erreicht seinen Höhepunkt“ (TC 37:16). Zur narrativen Funktion solcher Gipfelpunkte vgl. Renner 1987.

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1

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7a

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b

a 42

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c

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23

7e

24

7f

Time Code

Sequenz

fikation

Block Ampli-

22

7d

Köln, Duisburg, München

Lübeck

18

Abbildung 4: Der Polizeistaatsbesuch – Schema der Gliederung

31

10

35

11

6

Berlin

9

5

Straßenschlacht

8

4

Schloss Brühl Staatsempfang

Berlin Demonstration

7

3c

Ankunft des Schah

Flughafen Köln-Bonn

Rathaus

Rothenburg Stadt

8a / 8b

27

Berlin Hörsaal-Hotelküche

2a - c

1

Hotel

Rothenburg

Renner

Der Polizeistaatsbesuch

D IE P ERSUASIONSSTRATEGIE

DES

F ILMS

Hält man in diesem Schema noch fest, wann Brodmann die medialen Mittel Bild, Ton und Sprache verwendet, dann ist klar zu erkennen, wie seine Persuasionsstrategie dem klassischen Prinzip der Rhetorik folgt, Intellekt und Emotionen der Adressaten gleichermaßen zu erreichen. Denn nach Auffassung der Rhetorik muss ein Redner die intellektuellen und die affektiven Kräfte seiner Zuhörer ansprechen, um ihre Zustimmung für seine Ziele zu gewinnen.26 Dabei beeinflussen die filmischen Mittel Bild und Ton eher die Emotionen und Affekte und die Sprache erreicht eher den Intellekt (Abb. 5). Brodmann setzt in diesem Film auf Bilder und Töne. Er schreibt keine flächendeckenden Texte, sondern stellt weite Abschnitte frei, wo Bilder und Töne ihre affektiven Wirkungen voll entfalten können. Damit sie diesen freien Raum bekommen, verdichtet Brodmann den Off-Kommentar zu einzelnen Blöcken und beschränkt sich ansonsten auf kurze, punktuelle Anmerkungen. Ein zweites sprachliches Mittel, das er benutzt, sind Statements und Interviews, wobei er auch Ausschnitte aus öffentlichen Reden als Statements verwendet, etwa bei der Vollversammlung der Berliner Studenten.27 Wenn man die Verteilung der sprach- und bilddominierten Abschnitte in das Gliederungsschema einträgt, erkennt man recht deutlich, dass zwischen dem Off-Kommentar und den vier Amplifikationen, die szenisch gestaltet sind, eine negative Korrelation besteht. Sie sind konsequent frei gestellt, hier sollen die Bilder wirken. Man soll das gezeigte Geschehen miterleben können, was durch die reportagetypische szenische Gestaltung noch unterstützt wird. Wie die Zuschauerreaktionen belegen, wirkt dies auch heute noch. In den beiden anderen Amplifikationen, die die Besuchsvorbereitungen dokumentieren, dominiert die Sprache. Insbesondere sind dort fast alle Statements des Films konzentriert. Hier stehen die Information der Zuhörer und ihre Überzeugung mit argumentativen Mitteln im Vordergrund. Passend zum Thema „Vorbereitungen“ dienen also beide Abschnitte als Expositionen. Sie stellen den Zuschauern die einzelnen Akteure vor und machen sie mit ihren Vorstellungen und Denkweisen bekannt. Man erlebt die reaktionären Begrüßungsreden der Rothenburger Honoratioren (TC 2 & 7), man lernt die Wichtigtuerei in den Hotels kennen (TC 3 & 27) und man wird von den Berliner Studenten über ihre Kritik und ihre Protestresolutionen informiert (TC 25, 26 & 28). Die Art und Weise wie Brodmann im Polizeistaatsbesuch dieses Zusammenspiel von Sprache und Bild organisiert, macht deutlich, dass er für seine Zeitkritik eine Persuasionsstrategie wählt, die den rhetorischen Regeln einer Anklagerede entspricht. Denn die affektive Wirkung, die er anstrebt, ist das Pathos, die heftige Erregung der Affekte. Das ist jener Leitaffekt, den die

26 Vgl. Göttert 1994, 22 f. 27 Ein deutlicher Indikator für diese Verwendungsweise ist die Kameraführung. Diese Ausschnitte sind in Nahaufnahmen gedreht. Andere Redebeobachtungen wie die Kommandos des Wachbataillons betrachte ich nicht als Statements, da sie in einer anderen Einstellung gedreht sind und sich nicht an die Zuschauer richten.

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10

11

27

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S

29

30

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33

34

35 36

12

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K

13

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K 16

movere

38

K

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42

43

S

probare S

20

K

21

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24

Block Amplifi-

22

K

Time Code

S=Statement

K=Kommentar

Rhet. Mittel

41

19

Lübeck

18

K

concitare

40

17

K

kation

K

docere, movere

Köln, Duisburg, München

schlacht

Berlin Straßen-

14

K

Schloss Brühl Staatsempfang

Abbildung 5: Der Polizeistaatsbesuch – Die dispositio der persuasiven Mittel

31

K

26

9

25

8

K

S

K

7

S

6

S

5

K

concitare - concitare

4

S

docere & probare

3

K

Berlin Demonstration Rathaus

2

1

0

S

Berlin Hörsaal-Hotelküche

S

K

K

movere

docere & probare

Flughafen Köln-Bonn Ankunft des Schah

Rothenburg Stadt

Hotel

Rothenburg

Renner

Der Polizeistaatsbesuch

Rhetorik für das genus iudicale empfiehlt, für die Rede vor Gericht.28 Der Film „betreibt beim Adressaten die Erregung heftiger Affekte, die ihn zu einer spontanen Parteinahme für den vertretenen Standpunkt bewegen (movere) bzw. überrumpeln sollen.“29 Dabei lassen sich beide Verfahren ausmachen, die Pathos erzeugen: das Bewegen (movere) und das Aufpeitschen der Gefühle (concitare). Ersterem kann man die ironisch gestalteten Passagen von der Ankunft des Schahs in Köln-Bonn und vom Staatsempfang in Schloss Brühl zuordnen, letzterem die Aufnahmen der Demonstrationen und Ausschreitungen in Berlin (Abb. 3). Ebenso orientieren sich die rhetorischen Mittel, die für die intellektuelle Überzeugung verwendent werden, an den Anforderungen einer Anklagerede. Sie vermitteln Wissen über Vorgänge und Hintergründe (docere) und beweisen Sachverhalte und Positionen (probare). Dabei lassen sich die Kommentare tendenziell eher dem „docere“ und die Statements eher dem „probare“ zuordnen. Denn die Statements informieren nicht nur über Sachverhalte, sie beweisen auch, welche Positionen die Statementgeber zum berichteten Geschehen einnehmen. In diesem Zusammenhang kommt dem Schlussstatement des Films eine Schlüsselrolle zu, da seine rhetorische Funktion der einer conclusio entspricht, der resümierenden Zusammenfassung der gesamten Argumentation zur endgültigen Überzeugung des Gerichts.30 Brodmann greift hier auf einen Ausschnitt aus der Abschiedsrede des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten zurück, die dieser – zwei Tage nach dem Tod Ohnesorgs – beim Abschluss des Schahbesuchs in Lübeck gehalten hat. Es ist dies die einzige Äußerung von offizieller Seite, die der Film zu den gezeigten Ereignissen enthält: Die Situation des Landes, Euere kaiserliche Majestät, das Sie regieren, und die Situation unseres kleineren und geschichtlich viel jüngeren Landes trägt manche verwandte Züge, wenn man die gewaltigen Anstrengungen bedenkt, die in beiden Ländern im Laufe der letzten Generation geleistet worden sind, um durch eine moderne Wirtschafts- und Sozialordnung die Voraussetzung für eine gesicherte Zukunft zu schaffen. (TC 42 & 43)

Da die Abschiedsrede nur im Ton, aber nicht im Bild aufgezeichnet wurde, legt Brodmann diesen Redeausschnitt als Voice Over über die Bilder des Abschlussempfangs und wiederholt ihn unmittelbar danach zu Bildern vom Abflug des Schahs. Durch diese Wiederholung zwingt Brodmann die Zuschauer dazu, die Aussage des Redners in Frage zu stellen und neu zu interpretieren. Sie sollen sich unter Rückgriff auf die Bilder und Informationen des Films ihr eigenes Urteil bilden, welche „verwandten Züge“ zwischen der Bundesrepublik des Jahres 1967 und dem Regime des Schahs bestehen. Der Film ist, wie es Karl Prümm schreibt, eine „Anklageschrift“ gegen Vorgänge, die „einer Kumpanei zweier Polizeistaaten“ gleichen.31

28 29 30 31

Vgl. Kanzog 2001, 168. Kanzog 2001, 168 Vgl. Kanzog 2001, 49. Prümm 1990, 20.

111

Renner

Der Gegenstand der Kritik Zeigt man auf, wie Brodmann seinen Film als Instrument der Zeitkritik anlegt, dann hat man damit noch nicht die Frage nach dem Gegenstand seiner Kritik beantwortet. Nach Frauke Böhm entlarvt der Film den Provinzialismus und den Untertanengeist der späten Adenauerzeit und „rechnet in erster Linie mit dem Vorgehen der Polizei ab.“32 So zutreffend diese Feststellungen sind, sie lassen offen, welche Züge nach dieser Entlarvung sichtbar werden und warum die aufgedeckten gesellschaftlichen Verhältnisse Brodmanns Kritik herausfordern. Das wird erst greifbar, wenn man nicht nur nach dem Sinn des Films fragt, sondern auch nach seiner Bedeutung, nach seinem propositionalen Gegenstand. Dieser ist die bundesdeutsche Gesellschaft des Jahres 1967, deren Bild Brodmann in seinem Film zeichnet. Brodmanns Bild ist zweifelsohne eine semiotische Konstruktion, die er durch die Auswahl der Motive und ihre rekurrente Verwendung aufbaut. Auch dokumentarische Filme zeigen ja nicht die Wirklichkeit an sich, doch aufgrund der Authentizitäts- und Faktizitätsnormen, denen sie verpflichtet sind, 33 ist ihr Konstruktionsspielraum deutlich eingeschränkt. So stimmen die Bilder, die dokumentarische Filme von der Wirklichkeit zeichnen – mal mehr, mal weniger genau – mit den Strukturen überein, die in der Wirklichkeit anzutreffen sind.34 Daher kann man Brodmanns Film nicht nur als eine Kritik der damaligen Verhältnisse verstehen, sondern ebenso als ihre Analyse. Da diese Analyse jedoch nicht mit wissenschaftlichen Mitteln, sondern mit den ästhetischen Mitteln einer Fernsehreportage ausgeführt wurde, bedarf es einer filmanalytischen Auseinandersetzung mit der semantischen Ordnung dieses Films, um sie zu erfassen und sprachlich transparent zu machen. Ich stütze mich dabei auf das Konzept der semantischen Räume von Jurij M. Lotman. Er betrachtet ein Kunstwerk als „ein endliches Modell der unendlichen Welt.“35 Die Bedeutungsordnungen, die darin entwickelt werden, geben das Weltbild der Gesellschaft wieder, in die ein Text oder ein Film eingebunden ist. Diese Ordnungen lassen sich ausgehend von den topographischen und topologischen Zusammenhängen erfassen, die in einem Text oder einem Film entwickelt werden.36 Damit kann die semiotische Analyse des Polizeistaatsbesuchs an den verschiedenen topographischen Räumen ansetzen und untersuchen, welche semantischen Merkmale für diese Räume von Relevanz sind.

32 Böhm 2000, 84. 33 Vgl. Renner 2007, 233 ff. 34 Zum Verhältnis von Konstruktion und Struktur vgl. Piaget 1973, 15 sowie Keller 1995, 76 f. 35 Lotman 1972, 301. 36 Hierzu liegen zwei weiterführende Ansätze der Überlegungen Lotmans vor: das Konzept der semantischen Räume (vgl. Krah 2006) und der mengentheoretische Ansatz (vgl. Renner 1983).

112

Der Polizeistaatsbesuch

D ER R AUM

DES

S CHAHS

UND DER

R AUM

DER

S TUDENTEN

Wie das Gliederungsschema des Films zeigt, wird seine Organisation durch die Abfolge der topographischen Räume bestimmt, die die Besuchsstationen des Schahs bilden. Aufgrund der rekurrenten Merkmalsverteilungen in den einzelnen topographischen Räumen ergibt sich, dass man sie alle einer Topologie zuordnen kann, die mit zwei komplementären Mengen operiert, die ich als den Raum des Schahs und als den Raum der Studenten bezeichnen möchte. Man begegnet also in dieser Topologie den beiden „Ebenen“ wieder, von denen Brodmann spricht: dem Schahbesuch und dem Protest dagegen. Der Raum des Schahs umfasst die topographischen Räume Rothenburg, Flughafen Köln-Bonn, Schloss Brühl usw. Der Raum der Studenten wird durch den Hörsaal der Berliner Universität und durch die Berliner Straßen mit ihren Demonstranten repräsentiert. Einige topographische Räume in Berlin sind jedoch ebenfalls dem Raum des Schahs zuzuordnen, so die Hotelküche und das Einsatzzentrum der Polizei. Das markanteste semantische Merkmal, das in allen topographischen Räumen anzutreffen ist, ist der Bekleidungscode: Es gilt im Film die Regel, dass im Umfeld des Schahs besondere Kleidung getragen wird. Damit wird die Kleidung zu einem distinktiven Merkmal, ob ein topographischer Raum dem Raum des Schahs zuzuordnen ist oder nicht.

Abb. 6: Der Bekleidungscode im Umfeld des Schahs Dieser Code wird schon mit den ersten Bildern eingeführt. Der Anfangstitel des Films zeigt, wie im Hotel Eisenhut mittelalterlich gekleidete Musikanten aufspielen, was vom Off-Kommentar explizit angesprochen wird: Mit mittelalterlich verkleideten Musikanten und einer historischen Edelschau will die Besitzerin des Hotels Eisenhut in Rothenburg ob der Tauber den Schah von Persien empfangen. (TC 01)

Gleich danach sieht man, wie die Hotelbesitzerin mit dem Personal Hofknickse übt, wobei der Off-Kommentar festhält, dass die Mädchen, wenn es 113

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ernst wird, „natürlich Trachten tragen“ (TC 02). Später wird die Kleidung nur noch selten verbal thematisiert. Doch überall, wo der Schah auftritt, ist festzustellen, dass die Menschen dort besonders gekleidet sind. Die Rothenburger Honoratioren bringen ihre Willkommengrüße in mittelalterlichen Kostümen vor, die Gäste des Staatsempfangs in Schloss Brühl und der Münchener Oper tragen Abendgarderobe, und den Kinderchor, der zu Ehren der Kaiserin auftritt, hat man in Dirndl und Lederhosen gesteckt. Im topologischen Raum der Studenten gilt diese Regel jedoch nicht. Sie tragen ihre normale Alltagskleidung und persiflieren obendrein den Bekleidungscode, indem sie Einkaufstüten mit Schahkarikaturen verkaufen, die „als Masken zu tragen [sind], wenn der Schah und die Schahbanuh das Schöneberger Rathaus und die Berliner Oper besuchen“ (TC 23). Demgegenüber putzen sich in der Welt des Schahs sogar die Städte für seinen Besuch heraus. In Rothenburg wird das „Bahnhöfchen frisch gestrichen“ (TC 05) und in der Duisburger Thyssenhütte sorgt in letzter Minute noch eine „Malerkolonne“ für den „optischen Gesamteindruck“ (TC 20:30). Bereits der Prolog des Films thematisiert das, indem er zeigt, wie Arbeiter der Dekorationsfirma Apfelstet und Hornung, die stets zur Stelle ist, wenn es gilt, „die Staatsräson in Kilometer bunter Tücher auszuflaggen“ (TC 00:20), Fahnenmasten aufstellen.

Abb. 7: Ein Saalordner in Aktion Es ist bemerkenswert, wie Brodmann mit dieser ironischen Bemerkung schon da auf den Zusammenhang zwischen dem Bekleidungscode und der Ausübung staatlicher Aufgaben aufmerksam macht. Dieser Zusammenhang wird von Sequenz zu Sequenz deutlicher. Ob Soldaten, Wachleute oder die allgegenwärtige Polizei: Der Raum des Schahs ist eine Welt der Uniformen. Beim Staatsempfang in Schloss Brühl trägt schließlich auch der Schah die Uniform. Uniformen, das lässt sich für diesem Film als eine weitere Regel formulieren, erlauben es ihren Trägern, anderen Menschen, insbesondere den Nicht-Uniformierten, Befehle und Anweisungen zu geben und zu ihrer Durchsetzung sogar Gewalt anzuwenden. Der Raum des Schahs ist also nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert. 114

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Der Film führt das in aller Breite beim Aufmarsch der militärischen Ehrenformation auf dem Flughafen Köln-Bonn vor, mit zackigen Kommandos und Hakenschlagen, ironisch gebrochen durch die eingeschnittenen Bilder eines maulkorbtragenden Hunds. Wenn dann das Kaiserpaar aus dem Flugzeug steigt, demonstriert das Begrüßungsdefilee mit seinen Verbeugungen und Knicksen, wie dieses Prinzip der Unterordnung auch die Körpersprache bestimmt. Man kann das später immer wieder neu beobachten: die Verbeugungen aller vor dem Schah und die Anweisungen der uniformierten Wachleute und Saalordner, die die Ehrengäste katzbuckelnd zu den Plätzen leiten und zugleich die Fotografen und Kameraleute schikanieren. Sind es einmal nicht die Uniformierten, dann sind es die Ältern, die die Jüngeren kommandieren, wie in Rothenburg beim Einüben der Hofknickse und beim Schäfertanz. Der Raum des Schahs ist also auch ein Raum der Etablierten, die sich angepasst haben und Anpassung verlangen. Im Raum der Studenten haben diese Regeln keine Gültigkeit. Die Studenten spannen im Hörsaal ihre Transparente auf, wann sie es für richtig halten, was den Redner sichtlich überrascht (TC 28). Sie missachten die Lautsprecherdurchsagen der Polizei (TC 39). Und vor allem: Sie protestieren gegen den Schah, anstatt sich vor ihm zu verbeugen. Damit machen sie dann aus den Orten, die der Schah in Berlin besuchen will, Orte des Protests. Das ist der Hintergrund der Auseinandersetzungen, die der Film in seiner zweiten Hälfte dokumentiert. Ordnet man, wie hier skizziert, die verschiedenen semantischen Merkmale diesen beiden topologischen Räumen zu, so ergibt sich für die semantische Ordnung dieses Films folgende Struktur:

Schah besondere Kleidung Uniformen Befehl und Gehorsam Anpassung

Studenten Alltagskleidung zivile Kleidung eigenständiges Handeln

Abb. 8: Die topologische Struktur von Brodmanns Film An einigen Stellen markiert Brodmann den Wechsel vom einen Raum in den anderen mit signifikanten Oberflächenelementen. So blendet er vom Schahbesuch in der Münchener Oper langsam in die Protestversammlung im Berliner Hörsaal über und stellt damit pointiert Einverständnis und Protest 115

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einander gegeneinander. Denn bei dieser Blende wird der Applaus, mit dem das Münchener Publikum den Schah begrüßt, vom Beifall verdrängt, den die Berliner Studenten den Protestappellen ihrer Redner spenden. (TC 23:50). Beim anschließenden Umschnitt ins Berliner Pressezentrum sieht man als letztes Bild der Hörsaalszene ein Transparent mit der Parole „Nieder mit dem Schah“ und als erstes Bild des Pressezentrums einen Verpackungskarton mit der warnenden Aufschrift „Nicht stürzen“ (TC 29:30). In diesem Zusammenhang sind auch Brodmanns bissige Bemerkungen anzuführen, mit denen er das Verhalten der Berliner Polizei vor dem Schöneberger Rathaus kommentiert: Nachdem die Jubelperser einige Minuten in die Menge geprügelt haben, jubeln die Demonstranten. Den nun greift endlich die Polizei ein – es fragt sich nur auf welcher Seite. […] Es verstärkt sich der Eindruck, dass die Berliner Polizei ein Freund und Helfer der Studenten nicht sein mag. Die berittenen Beamten gehen die Demonstranten an und lassen die Prügelperser ungeschoren. (TC 35)

Abb. 9 und 10: Der Umschnitt von der Studentenvollversammlung im Audimax in das offizielle Pressezentrum in Berlin. 116

Der Polizeistaatsbesuch

D IE

HIERARCHISCHE

O RDNUNG

IM

R AUM

DES

S CHAHS

Zwischen den beiden topologischen Räumen bestehen aber nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Unterschiede. Der Raum des Schahs ist hierarchisch strukturiert, mit dem Schah als ranghöchstem Element. Diese hierarchische Struktur steht hinter dem Prinzip von Befehl und Gehorsam und wird auf der Oberfläche des Films mit den unterschiedlichsten Gestaltungsmitteln ausgedrückt. Der Schah, auch wenn er im Film gar nicht so oft zu sehen ist, steht immer im Zentrum des Geschehens. Das gilt für die abgebildeten Aktionen wie für den Aufbau der einzelnen Szenen und Bilder.

Abb. 11: Der Schah im Zentrum des Geschehens. Empfang auf dem Flughafen Paradigmatisch sind der Empfang auf dem Flughafen, der Goldhelm, den der Schah während seines Besuchs in der Thyssenhütte trägt, und seine Vorfahrten und Auftritte mit Polizeikordon und großer Entourage. Diese visuellen Repräsentationen sind keine Erfindungen Brodmanns, das gezeigte Geschehen fand tatsächlich statt. Brodmann hat es nur aufgenommen und zu einem Film montiert. Das demonstriert exemplarisch, wie eng das Bild, das ein dokumentarischer Film von der Wirklichkeit zeichnet, mit dieser Wirklichkeit zusammenhängt. Dennoch wirft die Feststellung, dass der Schah an der Spitze dieser Hierarchie steht, die Frage nach dem empirischen Gehalt dieser filmischen Analyse auf. Es waren nämlich keine persischen, sondern deutsche Polizisten, die 1967 für Recht und Ordnung sorgten. Ihnen konnte der Schah keine verbindlichen Weisungen erteilen. Hier stellt der Film jedoch ausführlich dar, wie das Prinzip von Befehl und Gehorsam auf indirekte Weise wirksam wird. Der Schah muss überhaupt nicht selbst agieren, er wird durch den vorauseilenden Gehorsam der deutschen Seite zur zentralen Figur gemacht.

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Abb. 12: Der Schah im Zentrum des Geschehens. Vorfahrt mit Staatskarosse und Polizeikordon Der Schah gilt den Verantwortlichen in Deutschland als eine „besonders gefährdete Person“, wie der Kommentar gleich drei Mal im Film erwähnt. „Um seine Sicherheit zu gewährleisten, sind in der Bundesrepublik und WestBerlin rund 30.000 Menschen aufgeboten“ (TC 13:30). Jedem einzelnen von ihnen hat man den „amtsdeutschen Satz ins Bewusstsein gehämmert: Der Schah ist eine besonders gefährdete Person“ (TC 06:30). So richten sich wie Eisenspäne im Kraftfeld eines Magneten alle Protagonisten von selbst auf ihn als Zentrum ihres Handels aus. Der Schah besetzt in dieser Welt des Gehorsams und der Anpassung deswegen die zentrale Position, weil er wie ein Katalysator die reaktionären Tendenzen der damaligen Gesellschaft zum Ausdruck und zur Wirkung bringt.

Der Legitimationsverlust der staatstragenden Elite Zugleich zeigt der Film in aller Schärfe die Sinnlosigkeit dieses vorauseilenden Gehorsams. Dieses Verhalten zerstört alles, was es eigentlich schützen sollte. Wie in einem Stationendrama spielt das der Film in jedem topographischen Raum auf neue durch, bis in Berlin dann alles eskaliert. So verbindet er seine Bedeutungsebene mit seiner rhetorischen Struktur. In Rothenburg ob der Tauber werden alle Vorbereitungen, die man im Hotel einstudiert hat „aus Sicherheitsgründen verboten“ (TC 03:50). Das Kammerorchester, das in Schloss Brühl den Staatsempfang begleiten soll, wird so intensiv von der Polizei gefilzt, dass die vorgesehene Probe nicht stattfinden kann und die Musiker ihren Auftritt „in Gegenwart der Gäste“ proben müssen (TC 17). Für den Schahbesuch in Duisburg wird die Autobahn gesperrt, mit kilometerlangen Staus auf der Gegenfahrbahn (TC 21:30),

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Hörsaal-Hotelküche

Studenten / Schah

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Schah

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Rede M.P.

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Time Code

Destruktionen

Topographie

Topologie

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Köln, Duisburg, München

Ohnesorg

Straßenschlacht

Studenten

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Schloss Brühl

Abbildung 13: Die Verbindung von semantischer und rhetorischer Struktur

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Demonstration Rathaus

10

Flughafen Köln-Bonn

Welt der Studenten

Rothenburg Stadt

Topologischer Raum bzw. Welt des Schahs

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und den Wohnungsanliegern an den Besuchsrouten wird geraten, aus den Fenstern keine Blumen zu werfen (TC 04:40). Kein Wunder, dass bei diesem Staatsbesuch „so recht“ keine Stimmung aufkommen will, und Lautsprecherwagen „das Volk am Rhein um etwas Jubel“ bitten müssen (TC 14). Systematisch macht also der Film an allen Stationen des Besuchsprogramms die inneren Widersprüche dieses vorauseilenden Gehorsams deutlich, bis dann bei den Polizeieinsätzen in Berlin alles eskaliert. Denn dieses Denken duldet keine abweichenden Meinungen. Schon im Vorfeld versucht man jeden, der gegen den Schah protestieren könnte, unter polizeiliche Aufsicht zu stellen (vgl. TC 24). Da sich aber die Proteste nicht verhindern lassen, werden sie zunächst mit Duldung der Polizei von den Jubelpersern niedergeknüppelt und dann mit allen Mitteln, die der Polizei zur Verfügung stehen, unterdrückt, bis hin zum Dienstwaffengebrauch. Der Tod Benno Ohnesorgs, im Film nur mit einigen nachrichtenähnlichen Bildern gezeigt und zurückhaltend kommentiert, markiert den Endpunkt dieser Destruktionen (Abb. 13). Diese Polizeiaktionen sind nach der inneren Logik der damaligen Geschehnisse, so wie sie der Film analysiert, keine zufälligen Ereignisse. Sie ergeben sich zwangsläufig aus den Strukturen und den Ordnungsvorstellungen der damaligen staatstragenden Elite, die bei diesem Staatsbesuch sichtbar werden. Bestätigt wird das durch die Abschlussrede des schleswigholsteinischen Ministerpräsidenten. Gehalten zwei Tage nach den Vorfällen in Berlin kann ihre – vom Sprecher vermutlich überhaupt nicht wahrgenommene – Doppeldeutigkeit nur als eine Zustimmung zu den dortigen Polizeiaktionen verstanden werden.

Abb. 14: Der Tod von Benno Ohnesorg. Die etablierte gesellschaftliche Elite hat ihre Legitimation verloren Eine Elite, die die allgemeine gesellschaftliche Zustimmung zu Maßnahmen und Aktionen verlangt, die das Ziel dieser Maßnahmen fortwährend in Frage stellen, zerstört damit aber ihre Legitimation. Das gilt für den Staatsbesuch des Schahs, für den man eine allgemeine Zustimmung einfordert – und dann alles verhindert, mit dem man diese Zustimmung ausdrücken kann. Und das 120

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gilt noch mehr für die Polizeiaktionen in Berlin, wo die Polizei den zunächst friedlichen Demonstranten ihren Schutz verweigert und die dann anschließenden Protestaktionen mit allen Mittel zu unterdrücken sucht.

Schlussbemerkung „Von einem gewissen Punkt an war nichts mehr an diesem Staatsbesuch Folklore, sondern Politik“ sagte Roman Brodmann in Zusammenhang mit seinem Film.37 Wie die aktuelle Diskussion zum Todesschuss von Berlin belegt, gilt dies heute noch. War es die Tat eines „hysterischen Polizisten“38, war es die Tat eines von Ostberlin gesteuerten Agent Provocateur? Die Frage muss hier offen bleiben. Festzuhalten ist aber, dass diese Tat nur deswegen eine solche historische Dimension annehmen konnte, weil sie in einem gesellschaftlichen Umfeld stattfand, dessen Regeln und Ordnungsvorstellungen völlig überholt waren. Das macht Roman Brodmanns Film bis heute deutlich.

Literatur Aly, Götz (2008): Unser Kampf. 1968. Frankfurt a.M. Böhm, Frauke (2000): Zeitkritischer Dokumentarfilm im Spannungsfeld zwischen Fernsehjournalismus und Autorenfilm: Roman Brodmann. Marburg Ertel, Dieter (1990): Anfänge eines sozialkritischen Dokumentarfilms im Fernsehen der fünfziger und sechziger Jahre. In: Heller, Heinz B./Peter Zimmermann (Hg.): Bilderwelten – Weltbilder. Dokumentarfilm und Fernsehen. Marburg, S. 49–67. Göttert, Karl-Heinz (1994): Einführung in die Rhetorik. 2. Auflage. München. Haller, Michael (1995): Die Reportage. München. Hoffmann, Timo (2007): Die Polizisten haben geprügelt wie blöd. Interview mit Friederike Hausmann. In: Süddeutsche Zeitung. 30.05.2007. Hoffmann, Kay (1996): Zeichen der Zeit. Zur Geschichte der Stuttgarter Schule. München. Kanzog, Klaus (2001): Grundkurs Filmrhetorik. München. Keller, Rudi (1995): Zeichentheorie. Zu einer Theorie des semiotischen Wissens. Tübingen. Krah, Hans (2006): Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse. Kiel. Lotman, Jurij M. (1972): Die Struktur literarischer Texte. München. Piaget, Jean (1973): Der Strukturalismus. Olten. Prümm, Karl (1990) Klassizität, die nicht einschüchtert. Der Polizeistaatsbesuch, Film von Roman Brodmann. In: epd/Kirche und Rundfunk 22, S. 19-20.

37 Zitiert nach Böhm 2000, 84. 38 Vgl. Aly 2008, 28.

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Prümm, Karl (1996): Ironie als Signum der Autorenschaft. Die Filme von Roman Brodmann. In: Ertel, Dieter/Peter Zimmermann (Hg.): Strategie der Blicke. Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage. Konstanz, S. 29-49. (Close up 5.) Renner, Karl N. (1983): Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich v. Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München. Renner, Karl N. (1987): Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie: Die Extrempunktregel. In: Bauer, Ludwig/Elfriede Ledig/Michael Schaudig (Hg.): Strategien der Filmanalyse. München, S. 115-130. (Münchner Beiträge zur Filmphilologie 1.) Renner, Karl N. (2005): Der Dokumentarfilm. In: Schleicher, Harald/Alexander Urban (Hg.): Filmemachen im digitalen Zeitalter. Technik – Gestaltung – Kunst. Klassisch und digital. Frankfurt a.M., S. 333-371. Renner, Karl N. (2007): Fernsehjournalismus. Entwurf einer Theorie des kommunikativen Handelns. Konstanz. Searle, John R. (1976): Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge. Titzmann, Michael (1977): Strukturale Textanalyse. München. Vogel, Meike (2002): Der 2. Juni 1967 als Kommunikationsereignis. Fernsehen zwischen Medienritualen und Zeitkritik. In: Bösch, Frank/Norbert Frei (Hg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen, S. 207-241.

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Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt FRIEDEMANN KREUDER Angesichts eines Stückes, das so stark vom Affekt der Trauer überschattet ist wie Hamlet, sei es mir erlaubt, meine Ausführungen mit einer Geschichte zu beginnen, die mein am 20. Juni 2008 in Saarbrücken verstorbener akademischer Lehrer Rudolf Münz mir Ende der 1990er Jahre erzählte, um mir seinen von einer skeptisch-nüchternen Lebenshaltung gesättigten Theaterbegriff nahe zu bringen – sie war Dreh- und Angelpunkt zur Erklärung der von ihm entwickelten historiographischen Methodik des Theatralitätsgefüges, für die er seinerzeit im Fach Theaterwissenschaft längst berühmt war. Die Geschichte geht zurück auf Forschungen der italienischen Theaterwissenschaftlerin Delia Gambelli, in denen sie die Erfindung und Entwicklung der berühmtesten Maske der Commedia dell’Arte bis zu einem ihrer historisch legendären Darsteller verfolgt. Und um eben diesen Darsteller Domenico Giuseppe Biancolelli geht es: Er war seit 1660 der tänzerisch-artistisch brillante Akteur in der Maske des Arlecchino in der Truppe der Comici Italiani des Kardinals Mazarin in Paris, des später in der Theatergeschichte so bezeichneten Ancien Théâtre Italien, und so talentiert, dass er bereits mit zwanzig Jahren als der beste Comico Italiens galt. Gut 28 Jahre lang hält er sich, populär als Arlequin Dominique, auf den französischen Bühnen, dann wird ein unglückseliges Ereignis Ursache seines frühen Todes. Wie die Gebrüder Parfaict als zeitgenössische Chronisten, die die Aufzeichnungen von Thomas Gueulette in ihrer Histoire de l’Ancien Théâtre Italien (1753) veröffentlichen, zu berichten wissen,1 hatte der Tanzmeister Ludwigs des XIV. und Choreograph seiner Ballette, Monsieur de Beauchamp, ein ganz einzigartiges Entrée vor seiner Majestät getanzt, dessen Einfallsreichtum von der gesamten Hofgesellschaft bewundert wurde. Während eines Divertissements, das die Comédiens Italiens an eines ihrer Stücke, das vor dem König aufgeführt wurde, anfügten, machte Dominique, der ein ausgezeichneter Tänzer war, auf unglaublich komische Weise Beauchamps Tanz nach. Der König schien so viel Gefallen an diesem Entrée zu finden, dass Dominique damit weitermachte, solange er nur konnte. Er erhitzte sich dabei aber so sehr, dass er sich einen schweren Katarrh zuzog, der sich zu einer Lungenentzündung auswuchs. Er hatte nämlich keine Möglichkeit nach der Aufführung des besagten Stückes seine Kleidung zu wechseln, weil er seine Darbietung beim Divertissement sofort anschließend ausführen musste. Am dreißigsten Tage irgendeines Monats in einem nicht näher bestimmten Jahre des 17. Jahrhunderts erscheint einem gewissen Charles Cotolendi in Paris nun die Maske des Arlequin aus der Anderwelt, und zwar in der Form, 1

Parfaict, Fr. u. Cl., Histoire de l’Ancien Théâtre Italien, Paris 1753, 58-63 u. 65-68. Vgl. die spannende Aufarbeitung dieses Dokuments in Gambelli 1972, 17-68.

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wie sie der große Schauspieler Domenico Biancolelli zu seinen Lebzeiten verkörperte, um sich darüber zu beschweren, dass sein Freund Cotolendi Unterhaltungen mit Biancolelli veröffentlicht hatte. Arlequin Biancolelli offenbart im anschließenden Zwiegespräch voller Skepsis gegenüber seinem eigenen Tun, dass er nicht selbst angesehen und beliebt gewesen sei, sondern nur durch die Bühne, die für ihn jedoch ein “übler Ort” sei, und durch die Maske. Die andere Welt, in der Domenicos Maske nebst den anderen Masken jetzt weile, sei die bessere Welt, weil ohne Schein, Trug, List und Verstellung. Domenico-Arlequins Kummer sei leichter geworden, weil dort, wo sich die Masken aufhalten, “jeder so erscheint, wie er wirklich ist, ohne seine Gefühle verbergen zu müssen”. Cotolendis Meinung, dass sie dann dort eigentlich Theater von perfekter Schönheit aufführen können müssten, wird überraschend widerlegt: “Ihr Sterblichen, entgegnete Harlequin, die ihr nur den Schein sehen wollt, gebt euch mit Theater zufrieden, aber wir, die wir in der Wahrheit leben, brauchen keine Komödien mehr.” Und Arlequin Dominique berichtet von Begegnungen mit Geistesgrößen seiner Zeit, Corneille z.B. “plaudert mit den Helden seiner Tragödien und die Helden bewundern seinen Geist und danken ihm immer wieder für die großen Gefühle, die er ihnen verliehen hat”. Diese Facta sind in einer der merkwürdigsten Schriften enthalten, die je über Theater geschrieben worden sind, eben in der unter dem Verfasser Charles Cotolendi laufenden Arliquiniana ou les bons mots, les histoires plaisantes et agréables. Recueillies des conversations d’Arlequin aus dem Jahre 1694.2 Für Münz war diese Episode essentiell für das Verständnis der Schlüsselproblematik der Commedia dell’Arte, der schauspielerischen MaskenPraxis mit dem Ziel, gesellschaftliche Masken als außengeleitete Darstellung internalisierter sozialer Rollen von Akteuren des alltäglichen Lebens als solche zu entlarven. Ihre – gesellschaftlich aufgrund ihres despektierlichen Berufsstands ja so nicht gegebene – Autorität zu diesem Akt der Sichtbarmachung der Selbstinszenierung einzelner im Lebenstheater leiteten die Akteure der Commedia von Erfahrungen her, die sie im Aldilà gemacht haben wollen – einer phantastischen, häufig mit den Verkehrungen und Ausschweifungen des Karnevals verbundenen Gegen-, präziser aber noch: parallelen Welt zur wirklichen Welt, häufig die Hölle oder das Totenreich. Diese Erfahrungen sollen ihren Blick auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Alltag in einer Weise befremdet haben, dass sie von nun an gar nicht mehr anders konnten, als dessen üblicher Weise in der Lebensdarstellung der einzelnen kaschierten Brüche augenfällig werden zu lassen. Dass besagte Autorität mit den rein theatralen Mitteln der von den Akteuren der Commedia inszenierten Anderweltreise evident gemacht wurde, gesellschaftlich gesehen also vollkommen hinfällig war, versteht sich von selbst. Es handelte sich eben um eine genuin theatrale Anderwelt, ein Aldilà teatrale als darstellerisches Prinzip zum Zweck des künstlerischen Ausdrucks einer lebensmäßigen Skepsis gegenüber der unvermeidlichen Theaterhaftigkeit von Gesellschaften, aber auch der ef2

Die Geschichte ist inzwischen nachzulesen in Münz 2002, 327-424, v.a. 396f. Münz stützt sich hier auf eine Trouvaille in der Leipziger Magisterarbeit von Anni-Britta Jahn von 2001 (Quellen und Quellenstudien zu Theaterformen in Dresden bis 1800) sowie auf eine Übersetzung und Analysen in der Magisterarbeit Silke Maaßens am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Mainz von1998.

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fektiven gesellschaftlichen Reichweite des schauspielerisch-künstlerischen Metiers. Klaus Michael Grüber, im Gegensatz zu Münz’ Nähe und menschlicher Wärme der unerreichbare künstlerische Vater meiner wissenschaftlichen Arbeit und objet de désir meines ersten Buches, am selben Wochenende wie Münz, am 22. Juni 2008 auf der Belle-Île-en-Mer in der Bretagne gestorben, in der Schule der Commedia durch seine langjährige Regieausbildung bei Giorgio Strehler am Piccolo Teatro di Milano erprobt und durch erste Inszenierungen von Goldoni in Freiburg und Zürich Ende der 1960er Jahre bekannt geworden,3 könnte dieses Prinzip im Sinn gehabt haben, als er bei seiner Inszenierung von Shakespeares Hamlet an der Berliner Schaubühne 1982 den Hamlet-Darsteller Bruno Ganz von einem in völligem Schwarz liegenden Streifen der Vorbühne aus agieren ließ. Im Folgenden möchte ich die Aufführung im Lichte dieser Jahrhunderte alten italienischen Darstellungstradition interpretieren und diese Facette der bisherige Diskussion von Grübers Inszenierung nachträglich hinzufügen. Ich plädiere auf diese Weise für ein Schreiben über Aufführungen aus dem Bewusstsein der Tiefe des historischen Raums zum Zweck der Erforschung der Präsenz des Vergangenen in gegenwärtiger Theaterkunst, von Stephen Greenblatt mit Blick auf Shakespeare treffend als Gegenwärtigkeit von Formen „sozialer Energie“ umschrieben,4 wie sie Rudolf Münz’ Denken über Theater und Klaus Michael Grübers Schaffensprozess gleichermaßen beseelt hat. Als Raum für die Aufführung diente erst- und zugleich letztmalig in der Geschichte der Schaubühne die nackte Beton-Apsis des seinerzeit neu errichteten Mendelsohnbaus am Lehniner Platz, an den das Theater von seiner ersten Spielstätte am Halleschen Ufer hin umgezogen war. Neun Meter hoch, einundzwanzig Meter breit an der Basis, in der Tiefe siebzehn Meter, schien der Raum die Akteure als übermenschlich riesiger, kalter, ferner Ort zu erdrücken.5 Die einzigen Hinzufügungen des Bühnenbildners Gilles Aillaud waren blaue, sternenhimmelartige Lichter in der Gitterrostdecke und ein Renaissance-Ornament in blassen Farben auf dem Bühnenboden, Holbeins Gemälde Die beiden Gesandten (1533) entlehnt (Abb. 1). Es war nie ganz hell in diesem Raum, in das Dämmerlicht wurden immer wieder Lichtbahnen geschnitten, die von links oder rechts einfielen, durch drei übereinander angeordnete rechteckige Einschnitte, die Fenster im Beton, oder es wurden Lichtquadrate gebildet – etwa am linken unteren Zugang, wo als einziges Raum-Requisit ein kleiner Spiegel auf dem Beton hing und wo die familiären Szenen zwischen Polonius und seinen Kindern stattfanden oder am unteren Eingang in der Mitte hinten, der überwiegend dem Königspaar für seine raschen, zeremoniellen Auftritte vorbehalten war, in dessen Rahmen eingefasst es stand, im Gespräch mit Polonius oder Ophelia (Abb. 2).

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Zum Theater Klaus Michael Grübers siehe Carstensen 1988, Banu/Blezinger 1993, Kreuder 2002, Dermutz/Walz 2006 und Dermutz 2008a. Greenblatt 1993, 15. Vgl. hierzu und zum Folgenden Rischbieter 1983, 10-12.

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Abb. 1: Beton-Apsis und Bühnenbild von Gilles Aillaud

Grüber markierte den dunklen Vorderstreifen der so überwiegend durch Lichteinfälle hervorgebrachten Bühnenräumlichkeit als Ort des Kontaktes mit dem Numinosen, als Totenreich, oder besser: als Ort des Todesbewusstseins, von dem aus Hamlets skeptischer Blick auf die kurzfristig ins Licht gerückten Mitglieder der Hofgesellschaft fiel, indem Grüber Hamlets Unterredung mit dem Geist und Gertruds Erzählung über Ophelias Tod hier stattfinden ließ; auch der Totengräber, der Ophelias Grab schaufelt, verrichtete hier seinen Dienst, ließ den Ort so ebenfalls zur szenischen Metapher im Sinne eines Aldilà teatrale werden – bedeutete die Stelle doch einzig im Kontext der Totengräber-Szene die mit dem Tod verbundene Lokalität des Grabes. Die Erkenntnis, dass der Ort vielmehr als Dispositiv für die Bewegungsdynamik eines anderweltlich befremdeten Blicks fungierte, dem sich die Theaterhaftigkeit der Hofgesellschaft entäußerte, stellte sich auch über den gestischen Verweisungsbezug der „Mausefallen“-Szene her: Vor dem Auftritt der Schauspieler vor dem Hof stellten Bedienstete an der Grenze zwischen Apsis und Vorbühne eine Reihe Fackel-Lampen auf, deren lebendiges Licht die Vorgänge dahinter flackernd beleuchtete (Abb. 3). Für diese Szene war außerdem ein Hubpodium in der Mitte hinten um ungefähr vierzig Zentimeter hochgefahren, Hamlet stand am Rand. Ein Bein auf das erhöhte Podium gestützt – auf dem das erwartungsvoll platzierte höfische Publikum später unfreiwillig in die Rolle von Akteuren gerät – kündigte er die Pantomime an, sinn(en)fälliger Ausdruck des Akteurs Bruno Ganz für die Ab-Ständigkeit seiner Figur.

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Abb. 2: Lichteinfall und Bühnenraum Abständigkeit, Wegrücken, Befremden des Blicks, bewusstes Sehen theatraler Vorgänge, auch im Sinne des skeptisch-nüchternen Einschätzens und Zeigens der realen Reichweite des eigenen Metiers, war auch eines der Grundprinzipien von Grübers Theaterarbeit, das er in Verlängerung der Perspektive des Akteurs der Hauptfigur in seiner Berliner Hamlet-Inszenierung um seine eigene Optik als Regisseur besonders offensiv realisierte, indem er neben der nackten Beton-Apsis der Schaubühne als funktionalen Raum zur KunstAusübung auch die Bühnenmaschinerie und Lichttechnik dieses Theaters in langwierigen und/oder effektvollen Prozessen mehr oder weniger offen ausstellte. So ist die Bodenfläche des Mendelsohnbaus in Segmente unterteilt, deren jedes als Hubpodium (ich erwähnte eben den signifikanten Einsatz dieser Bühnentechnik) ausgebildet ist. In der Apsis folgen ihre Formen der Krümmung. Zweimal wurden diese Segment-Podien nun im Laufe der Inszenierung bis zur Höhe der mittleren Türen-Einschnitte hochgefahren: eines ganz rechts, auf dem Hamlet sich mit seiner Mutter unterredet und wo er den sie belauschenden Polonius ersticht; für die Szene am Meer, wo Hamlet Fortinbras’ durchmarschierendes Heer sieht, fuhr dann der ganze an der Apsiswand angrenzende Halbring von Podien hoch.

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Abb. 3: Fackeln und Lampen vor dem Hubpodium in der „Mausefallen“Szene Die mächtigen Scheren, die die Podien hochstemmten, wurden extra beleuchtet, das starke Summen der Elektromotoren, die die Scheren antrieben, war exponierter Bestandteil des Klangraums der Inszenierung. Zweimal wurde auch der metallene Vorhang von oben herabgelassen, der die Apsis von der Vorderbühne trennt. Das erste Mal für das Gespräch Hamlets mit seinem Vater. Der erschien zuerst im vierten, obersten, kleineren Fenster hinten in der Mitte, nur ein Brustbild, Hamlet winkend. Als er dort verschwand, begann der Metallvorhang unter der donnernden Musik von Henri Purcells King Arthur herabzusinken, war noch im Sinken, als der Geist vorn links auf der Vorderbühne erschien. Der Kritiker Benjamin Henrichs erinnert sich an die blitzenden Lichteffekte auf der spiegelnden Rüstung (Abb. 4): Langsam senkt sich der Eiserne Vorhang zwischen Bühne und Zuschauerraum. Aus der Höhe, fällt ein schmaler Scheinwerferstrahl auf die mächtige Wand, sein Licht bricht sich auf ihrer gewellten Oberfläche. Eine heisere, hämmernde Schlachtmusik ertönt. Das Theater bereitet einen magischen Augenblick vor: Auftreten wird ein Gespenst, der Geist von Hamlets Vater. Der Außerirdische kommt nicht mit der Flugmaschine, er entsteigt nicht Nebeldämpfen. Von der Seite schleppt sich ein Schauspieler (Jochen Tovote), eingepanzert in eine schwere Ritterrüstung, langsam auf die Vorderbühne. Erst wenn er seinen Platz vor dem Eisernen Vorhang erreicht hat, verwandelt er sich in eine geisterhafte Erscheinung: funkelnd spiegelt sich das Licht in seiner silberglänzenden Rüstung, tausend Lichter und Schatten fliegen durch das dunkle Theater. Nach seinem glanzvollen Auftritt aber hat das Gespenst wieder einen mühevollen 6 Abgang; auf schweren Beinen, so wie es gekommen war, geht es von der Bühne.

6

Henrichs 1982.

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Abb. 4: Blitzende Lichteffekte auf der spiegelnden Rüstung Solch bewusstes Ausstellen der theatralen Mittel fand nicht zuletzt seine konsequente Entsprechung in einer nahezu ungekürzten Aufführung von Shakespeares Drama, die gut sechs Stunden lang währte und den gesprochenen Text genau wie Bühnenhaus und Maschinerie wie ein Ready-made in eine Gesamtkomposition aus Raum, Bewegung und Klang integrierte. Was als zynisch-selbstreflexive Befriedigung sämtlicher Werktreue- und Vollständigkeitsphantasien des konservativen Publikumssegments anmuten konnte, war allerdings vielmehr Ausdruck von Grübers eigener lebensmäßiger Erschöpfung. Wie sehr er in dieser Hinsicht seine eigene Überforderung als Regisseur durch das väterliche Gesetz der deutschen Bildungstradition im Lichte der Drucksituation der Hauptfigur des Stücks, das er gerade inszenierte, angesichts des vom Vater verordneten Racheaktes reflektierte, geht aus einem Probenbericht des Fortinbras-Darstellers Peter Simonischek hervor, den Grüber auf dessen erster Probe mit einem äußerst ungewöhnlichen, für Grübers Theaterinstinkt jedoch typischen Subtext konfrontierte: Je ne sais plus très bien quand j’ai vu Grüber pour la première fois, mais notre première répétition a eu lieu à Salzbourg. J’y jouais le Tasso et Grüber mettait en scène Hamlet avec Bruno Ganz, Edith Clever, Peter Fitz, Jutta Lampe, Udo Samel. J’avais exprimé le désir de faire partie de la production de Grüber, malgré certains problèmes de tournage durant l’été, car Fortinbras est un personnage qui apparaît tout à la fin de la pièce. Grüber y a consenti, et j’ai rejoint l’équipe trois semaines avant la première. Moidele Bickel m’avait confectionné une armure superbe. J’assistais à la première

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Kreuder répétition en armure de chevalier, une très belle perruque bouclée sur la tête. Et puis, il y eut des difficultés et des problèmes de mise en scène: c’est logique, la pièce est énorme. Une blague géniale d’Udo Samel date d’ailleurs de cette époque: Edith Clever attendait souvent longtemps en coulisses parce que Grüber répétait avec Jutta Lampe. Udo est entré sur scène et a dit: „Bientôt nous pourrons manger, Edith bout déjà.“ A mon tour, j’ai attendu. Pour rien ce jour-là parce que Grüber avait quitté les répétitions vers une heure et demie. Le lendemain, alors qu’il avait déjà pris congé de nous, Grüber, vêtu de son manteau, est réapparu soudain. Il se tenait au-dessus de nous, à l’endroit exact où se trouvait normalement Hamlet durant le défilé. Il m’a dit: „Peter?“ – „Oui.“ – „Peter, tu es génial. Tu es tellement génial. Regarde-moi. Je suis Hamlet, je suis Hamlet, je ne sais rien faire, je …“. Il était dans un état qui me troublait. Je n’ai pas compris ce qu’il voulait de moi. Il disait sans arrêt: „Je suis Hamlet, je suis Hamlet“ et s’agenouillait. Je ne comprenais pas ce qui se passait et je ne connaissais pas assez bien Grüber pour savoir s’il était ivre ou s’il perdait la tête. Entre-temps, j’ai appris que cela ne lui arrive jamais, moi tout au moins ne l’ai jamais vu ainsi. Je pensais: „Pourquoi suis-je génial? Je n’ai pas encore dit un mot. J’ai seulement mis l’armure, alors c’est elle qui est géniale.“ Puis je me suis dit: „Lâche prise, arrête, écoute-le, peut-être veut-il te faire comprendre quelque chose.“ Et brusquement, j’ai senti la détresse de Grüber qui était au-dessus de moi et j’ai compris: je ne sers qu’à paraître genial et à donner mes ordres. Oui, Fortinbras commande ce qu’il y a à faire. Il est pour ainsi dire le crochet pour le monologue d’Hamlet. Grüber n’avait plus besoin de me dire grand chose du personnage. A ce moment, il ne m’avait rien expliqué avec des mots. Grüber n’explique pas théoriquement, c’est ce que j’apprécie le plus chez lui. Il m’a mis tellement en situation que je la ressentais vraiment. J’ai compris: là-haut, il y a un faible, un indécis et Fortinbras apparaît pour lui présenter un miroir: Hamlet devrait s’emparer de la vie par un geste décisif et faire de la politique. Grüber était sur le point de quitter les répétitions pour rentrer chez lui alors qu’il aurait dû continuer à travailler. Il a établi un parallèle entre son état d’épuisement et l’état d’Hamlet dans la pièce à ce moment-là. Il n’arrêtait pas dire: „Tu es tellement génial.“ C’est probablement la pensée d’Hamlet quand il voit Fortinbras. Ce fut une grande expérience pour 7 moi.

Bruno Ganz erinnert sich im Sommer-Heft von Theater heute 2008, das in großen Teilen Grüber gewidmet ist, in einem dort abgedruckten Gespräch mit Klaus Dermutz vom 24. April 2006 in Bochum daran, dass es [i]n den schwersten Phasen seines Alkoholismus bei Hamlet [...] Probendispositionen [gab], wo Klaus vierzehn Tage lang mit Jutta Lampe probierte, wie sie eine Laute halten, spielen und dazu singen sollte. Das waren vierzehn Tage von insgesamt sechs 8 Wochen, und ich spielte Hamlet und kam vierzehn Tage nicht dran.

Ganz hatte 1988, fünf Jahre nach der Produktion, gegenüber Uwe B. Carstensen von Grübers konsequenter Verweigerung der Inszenierung einer wie auch immer gearteten Interpretation und einer dahingehenden Strichfassung berichtet:

7 8

Banu/Blezinger 1993, 95f. Dermutz 2008b, 39 (Bruno Ganz im Gespräch mit Klaus Dermutz).

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Hamlet und die andere Welt Da war der Raum in seiner Brutalität mit dreißig Metern Beton ringsherum, und die streng zeitgenössischen Kostüme gingen gegen diesen Beton an. Zur Begründung der vollen Textlänge – ich habe keine Veranlassung, daran herumzumäkeln – sagte er: „Ein Strich ist eine Entscheidung im Sinne einer Interpretation! Wenn ich etwas herausnehme, dann habe ich bestimmte Facetten des Stückes herausoperiert. Und das ist ein interpretatorischer Eingriff. Ich bin nicht in der Lage und willens, an diesem Stück irgendetwas zu interpretieren, weil ich da schlicht überfordert bin, also konsequenterweise kann ich keinen Strich machen!“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Das leuchtet mir völlig ein. Mir gefällt diese Haltung. Man kann aus praktischen Gründen sehr viel dagegen vorbringen, man kann sagen, es würde gar kein Theater mehr geben, wenn man sich – gerade bei Shakespeare-Stücken – so verhielte. Man hätte auch ans Publikum zu denken. Das ist mir alles plausibel, aber es ist für mich ein sekundärer Standpunkt. Ich finde es wunderbar, wenn es Leute gibt, die solche klaren, saube9 ren Haltungen einnehmen.

Wie in dieser Äußerung Bruno Ganz’ bereits angedeutet, fand Grübers ästhetische Entscheidung zum gegenüber dem eigenen Metier skeptisch-nüchtern distanzierten Ausstellen der Theatermittel inklusive des Textes in nahezu voller Länge und zu deren Integration in eine bewegungs- und klangräumliche Gesamtkomposition ihre Vollendung in hochartifiziellen Kostümen aus der Entstehungszeit des Stückes, aus der feinsten höfischen Sphäre der Renaissance, angeregt von den Bildern Holbeins und Cranachs. Das Königspaar goldstrotzend, Polonius wie ein Hofgelehrter, die Höflinge in kurzen, gepumpten Kniehosen. Nur Hamlet wich ab, er trat in schmucklosem Schwarz auf. Als sein Darsteller Bruno Ganz an der Rampe, völlig im Dunkeln, den berühmten „Sein oder Nicht-Sein“-Monolog sprach, so Benjamin Henrichs, bewegte er sich an der Grenze zwischen Licht und Nacht, Sein und Nichtsein, Theater und Nicht-mehr-Theater – wie die Aufführung selber: „Die Aufführung wagt sich vor bis in die äußersten Grenzbezirke des Theaters, doch erreicht dabei auch die Grenzen ihrer Kraft; gerät zuletzt in einen Zustand fast auswegloser Erschöpfung.“10 Grüber hatte Hamlet offenbar aus der aus dem Todesbewusstsein der Hauptfigur resultierenden Perspektive inszeniert, auch Hamlets damit zusammenhängende Skepsis gegenüber allem Theatralen, seinen Drang nach dem Offenlegen der Mittel zur theatralen Vortäuschung und zum Entlarven gesellschaftlicher Maskerade in weiterer Verlängerung der Optik der Hauptfigur zur Maßgabe seiner ästhetischen Entscheidungen gemacht, Hamlets Überforderung durch und Erschöpfung an dieser Aufgabe wie eine Lichtbrechung an der Optik seiner eigenen Biographie reflektiert und offenbar, durch die Art seiner bewegungs- und klang-räumlichen Komposition in der Inszenierung, auch verstanden, diese für die Zuschauer miterlebbar zu machen – Aldilà teatrale à la Grüber. In dieser Erschöpfung an und im Material des berühmten ShakespeareDramas brach sich in der Biografie Grübers wie in einem Prisma die Erschöpfung einer ganzen Generation von Theaterkünstlern. Für Grüber war die Inszenierung des Hamlet 1982 eine wesentliche Station seiner Rückkehr auf 9 Carstensen 1988, 99f. 10 Henrichs 1982.

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die Bühne eines funktionalen Theatergebäudes. Wie für viele Vertreter seiner Generation waren zu Beginn seiner Karriere Ende der 1960er Jahre die konventionellen Staatstheaterbauten, die den Zweiten Weltkrieg überdauert hatten, als bürgerliche Bildungsstätten der Vatergeneration kontaminiert von deren Kultur des Beschweigens der latenten Kontinuität nazistischer Traumata in der deutschen Gesellschaft, die zu einem wesentlichen Teil das Lebensgefühl eines Unbehagens der Jungen ausmachte, gerade auch gegenüber dem Theaterbetrieb, der mit Intendanten wie Gustaf Gründgens, Jürgen Fehling oder Karl-Heinz Stroux Künstler mit verdächtiger Biografie inthronisierte. Schon die Gründung der Berliner Schaubühne in einem ehemaligen Feuersozietätsgebäude 1970 zeugt von einem solchen prekären Verhältnis zu den „väterlichen Häusern“ der amtierenden Intendantengeneration; für seine legendären Schaubühnen-Inszenierungen der 1970er Jahre war Grüber jedoch selbst dieser neu gegründete, historisch unvorbelastete und nicht zuletzt mit seiner unkonventionellen Nebenspielstätte in einem ehemaligen Berliner Kinosaal in der Cuvrystrasse in vieler Hinsicht innovative Theaterbau zu eng geworden für die Verwirklichung seiner szenischen Phantasie. So hatte Grüber in einigen winterkalten Nächten zwischen dem 1. und 13. Dezember 1977 mit dem Ensemble der Schaubühne eine Performance mit dem Titel Winterreise im Berliner Olympiastadion von 1936 aufgeführt; Textfragmente aus Hölderlins Briefroman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1799) verklangen, von den Schauspielern geschrieen oder über Stadionlautsprecher in das riesige graue Betonoval übertragen, in dem monumentalen Raum. Bildkünstlerische Überschreibungen des kooperierenden Malers Antonio Recalcati evozierten assoziative Verkettungen der Bundesrepublik der späten Siebziger mit dem totalitären Nazi-Deutschland und anderen zeitgenössischen Unterdrücker-Staaten. Eine Dramaturgie der Schichtung auf Text- wie auch Inszenierungsebene löste jegliche lineare, logisch-kausale Darstellung mittels einander überlagernder, sich aufschichtender Erinnerungsbilder auf. Nach einem Prinzip der „Reihung“ entchronologisierten Gedanken-Materials strukturierten Grüber und Recalcati die Inszenierung der „Geschichte(n)“ um Hyperion nach dem Modell eines undurchschaubaren „Ge-Schichtes“ – die Inszenierung wurde so zu einem alternativen Medium der rezeptiven Gedächtnis-Inszenierung, die Einsicht in die Unübersichtlichkeit und Viel-Schichtigkeit des Vergangenen förderte. Zwei Jahre später, 1979, richteten Grüber und Recalcati in den Ruinen des alten Berliner Hotels Esplanade am Potsdamer Platz eine Installation ein, die unter dem Titel Rudi eine der Berliner Novellen Bernard von Brentanos aus dem Jahre 1934 thematisch werden ließ. Das Hotel, welches damals im Westsektor der Stadt gelegen und vom Potsdamer Platz durch die Mauer abgeschnitten war, diente zugleich als Darstell- und Zuschauraum. Die Zuschauer konnten verschiedene Einzelinstallationen durchlaufen, die für sie an der Fassade und in den verschiedenen Sälen des Hotels vorbereitet waren, oder für sich allein in irgendeinem der Räume stehend oder sitzend innehalten und einem Darsteller zuhören (Paul Burian), der in einem entlegenen Raum mit monotoner Stimme vereinzelte Fragmente aus Brentanos Novelle vorlas. Diese Textfragmente wurden über Lautsprecher zeitversetzt in die verschiedenen Säle übertragen. Beide Aufführungen, Winterreise und Rudi, hegten an hinsichtlich ihrer historischen Belastung offen ausgestellten Orten historisch spannungsgeladenes Material zu revolutionären Bewegungen des 132

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18. Jahrhunderts und der Weimarer Republik ein und konnten schon allein aufgrund ihrer eigensinnigen fragmentarischen Gestalt als Orte eines möglichen, instabilen Gedächtnisses heftige Debatten evozieren. Nach einer Pause von zwei Jahren nach der Installation Rudi kehrte Grüber nach Inszenierungen von Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor (1981) und Faust (1982) an Kurt Hübners Freier Volksbühne mit einem ebenso geschichtsträchtigen Stoff an die inzwischen an den Lehniner Platz umgezogene Berliner Schaubühne und – wie auch in den beiden Inszenierungen zuvor – in einen funktionalen Bühnenraum zurück. Und nun dies! Die Schauspieler rezitierten Shakespeares Text in der romantischen Übertragung Schlegels, durchmischt mit Wendungen aus der Prosa-Übersetzung des SchlegelVorgängers Eschenburg, in nahezu voller Länge. Der Kritiker Arthur Holmberg assoziierte ihren fast zeremoniellen Vortragston mit purem Manierismus: To emphasize the artificiality and hypocrisy of the court, Grüber exaggerated vocal patterns and movements to a brittle mannerism. Ophelia, usually bent over a lute at right angles, whined in a Pierrot Lunaire Sprechstimme. Edith Clever’s Gertrude became the ultimate hieroglyph of power. Her rich gowns, heavy jewels, and stiff poses came straight from the brush of Hans Holbein. Elegant, distant, impassive, she spoke with a stilted Prussian accent and resumed in her own person everything that was 11 beautiful and rotten in Denmark.

Die kulturhistorischen und politischen Fluchtlinien der Ästhetik von Grübers Inszenierung bedenkend verwies Andreas Höfele die Aufführung nachträglich sicher mit einiger Berechtigung in die Sackgasse eines im deutschen Regietheater um sich greifenden Postmodernismus. Indem er sich in der Frühjahrsausgabe von Shakespeare Quarterly 1992 zugleich von Fehldeutungen der Inszenierung als Rückkehr zu einer lang vergessenen Reverenz gegenüber der Integrität und Entität des literarischen Kunstwerks des Autors oder auch als ästhetisches Pendant zur neo-konservativen Tendenz der neuen christdemokratischen Regierung dezidiert absetzte, führte er die Spielweise der Aufführung auf ein geistes- und mentalitätsgeschichtlich bedingtes Erlahmen einer unwiederbringlich verlorenen Tradition zurück: For in spite of the fact that Grüber had his actors speak the whole uncut Shakespeare text in the traditional Schlegel/Tieck translation – thereby blowing up the performance to an unprecedented six hours – the result was not a return to the familiar but something quite different, something like a slow-motion replay of the splendors of a tradition now irrevocably lost. Grüber celebrated Hamlet as in a museum. Everything was steeped in beauty and sadness. Bruno Ganz as Hamlet wore a doublet that another famous Hamlet had worn onstage before him: Joseph Kainz, the late nineteenthcentury virtuoso, mad King Ludwig’s favourite actor. His movements and gestures, like those of the other actors, were exquisitely graceful. Many a precious pose put he audience in mind of medieval or Renaissance paintings, or of eighteenth- and nine12 teenth-century Hamlet illustrations.

11 Holmberg 1983, 51. 12 Höfele 1992, 82.

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Diese Tendenz zur Erschöpfung im historischen Material, evident in dessen musealem Ausstellen unter bewusster Verweigerung des im deutschen Theater der Vorjahre gängigen dialektischen Zugriffs, korrespondierte – wie Höfeles Aufsatz weiter transparent entwickelt – einer Dramaturgie der Ausdünnung der dramatischen Spannungen Shakespeares bis hin zum degrée zéro völliger De-Dramatisierung,13 die ganz unter den Vorzeichen der Hoffnungslosigkeit der Realitätseinschätzung einer ganzen Künstler-Intellektuellengeneration stand: Life itself had fled before the play even started. The actors moved and spoke their lines with a peculiar, sometimes almost trance-like lack of expression – undead rather than alive, not like actors but (as one critic put it) more like archeologists „cautiously holding the text like some precious find up to the light.“ Revenge, love, ambition – none of these motives seemed to stir up much energy in characters who appeared to be united in morning rather than divided by enmity. Hamlet and Ophelia, Gertrude and Claudius moved solemnly through the whole length of the tragedy, detached from its vital impulses. The audience too was kept at a distance from a play bound up like no other (except, perhaps, Goethe’s Faust) with two centuries of German soul14 searching – a play steeped in history, a play, one might even say, that is history.

Höfele ordnete solchen indifferenten Umgang mit dem geschichtlich hochaufgeladenen Material schließlich einer neuen Bewegung im deutschen Theater zu, die er, John Barth weiter denkend, äußerst treffend als „theater of exhaustion“15 bezeichnete. Nun ist es keinesfalls strittig, die von Grüber inspirierten schauspielerischen Verfahren zum Ausdruck von Abständigkeit bei der Repräsentation des Vergangenen auf ein prekäres Verhältnis zu jeder geschichtsphilosophischen Hoffnung am Ende der Großen Erzählungen zu beziehen. Dem zeitgenössischen Intellektuellenbewusstsein von der Posthistoire wendete sich jede Geschichte – dem Zeitgeist als lebendige, in die Gegenwart hineinreichende Tradition schlicht nicht mehr länger vorstellbar – in eine nicht mehr zu „schulternde“ Bürde. Gemäß der Shakespeare-Rezeption seit dem 18. Jahrhundert brach sich das Konzept einer Fortschrittsgeschichte – das Shakespeares Text genuin sicher nicht geschuldet ist – gleichsam prismatisch in der Geschichte um Hamlet, ihren Intrigen und dramatischen Vorgängen, die Grüber mit Hilfe aller gegeben theatralen Mittel von Spielweise der Akteure und räumlichem Arrangement in der Aufführung als dialektisch sinnerschöpfte Gesten im Rahmen einer offen gelegten Mechanik in wirklichkeitsfremder Schönheit erstarrter Abläufe ausstellte. Grüber übersetzte damit in theatrale Situationen und Haltungen, was bereits Arnold Gehlen aus anthropologischer Optik als Weltanschauung beschrieb, für die die Ideengeschichte an ein Ende gekommen sei und alle Möglichkeiten genuiner Veränderung erschöpft sind, weil die industrielle Zivilisation sich in einen puren Mechanismus verwandelt hat, der sich unaufhörlich selbst reproduziert, ohne jede 13 Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmanns historisierende Einordnung der Grüberschen Theaterkunst ins Paradigma des postdramatischen Theaters in Lehmann 1999, 125. 14 Höfele 1992, 82. 15 Siehe hierzu Höfele 1992, 82, sowie Barth 1967, 29-34.

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Chance, aus dem Zirkel der Wiederholung auszubrechen. In einem Aufsatz, der im Titel die Frage „Ende der Geschichte?“ trägt, bezog sich Gehlen in diesem Zusammenhang auf den 1877 verstorbenen französischen Mathematiker und Volkswirtschaftler Cournot: Dieser lehrte einen Endzustand, in dem die Geschichte sozusagen stillsteht, da sie angesichts des regelmäßigen Funktionierens der Räder der Verwaltung und der Industrie nur noch störende Wirkung habe. Der dann eintretende zukünftige soziale Zustand der Weltverwaltung, die mit ihren Störungen selbst fertig wird, dieser Zustand sei prinzipiell nicht zum Tode verurteilt, man könne ihn sich in beliebig erstreckten Zeiträumen vorstellen. [...] So viele Reiche sind gestorben, die sich ewig glaubten, der Strom der Geschichte hat sie verschlungen, aber nach dem Ende der Geschichte kann 16 ja dann jene Unaufhörlichkeit eintreten.

Grübers distanzierende Inszenierungsverfahren mochten aber auch – und dies ist meine These, die ich als Nachtrag der hier dargestellten früheren Diskussion der Aufführung hinzufügen möchte – jene Lebensperspektive für die Zuschauer nach- und miterlebbar machen, in der „das ausgelöschte Jenseits [...] dem schlecht Entzauberten einzig Kälte herüber [schickt], [...] seinen Abstand vom Realen, sinnvoll zu Realisierenden auch noch kosmisch [verstärkt].“17 Ernst Bloch schreibt in Das Prinzip Hoffnung diese Mentalität dem neumittelalterlichen Menschen des Manierismus zu, bei dem sich „keine Befreiung durch den in der bürgerlichen Ratio keimenden Materialismus, sondern umgekehrt ein religiöses Entsetzen vor der eigenen Irreligion“18 zeige. Bloch assoziiert mit einer solchen Welthaltung die beständige Kopräsenz des „Todeserlebniss[es] dicht neben dem Leben“19, die zu einer „Übertreibung des Bewußtseins-Abstands“ führe, die er anhand des für sie prototypischen dramatischen Charakters des Shakespeareschen Hamlet erklärt: So aber lebt die Angst immer neu, überhaupt nicht da sein zu können. Die äußere Not reicht dafür mehr als aus, feinere Sorgen des Bestehens wirken auf sie als Hohn. Nicht aber gründlichere, diese bleiben im schattenhaften Leben selber und auf lange begründet. Menschen dieser Art kommen, obwohl durchdringend eigen und eigentümlich, aus dem Schatten des Nicht-Da gar nicht heraus. Ihre Unruhe ist keine ausfahrende, sondern eine zerstreute, handlungslose. Hamlet gibt dafür das gedichtete Beispiel, er ist, obwohl durchaus Wille, allen Ausfahrenden die innerliche Gegenerscheinung. Der Wille, seinen Mann und sein Jetzt zu stellen, bleibt hier verschlossen, das Gewissen treibt ihn zur Handlung, das einsame Grübeln verhindert sie. Er ist so sehr sein eigener Gefangener, daß auch der Auftrag der Rache, sofern er mit einer Tat verknüpft ist, die Abstands-Existenz nicht durchbricht. Hamlet ist überfüllt mit Bewusstsein im Sinne eines Abstands, eines Mediums, das weder zu sich noch zu den Dingen 20 kommen lässt.

16 17 18 19 20

Gehlen 1975, 126. Bloch 1979, 1208. Bloch 1979, 1208. Bloch 1979, 1207. Bloch 1979, 1206-1207.

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Hamlets Charakter trägt damit die Stigmata einer Zeit, die „aus den Fugen ist“, einer Zeit des „bürgerlich-neufeudal gemischte[n] und gespannte[n]“ Übergangs. Seine Philosophie entspricht laut Bloch „weitgehend den Stimmungen der Nacht, ja des Nichts, die den Manierismus erfüllten, als den zerrissenen Lebens- und Kunststil nach der Renaissance, mitten im Barock.“21 Vor dem Todesbewusstsein aber könne es „keine sinnvoll bleibende Ausfahrt und keine Aktion“22 mehr geben. Unter einer derart verwandelten Wahrnehmungsweise von Welt werden schließlich alle Männer Schufte, alle Frauen Dirnen, ist jede Erscheinung Lüge und der Rest Schweigen. In der Hoffnungslosigkeit seiner Realitätseinschätzung in einer vergleichbar übergänglichen Zeit erachtete Grüber diese Wahrnehmungsweise des Helden des von ihm inszenierten Stückes wie einen gemeinsamen historischen „Nenner“ der in der eigenen Zeitgenossenschaft wahrgenommenen „Brüche“ und verlängerte sie durch theaterkünstlerische Verfahren um mögliche Zuschauerperspektiven. Der Kritiker Peter Iden schrieb: Die Wirkung [der Aufführung] begründet sich weniger aus einer situativen Lebhaftigkeit [...] als aus einer durchgängigen Stimmung der Trauer. Es ist Trauer angesichts der Unzulänglichkeit allen Handelns und aus dem Bewusstsein der die Figuren vereinsamenden Ohnmacht in einer Welt, die vom Tod umstellt ist. [...] Hoch über der Szene schimmern bläuliche Sterne, sehr von fern – in dem weitläufigen Raum unter diesem Himmel spüren die Menschen eine große Kälte, sie ist in ihnen, sie liegt auf ihren Bewegungen und auf ihren Beziehungen zueinander – sie macht sie sehr einsam. [...] Es gibt in der Aufführung keine Gesellschaft, keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen, um jeden ist ein Hof des Alleinseins. Wenn mehrere zusammen sind, spürt man bald das Zwanghafte, Konstruierte der Situation: Gesellschaft, sagt die Aufführung, das ist immer nur ein Arrangement, provisorisch und unzulänglich, unsere wirk23 liche Lage bloß dürftig überspielend. Eine Illusion, rasch zerfallend.

Grübers Vision der Szenen von Shakespeares Hamlet entstammte jenem Bewusstseinsraum, in dem alle Debatten ihr Ende finden und alle Masken schweigen.24 Adieu, Klaus Michael Grüber. Adieu, Rudolf Münz. Adieu – und au revoir im Aldilà.

Literatur Banu, Georges/Mark Blezinger (Hg.) (1993): Klaus Michael Grüber ...Il faut que le théâtre passe à travers les larmes... Paris. Barth, John (1967): The Literature of Exhaustion. In: Atlantic Monthly 220, S. 29-34. Bloch, Ernst (1979): Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt a.M. Carstensen, Uwe B. (1988): Klaus Michael Grüber. Frankfurt a.M. 21 22 23 24

Bloch 1979, 1207. Bloch 1979, 1207-1208. Iden 1984, 129 u. 134-135. Vgl. hierzu die Probenberichte von langjährigen Schauspielern Grübers auf einer von Georges Banu in Paris organisierten Veranstaltung in Banu/Blezinger 1993. Siehe hierzu auch Lehmann 1999, 126.

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Dermutz, Klaus/Ruth Walz (Hg.) (2006): Klaus Michael Grüber. Theaterpassagen. Fotos von Ruth Walz. Leipzig. Dermutz, Klaus (2008): Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin. Dermutz, Klaus (2008): „Klaus ist ein schöner Mensch“. Der Schauspieler Bruno Ganz über den Künstler und Menschen Klaus Michael Grüber – im Gespräch mit Klaus Dermutz. In: Theater heute, H. 8/9, S. 38-41. Gambelli, Delia (1972): Arlecchino: dalla ‚preistoria’ a Biancolelli. In: Biblioteca teatrale 5, S. 17-68. Gehlen, Arnold (1975): Ende der Geschichte? In: Gehlen, Arnold: Einblicke. Frankfurt a.M., S. 115-133. Greenblatt, Stephen (1993): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt a.M. Henrichs, Benjamin (1982): Hamlet – ein deutsches Requiem. In: Die Zeit, 17.12.1982. Höfele, Andreas (1992): A Theater of Exhaustion? ‘Posthistoire’ in Recent German Shakespeare Productions. In: Shakespeare Quarterly, 43:1, S. 80-86. Holmberg, Arthur (1983): Hamlet – William Shakespeare – Directed by Klaus Michael Grüber – Schaubühne am Lehniner Platz (Berlin). In: Performing Arts Journal, 7:2, S. 49-52. Iden, Peter (1984): Theater als Widerspruch. München. Jahn, Anni-Britta (2001): Quellen und Quellenstudien zu Theaterformen in Dresden bis 1800. Unveröffentlichte Magisterarbeit am Institut für Theaterwissenschaft Leipzig. Kreuder, Friedemann (2002): Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers. Berlin. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. Maaßen, Silke (1998): „Anderwelt-Vorstellungen“ – Domenico Biancolelli: „Arliquiniana ou les bons mots, les histoires plaisantes et agréables. Recueillies des conversations d’Arlequin“ (1694). Unveröffentlichte Magisterarbeit am Institut für Theaterwissenschaft Mainz. Münz, Rudolf (2002): Sind ‘die großen Erzählungen’ im Theater zu Ende? In: Baumbach, Gerda (Hg.): Theaterkunst & Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie. Köln, Weimar, Wien, S. 327-424. Rischbieter, Henning (1983): Hamlet an der Schaubühne oder: Renaissance und Beton. In: Theater heute, H. 2, S. 10-12. Parfaict, Fr. u. Cl. (1753): Histoire de l’Ancien Théâtre Italien. Paris.

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III. Dramaturgie des befreiten Körpers



Theatre of Bodies, Theatre of Ideas: The Case of Dionysus in 69 MARTIN PUCHNER “Take Up the Bodies”—the title of the conference that stood at the origin of this collection, the date of 1968, and the iconic production of Dionysus in 69 by The Performance Group (TPG) conjure a set of images such as wild audience-performer interaction and scenes of scantily clad bodies piled on top of one another in some kind of ritual. Dionysus in 69 is the perfect object of study for a critical analysis of a theatre of bodies and a theatre of rituals—and especially of the political investments in such bodies and rituals, the attempted rebirth of theatre from the ritualistic body in and around 1968. “I have had it with theory and idealized theatre,”1 William Hunter Shephard, one of the original members and avid supporter of Schechner wrote in a note that can be found at the Schechner archive at Princeton, summing up the promise of escape from an allegedly outdated conception of theatre as dramatic, cerebral, and academic. At the same time, the images of interlocking bodies of Dionysus in 69 seem extremely dated. And not just because of the hairstyles and mustaches. In our post-revolutionary world, we do not make theatre like that anymore. And yet—this will be my governing thesis—our critical vocabularies in theatre studies, particularly in the United States, are still deeply in the thrall of 68 and more specifically of Dionysus in 69. We still believe, it seems, in a theatre of bodies; we still “take them up”; after all this is what is special about theatre, this forever declining art form, this is what shields us from old media, such as literature, and from all the new ones that threaten to reduce our already diminished piece of the academic pie. If we give up the bodies, we will have nothing left. This is the doxa of theatre studies today. In my contribution I want to argue, somewhat polemically, against this doxa, against the theatre of bodies (or rather against the assumption that theatre is a theatre of bodies) by confronting it with a theatre of ideas. I realize that in taking on Dionysus in 69 I am going, in a sense, into the lion’s den of ritual body theatre—a lion’s den better known under the name of the Performing Garage, the setting of Dionysus in 69. But even there, I think I can find enough material for my alternative view of theatre history, a theatre history based on ideas rather than bodies, a theatre history whose ultimate goal is the claim that theatre is theatre of ideas.

1

Richard Schechner Archive, Princeton University Library, Rare Books and Manuscripts, Series 5, subseries 1, box 168.

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Puchner

How can we approach Dinoysus in 69, captured in one of Brian de Palma’s early films, as something other than a theatre of bodies? First I will argue that even Dionysus in 69, a theatre event obsessed with bodies and their rituals, upon closer inspection turns out to be infected by and in a sense produced by ideas and theories. What William Shephard had in mind when he declared that he “had had it with theory and idealized theatre,” was not the theatre of ideas of a George Bernard Shaw, or the dialectical preachings of a Bertolt Brecht. No, he was complaining about none other than Richard Schechner and TPG: Like Grotowski, I felt that the actor’s creative process was the core of the theatrical event, but I began to suspect that Schechner’s interest in such details was secondary 2 to his more general theories about environmental theatre.

In other words, Dionysus in 69 turned out to be too theoretical, too idealized, too much invested in general theories, even if these theories proscribed a rigorously corporeal theatre or bodily rituals. This simultaneous existence of bodies and ideas, I hope to show, is not as paradoxical as it sounds. Once we rid ourselves from our fixation on bodies and a theatre and politics of bodies, we can see that even here, in the lion’s den, we have a theatre of ideas, a theatre of concepts and general theories. The body, in other words, is not a given, not the foundation of a theatrical politics, but a product, the product of a theoretical imagination. Indeed, the first sentence of Herbert Blau’s book Take Up the Bodies, from which the title of the conference was borrowed, reads: “This book is the remembering of a theory.”3 And a few pages later, he says: “I am speaking of theatre not only as an instrument of thought, but as thought.”4 Our focus on the body has made it difficult, I believe, to fully account for this view of theatre as thought. It can be captured only through a paradigm attuned to ideas, theories, and thought. Ultimately, I will derive such a paradigm from the theory and dramatic practice of Plato. William Shephard was not the only one to complain about the peculiarly theory-laden nature of what Schechner was up to. Stefan Brecht, although supportive of the group, used a related vocabulary, noting that the performance had a quality of “abstraction.”5 And Schechner himself foregrounds the theoretical and conceptual agenda driving the last production of TPG, Genet’s The Balcony: “On conceptual grounds especially—in what the production suggested but could not entirely realize—I am proud of the work.”6 What these remarks describe, either as flaws or as strengths, characterizes TPG throughout, namely that the performance never stands on its own, but is informed by something that can be alternatively described as a theory, an ideal, a tendency towards abstraction, or a concept that is never fully realized in any given production but by which all productions are somehow informed. 2 3 4 5 6

Shephard 1991, 34. Blau 1982, ix. Blau 1982, 9. See Brecht 1969, 156-168. Schechner 1985, 263.

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Elsewhere I have described this view of theatre as the manifestoperformance-theory nexus of TPG: the fact that the seemingly anti-idealist theatre of bodies is everywhere framed, produced, re-inscribed, and justified through a recourse to manifestos and theories.7 This manifesto-performancetheory nexus can be traced back to twentieth-century avant-garde theatre, from E. G. Craig and the futurists to Antonin Artaud, whose theatre was also predominantly realized in the form of the manifesto. Indeed, much of twentieth-century theatre was driven by manifestos and often immediately translated into theory. The nexus thus points not only to a central feature of TPG but also to the group’s modernist inheritance. Two key concepts were put into circulation by TPG: environmental theatre and ritual. Environmental theatre is a term that was launched by one of Schechner’s most well-known manifestos, “Six Axioms for Environmental Theatre” (1968), in the pages of The Drama Review (TDR).8 However, not content with formulating his axioms in the form of a manifesto, Schechner also translated it into theatre. This translation was immensely successful in that both positive and negative reviewers never questioned this new label. The group sometimes advertised its productions as “environmental” stagings of a given text. Environmental theatre, in other words, was a label that stuck; one of the most successful attempts at branding a theatrical style. And after emerging in a manifesto and being translated into performance, environmental theatre finally became a central component of performance studies, to the point where Schechner applied this term to all kinds of performances, activities, and rituals such as the Ramlila at Ramnagar, India.9 The second key concept for Schechner was ritual. Here, it is important to realize from the outset the programmatic nature of ritualistic theatre, since by definition a program for a ritualistic theatre signals a return, an attempt to recreate, ritual. Dionysus in 69 is an example of this paradox of ritual—the programmatic return to a ritual that had been lost. And indeed, there is no better play to use for such a project than a play that like no other was itself obsessed with the ritualistic origins of Greek tragedy, namely Euripides’ The Bacchae. Euripides was the youngest and most cerebral of the great Greek tragedians. As a consequence, his tragedies irreverently contained comedic and other improperly “tragic” elements that signaled his distance to Aeschylus. The Bacchae thematizes this distance, it is in fact an early version of metatheatre.10 Thebes is caught between the new, Eastern ritualistic cult of Dionysus and the law-and-order king of Thebes, Pentheus. The ritual, fuelled by the rejection, ends bloodily, teaching Thebes to accept the ritual without fully falling prey to it. Schechner recognized and foregrounded Euripides’ ambivalence towards ritual and claimed the same ambivalence for himself.11 At various moments, for example, the actors would interrupt the performance by shedding their 7 8 9 10 11

See Puchner 2006, 313-331. My discussion of Dionysus in 69 draws on this article. See Schechner 1968, 41-64. See Schechner 1985, 175. Also see Puchner 2003. To Joel Schecter, Schechner said: "Euripides is at once fascinated and repelled by the Dionysian" (Schechner Archive, box 66, folder 1).

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roles and identifying themselves by their real names. Indeed, the production ended with the actor playing Dionysus leaving the Performing Garage as if he were running for political office. Dionysus in 69 thus did not try to hide the difference between 1968 New York, Euripides’ Athens, and the presumed ritualistic origin of tragedy that was unavailable to Schechner and Euripides alike. The success of Dionysus in 69 seemed to stem from the fact that Schechner apparently shared Euripides’ recognition that the ritualistic origin of Greek tragedy was a thing of the past. As in the case of a theatre of bodies, it’s kin, a theatre of ritual, is thus an artificial product, driven by a plan, a manifesto, a theory. Despite Schechner’s declared ambivalence about ritual, however, the production sought to actually create a number of rituals, including an opening “birth ritual” and a closing “death ritual,” in which the actors formed a kind of tunnel, with the men laying on the ground and the woman, standing astride them, creating the opening through which an actor could be hoisted. TPG developed several other ritual dances and interactions through which Schechner hoped to elicit the participation of the audience. At various moments, the actors formed piles of interlocking human bodies moving to the rhythm of drums and other instruments. The climactic scene in which Agave kills her son added an ample supply of stage blood to this mix. Nudity, eroticism, physical contact, bloody violence, these were the strategies that animated the production; they were also the ways in which TPG signaled its distinct, physical approach to a classical text. Indeed, many of these ritualistic scenes had grown out of the exercises and rehearsal techniques through which the group had first constituted itself. All this implied that the group was asserting its own distinct approach to the text, feeling free to add new material to Euripides’ text not only through the invention of these various rituals but also, for example, by casting the relation between Dionysus and Pentheus in terms of homosexual desire and the struggle for sexual domination. Dionysus in 69 thus tilted the balance between ritual and cerebral metatheatre, so carefully maintained by Euripides, towards ritual. The best measure for this imbalance is the fact that many of the rituals which TPG instigated on stage had actually been off-stage in Euripides. Moving true ritual off-stage had been Euripides’ main technique for signaling his distance from ritual. Schechner’s decision to put these rituals on stage, and to engage the audience in them, thus reveals how strong the desire for actual ritual at work in this production really was. The designer Jerry Rojo even reported that members of TPG were beginning to think that they had in fact created a new religion.12 Somewhere underneath Schechner’s ambiguity there operated the modernist yearning for ritualistic origins that accompanied the art of modernity in the twentieth century. Like Artaud’s Theatre of Cruelty, Schechner’s theatre of ritual was destined to celebrate its greatest success in the form of a book, or rather in several books. The first of them was a book about the production, including Euripides’ text and many evocative photographs. Eric Bentley wrote wrily: “DIONYSUS IN 69 is a brilliant job of book making, proving that the non-

12 Rojo writes: "As audiences projected a religion on us, some in the Group began to wonder whether it wasn't religious" (McNamara, Rojo, and Schechner 1975, 94).

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literary theatre is really better as literary theatre.”13 The success of the book registers not so much the dominance of literature over performance, but the extent to which the book version of Dionysus in 69 managed to capture the manifesto-performance-theory nexus. For in addition to containing the adapted Euripides’ text and production photographs, the book included theoretical commentaries that explained the idealistic and manifesto-driven agenda for which the production was supposed to be the theatrical form. In this way, the Dionysus book, like Artaud’s collection of manifestos, managed what the production has only partially achieved: a relation to ritual as distanced as that of Euripides. At the same time, the rituals that were only partially realized in the performance became a central component of performance theory. Many of Schechner’s publications revolve around ritual, and the work of TPG functioned as a constant point of reference, even as a kind of proof, of the usefulness of Schechner’s theoretical discussions of ritual theatre. Once more, the theatrical manifestation of a key term had been translated into theory. The book version of Dionysus in 69 paved the way for many similar projects, including a book entirely devoted to Makbeth as well as to a collection of environmental designs by Rojo.14 The success of these books was not just an effect of the advantages of print. In an added twist to the manifestoperformance-theory nexus, Schechner turned his theory seminars at NYU into workshops resembling rehearsals of TPG, inspired by the classroom work of the anthropologist Victor Turner.15 In a way, ritual had come full circle: from manifesto to performance and theory it was then translated back into performance. So far, I have shown that a putatively corporeal theatre was embedded, and in a sense produced by various forms of theoretical text. This analysis fully connects to the double focus of this collection on a theatre of bodies and a theatre of texts. Dionysus in 69 was both, not only because its theatre of bodies was, in fact, a relatively faithful production of a dramatic text, but also because its mode of staging was driven by and everywhere fuelled by specifically theoretical texts, including the manifesto and the theory book. I now want to turn to the larger frame I mentioned at the beginning: not only does Dionysus in 69, that text-book example of corporeal theatre, turn out to be everywhere infused by manifestos, theories and ideas. More generally we can only restore theories, manifestos, ideas to their rightful place in theatre history if we adopt an understanding of theatre based on Plato as a dramatist, an understanding of theatre based on the unusual combination of idealist aspiration and material practice that characterizes Plato’s own dialogues and his dramaturgy more generally. It is through the lens of the dramatic Plato that I suggest we approach twentieth-century theatre. Such an approach does not mean that we have to abandon everything scholars focused on the body have told us; but it means embedding this knowledge of corporeal practices in a different framework, one that relates materialism to ideas. This lens will afford a new view of twentieth-century theatre, one attuned to a 13 Richard Schechner Archive, letter from Bentley to Robert Grioux, Box 166, folder 1. 14 Makbeth After Shakespeare, adapted by Richard Schechner (Schechner 1978). 15 See Turner 1982.

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series of metaphysical, transcendental, idealist, and religious impulses that worked with and against modernist materialism. The tension between these two defines what I mean by Platonic theatre. Twentieth-century theatre has usually been seen as both a continuation of and a break with Aristotle. I will supplement this standard account by arguing that twentieth-century theatre can be better understood as a series of experiments in the tradition of Plato. Let me briefly sketch what I mean by Platonic theatre, a view of drama and theatre inspired by Plato. In a first step, we must clear away an obstacle: the view of Plato as a simple enemy of the theatre. While philosophy abandoned and attacked the theatre in the name of Plato, the theatre world branded Plato as an enemy of the theatre as well; only from the perspective of the theatre world this same diagnosis appears with different values attached: Plato’s attacks on the theatre are now called “anti-theatrical prejudice,” a term that implies that attacking the theatre is a moral failing, driven by a “prejudice” that has to be overcome.16 As a consequence, theatre history has failed to recognize Plato as a radical theatre reformer, as a prescient inventor of a form of drama that is closer to modern drama as we know it than anything known in the classical world, a drama that replaced the chorus with prose dialogue among individuals, regarded large, unruly audiences with suspicion, and sought to turn drama into an educational force. But the theatre and its self-appointed defenders reacted to anything smacking of Plato and Platonism in a defensive mode, unwilling to examine Plato’s actual statements about theatre or his own dramatic practice. More generally, theatre historians have tended to take any critique of the theatre as a threat to their existence, as an enemy that must be vanquished, not as a set of useful and stimulating reforms. With regard to the tendentious language of “prejudice,” I am tempted to speak of an anti-anti-theatrical prejudice, i.e. a knee-jerk reaction to anything that smacks of critique, an unwillingness to allow a critique of the theatre to be a productive attitude. In the face of this misrecognition, Plato must be rescued from the eager defenders of the theatre. For this rescue operation, I can fortunately rely on a minor and mostly underground tradition that not only recognized Plato as a dramatist but also sought to continue his idea of a philosophical drama. From the seventeenth century onward to the present day, playwrights encountering Plato’s plays were struck by their unique dramatic form, and even proceeded to imitate it. Their plays—what I call “Socrates plays”; and I have found over 120 of them so far—range from educational dialogues and closet dramas to tragedies, comedies, operas, and philosophical plays written for audiences small and large.17 Often they labored in obscurity, without knowledge of one another, outside the philosophical or theatrical establishments, and only rarely did they manage to capture audiences for their work on the great and small stages of their time. But whatever else may be their merits or faults, their now mostly forgotten creations kept alive the idea of Plato as a dramatist and as a theorist of theatre. The twentieth century not only witnessed a steep rise in the number and quality of Socrates plays but also the final entrance of Plato into theatre his16 See Barish 1981. 17 For a detailed list of and discussion of Socrates plays, and Platonic theatre more generally, see Puchner 2010 (forthcoming from Oxford University Press).

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tory. Now Plato’s dialogues are not only being performed in small, educational settings, as they had been perhaps since the foundation of Plato’s Academy, but in regular theatres. Two summers ago, for example, I saw a production of Plato’s Symposium by the New Yorker Target Margin Theatre. Plato will afford us a different view of theatre history, one attuned to a theatre of ideas but also, as in my analysis of Dionysus in 69, one that looks for the work of theories and ideas even in the most physical of theatre practices. Since I am here suggesting a new view of theatre history in extremely broad terms, let me add one more perspective, concerning the relation between theatre and philosophy that stands at the center of what I call "Platonic theatre" and the theoretical paradigm on which it is based, “dramatic Platonism.” For even philosophy has finally come around to accepting Plato as a playwright. For this to occur, philosophy needed to develop a new relation to drama and theatre, overcoming its so-called anti-theatrical prejudice, mistakenly inherited from Plato. This overcoming might be called the “theatrical turn” of philosophy, the moment when philosophy returned to its dramatic origin in Plato and discovers the rich resources drama and theatre offer to the philosopher who knows how to use them. The theatrical turn thus does not imply an uncritical praise of the theatre (the reverse of the earlier dismissal) but rather the strategic use made of drama and theatre by philosophy. The most important episodes of this dramatic and theatrical history of philosophy include Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, all the way to the remarkable Alain Badiou, whose theatrical philosophy, which is based on Plato, I consider central to my endeavor. All of them were inspired by Plato to use dramatic and theatrical forms and concepts and therefore need to be understood as part of a theatrical history of philosophy, a history of modern philosophy from the point of view of drama and theatre. The significance of Plato for these various theatrical philosophers is surprising, since several of them were professed anti-Platonists, especially Nietzsche and Deleuze. Indeed, the history of modern philosophy, from Kierkegaard and Nietzsche to Deleuze, is a history of repeated critiques of Plato. Let me therefore conclude with a thought about Nietzsche, the inventor of our philosophy of the body and of modern anti-Platonism. In The Gay Science Nietzsche does initially take Platonism as an illness from which he hopes to “cure” philosophy (the language of illness and cure resonates with his philosophy of the body). But then, Nietzsche pauses and offers a qualification of this conception of Platonism as illness: In sum: all philosophical idealism has hitherto been something like an illness, when it wasn’t, as in the case of Plato, the cautionary thought of an exuberant and dangerous healthiness, the fear of overwhelming sensory experiences, the cunning of a cunning Socrates. —Perhaps we moderns are simply not healthy enough to need Plato’s ideal18 ism?

18 “In summa: aller philosophische Idealismus war bisher Etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Platos, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. –

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Nietzsche, the avowed anti-Platonist, seems to envision a future in which we might need Plato’s idealism once again. Such a future would be one in which idealism had been dismissed and materialism put in its place. This future, I suggest, has arrived. We are in the midst of it. In fact, in the realm of philosophy, Nietzsche was its principal herald. Since Nietzsche, most major philosophies have been anti-idealist, emphasizing instead various forms of materiality, from the social organization of labor to institutions and finally to the great battle cry of our age: experience and the body. Theatre studies has been particularly eager to take up this paradigm. All this anti-idealism, no doubt, has been “healthy” in Nietzsche’s sense. Indeed, health has been the great product of our age. Like the Greek culture of Socrates and Plato, we find ourselves celebrating this health in the gymnasium. It was precisely to such places of bodily exercise that Socrates went in order to instill in its practitioners the anti-dote: idealist philosophy. We are now so overwhelmingly healthy, so focused on the body, that we have dire need of Plato’s idealizing theatre and its consequence: a Platonist theatre history.

Works Cited Barish, Jonas (1981): The Antitheatrical Prejudice. Berkeley. Blau, Herbert (1982): Take Up the Bodies: Theater at the Vanishing Point. Chicago. Brecht, Stefan (1969): Review: “Dionysus in 69”, from Euripides’ “The Bacchae”. In: TDR 13:3, 156-168. McNamara, Bruce/Jerry Rojo/Richard Schechner (1975): Theatre, Spaces, Environments: Eighteen Projects. New York. Nietzsche, Friedrich (1988): Kritische Studienausgabe. Bd. 3. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin. Puchner, Martin (2003): Introduction. In: Abel, Lionel (Ed.): Tragedy and Metatheatre: Essays on Dramatic Form. New York, 1-24. Puchner, Martin (2006): The Performance Group between Theater and Theory. In: Harding, James M./Cindy Rosenthal (Eds.): Restaging the Sixties: Radical Theaters and Their Legacies. Ann Arbor, 313-331. Puchner, Martin (2010): The Drama of Ideas: Platonic Provocations in Theater and Philosophy. Oxford (Forthcoming). Schechner, Richard (1968): Six Axioms for Environmental Theatre. In: TDR 12:3, 41-64. Schechner, Richard (1978): Makbeth After Shakespeare. Schulenburg. Schechner, Richard (1985): Between Theater and Anthropology. Philadelphia. Shephard, William Hunter (1991): The Dionysus Group. New York. Turner, Victor (1982): From Ritual to Theatre: The Human Seriousness of Play. New York.

Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato's Idealismus nöthig zu haben? ” (Nietzsche 1988, 624). Translation mine.

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Physical Theatre and the Dramaturgy of the Actor PATRICE PAVIS (TRANSLATION BY JOEL ANDERSON) The English term “physical theatre” designates a type of performance which emphasises the actor’s body, rather than their text or mind.1 Le Théâtre du geste (Theatre of Movement and Gesture)2 is a possible, albeit approximate, translation of this formulation, but it mainly refers, as is the case in Jacques Lecoq’s book which bears this name, to pantomime and its variations. Whatever we call it, physical theatre is a genre that turns up in many Western experimental artforms. The mime, and student of Etienne Decroux, Thomas Leabhart, defines it thus: “Physical theatre […] attempts to describe a type of hybridized non-cultural theatre which places emphasis on physical virtuosity but not exclusively dance, and which, although it often uses words, usually does not begin with a written text.”3 The practice of physical theatre constitutes a large part of contemporary mise en scène, all the while challenging the director’s control. Indeed, physical theatre does away with directing, delegating to the actor the power to build the complete score, and to put together what Eugenio Barba called the dramaturgy of the actor. Physical theatre is in the hands of the actors, who thus invent a new way of working. Since the 1960s, physical theatre has had a long history: in that period, the notion almost always referred to Antonin Artaud and his critique of bourgeois and psychological theatre. And yet Julian Beck, Peter Brook, Charles Marowitz and Jerzy Grotowski had not read The Theatre and its Double, at least at the beginning of their careers, but like Artaud were keen to read theatre texts in a radically different way. Grotowski asked his actors to be aware of the action behind the words, to feel in themselves the trajectory of language. Brook always thought that the word does not begin with the word but rather that it is a final product born of an impulse. When staging Dionysus in 69 (1968), Richard Schechner was mainly interested in the breath and the cry of the performer. Writing about Deaf Man’s Glance (1972) by Robert Wilson, Louis Aragon, in an open letter to André Breton, spoke of “neither dancers nor actors, but practitioners of a science as yet without a name, that of the 1 2

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On physical theatre, see Dymphna Callery: Through the Body (Callery 2001). See Lecoq 2006. In the chapter “Regard d’un acteur,” Alain Gautré includes in the ”théâtre du geste” artists like the Footsbarn Theatre, Théâtre de Complicité, Kantor’s theatre, Jérôme Deschamps, the Mummenschantz; Lecoq 2006, 135-158. Leabhardt 2003, 1031.

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body and its freedom.”4 For Barba, the word only made sense if it emerged from a “decided body.”5 All of these artists were thus convinced of the physical basis of theatre. This article does not pretend to be a history of physical theatre, especially since it focuses on the 1990s. Since the 1960s, the genre has evolved a great deal: it has moved away from Grotowski and Brook’s anthropological theatre, and many other forms have emerged of which we will give only a few isolated, but representative, examples. Each conception of the body underpinning each practice will be examined, asking how, in the more recent experiments, is the body formed? What relationship does it have to the Other, particularly when physical contact is made? If it is true that the unconscious speaks through the body, the spectators must read these bodies in order to understand what is revealed of their own unconscious and of ours. From Maguy Marin’s May B (1981) to the latest production of the Théâtre du Soleil, Les Ephémères (2007), physical theatre embodies many identities. It increasingly moves away from what Bernard Dort in the 1960s called the “rebellion of the bodies.” The idea of the body as response to the alienation of the mind has had its day. Seeing body and text as strictly opposed has lost some of its relevance. The rebellion was not to everyone’s taste, and was certainly not to everyone’s liking, in particularly, it was not met with favor by mime artists such as Decroux or Jacques Lecoq, who were more concerned with the rigour of gesture. Lecoq mocked this “revolt of the scoliotics,”6 and had his doubts about Grotowskian purism. The polemic about “expression corporelle” in the 1960s and 1970s has not quite found its peaceful resolution. Only at the end of the 20th Century was physical theatre seen in a different light, taking its unquestioned place within contemporary mise en scène. Before addressing the new status of physical theatre since the 1990s, it might be appropriate to briefly mention the dance-theatre of the French choreographer Maguy Marin, since the seed of the physical theatre of the last few years of the 20th Century can be found in works such as Marin’s May B. The through-line will be the question of the body, the implicit conception we have of it, and the sense of touch as a barometer of people’s proximity.

1. May B by Maguy Marin: Touched by the Other With this choreographic piece, one of the most performed in the world, Maguy Marin celebrates the rare happy meeting of dance and theatre. A group of zombies, whose faces and bodies are white as plaster, and frozen in hieratic attitudes, move only at the signal of a whistle or of the popular fanfare of the Belgian carnival Gilles de Binche. “Finished, it’s finished, nearly finished, it must be nearly finished”: the only words that come out of their deformed mouths are borrowed from Samuel Beckett’s Endgame. This end is less the end of the show than that of humanity, judging by the sorry state of decrepitude in which these creatures vegetate. Their bodies are treated as a bleached 4 5 6

Aragon 1976. See, for instance, Barba 1986. Lecoq 2006, 138.

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material, mixed like plaster, like figures molded by the sculptor Georges Segal, who captures the everyday gestures of his fellow citizens. Each of these ten figures ‘without qualities’ blends into the group, a homogeneous band of desolation, a collective living carcass on its last legs. The group moves as a bloc. Each individual does the same little mechanical and repetitive gestures. The bodies are dirty, repulsive, vulgar, deprived of individuality and humanity. But they can also help each other, look at each other, seduce each other, even if they do not manage to extract themselves from the plaster of the clan or from the ore of the body. The art of movement finds an ally in the living sculpture in order to figure out or to disfigure the human being in its petrified solitude and its imprisonment. The group of zombies dances as well to fanfares as it does to classical music: it stays with the beat simply but correctly. May B plays on the ironic contrast between the refined music of Schubert and the vulgarity of the gestures that keep the beat. These cripples, casualties of life, can no longer move except collectively, responding to sonar stimuli: drum rolls, the sounds of sliding or tapping feet. In the spirit of Beckett, whose plays obstinately refuse to ‘mean anything,’ Marin allows us to intellectually, but also ‘kinesthetically,’ understand this emptiness and this dehumanization. The alienation of the group is less metaphysical and individual (as in Beckett or butô) as it is social and collective. Despite having snouts, shadows and the walk of a troll, each disfigured character remains a peer, a likeness, a brother: a figure of our disarray and our wandering; they are part and parcel of our social reality, of our day-to-day existence. But just who are they? Outcasts? The ‘nouveaux poor’? Casualties of globalization? For so long devoted to existential absurdity, in particular of the Beckett variety, or to postmodern abstraction, the stage recovers its mimetic dimension, beyond the choreography of pure movement. Maguy Marin still belongs to the tradition of Maurice Béjart, her former teacher: all that moves is placed at the service of a situation to be unfolded, of a story to be told. The collective body of this chorus expresses the dehumanization, the gregariousness, the mechanization of behaviors and ideas. With frequent stops, moments of silence or of musical interlude, the choreography constantly goes from individual to group. At regular intervals, the group movement, a dance that relies upon a fanfare or symphonic music, causes the group to take off, to leave its apathy behind, to go into a very tight figure that transports the spectator out of theatrical fiction and toward the domain of choreographic virtuosity. The gestural and choreographic score proposes extremely precise attitudes, postures, moves and movements. What emerges from this, once this choreographic device is assimilated, is the group’s ultimately theatrical characters, emanating from our social universe—an army of the elderly, who are in pieces, but still alive and happy to be so. If the body is the barometer and the metaphor of the state of the world, then May B is the tragic-comic reversal of the liberation of the body that was so talked about in the 1960s. Contact between bodies has become problematic, parodic and repulsive. Remaining in the domain of “expression corporelle,” as it has evolved since the 1960s, the next performance to tackle is Itsi Bitsi, an autobiographical show devised and performed by Danish actress Iben Nagel Rasmussen, of the Odin Teatret.

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2. Itsi Bitsi by Iben Nagel Rasmussen: the Dramaturgy of the Actress Indeed, the performance (first shown in 1991, with guitarist Jan Ferslev and accordionist Kai Bredoldt) is set in the 1960s. Iben Nagel Rasmussen evokes the period of her life spent in the company of Eik Skalø, poet and singer— ‘the Danish Bob Dylan’—who committed suicide in India in 1968. She recalls moments and visions from this era by way of characters and roles from the Odin Teatret, from 1966 onwards. The autobiographical narrative, then, constantly draws on gestural and vocal scores from previous performances. Two scenes in particular shed light on Nagel Rasmussen’s way of working, which is worth considering in terms of methods of training and rehearsal (The Journey and the Old Woman and Kattrin the Mute). The research takes place by way of gesture, voice, words and sounds, in order to “find the character”: “It is as if the character was a space that I discovered little-by-little in myself as the creative process unfolded, and in which everything could be found: actions, feelings, words, sounds… I recognised this space within my body.”7 Language and gesture are not separable at first. The actress must elaborate her character at the so-called ‘pre-expressive’ level, before conveying a particular meaning in the subsequent montage: “The character was ready before we began the montage work. All her ways of walking, sitting, using her arms, using sound, were very precise physical actions without specific meanings and thus they could be used in various contexts.”8 Not only does the actress find her own materials, but she also has the possibility of elaborating them “in such a way that the director need not give directions according to a specific idea of the performance.”9 She therefore maintains, at least at first, control over her dramaturgical choices. Consider, for example, the scene of the old woman’s journey. Nagel Rasmussen is tethered like a horse with a red blindfold, a kind of blood trail that gets longer and longer. The “dealer,” who is both pimp and mobster, holds the reins and controls her movements: keeping her hooked on drugs. He only loosens the reins in order to imprison her; his tricky maneuvers preclude any hope of escape. Dressed in a black evening gown, speaking with a soft voice and an ecstatic smile, which contrasts with the horror present in the words describing a descent into hell, Nagel Rasmussen recounts her memories of the trip and tells of her drug addiction. This sweet, stylized, theatricalized, artificial voice heightens the materiality and the musicality of the words. One might think that it belongs to an ancient and codified acting tradition, and yet it is purely the actress’s invention. If the body of the “dealer” is easily identifiable, semiologically readable, by way of its attitude and its social gestus, Nagel Rasmussen’s voice is less about meaning than about the effect it produces. It is the result of an impulse, a movement, a rhythm, a phrasing that belongs to her and her alone. From this voice and this body going ceaselessly on and on to death, the spectator receives a physical and kinesthetic impulse. The mute body of this woman, desocialized, depoliticized, 7 8 9

Nagel Rasmussen 1999, 19. Nagel Rasmussen 1993, 101. Nagel Rasmussen 1993, 22.

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cut off from history, nevertheless transmits powerful vibrations to which the spectator reacts before even deciphering the signs. “Kinaesthetic response occurs prior to a semiotic one,”10 Simon Shepherd and Mick Wallis note, echoing Bernard Beckerman’s reflections on the theatre experience: “Our bodies are already reacting to the texture and structure of action before we recognize that they are doing so.”11 In Kattrin the Mute (sequence XI), Nagel Rasmussen reconstitutes a moment from Eugenio Barba’s production Brecht’s Ashes. She creates the figure of Mother Courage’s daughter who saves the town Halle by sacrificing her life. Kattrin is mute, but far from deaf to the ills of the world. Her unarticulated cries and the alarm bell sound the alert. Having remained in contact with the world and its ills, she has nevertheless managed to preserve the child in herself and is unaware of the violence surrounding her. Her body is incomplete, and seems to be that of a simpleton, of a young girl who yearns for a child, and who has been disabled by war. The temptation of goodness costs her her life. Her body as well as her age will remain frozen in memory, which she expresses in the testamentary poem she borrows from Brecht: When you delight me Then I think sometimes: If I could die now I would be happy Till my life's end. Then when you are old And you think of me I shall look as now You'll have a sweetheart 12 That is still young.

The body frozen in eternity and in memory is quickly idealized and essentialized. It is an abstract, undifferentiated body, untouched by time, a ‘sacrificial offering’ of a body, but one which is asexual, of uncertain gender, negated in its desire for love and for maternity, a body humble in heroism and which has no choice but to become the last defense against violence and destruction. This body is feminine, but it might be ceaselessly rendered virile through ill treatment: the damaged, deep voice is forced, like that of a man: a man deprived of femininity which Mother Courage ”taught” her in order that she does not seduce men, who represent a constant danger of rape, castration and murder. For Grotowski, in his theatre production phase (until 1968 to be precise), the body of the actor had this same neutralized gender. The incandescent body of Cieslak in The Constant Prince revealed suffering and Christ-like sacrifice, but it remained a sexually undifferentiated, essentialized body. Despite its total exposure, its sacrificial self-penetration (to use Grotowski’s 10 Shepherd/Wallis 2004, 210. 11 Beckerman, quoted in Shepherd/Wallis 2004, 210; see Beckerman 1979, 151. 12 “Song of a Loving Woman” in Brecht 1979, 430.

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term), this orphan and mystic body lacked sexual otherness in the form of desire for the other. Kattrin/Nagel Rasmussen directly inherits this undifferentiated body of Grotowskian origin, a body pushed to its limits by exhausting training, more virile than feminine. But, by way of her commentary on the period seen from the vantage point of 1991, she distances herself from the cumbersome heritage of the 1960s. She establishes a link with the 1980s and 1990s, and observes the liquidation of utopias, of the spirit of ’68, and of the individualist illusions (drugs, free love, anarchism). Her critique of the utopia of ’68 is explicit, as is the awareness that her generation was sacrificed, as a result of its idealism, by those who betrayed its ideals (who did so perhaps inevitably, because they did not, like Eik or Kattrin, stay forever young). And yet Kattrin—and thereby Nagel Rasmussen—seeks her voice and her path: she seeks her femininity and her maternity in a masculine world of rapists and murderers. She seeks to get away from her too virile training, from a too demanding sacrifice, from a forced integration into either the world of men or—almost as bad—the world of asexual angels, who lack their own voices, or indeed have only a voice imposed by men, in order to survive in the face of threats, a uniquely physical voice which never reaches the stage of the symbolism of language.

3. Les Etourdis, La Cour des Grands by Macha Makeïff and Jerôme Deschamps: the Body in Bits Etourdis (witless fools), Grands (big children): speechless characters from a world where all that is undertaken is joyfully failed. These are ‘boarders’: “They are locked up but they keep forgetting it.”13 These disarticulated or chunky characters are like us: we envy their innocence and in forgiving them we absolve ourselves. Their bodies, which are often shapeless or voluntarily deformed, are immediately noticeable due to their physical properties and behavior that departs from the norm. Deprived of articulated language, they possess many other ways of expressing themselves. Although always ill at ease, tortured by their superiors and by stupidity itself, they are also a virtuoso instrument in the hands of the jugglers, acrobats, opera singers, capable of stunts, turn, tricks and striking displays, involuntary physical feats. The Etourdis are simpletons who know not what they do. They obey the stupid orders of a choleric and unpredictable boss, they cause terrible disasters with the innocence and poetry of the naïve. They do not realize that they are in this world, at least in the social world; they keep it up as long as they can. The Grands represent for them the others: the authorities, the middle management, the obstacles in their path. A failing body prevents the Etourdis from completing even the simplest task. And thus the performance has no through-line of action, no story, and no argument. It is made up of a series of gags, of battles between the little children and the big children. Each episode of the soap opera ends in another failure or an unexpected physical feat. Hence the impression, confirmed many times, that the mise en scène is not able to tell a story, but is only ever 13 Makaeïeff 2000, 11. Macha Makaeïeff refers to her work as to a “poetics of disaster.”

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repeating one situation. But, on the other hand, it is the body of the actors which is at the source of all further developments. The idea is not—as was the case for Iben Nagel Rasmussen—to tell the story of years of individual training. Rather, it is a question of bringing about the embodiment by the actor-performer of the indefinable and non-speakable malaise of an entire epoch. It seems easier today to express this malaise in a grotesque and clowning manner than to suggest a global (or specifically Brechtian) analysis of it (which would demonstrate, by way of interposed gestus and alienation, the contradictions of the world of work while all the while lecturing the audience a bit). Attacks of a burlesque and mocking nature, or even ‘class’ mockery born of the spectator’s social and intellectual superiority, might be more effective and certainly funnier. The breathtaking rhythm of Makeïff’s and Deschamps’s Deschiens performances is more in time with the pulse of today. The audience is in tune with these run-down creatures, too stupid not to be mocked, but too fragile to be truly despised. Basically, the audience fully understands the creatures’ disarray in the face of new working conditions: as soon as it recognizes their anxiety, their mode of passive resistance, it laughs (so as not to cry) and accepts, without condescension, their fears, their little fixations, their tics and their small pleasures. The feeling of superiority and contempt gives way to empathy and tenderness. The question of the body, then, can only be asked within the global system of identification and of the becoming subject. A body is carried and constituted by a person or a subject. Its exposure is linked to a narrative, to a way of telling what will become of humans, and finally to a vision of the world. Despite the exposure of its imperfections, and its freak effects, it remains within the frame of representation. It is still the body of a character and the instrument of the actor, its meaning remains symbolic and mimetic, and not literal.14 Precisely in order to go beyond the limitations of physical expression caused by dramatic conventions, forms of performance art and body art decided, as early as the 1960s, to use the actors’ bodies ‘for real,’ i.e. directly and literally.

4. From the Body Art of the Past to the Multiple Identities of the Present Body art had its heyday on the heels of performance art, in the 1960s and 1970s. Performers would break the theatrical illusion using their bodies directly, and not in order to convey a fiction. They would seek to go beyond the 14 See Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception: “Whether it is a question of another’s body or my own, I have no means of knowing the human body other than that of living it, which means taking up on my own account the drama which is being played out in it, and losing myself in it. I am my body, at least wholly to the extent that I possess experience, and yet at the same time my body is as it were a ‘natural’ subject, a provisional sketch of my total being. Thus experience of one’s own body runs counter to the reflective procedure which detaches subject and object from each other, and which gives us only the thought about the body, or the body as an idea, and not the experience of the body or the body in reality” (Merleau-Ponty 2003, 231).

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limits of their bodies, subjecting them to provocative, and even painful and dangerous, treatment. The art of photography bears witness to previous experiments, from as early as the 1920s. Around 1927, the photographer and actress Claude Cahen posed as a mustachioed weightlifter, playing on sexual ambiguity, and making fun of the traditional division of the sexes.15 Forty years later, the USAmerican artist Caroline Schneeman did a series of provocative performances. At a public lecture, she continually dressed and undressed herself, asking the audience “what credibility a naked istorian (without the h) would have when speaking.”16 In 1979, with Interior Scroll, she went to the limits of provocation and unrolled a long strip of paper from her vagina. In the same vein, but in a (more) feminist and militant spirit, the Viennese actionist artist Valie Export, with Genitalpanik (1969), performed in a porno cinema. Armed with a machine gun, and with her genitals exposed, she announced that ‘sex’ was available, while threatening potential takers with her phallic weapon. ‘Real’ sex produced a different effect on the men than filmed sex: such was the (admittedly predictable!) experiment’s conclusion. For self-inflicted suffering, the prize undoubtedly goes to the USAmerican Chris Burden, who was in the habit of directing violent actions against himself. In 1974, in a piece called Trans-fixed, he was even crucified on the roof of a car, a Volkwagen Beetle. Stelarc, an Australian performer, is gentler with his body, while he may suspend it like a side of beef, in doing so he distributes the weight over several hooks. The contact with the material goes as far as it can go: crucifixion, hanging, or the repetitive plastic surgery that radically transformed the face of the French performance artist Orlan.17 Any advance on that? The limits are reached and the divorce from theatrical fiction might seem to have been consummated. Towards the beginning of the 1980s, violent and dangerous actions seemed to have gone out of fashion. The body as a simple piece of meat had lost its appeal. The next step, then, seemed obvious, and involved the machine. Stelarc, considering the human body to be obsolete, a lowperformance hangover from the past, sought to replace it with a more reliable prosthesis. To this end, he built a third biotechnical hand, which responds to the impulses of a machine (The Third Hand).18 Since the last decade of the 20th Century, hardcore body art of the 1960s and 1970s has moved on: it has almost entirely disappeared in its primitive form and now allies itself with questions of identity (sexual, racial, social, etc.). From the perspective of Derrida’s deconstruction or following a truly postmodern approach, the way in which the actor combines diverse identities in a piece is now on the agenda. The body becomes a laboratory of mixtures, hybrids, unconscious relationships between these constantly shifting territories of identity. This body is the object of everyone’s desires, not just in erotic terms, but also in epistemological ones. It is the marker of contradictions of identity that we cannot yet think of or reconcile. Each type of identity presents serious problems. Thus the notion of race, while regularly 15 16 17 18

For this example and the following ones, see Ewing 2000, 72-73. Quoted in Ewing 2000, 130. ‘Orlan’, in Allain/Harvie 2006, 58-59. Photo in Courtine 2006, 415.

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employed in the United States, is taboo in continental Europe, since the notion has often been used in a ‘racist’ manner. The notion of sex is replaced by that of gender, which facilitates feminist thinking, still barely used in theoretical thought on theatre, at least in France. The notion of social belonging cannot—or at least cannot exclusively—be reduced to social contradictions. Nor can it be reduced to the often simplistic illustration of social determinacy, as in the choice of gestus supposed to embody class difference. The generation of performers and ‘devisers,’ even if this work did begin in the 1960s, took its distance from any purely literal use of the body. In the last decade of the 20th Century, performance and theatre artists reoriented their research toward a partial return to the symbolic instead of just being concerned with the body and the event. They no longer exclude from the outset the use of text or the reliance on character. They often invent new ways of telling. They take their distance from the literalness of body art turning towards texts (both modern and classical, treated in a physical and carnal way), while remaining attuned to such texts’ meaning and to the feelings that they convey. The next example is a staging of Racine’s classical play Andromaque by French director Michel Liard. Can one imagine a more physical interpretation?

5. Andromaque on the Cutting Edge: Michel Liard’s Art of Looking and Listening Centre-stage is Oreste, head shaved, body coiled, gaze turned inward, arms crossed, touching, nobody to embrace.19 He is gesturally and verbally supported by the three other actors playing the principal characters. They form a chorus in charge of the role and the text of Oreste’s confidant Pylade. The entire tragic universe is concentrated upon this tableau vivant, on these autocontacts and the way in which each person touches the others, literally or emotionally, with a specific physical tension. Oreste, on his knees but sitting on his heels, is ready to move on to other hopes and other crimes: Hermione, on the right, is waiting for news, not really involved; Andromaque, on the left, is tense in her painful efforts to break out. Pyrrhus masterfully dominates the situation: his role as Oreste’s superego means that he guides Oreste more than he supports himself, in order to better bring him back to reality. This tableau, and indeed all of Liard’s mise en scène, reconciles the bones (classical dramaturgy, and its solid coherence) with the skin (that of an Artaudian theatre that “awakens us, nerves and heart” to “address not only the spirit but the senses.”20 The members of the chorus and Oreste support each other. Each gestural leaning point (hands, gazes, postures) corresponds to a vocal, rhetorical, or rhythmical leaning point in the alexandrine verse. 19 Directed by Michel Liard with the Fol Ordinaire theatre, Avignon, at the Théâtre du Grenier in Toulouse, July 2000,. With Florence Dannhofer, Karin Madrid, Yves Arcaix, Dominique Delavigne. On Michel Liard’s poetics see his posthumous book: Parole écrite, parole scénique (Liard 2006). 20 Artaud 1966.

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These do not coincide, the body does not have the same needs as language, and one does not rhythmically reproduce the other. Nevertheless, they support each other: the physical work, its postural points of support and its contacts operate as anchors to the language of passion and, conversely, the expression of the passions and the diction of the verses both find reference points and rhythmical conformations in moments of postural immobility. By often performing on the floor (on their knees, lying down, squatting), the actors physically explore the points of support, the tensions, the impulses, the bounces, and the rejections of our bodies and of the imaginary body of the group. They experience in a concrete way the drives of the whole body: not just the skeleton, with its constrained or liberated postures, but also the skin and the flesh that shine in the game of language and seduction. The union of bony stiffness and shining skin, of physical rigor and the rustling of language becomes the very flesh of the Racinian word, with the regularity of the alexandrine and the surprises of rhythm. It makes up the beating heart of this physical and vocal universe, the site of passion and drive. Is it skin or bone that controls flesh? It is impossible to determine. Flesh is there, luminous and rustling. Skins burn, hearts flare up. When they touch, hands transmit imperceptible orders, be they conscious or unconscious. Now there is no way to distinguish the inside from the outside. Michel Liard’s actors speak the alexandrine impeccably, always finding the necessary gestural leaning points needed for a good articulation of the text. Their bodies are strictly contemporary: these are not the depressed or overexcited bodies of the 1960s and 1970s, nor are they bodies with the clean, cool or trendy look of the 1980s and 1990s. They are rather bodies in equilibrium and of variable intensity, which put the verse back in its straitjacket. Sometimes, at certain moments of crisis, this straitjacket bursts due to the force of passion and of the momentarily troubled language.

Fig. 1: a) Concept (Jealousy), b) Consciousness (Aggression), c) Sensation (Pride), d) Impulse (Passion), e)Form (Ignorance)

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Thus the Mandala of Racine comes into being (fig. 1): a world where opposing forces rule, a positive one here, a negative one there: a world that this mise en scène illustrates without knowing it. The passions (a) (here: love, jealousy, anger) are (emotional as well as muscular) impulses, ‘the will to seize.’ They are immediately countered by the intellect (b), the analytic consciousness in search of knowledge. The sensation (c), or rather the “bloc of sensations composed of percepts and affects” (Deleuze), that here manifests itself in the skin’s willingness to expose itself, is countered by a logic of comparison, by a usage of concepts (d), which “jealously” defend their rights. At their point of intersection, the four contrasting elements produce an empty form, unconscious and ignorant of itself: the form of tragedy, of the tragic universe. This form is the place of the miraculous balance between all these instances, in particular the bones and the skin, i.e. a perfectly ordered dramaturgy and a perfectly ‘breathed’ textuality. This Andromaque staged by Liard demands that the actors (like the spectators) be located both inside, at the heart of things, as well as outside, i.e. on the side of the skin and the side of the bones. It overcomes the Western dualism of expressivity that, before Roland Barthes’ article “Dire Racine” and the work of ‘Barthesian’ directors like Antoine Vitez, Jean-Marie Villégier or Daniel Mesguich, would clog up the Racinian interpretation with numerous expressive effects.21 Diction is no longer conceived of as a decoration stuck to the obvious and lasting meaning but as that which constitutes the meaning. Meaning and expressivity cannot be separated. Liard’s mise en scène transports the actors (and later the spectators) across the alexandrines and the bodies, mobilizing their understanding of the bony solid structure as well as their fleeting sensations of the skin. The performance marks a balance between depth and surface, bone and skin, a balance that contemporary works rarely achieve because they get carried away by their burning interiority or—on the contrary—get stuck in cold formalism. When Racine is this magnificently spoken and given, it is as if the spiritual bone structure of our unconscious were directly articulated on the delicate skin of the alexandrine and the bodies. It is as if bone and skin were meeting in an undetermined place, always a somewhat secret one, that the actors must find by way of their practice and that the spectators must find on the surface of things. Conversely, a wellpitched voice, an appropriate point of support, a correctly held attitude and a tactility that is fully accepted will impact upon the intelligence of the text. Thus the entire universe of Racine (the inextricable interdependency of the different leaning points, the indistinguishability of caresses and blows, drives and words) appears on the verge of taking flight, as if it were no longer necessary to distinguish the three stages of the body any more than the different degrees of meaning.

21 Barthes: “Dire Racine,” in Barthes 2002, 167-174.

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6. White on White by Guillermo Gómez-Peña: Writing Identities Guillermo Gómez-Peña is a Mexican performer living in the United States, who provides a good example of a use of bodies that is more symbolic than literal. In his DVD Ethnotechno: Los Video Graffiti (2004), he uses a number of sketches by his group La Pocha Nostra. These short clips lasting two or three minutes are centered on the representation of the body, on Chicano identity in the Anglo-American milieu, on identity crisis, and on the politics of culture and language. In one of the sequences, White on White, a ‘white’(?) actor with a nude torso—which seems blue because of the lighting and the make up— successively writes a series of words on his body with a white marker: firstly, on his right arm, the word “white,” then on his chest from top to bottom, the words “race,” “suprematist,” “wash,” “power,” “trash,” On his left arm, he writes “lie,” evoking the phrase “white lie,” and ironically denouncing the beliefs of white racists. Whatever the intention or the political message, the act of writing on the body is not painful; it is neither tattooing, nor piercing, nor surgical grafting. The idea is not, as it is for Chris Burden or for Orlan, to cut into the flesh. Gómez-Peña is only interested in putting a smile on the face of the spectator, who witnesses the crafting of rather primitive slogans on a skin used as a blackboard. The—only partially naked—body recovers a more theatrical, less ironic, and less aggressive usage. The body does not tell anything directly, it is a carrier of writing, of implicit discourses. In his video work, Gómez-Peña makes fun of the digital high technology from which Chicanos are excluded: dressed in cyborg outfits with fantastical gadgets, the Chicanos in the video are nonetheless pursued by the border police. Their ‘primitive’ bodies are merely a collection of useless technological prostheses or hilarious exotic costumes. The primitives speak an invented language—supposedly pre-Columbian—wherein we can only discern a few brand names (Benetton, Calvin Klein). At the same time, as a performer, Gómez-Peña himself perfectly masters existing media technologies: he is capable of manipulating the objects around him and, increasingly, the media are recruited to transform the virtual stage environment. Most of the critical sketches use a naked body, an always excessive and theatrical one, decorated and deformed, parodying the gadgets and the disguises of modernity. The important thing is not the direct exposure of the body, but the narrative and political use to which it is put. The notion of physical theatre, as radical as it may have been, has moved for the last thirty years towards territories which might previously have seemed like natural enemies, such as the staging of classics or of political theatre. It returns to one of its starting points: collective devising, not so much the French 1960s kind, but something closer to the (English) notion of “devised theatre,” that is to say a theatre creating all of its material, following a logic of progressive construction of the signifier. This shift in physical theatre from the former collective devising corresponds to the Théâtre du Soleil’s current research, from Le Dernier Caravansérail (Odyssées) in 2004 to the 2007 production Les Ephémères. 160

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7. Les Ephémères by the Théâtre du Soleil: Inventing Collectively The notion of devised theatre only arrived in Great Britain in the 1990s, in connection with postmodern experimentation. Devising is “a method of making performance that is often non-text based and includes the collaborative participation of the whole creative company in all stages and aspects of performance making.”22 This definition can be applied to the Théâtre du Soleil’s current approach for Les Ephémères. In fact not everything in the production was developed collectively with the group of actors, as was the case with 1789 (1970), where no director oversaw the entire process. The work started with microprojects conceived and developed at a local level, which are framed and edited (in the filmic sense) by Ariane Mnouchkine. We should not get into a tricky genetic analysis of the different little scenes (this should be left to first year students or to retired learned professors: they alone have the time to be present for the entire process—a titanic task and a lost cause). Instead, we will continue to study the conception of body underlying this enterprise. The body of the actor is literally given to us on a platter. Two actorstagehands push a small, in most cases circular, wheeled platform onstage. Two or three characters are already engaged in an action, a dialogue or a silent situation that we can quickly identify. The wheeled platform crosses the stage lengthways between the two sides of the audience seating, which looks down, as in an operating theatre. It turns continually on its axis and moves longitudinally at the same speed. Thanks to this constant “tracking,” each spectator gains personal access to the intimate scenes. Each one feels directly addressed by them. The smallest detail takes on great meaning. The rotation is generally slow, but varies slightly in speed from one scene to the next. It depends on the stage atmosphere, which is primarily created by Jean-Jacques Lemêtre’s music. The movement of the chariots becomes almost a choreography in itself, a theatre of objects: at the end of each ‘act,’ the platforms cross the stage in order to take their bow as the public applauds. This very ordered ballet clearly serves the dramaturgy of each fragment and, to a lesser extent, the general dramaturgy, which resembles ‘éphémérides’: calendars whose pages are torn off each day. Throughout these slow rotations, the spectator experiences the pleasures of the voyeur, discovering the characters in all their facets, and following the progression of their consciousnesses and their thoughts, moving thoughts, lives that come together as we watch. The ephemeral is by definition short-lived, hard to grasp, momentary. It materializes in a brief moment when time stops, in a cinematic dissolve, or even in a close-up on a hidden aspect of existence. It coincides with illuminations, with satori—i.e. spiritual awakenings in Zen Buddhism—with unhoped-for meetings, and acceptance of and for the other. As in the chronophotography of Marey or Muybridge, every movement is as if reconstituted in a series of shots, intermediate stages, ephemeral impressions. In a deliberately confined space, which is stuffed with objects and encumbered by podiums, the movements of the actors are minimal and all the 22 Allain/Harvie 2006, 145.

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more significant. The spectacular, expressive, visible, expansive, theatricalized body of the Théâtre du Soleil as it was before, with its productions of Shakespeare or Greek tragedies in the 1980s, seems far away. With a miniaturizing and concentrating effect, the character appears in its day-to-day, minimalistic, typical environment. For certain actors, this looks like an obsessional reconstruction of the past, which is necessary for the emergence of the memories and the words, a sort of trigger in the Stanislavskian vein. This process of reconstitution and concentration is not without risks, since it readily deteriorates into a standardized production line of television sketches, which creates an effect of immediate recognition and overly familiar situations, and seeks to please a rather lazy audience. Fortunately, the ‘solar’ actors have learned to resist the temptation, and succumb to it only rarely. The system whereby scenes are returned to in the second half, with stories picking up where they left off (such as one about echography for example) sometimes leads to excessively long, repeated, gratuitous moments. But overall, the fresco of life gliding past in the stage space is impressively and precisely rendered. Is this the return of a theatre of situations? Not, in any case, in terms of a realistic or homogenous show. The fragmentation, that is the fate of this kind of montage, is compensated for by way of a unity of tone and of theme, the little scenes being placed in a network by the magic wand—and the whip—of Ariane Mnouchkine, all the while following an Ariadne’s thread. Let us take an example of this very successful synthesis of personal expression, the dramaturgy of the actor, French-style body art and traditional stage representation: in Sandra’s Birthday, Jeremy James plays the role of a transvestite celebrating his birthday one evening while babysitting a little girl (Galatea Bellugi). Answering the telephone, the character reveals that he finds painful the fact that he was born a man and would prefer to be thought of and to dress as a woman. His family and friends are not thrilled with this change of identity. Only the little girl understands him and defends him from her friends and her father. The very aggressive father, having come to collect his daughter, suddenly bursts into tears, and collapses onto the sofa. He needs the consolation and physical support that the transvestite cannot give him, except in a silent and compassionate way. We have just discovered that the father lost his wife and their child in a car accident. But are grief and pain the sole reasons for his collapse? Or is it frustration at seeing that his daughter prefers the company of the babysitter, and the fact that she desperately misses a feminine and maternal presence? These sudden and public tears also speak to the ‘woman’ looking after his child: they are an acceptance of the babysitter’s change of gender, of his difference, an awareness that sorrow is, of all things in the world, the most equally distributed. The transvestite’s embarrassed modesty, his hesitancy in touching or consoling the father, the way in which the transvestite watches television, with the little girl sleeping on his lap, these are nonverbal behaviors that the spectator is given to read. The pleasures of theatrical representation lie mainly in the interpretation of characters’ non-verbal behavior, but also in the involuntary clues that the actor leaves on the body, that does not know it is body art. The stage and the body of the actor are always the site of public exposure. By its very definition, the transvestite body gives itself to be seen. This occurs doubly in the theatre. A camp person is a ham actor: affected, effemi162

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nate, displaying poor taste and kitsch demeanor. Camp parodies heterosexual behavior to illuminate its constructed and performative aspect. There is none of this in Jeremy James’s acting. He is in no way parodic, and rather, it seems, aims to create the image and the gestures of a woman with all the usual stereotypes: being well-dressed and a good housekeeper, baking a cake using the family recipe. In this transvestitism the secondary sexual characteristics are the object of our attention: we are faced with body art because we are confronted with the real and constructed corporality of the actor. The actor works at literally presenting the appearance, deciding how those traits called masculine will be shown or neutralized in cross-dressing. The physical features (being tall, having a deep voice) are not masked or adapted to feminine norms. The body is not provoked or forced in an unfamiliar direction. There is no violence as there might be for an explicit,23 defiantly displayed, body, which would provoke a debate on pornography or sexual politics. We are far from the provocative displays of Caroline Schneemann or Cindy Sherman, even further from the systematic naked exposure of the woman in the work of Japanese photographer Nobuyoshi Araki,24 and further still from Gómez-Peña’s geisha, with its parody of elegant representation.25 In this French-style body art, as practiced by Jeremy James, the body is not explicitly shown and displayed. From the outset, it is placed in a narrative, at the service of a dramaturgical idea: the transvestite Sandra has no other ambition than that of being accepted by all: adults as well as children; of entering normality, and a petit bourgeois one for that matter. This episode, masterfully performed by James, is characteristic of the recent evolution of body art and of the dramaturgy of the actor. This signals the end of radical thinking on the body, but the body’s meaning must still be determined. Is it a restoration of the old order, or a more subtle subversion? This is how it is seen, with great insight, by Simon Shepherd and Mike Wallis: A plausible narrative runs that while in the 1960s counter-culture the body was naïvely deemed to be a resource of unalienated humanity, the “return” to the body in the 1990s was predicated upon the deconstructionist understanding of the “body in dis26 course” developed in the theory decade of the 1980s.

This general observation helps us evaluate what we glimpse in James’s scene about Sandra’s new identity: the body makes a visible comeback in the symbolic order of language and of the narrative. What really matters to Sandra is not so much the literal and biological body as the identity, the gender, that the desiring subject feels. Sandra accepts the negative gaze of the other (that of the little girl at the beginning, that of mocking children, that of disapproving 23 See Rebecca Schneider’s book The Explicit Body in Performance. Schneider 1997. 24 1991 colour print in Courtine 2006, 199. The strength and the ambiguity of the photograph reside in the gaze to the camera and in the impossibility of knowing if the provocation is an erotic invitation or a critique of the classical representation of the Japanese geisha. 25 See “La Kabuki Club Girl” in Ethno-Techno in Los Video Graffiti, vol. 1 (DVD, La Pocha Nostra 2004). 26 Shepherd/Wallis 2004, 145-146.

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fathers), but she subverts it without the other realizing. The transgression of sexual roles and identities has been accepted for a long time by the character, and the others are coming around to the idea. Even if his own father refuses to talk to him, the little girl’s father suddenly drops his defenses, himself becoming an object deserving of pity. Sandra is eager to be herself, not to please others. She knows that this amounts to a true acceptance, the moment when she and the girl’s father are able to change the subject. The problem for the character is how to make it so that the other, the one who accepts, does not lose face. How can she console the other, reassure the other, hold the other in her arms? This summons an ironic reversal of the body’s situation and status: the transgression of the past must now reassure yesterday’s wellmeaning norm, a norm that is less self-assured these days, because it has lost its reference points and certainties. The art of narrative, here more than elsewhere, is the art of not saying everything, of leaving things open or merely implied. Most of these ‘ephemeral’ playlets reconnect with the theatre of silence as well as with the 1970s ‘theatre of the everyday.’ As in that theatre, the playlets introduce realist details into a narrative that does not seek to globally pass for reality. Real objects, words really heard or pronounced, become part of a narrative system invented by the actors themselves and then by the director. Unlike the theatre of everyday life, the short scenes speak of autobiographical experiences. These are dramatizations of lived events, which are then shaped by the Soleil’s actors. Compared with Robert Lepage’s art of storytelling, the Soleil narrative approach might seem laborious and classical, even if it is true that each fragment obeys its own laws and sometimes finds indirect and original means of getting its message across. The—partially recorded—incidental music by Lemêtre, however clever and virtuoso it may be, often takes this too far: it coats the work in a sickly sentimentality, falling back, systematically and heavily, on one musical leitmotif—an old recipe from the world of film music. This unreasonable use of the leitmotif underlines what should simply be suggested by the acting. The art of narrative is also the art of montage. Montage within the shot, in the first instance, as each sequence decides what is shown or said, hidden or silenced. As in all writing, one chooses to reveal or to mask the motivations of the characters, to conclude or to maintain ambiguity. The tracking shots and the relativness or reversibility of the point of view induce a relativity or a finesse that perfectly match the ephemeral nature of things. This is also the art of “global montage,” that of the dramaturgical organization of the whole. This becomes manifest in the second part, once one starts to establish the network of all these figures. This connection is nonetheless more anecdotal than dramaturgical. It produces no story, no central image, no global point of view. The fugitive nature of things easily convinces us that any point of view is only provisional. More than a decentering, more than a deconstruction, Les Ephémères offers a decentralization, a delegation of directorial power to the actors working in the ephemeral world of memory. This return to a preoccupation that is at once decentralized and collective is good news. Collective creation is here much more than ‘devised theatre,’ that is to say a theatre imagined by a collective agency, a non-directive agent, working from what is found in the group and not from a preconceived idea. However, it 164

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must be stated that there is no history written of works collectively developed by theatre companies. The observation of mise en scène and of the directors’ choices will thus have to be helped along—i.e. completed and reinforced—by better knowledge of collective work. Does this mean a return to genetics? Or just the beginning of genetics? The example of a ‘theatricalized’ performance constitutes the meeting of physical theatre and the dramaturgy of the actor within the art of performance—a performance which tends to come back to a mise en scène, to a demonstration of controlled actions. The example of Les Ephémères confirms the impression that physical theatre has changed its identity since the 1960s, that it has disguised itself as something else. Since the last decade of the previous century it has invented new forms: the dramaturgy of the actor is only one of many possibilities. The notion of physical theatre has perhaps had its day: although useful in the 1960s as a reaction against the imperialism of dramatic literature, the term has lost some of its pertinence and its effectiveness since everyone now readily acknowledges the presence of the body in any kind of performance. If body art and performance art seem to us children of the postmodern and postdramatic era as historical genres, almost museum pieces (at least in the literal sense of the word), it is because a new model of the body has taken shape. It is no longer the ‘savage’ and ‘unshackled’ body of the 1960s, nor even the explicit body dear to Rebecca Schneider or Caroline Schneemann, but rather an imaginary, hybrid, fantasized body, mixed with language and discourse in search of multiple identities and of a multipolar subject. This embodied subject no longer has any need, for the sake of affirmation at least, to be placed in opposition to the spirit, to the text, or to technology. In the same manner, theatre no longer feels obliged to convince us that it is physical, linked to the actor, made up of ‘embodied events.’ Theatre has so well integrated (and embodied) this corporality that physical theatre in the strict sense of the term is no longer a relevant category and so theatre is free to pay other genres a visit. The staging of a classic is sometimes more sensuous and physical than a fossilized mimodrama, and contemporary writing often has the urgent need, in order to be understood, to spread its sentences and its rhetoric, its wings, as if it were a question of body parts or modulations of the voice. Artists like Robert Lepage and Simon McBurney have shown that the use of media can be grafted onto human presence, the art of storytelling, and the literal use of the human body. To this infinite extension of ‘embodied’ theatre—whether it be called ‘physical-’ or ‘gestural-‘—is added the fact that it has been taken up by the postmodern theoretical debate on multiple identities, a debate that in a way takes us directly from the stone age to the schizophrenic postmodern condition, to a prosthetic body, mixing animal flesh and computer parts, intended to make happy cyborgs of us.

Works Cited Allain, Paul/Jen Harvie (2006): The Routledge Companion to Theatre and Performance. London. 165

Pavis

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Planspiele im Kopf Produktionsdramaturgie zwischen Körperskepsis und -befreiung CONSTANZE SCHULER In einer Diskussion mit dem Titel Der Dramaturg als (Ko-)Produzent, die im Rahmen der Jahrestagung der dramaturgischen Gesellschaft 2005 stattfand, wurde über die veränderten Aufgaben, das im Wandel befindliche Bild von Dramaturgie gesprochen. Die 2007 verstorbene Dramaturgin, Intendantin und Festival-Organisatorin Marie Zimmermann hob in ihrem Diskussionsbeitrag den immer noch spürbaren Einfluss der Entwicklungen in den 1960er Jahren hervor, die nicht nur die Theaterlandschaft geprägt haben, sondern sich auch an einer grundsätzlich veränderten Funktion von Dramaturgie festmachen: Wir Dramaturgen sind sozusagen analytische, phantasievolle Begleiter. Das unterscheidet uns zum Beispiel vom Regisseur. Der Produktionsdramaturg der 1970er Jahre war ja in dem Sinne kein Funktionär, sondern der [...] kam auf mit dem großen Regieaufbruch der 1960er Jahre. Die Erfindung des Produktionsdramaturgen war die Anerkennung der großen Regisseure – Peymann, Zadek, Stein –, dass sie einen intellektuellen, nichtschöpferischen Partner brauchen, um ihren Kunstwelten und auch den Schauspielern in der Ausformulierung eine größere künstlerische Substanz zu geben. Wenn sie die Namen durchgehen, ist das ja nicht in der Kreide-Zeit passiert, diese Menschen gibt es ja heute noch. Botho Strauss hat als Kritiker begonnen, wurde dann Dramaturg an der Schaubühne. Die Schaubühne wäre ohne den Dramaturgen nicht denkbar gewesen.1

Hier wird ein Bild von Produktionsdramaturgie skizziert, das sich nicht zufällig in einer Zeit des gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Umbruchs an deutschen Bühnen – und beispielhaft an der Schaubühne Berlin – etabliert hat: Der Dramaturg und die Dramaturgin als intellektuelle Partner und Impulsgeber des Regisseurs, die gesellschaftliche Entwicklungen seismographisch aufnehmen und mit einem Gespür für theatrale Prozesse künstlerisch und/oder literarisch umsetzen. Die gesellschaftspolitischen Ereignisse und Unruhen um das Jahr 1968 finden ihren Nachhall im Theater nicht nur in neuen (kollektiven) Organisationsformen oder einer performativen Aushandlung von Körper- und Raumkonzepten, sondern auch in einer intensiven konzeptuellen Auseinandersetzung mit verschiedenen Theater- und Spielformen. Die reflexive Durchdringung von Texten in ihrer semantischen wie kulturge1

Vgl. die Zeitschrift der dramaturgischen Gesellschaft: „dramaturgie“ 1/2005.

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schichtlichen Dimension, die strenge Positionierung von Theaterarbeit (im Sinne einer intensiven körperlichen wie geistigen Tätigkeit) im gesellschaftlichen Gefüge, das Ringen um kreative Abweichungen von der Uniformität bürgerlicher Theaterformen – all dies ruft die „grauen Eminenzen“ des Theaterbetriebs, die Dramaturginnen und Dramaturgen auf den Plan. Aufgaben und Positionen von Dramaturgie werden im Zuge dieser Entwicklung neu bestimmt und zwischen diskursiver Wissensvermittlung und theaterpraktischer Umsetzung angesiedelt. Programmatische Entwürfe flankieren das Theaterereignis und spiegeln den „Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken“.2 Die Einflüsse und Nachwirkungen dieses Aufbruchs sind immer noch deutlich spürbar, auch wenn sich das Berufsbild im Hinblick auf andere, nicht textbasierte, „postdramatische“ Theaterformen inzwischen stark ausdifferenziert hat: Der Dramaturg als Anwalt des Textes ist als alleiniges Profil zu schmalspurig geworden, als „Intellektueller im Sinne des Mit-Denkers der künstlerischen Praxis“ bleibt er jedoch unabdingbar für ein Theater „das mehr sein will als ein Service-Betrieb“.3 Angesichts der gestiegenen Anforderungen und verschwimmenden Grenzen zwischen den Aufgabenfeldern im Hinblick auf Marketing, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Organisations- und Produktionsleitung hat sich das Berufsbild in den letzten Jahrzehnten dennoch nachhaltig verändert. Trotz aller Veränderungen: Damals wie heute fällt es schwer, sich Dramaturginnen und Dramaturgen als eine besonders körperbefreite Spezies vorzustellen – das haben sie wohl mit Wissenschaftlern gemein. Ihr Haupttätigkeitsfeld scheint – bei aller zunehmenden Flexibilisierung – der Kopf zu sein, verstanden als die analytische „Schaltzentrale“ des Theaterbetriebs. Hier wird Wissen gesammelt, sortiert, vernetzt und in den künstlerischen Prozess hineingetragen. Die sorgfältige Sondierung eines Geflechts aus literarischen Texten, kulturhistorischen Zeugnissen und aktuellen zeitgeschichtlichen Anknüpfungspunkten ist im Idealfall Anregung und Voraussetzung für die theatrale Umsetzung, für das mal stilisierte, mal (de-)konstruktivistische, mal exzessiv befreite Spiel mit Körperlichkeit auf der Bühne. Am Beispiel der Berliner Schaubühne und der „Schaubühnen-Trias“ Dieter Sturm, Botho Strauß und Peter Stein soll im Rahmen dieses Beitrags der Frage nachgegangen werden, wie sich die Aufwertung und Neubestimmung von Dramaturgie auf die in den Inszenierungen präsentierten Körperkonzepte auswirkt. Verbindet sich mit der intensiven Auseinandersetzung und reflexiven Durchdringung von Texten eine gewisse Skepsis gegenüber dem Körper? Bremst die gewissenhafte dramaturgische Vorarbeit und die Wissensvermittlung im Probenprozess den performativen Impuls der Inszenierung? Oder schafft das diskursiv vermittelte Wissen erst die Grundlage, den Körper des Schauspielers für die prinzipielle Irrationalität, den Exzess des theatralen Vorgangs zu befreien? Welche Spuren haben die gesellschaftlichen Ereignisse der ausgehenden 1960er Jahre hinterlassen und wie sah die künstlerischdramaturgische Auseinandersetzung in den Folgejahren an der Schaubühne aus? Neben der unbestrittenen theaterästhetischen wie kulturpolitischen Relevanz der Unternehmung „Schaubühne“ spricht auch eine einzigartige Quel2 3

Strauß 1987, 50. Lehmann 2005, 13.

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lenlage, die die ansonsten schwer dokumentierbare, manchmal geradezu „unsichtbare“ Arbeit von Dramaturgie in das Licht der Erkennbarkeit rückt, für die Auswahl dieses sicherlich bekanntesten Fallbeispiels. Dramaturgische Arbeit kann dabei naturgemäß nicht isoliert betrachtet werden, sondern realisiert sich im dynamischen Wechselspiel zwischen Regie, Dramaturgie und Schauspiel, an der Schnittstelle zwischen Textanalyse, Textproduktion und Inszenierung. Die oben formulierten Fragen lassen sich daher auch nur auf Basis einiger ausgewählter Schaubühnen-Inszenierungen und den Vorarbeiten hierzu beantworten.

1. Ausgangspunkte Das Profil, die „Spielrituale“ und der „intellektuelle Grundduktus“4 der jungen Schaubühne wurden seit dem Jahr 1970 maßgeblich von dem Dramaturgen Dieter Sturm und dem Regisseur Peter Stein geprägt. Sturm – der schon einige Jahre als Dramaturg (u. a. an der „alten“ Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer) tätig war und der sich in den Jahren zwischen 1966 und 1970 aktiv im Berliner SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) engagierte – eilte schon damals, so berichtet Botho Strauß, der Ruf voraus, unter den „Berliner Revolutionären nicht nur über die großzügigste historische und politische Bildung zu verfügen, sondern dazu noch über eine einzigartige Bibliothek.“5 Eine Tatsache, die Stein durchaus interessiert haben dürfte und so kommt es in der Theatersaison 1969/70 zur ersten Zusammenarbeit am Züricher Schauspielhaus. Im Umfeld der Inszenierung von Middelton und Rowleys Stück Changeling wurde nicht nur der Grundstein für die langjährige Zusammenarbeit zwischen Dieter Sturm und Peter Stein gelegt, es wurden auch konkrete Pläne zur Gründung einer neuen Schaubühne in Berlin geschmiedet.6 Parallel dazu beschäftigte sich ein Teil des Züricher Schauspielerensembles mit einer Produktion auf der Basis von Wolfgang Deichsels Stück Frankenstein und versuchte, Möglichkeiten und Grenzen eines kollektiven Arbeitsprozesses auszuloten.7 Bruno Ganz fasst die Erfahrungen mit dem Frankenstein-Projekt 1972 rückblickend zusammen: In Zürich spielte sich ein Teil des Vorprozesses ab, der für die Schaubühne ziemlich wichtig war: die „Frankenstein“-Produktion, die wir drei Monate nur unter uns probten. In diesem Zusammenhang stellten sich antiautoritäre Fragen wie Abschaffung der Regie usw. [...] Nach „Frankenstein“ waren wir der Meinung [...], daß sich dann doch, gewissermaßen naturwüchsig, innerhalb der Gruppe, in einem völlig demokratischen Prozess gewisse Leute herausbilden würden, die ein solches Unternehmen führen und leiten könnten. Dann merkte man, daß es Stücke gibt, bei denen das ganz unmöglich ist, jene Stücke nämlich, die dicht gebaut sind, eine große Architektur haben und in denen Sprache eine vorrangige Rolle spielt: Man merkte, daß man da einen Büchsen4 5 6 7

Zipes 1983, 249. Strauß 1999, 18. Vgl. Zipes 1983, 248. Vgl. Schieb 2005, 90. Zum Aspekt des „Kollektiven“ vgl. den Aufsatz von Matthias Warstat in diesem Band.

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Schuler öffner braucht. Also jemanden der einiges über so ein Stück weiß und daher etwas in 8 Bewegung setzen kann.

Bruno Ganz nimmt hier – ganz nebenbei – eine ebenso klare wie einleuchtende Funktionsbestimmung von Dramaturgie vor: Der Dramaturg als Büchsenöffner. Neben dem Regisseur, der das Essen kocht und zubereitet, braucht es noch jemand anderen: Denjenigen, der die Verpackung knackt, das geeignete Werkzeug hierfür bereit stellt, den Zugriff auf die Zutaten ermöglicht und möglichst auch noch etwas über die Zusammensetzung der enthaltenen Lebensmittel weiß. Die Frage nach der Struktur von Texten und Sprache, nach kulturgeschichtlichen Hintergründen und Anknüpfungspunkten wird also – auch aus Sicht der Schauspieler – zum entscheidenden Impulsgeber für die szenische Arbeit. Damit sind zwei wichtige Aspekte angesprochen, die zu tragenden konzeptionellen Säulen der Schaubühnenarbeit werden: Neben der Arbeit mit den Schauspielern bildet die Aufwertung von dramaturgischen Fragen den wichtigsten Bezugspunkt für den Produktions- bzw. Probenprozess. Der hochgesteckte Anspruch der ersten Schaubühnenjahre überträgt sich auch auf die Arbeit mit den Schauspielern: Wir haben von den Schauspielern stets so viel wie möglich gefordert, bis hin zu dem Punkt, wo sie es gerade noch packen können. [...] Wir haben verlangt, daß sie sich mit anderen Dingen beschäftigen, nicht nur mit dem Verziehen des Gesichts, nicht nur mit der eigentlichen theatralischen Arbeit, die Psyche und Physis betrifft. Dieser Anspruch wird von uns immer wieder an die Schauspieler herangetragen, so daß sie sich 9 ständig gefordert, vielleicht sogar unter Druck fühlen.

Aus der Äußerung Peter Steins lässt sich durchaus eine gewisse Geringschätzung gegenüber der „eigentlichen theatralischen Arbeit“, eine Skepsis gegenüber den psycho-physischen Prozessen des Schauspielens ablesen. Auch der Intellekt des Schauspielers soll herausgefordert, sein Bewusstsein für geschichtliche Zusammenhänge geschult werden. Dies geschieht auch auf ausdrücklichen Wunsch der Schauspieler, die dies im Hinblick auf die Erweiterung des eigenen Bewusstseins und des schauspielerischen Ausdrucksrepertoires vehement einfordern. Trotz allem ist das Ziel der Arbeit – so Dieter Sturm – weniger das „Anhäufen von Wissen“, die Analyse oder das „Durchleuchten von Dingen“ als vielmehr die „Destruktion von Scheinwissen und das Hinterfragen von vorschneller Analyse“.10 Grundvoraussetzung für alle Schaubühnenarbeit ist „ein Bezweifeln und Befragen der theatralischen Mittel und Inhalte, die man im Theater behandelt“11. Dieses konsequente Bezweifeln und Befragen von theatralen Mitteln macht auch vor dem Körper der Schauspieler nicht halt und beinhaltet in der Tendenz eine latent körperskeptische und theaterkritische Haltung. Dies wird umso deutlicher, wenn Stein vom Theater als einem „lä-

8 9 10 11

Zit. nach Schieb 2005, 91. Zipes 1983, 250. Zipes 1983, 251. Zipes 1983, 252.

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cherlichen Gewerbe“12 spricht, das seine Existenzberechtigung jeden Tag aufs Neue belegen müsse.13 Den aus diesem Prinzip des Bezweifelns theatraler Mittel resultierenden Arbeitsprozess beschreibt Stein denn auch als einen äußerst skrupulösen Vorgang: Trotz der Anzweiflung oder Selbstbezweiflung unserer Arbeitsweise und unserer Spielweise wollen wir etwas damit anfangen. Und dann fangen wir an, und fangen ziemlich skrupulös und kompliziert an. Wir benutzen viele Hilfsmittel, die vielleicht andere Schauspieler und Theaterleute nicht benutzen, da sie nicht die Notwendigkeit sehen, sie zu benutzen, wie Lektüre, literarische Studien, wissenschaftliche Arbeiten politische Überlegungen, Filme, Bilder usf. – eigentlich ganz normale Dinge, nur wird das bei uns relativ heftig und extensiv gemacht. Dann, auf der Probe, fangen wir an, uns einen Ruck zu geben und Dinge, die man begriffen oder eingesehen hat oder geahnt hat, mit dem Körper zum Ausdruck zu bringen und dazu ein paar Bewegun14 gen zu machen. Das fällt dann sehr schwer.

Die dramaturgische Vorarbeit scheint die körperliche Umsetzung, die Übertragung auf die Bühne nicht notwendigerweise zu erleichtern. Im Gegenteil: „Eine solche Methode birgt die Gefahr“, so Botho Strauß, „einen Schauspieler, dem dieser Anspruch quer in die Glieder fährt, in seiner Spielfreude einzuschränken und ihn zu langweilen und zu steifen Ergebnissen zu führen“.15 Dem performativ-körperlichen Impuls des Schauspielers wird somit ein reflexiver Widerstand entgegengesetzt, den es im Probenprozess in kontrollierter Weise wieder aufzulösen gilt. Die Aufwertung von Dramaturgie bringt – so könnte man vermuten – eine Art „Verwissenschaftlichung“ des Arbeitsprozesses mit sich, die für intuitive Körperlichkeit, das befreite, ja gar exzessive Spiel mit Körperlichkeit auf den ersten Blick kaum Raum lässt. Diese Beobachtung korrespondiert mit dem Ruf nach Etablierung einer „Dramaturgischen Wissenschaft“, wie sie 1968 anlässlich eines Symposiums zu Ehren von Brechts siebzigstem Geburtstag laut wurde: Der Regisseur und BrechtMitarbeiter Manfred Wekwerth forderte im Rahmen dieses Symposiums dazu auf, dramaturgische Formprobleme in den Probenprozess einzubeziehen und zu überprüfen, „welchen Einfluß die experimentell-analytischen Verfahren des exakten Denkens auf die dialektische Ästhetik des Theaters haben können.“16 Manfred Bierwisch, Linguist und Strukturalist, verwies auf die grundsätzliche Mehrdeutigkeit einer Fabel und fragte nach den theatralen Mitteln, mit denen verschiedene Lesarten ein und desselben Strukturzusammenhangs auf der Bühne realisiert werden könnten.17 Neben dem Ruf nach Verwissenschaftlichung, der sich natürlich auch als Reminiszenz auf das Brecht’sche „Theater für ein wissenschaftliches Zeitalter“ versteht, macht 12 Zit. nach Fiebach 1998, 258. 13 Diese Sichtweise auf Theater zu Beginn der siebziger Jahre ist sicherlich auch noch Teil des Legitimationsdrucks, der angesichts von einschneidenden gesellschaftspolitischen Veränderungen auf künstlerischer Tätigkeit an sich liegt. 14 Zit. nach Zipes 1983, 253. 15 Schieb 2005, 415. 16 Strauß 1987, 71. 17 Strauß 1987,.71f.

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sich hier auch die strukturalistische „Mode“ der damaligen Zeit als wichtiger Einflussfaktor bemerkbar.18 Wie stark auch Peter Steins Arbeit von einem solchen, im weitesten Sinne strukturalistischen Ansatz bestimmt ist, macht eine von George Banu berichtete Begebenheit deutlich. Banu und Stein besuchen gemeinsam das Anatomische Theater in Bologna und es spielt sich folgender Dialog ab: „Um das Leben zu verstehen, muss man zunächst wissen, woraus es gemacht ist“, sagte ich banal. „Ja“ antwortete Stein, „das gilt, denke ich, für die Texte. Wenn man sie inszeniert, muss man sie zuerst bis aufs Kleinste auseinandernehmen.“ Und so blieb für mich das „Theater der Anatomie“ das Gedankenmodell von Steins bevorzugtem Theateransatz. […] Der Anatomieprofessor verbietet sich jeden Eingriff in den Text, denn er hofft, […] den organischen Körper, der die verborgene Einheit des künstlerischen Körpers bewahrt [zum Leben zu erwecken]. Ein wieder belebter Körper, kein 19 verstümmelter Körper.

Um die Einheit des Textes wieder auf der Bühne zum Leben zu erwecken, bedarf es des leiblichen Körpers der Schauspieler. Das latente Misstrauen gegenüber dem Körper und seinen Ausdrucksmöglichkeiten kann sich im Probenprozess, im Wissen um die zur Theatralität drängenden Form des Dramas auflösen. Damit unterliegt auch der Körper des Schauspielers jener, für das Theater so konstitutiven Paradoxie: Das Theater ist laut Stein eine Veranstaltung, in der völlig irrationale Dinge nach rasch bestimmten Regeln reproduziert werden. Bestimmte Exzesse werden planmäßig vorbereitet, gezüchtet, durchgeführt und auch wieder abgeschlossen. [...] Diese Fähigkeit zum geregelten Paradoxon, zur geregelt durchgeführten und kontrollierten Irrationalität ist ein Teil 20 des Theaters.

Der Schauspieler muss psychisch wie physisch in der Lage sein, diese „kontrollierte Irrationalität“ auf der Bühne auszudrücken und für die Zuschauer begreifbar zu machen. Um also, dem Titel dieser Veröffentlichung entsprechend, „Politik mit dem Körper“ machen zu können, müssen Regelhaftigkeit und Exzessivität, Zeichenhaftigkeit und Performativität in der Person des Schauspielers gebündelt sein und in einer ausgewogenen Balance zusammenwirken. Anderenfalls bleibt es bei geistloser Agitation oder blutleeren, ästhetizistisch-formalen Experimenten. In der Tat wird also der Körper des Schauspielers zum Austragungsort der für die frühe Schaubühnenarbeit konstitutiven Spannung zwischen einer grundsätzlichen Befragung aller theatralen Mittel und des untrüglichen Gespürs für die notwendige Theatralität einer Aufführung. Den Neubeginn an der Berliner Schaubühne und den Einfluss der gesellschaftspolitischen Umwälzungen der 1960er Jahre schätzt Botho Strauß rückblickend sehr kritisch ein: 18 Zum Einfluss strukturalistischen Denkens auf die Schaubühnenarbeit und die Terminologie Botho Strauß’ vgl. ausführlicher Fiebach 1998, 277 ff. 19 Banu 2002, 156 u. 159. 20 Zipes 1983, 256.

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Planspiele im Kopf Dann wurde das Theater gegründet unter dem großen Anspruch, daß man ein seiner selbst bewußtes Theater machen wollte. Dabei kam es auch zu unsäglichen intellektuellen Verirrungen, die dazu angetan waren, das Künstlerische in größte Bedrängnis zu bringen. Die Achtundsechziger haben ja gar nichts von künstlerischem Wert hervorgebracht, nur Jargon, nichts ist dabei hervorgekommen. Die mögen ja an den Universitätsstrukturen einiges geändert haben, bei der Libertinage und dergleichen, aber 21 in ästhetischer Hinsicht ist das gleich Null.

Bereits in seinem 1970 in Theater heute erstmals veröffentlichten Essay „Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken“22 spricht Strauß die Kluft zwischen politischem Anspruch und künstlerischtheatraler Umsetzung in der Folge von 1968 an. Er attestiert in diesem Zusammenhang nur zwei Inszenierungen eine, den politischen Umbrüchen der Zeit vergleichbare, „ästhetische und emanzipatorische Aktualität“23: Peter Steins Inszenierung von Goethes Torquato Tasso und Zadeks Inszenierung nach Shakespeares Maß für Maß. Beide Inszenierungen zeichneten sich, so Strauß, nicht durch eine bloße Entfesselung der expressiven Qualitäten des Körpers aus, sondern auch durch eine „demonstrative Pointierung aller Expressionen“24 und die Intensität „einer semiotischen Darstellungsweise“25. Am Beispiel ausgewählter Inszenierungen der Schaubühne möchte ich nun im Folgenden untersuchen, ob es auch diesen Regiearbeiten gelingt, durch die geregelte Verschmelzung zeichenhafter wie perfomativer Qualitäten des Schauspielerkörpers die dramaturgisch-konzeptionellen Überlegungen transparent werden zu lassen.

2. Facetten des Körpers: Peer Gynt (1971) Mit der Peer Gynt-Inszenierung stößt Botho Strauß als Dramaturg zum Team der Schaubühne und vollzieht den Seitenwechsel vom Kritiker zum Dramaturgen und späteren Dramatiker. Für Strauß war die Arbeit an Peer Gynt, wie er selbst sagt, eine Art Initiationserlebnis; die intensive Probenarbeit erlaubte ihm, die Beziehung zu Text und Schauspielern studieren zu können und sich so einen Zugang zum Theater zu verschaffen.26 Die Peer Gynt-Produktion ist eine der ersten Schaubühnenarbeiten an denen Stein, Strauß und Sturm – zumindest in der dramaturgischen Vorbereitungsphase – gemeinsam arbeiteten. Mit der Entscheidung für Ibsens dramatisches Gedicht Peer Gynt fiel die Wahl wohl nicht zufällig auf ein Stück, das zwischen Lesestück und dem Verweis auf überbordende Bildhaftigkeit und Theatralität angesiedelt ist. Dem modernen Lesestück ist – so Martin Puchner in seinem Buch Theaterfeinde. Die anti-theatralischen Dramatiker der Moderne27 – eine Struktur des 21 22 23 24 25 26 27

Zit. nach Schieb 2005, 96. Strauß 1970, 61-68. Wieder abgedruckt in Strauß 1987, 50-73. Strauß 1987, 57. Strauß 1987, 58. Strauß 1987, 62. Vgl. Schieb 2005, 132. Puchner 2006.

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Widerstands, eine Form des Anti-Theatralismus immanent, die gleichzeitig thematisiert, dass das Lesestück nicht in der Lage ist, sich von der Normativität des Theaters zu lösen. Der Widerstand des Lesestücks gegen das Theater kann somit ein eigenes, neues Theater hervorbringen und es ist genau diese Tatsache – die Spannung zwischen Literarizität und Theatralität – die Stein und sein Team gereizt haben dürfte. In den umfangreichen Protokollen28 zur Inszenierung, die den Produktionsprozess dokumentieren, erwähnt Stein immer wieder, dass er das Stück für „unbeschreiblich literarisch“29 hält. Gleichzeitig weisen Stein und Sturm darauf hin, dass Peer Gynt an seiner Oberfläche besonders reich, bunt und balladenhaft sei. Sie begreifen es als besondere Herausforderung, den ganzen „Bildersaal von Gemütskitsch“30 auf der Bühne lebendig zu machen. Ein „Gemütskitsch“, der gleichzeitig auch bürgerliche Theaterphantasien spiegelt, ausstellt und hinterfragt. Die Produktion stellt das gesamte Schaubühnenteam vor immense Anforderungen: In der Vorbereitungsphase werden Referatsthemen zu Schlüsseltexten und -themen der bürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts vergeben und es wird auf breiter Basis über dramaturgische Fragen im Hinblick auf Textbearbeitung und Figurenkonzeption diskutiert. Die Bearbeitung des Textes setzt starke dramaturgische Eingriffe hinsichtlich der Übersetzung und Strichfassung voraus. Für einige Teile soll die artifizielle Distanz der Versform erhalten bleiben, an anderen Stellen sucht man bewusst nach einer Brechung der Versform und macht den Text, sowie die Übersetzung für eine individuelle Aneignung im Probenprozess offen. Die Szenenanweisungen Ibsens – und damit die Verweise auf eine szenisch-theatrale Umsetzung – werden komplett und ungekürzt in die Textfassung der Schaubühne übernommen. Im Rahmen der Probenarbeit werden bei den Dramaturgen Strauß und Sturm unterschiedliche Herangehensweisen sichtbar: Für das umfangreiche Programmbuch beschreibt Strauß die Fabel des Stückes und verspürt darüber den Drang, sich selbst dem dramatischen Schreiben zuzuwenden: „Das war also eine Art Geburt des Schriftstellers aus dem Übermut des Dramaturgen.“31 Im Gegensatz dazu verweigert sich Dieter Sturm nahezu vollständig Äußerungen in schriftlicher Form; seine mündlichen Ausführungen während des Probenprozesses sind hingegen legendär. Im Gegensatz zu Strauß wählt Sturm ganz bewusst die Form der Oralität, der mündlichen Rede, um sein Wissensarchiv lebendig und für das Team zugänglich zu machen. Interessanterweise ist es gerade Sturm, der immer wieder für die Theatralität der Peer Gynt-Inszenierung plädiert und von der Idee, die Rolle des Peer auf verschiedene Darsteller aufzuteilen, nicht restlos überzeugt ist. Während Stein und Strauß in den Protokollen die kollektive Idee, und die Möglichkeit einen Grundtypus in verschiedenen Facetten und Perspektiven zu zeigen, betonen, warnt Sturm vor dem Verlust der Kontinuität der Figur, der blutleeren Katalogisierung von verschiedenen Verhaltensmustern.32 Die Arbeit profitiert 28 Die Protokolle sind in der Dokumentation/dem Programmbuch zur Inszenierung abgedruckt, vgl. Schaubühne 1971, 65-75. 29 Zit. nach Schieb 2005, 129. 30 Schaubühne 1971, 68. 31 Zit. nach Schieb 2005, 133. 32 Schaubühne 1971, 72.

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ganz wesentlich von diesen unterschiedlichen Positionen innerhalb des Teams; somit kann die Balance zwischen Brecht’schem „Zeige-Gestus“ und performativer Vitalität der Aufführung gewährleistet werden. Die Peer Gynt-Inszenierung wird zum beispiellosen Erfolg für die Berliner Schaubühne. Es gelingt, die dramaturgischen Vorarbeiten in die theatrale Umsetzung einfließen zu lassen und für die Geschichte Peers, die auch als eine Geschichte des Aufstiegs und Falls des Kleinbürgertums im 19. Jahrhundert gelesen werden kann, ebenso sinnliche wie vieldeutige Bilder zu schaffen. Volker Canaris rühmt in seiner Kritik insbesondere die Vielschichtigkeit der Figurenzeichnung, die dialektische Darstellungsweise der Schauspieler: Diesen Stil, eine Figur zu spielen und Kritik an der Figur, hat Peter Stein verblüffend genau mit den Schauspielern, mit denen er arbeitet, entwickelt; die bürgerliche Theaterästhetik vom „Verkörpern“ einer Rolle ist da so perfektioniert, daß sie in eine neue Kategorie umschlägt, in einen dialektischen, kritischen Ästhetizismus, eine ästheti33 sche Erkenntnismethode.

In der ihm eigenen Tendenz zu Selbstkritik, Skrupelhaftigkeit und (gelegentlicher) Missmutigkeit hält Stein in einem Interview aus dem Jahr 1984 dagegen: Ich werde nie wieder akzeptieren, daß eine Produktion wie „Peer Gynt“ das Licht der Welt erblickt. [...] In Peer Gynt haben die Schauspieler schamlos herumgeplantscht, -gemantscht und -gespritzt. [...] Folglich ist eine Leichtfertigkeit, eine Oberflächlichkeit in der Umsetzung der Strukturen zutage getreten, die ich nicht mehr ertragen könnte, 34 nicht einmal körperlich.

Die Äußerung Steins macht deutlich, dass er der ungebremsten Spielfreude der Schauspieler stets einen analytisch-strukturalistischen Widerstand entgegensetzen will. Vielleicht ist es gerade dieses Verhältnis scheinbar kontraproduktiver Kräfte, das den besonderen Erfolg und die Überzeugungskraft dieser Peer Gynt-Inszenierung ausmacht, die souverän zwischen analytischer Genauigkeit und sinnlicher Körperlichkeit vermittelt. Damit erweist sich auch die sorgfältige dramaturgische Vorarbeit, die ausgiebige Erarbeitung verschiedener, für das Stück relevanter Themenbereiche (Geschichte des 19. Jahrhunderts und des Kleinbürgertums, Exkurse zu Exotismus und Trivialliteratur etc.) nicht als Umweg, sondern als notwendige Voraussetzung für die künstlerische Glaubwürdigkeit der Inszenierung und das szenische Hinterfragen bürgerlicher Traditions- und Verhaltensmuster.

33 Canaris 1971, 32. 34 Zit. nach Schieb 2005, 130.

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3. Nach der Revolution ist vor der Revolution: Die Sommergäste (1974/1975) 1974 entscheidet sich das Ensemble dafür, sich an Maxim Gorkis Sommergäste heranzuwagen und somit eine Annäherung an die Stücke der russischen Realisten zu versuchen. Die Inszenierung spiegelt auch das Interesse Steins an einer Schicht des russischen Bürgertums und Kleinbürgertums im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, deren Vertreter zwischen fin-de-siecle-Stimmung, Überdruß, Zynismus, bequemlicher Gleichgültigkeit und sozialutopischer Aufbruchsstim35 mung schwankten.

Die Inszenierung der Sommergäste wäre nicht denkbar gewesen ohne die vorausgegangene langjährige Ensemblearbeit: Das Stück erfordere, so Stein, „eine Mischung aus effektsicherer Absichtlichkeit und einer vollständigen Unabsichtlichkeit bei nachdrücklicher physischer Präsenz der Schauspieler“36. Die Handlung des Stückes lässt sich knapp zusammenfassen: Am Vorabend der russischen Revolution trifft eine Gruppe von dreizehn Sommergästen in einer Datscha zusammen, darunter der Schriftsteller Schalimow, der sich in einer Schaffenskrise befindet und die Ärztin Marja Lwowna, die sich mit den herrschenden gesellschaftlichen Missständen nicht abfinden und soziale Verantwortung übernehmen will. Man liebt sich, man hasst sich und man diskutiert ununterbrochen gegen die lähmende Stagnation des bürgerlichen Alltagslebens an. Am Ende wagen drei Frauen und zwei Männer den Auf- und Ausbruch aus den gewohnten Strukturen in eine ungewisse Zukunft. Von Anfang an stand fest, dass das Stück, dessen Dramaturgie durch ständige Auf- und Abtritte gekennzeichnet ist, stark bearbeitet werden sollte: „Wir wollten mit einer Totale anfangen und nicht mit der Tür-auf-Tür-zuMethode, mit der das bei Gorki losgeht“37, so Stein. Alle Figuren des Stücks sollten zu Beginn der Handlung an einem Ort versammelt sein und so dem Zuschauer die Möglichkeit geben, das komplexe Beziehungsgeflecht und die unterschiedlichen Haltungen der Figuren kennenzulernen. Dazu musste das Stück vollständig umgearbeitet werden, ohne es jedoch zu dekonstruieren oder zu zerstören.38 Botho Strauß entwickelte aus den Improvisationen der Schauspieler einen Prolog, der auch die Eröffnungssequenz der späteren Verfilmung aus dem Jahr 1975 bildet, auf die sich meine Beobachtungen im Folgenden stützen. Zu Beginn des Films befinden sich die handelnden Personen im Inneren der Datscha, obwohl – das verdeutlicht das Anfangsbild, in dem die Datscha von außen bei herrlichem Sonnenschein gezeigt wird – das Wetter durchaus dazu angetan wäre, auf der großzügigen Terrasse zu sitzen. Eng zusammengedrängt in einem schmalen Flur entspinnt sich eine lebhafte Dis35 36 37 38

Schieb 2005, 306. Kranz 1981, 187. Kranz 1981, 192. Vgl. Kranz 1981, 192.

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kussion über die Aufgaben der Literatur und die politische Verantwortung des Schriftstellers. Die Ärztin Marja Lwowna plädiert dafür, dass Schreiben immer auch eine revolutionäre Tätigkeit sei und ein bekannter Schriftsteller wie Schalimow seine Stellung in der Öffentlichkeit nutzen sollte, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Dem halten die anderen Sommergäste entgegen, dass es bei literarischen Werken doch eher um Schönheit, Poesie und Ästhetik gehe. Der Schriftsteller Schalimow selbst, an dessen Person sich die Diskussion offensichtlich entzündet hat, scheint müde und antriebslos, reagiert abweisend und pocht auf sein Erholungsbedürfnis. Den Figuren wird in dieser Szene denkbar wenig körperlicher Handlungsspielraum gegeben; sie präsentieren sich als „Kopfmenschen“, die reden und diskutieren, aber (noch) unfähig scheinen, an ihrer beengten Situation und ihren kleinbürgerlichen Denk- und Rollenmustern etwas zu ändern. Die auch im Film deutlich spürbare physische Präsenz der Schauspieler, ergibt sich aus dem genau geführten Dialog, den präzise platzierten Argumenten und der „effektsicheren Absichtlichkeit“ aller Gesten und Haltungen auf engstem Raum. Gerade das Hervorheben des diskursiven Elements bei gleichzeitiger „Askese“ der körperlichen Ausdrucksmittel macht die besondere Intensität dieser Szene aus.

Abb. 1: Der Prolog. Marja Lwowna (Jutta Lampe, re.) konfrontiert Jakow Schalimow (Bruno Ganz, li.) mit ihren Ansichten über die Aufgaben der Literatur

Mit der markanten Diskussion um die Rolle und Verantwortung des Künstlers in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs ist der Beginn des Films auch als selbstreflexive und selbstkritische Positionierung der künstlerischen wie kollektiven Arbeit des Schaubühnenensembles nach 1968 zu lesen. Die geschichtliche Verbindungslinie zwischen 1905 und 1968 macht deutlich, dass 177

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nach der Revolution immer auch vor der Revolution ist: Die Bequemlichkeiten eines bürgerlichen Lebens haben stets Konjunktur, verhindern das kritische Hinterfragen und können handlungs- und bewegungsunfähig machen. Das Theater kann einen Anstoß liefern, sich den Zumutungen des „Bezweifelns“ auszusetzen. Im Fall der Sommergäste hat die dramaturgische Bearbeitung des Stückes durch Botho Strauß einen wesentlichen Anteil daran, dass sich die Figuren „aus der kritischen Schilderung der Verhältnisse im vorrevolutionären Russland“ lösen und aus einem „eher gegenwärtigen Zeitgefühl“ heraus gedeutet und verstanden werden können.39 Die geschichtlichen Ereignisse lassen sich in die Gegenwart transponieren und eröffnen den Blick für Handlungsoptionen, die auf die prinzipielle Freiheit des Menschen jenseits festgefügter Wertesysteme oder Normen verweisen.

4. „Take Up the Bodies“ Eine theatergeschichtliche Leistung wie die Gründung des Schaubühnen-Ensembles muß [...] die Chance haben, in der nachfolgenden Generation in Vergessenheit zu geraten, um vielleicht später einmal beispielhaft, als produktive Legende, wieder aufzutauchen. [...] Das umwälzende Vergessen ist wichtig und nötig, und man darf jetzt schon sagen, daß von den fünfzehn Jahren Schaubühnenarbeit keine Spur zum jünge40 ren deutschen Theater führt.

Take Up the Bodies, so lautete der an Shakespeares Hamlet und Herbert Blaus gleichnamiges Buch41 angelehnte Titel der Konferenz, die dieser Veröffentlichung im Sommer 2008 vorausging. Auch wenn sich Strauß’ Appell problemlos damit in Verbindung bringen lässt und im übertragenen Sinne heißen könnte, die Bühne für ein neues Spiel frei zu machen und sich von den überlangen Schatten der Regie- und Dramaturgieveteranen nicht einschüchtern zu lassen, so führt natürlich doch eine Spur zum jüngeren deutschen Theater: In der Folge der 1968er Jahre findet eine – im weitesten Sinne zu verstehende – „Popularisierung“ dramaturgischer Arbeit und Konzepte statt, die weit darüber hinaus wirksam bleibt und sich als Konstante in die Entwicklung verschiedenster Theatermodelle einschreibt: Der Wille zur Transparenz, zur formalen Experimentierfreudigkeit, zu einer intellektuellen und gleichzeitig anti-elitären Auseinandersetzung mit Theater ist vielen dramaturgischen Entwürfen zum zeitgenössischen Theater inhärent und weist dem Arbeitsfeld „Dramaturgie“ im Theater, gerade im Hinblick auf eine rezeptionsorientierte Arbeitsweise, immer noch und immer wieder eine unverzichtbare Scharnierfunktion zu. Die Freiheit liegt dabei – gestern wie heute – in dem Luxus, scheinbar Unhinterfragbares in Frage zu stellen und dem zeitraubenden Prozess des Zweifelns Raum zu geben. Auch der Körper des Schauspielers als zentrales Ausdrucksmittel des Theaters bleibt von diesem Zweifel nicht ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund dramaturgischer Vorarbeiten, die das Bewusstsein des Ensembles für größere historische wie poli39 Iden 1979, 219. 40 Strauß 1999, 73. 41 Blau 1982.

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tische Zusammenhänge schärfen, wird der Körper als historisch, sozial und kulturell reflektiert dargestellt. Genau konstruierte Körperbilder, die zwischen Semiotizität und Performanz oszillieren, eröffnen dem Zuschauer im besten Fall einen Einblick in die Widersprüchlichkeiten, Mentalitäten und Haltungen der dargestellten Figuren. Damit kann Theater jene „emanzipatorische Aktualität“ erreichen, die ihm über das ästhetische Ereignis hinaus eine politische Dimension verleiht.

Literatur Banu, George (2002): Peter Stein und der sichere Grund der Texte. In: Müller, Harald/Jürgen Schitthelm (Hg.): 40 Jahre Schaubühne Berlin. Berlin, S. 156-163. Blau, Herbert (1982): Take Up the Bodies: Theater at the Vanishing Point. Chicago. Canaris, Volker (1971): Eine Rolle, sechs Schauspieler. In: Theater heute, Sonderheft, S. 32-33. „dramaturgie“, Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft. Heft 1/2005. (online unter: www.dramaturgische-gesellschaft.de/dramaturg/dramaturg 2005_01.php; letzter Zugriff: 18.08.2009). Fiebach, Joachim (1998): „Das entscheidende für uns [...] ist das Theater in Paradoxis“ – Zur Schaubühne am Halleschen Ufer von 1970 bis 1980. In: Fischer-Lichte, Erika/Kreuder, Friedemann/Pflug, Isabel (Hg.): Theater seit den 60er Jahren. Tübingen/Basel, S. 235-315. Iden, Peter (1979): Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979. München/Wien. Kranz, Dieter (1981): Peter Stein. Ich bin kein Einzelkämpfer. In: Kranz, Dieter: Positionen. Strehler, Planchon, Koun, Dario Fo, Långbacka, Stein. Gespräche mit Regisseuren des europäischen Theaters. Berlin, S. 165-208. Lehmann, Hans-Thies (2005): Theater denken, Risiken wagen, Formeln nicht glauben. Ein Blick auf die Gegenwart der Dramaturgie und Möglichkeiten der Ausbildung. In: Theater der Zeit H. 3, S. 12-13. Puchner, Martin (2006): Theaterfeinde. Die anti-theatralischen Dramatiker der Moderne. Freiburg i. Br., Berlin. Schaubühne am Halleschen Ufer (Hg.) (1971): Peer Gynt. Ein Schauspiel aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dokumentation der Schaubühneninszenierung. Berlin. Schieb, Roswitha (2005): Peter Stein. Ein Portrait. Berlin. Strauß, Botho (1970): Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. In: Theater heute, H. 10, S. 61-68. Strauß, Botho (1987): Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Frankfurt a.M. Strauß, Botho (1999): Der Gebärdensammler. Texte zum Theater. Hg. von Thomas Oberender. Berlin. Zipes, Jack (1983): „Utopia als die erhaltene Vergangenheit“. In: Fiebach, Joachim/Schramm, Helmar (Hg.): Kreativität und Dialog. Theaterversuche der 70er Jahre in Europa. Berlin, S. 247-262.

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Botho Strauß’ Dialog mit 1968 Vom Theaterkritiker zum kritischen Dramatiker? PHILIPPE WELLNITZ Botho Strauß gehört heutzutage genauso selbstverständlich auf französische Theaterspielpläne wie Thomas Bernhard, Peter Handke, Harold Pinter oder Sarah Kane, so dass man in Frankreich wohl kaum daran denken würde, Strauß auf den Status eines deutschen „Gast“-Autors zu reduzieren. Ganz im Gegenteil scheint seine Präsenz nach 1968 so banal bzw. so geläufig geworden zu sein, dass eines seiner letzten Stücke, Schändung nach Shakespeares Titus Andronicus, zuerst am Pariser Odéon (in den Ateliers Berthier) im Oktober/November 2005 uraufgeführt wurde, bevor es im Mai/Juni 2006 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen und bei den Wiener Festwochen vor einem deutschsprachigen Publikum gespielt wurde.1 Das französische Interesse an Botho Strauß nach 1968 ist in starkem Maße auf das Wirken des großen französischen Theatermannes Claude Régy zurückzuführen, der die ersten Stücke von Strauß in Paris inszenierte: Bei Trilogie des Wiedersehens (1977, übers. 1979) führte Régy bereits im Januar 1980 Regie, 1982 inszenierte er Groß und klein (1978, übers.1980). Aber auch Michel Vinaver, seinerseits ein bedeutender französischer Theaterautor, hat, neben Schändung (in Zusammenarbeit mit Barbara Grinberg), noch ein weiteres Strauß-Stück übersetzt, nämlich Die Zeit und das Zimmer aus dem Jahre 1988. In der Inszenierung von Patrice Chéreau wurde das Stück am 4. Oktober 1991 im Odéon zum ersten Mal vor französischem Publikum gespielt. Die Rezeption des Theater-Autors Strauß in Frankreich ist also seit 1980 relativ konstant und es vergeht keine französische Theatersaison, ohne dass ein Stück von ihm in Frankreich gespielt würde. Dem deutschen Publikum hingegen ist der Autor Strauß heutzutage vor allem als umstrittene Figur der konservativen Intellektuellen bekannt, da er in seinem Essay „Anschwellender Bocksgesang“, der am 8. Februar 1993 im Spiegel veröffentlicht wurde, der links engagierten Politik und dem den Werten von 1968 verpflichteten Theater eine eindeutige Absage erteilte. Auf diese Debatten um die deutsche Nation bzw. diesen Abschied von der Linken soll hier nicht näher eingegangen werden – die einführende Erwähnung der 1

Dieses Shakespeare-Palimpsest von Botho Strauß würde ein gutes Beispiel für den Status des Körpers in der Bühnenpraxis nach 1968 bieten – kommentierend anzufangen wäre dabei allerdings bei der m. E. unzureichenden Übersetzung des deutschen Titels Schändung ins französische Viol (Vergewaltigung), eine Übersetzung, die eben gerade eine Reduzierung auf den Sexus bedeutet und dem anderen Aspekt, den man mit „profanation“ (d.h. dem desakralisierenden Angriff) übersetzen könnte, nicht Rechnung trägt.

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unterschiedlichen Gewichtung in der Strauß-Rezeption in Deutschland und Frankreich soll nur auf den scheinbaren Widerspruch hinweisen, der Strauß in Deutschlands engagierten Theaterkreisen, so z.B. in der Zeitschrift Theater heute, zur persona non grata macht und ihn in Frankreich, z.B. am Odéon, Erfolge als Bühnenautor feiern lässt. Es wäre müßig und würde zu weit führen, darüber zu spekulieren, inwiefern Frankreich, insbesondere das Odéon und die französische Theaterlandschaft insgesamt, dem Mai 1968 den Rücken gekehrt bzw. sich weiterentwickelt hat. Es scheint in diesem Kontext interessanter zu untersuchen, wie Strauß von 1968 beeinflusst wurde bzw. wie er sich während der Epoche zu den damaligen (Theater-)Ereignissen stellte. Immerhin war Strauß damals Kritiker bei Theater heute, einer Zeitschrift, die das 1968er Denken im Theater weitgehend mitgetragen hat. Die Frage ist also, ob Strauß einen Umschwung in puncto 1968 vollzogen hat, wie es die deutsche Rezeption zu suggerieren scheint, oder ob er 68er-Werten bzw. anderen ästhetischen Grundpositionen treu geblieben ist, die es ihm erlauben, in Frankreich von einem anderen Pol der 68er Bewegung, dem Théâtre de l´Odéon, auch weiterhin gespielt und dort wohlwollend aufgenommen zu werden. Wäre dem so, hätte entweder das Odéon sich nach 1968 nicht radikal verändert oder aber Strauss hätte sich quasi „parallel“ zum Odéon entwickelt. Die deutsche Rezeption unterscheidet im Leben und Wirken von Strauß vier Hauptphasen: Von 1967 bis 1970 schrieb er als Theaterkritiker Rezensionen für Theater heute, von 1970 bis 1975 arbeitete er an der Schaubühne am Halleschen Ufer als Regieassistent von Peter Stein, ab 1982 wurde er mit seinem eigenen ersten Stück Die Hypochonder zum Theaterautor und ab 1993 schließlich zum „enfant terrible“ des frisch zur Einheit gelangten Deutschlands. Diese Unterscheidungen sind aber chronologisch (und auch sonst) recht brüchig, da die Regieassistenz bei Stein parallel zur weiter bestehenden Tätigkeit als Kritiker anfing und Strauß bereits 1974 mit seiner Bearbeitung der Sommergäste von Gorki an einem Substrat für sein eigenes Stück Die Hypochonder vorgearbeitet hatte. Auch sein vermeintliches Hervortreten als polemischer Essayist im Jahre 1993 ist eine chronologische Fehlkonstruktion der Rezeption, da seine Kritiken in Theater heute bereits stark essayistischen Charakter hatten, also theaterästhetischen Ansprüchen folgten, die mit einer bekannten Abrechnung mit der 1968er Bewegung in einer seiner letzten Veröffentlichungen in Theater heute kulminierten, nämlich in seinem Aufsatz „Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken“ (1970).2 Die Wichtigkeit dieses programmatischen Artikels in der 68er-Debatte ist zwar allgemein erkannt worden, wurde aber in späteren Jahren auf vielleicht etwas übertriebene Weise prioritär einer Foucault-Lektüre unterzogen, was andere Aspekte des Aufsatzes, nämlich die filigrane Formulierung eines ästhetischen Programms, außer Acht ließ. Nicht nur ist an dieser rein Foucault verpflichteten Lektüre des Aufsatzes das aus den USA reimportierte Diktat der „French Theory“ schuld, sondern Strauß selbst hat mit seinen späteren, vom Mythos geprägten Stücken zu einer solchen archäologisch-mythischen Lektüre aller seiner Schriften beigetragen.

2

Vgl. Strauß 1970b.

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Botho Strauß

In dem Essay aus dem Jahre 1970, der ca. 1200 Zeilen umfasst, sind nur 13 Zeilen explizit der 1969 erschienenen Archéologie du savoir Michel Foucaults gewidmet. Strauß beschränkt sich darauf, die Methode zu erwähnen, so wie Foucault sie selbst definiert: Es gehe hierbei um eine vergleichende Analyse [...] nicht zu dem Zwecke die Unterschiedlichkeit der Rede- und Denkweisen zu vermindern und eine einheitliche Gesamtheit abzuzeichnen, in die sie alle Eingang fänden, vielmehr erstrebe die Analyse, jene Unterschiedlichkeit in eben 3 unterschiedliche Denk-und Redefiguren aufzuteilen.

Strauß aufgrund dieser deskriptiven Sätze im Jahre 1970 bereits als einen dem Denken Foucaults verpflichteten, in seinem Schaffen von Foucault beeinflussten Autor zu bezeichnen, erscheint für diese Zeit als übertrieben – zumal die Archéologie du savoir erst 1973 auf Deutsch erschien und auch Les mots et les choses aus dem Jahre 1966, das das Konzept der Archäologie bereits benutzt, erst 1971 ins Deutsche übersetzt wurde. Strauß hat sich aber auch parallel hierzu für Foucaults Histoire de la folie à l'âge classique (ursprünglicher Titel aus dem Jahre 1961 Folie et déraison) interessiert. Foucaults Gedanken sind später deutlicher, in Strauß’ Stücken fruchtbarer, so dass der Pariser Mai 68 und seine intellektuellen Wegbegleiter wie Foucault durchaus auf Strauß gewirkt haben. Dies soll hier gar nicht bestritten werden, nur ist das Ausmaß dieses philosophischen Einflusses zunächst vielleicht bescheidener als gemeinhin angenommen wird. Der französische Einfluss ist aber im Untertitel dieses Essays weitaus deutlicher nachzuweisen: Wenn Strauß hierfür „Neues Theater 1967-70“ wählt, so klingt hier Geneviève Serreaus Buchtitel Histoire du ´nouveau théâtre´ (1966) an, das kritisches Theater zum Thema hat. Tatsache ist, dass die Zeitschrift Theater heute die 1968er Revolte nicht nur in Rezensionen begleitete, sondern auch die jeweils politisch aktuellen Stücke abdruckte. Strauß hat in dieser Zeitschrift ca. 60 Theaterkritiken veröffentlicht, die sich fast alle sehr kritisch zum politischen Theater der 68er Jahre äußern. Der Strauß-Spezialistin Ursula Kapitza ist beizupflichten, wenn sie in diesen Theaterrezensionen „die Stichworte einer künftigen Dramaturgie“4 sieht – nur belegt Kapitza leider nicht ihre mir zutreffend erscheinende Behauptung. Anders gesagt findet man in den Straußschen Theaterkritiken der 68er Zeit bereits Strauß’ spätere Dramenästhetik vorweggenommen. Zugespitzt formuliert hieße dies, Strauß’ Theater sei ein reaktionäres anti-68er Theater, hielte man sich an den äußerst kritischen Tenor seiner Theaterkritiken zur 1968er Zeit. Somit wäre aber auch die Eingangsfrage „Vom Theaterkritiker zum kritischen Dramatiker?“ hinfällig. Dass dem nicht so ist und dass die positive Strauß-Rezeption in Frankreich vielleicht doch ihre Berechtigung hat, will ich im Folgenden kurz darlegen – einerseits an einigen Rezensionen von Strauß, andererseits an einem seiner ersten Stücke, der Trilogie des Wiedersehens.

3 4

Strauß 1970b, 61. Kapitza 1987, 14.

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Einige Beispiele aus Strauß’ Theaterkritiken sollen helfen, sein Bild von der 1968er-Bewegung im Theater näher zu umreißen: Schon im Januarheft 1968 von Theater heute stellt Strauß „aufklärungskritische Tendenzen“, aus Amerika, England und Frankreich kommend, fest. Anfang 1969, also ein Jahr später, stellt Strauß diesen Internationalismus als Herausforderung an die deutschen Theater dar: Die beiden revolutionären Bewegungen des letzten Jahrzehnts, die der Studenten und die der Beat- und Undergroundjugend, haben inzwischen auch hierzulande einen politischen und ästhetischen Internationalismus eingeführt, der sich dominierend mit der Gegenwart beschäftigt, der „Now-Zeit“. Dies hat, wie für alles mögliche, auch seine Konsequenzen für die Ästhetik vom Theater: Der erprobte, in sich geschlossene Rea5 lismus läuft Gefahr, jener Vergangenheit anzugehören, die zu Ende ist.

Bereits in der erstgenannten Kritik vom Januar 1968, die das Phänomen noch vor den Ereignissen des Mai 1968 explizit anspricht, betont Strauß Jean Genets Kritik am Revolutionsapparat in Les bonnes und das seines Erachtens mangelnde Verständnis des Regisseurs Roger Blin hierfür. Sieht man von Peter Zadek und besonders von Peter Stein ab, geht Strauß mit den Regisseuren seiner Zeit hart ins Gericht: So habe Ernst Schröder im Schiller-Theater für Gombrowicz´ Trauung ein „fertiges Produkt“ geliefert, bei dem „also eine Neugier auf den nächsten Moment nicht entfacht wurde“.6 Was Strauß 1968 besonders kritisiert, ist die Abwesenheit von neuen Stücken auf den großen Bühnen, obwohl ein Drittel der in Theater heute abgedruckten Stücke Debütstücke waren – diese aber wurden von keinem Theater aufgeführt. Hier leuchtet bereits eine etwas differenziertere Position von Strauß durch, die ihn vom Abziehbild des reaktionären Buhmanns zu unterscheiden scheint. Scheinbar ist Strauß nicht gegen die Kritik des bestehenden Theaters, sondern er kann sich mit den 1968 vorgelegten Mustern nicht identifizieren, da er diese auf ihre Weise auch für beschränkt hält. Aus der rückblickenden Perspektive des Oktoberheftes 1969 von Theater heute klingt dies so: Was eine Veränderung kennzeichnet, ist die Verschärfung und Verlagerung des kritischen Aspekts. Angesichts der neuen Praxis politischer Kritik droht die inhaltlich und methodisch bloß reproduzierende kritische Haltung von Theateraufführungen über7 flüssig und lächerlich zu werden.

Anders gesagt erteilt Strauß den plakativen Äußerungen der 1968er Theater eine Absage zugunsten einer Neudefinition des Theaters. Strauß schreibt im Januarheft 1970 von Theater heute: Wenn etwa diese Regisseure anführten, gerade mit der Simplizität ihrer Devisen das Theater als politisches Kampforgan wieder aufzurüsten, in die Nachfolge Piscators sich vielleicht stilisierend, so kann man ihnen nur entgegenhalten, daß das wirklich agitierende Theater (Wallraff, Kelling u.a.) sich mittlerweile längst von den emotional5 6 7

Strauß 1969a, 45. Strauß 1969a, 29. Strauß 1969b, 16.

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Botho Strauß plakativen Appellen befreit hat und mehr und mehr zum Medium der konkreten, differenzierten Faktenvermittlung geworden ist. Das gewöhnliche Kunst-Theater aber hat seine Chance zu nützen, mit Hilfe seiner ästhetischen Mittel in politisches Denken einzuüben, das nicht gleich auf unverbindliche Schlußsätze wie „Alle Kriege bringen Elend“ oder „Jede Gesellschaftsordnung produziert Gewalt“ verfällt. Gemeingefährlich 8 sind solche grenzenlosen Wahrheiten.

Genauso wie Strauß an Genets Stück die Kritik der Revolution lobt, erwartet er von den Regisseuren, dass sie „eine übergeordnete, die Meta-Kritik am Stück in ihre Interpretationen einarbeiten, d.h. sichtbar machen, warum dieses Stück jetzt, unter welchen Bedingungen, aufgrund welcher ästhetischen Anschauungen und für wen gezeigt wird.“9 Strauß fügt in Klammern hinzu: „Das wären Ansätze zu einem Verfahren strukturalistischer Interpretation.“ Wieder lässt Frankreich grüßen, nicht von den Barrikaden, sondern von der Methode her. Die Forderung ist eindeutig ästhetischer Natur, Strauß interessiert die Fähigkeit des Schauspielers „problematische Naturen darzustellen [eher] als proklamierte Negationen“10 bzw. statt stereotyper Aggressivität, die er bereits 1967 einem Schauspieler vorwirft.11 Als nachzuahmendes Beispiel führt Strauß Wolfgang Bauers Stück Change an, dessen Realismus darin besteht, gewisse Innenansichten, Bewußtseins-und Nervenzustände [...] sichtbar zu machen. [...] Nichts wird kritisch gezeigt, doch das Gezeigte wird zum Kriterium [...] – die scheinbar kopierende Wirklichkeitsdarstellung hat ganz andere Motive als der alte literarische Naturalismus [...] je exakter die natürlichen Vorgänge auf der Bühne in Bauers Stücken nachgebildet werden, um so deutlicher klären sie die Illusion, die über ihre 12 Natürlichkeit verhängt ist.

Also auch hier: begleitende Reflexion, Meta-Kritik der Regie und revolutionäre Kritik an der Revolution wie bei Genet. Im Januarheft 1970 von Theater heute sieht Strauß dies denn auch als doppelte Herausforderung an den Zuschauer: Die Bürger im Theater haben ihre Naivität verloren, jedoch das, was ihnen stattdessen als kritischer Blick eingeschult wurde vom Spruchband-Theater, stellt sich schließlich heraus als Amputation ihrer sinnlichen Auffassungsgabe. [...] Die Bürger im Theater wurden durch zu viele Klartext-Inszenierungen daran gewöhnt, böse und verstockt zu reagieren, sobald sie sich Spielvorgängen überlassen sehen, die nicht in jeder Phase ihres Verlaufs etwas zeigen (was schon im Programmheft und auf Projektionen zu le13 sen steht), sondern zeigen, wie etwas sich entwickelt.

Nicht weniger als die 68er Revolutionäre will Strauß eine Erneuerung des Theaters – doch der Infragestellung der Tradition folgt bei Strauß keine neue 8 9 10 11 12 13

Strauß 1970a,.25. Strauß 1970a, 28. Strauß 1969c, 14. Strauß 1967, 34. Strauß 1969d, 39. Strauß 1970a, 14.

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feststehende Tradition, sondern ein ästhetisches Projekt der steten Erneuerung. Aus diesem Grunde zieht Strauß’ vorletzter Theater heute-Artikel unter dem programmatischen Titel „Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken“ nicht nur eine Bilanz der Jahre 1967-1970 in deutschen Theatern, sondern stellt auch ästhetische Forderungen ans Theaterschreiben und Theatermachen, die sich nicht mit der bloßen plakativen Neuheit der 68er Formen begnügen, deren „mehr oder minder unangemessene ästhetische Ausdrucksformen“14 er bemängelt. Der Untertitel verweist ja, wie bereits erwähnt, sowohl auf eine Periode des Theaters in Deutschland als auch auf eine aus Frankreich geerbte Blickrichtung aufs „Neue“ hin, das man als „kritisches Theater“ bezeichnen kann. Nachdem Strauß in sieben Schritten alle zumindest in seinen Augen unangemessenen Formen des 68er Theaters (mit Ausnahme Steins und Zadeks, die er sehr lobte) kritisiert hat – eigentlich der ursprüngliche Grund seines Artikels in dieser Doppelnummer von Theater heute, die 25 Jahre deutsches Theater einer Bilanz unterzieht – kommt es in seinem dritten Teil, „Revolution der Mittel?“ zu einer Unterscheidung zwischen der Entwicklung des Theaters und der Entwicklung der Gesellschaft. Strauß trifft diese Unterscheidung, da das Theater einer eigenen, internen Entwicklungslogik folge. In einer für die 68er Zeit erstaunlichen Weise betont Strauß die Anregungen, die „innerhalb der Traditionen des Mediums, gegen diese opponierend oder sie neu sensibilisierend“15 ausgedrückt wurden. Das Verb „zusammendenken“ im Titel des Aufsatzes, das eine Gleichzeitigkeit von Politik und Ästhetik, ja deren resultative Fusion suggeriert, scheint aber in Wirklichkeit mehr ein Ablenkungsmanöver zu sein. Es geht Strauß weniger um eine Reästhetisierung des politischen Theaters als um eine von Politik unabhängige Ästhetik, die sich freilich selbst wiederum als politisch verstehen darf. Denkt man etwa an Elfriede Jelineks spätes postdramatisches Theater, ist diese politische Dimension einer Ästhetik, die sich selbst zum Thema hat, eindeutig. In Trilogie des Wiedersehens, um in diesem Zusammenhang nur ein Stück von Strauß zu nennen, geht es um Bilder einer bevorstehenden Vernissage, Bilder, die man bereits gesehen hat. Nur äußerlich verweist der Titel auf die dreiteilige Struktur des Stücks, denn die drei Teile bilden keine autonomen literarischen Gebilde. Hier hat das Wort Trilogie – dreifacher Logos – auch die Bedeutung einer Wiederholung. Dieses Stück wurde oft als modernes Konversationsstück interpretiert, das die Kommunikationsschwierigkeiten der bürgerlichen Intellektuellen nach 1968 thematisiere. Dies stimmt äußerlich gesehen auch, denn das Stück zeigt die zahlreichen Beziehungsschwierigkeiten dieser Generation in jeweils verschiedenen (Rede- und Beziehungs-) Konstellationen. Doch wird man mit dieser rein gesellschaftlichen Interpretation Strauß’ ästhetischer Intention möglicherweise nicht ganz gerecht. In der Tat verweist der Titel des Stücks auch auf die fundamentalen Bestandteile des Theaters: auf den Logos, das Wort, denn Theater ist gesprochenes Wort des Schauspielers, andererseits das Sehen, bzw. das Wiedersehen, denn Thea14 Strauß 1970b, 61. 15 Strauß 1970b, 64.

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ter entsteht nur durch das Zuschauen, durch die wiederholten Aufführungen. Es wird also (immer) wieder gesprochen und gesehen: Sprechen und darstellen, um gesehen zu werden, sind elementare Bestandteile des Theaters. Der Titel scheint also eine Reflexion über das Theater mit Hilfe des Mediums Theater ankündigen zu wollen. Schon die Theaterarbeit Steins, an der Strauß teilnahm, verstand sich als eine ästhetische Erkenntnismethode, die in Bezug auf den Schauspieler darauf abzielte, eine Figur zu spielen und Kritik der Figur mit zu berücksichtigen.16 So hat sicherlich das dramatische Schreiben Strauß’ von den Jahren an der Schaubühne insofern profitiert, als die Metareflexion von Anfang an Bestandteil seines Denkens und Arbeitens war. Wort und Bild werden aber von Strauß in Trilogie des Wiedersehens keineswegs als unproblematische Elemente dargestellt. In der Tat ist es so, dass in diesem Stück von Strauß die Kommunikation immer wieder daran scheitert, dass im sozialen Ritual Worte wiederholt werden: Ruth:

Mein Gott – Ich wollte Sie kennenlernen. Mein Mann hat so oft von Ihnen erzählt.

Richard: I

Immer wenn Sie glücklich jemandes Nähe gefunden haben, sagen Sie denselben Spruch auf. Spüren Sie nicht, wie beleidigend 17 das für den einzelnen ist?

So bricht das Gespräch, kaum hat es begonnen, wieder ab – doch behauptet ausgerechnet die Figur Peter, die einen Schriftsteller darstellt: „Das Wagnis der großen Erregungen bleibt weitgehend ungewagt.“18 Der Schriftsteller fordert aber gleichzeitig Wiederholungen: „Gäbe es nicht die Wiederkehr der Werke, ihr verzeihendes Lächeln, dann zählte unsere kurze Zeit noch mehr Abschiede, noch mehr Trennungen, noch mehr Verwehung, Vergessen...“19 Mehrmals betont dieses Stück die Flucht in die Wiederholung, so z.B. in der Figur Susanne, die zwangsneurotisch immer wieder Gleiches sagt: Unsere einzige Hoffnung: der gleiche Lauf der Wiederholung... der Anfang ist immer der Abschied... dann kommt ein Wiedersehen... Zwischen Kommen und Gehen die 20 Wende, dort treffen wir uns...

Diese steten Wiederholungen der Worte und der Situationen – auch hier eine Anspielung auf das theatrale Dispositiv des Theaters – verändern aber auch den Blick des Zuschauers, der hier in den Figuren gespiegelt erscheint. Es handelt sich in diesem Stück um die Besucher einer Ausstellung und es fällt auf, dass die Bilder Realität zu ersetzen beginnen. So ruft z. B. die Figur Viviane beim Betrachten eines Bildes aus: „Oh nein –! Dort bin ich niemals gewesen... Wie schön!“21 Ihr Mann Martin vergleicht die Betrachtung der

16 17 18 19 20 21

Vgl. den Beitrag von Constanze Schuler in diesem Band. Strauß 1993, 338. Strauß 1993, 360. Strauß 1993, 369. Strauß 1993, 398. Strauß 1993, 319.

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Bilder mit einem Blick „wie aus dem Fenster“.22 Auch die Figur Susanne ist so sehr von den Bildern eingenommen, dass sie diese mit der Realität gleichsetzt: Wieder haben sie in diesen Hundstagen die breiten und die hohen Bilder aufgeschlagen. Unter günstigen klimatischen Bedingungen, so daß wir von hier oft schöner ins 23 Weite blicken als draußen irgendwo in der Hitze der Natur.

Unterscheidet Susanne noch zwischen Bild und Realität, ist dies bei Viviane ungewiss, denn als sie auf ein Bild zusteuert, sagt sie: Johanna, kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo wir uns ein Sommerhäuschen bauen wollen [...] Sehen Sie, genau dort, in diesem herrlichen norddeutschen Tiefland, wie es 24 dahinten auf dem Bild gemalt ist ...

Zwar sind Strauß’ Figuren nicht verrückt, verwechseln nicht Bild und Realität, aber der ursprüngliche metonymische Charakter der Bilder scheint stark gefährdet. Die stete Wiederholung, sei es der Worte oder der Bilder, gefährdet die Wirklichkeit. Wieder ist es der Schriftsteller Peter, der als ein alter ego von Botho Strauß, kommentierend eingreift: „Wo ein Bild ist, hat die Wirklichkeit ein Loch. Wo ein Zeichen herrscht, hat das bezeichnete Ding nicht auch noch seinen Platz.“25 Heißt dies auf das Theater bezogen, dass gerade seine mimetische Funktion Wirklichkeit zerstört? In letzter Konsequenz müsste man also auf mimetisches Theater verzichten, um Wirklichkeit abzubilden – oder wäre umgekehrt eine schwer zu fassende Wirklichkeit nur in einem Theater zu fassen, das auf den Wirklichkeitscharakter theatraler Zeichen wenn nicht verzichtet, so doch in seinem Anspruch zumindest problematisiert? Zwei Beispiele aus dem Stück selbst sollen zeigen, wie die Bilder zum Ersatz für Realität werden: Der Wärter der Ausstellung hat einen Stuhl, der fast zum Synonym seiner Funktion wird – kein Wärter ohne Stuhl, ohne Stuhl kein Wärter. Als dieser Stuhl verschwindet, fühlt sich der Wärter in seiner Existenz bedroht und sieht sich dazu gezwungen, ein Photo zu zeigen, das ihn auf dem Stuhl sitzend darstellt. Das Bild wird ihm also zur existentiellen Ersatzrealität. Zusehends erfolgt in diesem Stück die Identifikation der Menschen durch Bilder. So bändelt Felix mit Susanne an, von der er meint, sie auf einem Flaschenetikett gesehen zu haben: Ich hatte mit ’ner Unterhaltung gerechnet. Kommt nicht alle Tage vor, daß Sie so zugänglich sind... Waren Sie nicht einmal Winzerkönigin von Traben-Trarbach? Ich meine 26 doch, ich kenne Sie als preisgekrönte Jungfrau vom Flaschenetikett...

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Strauß 1993, 319. Strauß 1993, 316. Strauß 1993, 341. Strauß 1993, 339. Strauß 1993, 353-54.

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Botho Strauß

Doch auch diese Bilder, die Realitäten ersetzen, sind kaum zu verstehen, so unähnlich sind alle einander: „Wie soll ein normaler Mensch das begreifen? Zwei bunte Bilder, eines naturgetreuer gemalt als das andere! Ja. Aber sonst gibt es aber auch gar nichts Vergleichbares zwischen diesen Bildern.“27 Wenn das Wirklichkeits-Surrogat der Bilder scheitert, weil man die Bilder nicht vergleichen und somit nicht unterscheiden (d.h. verstehen) kann, ist es in letzter Konsequenz nicht möglich, einen Menschenkörper von einem anderen zu unterscheiden. So fragt Susanne denn auch nach ihrer unauffindbaren Identität: Sagen Sie mir: woran erkennen Sie mich eigentlich? Wie kommt es, daß Sie mich, mich Ununterscheidbare, von Mal zu Mal wieder finden, ohne sich zu irren? [...] Wenn ich in den Spiegel sehe, so finde ich nichts, was nicht auch in tausend andern Gesichtern zu finden ist. Kann mir nicht vorstellen, daß Sie mich sehen. [...] Zwischen uns beiden 28 wimmelt es immer von Menschen und menschenleeren Menschen.

In den Textbeispielen aus Trilogie des Wiedersehens ging es nicht um eine Interpretation dieses Theaterstücks an sich, wie sie z.B. Dieter Kafitz vom Konzept der Montage her auf sehr subtile und genaue Weise geleistet hat. Diese Beispiele sollten vielmehr zeigen, dass Strauß den Umbruch von 1968 als einen Kampf ums Theater verstanden hat, eben als ein Ringen um die Darstellbarkeit der Worte und Bilder, die er als solche problematisiert, statt alte Worte und Bilder durch neue zu ersetzen. Statt tradierte Formen durch eine neue Ästhetik des Revolutionär-Plakativen in Inhalt und provokativer Form zu ersetzen, geht es Strauß eher um ein auto-reflexives Rückbesinnen aufs Theater an sich. So ist es also sein Ziel, die Mimesis-Funktion des Theaters als ästhetische Herausforderung zu verstehen. Dies schien zwar zunächst nicht vordergründig politisch, war es letzten Endes aber doch, folgt man seiner Logik in „Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken“: Die Unterschiedlichkeit der Denk- und Redefiguren nach Foucault, auf die Strauß 1970 Bezug nahm, um seine ästhetischen Forderungen zu untermauern, diese Unterschiedlichkeit verlangte stetes Neubemühen, um die Rolle des Theaters zu definieren. Insofern war dieses permanente Mitreflektieren der Möglichkeiten des Theaters hochpolitisch. Genauso wie der Kritiker Strauß von Regisseuren einen Metadiskurs forderte, setzte er als Autor diese Forderung des Mitdenkens um, indem er autoreflexiv das Theater an sich mitproblematisiert. So gesehen gibt es vom Theaterkritiker zum Dramatiker eine Kontinuität, nämlich eine Kontinuität des beharrlichen, stets suchenden kritischen Zweifels. Auch dies ist eine eindeutige Erbschaft von 1968.

Literatur Kafitz, Dieter (1993): Die Funktion der Bildmontage in Botho Strauß’ Trilogie des Wiedersehens. In: Fritz, Horst (Hg.): Montage in Theater und

27 Strauß 1993, 368-69. 28 Strauß 1993, 318-19.

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Film. Tübingen. (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 8), S. 169190. Kapitza, Ursula (1987): Bewußtseinsspiele. Drama und Dramaturgie bei Botho Strauß. Frankfurt a.M. Strauß, Botho (1967): Paul Verhoeven als Baugeschäftsinhaber Otto Laiper (Zu Martin Sperrs Stück Landshuter Erzählungen). In: Theater heute 11/1967, S. 34. Strauß, Botho (1968): Den Traum alleine tragen. Versuch über Die Trauung von Witold Gombrowicz und die deutsche Erstaufführung am SchillerTheater Berlin. In: Theater heute, H. 2, S. 24-29. Strauß, Botho (1969a): Stücke nach der Revolte – 6 neue Theaterstücke, vorgestellt in Textprobe und Kommentar. In: Theater heute, H. 2, S. 45-52. Strauß, Botho (1969b): Ein Traum von einem Stück und böse kleine Leute. (Über Faßbinders Bearbeitung von Goldonis Kaffeehaus). In: Theater heute, H. 10, S. 16-21. Strauß, Botho (1969c): Menschendarstellung. Peter Luke Hadrian VII in Hamburg. Romulus Linney Armer alter Fritz in Düsseldorf. In: Theater heute, H. 11, S. 14. Strauß, Botho (1969d): Melodram und Mikropsychologie. Wolfgang Bauers Change. In: Theater heute, H. 11, S. 39-40. Strauß, Botho (1970a): Die schönen und die schlechten Szenenbilder: sie hängen alle schief... Aufzeichnungen nach einer längeren Theaterreise. In: Theater heute, H. 1, S. 24-28. Strauß, Botho (1970b): Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Neues Theater von 1967-70. In: Theater heute, H. 10, S. 61-68. Strauß, Botho (1993): Trilogie des Wiedersehens. In: Strauß, Botho: Theaterstücke 1972-1978. München.

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IV. Intermediale Passagen



(1968) Ein Aufnahmezustand Klang/Körper und Ideologiekritik im Neuen Hörspiel MICHAEL BACHMANN Es wird zwar im folgenden nur von Hörspielen geredet, man sollte aber mitunter trotzdem vergessen, dass hier nur von Hörspielen geredet wird. Diesen Titel wählt der Schriftsteller Wolf Wondratschek – durch Bücher wie Früher begann der Tag mit einer Schusswunde (1969) vor allem als Popliterat und als Dichter der 68er-Bewegung bekannt geworden – für ein Radioessay, das der Westdeutsche Rundfunk im Jahr 1970 ausstrahlt.1 In dem Essay zieht Wondratschek ein erstes Resümee jener Hörspielform, für die sich seit 1968 der Begriff „Neues Hörspiel“ eingebürgert hat.2 Den verschiedenen Ansätzen, die unter diesem Schlagwort geführt werden, ist ein spezifischer Umgang mit dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit gemeinsam, der sich vom sogenannten literarischen Hörspiel der fünfziger Jahre grundlegend unterscheidet. In jenem hatte Sprache primär die Aufgabe, ein dramatisches Geschehen über das Zusammenspiel von personal gemeinten Stimmen zu bedeuten. Die semantische bzw. referentielle Dimension des gesprochenen Textes unterdrückte seine Lautlichkeit; Musik und Geräusche wurden eher sparsam eingesetzt – daher auch der Ausdruck „literarisches Hörspiel“, der die Vorstellung impliziert, das radiophone Geschehen ließe sich relativ verlustfrei auf seinen Text reduzieren. Gemäß dieser Auffassung läge der Mehrwert des akustisch realisierten Hörspiels gegenüber einer gedruckten Fassung nur darin, dass es – wie ich noch näher ausführen werde – die Übersetzung der dramatischen Handlung auf eine immateriell gedachte „innere Bühne“ erleichtern würde. Im Gegensatz dazu rückt das Neue Hörspiel gerade die materielle Seite und den Klang von Wörtern sowie das „Handeln“ der Sprache selbst in den Vordergrund. Die eigene Wirklichkeit – die Materialität – des Sprachkörpers wird gegenüber einer zu bedeutenden Wirklichkeit aufgewertet. Auf der Internationalen Hörspieltagung in Frankfurt fordert Helmut Heißenbüttel 1968, dass die Fähigkeit des Rundfunks, „Hörsensation zu erzeugen [...] aus der dienenden Funktion abgelöst und verabsolutiert werden“ müsse.3 Als eine der wichtigsten Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit der Hörer in diesem 1 2 3

Der Text der Sendung ist abgedruckt in Wondratschek 1971, 65-72. Das Essay wurde am 25.6.1970 auf WDR III erstausgestrahlt. Vgl. Döhl 1988, 152. Vgl. Schöning 1969, 1970, 1982. Heißenbüttel 1972, 221.

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Sinne auf das akustische Ereignis an sich zu lenken, erscheint den Dramaturgen und Regisseuren zu jener Zeit die Stereophonie.4 Seit Anfang der sechziger Jahre übertragen die europäischen Rundfunkanstalten zunehmend zweikanalig, d.h. Klänge können im Stereospektrum zwischen zwei Lautsprechern verteilt werden, statt auf einen Punkt konzentriert zu sein.5 Autoren des Neuen Hörspiels wie etwa Franz Mon begreifen die Stereophonie keineswegs als Möglichkeit zu einer realistischen Abbildung des akustischen Raums. Vielmehr sei sie ein „syntaktisches mittel zur ordnung von hörereignissen“, das die „konkretheit des laut werdenden sprachmaterials“ zum wesentlichen Bezugspunkt der Hörer mache.6 In Hinblick auf sein Hörspiel das gras wies wächst (1969) erklärt Mon: der hörer [...] erfährt keine geschichte. es gibt zwar dialoge, aber keine zusammenhängende handlung. es handeln die sprachelemente. subjekte sind die wörter, die wortagglomerationen, die gestanzten redensarten, fragepartikel [...]. wörterreihen treten in spannung zu redensarten. redensarten hinterbauen dialoge. dialoge werfen 7 fragen auf, die von wörterreihen beantwortet werden.

Die Umsetzung dieser, von der konkreten Poesie herkommenden künstlerischen Praxis vollzieht sich auf der akustischen Ebene als Stimmen-Montage, die mit verschiedenen Lautstärken, Klangfarben (männlich, weiblich, jung, alt) und sparsam eingesetzten technischen Effekten (z.B. Echo) operiert; vor allem aber beruht sie auf der Verteilung der Stimmen im stereophonen Raum.8 Dadurch entstehen die unterschiedlichen Ebenen, die das Handeln der Sprache erst realisieren, indem sie z.B. inhaltlich gleiche Wörterreihen akustisch differenzieren und diese in neue Spannungsverhältnisse zueinander bringen. das gras wies wächst ist in vielem typisch für das Neue Hörspiel der ausgehenden sechziger Jahre – auch darin, dass die materiale Eigenwirklichkeit der Sprache zwar im Vordergrund steht, aber nicht ohne außersprachlichen Wirklichkeitsbezug bleiben soll. Gemäß der Auffassung, dass Ideologiekritik als Sprachkritik zu betreiben sei, hofft Mon, dass das Bewusstsein der Hörer „das verwandte sprachmaterial wiedererkennt, [...] sich erinnert, wo diese prägungen herkommen, wie und von wem sie benutzt worden sind.“9 Diesen Prozess will Mon – wie oben angedeutet – dadurch in Gang setzen, dass er gerade nicht die inhaltliche Dimension, sondern die konkrete Lautlichkeit des Sprachmaterials ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das ist eine der Strategien, die auch Ludwig Harigs Hörspiel ein blumenstück (1968) einsetzt,

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Zu den wichtigsten Texten, die sich um 1968 mit Stereophonie im Hörspiel beschäftigen, zählen: „Beschreibung, Kritik und Chancen der Stereophonie im Hörspiel“ des Dramaturgen Johann M. Kamps (Kamps 1969), „Erfahrungen mit der Stereophonie“ des Regisseurs und Dramaturgen Heinz Hostnig (Hostnig 1970) und „bemerkungen zur stereophonie“ des Autors Franz Mon (Mon 1970). Vgl. Steinke 2001, 1372-1374 zur Geschichte der Stereophonie im Rundfunk. Mon 1970, 126-127. Mon 1970, 128. Vgl. Mon (Buch u. Regie): das gras wies wächst (Produktion: SR, BR u. WDR, 1969). Mon 1970, 128.

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um in ideologiekritischer Absicht den Zustand der deutschen Sprache nach Auschwitz zu untersuchen.

Musikalisierung der Sprache Mit Produktionen wie dem umstrittenen Staatsbegräbnis (1969),10 einer Collage aus Originaltonaufnahmen von der Beerdigung Konrad Adenauers, zählt Harig zu den wichtigsten Vertretern des Neuen Hörspiels. Sein blumenstück konfrontiert Sprachmaterial, das gemeinhin als harmlos gilt – z.B. Kinderlieder und Versatzstücke aus Märchen – mit Aufzeichnungen des AuschwitzKommandanten Rudolf Höß. Obwohl das Hörspiel diesem Montageprinzip von Anfang an folgt, fallen die Namen Höß und Auschwitz jedoch erst nach rund dreißig Minuten. Bis dahin vermeidet das blumenstück jede historisch konkrete Referenz. Stattdessen sprechen zwei einander ähnlich klingende Männerstimmen z.B. über Blumen, die zwischen Bahngleisen wachsen. Ihre Rede wird unter anderem durchdrungen von Märchen- und Liedzitaten sowie von kurzen szenischen Einlagen, deren Träger meist Kinderstimmen sind. Trotzdem gibt es schon in dieser ersten halben Stunde Momente, die bei den meisten Hörern für Irritation sorgen dürften. Ein kurzer Dialog zwischen einem Jungen und einer Gruppe von Kindern dreht sich beispielsweise darum, dass er den anderen nicht in den Wald folgen will, weil ihm die Blumen auf der Wiese gefallen: „seht doch die großen rosen/die goldenen bremmen“. Ru-fend antworten seine Spielkameraden: „komm doch mit zu den bäumen/in die birkenau/in den buchenwald“.11 Es ist deutlich, dass dieser Dialog nicht nur Blumen-, Baum- und Straucharten nennt, sondern die Namen von Konzentrations- bzw. Gestapolagern: Auschwitz-Birkenau, Buchenwald, Groß-Rosen und Goldene Bremm. Dennoch haben die Kinderworte keine eindeutige Referenz in der historischen Realität. Weil auf der inhaltlichen Ebene die harmlose Frage ausgehandelt wird, ob man eher im Wald oder auf der Wiese spielen soll, verbleiben die Namen an dieser Stelle in einem Feld der Verunsicherung – als ob man sich verhört hätte, schließlich stehen die genannten Wörter während der Rundfunkübertragung nicht vor einem, sondern sind im Moment des Erklingens schon wieder verklungen. Wenn sie gegen Ende des Hörspiels wiederkehren – Harigs blumenstück gehorcht einem Kompositionsprinzip der variierenden Wiederholung12 – werden sie hingegen historisch konkret verwendet: „die goldene bremm war ein deutsches konzentrationslager“, sagen die Kinderstimmen dann, hier wurden juden gesammelt groß-rosen war ein deutsches konzentrationslager hier wurden juden gequält

10 Vgl. Harig (Buch), Kamps (Regie): Staatsbegräbnis (Produktion: SR u. WDR 1969). 11 Harig 1969, 146. Meine Analyse bezieht sich auf die Produktion des blumenstücks, die 1968 unter Federführung des Saarländischen Rundfunks entstand, Regie: Hans Bernd Müller. 12 Eine ausführliche Beschreibung und Analyse dieser Kompositionsmethode sowie der mit ihr verbundenen Strategien des Sprachspiels findet sich in Bachmann 2009.

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Bachmann birkenau war ein deutsches konzentrationslager 13 hier wurden juden vergast.

Harigs blumenstück versteht sich, wie der zuständige Dramaturg Johann M. Kamps schreibt, als „spielerische Einübung in die Hellhörigkeit“.14 Es ist so komponiert, dass die Hörer – falls das Spiel sein Ziel erreicht – während der Sendung lernen, auch scheinbar harmloses Sprachmaterial (die Kinderlieder, die Märchenzitate, etc.) auf die Shoah zu beziehen. Laut Harig sollen sie ein Bewusstsein für die „blüten“ entwickeln, die „die deutsche sprache im zustand der naturseligkeit getrieben hat“ und aus denen das blumenstück gebaut sei.15 Idealerweise begreifen die Hörer bald jedes Wort in doppelter Bedeutung, „ob es sich nun um die gelben Sterne der Blumen, um die braunen Kreuze der Schmetterlinge oder um einen schwarzen Mann handelt, der sein Feuer schürt“.16 Paradoxerweise geht das wachsende Verständnis für die Doppeldeutigkeit des Gesagten mit einer Verengung der Assoziationsfelder einher, die den Hörern zur Verfügung stehen. Wäre es an der ersten Stelle noch möglich, bei großen Rosen und goldenen Bremmen (weniger beim Buchenwald und der Birkenau) primär an Blumen und Bäume zu denken, ist dies in der Wiederholung nicht mehr der Fall. Der historische Bezugspunkt der Wörter überlagert ihre wörtliche Bedeutung. Das ist jedoch nur eine Praxis des Sprachspiels, die Harig einsetzt, um den Glauben an die Harmlosigkeit von Sprache, an einen „zustand der naturseligkeit“ zu dekonstruieren. Die Praxis, auf die es mir hinsichtlich des Verhältnisses von Klang und Ideologiekritik besonders ankommt, geht den umgekehrten Weg: Sie sorgt für eine Irritation der „naturseligkeit“, indem sie – wie für Franz Mons künstlerische Praxis beschrieben – die konkrete Lautlichkeit des Sprachmaterials hervorhebt. An vielen Stellen des blumenstücks begleiten ein hämmerndes Klavier und dissonante Streicher den aggressiven Sprechgesang eines Chores. Der Gesang zählt nur Blumennamen auf, aber es handelt sich zumeist um schaurig klingende Wörter wie „Natterkopf“ oder „Katzenrippe“. Doch auch der „Löwenzahn“ öffnet in dieser klanglichen Realisierung ein Assoziationsfeld, das seiner wörtlichen Bedeutung – dem Zahn des Raubtiers – näher steht als der harmlosen Pusteblume, die er gemeinhin bezeichnet. Der Fokus auf die konkrete Lautlichkeit des Wortes bedeutet also nicht, dass es zugunsten seiner Sinnlichkeit von jedem Sinn gekappt würde. Vielmehr sorgt die spezifische klangliche Realisierung des Wortes „Löwenzahn“ für eine Verschiebung von Sinn hin zu einer latenten Gewalt der Sprache, die im üblichen Wortgebrauch verdeckt bleibt. Diese lässt sich im Lauf des Hörspiels mehr und mehr auf die Shoah beziehen. Das hängt an der zunehmenden historischen Konkretisierung, deren Höhepunkt in Bezug auf den Löwenzahn gegen Ende des Stücks erreicht wird, wenn die Männerstimmen von einem Besuch Himmlers in Auschwitz berichten. Am meisten habe er sich für die Kok-Saghyz-Pflanzungen interessiert, sagen sie, eine Abart des Löwenzahns, aus deren Wurzeln und Stängeln Kautschuk ge-

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Harig 1969, 198. Kamps 1997, 31. Harig 1969, 141. Der zitierte Satz steht in Harigs Vorbemerkung zum blumenstück. Würffel 1978, 160.

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wonnen wird.17 Demnach ist die Aggressivität des Wortes „Löwenzahn“, die auf der lautlichen Ebene hergestellt wird, keine bloße Pointe im blumenstück. Über die inhaltlichen Erklärungen, die das Hörspiel zum Kok-Saghyz-Anbau in Auschwitz liefert, ist sie an die Realität der Massenvernichtung gebunden: an die Opfer, die in diesen Pflanzungen arbeiten mussten. Was die Rezeption des blumenstücks betrifft, schreibt Kamps lapidar, man sei ihm „im Jahr der Studentenunruhen mit Respekt und Zustimmung, aber auch mit Widerspruch begegnet“.18 Harig wird deutlicher, wenn er in seinen Erinnerungen an die Produktion ausführt: „Das Stück [...] erregte die politischen Realisten; sie stießen sich an der artifiziellen Verwandlung authentischer Aussagen in den kunstvollen Schein der Musik.“ Im „politischen Aufbegehren der achtundsechziger Jahre“, so der Autor weiter, habe er fortan „die Rolle des ästhetischen Narren“ gespielt.19 Der von Harig beschriebene Vorwurf scheint in Hinblick auf das blumenstück schwer verständlich. Er beruht auf einer Dichotomie von Information und Musik, die letztere als Sphäre reiner Selbstreferentialität behauptet. Während der Frankfurter Hörspieltagung 1968 hatte Heißenbüttel über die „Hörsensation“ gesagt, sie habe „zwei Grenzpole: die pure Nachricht auf der einen und die musikalische Sublimation auf der anderen Seite“.20 Heißenbüttel geht also von einem Kontinuum aus, während der Vorwurf der „politischen Realisten“ suggeriert, die Musikalisierung der Sprache führe zum Verlust ihrer Aussagekraft. Der österreichische Medienwissenschaftler Friedrich Knilli, ein früher Wegbereiter des Neuen Hörspiels,21 scheint genau dies im Auge zu haben, wenn er sich – in einer Bestandaufnahme von 1969 – gegen das Neue Hörspiel wendet. Er wirft dessen Vertretern vor, Dokumente nur zu benutzen, „um ihnen die Geschichtlichkeit zu nehmen, sie zu entleeren, sie klangvoll zu machen [...] in der Natürlichkeit und Ewigkeit der Akustik“.22 Unter anderem deshalb sei das Neue Hörspiel „genauso reaktionär wie das alte Hörspiel“.23 Meines Erachtens ginge ein solcher Vorwurf am blumenstück schon deshalb fehl, weil die Musikalisierung der Sprache bei Harig nicht allein steht, sondern historisch konkret gemacht wird. So taucht der Löwenzahn, wie beschrieben, auf zwei Ebenen auf: Während seine Behandlung im klanglichmusikalischen Register eine latente Gewalt in der Sprache fokussiert, deutet seine inhaltliche Einbindung gegen Ende des Hörspiels, als ein Grund für den Besuch Himmlers in Auschwitz, auf die manifeste Gewalt der nationalsozialistischen Massenvernichtung. Letztere wird weder in der „Natürlichkeit“ des ewigen Sprachgeschehens aufgelöst noch auf die latente Gewalt in der Sprache reduziert. 17 18 19 20 21

Vgl. Harig 1969, 196. Kamps 1997, 30. Harig 2001, 269-270. Heißenbüttel 1972, 222. Knilli hatte bereits 1961, in seinem Buch über Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels, die Abkehr von der Dramaturgie des „literarischen“ Hörspiels gefordert. 22 Knilli 1970, 83. Knilli spricht hier zwar über den Hörspielmacher Ferdinand Kriwet, meint aber das Neue Hörspiel allgemein; wenige Zeilen später bezeichnet er Kriwet als „typische[n] Vertreter der neuen Hörspielmannschaft“ (Knilli 1970, 83). 23 Knilli 1970, 81.

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Dennoch wirft der Konflikt, den Harig als Auseinandersetzung zwischen „politischen Realisten“ und „ästhetischen Narren“ darstellt, die Frage nach den Grenzen eines politischen Programms auf, das sich als Hinwendung zur „verabsolutierten Hörsensation“ begreift. Wenn Wolf Wondratschek das eingangs erwähnte Essay mit der Ankündigung beginnt, dass im Folgenden zwar nur von Hörspielen geredet werde, man dies aber vergessen solle, lässt sich das auch so deuten: Die Aufwertung konkreter Schallvorgänge, verstanden als Handeln der Sprache und als Verabsolutierung von Hörsensation, soll sich nicht in der Autonomie des Klangs erschöpfen, die ihr phantasmatischer Fluchtpunkt wäre. Wie in der Rede vom Hörspiel von mehr die Rede ist, gehorcht die Hinwendung zur Hörsensation in vielen Werken des Neuen Hörspiels – bewusst oder unbewusst – einer politischen Agenda. Zur Frage steht, ob sich die ideologiekritischen Momente originär in einer Politik des Klangs entfalten können oder ob sie abgesichert werden müssen – wie bei Harig, in der inhaltlichen Einbindung des Löwenzahns, oder bei Wondratschek, in der Bitte zu vergessen, dass hier nur von Hörspielen geredet wird. Diese Frage bildet den Hintergrund der vorliegenden Untersuchung, die dem Verhältnis von Klang, Körper und Ideologiekritik im Neuen Hörspiel nachgeht, und die ich im Folgenden an Wondratscheks eigener Hörspielpraxis, an seinem Stück Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels (1969) fortsetzen werde. Zunächst soll jedoch das Feld des Hörspiels umrissen werden, gegen das sich die Hörspielversuche um 1968 richten.

Die Ideologie des Immateriellen In seinem Funkessay aus dem Jahr 1970 zählt Wondratschek eine Reihe von Defiziten auf, die er dem Hörspiel der Nachkriegszeit vorwirft: das lange von einem Hörpunkt ausgestrahlte Programm vereinzelte die Zuhörer zu Objekten; allzu lange blieben die Zuhörer Betrachter dessen, wie sie zu sehen haben, was sie doch nur hören konnten; die theatralische Illusion schaufelte noch einmal an jenem Graben, der zwischen der Kunst und den Konsumenten zu verlaufen habe; Realität wurde schon allein durch die reduzierte Sinneswahrnehmung als ihr Gegenteil glorifiziert; in diesem Sinn behauptete sich diese Künstlichkeit als Kunst; Teilnahme 24 am Programm konnte nur eines bedeuten: programmierte Verinnerlichung [...].

Wondratscheks Vorwürfe gruppieren sich um ein Merkmal der traditionellen Hörspieldramaturgie, das ich die Ideologie des Immateriellen nennen möchte. Die „reduzierte Sinneswahrnehmung“ im Hörspiel – d.h., dass ihm keine optischen Zeichen zur Verfügung stehen – wird zum Ausgangspunkt einer Theorie der Entstofflichung, welche die Körperlichkeit von Stimme und Klang (im Sinne von Barthes’ grain de la voix)25 ebenso unterdrückt wie das mediale Dispositiv, innerhalb dessen Hörspiel stattfindet: Die Apparatur, mit deren Hilfe es produziert, übertragen und empfangen wird, bleibt zugunsten eines vermeintlich unmittelbaren Zusammentreffens von „Hörspieler“ und

24 Wondratschek 1971, 69. 25 Vgl. Barthes 2002a.

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Hörer in dem immateriell gedachten „Brennpunkt seelischer Akustik“26 ausgeblendet. Dabei ist den Hörern die passive Rolle zugedacht – „vereinzelt zu Objekten“ der „programmierte[n] Verinnerlichung“, wie es bei Wondratschek heißt. Besondere Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang verdient der Begriff des „Hörpunkts“, der sich darauf bezieht, dass Hörspiele bis in die sechziger Jahre hinein monophon produziert und ausgestrahlt werden. Sie kennen also keine Differenzierung von Klangpositionen innerhalb eines Hörraums, der sich im Stereospektrum von links nach rechts erstrecken würde. Einerseits ist dieser Umstand der Technik geschuldet: erst Ende der fünfziger Jahre ist sie so weit entwickelt, dass die Plattenindustrie mit der kommerziellen Produktion und Vermarktung stereophoner Aufnahmen beginnen kann.27 Andererseits entspricht die technische Einschränkung auf einen monophonen Hörpunkt der Dramaturgie des literarischen Hörspiels, wie sie vor allem von Heinz Schwitzke theoretisch begründet und praktisch durchgesetzt wurde. Schwitzke leitete von 1951 bis 1971 die Hörspielabteilung des Nordwestdeutschen bzw. Norddeutschen Rundfunks. 1963 legte er eine 500seitige Dramaturgie und Geschichte des Hörspiels vor, die bis heute als Standardwerk gilt. In ihr beschreibt Schwitzke die Entwicklung des deutschsprachigen Hörspiels als konsequente Durchsetzung eines spezifischen Hörspieltypus, gegenüber dem alle anderen Versuche abqualifiziert werden. Auf der rhetorischen Ebene geschieht dies über die Rede vom „eigentlichen“ Hörspiel. So zählt Schwitzke für die Weimarer Republik sieben Hörspielformen auf, doch er behauptet, dass nur die siebte bedeutend sei – „eine Gruppe ganz für sich: das eigentliche Hörspiel“.28 An dieser Stelle des Buches definiert Schwitzke den Typus in erster Linie ex negativo, im Kontrast zu den anderen sechs Modellen: reale Geräusche, realistischer Zeitstück- oder Reportagecharakter, reale Sachbezüge [...] [haben] für diese Gattung keine Bedeutung. Entscheidend ist allein jene besondere Form, die durch die gesprochene Sprache und durch die unmittelbare Anteilnahme beim imaginativen Hören eine eigene innerliche Wirklichkeit und eine neue innerliche 29 „Perspektive“ ermöglicht.

Das „eigentliche“ Hörspiel, wie Schwitzke es beschreibt, marginalisiert jeden äußeren Realismus, um den Hörern eine „innere Bühne“ zu bieten.30 Diese Auffassung beinhaltet eine dramaturgische Forderung und eine technische Vorannahme: von der Dramaturgie her soll sich das Hörspiel auf die innere Handlung, auf die „seelischen Vorgänge“ im Protagonisten konzentrieren, die dann – unter Ausblendung der Übertragungstechnik – „unmittelbar“ ins Bewusstsein der Hörer projiziert würden. Laut Schwitzke fällt die „Bühne“ des Hörspiels „mit dem Zuschauerraum, mit der Stelle, an der innerlich geschaut und erlebt wird, zusammen.“31

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Kolb 1932, 55. Vgl. Steinke 2001, 1372. Schwitzke 1963, 77; Hervorhebung im Original. Schwitzke 1963, 77. Vgl. Schwitzke 1963, 43-44. Schwitzke 1963, 44.

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Für diese Dramaturgie der „programmierte[n] Verinnerlichung“, wie sie von Wondratschek abfällig genannt wird, greift Schwitzke direkt auf Richard Kolbs Horoskop des Hörspiels (1932) zurück. Auch Kolb versucht, die Dramaturgie des Hörspiels aus dem zu entwickeln, was er als Wesen des Funks begreift.32 Seine vielzitierte Formel zum Verhältnis von innerer und äußerer Handlung lautet, es sei „die Aufgabe des Hörspiels, uns mehr die Bewegung im Menschen, als die Menschen in Bewegung zu zeigen“.33 Die innere Bewegung übertrage sich wiederum direkt auf die Hörer, die zur „seelische[n] Einheit“ mit den „Hörspielern“ fänden: „Die entkörperte Stimme des Hörspielers wird zur Stimme des eigenen Ich.“34 Das Stichwort der Entkörperlichung weist darauf hin, welche Argumentation diese Traditionslinie des Hörspiels wählt, um sich aus dem angeblichen Wesen des Funks als „eigentliches“ Hörspiel zu begründen. Die Rede ist von der „Blindheit“ der Kunstform – eine Metapher, die sich in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Hörspiel seit dessen Anfängen in den zwanziger Jahren immer wieder findet: Für Schwitzke ist „Blindheit“ die „auffälligste Eigenschaft des Rundfunks“, Rudolf Arnheim überschreibt ein Kapitel seiner 1936 erstmals veröffentlichten Radiotheorie mit „Lob der Blindheit: Befreiung vom Körper“, und Knilli polemisiert 1961, das Hörspiel wende sich „genausowenig an Blinde wie die Pantomime an Taubstumme“.35 Die postulierte Blindheit, die in der metaphorischen Zuschreibung – auch innerhalb der genannten Texte – zwischen Hörer und Medium wechselt, wird dabei als „Filter [...] für alles Stoffliche“ verstanden, weshalb der Funk „ins Immaterielle, ins Metaphysische“ weise (Kolb).36 Von einer mehr wahrnehmungstheoretischen Perspektive argumentiert Arnheim, dass die optische Welt nicht nur das zeige, was geschieht, sondern auch – und vor allem – den „Bestand des unveränderlich Seienden“.37 Unveränderlich ist dabei wohl als Hyperbel zu verstehen, denn als Beispiele nennt Arnheim den Schnurrbart, den ein Mann schon lange trägt, und das Gemälde, das seit zwanzig Jahren an der Wand hängt. Worauf es ihm jedoch ankommt, ist die Feststellung, dass auf der akustischen Ebene kaum „Zuständliches“ gegeben werde: Zuständlich wie Form und Farbe eines Dinges ist etwa das Ticken einer Uhr. Aber die große Mehrheit alles Tönenden bedeutet augenblickliches, aktuelles Geschehen! Das beste Beispiel dafür ist die menschliche Stimme. Sie schweigt, wenn Stillstand, Geschehenslosigkeit herrscht. Erklingt sie, so pflegt das davon zu zeugen, daß etwas 38 vorgeht.

Die Verknüpfung des Immateriellen mit dem Wesen des Funks, die sowohl Kolb und Schwitzke als auch Arnheim aus leicht unterschiedlicher Perspektive behaupten, lässt sich auf neuere Theorien zur Stimme beziehen, die diese

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Vgl. Kolb 1932, 11. Zum Folgenden vgl. auch Schwitzke 1963, 185-197 u. passim. Kolb 1932, 41. Kolb 1932, 55-56. Vgl. Schwitzke 1963, 141; Arnheim 2001, 86-127; Knilli 1961, 10. Kolb 1932, 22 u. 50. Arnheim 2001, 97. Arnheim 2001, 98; Hervorhebung im Original.

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– zumal im Hinblick auf postdramatische Theaterformen – als „performatives Phänomen par excellence“ begreifen.39 Unter Zuhilfenahme dieser Theorien lässt sich argumentieren, dass der Diskurs von der „körperlosen“ Stimme im Hörspiel bestimmte Aspekte des Performativen hervorhebt, während er andere Aspekte ausgrenzt.40 Im Zentrum steht dabei die Ereignishaftigkeit des Akustischen, die als Ausweis für Unmittelbarkeit genommen wird, und die Intersubjektivität der Stimme, deren Appellcharakter sie in der traditionellen Hörspieltheorie zur Stimme des eigenen Gewissens macht. Damit ist auch der Punkt benannt, an dem die Idee des Immateriellen – zwar nicht bei Arnheim, aber bei Kolb und Schwitzke – in Ideologie umschlägt: Intersubjektivität ist bei ihnen nur als Verschmelzung von „Hörspieler“ und Hörer „im Brennpunkt seelischer Akustik“ zu denken, bei der „die Wand zwischen beiden – Raum und Körperlichkeit – [fällt].“41 Das heißt, dass selbst Aufnahme- und Empfangsapparat – Hörspielstudio und Rundfunkempfänger – entkörperlicht werden: Gemäß der Ideologie des Immateriellen findet die „Übertragung“ direkt in der Seele der Hörer statt. Kolb schreibt: „Frei von aller äußeren Form wird das Wort gleich einer Eingebung zur zeugenden Kraft in uns.“42 Diese Behandlung des Akustischen entspricht ganz der phonozentrischen Tradition des Abendlands, für die das gesprochene Wort über eine Nähe zur Seele verfügt, die Selbst-Präsenz und Präsenz des Sinns garantieren kann.43 Sobald sich die Stimme aber aus ihrer Dienerschaft für den Sinn löst, verfällt sie der Abwertung: „Die Tradition der Verurteilung der Stimme [als Domäne sinnlicher, erotischer Wirkung]“, schreibt der Theaterwissenschaftler HansThies Lehmann, reicht weit zurück: Sirenen des Odysseus, der platonische Hass auf den Gesang und allgemein die theatrale Mimesis als staatsgefährdende Lockerung der seelischen Disziplin, sein [Platons] für die abendländische Kunstauffassung exemplarischer Versuch, die sprechende und singende Stimme so eng wie möglich an Text und Sinn zu bin44 den.

Bei den performativen Aspekten der Stimme, die von der traditionellen Hörspieltheorie ausgegrenzt werden, handelt es sich genau um das Subversionspotential der Stimme – dass sie sich „ihrer bruchlosen semiotischen, medialen oder instrumentellen Dienstbarkeit“45 entzieht – und um ihre Körperlichkeit, die Roland Barthes als „Rauheit“ der Stimme bezeichnet: „la patine des consonnes, la volupté des voyelles, toute une stéréophonie de la chair profonde: l’articulation du corps, de la langue, non celle du sens, du langage.“46 Es ist wohl Zufall, dass zu den Vokabeln, die Barthes für die Körperlichkeit der Stimme wählt, auch der Begriff der Stereophonie gehört. Bezogen 39 40 41 42 43 44 45 46

Kolesch/Krämer 2006, 11; zum postdramatischen Theater vgl. Lehmann 1999. Zu den im Folgenden kursiv gedruckten Kategorien vgl. Kolesch/Krämer 2006, 8-11. Kolb 1932, 55. Kolb 1932, 52. Vgl. Derrida 2004. Lehmann 2004, 41. Kolesch/Krämer 2006, 11. Barthes 2002b, 261; meine Hervorhebung.

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auf die Hörspieltheorie Schwitzkes ist diese Wortwahl jedoch überaus erhellend. Für Schwitzke stellt die Stereophonie nämlich die größte Gefahr für die entkörperlichte Stimme und die Immaterialität des „eigentlichen“ Hörspiels dar. Denn es sei beim Hörspiel nicht nur Sache der Phantasie, „wenn wir uns selbst mitten auf der ‚Bühne’ empfinden und die Figuren des Spiels mitten in uns.“ Diese Empfindung sei – ganz im Gegenteil – überwiegend technisch bedingt, das „Ergebnis der Wirkung des abstrakten, eindimensionalen, einohrigen (‚monauralen’) Hörraums.“47 Am Beispiel eines JedermannHörspiels erklärt Schwitzke die vermeintlichen Defizite der Stereophonie: Die Gegenspieler dialogisieren aus liturgischer Distanz und stehen sich nun plötzlich im Raum vor uns gegenüber – im gleichen Raum, in dem wir uns befinden, genau zu lokalisieren: da links der eine, der andere dort rechts, aber beide unsichtbar wie unter einer Tarnkappe. Und nun wird die Sache wirklich gespenstisch: wir sitzen davor wie vor einer Guckkastenbühne, die wir nicht sehen, suchen verzweifelt mit den Augen, da links und dort rechts, die begrenzenden Bühnenpfosten und fühlen uns durchaus nicht mehr – wie beim eindimensionalen Hören – mitten auf der Szene zwischen den Agierenden, im Schnittpunkt aller Spannungen, sondern sind in eine Distanz zur 48 Handlung versetzt, die wir im Hörspiel bisher nicht kannten.

Es entspricht der Ideologie des Immateriellen, dass Schwitzkes Theatermetaphern das Jedermann-Stück, indem sie es aus dem Bereich des „eigentlichen“ Hörspiels ausschließen, auch dem Medium Hörfunk entziehen: Das Stereohörspiel scheint auf einer „Guckkastenbühne“ zu spielen, die für die Hörer unsichtbar bleibt. Das „Lob der Blindheit“ kehrt sich, um die Notwendigkeit des Immateriellen zu begründen, in sein Gegenteil. Die Hörer, die „verzweifelt mit den Augen“ suchen, was sie hören, sind dem Spiel – aufgrund dieses „Defekts“ – plötzlich entfremdet. Schwitzkes Argumentation ist auf die zwei Dimensionen der Lautlichkeit zu beziehen, die ich oben genannt habe, und die der Ausdruck Klang/Körper zusammenfassen soll: Auf der einen Seite steht die Verbindung von Körper und Klang, die ihre materiellen Prägungen (den grain de la voix) betont. Auf der anderen Seite findet sich das phonozentrische Modell, das eine Trennung von Klang und Körper behauptet, um stattdessen Klang und Sinn in der Immaterialität „seelischer Akustik“ zu vereinen. Das Stereohörspiel als Guckkastenbühne entspricht der ersten Dimension der Lautlichkeit, gegen die sich Schwitzkes Dramaturgie wendet. Eben weil das Hörspiel „ganz und gar immateriell“ vor sich gehe, sei es durch diese besonders gefährdet: Schwitzke spricht von der „Verletzbarkeit“ des im Hörer entstehenden Bildes, „die auch unangenehm spürbar sein kann – etwa bei der Vermischung der sorgsam artikulierten Töne mit unartikulierten Geräuschen aus der kompakten Realität der Bühne [...].“49 Dem entspricht die niedrige Stellung, die Schwitzke dem Geräusch, im Gegensatz zum klingenden Wort, zuweist:

47 Schwitzke 1963, 210. 48 Schwitzke 1963, 209; Hervorhebung im Original. 49 Schwitzke 1961, 19.

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Klang/Körper und Ideologiekritik Jeder feinfühlige Hörer weiß, wie z.B. die Anwendung von grobrealem Lärm, von Schritten und klappenden Türen im Hörspiel als scheußliche Stilwidrigkeit wirken kann, weil damit materielle Wirklichkeit den hauchzarten Schleier der Phantasiewirk50 lichkeit schmerzhaft durchstößt und zerreißt.

Deshalb sei der beste Gebrauch von Geräuschen – und auch von Musik – im Hörspiel dann geschehen, „wenn die Hörer am Ende meinen, weder Geräusch noch Musik gehört zu haben – oder aber, wenn sie Musik und Geräusch gehört zu haben glauben, obwohl nichts dergleichen verwendet wurde.“51 Diese Formel erklärt sich aus dem Primat des Wortes im Hörspiel der Nachkriegszeit, das seinerseits auf eine Trennung des Klang/Körpers zugunsten der phonozentrischen Verbindung von Sinn und Klang bezogen werden kann. So ist die Versinnlichung – das Erklingen – des Wortes zwar das, was das Hörspiel im Gegensatz zur geschriebenen Literatur auszeichnet. Doch die Versinnlichung – das Akustische, der Klang der Sprache – soll den Sinn bloß unterstützen und dann zu seinen Gunsten verschwinden: wie Musik und Geräusch, „wenn die Hörer am Ende meinen, weder Geräusch noch Musik gehört zu haben.“52

Der Rundfunk als Apparatur In Wondratscheks Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels ist die Stellung von Musik, Geräusch und sinnerfülltem Wort – im Vergleich zur Hörspieldramaturgie der Nachkriegszeit – radikal verschoben. Das zeigt sich bereits daran, dass eine konventionelle Inhaltsangabe des Hörspiels auf einen einzigen Satz zu reduzieren wäre: „Paul fährt einen LKW von München nach Hamburg. Paul sieht verschiedene Dinge, er denkt verschiedene Dinge; das wiederholt sich für Paul jeden Tag.“53 Nun könnte diese Verknappung dem Konzept der „inneren Bühne“ entsprechen, genauer gesagt der Abwertung aller äußeren zugunsten der inneren Handlung. Dem widerspricht nicht nur, dass eine Erzählerstimme den eben zitierten Satz im Lauf des Hörspiels mehrfach wiederholt – und so die Verknappung der äußeren Handlung als Verarmung einer konkreten Lebenssituation, der des Lastwagenfahrers, positioniert. Zudem besteht das Hörspiel aus einer Collage disparater Satzfragmente, die teilweise zwar auf die Gedanken einer dramatischen Figur Paul bezogen werden können, doch akustisch aus jeder Innerlichkeit im Sinne des stream of consciousness befreit sind. Diese „Befreiung“ vollzieht sich als Materialisierung von Klang und Stimme, d.h. unter Aufwertung jener Aspekte der Performativität des Akustischen, die von der Ideologie des Immateriellen marginalisiert werden: nämlich der Körperlichkeit des Klangs und des subversiven Potentials, das dieser gegenüber seiner „semiotischen, medialen oder instrumentellen Dienstbarkeit“54 entfalten kann. Ein Hauptbestandteil der Materialisierung ist die Bewusstmachung des 50 51 52 53 54

Schwitzke 1961, 19. Schwitzke 1963, 228. Schwitzke 1963, 228. Wondratschek 1971, 46. Kolesch/Krämer 2006, 11.

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medialen Dispositivs: dass der Rundfunk als Apparatur und das Hörspiel als Bestandteil eines institutionell bestimmten Programmablaufs wahrnehmbar gemacht wird. So beginnt Wondratscheks Hörspiel nicht nur mit dem Ansagetext der jeweils übertragenden Rundfunkanstalt – etwa „Saarländischer Rundfunk, Studiowelle: Wir bringen Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels. Ein Stereohörspiel von Wolf Wondratschek.“55 Der etwas altbacken klingende Satz taucht im Hörspiel immer wieder auf. Außerdem wird der Rundfunk als Apparatur auch dadurch thematisch, dass Regisseur Heinz Hostnig der Bitte Wondratscheks (im Nebentext des Hörspiels) nachgekommen ist, „verschiedene mediale Akustiken (z.B. Megaphon-, Radio-, Telefonakustiken) zu verwenden“, ohne diese inhaltlich zu motivieren.56 Der Klang löst sich vom Sinn des Erklingenden: Die technische Verfremdung wird als „Hörsensation“ eingesetzt – und nicht etwa, um ein Radio, ein Megaphon oder ein Telefon zu bedeuten. Die Hörspieldramaturgie der „programmierten Verinnerlichung“ würde freilich den realistischen – in die Erzählung eingebundenen – Gebrauch medialer Akustiken genauso ablehnen wie den unmotivierten – auf das Erzeugen von „Hörsensation“ ausgerichteten – Gebrauch in Paul. Das gilt auch für die Stereophonie, die bei Wondratschek und Hostnig ebenfalls willkürlich eingesetzt wird. Ohne einem übergreifenden Ordnungsprinzip zu folgen, sind die Geräusche und Wörter auf fünf Positionen im Hörraum verteilt (links, halblinks, mittig, halbrechts, rechts).57 Obwohl sich Schwitzkes Hörspieltheorie die Stereophonie nur als falschen Realismus vorstellen kann, ändert ein solch „unrealistischer“ Gebrauch aber nichts an der Bedrohung, die von ihr angeblich ausgeht. Für Schwitzke liegt die Gefahr der Stereophonie nämlich darin, dass sie die Intimität des Hörspiels zerstöre und für eine Distanzierung sorge: statt „mitten auf“ der „Bühne“ befänden sich die Hörer plötzlich „vor“ ihr. In diesem Punkt gehen die Theorien des Neuen Hörspiels konform mit Schwitzke. Sie sehen die Distanzierung durch Stereophonie jedoch als Chance, nicht als Bedrohung für das Hörspiel: „Das Stereohörspiel“, schreibt beispielsweise Johann M. Kamps, „ist weniger geeignet, den Hörer in eine Geschichte hineinschlüpfen zu lassen.“58 Da es die Hörer eher mit „akustischen Abläufen“ konfrontiere, begünstige das Stereohörspiel das „intelligente“ Hören: „Sein Unterhaltungswert liegt nicht in der betäubenden Ablenkung, sondern in der genussvollen Anspannung.“59 In seinem Funkessay von 1970 fordert Wondratschek, diese Art „intelligenten“ Hörens zu fördern, indem wir kapieren, was destruktiv gegen diesen Apparat sich wirklich gebrauchen lässt. Der einen Entfremdung gerade entronnen, betrügen den Konsumenten die Konserven abends noch einmal über die einfache Erkenntnis, sogar in seiner Freizeit sich unfrei

55 Vgl. Wondratschek (Buch), Hostnig (Regie): Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels (Produktion: WDR, BR, HR u. SR, 1969). 56 Wondratschek 1971, 45. 57 Vgl. Wondratschek 1971, 45. 58 Kamps 1969, 76. 59 Kamps 1969, 76.

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Klang/Körper und Ideologiekritik verhalten zu müssen [...]. Das heißt, die neueren Arbeiten hätten ebenso an einer 60 neuen Form von Unterhaltung, einer Unterhaltung ohne Aura zu experimentieren.

Wondratscheks Hörspiel setzt die mit der Stereophonie begonnene Distanzierung und Entauratisierung fort, indem Geräusche, wie etwa das Tippen einer Schreibmaschine, oder Originaltonaufnahmen – wie etwa Parteitagsreden von Franz Josef Strauß (CSU) und Kurt Georg Kiesinger (CDU) – jeweils mit den hart geschnittenen Worten „Geräusch“ oder „Zitat“ eingeleitet und ausgestellt werden. Die vielleicht bekannteste Stelle in Wondratscheks Hörspiel beginnt mit einer Reihe von Städtenamen, die sich auf Pauls Fahrt von München nach Hamburg beziehen: „Strecke Ulm, Stuttgart, Karlsruhe, Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Göttingen, Hannover. Die Beatles. Geräusch.“61 Nach dieser Ankündigung erklingt – die volle Breite des Stereospektrums ausnutzend – das Lied I’m So Tired vom Weißen Album der Beatles. Erst eineinhalb Minuten später tritt ein Sprecher in akustische Konkurrenz zur Musik, die nur wenig leiser wird. Er verkündet ein poetologisches Programm, das den Grund dafür bildet, warum diese Stelle oft zitiert wird: Ein Hörspiel muss nicht unbedingt ein Hörspiel sein, d.h. es muß nicht den Vorstellungen entsprechen, die ein Hörspielhörer von einem Hörspiel hat. Ein Hörspiel kann ein Beispiel dafür sein, daß ein Hörspiel nicht mehr das ist, was lange ein Hörspiel genannt wurde. Deshalb ist ein Hörspieltext nicht unbedingt ein Hörspielsatz. Undsoweiter. Ich weiß überhaupt nicht, was sich ein anderer unter einem Hörspiel vorstellt. Ich weiß nicht, was ein Hörspiel ist. Ein Hörspiel ist nur ein Hörspiel! Dieses Hörspiel ist ein Hörbeispiel für das, was ich nicht mehr unter einem Hörspiel verstehe. Vielleicht kommt es aber dem nahe, was ein Hörspiel, wenn es aufhört, unbedingt ein 62 Hörspiel sein zu wollen, sein kann.

Von der Hörspieltheorie der Nachkriegszeit unterscheidet sich diese Aussage in vielerlei Hinsicht: in der Ablehnung normativer Setzungen ebenso wie im Wunsch, die Grenzen der Gattung zu überschreiten – und auch im selbstreferentiellen Bezug auf das Hörspiel, innerhalb dessen sie positioniert wird. Die bedeutendste Verschiebung betrifft aber die Aussage, die Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels über den Stellenwert von Geräusch und Musik macht. Sie lässt sich aus dem hier abgedruckten Zitat nicht einmal ablesen, da diese Aussage auf einer rein akustischen Ebene getroffen wird: Sie entsteht aus dem Zusammenspiel des zitierten Textes mit dem vom Sprecher als „Geräusch“ bezeichneten Beatles-Lied. Der Song I’m So Tired lässt sich in Bezug auf das Hörspiel in unterschiedlicher Hinsicht deuten: etwa als Verweis auf den Zustand des Lastwagenfahrers Paul oder als Teil des Radioprogramms, das er auf der Fahrt nach Hamburg hört. Weil das Lied aber komplett und in voller Lautstärke läuft, es ist z.B. nicht in eine Radio-Akustik verfremdet, geht die Sinnlichkeit des Gehörten im Sinn dieser Deutungen nicht auf. Mehr noch: Die Musik tritt in 60 Wondratschek 1971, 71. 61 Wondratschek 1971, 48. 62 Wondratschek 1971, 48.

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Konkurrenz zur poetologischen Aussage des Sprechers, die manchmal kaum über ihr zu verstehen ist. Auf diese Weise argumentieren Wondratschek und Hostnig für eine Aufwertung der materiellen, körperlichen, sinnlichen Seite des Klangs, für eine Verabsolutierung von Hörsensation – ohne dass dieses Argument noch auf Worte angewiesen wäre. Oder etwa doch? Die hier vollzogene Aufwertung des Klanglichen ist nur deshalb als Forderung zu begreifen, weil sie im Kontext einer poetologischen Aussage – und in Konkurrenz zum sinnerfüllten Wort – steht. Ideologiekritik, die auf eine Politik des Klangs baut, setzt voraus, dass es etwas gibt, dem Sinn zugesprochen wird. Nur innerhalb eines scheinbar sinnerfüllten Rahmens kann sich die Aufwertung des Klang/Körpers als Ideologiekritik entfalten. Wie schon erwähnt, integriert Wondratscheks Hörspiel Originaltonaufnahmen von Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger, die – in Bezug auf 1968 – über den „Neo-Vandalismus des SDS und Konsorten“ (Strauß) bzw. über die „Radikalinskis“ sprechen, „die gar kein Recht haben, als repräsentativ für unsere Jugend zu gelten“ (Kiesinger).63 Die Kritik dieser unkommentierten Aussagen vollzieht sich dadurch, dass sie im Kontext eines Hörspiels, das seine Medialität und die Materialität seiner Aufnahmen derart in den Vordergrund stellt, tatsächlich – wie von Knilli und den „politischen Realisten“ befürchtet – ins Akustische „ausgehöhlt“ werden. In Anlehnung an Mauricio Kagels Hörspiel (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand (1969)64 kann man, was mit den Reden von Strauß und Kiesinger passiert, als Bewegung von der Aufnahme zum Aufnahmezustand beschreiben: Worte werden als „notgedrungener Abfall hingenommen“ und das „gewöhnte Streben nach Perfektion und lautloser Vollkommenheit“ zugunsten einer Bewusstmachung des akustischen Vorgangs relativiert.65 Die Pausen und das Zögern, die Versprecher und das Hüsteln in den Reden – akustische Signale, die bei einer auf Information angelegten Sendung herausgeschnitten würden – werten das Körperlich-Sinnliche des Klangs auf. Was entwertet wird, ist der Sinn, auf den diese Reden pochen.

Literatur Arnheim, Rudolf (2001): Rundfunk als Hörkunst. Und weitere Aufsätze zum Hörfunk. Frankfurt a.M. Bachmann, Michael (2009): Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah. Tübingen (im Erscheinen). Barthes, Roland (2002a): Le grain de la voix. In: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Bd. 4. Hg. von Éric Marty. Paris, S. 148-156. Barthes, Roland (2002b): Le plaisir du texte. In: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Bd. 4. Hg. von Éric Marty. Paris, S. 219-261. Derrida, Jacques (2004): Grammatologie. Frankfurt a.M. Döhl, Reinhard (1988): Das neue Hörspiel. Darmstadt (Geschichte und Typologie des Hörspiels. 5). 63 Wondratschek 1971, 51 u. 57. 64 Vgl. Kagel (Buch u. Regie): (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand (Produktion: WDR, 1969). 65 Vgl. Kagel 1969, 392-393.

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Harig, Ludwig (1969): ein blumenstück. In: Harig, Ludwig: Ein Blumenstück. Texte zu Hörspielen. Wiesbaden, S. 141-200. Harig, Ludwig (2001): Irre Töne. Erinnerungen an die Frühzeit des Neuen Hörspiels. In: Wagner, Hans-Ulrich/Uwe Kammann (Red.): HörWelten. 50 Jahre Hörspielpreis der Kriegsblinden. Hg. vom Bund der Kriegsblinden Deutschlands u. der Filmstiftung NRW. Berlin, S. 267-271. Heißenbüttel, Helmut (1972): Horoskop des Hörspiels. In: Heißenbüttel, Helmut: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 19641971. Neuwied/Berlin, S. 203-223. Hostnig, Heinz (1970): Erfahrungen mit der Stereophonie. In: Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt a.M., S. 129-133. Kagel, Mauricio (1969): (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand. In: Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Texte Partituren. Frankfurt a.M., S. 391438. Kamps, Johann M. (1969): Beschreibung, Kritik und Chancen der Stereophonie im Hörspiel. In: Akzente. 6:1, S. 66-76. Kamps, Johann M. (1997): Ludwig Harigs Schnitt-Werk. Sein Spiel in und mit dem Radio: In Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Ludwig Harig. München, S. 26-36. Knilli, Friedrich (1961): Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels. Stuttgart. Knilli, Friedrich (1970): Inventur des Neuen Hörspiels. ‚Oos is oos’ von Ferdinand Kriwet. In: Knilli, Friedrich: Deutsche Lautsprecher. Versuche zu einer Semiotik des Radios. Stuttgart, S. 80-85. Kolb, Richard (1932): Das Horoskop des Hörspiels. Berlin-Schöneberg. Kolesch, Doris/Sybille Krämer (2006): Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band. In: Kolesch, Doris/Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a.M., S. 7-15. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. Lehmann, Hans-Thies (2004): Prädramatische und postdramatische TheaterStimmen. Zur Erfahrung der Stimme in der Live-Performance. In: Kolesch, Doris/Jenny Schrödl (Hg.): Kunst-Stimmen. Berlin, S. 40-66. Mon, Franz (1970): bemerkungen zur stereophonie. In: Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt a.M., S. 126-128. Schöning, Klaus (Hg.) (1969): Neues Hörspiel. Texte Partituren. Frankfurt a.M. Schöning, Klaus (Hg.) (1970): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt a.M. Schöning, Klaus (Hg.) (1982): Spuren des Neuen Hörspiels. Frankfurt a.M. Schwitzke, Heinz (1961): Bericht über eine junge Kunstform. In: Schwitzke, Heinz (Hg.): Sprich, damit ich dich sehe. Sechs Hörspiele und ein Bericht über eine junge Kunstform. München, S. 9-29. Schwitzke, Heinz (1963): Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln. Steinke, Gerhard (2001): Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung. In: Leonhard, Joachim-Felix et al.: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Bd. 2. Berlin/New York, S. 1366-1375.

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Wondratschek, Wolf (1971): Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels. Hörspiele. München. Würffel, Stephan Bodo (1978): Das deutsche Hörspiel. Stuttgart.

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Sensorial Styles: Commercial Cinema in the Wake of 1968 SABINE HAENNI Fuelled by the emergence of video systems, the 60s had seen an explosion of avant-garde cinema practices, often related to performative practices, which attempted to “expand” the notion of cinema. Mixed media installations, film happenings, multi-screen projections and other heterogeneous practices were grounded in an institutional critique, a critique of the hegemony of the visual, and, quite often, in an attempt to appropriate technological innovation. For instance, in Expanded Cinema (1970), Gene Youngblood argued that, conditioned as we are by a new “intermedia network,” we may as well appropriate the moment—and the media—in ways that lead to “consciousness expansion.”1 Youngblood’s points of reference were primarily media artists, from Andy Warhol to Carolee Schneeman, though he also included Stanley Kubrick’s 2001: A Space Odyssey (1968). Likewise, Warhol’s Exploding Plastic Inevitable (EPI) (1966-1967) involved three to five film projectors, movable slide projectors, variable-speed strobe lights, multiple loudspeakers blaring different records, sets, dancing, etc., with a “cumulative effect […] of disruptive multiplicity and layering.”2 As early as 1964, Warhol, though relegated to a “festival side show,” had been invited to produce an installation of his films at the second annual New York Film Festival. The same year, Charles and Rae Eames installed Think, a “hemispherical wall of movie and slide projections,” in the IBM Pavilion at the New York World’s Fair; in 1966, George Maciuna, in a special issue of Film Culture devoted to “Expanded Cinema,” drew up an “Expanded Arts Diagram.”3 Varied and diverse as they were, these intermedia practices also registered in commercial cinema. In the middle of John Schlesinger’s Midnight Cowboy (1969), a film about two New York City hustlers, Texas wanna-be cowboy/former dishwasher Joe Buck (Jon Voight) and New York City reject Ratso Rizzo (Dustin Hoffman) go to a film happening, or at least a party, featuring drugs, sex, film screenings, and cameos by Warhol superstars. The film is ambivalent about the party scene—it results in a hookup and potential business for Joe, but the partygoers are utterly oblivious to the severity of the two homeless men’s situation. The scene, however, is symptomatic of commercial cinema’s banking on—and appropriation of—an avant-garde visual and performative subculture. While Warhol had worked to move the avantgarde into the mainstream, the commercial film industry, desperate for new business models that would get it out of the recession, completed the move, 1 2 3

Youngblood 1970, 54, 47. Joseph 2004, 15. Joseph 2004, 16-17, 21.

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in the process inventing and standardizing new visual styles—what I call sensorial styles—which changed how we think about and engage cinema. Crucial to this cultural operation was a focus on cinema that included but also went beyond the visual, directing new energy towards aural and other sensory perceptions, both on screen and in the audience. In locating these transformations in the late 60s, I suggest a historical and multi-media context for a strand of film theory concerned with the visceral impact of the filmic medium on the spectator’s body. For instance, acknowledging the importance of “the antihierarchical currents of May 1968,” Steven Shaviro, drawing on Deleuze and Guattari, has insisted on “the visceral immediacy of cinematic experience.”4 Likewise, Linda Williams has proposed that certain genres— pornography, melodrama, the horror film—are characterized by (systematized) excess rather than linear, rational order, by the unseemly display of bodies and of emotions, and by the way in which they literally act on spectators’ bodies.5 Rather than insisting on the visceral effect of cinema on the body, I propose to enlarge the field by looking at sense perception more generally. All three films under discussion here—Bonnie and Clyde (Arthur Penn, 1967), The Long Goodbye (Robert Altman, 1973), and Volker Schlöndorff’s Circle of Deceit (Die Fälschung, 1981)—understand themselves as producing an alternative to mainstream visuality. Though Bonnie (Faye Dunaway) in Bonnie and Clyde is taken by the musical number “We’re in the Money” from the 1933 film The Gold Diggers of 1933 (Mervyn LeRoy/Busby Berkeley), the film locates itself within a different visuality by starting with a series of Depression-era photographs. Likewise, The Long Goodbye ends with a parodic “Hooray to Hollywood,” signaling its own difference from Hollywood visuality. And Circle of Deceit wants to give us an image of the Lebanese Civil War that differs from what it understands as the print media’s sensationalism. In their attempt to produce counter-visualities, these films, I argue, marshal different sensorial styles. By insisting that film can produce distinct “sensorial styles,” I draw on recent work in the history of multi-sensorial perception that has started to consider the suppression of the sensorial in modernity.6 But it would be too facile to understand post-68 cinematics as a simple restoration of sensory experiences, for consumer capitalism has always been marked by an investment in “aesthetic plenitude,” in what David Howes calls “hyperesthesia”: the proliferation of the branding of sensual experiences, where for instance the shape of the Coke bottle evokes an experience of touch that hooks the consumer to

4 5 6

Shaviro 1993, 35, 52. Williams 1995, 141-59. Jim Drobnick for instance considers the development of the “white cube” as an ideal space for art exhibition that coincided with museums’ desire to reach out to the working masses in the late-nineteenth century while being simultaneously guided by the desire to, as he puts it, disinfect them. In the end the white cube favored “single-sense epiphanies” (Drobnick 2005, 269), “liberated modern art from its common association with decadence, insanity, sensuality and feminine frivolity; simultaneously, it revealed the inherent masculinity and authoritarian character of formalist aesthetics” (Drobnick 2005, 267).

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a particular product.7 This would explain why cinema from its very beginning has been invested in the production of the sensorial, both on screen and in the audience. The post-68 moment is thus not unique, but because “social revolutions are always sensory revolutions,” it was a moment when films started to focus on sense perception writ large in order to suggest new modes of documentation and alternative forms of sociality.8

Counter-Sensuality U.S. commercial cinema from the late 60s is usually understood in the context of Hollywood’s financial crisis, which opened the door for a new generation of directors, and for a new set of films, often characterized by a violent viscerality, what Paul Monaco terms the “cinema of sensation.”9 Such changes register the social, cultural, and political violence that rocked the 60s and beyond. Especially Bonnie and Clyde, which generated a heated debate among critics upon its appearance, was a crucial film shaping the depiction of screen violence for decades to come.10 Commentators have pointed out that the scenes of violence in the film need to be understood in the context of the period’s violence—the assassinations of John F. Kennedy (1963), Malcolm X (1965), Martin Luther King (1968), Bobby Kennedy (1968), but also the riots breaking out in scores of U.S. cities (Watts 1965, Detroit 1966), the news of the My Lai massacre, breaking in the U.S. in November 1969, etc. Writing in the early 70s, Vivian Sobchack, in a personal memoir about movie violence in the late 60s, argued that before 1965, death in the movies was quick and there was a reason to die. By the mid-sixties, she writes, there was blood everywhere…Blood appeared in living color in more and more of our living rooms. And it was all around us in the streets, […] Politicians […] became mortal. People who looked and lived exactly as we did shot at us from water towers, slit our throats, went berserk, committed murder next door. […] None of the blood spilt was picturesque or patriotic. Death by violence became a possibility for all of us because it lacked sense and meaning much of the time; there was no drama and catharsis. The blood in our lives had nothing of art or distance about it.11

In this context, Bonnie and Clyde is a crucial film that transposed the era’s social and political violence into a cinematic style. The gunning down of the two main protagonists at the end, choreographed through a combination of montage editing and slow motion, produces a visceral impact on spectators’ bodies by cinematic means.12 Rather than only producing a visceral, or sensational cinema, however, Bonnie and Clyde is invested in a sensual cinema writ large. After the opening shots of photographs, it famously opens again with an extreme close-up 7 8 9

Howes 2005b, 296. Howes 2005a, 11. Monaco 2003, 196-97. For more detailed accounts of the emergence of "New Hollywood," see also Cook 2002, Kramer 2000. 10 Friedman 2000, 21-30, 33-35. 11 Sobchack 2000, 113. 12 Prince 2000; Friedman 2000, 72-75.

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of Bonnie’s mouth. At the very end, right before Bonnie and Clyde are gunned down, we hear the pleasant chirping of a flock of birds, and Bonnie bites into a pear with gusto (fig. 1). These aural and gustatory cues are present throughout the film, from the frenetic and often energizing soundtrack to the snoring of C. W. Moss’s (Michel J. Pollard), Bonnie and Clyde’s partner in crime, during Bonnie’s sleepless, soul-searching night. Expanding beyond the visual, Bonnie and Clyde mobilizes all the bodily senses.

Fig. 1: Bonnie (Faye Dunaway) bites into a pear with gusto right before being gunned down While such a sensorial cinema is not attached to any particular politics, the film makes clear that visuality alone is not enough to create an alternative public sphere. In this respect, Clyde’s (Warren Beatty) damaged sun-glasses in the final sequence (fig. 1) are symptomatic. More importantly, the film both inscribes and acknowledges the political limitations of a culture of witnessing. In a crucial moment in the film’s final sequence, two black farmhands drive up and get out of their vehicle, observing the shooting of Bonnie and Clyde. The racial politics of the scene are not unimportant: in a 1967 interview Penn claimed that African Americans completely identified with Bonnie and Clyde […]. They really understood, because in a certain sense the American negro has the same kind of attitude of “I have nothing more to lose,” […]. It is true now of the American negro. He is really at the point of revolution.13

Nonetheless, the racial politics of this scene are problematic, as it appropriates the potential of black insurgency while assigning African Americans to the roles of “extras,” in effect using them to legitimize white suffering. Such a complex racial move is only partially amended by an earlier scene, when Clyde teaches Bonnie to shoot, and invites an old farmer and his black farmhand to shoot at the bank’s sign, in an act of anger at having been evicted. 13 Quoted in Carr 2000, 84.

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While witnessing here plays an important role, the film seems to suggest the limitations of witnessing, positing bodily, sensorial involvement as an important aspect of political change. At their most progressive, sensorial moments in the film are used to build empathy and social bonding. Generally speaking, the sensory cues of the film’s final sequence—the sounds of the birds flying off, the taste of the pear—are crucial to the scene’s emotional impact. Not unimportantly, these cues produce a kind of sensory tension, heightening the suspense, and thus the emotional impact of the shooting. Beyond creating suspense, the pear and assorted everyday sensorial moments build audience empathy with the outlaw characters and their banal, everyday pleasures, an empathy so important to the filmmakers. A related moment of social bonding occurs when the gang steals Velma and Eugene’s (Evans Evans and Gene Wilder) car, engage in a chase with the couple, but end up in the same car, eating burgers. The scene subtly establishes both the construction as well as the porousness of social boundaries: the middle class couple ends up bonding with the gang members over burgers, signaling their own affinity for the gang, as they are quite willing to leave their position behind. While the final sensorial moment builds an emotional connection between Bonnie and Clyde, and between the outlaw couple and the spectator, this earlier moment creates a brief alliance among people of different social standing. To be sure, sensorial moments that expand beyond the visual do not automatically come with progressive politics, as a consideration of their importance to a special-effects cinema would doubtlessly reveal. Nonetheless, Bonnie and Clyde briefly uses such moments to suggest a different sociality, not a revolutionary one, but one based on empathy and social bonding that may not be allowable within social norms. It is also the case that such alliances are short lived: after these quick sensory eruptions, brief suspension of the social system, the film falls back into a narrative rhythm, in which social transgressions are not possible, and outlaws must be punished. Narrative structure thus reigns in the potential of the film’s sensory moments.

Sensorial Observation While Bonnie and Clyde makes concessions to narrative discipline, Circle of Deceit, despite being framed by a rather conventional narrative, hardly does so. The film narrates the story of Georg Laschen (Bruno Ganz), a newspaper reporter who escapes from his marital trouble to a war-torn Beirut. It replaced a project written by Günter Grass, Headbirths or The Germans Are Dying Out (Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus), first written as a script, and later published as a novel, based on a trip by Schlöndorff and Grass to Egypt, India and Indonesia.14 In this context, the analogy between the decline of heterosexual marriage and the decline of Western geo-political hegemony becomes all too obvious: the film opens in Germany, with a scene of emotional and physical violence, as Laschen holds a knife while Greta (Gila von Weitershausen), his wife, rejects his intimacy. With that knife, he will later kill an anonymous man in a bomb shelter in Beirut, for no apparent reason 14 Moeller and Lellis 2002, 194.

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other than the “satisfaction of becoming involved,” as he writes in a letter to Greta. While the casual killing of the non-Western other raises troubling ethical questions, while we might say that Laschen can kill the Muslim intruder but not the German wife, in terms of the film’s plot the event seems to have no effect. Maybe in a nod to American cinema’s "unmotivated hero" who became popular during the period, the decline in heterosexual marriage and the decline in Western empire correspond with the decline in narrative linearity.15 Instead of exploring Laschen’s motivation, the film makes it its task to document sensorial confusion. “I feel that everything can explode any minute (Ich fühle, dass alles jederzeit explodieren kann),” Laschen ruminates as he is driven from the Beirut airport to the hotel where he is staying. The film has been both praised and criticized for not taking a side, for doing very little to explain the politics of the Lebanese Civil War.16 Instead the camera likes to move laterally, going places where the protagonist cannot go. In a typically elaborate scene, set in the morning after Laschen witnesses the first night shooting, the camera starts by framing a minaret, cuts to several Muslim soldiers in prayer, then moves laterally across a square, capturing a street filled with rubble, a man with a pushcart, and several old women, as Laschen’s voiceover sets in: “It’s usually quiet in the daytime and all the life that seemed to be dead comes obstinately out into the sun. (Tagsüber ist es meist ruhig und viel totgeglaubtes Leben kommt hervor in die Sonne und zeigt sich in seinem Eigensinn.)” The next shot frames Laschen from inside a window as he looks in from the outside, then tracks laterally through the inside room where men smoke, argue and play boardgames, while Laschen stays outside (fig. 2). The sound of the prayer has given way to untranslated arguments in Arabic and a bubbling pipe, all of which is replaced by the next shot, another street shot of hectic activity, running, and talking, until Laschen walks into the frame and becomes the focus of the camera. Here and elsewhere the camera is relatively independent of the character, registering at once his inability to control the action (as he would have been able to do in a classically edited film), wandering around, obstinately filling its frames with images of life and its soundtrack with a jumble of sounds. Such pans and laterally tracking shots are complemented by the many, frequently beautiful extreme long shots of the landscape, or of the city with a tiny Laschen moving through it, which contributes to the film’s non-documentary feel. Even as it frames the scene, the camera often seems captured by the environment, patiently accruing sensorial fragments, a mode that supplants any plot. That mode of sensorial documentation, which insists on seemingly insignificant visual and aural details, has its limitations. If not in style (the shots are too carefully planned), then in philosophy, the film remains indebted to documentary film debates raging in the 60s and 70s, spurred by the cinema vérité movement. Discussing specifically the anthropological uses of film, Colin Young in 1974 advocated an “observational cinema” that he linked to the note-taking of the anthropological field researcher, while also admonishing readers that the anthropologist “publishes the results of this note-taking 15 On the ethical and many possible (but ultimately unresolved) narrative questions raised by the murder, see Moeller and Lellis 2002, 199-202; on the unmotivated hero, see Elsaesser 2004. 16 For an overview of the film's reception, see Moeller and Lellis 2002, 202-205.

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method—not the notes themselves.”17 Of course, much has happened in anthropology since then, not least because the tendency to suppress the researcher’s subjective presence has come under fire. Nonetheless, Young’s comments allows us to understand Circle of Deceit as a way of “publishing” the details of recorded sensorial fragments as a form of observation, without an evaluative cognitive framework.18 That Laschen, the stand-in observer, has no intimate connection with the subject, that the role of the camera/filmmaker as separate from Laschen remains underexplained, does not help us make sense.

Fig. 2: The camera explores the sounds of the interior space, as Laschen (Bruno Ganz) remains outside, looking in Nonetheless, Schlöndorff understands this mode of sensorial observations as a way of producing an alternative public sphere, a concept much debated in post-68 Germany.19 Much is made in the film of the sensationalism associated with the media reportage about the Lebanese Civil War. In one particularly poignant moment, Rudnik (Jean Camet), an older Frenchman with much colonial experience, offers Laschen exclusive amateur pictures taken at Karantina, including, as he says, images of Muslim women being raped. We do not get to see these particular images, though the camera briefly shows some photographs of dead bodies in rubble, including a child and a naked woman, before also showing several full screen images of devastated, pleading women. Laschen, who is not particularly interested in the images, is outbid by a Scandinavian colleague. Later, writing up an article at the hotel, Laschen castigates himself: “What you do is distraction. (Was du machst, ist Zerstreuung.)” The brief inclusion of the photographs suggests the film’s 17 Young 2003, 101. 18 For an early critique of the "observational" mode, see MacDougall 2003; for an overview of a "sensory-embodied approach in ethnographic filmmaking" building on MacDougall's work, see Pink 2006, 41-59. 19 On "The Public Sphere and the Student Movement," see Negt and Kluge 1993, 84-91.

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own ambivalence about its possible participation in commercial sensationalism. It was made before the onslaught of VCR and DVD technology allowed us to still the image, thus creating, in Laura Mulvey’s words, a “delayed cinema” fostering either a possessive or a reflective spectatorship capable of committing “an act of violence against the cohesion of a story.”20 In the film, the photographs pass quickly, neither pandering to media sensationalism (not least because they remain embedded in a conversation about the ethics of sensationalism) nor establishing an alternative mode of experience. The alternative mode instead can be found in the camera’s careful accumulation of sensory detail.

Sensorial Social Space If Bonnie and Clyde introduces sensory perception to suggest fleeting moments of a counter-sociality, if Circle of Deceit makes such sensory perception the film’s dominant style but sacrifices the concept of counter-sociality, then, I would argue, Robert Altman’s The Long Goodbye attempts to integrate the two approaches. Squarely working within a revisionist approach to the film noir formula, Altman uses visual cues and manipulates sound in order to reframe private eye Philip Marlowe (Elliott Gould) in multi-sensory terms. In a perceptive early account of Altman’s aesthetics, Jonathan Rosenbaum has argued that Altman is committed to a form of improvisational interactions, implemented, not least, by the use of overlapping sound.21 In The Long Goodbye Altman uses such strategies to create an alternative, sensorial social space in Los Angeles. Altman’s social investments are considerable, and he certainly performs a the critique of the status quo. His best known film in this respect must be Nashville (1975), a film which brings together characters with diverse backgrounds and convictions, including a candidate running for the “Replacement Party,” and which ends with an assassination. The Long Goodbye’s social investments may be less obvious, if only because it is set within the social geography of Los Angeles, a city whose social specificity is usually erased in Hollywood film to the extent that creators are advised to “not shop movie scripts about L. A. neighborhoods.”22 Marlowe lives in the Hollywood Heights foothills, in an apartment accessible only via the Hightower Drive Elevator. The foothills, home to stunning architecture and spectacular views of the Los Angeles basin, are crucial to Hollywood’s limited depiction of the city of Los Angeles, maybe especially the pan from the foothill mansion, an iconic shot contributing to a sense of Hollywood wealth and glamour. As Reyner Banham argued in his ode to Los Angeles, Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies, the foothills are the site of “Hollywood’s classic years,”23 with their “narrow, tortuous residential roads serving precipitous house-plots that often back up directly on unimproved wilderness,” 24 produc20 21 22 23 24

Mulvey 2006, 171. Rosenbaum 2004, 80-94. Klein 2008, 250. Banham 2001, 83. Banham 2001, 81.

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ing “instant privacy.”25 The Long Goodbye is profoundly aware of such a privatized, fragmented Los Angeles, not least because its second location is a wealthy Malibu beach community, accessible only by private road—a practice Baham had lamented in his 1972 film Reyner Banham Loves Los Angeles—guarded by an unnamed man (Ken Sansom) who passes his time by practicing his Hollywood star impersonations. By placing its tale of murder, alcoholism and deceit in the sunny and private beach colony, the darkly lit Long Goodbye exposes the dysfunction of these spaces, inverting Los Angeles’ cinematic iconography. If the latter can be reduced to images of a “pathological cityscape” and of a “commodified Arcadia,” then Altman imports pathology into Arcadia, blurring the boundaries between the two spaces.26

Fig. 3: Marlowe (Elliott Gould) steps off the elevator (seen left) and greets his neighbors (right) before turning toward his own apartment The Long Goodbye’s blurring of social boundaries is accompanied by an alternative social vision. The film is structured around Marlowe’s ethics—it ends with Marlowe shooting his (formerly) best friend, Terry Lennox (Jim Bouton), after learning that the latter killed his wife and used him to escape. “Nobody cares but me,” Marlowe says, before shooting Terry. Rather than simply resurrecting the ethical code of the marginal yet individualized private eye, however, The Long Goodbye includes a more complex social vision. “You’re the nicest neighbor we ever had,” the female hippies living across from Marlowe tell him at the very beginning of the film. “Gotta be the nicest neighbor. I’m a private eye. It’s okay with me,” Marlowe mumbles to himself. Altman takes advantage of the architecture, the “shared neighborly area” situated between the home and the street, private and public, self and society, self and other, which allows for what Dana Cuff has called the “figure of the neighbor” to emerge (fig. 3).27 “It’s okay with me” is a sentence frequently uttered by the Marlowe who in the film’s opening scene goes to the supermarket at 3:00 am to find his cat’s preferred catfood. (“What do I need a cat for? I got a girl,” a supermarket employee says.) The private eye as nice 25 Banham 2001, 82. 26 Carringer 2001, 247. 27 Cuff 2004, 561.

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neighbor suggests the complexities of the neighborly relation with people utterly different from oneself. In its reformulation of the private eye and its use of architecture and mise-en-scene, the film announces care and neighborliness as key issues in the fragmented, corrupt and potentially careless metropolis. The Long Goodbye alters sensorial space—the ways in which we perceive proximity and distance, individuality and collectivity—in order to produce a neighborly space. Rather than using the architecture of Marlowe’s Hollywood Hills apartment to reinforce a sense of social fragmentation and class structure, Altman alters our perception of it to suggest a complexly interrelated social space. In the opening sequence, when Marlowe goes out to get cat food, and agrees to pick up brownie mix for the girls next door, we seem to stay with Marlowe as we hear his interior monologue from a closeup point of audition. But such a perspective is offset by the fact that the girl’s voice comes from an equally close point of audition, despite the fact that visually she is kept at a distance, framed in a long shot. The brief scene thus establishes a complex web of proximity and distance, individual and collective perspective, a fluid choreography of space corroborated by a fluid camera and mingling background noises that emanate from different spaces (the cat’s meow, the music being played, the neighbors’ laughter). In doing so, it produces a neighborly space where characters are engaged in an elaborate dance of social proximity and distance. A somewhat different strategy—what we might call sensorial layers—is used in a later moment when Marlowe visits Roger and Eileen Wade (Sterling Hayden and Nina Van Pallandt) at their beach house. Marlowe discretely goes to the beach when they become embroiled in a marital argument (fig. 4). Altman uses the beach house’s architecture, where the inside is separated from the outside only through a transparent glass wall, combines it with reflections and superimpositions in order to reintroduce Marlowe, who is standing at the beach, into the shot and as a third term into the couple’s relationship. Again, the film plays with our sense perception in order to suggest (however complicated) social relationships.

Fig. 4: Marlowe, standing on the beach, is visible as the couple fights These sensorial strategies used to reconfigure sociality stand in contrast to the more conventional, more fragmented ways in which people—and bodies— 218

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get figured in Los Angeles, ways that are often marked as criminal. Like Marlowe, the mobster who chases him also lives in the foothills, but unlike Marlowe, he insists on the magisterial view and voyeurism provided by his house’s window (Marlowe, by contrast, as behooves a private eye, keeps his shades down). While Marlowe’s sensibility is far removed from any form of voyeurism (“they’ll catch a cold” is his commentary as his female neighbors cavort naked on their balcony in the middle of the night), the gangsters can think only of voyeurism and the power of a panoptic gaze (“are they lesbians?” they ask of the same scene). The film’s sensorial respatialization thus goes against traditional—and traditionally gendered—power relations in the city. It also goes against social compartmentalization and social violence. It is no coincidence that the criminals, tied up in a different sensorial regime, brutally assault the body of a woman (the boss’s girlfriend no less), that Eileen runs over Marlowe, that Dr. Verringer (Henry Gibson) isolates Roger in a small, cell-like room, presumably to cure him of his addiction. Marlowe’s sensorial regime is understood to be a counter-regime posited against the bodily, social and spatial violence and fragmentation perpetrated in the film. *** Avant-garde and commercial film, performative and cinematic practices are rarely thought alongside each other. What I have meant to suggest in this essay is that in the late 60s, commercial films coming from different cinematic traditions responded to the call to expand the visual field. In an attempt to establish alternative public spheres they manipulated the sound and image tracks in order to foreground senses other than the visual—touch, taste, and hearing. To be sure, there were limitations to this operation, often imposed by the commercial and aesthetic structures within which these films operated. Nonetheless, they mobilized the body’s different senses in order to suggest alternative modes of documentation, and alternative forms of sociality. In doing so, I would argue, they secretly shared an agenda with the intermedial installation and video practices emerging at the same time.

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1968: Contextualizing Contemporary Dance and Dance Theatre SABINE SÖRGEL “Take Up the Bodies!” Dance and the Cultural Revolution of 1968 They lived as if life mattered profoundly, as if—this is hard to say without sounding mawkish, yet it seemed this way at the time—as if you could actually take life in your hands and live it deliberately, as if it were an artwork. They seemed to live as if life were all of a piece, love and commitment indivisible. 1 (Todd Gitlin)

The 1960s in the US have been described as a period of countercultural revolution by a newly emerging left-wing politics after McCarthyism, celebrating youth as a value in itself, and heralded by 1950s rebel icons such as James Dean or Jackson Pollock, who died at their peak—sacrificial epitomes of the 1950s era of suburban affluence, media hype and mobility. As Todd Gitlin in The Sixties summarized the appeal of the period: “You put your body on the line. Actions were believed to be the guarantees and preconditions of ideas.”2 The moving body was imagined as the last vestige of truthful experience, connecting the alienated teenager to his or her deeper rhythms of a life worth living—a means of physical transcendence to reach beyond the trauma and anxiety of fascism, the Second World War and permanent nuclear threat. Readings of Freud reinterpreted psychology at the same time, such as Herbert Marcuse’s influential Eros and Civilization which rephrased the philosophy of repressed desire in a Marxist vein, and the discovery of quantum physics redefined notions of space-time as relational rather than absolute which impacted on changing perceptions of identity as multiple and process-oriented thereafter. It is no surprise therefore that body politics took hold of a generation’s revolutionary imagination and the body itself should become the experimental playground of 1960s youth culture, where instant release of energy surplus was found in the outlet of popular music and festival culture. As Todd Gitlin recalls the communal impact of such body politics and their public display:

1 2

Gitlin 1993, 106. Gitlin 1993, 84.

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Sörgel I was drawn into a circle of energy, then, whose bonds were intellectual and moral, poetical and sexual at once. I must have half-imagined the chance I might be admitted—not so much to sex as such, I think, but to the mutual love and reliance and the sense of possibility which sex can stand for. Even to be in the presence of all this transpersonal libido awed me. That it should accompany intelligence and political passion seemed to prove that thought, morality, and feeling could form a whole way 3 of life.

Hence, erotic transgression in the 1960s appeared to rehearse for more than just the individual fulfilment of the pleasure principle. Rather, it staged the possibility of communal belonging in a celebration of a body-mind cosmological continuity with the universe and the natural environment. Referencing the earlier avant-garde from Antonin Artaud to Surrealism and George Bataille, “taking up the bodies” in 1968 was of course hardly a new idea, yet it seems to have epitomized the earlier dissatisfaction of the beginning twentieth century with materialist culture and its scopic-driven, representational regimes of power distribution and bourgeois ideology. 1968 appears to have suggested the opposite, a grass-roots democratic longing towards desire-driven liberation, as in Julia Kristeva’s terms an “unalterable, infinite, absolute and destructive” impulse to seize power from the previous generation, mainly the fathers.4 Kristeva’s recollection of the French student revolt furthermore suggests for us to consider the impetus of 1968 as a postNietzschean rebellious act of re-evaluation in its denunciation of capitalist consumerism and the fascist past. The climactic, almost Dionysian outbreaks of 1968 eroticism may therefore be read in terms of a ritualistic veneration of intimate psychological desires physically released, i.e. defined as somatic experiences of energy output and transgression. In the following analysis I would like to suggest a re-reading of Anna Halprin and Merce Cunningham in the context of 1968 body politics as to consider commonalities in their approach towards corporeality and dance despite their diverging aesthetics. In fact, I would like to argue that both choreographers redefine notions of the body, ritualistic practice and dance which directly reverberate with the street politics of the time.5

3 4 5

Gitlin 1993, 109. Kristeva 2002, 26. My reading of Kristeva as well as the following investigation of Cunningham’s Walkaround Time were developed in response to, if not directly referencing Ramsay Burt’s seminal study Judson Dance Theater: Performative Traces (Burt 2006).

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Contemporary Dance and 1968

Mind-Time in Merce Cunningham’s Walkaround Time (1968) For me, it seems enough that dancing is a spiritual exercise in physical form, and that what is seen, is what it is. And I do not believe it is possible to be “too simple.” What the dancer does is the most realistic of all possible things, and to pretend that a man standing on a hill could be doing everything except just standing is simply divorce—divorce from life, from the sun coming up and going down, from clouds in front of the sun, from the rain that comes from the clouds and sends you into the drugstore for a cup of coffee, from each thing that succeeds each thing. Dance is a visible action of life. 6 (Merce Cunningham)

Composed as homage to Marcel Duchamp’s Large Glass (1915-23), Merce Cunningham’s 1968 premiere of Walkaround Time modernized modern dance to the extent that the choreography explored the mechanisms of movement on its own revolutionary terms.7 Dance manifests “a visible action of life,” as Merce Cunningham defines in the quote above. His intertextual reference to Duchamp appears no accident, since dance in this definition reads as ready-made. Just like Duchamp’s selected everyday objects, dance is already there with every single movement we choose to make. It is thus existentially given that we move, more or less in line with the world around us, chance-based and misleadingly chaotic at first glance as Cunningham’s timely recognition revealed to the dance world. In The Large Glass Duchamp blended sexuality with transition and the movement of machinery in a combination of visceral and mechanical forms as to “metamorphos[e] painting into the living structures of the twentieth century.”8 Similarly, Cunningham metamorphosed ballet and modern dance as to express 1960s anti-hierarchical sentiments. In an attempt towards antivirtuosity, Cunningham sought to establish a relational rather than absolute equilibrium among his performers on stage. His aesthetics thus addressed reconfigurations of space-time as relative to the observer’s point of view which had previously been discovered by Albert Einstein. Such recent developments in physics matched the prevalent agnosticism of this generation of artists who believed that the relations between things were ultimately more important than Kantian hypotheses about the nature of things themselves. By the end of the Second World War many had come to accept that final truths could not be known. But interestingly enough, a veneration of eroticism prevailed, if only as a worldly mode of transgressing the self. As Duchamp expressed his concern on behalf of The Large Glass: Eroticism is a subject very dear to me, and I certainly applied this liking, this love to my Glass. In fact, I thought the only excuse for doing anything is to introduce eroti6 7 8

In: Harris 1997, 67. Compare Copeland 2004. Mink 2000, 41.

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Sörgel cism into life. Eroticism is close to life, closer than philosophy or anything like it; it’s an animal thing that has many facets and is pleasing to use, as you would use a tube 9 of paint, to inject in your own production, so to speak.

In the mask of the artwork eroticism appears as a shape-shifting force which may operate on different levels of abstraction. In its Dionysian disguise eroticism may thus speak to changing contemporary sensibilities. Admittedly, only the initiated will be able to access this deeper level of archaic myth, as the underlying myth of eroticism is only revealed to the connaisseur of Duchamp’s art. As art historian Arturo Schwarz has pointed out with reference to the notion of mysticism in Duchamp’s work: “Like all myths, this one too involves the use of an allegoric and a symbolic language in which puns and metaphors disguise the real content, accessible only to the initiate.”10 Similarly, I would like to suggest that Cunningham’s technique initiates his dancers into equally disguised forms of displaced erotic pleasure by means of rigorous training and discipline. Through daily practice Cunningham dancers become experts of an ongoing exploration of movement potential in their levelling of energy. Merce Cunningham’s focus on technique—as that of many other choreographers in fact—is thus based on the dancer’s intimate awareness of embodied modes of knowledge as the base for creative expression and artistic freedom. In “The Function of a Technique for Dance” (1951) Cunningham explained how human movement is hardly a natural process per se, but an increasingly conscious effort to undertake. Hence, the dancer’s art process “can take actions of organization from the way nature functions,” but Cunningham also stresses that these are “essentially man invent[ed] process[es].”11 Therefore, only through rigorous training and technique can “the final synthesis” be achieved, which is “a natural result, natural in the sense that the mind, body and spirit function as one.”12 Cunningham’s point here is decidedly anti-balletic despite using certain techniques from that vocabulary. Thus his credo to anti-virtuosity proclaims that it is important: “Not to show off, but to show; not to exhibit, but to transmit the tenderness of the human spirit through the disciplined action of a human body.”13 Cunningham’s relational composition of the body in space-time counteracts absolutist regimes of space in the classical ballet tradition. The dancer is no longer conceived of as the center of the universe, so to speak, but an interdependent entity of the stage environment. Cunningham’s philosophical approach to dance as “time’s moving image” is furthermore directly drawn from the Platonic notion of eternity and the transcendental. As Cunningham argues with reference to the quote from Timaeus: “Time is the moving image of eternity.”14 Cunningham thereby reinforces a cosmological link to the spiritual dimension of dance which can also be found in Cunningham’s and Cage’s mutual exploration of Zen Buddhism at the time. To end with another quote from Cunningham’s treatise on dance technique, it is precisely “mind9 10 11 12 13 14

In: Schwarz 2000, vi. Schwarz 2000, 84. In: Harris 1997, 60. In: Harris 1997, 60. In: Harris 1997, 60. In: Harris 1997, 61.

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time” as revealed through the dancing body that stages a cosmological present-centeredness here: Technique is the disciplining of one’s energies through physical action in order to free that energy at any desired instance in its highest possible physical and spiritual form. For the disciplined energy of a dancer is the life-energy magnified and focused for whatever brief fraction of time it lasts. In other words, the technical equipment of a 15 dancer is only a means, a way to the spirit.

Body-Space and Task-based Performance in Anna Halprin I thought with Merce and John it’s so odd to throw the dice or I-Ching to make a decision—why torture it? All you have to do is sit on my dance deck and feel nature […] I wanted whatever I did to be organic, not clever. 16 (Anna Halprin)

Whereas Cunningham’s quest was guided by the Zen-Buddhist contingency of the I-Ching, Ann Halprin found similar inspiration in the Californian natural environment outside on her dance deck. In comparison to Cunningham’s post-Graham “aesthetic of indifference” (Moira Roth), Halprin introduced a more overt contemporary primitivism as she “recast dance as a vital agent for community expression and social change.”17 Her path led from “investigations of the structural logic of movement, to task performances” and eventually “ritualized group encounters, in which she began experimenting with dance as a way of healing society.”18 Influenced by Gestalt therapy, Halprin investigated “imagistic language” through which she claimed that she was “receiving messages from an intelligence within the body, an intelligence deeper and more unpredictable than anything” conceived rationally.19 Halprin’s choreographies of psychokinesthetic visualization thus created a movement-based form of physical therapy to amend not only the alienated soul in 1960s America, but also as to fight cancer later on in her career. Her choreography ventured into the anthropological realm as to celebrate the continuum of the life/art process. As Janice Ross in her biography on Halprin describes: This method of working with dance seeks to access the life story of each person, and then use this life story as the ground for creating art. This is based upon the principle that as life experience deepens, personal art expression expands, and as art expres20 sion expands, life experiences deepen.

15 16 17 18 19 20

In: Harris 1997, 60. In: Ross 2007, 238. Ross 2007, 302. For “aesthetic of indifference” see Roth 1977, 46-53. Ross 2007, 302. In: Ross 2007, 305. Ross 2007, 318.

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In 1968/69, Anna Halprin choreographed Ten Myths as a series of participatory events in mutual creation with her audience-participants. Her intention was for her “[a]udiences [to] create their own spontaneous links between their psyches and an invented vocabulary of movement symbols.”21 These were performances in the style of contemporary “mini-rituals,” which blurred the line between real life and theatrical experience. Environments were varied for each event according to their theme and intention. For Maze, for example, she worked with a “12 foot high labyrinth suspended from a wire grid [which] was constructed from wrapping paper, newspaper and sheets of black, white and clear plastic.”22 Halprin combined these environments with “simple physical scores,” which she intended to be “self-generating.”23 Participants were thus challenged to alter the environment which they engaged with. In this case, for example, tasks were given in order to question the participants’ relationship to contemporary media representations of the Vietnam War and 1960s political upheaval so that they would create and become their own embodied environment. As Libby Worth and Helen Poynor have characterized the impact of this work: Halprin’s task in Myths was to create scores which gave individuals the freedom to respond in their own way to the stimulus offered, while providing a strong and flexible enough structure to facilitate the creative engagement of the whole group and to generate a sense of ownership. In her role as director Halprin responded to what was happening in the moment, modifying scores, introducing new ones or integrating suggestions from participants. Myths were in every sense ‘live’ events. The transformation from ‘performance’ to participatory event demanded an equivalent transformation in the role of the artist, from controlling artistic genius to creative facilitator 24 and collaborator.

Evidently, Halprin was particularly intrigued “to reengage the gestural vocabulary of everyday life as art and to cast the spectator as a more active participant.”25 By breaking away from cause-and-effect linear narratives, yet remaining close to everyday experience and repetitive structures, her audiences were integrated as much as disoriented by the new aesthetic which swept not only through new found theatrical spaces from garage to public park, but also influenced and acted against oppressive politics on the streets and in the fields of Vietnam. Halprin’s dance choreography and creative vision blended easily into the 1960s political activism, from which it of course also evolved and developed further, when “doing something” became the slogan of dance as much as of street politics. Mario Savio’s influential speech of 1964 had first called for bodies to be put on the line in order to demonstrate against the state by for example withdrawing from military service. Equally, Goffman’s 1956 Presentation of Self in Everyday Life had been just as enthusiastically received by dancers, performers and theatre practitioners. Although Martha Graham had 21 22 23 24 25

Ross 2007, 224. Worth/Poynor 2004, 21. Worth/Poynor 2004, 21. Worth/Poynor 2004, 22. Ross 2007, 161.

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staged primitivist rituals of the Western psyche earlier on in the century, Halprin’s concern for myth and ritual differed as she took a more contemporary approach: “Ann’s Ten Myths, in contrast, sought a new set of natural behavioral codes to replace cold war America’s emphasis on containment, blind obedience to the government, and a materialist, middle-class life.”26 In 1967 Grotowski’s teachings had just been published by the Tulane Drama Review and they also presented an aesthetics that reinvented myth for the contemporary moment. Similarly, Halprin experimented with audience participation as to break down conventional distancing strategies of the proscenium stage apparatus. The 1960s have thus generally been described as an aesthetic era of democratic “making rather than taking meaning” (Marjorie Perloff) which redefined spectatorship from merely visual towards a primarily touchoriented, experiential pleasure of actively taking part in performance.27 Audience attention was thus significantly shifted towards “information within and without oneself and one’s body, one’s world.”28 Modern dance teachings’ legacy to the 1960s was therefore a continued “quest for a moral and democratic ideal” to be expressed “via the dancing body.”29 From today’s perspective Halprin’s essentialist trust in the inner truth of experiencing movement and dancing as vehicle to ecstatically turn the inside out matched a similar desire in the Method Acting of the time, where presence and authenticity within a character were prevalent paradigms.30 Being a member of Halprin’s Dancers’ Workshop, her daughter Daria Halprin testifies to such astounding and yet somewhat naïve “wedding of emotions to actions while biasing the nonverbal” in her performance in Antonioni’s 1968 film Zabriskie Point.31 Striving for the communal experience, nude performances as Halprin’s Bath (1967) attempted to break down the social mask (Grotowski) as to arrive at a “non-matrixed” presence via “tasks [which] did not create a fictional illusion of character and […] existed in an actual not imaginary, time and place.”32 The ordinary and every day thus become gestic in a Brechtian approach of supra-naturalism as Ross describes: By focusing on what is there in a ritual practice, like sitting still on chairs at a table and manipulating utensils to eat, one can see what isn’t there, the invisible ‘rules’ behind these actions. Manipulating these rules can then become the basis for turning life ac33 tions into performance gestures.

In the context of the 1960s political upheavals, ritual is therefore rather broadly defined by the performing artists of the time, as Anna Halprin’s choreographies of those years testify. Space, time and audience are re-conceived in terms of their relative relatedness to each other as to find a universal if not

26 27 28 29 30 31 32 33

Ross 2007, 234. Perloff 1991. Ross 2007, 242. Ross 2007, 242. Ross 2007, 247. Ross 2007, 247. Ross 2007, 254. Ross 2007, 263.

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necessarily essentialist core of practical self-knowledge through the rhythmic, repetitive structuring of kinaesthetic experiencing in dance. To summarize some of the points I want to raise by comparing Halprin and Cunningham in the context of the political upheavals of 1968 then, is that they seem to share some of the philosophical claims about the body and its ecstatic capacity to connect to the spiritual in form of a mystic transformation of erotic energy towards levels of higher awareness of the body-mind continuum. Despite their stylistic differences in terms of dance vocabulary and choreography, both choreographers celebrate the body’s political potential by partaking in the 1960s counter-cultural revolution in their own original ways. They both seek movement vocabulary beyond classical ballet and Grahambased psychological modernism in order to “find ways of generating movement outside the body” as Yvonne Rainer has phrased it and of course further developed in her own dance practice.34 So if we were to reconsider the word “task,” it does not seem overly simplistic to ultimately reveal just another “ritual of human behavior,” i.e. the ready-made artwork. 1960s contemporary dance discourse thus pre-stages many of the cultural turns that we have been discussing in the academia over the past decades. Be it Bourdieu’s notion of habitus or Butler’s 1990s revelations on performativity, those theoretical paradigms have been with the practitioners as embodied forms of knowledge long before. Furthermore, 1960s American performance appears to be deeply imbedded in the tradition of American pragmatism as, for example, Richard Sennett’s recent book The Craftsman (2008) contextualizes. His analysis of craftsmanship observes how manual contact with objects in the working environment has oftentimes served as touch-based corrective to technological progress. Craftsmanship allows for a direct, physical relation to the world and the objects around us as opposed to an alienated use of technological instruments where any direct contact with the object or natural environment is avoided. He continues to explain how current human experience under the conditions of global capitalism tends to negotiate between homo ludens, animal laborens and homo faber. It appears that capitalist culture values work in the sense of labor most to the unhealthy extent that it is seen as an instrumentalist end in itself rather than to reassert its playful, ritualistic function as facilitator for contact and communal living.35 As Sennett points out, “codes of honor become concrete by choreographing movement and gesture within the physical containers of walls, military camps, and battlefields on one hand, and shrines, burial grounds, monasteries, and retreats on the other.”36 In a way, he continues to argue, the “craft of ritual [then] makes faith physical” and, hence, one finds the “philosophic issues embedded in everyday life.”37 Dance in the 1960s appears to have provided dancers with precisely such “physical faith” by allowing them to become craftsmen and women in their own right. Aesthetically this approach towards movement as ritualized practice was very much in line with Cunningham’s interest in technique or Halprin’s scoring process and development of task-based performances. As 34 35 36 37

Ross 2007, 149-150. Sennett 2008, 6. Sennett 2008, 12. Sennett 2008, 14.

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emancipated movers dancers of the time indulged precisely in the physical exercise of repeated everyday movement practices, which became meaningful in the relational encounter with their audience-participants opposite the stage, or in the natural environment. In this vein, dancers develop somatic skills that allow for a bodily connection to cosmological concepts of physical time and space as much as to the natural environment through their relational exploration of the world. Lastly, these encounters may be perceived as “erotic” in terms of what Levinas has described in Humanism of the Other—namely our moral obligation derived from our physical experiencing of pain and vulnerability. As Richard A. Cohen comments: One is moved to alleviate the pain of others because as an embodied being, the self enjoys the elements, is happy through them, and is thereby also able to appreciate 38 viscerally the pain of physical suffering, deprivation, disease, and aging in others.

Looking at dance practices that emerged in the context of 1968 therefore points to the grassroots political relevance of our bodily practices. Whether this concerns the street politics and their speech act manifestations of nonviolence or contemporary dance, embodied rituals of life appear to physically contest the media footage of dead bodies on the screen during the years of the Vietnam War.

Eroticism and the Ecstatic Body—The Legacy of 1968 Happiness in terms of jouissance is the antithesis of happiness as the satisfaction of consumer needs; it’s actually one of the main features of May ’68 and yet a lot of people criticized it for that, accusing it of unfortunate irrealism. The call was for the sacred, not for luxury of living […] 39 (Julia Kristeva)

Julia Kristeva and Catherine Clément in their search of defining a contemporary ‘sacred’ arrive at the conclusion that it appears as a mythologized corrective to rational thought, which puts us in touch with our innermost site of experiencing, the intuitive ‘gut feeling’ as a form of bodily resistance to the hegemony of mind-centred reasoning.40 The ‘sacred’ is thus experienced as a nothingness beyond the realm of moral encoding, i.e. a freedom to find meaning on one’s own terms, almost as a kind of therapeutic mysticism at the core of the meaning-making process. As Kristeva explains, “[i]t is not because ‘eternal life’ does not exist that life has no meaning. On the contrary, it is the experience of the ‘nothing’ that gives the meaning of life, the fight for the most ordinary life, its sudden piquancy.”41 Following Kristeva’s line of 38 39 40 41

Cohen 2006, xxxiii. Kristeva 2002, 37. Clément/Kristeva 2001. In: Clément/Kristeva 2001, 82.

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argument then, Eros—or its displaced figuration—appears as the embodiment of the Nietzschean life force, so to speak. In the wake of eroticism we may disperse some of our rhythmically informed energy to arrive at a danced ecstasy that not only incited rebellious students in the streets, but also revolutionized the dance world. Eroticism transferred into the pursuit of happiness for all remains however one of the unfulfilled promises of the 1960s countercultural revolt. In the course of the twentieth century, the body has been increasingly commodified by capitalist culture, probably culminating in the late 1990s with reverberations into the present, when compared to contemporary examples of dance theatre like Sasha Waltz’ Körper, the plays of Sarah Kane or Falk Richter and last but not least Pina Bausch’s recent self-ironic take on 1968 in Stűck 2008.42 However, in all of these works, the promise of spiritual liberation through kinaesthetic experience, bodily awareness and access to the meaning-making process as a sacred act of the community appears somewhat lacking. For a brief moment in time, the year 1968 praised the anthropology of homo ludens higher than that of animal laborens, yet such communal playfulness in search for an emancipatory discovery of sublime freedom appears not to have succeeded as a marketable value. Still, feminist critique and identity politics are two of the important legacies 1968 has left us with and contemporary dance and dance theatre artists range among the most upfront activists in constantly reminding us of eroticism’s marvellous potential.

Works Cited Clément, Christine/Julia Kristeva (2001): The Feminine and the Sacred. Basingstoke. Cohen, Richard A. (2006): Introduction: Humanism and Anti-Humanism— Levinas, Cassirer, and Heidegger. In: Cohen, Richard A. (Ed.): Humanism of the Other. Emmanuel Levinas. Chicago, vii-xliv. Gitlin, Todd (1993): The Sixties. Years of Hope, Days of Rage. New York. Harris, Melissa (Ed.) (1997): Merce Cunningham: Fifty Years. Chronicle and Commentary by David Vaughan. New York. Kristeva, Julia (2002): Revolt, She Said. New York. Livet, Anne (Ed.) (1978): Contemporary Dance. An Anthology of Lectures, Interviews and Essays with many of the most important Contemporary American Choreographers, Scholars and Critics. New York. Mink, Janis (2000): Marcel Duchamp 1887-1968. Art as Anti-Art. London. Perloff, Marjorie (1991): Radical Artifice. Writing Poetry in the Age of Media. Chicago. Ross, Janice (2007): Anna Halprin. Experience as Dance. Berkeley. Roth, Moira (1977): The Aesthetic of Indifference. In: Artforum 16:3, 46-53. Schwarz, Arturo (2000): The Complete Works of Marcel Duchamp. New York. Sennett, Richard (2008): The Craftsman. London.

42 Compare Weickmann 2008.

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Sontag, Susan et al. (1990): Dancers on a Plane. Cage, Cunningham, Johns. London. Worth, Libby/Helen Poynor (2004): Anna Halprin. Routledge Performance Practitioners. London.

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V. Nach-Bilder von 1968



Inszenierung des Terrors Die Darstellung der RAF in deutsch-französischer Vergleichsperspektive EMMANUEL BÉHAGUE „Es war nicht alles schlecht – Gnade für die 68er“: Mit diesen Worten gab die Titelseite des Spiegels vom 29. Oktober 2007 in ironisch-provokativer Manier den Grundton des Rückblicks auf 1968 wieder. Ein paar Monate zuvor, diesmal unmissverständlich humorlos und aus konservativer Überzeugung, warb der französische Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy unter anderem mit dem Schlagwort der „Liquidierung des Erbes von 1968“ um die Gunst der Wähler. Im Kontext forcierter wirtschaftspolitischer Realpolitik, des Abbaus sozialer Systeme und eines Generationenwechsels im politischen Personal scheint auf beiden Seiten des Rheins der Rückblick auf 1968 nach vierzig Jahren die Form einer Abrechnung anzunehmen. In diesem Kontext steht auch der Rückblick auf den Linksradikalismus der 70er Jahre, dessen Wurzeln in der emanzipatorischen, antiautoritären Bewegung von 1968 liegen und der insbesondere durch die Enttäuschung über das Nachlassen oder Verebben einer größeren Bewegung an Radikalität gewann. So erklärt der französische Soziologe Michel Wieviorka den Terrorismus durch seine These der „Inversion“: Der Terrorismus als Phänomen formiere sich als Abspaltung einer entstehenden oder im Gegenteil verebbenden sozialen Bewegung, bei der eine Gruppe sich immer mehr von den Erwartungen und Forderungen der sozialen Basis entferne. Im Falle des deutschen Terrorismus der 70er Jahre vollziehe sich, so Wieviorka, dieser Prozess umso schneller, als eine Institutionalisierung der sozialen Bewegung – hier der Protest von 1968 – stattgefunden habe.1 Die Geschichte der Roten Armee Fraktion gehört zu den Ereignissen der deutschen Vergangenheit, die in den letzten Jahren wieder Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurden. Nicht zuletzt die Berliner RAF-Ausstellung in den Kunst-Werken trug 2005 dazu bei, dass die Betrachtungen und Beurteilungen rund um die RAF ausgesprochen polemisch ausfielen. Es folgten kontroverse Debatten über die Frage der Freilassung der ehemaligen RAFTerroristen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar – ein Beweis auch dafür, dass das polemische Potential dieses Themas sich doch noch nicht, gewissermaßen wider Erwarten, in der Degradierung der RAF zur Marke – Schlagwort Prada Meinhof – erschöpft hatte. In diesem Kontext machte sich auch das Theater zum Spiegel der öffentlichen Diskussion, indem es sich ebenfalls dem Thema widmete. So veranstaltete das Staatstheater Stuttgart das Projekt endstation stammheim anläss1

Vgl. Wieviorka 1988, 97-98.

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lich des 40. Jubiläums des sogenannten Deutschen Herbstes, in dessen Rahmen unter anderem das Stück Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek in der Hamburger Inszenierung von Nicolas Stemann gezeigt wurde. Erstaunlicher aber ist vielleicht die Tatsache, dass sich etwa zeitgleich Michel Deutsch, ein französischer Dramatiker und Regisseur, dieser „deutschen Angelegenheit“ seinerseits mit Mensch oder Schwein. La décennie rouge annahm. So drängt sich die Möglichkeit geradezu auf, Ulrike Maria Stuart und La décennie rouge in vergleichender Analyse zu betrachten, zwei freilich sehr unterschiedliche Produktionen, die jedoch in einem ähnlichen kulturpolitischen Kontext des kritischen Blicks auf 1968 und die Zeit danach entstanden. Ausgehend von einem kurzen Grundriss beider Inszenierungen, der sowohl ihre Konvergenzen als auch ihre Divergenzen zur Geltung bringen soll, wird der Fokus auf ihre spezifischen ästhetischen Strategien der Entmythisierung gerichtet: Insbesondere die jeweilige Behandlung entscheidender Momente der RAF-Geschichte wird hierbei analysiert. Gegenstand der Hinterfragung wird schließlich das unterschiedliche, in beiden Fällen signifikante Verhältnis zwischen gesprochenem Text, dargestellter historischer Figur und Schauspielerkörper sein.

I. Das Stück La décennie rouge wurde im Théâtre Saint Gervais in Genf am 24. April 2007 uraufgeführt und war im Anschluss daran im Theater MC 93 von Bobigny bei Paris zu sehen. In der Spielzeit 2008/2009 tourte die Inszenierung durch Frankreich und war unter anderem im Théâtre National de la Colline in Paris zu Gast. Nicht zuletzt der Bekanntheitsgrad des Dramatikers und Regisseurs Michel Deutsch selbst erklärt diesen Erfolg. Seitdem er sich Anfang der 70er Jahre als Vertreter des sogenannten „Théâtre du Quotidien“ einen Namen gemacht hat, inszeniert er regelmäßig und schreibt eigene Texte, die von Regisseuren wie Georges Lavaudant oder Alain Françon uraufgeführt werden. Deutschs Ausgangspunkt bei dieser Arbeit über die RAF besteht in dem Versuch, ihre Geschichte im Kontext der Medialisierung der RAF zu erzählen: Es geht nicht darum, die RAF im Nachhinein zu idealisieren oder sie zu legitimieren, selbst wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes seither zum Mode- oder Ausstellungsobjekt geworden ist. Ein italienischer Modemacher hat sich doch tatsächlich nicht gescheut, eine Kollektion mit dem Schriftzug der RAF zu lancieren! […] Aber wenn man die Geschichte der Gruppe um Baader und Meinhof erzählt, kann man ihre Opfer nicht 2 außen vor lassen.

2

Siehe die Webseite des Théâtre Saint-Gervais unter www.saintgervais.ch/saint gervais/saisons/06/Mensch.html (letzter Zugriff: 29.8.2009): „Il n’est pas question d’idéaliser à posteriori ou de légitimer la RAF. Même si depuis elle est devenue objet d’exposition et de mode, au sens propre. Tel couturier italien n’hésitant pas à lancer une collection à l’enseigne du Groupe! […] Reste qu’en racontant l’histoire du Groupe Baader-Meinhof on ne fera pas l’économie de ses victimes.“ Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen ins Deutsche vom Verfasser.

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Bei dieser Erinnerungsarbeit gehe es darum, so Deutsch in einem Gespräch, „die eigene Geschichte zu verstehen“. „Ich kann nur feststellen“, fährt er fort, „dass die großen Medien uns ständig entweder daran hindern, eine Vergangenheit zu haben, oder sie uns eine vollkommen ‚disneylandisierte’ Vergangenheit erfinden.“3 Theater wird hier als Alternative zu anderen, dominanten Medien verstanden – als Waffe im Kampf gegen die anderswo stattfindende Produktion von RAF-Bildern oder Mythen – in Anlehnung an die Mythos-Definition Roland Barthes: Der Mythos ist eine enthistorisierte Aussage, die durch ihre scheinbare Selbstverständlichkeit und die Unmittelbarkeit ihrer Dekodierung gekennzeichnet wird.4 Der Ansatz dieser Arbeit kann durchaus als dokumentarisch bezeichnet werden. Im veröffentlichten Text des Stückes verweist der Autor Deutsch auf unterschiedliche Quellen, darunter insbesondere Gerd Koenens Buch Das rote Jahrzehnt, das dem Stück seinen Untertitel gibt und in seinem chronologischen Aufbau diesem gleicht. Die Verwendung solcher Quellen dient jedoch nicht dem Versuch, den Ursachen des linken Terrorismus in Deutschland nachzugehen. Geschichte zu erzählen heißt also nicht, Geschichte zu erklären. In diesem Sinne wird keine kausallogische Geschichtslektüre (re)konstruiert. Nichtsdestoweniger stellt Deutsch theatrale Bilder der Post-68er Zeit her und aus, die sich als Gegenstand kritischer Analysen anbieten. Im Unterschied zu Deutschs Projekt, bei dem Autor und Regisseur ein und dieselbe Person sind, ist mit Nicolas Stemanns Inszenierung ein Text von Elfriede Jelinek Gegenstand der Arbeit eines Regisseurs, der mit Das Werk (2003) und Babel (2005) bereits zwei Texte der Autorin inszeniert hat. Der Text dieses Stückes existiert allerdings nicht in veröffentlichter Form und wird nach Anweisungen der österreichischen Nobelpreisträgerin vom Verlag nur potentiellen Regisseuren zugänglich gemacht. Für den Zuschauer, der den Text nicht einsehen kann, ist damit die Verschränkung von Textvorlage und Regiearbeit nicht klar auseinander zu dividieren. Stemanns Regieansatz fällt aber, was seine vorherigen Inszenierungen bereits erwiesen, im szenischen Umgang mit den für Jelinek typischen „Sprachflächen“ eine Art KoAutorschaft zu. Nicht zuletzt das durch die Regie komplex ausgestellte Verhältnis zwischen gesprochenem Text und Schauspielerkörper zeigt sich dem jelinekschen Figurenkonzept verwandt. Während wiederum der Titel „zunächst nahe legt“, so Ortrud Gutjahr, „dass hier eine Figur der jüngsten Zeitgeschichte mit der historischen Figur der schottischen Königin, wie sie Friedrich Schiller in seinem Drama gestaltet hat, amalgamiert wird“5, so legt die Inszenierung das Gewicht auf den ersten Bestandteil des Amalgams. Die Anspielungen auf den schillerschen Stoff bleiben vor allem als Frage des Machtanspruchs zwischen den Frauen präsent und finden zum Beispiel sze3

4 5

„A travers mon théâtre, j'essaie de savoir d'où je viens, de comprendre mon histoire et donc de me comprendre moi-même, de me situer en tant que citoyen par rapport au monde […] Je ne peux que constater que les grands médias passent leur temps à nous empêcher d’avoir un passé, ou bien à nous inventer un passé totalement ‘disneylandisé ‘“ (Soleymat 2007). Vgl. Barthes 2002, 823-868. Gutjahr 2007, 32.

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nisch Ausdruck in einem Blockflötenduell zwischen den beiden Protagonistinnen in Barockkleidern. Vor dem Hintergrund dieser kurz skizzierten Kontexte und Inhalte beider Stücke drängt sich die Frage nach der Möglichkeit eines Vergleichs auf. Diese Frage kann aus folgenden Gründen positiv beantwortet werden: •





Wie Deutsch unternimmt Stemann eine Entmythisierung der RAF. Darüber hinaus nutzt er, in einer Art Umkehrschluss, diese Kritik auch zur Hinterfragung eines spezifischen Verhältnisses zur Politik, in dem politische Verantwortung und Engagement zunehmend diskreditiert scheinen. „Dass das Erkennen gewisser immanenter Widersprüche des linken Widerstandes schließlich zu Resignation und Nichtstun führt“ – so Stemann in einem Gespräch – „ist ein Skandal, gegen den man angehen muss.“6 Eine ähnliche Motivation lässt sich durchaus im Vorhaben von Michel Deutsch erkennen. Inhaltlich lässt sich eine vergleichbare Konzentration auf die inneren, bzw. zwischenmenschlichen Konflikte zwischen den drei wichtigsten RAF-Akteuren Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Andreas Baader feststellen, auch wenn diese Konflikte jeweils unterschiedlich polarisiert werden. Schließlich wird in beiden Produktionen konkret auf Schlüsselmomente der RAF-Geschichte verwiesen. Sie werden in La décennie rouge chronologisch geordnet, wobei diese Folge von Ereignissen das narrative Gerüst der Aufführung bildet. In der deutschen Produktion werden solche Verweise sporadisch vorgenommen; sie bilden somit Orientierungspunkte in dem Stück, bzw. der Inszenierung, zum Beispiel Ulrike Meinhofs „Sprung“ in die Leere bei der Befreiungsaktion von Andreas Baader am 14. Mai 1970 oder der Tod von Holger Meins infolge des Hungerstreiks.

In dieser Hinsicht kann das Verhältnis zwischen dargestellter Vergangenheit und Gegenwart der Inszenierung als Einstieg in den Vergleich beider Inszenierungen dienen. Dieses Verhältnis lässt sich bei Stemann zunächst als ein Hin-und-her von Bezügen zur RAF und zur Gegenwart betrachten. Mit den schon erwähnten Referenzen auf die RAF kollidieren hier Anspielungen, die sich in jeweils anderen zeitgeschichtlichen Kontexten verorten lassen. So wird zum Beispiel aus einer Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog im Hotel Adlon vom 26. April 1997 zitiert, dessen Ruf nach einem „Ruck durch Deutschland“ in den Politik- und Feuilletonseiten lange nachhallte. Auch auf die aktuelle „Kommerzialisierung“ der RAF wird anhand der fiktiven Vorschau auf den frei erfundenen Bernd Eichinger-Film Der Untergang 2 als eine pseudokünstlerische Bearbeitung des historischen Stoffes angespielt, bei der der bekannteste Chronist dieser Phase, Stefan Aust, als Drehbuchautor mitwirkt: Tatsächlich kam ein Film Der Baader-Meinhof-Komplex nach Austs gleichnamigem Buch tatsächlich im September 2008 in die Kinos. Dieses Pendeln zwischen den Zeiten wird außerdem in der Verdoppelung der Figuren auf der Bühne konkretisiert: Baader, Meinhof und Ensslin stehen als alte Menschen ihren drei jungen Pendants gegenüber. Damit verweist die physische Präsenz 6

Stemann 2007, 126.

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des alten Körpers – wenn auch auf Unterstützung von Gehstöcken angewiesen – auf die Historizität der RAF: „das beste Rezept“ – sagt Stemann selbst – „gegen die Mythisierung.“7 Die Inszenierung endet schließlich mit einer offenen Frage, die als Refrain eines Rocksongs wiederholt wird: „Ich weiß nicht, was passieren soll, bis endlich was passiert.“ Diese Sequenz, bei der die übrigen „Figuren“ um den musizierenden Schlagzeuger und Gitarristen sitzen oder herumirren, spielt sich auf der leeren, sich „ewig“ drehenden Bühne ab, womit eben kein Abschluss – der Inszenierung, der Geschichte – suggeriert wird. Dagegen nimmt die Inszenierung Deutschs die Form eines Rückblicks aus heutiger Perspektive an, dessen Fluchtpunkt die Protestbewegung des Jahres 1967 und Schlusspunkt die Kommentare des ehemaligen RAFMitglieds Peter Janssen im Jahre 2006 bilden. Deutsch stellt also auch eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her, allerdings in fast durchgängig chronologisch linearer Form. Eine einzige Unterbrechung im Kontinuum der realistisch dargestellten Ereignisse bildet ein imaginäres Gespräch zwischen Germania und Winnetou, das die Frage nach dem „deutschen Sonderweg“ in der Geschichte reflektieren soll. Während bei Stemann musikalische Zitate auf das Motiv der Selbstinszenierung verweisen, werden bei dem französischen Theatermacher fast ausschließlich Rocksongs aus der damaligen Zeit eingespielt, von Paint It Black und Street Fighting Man der Rolling Stones bis hin zu Led Zeppelins Whole Lotta Love. Der Zuschauer wird damit atmosphärisch in die dargestellte Zeit zurückversetzt, er assoziiert den politischen Gestus der Revolte mit dem zeitgleich stattfindenden popkulturellen Umbruch. Die Geschichte der RAF wird nacherzählt, von deren Wurzeln in den Ereignissen des Jahres 1967 und insbesondere im Tod von Benno Ohnesorg bis zum Deutschen Herbst. So schildert Michel Deutsch eine Kontinuität zwischen Protestbewegung und linkem Radikalismus, die die Form einer ständigen Radikalisierung annimmt und deren Motor die Steigerung der Wut seitens der RAF-Protagonisten über die ideologischen Mängel im Protest von 1968 ist. Diesen zwei unterschiedlichen Umgangsformen mit Zeit und Zeitebenen entsprechen zwei entgegengesetzte Konzepte des Bühnenraums. Auf der Bühne des Bühnenbildners von La décennie rouge, Jean-Marc Stehlé, wechseln sich unterschiedliche Räume ab, die auf konkrete Orte der RAFGeschichte oder fiktive Privaträume verweisen, vom Frankfurter Gerichtssaal nach den Brandanschlägen von 1968 über Wohnungen als geheime Treffpunkte, bis hin zu Zellen des Stammheimer Hochsicherheitstrakts. Wenn auch keine naturalistische Gestaltung avisiert wird, so ermöglichen Requisiten oder Bühnendetails doch eine eindeutige Identifizierung des Ortes. Ferner dienen Filmausschnitte hauptsächlich als Stütze der Darstellung: So werden Bilder von Massendemonstrationen um 1968 projiziert; später fungieren Bilder einer Raststätte als Kulisse für ein sich auf der Bühne abspielendes Treffen zwischen Ulrike Meinhof und dem RAF-Mitglied Karl-Heinz Ruhland. Fern von jedem illusionistischen Ansatz hat Stemanns Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt eine Art Showbühnenportal entworfen, das auf einer mit glänzender Silberfolie bedeckten Drehbühne steht. Auf einer Seite ist das Portal von einer Treppe flankiert, womit es an die Bühne eines Variété7

Stemann 2007, 137.

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Theaters erinnert. Mit Hilfe der Drehbühne können beide Seiten dieses Rahmens gezeigt und benutzt werden. Ein solcher Rahmen kann als klarer Hinweis auf die Medialisierung und Stilisierung der RAF gelesen werden. Unterschiedliche Momente der Inszenierung betonen diese Dimension. So dreht sich zum Beispiel die Bühne zur Titelmusik des James Bond Films You Only Live Twice, während junge und alt gewordene RAF-Anführer unterschiedliche Kampfposen ausprobieren und eine Art heroisches Gruppentableau zwischen Filmplakat und Kabarett-Choreographie bilden. Als Showkulisse macht das Bühnenkonzept also klar, dass es hier in erster Linie um RAF-Bilder geht. Die Drehbühne ermöglicht es nämlich, Vorder- und Rückseite des Geschehens zu zeigen. Der theatralen Darstellung wird somit die Tiefe geraubt, sie wird in eine Art Zweidimensionalität gezwungen, die der Zweidimensionalität des Bildes, der Projektion entspricht. Wie bereits erwähnt ist aber auch bei Stemann der grundsätzliche Bezugspunkt die reale Geschichte der RAF. Wie bei Deutsch ist auch hier das historische Material in Form von Bildern, Text und Parolen präsent.

II. Einige Momente des Werde- oder Sterbegangs der RAF sind von starker symbolischer Kraft. Es muss daran erinnert werden, dass diese Kraft sowohl auf die damalige und heutige Medialisierung als auch auf die jeweiligen Interpretationen der verschiedenen Vorfälle und Ereignisse in den Diskursen der Protagonisten selbst zurückzuführen ist. Ein Beispiel dafür sieht Wolfgang Kraushaar im Mythos der Isolationsfolter.8 Ein erster Punkt in der Vergleichsperspektive wäre der fundamentale Unterschied zwischen einem Theater der Verkörperung im Sinne illusionistischer Spielformen bei Michel Deutsch und einem Spiel mit den Rollen-, bzw. Geschichtsbildern bei Nicolas Stemann. Bei dem französischen Theatermacher betreten die historischen Figuren Baader, Meinhof, Ensslin oder Mahler, gespielt von jungen Schauspielern, die Bühne. Auf der anderen Seite werden in der Inszenierung von Stemann die historischen Figuren durch den Auftritt ihrer in die Jahre gekommenen Alter Egos verdoppelt. Als Mitspielende und Kommentatoren des Bühnengeschehens zugleich agieren außerdem drei Schauspieler, die keiner fixierten Rolle entsprechen. Unter diesen Figuren zirkuliert der Text von Elfriede Jelinek, der nur zum Teil einer (pseudo-)historischen Figur zugeordnet werden kann. Erst vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Spielkonzepte kann nun in den beiden Arbeiten ein unterschiedlicher Umgang mit historischen RAF-Ereignissen dargelegt werden. Als Beispiel soll hier der schon erwähnte Sprung von Ulrike Meinhof herangezogen werden. Gemeint ist die Befreiung Andreas Baaders am 14. Mai 1970, die bekanntlich als Geburtsstunde der RAF gilt. Bei dieser Aktion sprang Ulrike Meinhof aus dem Fenster der Bibliothek des Berliner Instituts für Soziale Fragen, die der inhaftierte Baader 8

Dieser sei, so Kraushaar, „mehr als Hysterie und Übertreibung, er war ein RAF-Propagandainstrument zum ‚Aufbau einer legalen Sympathisantengruppe’“ (Kraushaar 2006a, 1194).

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für Recherchen nutzen durfte, ein Sprung, mit dem, so Stefan Aust, „Meinhof ihre journalistische Karriere beendete und in den Untergrund ging.“9 Die jeweilige Handhabung dieses Motivs in den Inszenierungen ist aufschlussreich. Bei Deutsch wird das Geschehen nicht dargestellt, es wird sozusagen nicht „nachgesprungen“, so wie sonst „nacherzählt“ wird, sondern es wird über die Aktion detailliert berichtet. Mit diesem Bericht und dem nachfolgenden Kommentar von Meinhof verweist der Autor und Regisseur klar auf die historische Bedeutung der Aktion. Er verschiebt jedoch gleichzeitig den Fokus, indem er in der vorherigen Szene durch eine Erzählerin explizit ein anderes Vorkommnis als die Geburtsstunde der RAF deutet, nämlich das Zusammentreffen zwischen den Mitgliedern der Bewegung 2. Juni und den Brandstiftern von Frankfurt, also Baader und Ensslin. Diese Verschiebung kann hier als Mittel einer Entmythisierung betrachtet werden: Ein performativer, metaphorisch signifikanter Akt rückt in den Hintergrund, und damit auch seine symbolische Bedeutung, zugunsten einer rationell getroffenen Entscheidung, d.h. des Ergebnisses einer politischen Verhandlung. Anders sieht es bei Stemann aus. Vom historischen Kontext abgekoppelt, wird der Sprung nicht unmittelbar erklärt oder motiviert. Er wird als körperliche Bewegung vorgeführt und wiederholt, zunächst von Ulrike Meinhof (Susanne Wolff), dann von allen Schauspielern, die in Richtung Bühnenhintergrund rennen und sich vom Podest scheinbar ins Leere stürzen. Der Sprung wird von den Akteuren mit einem kurzen Satz mehrmals angekündigt: „Jetzt springe ich!“ Durch diesen doppelten Zug der Wiederholung und der verbalen Antizipation entleert sich der Akt seiner symbolischen Dimension, er wird banalisiert. Außerdem zeigt die Drehbühne später auch die Rückseite des Podestes, das „Nichts“, wie es zuerst schien, erweist sich konkret als eine große Matte, auf der die Schauspieler landen: Der Sprung wird also als Selbstinszenierung markiert. Ähnliches ließe sich zum Beispiel von der Darstellung von Schießtrainings- und Kampfposen sagen. Bei Deutsch schießen die „Terroristenlehrlinge“ tatsächlich auf Zielscheiben und der Umgang mit „realen“ Waffen findet in konspirativer Manier auf der Bühne statt. Bei Stemann dagegen wird die Benutzung von Waffen zu einer Reihe von Posen, bei denen Schüsse und Pistolen mit Handbewegung „simuliert“ werden. Solche Posen, inklusive des Kriechens auf dem Boden in Anspielung auf das Training in Jordanien in einem Camp der Volksfront für die Befreiung Palästinas, fügen sich zu einer Choreographie vor dem Glitzervorhang, während Gudrun Ensslin (Judith Rosmair) in einem Lied gesteht, „sie könne schönen Kleidern niemals widerstehen“ – eine ironische Anspielung auf ihre Verhaftung während eines Kleiderkaufs in einer Boutique. Während Deutsch sich darauf beschränkt, das Ereignis gestisch und verbal durch theatrale Verkörperung zu dokumentieren, unterstreicht Stemann die Selbstinszenierungsstrategien der RAF, die Wolfgang Kraushaar als wegweisend für den Entstehungsprozess des RAF-Mythos betrachtet.10 Dieser spielerische Umgang mit dem RAF-Geschichtsmaterial bei Stemann lässt sich auch am Beispiel der Zitate aus dem RAF-Sprachgebrauch darstellen. Zur Mythisierung der RAF tragen in starkem Maße bekannte 9 Aust 1989, 100. 10 Kraushaar 2006a, 1189.

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Sprüche bei, die immer wieder zitiert werden und somit Teil des Mythos geworden sind. Beide Inszenierungen weisen Fragmente des „RAF-Textes“ auf: vom bekannten „Schwein oder Mensch“ über „Holger, der Kampf geht weiter“ bis hin zu Ulrike Meinhofs „Und natürlich darf geschossen werden“ aus ihrem Spiegel-Beitrag vom 15. Juni 1970. Zwischen zwei Strategien der Entmythisierung kann hier unterschieden werden, die man unter den Schlagwörtern der „Rekontextualisierung“, bzw. der „Neukontextualisierung“ zusammenfassen kann. Einerseits geht es darum, das Zitat zu rekontextualisieren: Wenn der Text sich sozusagen verselbstständigt hat, so wird seine Historizität betont, indem er in einer Art Umkehrbewegung einem bestimmten Subjekt, bzw. einem bestimmten Körper zugeordnet wird. Damit wird die nach Barthes für den Mythos typische Tendenz zur Enthistorisierung konterkariert. Andererseits besteht eine andere Form der Entmythisierung in der entgegensetzten Strategie, das überlieferte Zitatmaterial neu zu kontextualisieren, eine Strategie, die den späten Texten von Elfriede Jelinek allgemein zugrunde liegt. Indem das Zitat mit anderem Zitatmaterial konfrontiert oder außerhalb des spezifischen Bezugsrahmens gesetzt wird, wird es zum Spielmaterial degradiert. Sein mythischer Charakter wird somit entlarvt und zugleich unterminiert, während neue Sinndimensionen zwischen zum Teil ideologisch fremden Zitatmaterialien eröffnet werden, so die schon erwähnte Annährung zwischen einem RAFSprachduktus und Roman Herzogs „Ruck durch Deutschland“-Rhetorik. Michel Deutsch entscheidet sich für die erste Lösung. Der Text wird seinem Produzenten sozusagen „zurückgeordnet“, er wird im Drama und auf der Bühne zur Figurenrede. Damit soll ihm sein historischer Charakter zurückgegeben werden, so dass die zur Devise funktionalisierte Aussage als Ausdruck einer im Geschichtsverlauf stehenden Subjektivität zu deuten ist. In diesem Sinn werden bekannte RAF-Zitate auf die jeweiligen Figuren verteilt, zum Beispiel die Anschuldigung Gudrun Ensslins gegen Ulrike Meinhof, sie sei „ein Messer im Rücken der RAF“, die hier zu einer fiktiven Replik der Pastoren-Tochter wird. Ein radikales, oft urkomisches Neukontextualisieren des RAF-Zitatmaterials lässt sich dagegen bei Stemann bzw. Jelinek beobachten. So wird zum Beispiel der von militanten RAF-Sympathisanten benutzte Slogan „Holger, der Kampf geht weiter“ Bestandteil einer Musiknummer. Gudrun Ensslin (Judith Rosmair) erinnert sich an die Toten der RAF und deren Opfer, und wird dabei von einem müden Klavierspieler begleitet. Dessen Auftreten in Unterwäsche ist eine deutliche Anspielung auf das berühmte Pressefoto von der Verhaftung Holger Meins. Wiederholt unterbricht die Schauspielerin ihr Lied, um den Klavierspieler mit eben jenem Spruch aufzumuntern, doch weiter zu spielen – wenn möglich etwas Fröhlicheres. In Anspielung diesmal auf den Hungerstreik von Meins wird dieser mehrmals gefragt, ob er Hunger oder „Durscht“ habe. Das Lied endet in dem von den beiden „Figuren“ Ensslin und Meins gesungenen Motto „Schwein oder Mensch“, das hier als Refrain einer Schnulze persifliert wird. In dieser Szene kommt das Zitatverfahren bei Stemann/Jelinek klar zum Ausdruck. Hier werden symbolträchtige Textelemente in einen neuen Kontext gestellt. Gerade deren Bekanntheitsgrad – das gilt zumindest für ein Gutteil des deutschen Publikums – macht die unmittelbare Wiedererkennung möglich, so dass reale Geschichte und Bühnenrealität grotesk aufeinander prallen. Dabei wird eine unmissverständ244

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liche Distanz geschaffen zur überhöhten und radikalisierten dichotomischen Weltauffassung („Schwein oder Mensch“) oder, durch die Anspielung auf das Foto, zur persönlichen und medialen Opferdarstellung.

III. Dass die Szene sich jedoch nicht in dieser komischen Distanzierung erschöpft, zeigt ihr Abschluss. Tatsächlich wird der erwähnte Schlussrefrain dadurch unterbrochen, dass zunächst ein anwesender mitsingender Polizist und dann der Klavierspieler Holger Meins wie tot zu Boden fallen. So nimmt der Bezug auf die RAF-Geschichte die Form eines unerwarteten Einbruchs der unbeschönigten Realität an – jener der Ereignisse und ihrer Konsequenzen, konkret der des Todes. Dieses Hervorbrechen einer unleugbar unkomischen Realität macht eine Trennung zwischen Körper, Figur und Text möglich. Im Ansatz von Michel Deutsch lässt sich am Verhältnis zwischen Text und Figur ein etwas problematischer Aspekt erkennen. Der Regisseur ist tatsächlich bemüht, ein dokumentiertes und zugleich kritisches Bild der RAF zu entwerfen; dabei rekurriert er aber auf Kategorien des Dramatischen wie Figur, dramatischen Raum und lineare Handlung. Dies führt unter anderem dazu, dass die RAF-Rhetorik über die ganze Inszenierung hindurch von den Figuren getragen wird. Der von den Schauspielern in der Rolle der historischen Protagonisten gesprochene Text ist fast ausschließlich ein „historischer“ und ideologisch deutlich markierter Text: Hier geht es nicht nur um bekannte Parolen, sondern um die Mimesis einer bestimmten Rhetorik. Diese so versuchte Verkörperung des RAF-Textes lässt sich durch den dokumentarischaufklärerischen Ansatz des französischen Autors erklären, der darin zu bestehen scheint, weder die gruppeninternen Konflikte, noch die Paradoxien und Widersprüche in Theorie und Praxis außer Acht zu lassen. Ein erstes Beispiel ist die Frage nach den antizionistischen Anklängen und Inhalten im ideologischen Denken und Handeln der RAF.11 Diese Frage taucht bei Deutsch zwar in einer Szene auf, eine klare Position dazu wird aber nicht intendiert. In Form eines Dialogs zwischen Horst Mahler, Andreas Baader und Gudrun Ensslin wird auf diese Problematik im RAF-Emanzipations- und Befreiungsdiskurs hingewiesen: Einerseits ist das Verschweigen von Schuld einer der Faktoren des Hasses auf die Väter, der die Generation von 1968 und die RAF charakterisiert, andererseits führt die laut beschworene Solidarität mit den Palästinensern dazu, Israel als neuer faschistischer Macht den Krieg zu erklären. Auch das Verhältnis zwischen der RAF und der Volksfront für die Befreiung Palästinas wird hier problematisiert. Die mythische Vorstellung einer internationalen Solidarität zwischen den Befreiungsbewegungen, so wie sie von der RAF propagiert wurde, unterläuft Michel Deutsch – durchaus auf den komischen Effekt setzend – mit einer Replik Baaders, der abfällig bemerkt: 11 Siehe dazu u.a. Wolfgang Kraushaar: „Antizionismus als Trojanisches Pferd. Zur antisemitischen Dimension in den Kooperationen von Tupamaros West-Berlin, RAF und RZ mit den Palästinensern“ (Kraushaar 2006b).

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Béhague Diese Palästinenserärsche haben ja keine Ahnung von der Bedeutung der sexuellen Befreiung. [...] Was mich angeht werde ich bestimmt nicht unterm Stacheldraht durch den Schlamm robben. Das entspricht nicht den objektiven Bedingungen der Stadtgue12 rilla in Deutschland.

Nach einem ähnlichen Modell dekonstruiert das Stück die Vorstellung, die RAF sei der mögliche Denk- und Handlungsrahmen für einen Einheitskampf der Intellektuellen und des Proletariats in der Bundesrepublik. In einem fiktiven Dialog zwischen der ehemaligen konkret-Kolumnistin Meinhof und dem aus dem Proletariat stammenden Terroristen Karl-Heinz Ruhland streitet letzterer die Möglichkeit einer gemeinsamen politischen Aktion ab. Solche Beispiele zeugen deutlich von der Methode des französischen Autor-Regisseurs: Jede Szene thematisiert einen bestimmten Problempunkt in der Geschichte der RAF. Dabei werden in La décennie rouge – und damit soll die Frage nach dem Verhältnis von gesprochenem Text und Figur wieder aufgegriffen werden – solche Widersprüche immer unmittelbar verbalisiert. Sowohl Schauspieler als auch Figuren fungieren hier nur noch als Träger von unterschiedlichen Diskursen über die und innerhalb der RAF. Es vollzieht sich also in der Beziehung zwischen Text, Figur und Schauspieler genau das Gegenteil dessen, was Deutsch auf der inhaltlichen Ebene, wo er um eine komplexe Sicht auf die historischen Ereignisse bemüht ist, anstrebt. Während einerseits Widersprüche thematisiert werden, werden andererseits Figuren und Spielweisen eindimensional konzipiert, und zwar in Form einer doppelten Indienstnahme: Erstens wird die fiktive Figur in den Dienst der intendierten dramatischen RAF-Dokumentation gestellt. Indem sich die Figurenrede fast gänzlich mit dem rhetorischen Duktus der RAF deckt – und dies zum Zweck der verbalen Vermittlung einer historischen Dokumentation, sowie des Entwurfs eines entmythisierten Bildes der RAF –, wird die Figur praktisch instrumentalisiert. Zweitens – diesmal auf der Ebene des Bühnengeschehens – agiert der Schauspieler im Rahmen der so konzipierten Figur. Mit Ausnahme eines kurzen Tanzes zur Musik von Nina Hagen dient der Schauspielerkörper ausschließlich der Vermittlung eines ihm „fremden“ Textes, ist also Sprachrohr. Nicht nur Momente des Aus-der-Rolle-Fallens fehlen hier, sondern auch Unterbrechungen in der Imitation des rhetorischen Diskurses, bzw. der Vermittlung in den berichtenden Passagen, von Informationen und Details über die RAF. Der Aktionsraum des Schauspielerkörpers ist somit auf eine vernehmlich informative Funktion im Rahmen der Konstruktion eines möglichst exakten Bildes der RAF eingeschränkt. So wie sich die RAF-Akteure auch physisch normativen Disziplinierungsmaßnahmen unterwarfen, sind diese in ihren Diskursen präsent. In Bezug auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung sprach Michel Foucault in Surveiller et punir von der durch Gefängnisapparate möglich gemachten Verbreitung einer normativen Macht, deren Vertreter in der Form des Lehrers, des Arztes, des Sozialarbeiters usw. nicht nur Fähigkeiten und Leistungen, sondern auch Körper und Gesten einer Uni12 Deutsch 2007, 55: „Ces enculés de palestiniens n’ont aucune notion de ce que signifie la libération sexuelle […]. Quant à moi, il n’est pas question que je rampe dans la boue sous des rangées de fil de fer. Ce ne sont pas les conditions objectives de la guérilla urbaine en Allemagne.“

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versalität des Normativen unterwerfen.13 Überspitzt ließe sich sagen, dass im Spielkonzept von La décennie rouge jene Disziplinierung des Körpers metaphorisch zustande kommt, die in der Ideologiekritik als Form der Repression angeprangert wird. Auch wenn Texte und Spielelemente konkret auf die Figuren der RAF verweisen, so dominiert bei Stemann, im Unterschied zu Deutsch, eine Abkoppelung von Text und Schauspielerkörper. Ganz im Sinne der jelinekschen Sprachflächen, die an die Stelle von dramatischen Figuren treten,14 wird die Autonomie des Körpers gewahrt, indem er sich der Verkörperung eines Textes, bzw. einer Rolle verweigert. So wird schon am Anfang der Inszenierung der gleiche Text von drei Schauspielern wiederholt: „Wieso habt ihr euch billig kaufen lassen? Warum habe ich euch bloß einkaufen geschickt?“ In der Art eines Prologs – das Ganze geschieht noch vor dem roten Vorhang – werden die Entpersonifizierung des Textes und die Austauschbarkeit der Figuren zum Programm. Im weiteren Verlauf der Inszenierung fallen die Schauspieler regelmäßig aus ihren Rollen, beziehungsweise simulieren diese Bewegung zu einer quasi privaten Äußerungsform – ein ständiges Oszillieren kennzeichnet damit ihr Spiel. Höhepunkt dieser Trennung zwischen Text und Körper ist ein Moment der totalen physischen Verausgabung der drei oben erwähnten Schauspieler, die nicht historischen RAF-Figuren zuzuordnen sind. Während einer den Text Jelineks zum Publikum spricht, stellen die zwei anderen Pappkartonfiguren mit Porträtfotos als Gesichtern auf die Bühne, verteilen im Publikum Plastikfolien und Wasserbomben und laden schließlich die Zuschauer dazu ein, Vertreter des „verhassten Systems“ damit zu attackieren (bei der Hamburger Premiere lachten die Gesichter von Talkmaster Johannes B. Kerner, BILD-Chefredakteur Kai Diekmann und Deutsche Bank–Vorstandschef Josef Ackermann von der Bühne herunter, beim Gastspiel in Straßburg waren es der Staatspräsident Nicolas Sarkozy, die First Lady und Sängerin Carla Bruni und der französische Fußballnationaltrainer Raymond Domenech), um so, wie Stemann sagt, „kaputt zu machen, was sie kaputt macht“15. Auf die Attacke folgt eine Szene, die sich als Versuch einer radikalen Destruktion des Schauspielerkörpers als sinnstiftende Instanz deuten lässt. Nun stehen, liegen, springen, gleiten die Schauspieler nackt über die Bühne mit Schweinemasken als Adamsbekleidung, bespritzen sich mit Wasser und Farbe und „erklären“ ihr sinnloses Handeln mit dem Ziel, dass „endlich diese ganze Scheiße aufhört“. Albernheit wird hier auf die Spitze getrieben, und zwar als absoluter Gegenpol zur ideologischen Rigorosität und Disziplinierung des Körpers gemäß dem revolutionären Ethos. Diese Sequenz ist damit exponierendes Moment und zugleich überspitzte Ausdrucksform einer Tendenz, die für die In13 Siehe Michel Foucault 1975, 355-356. 14 Angesichts des inflationären Gebrauchs dieses Terminus in der Sekundärliteratur wird hier auf folgende Quelle verwiesen, in dem Jelinek selbst die Sprachfläche in direkten Zusammenhang mit der Auflösung der dramatischen Figur setzt: „Der Zuschauer soll auf der Bühne nicht sehen, was er hört. Die Disparatheit von Gebärde, Bild und Sprache öffnet die Möglichkeit des freien Assoziierens. Ich setze nicht Rollen gegeneinander, sondern Sprachflächen“ (Jelinek 1989, 153). 15 Stemann 2007, 138.

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szenierung charakteristisch ist. In der „schubweisen Transsubstantiation eines imaginären Helden“ sieht Wolfgang Kraushaar ein typisches Merkmal der Mythenproduktion bei der RAF.16 Durch die Abkoppelung von Text und Körper wird in Ulrike Maria Stuart diese Fusion von beiden konterkariert, die in dem Verschwinden des Körpers in seiner mythischen Transformation kulminiert. Die Bühne fungiert hier demnach als Mittel der metaphorischen Korrektur, als eine präzise Umkehrbewegung im Verhältnis zum Prozess der Mythisierung. Zusammenfassend soll schließlich auf die jeweilige Form dessen, was als Aufforderung zu einer kollektiven Erinnerungsarbeit gelesen werden kann, eingegangen werden. Für Michel Deutsch lag dem theatralen Projekt das Gefühl der Notwendigkeit zugrunde, die unter ihren Bildern vergrabene Geschichte der RAF aufzudecken. In diesem Sinne präsentiert er auf der Bühne eine chronologisch angelegte und dokumentierte Erzählung, die sich nicht als Erklärung versteht, jedoch gemäß dem Prinzip der Suche nach Vollständigkeit konzipiert wird. Das dabei entworfene Bild lässt sich durchaus als kritisches Bild bezeichnen, bleibt aber schließlich – und gerade deshalb – ein Bild, eine Konstruktion. Wie bereits dargelegt wurde, kommt dies in erster Linie folgendermaßen zum Ausdruck: Sowohl die dramatische Figur als auch ihr Träger auf der Bühne, also der Schauspielerkörper, werden dem Gebot einer Aufklärung untergeordnet. Stemanns Ansatz lässt sich wiederum als ein Spiel mit RAF-Bildern und -Bezügen beschreiben. Durchaus ironisch sind die Verweise auf eine Mythos-Produktion um die RAF, an der die Gruppe selbst Teil hatte. Auf die Selbstinszenierung wird unterschiedlich verwiesen, so dass die Auseinandersetzung mit kollektiver Geschichte hier nicht Befreiung der Geschichte von ihren Entstellungen bedeutet, sondern Reflexion über die Mythenproduktion selbst. Grundsätzlich falsch wäre die Annahme, Stemanns Arbeit beschränke sich auf dieses ironische Spiel. Aus den Bildern und relativierenden Zitatcollagen ragen Momente hervor, in denen die Realität den Mythos aufbricht. Dies ist zum Beispiel der Fall in der oben erwähnten Klavierszene zwischen Ensslin und Meins. In dieser Hinsicht bedarf insbesondere das schon beschriebene Schlussbild der Inszenierung eines letzten Kommentars. In seiner Offenheit – mit der sich drehenden Bühne, der Präsenz aller Schauspieler und der leitmotivischen Erwartung, es möge endlich etwas passieren – rückt es die Frage nach einer möglichen Utopie in die Gegenwart, ohne auf die Kritik der politischen Überhebung und Radikalität der RAF zu verzichten. Darin konkretisiert sich Stemanns Zielsetzung, die Utopiekritik an sich zu unterminieren und doch gleichzeitig über sie hinauszuführen, auf eine für den Zuschauer sinnlich erfahrbare Weise. Zum Schluss soll die Hypothese aufgeworfen werden, eine Form der Restauration des Kollektiven finde in diesem letzten musikalischen Tableau 16 „Zuerst verwandelt sich die Figur eines heroischen Guerillero, die in dem in Bolivien ermordeten Che Guevara ihr Ebenbild hat, in die eines tragischen KZ-Häftlings, dem der Leichnam des im Hungerstreik zu Tode gekommenen Holger Meins so zu gleichen scheint, und diese wird schließlich zum Opfer eines angeblich vom Staat verübten Mordanschlags. Der Held wird damit in seiner Körperlichkeit endgültig ausgelöscht und als Imago zugleich zur mythischen Absolutsetzung freigegeben“ (Kraushaar 2006a, 1197).

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statt, das alle Akteure auf der Bühne versammelt. Stemann dekonstruiert nicht nur mythische Produktionen, sondern er ersetzt sie: nicht durch einen neuen Mythos – im Sinne einer für die Gemeinschaft sinnstiftenden Erzählung –, sondern durch eine Frage, die das unbefriedigte kollektive Verlangen nach einer Überwindung des Bestehenden ausdrückt. Dieses Bedürfnis äußert sich hier in einer minimalen, quasi tautologischen Form: „Ich weiß nicht, was passieren soll, bis endlich was passiert“, so klingt es leitmotivisch zum Schluss aus. Jenseits ideologischer Handlungsmaxime oder an definierten Prinzipien orientierter Handlungsmotivationen markiert der Schlusssatz nur mehr das fundamentale Bedürfnis nach Veränderung. Diese Reduktion könnte man als konsequente Schlussfolgerung einer entmythisierten Welt- und Geschichtssicht verstehen, die sich zugleich einer absoluten Utopielosigkeit und der Negierung des Kollektiven verweigert. Damit rückt das im Tableau angedeutete Kollektiv in die Nähe der „Communauté désoeuvrée“ des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, jener „Gemeinschaft“, die sich nicht mehr in einem produzierten oder zu produzierenden Werk konstituiert – sei es religiöser, moralischer oder ideologischer Art.17 So würden beide Inszenierungen, La décennie rouge und Ulrike Maria Stuart schließlich doch noch in einem Punkt zusammenkommen: In beiden Fällen mündet eine besondere Form der aufklärerischen „Arbeit am Mythos“ im Versuch einer Reflexion des Kollektiven.

Literatur Aust, Stefan (1989): Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg. Barthes, Roland (2002): Le mythe, aujourd’hui. In: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Bd. 1. Hg. von Éric Marty. Paris, S. 823-868. Deutsch, Michel (2007): La décennie rouge. Paris. Foucault, Michel (1975): Surveiller et punir. Paris. Gutjahr, Ortrud (2007): Königinnenstreit. Eine Annäherung an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und ein Blick auf Friedrich Schillers Maria Stuart. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Würzburg, S.1938. Jelinek, Elfriede (1989): „Ich will kein Theater, ich will ein anderes Theater.“ Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Roeder, Anke (Hg.): Autorinnen: Herausforderung an das Theater. Frankfurt a.M., S. 141-160. Koenen, Gerd (2006): Das rote Jahrzehnt. Frankfurt a.M. Kraushaar, Wolfgang (2006a): Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie. In: Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg, S. 1186-1210. Kraushaar, Wolfgang (2006b): Antizionismus als Trojanisches Pferd. Zur antisemitischen Dimension in den Kooperationen von Tupamaros WestBerlin, RAF und RZ mit den Palästinensern. In: Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg, S. 676-695. Nancy, Jean-Luc (1986): La communauté désoeuvrée. Paris. 17 Vgl. Nancy 1986.

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Béhague

Soleymat, Manuel Piolat (2007): Entretien Michel Deutsch. In: La Terrasse 148 (online unter: www.journal-laterrasse.fr/entretien-michel-deutsch-1152-1.html; letzter Zugriff: 8. September 2009). Stemann, Nicolas (2007): Das Theater handelt in Notwehr, also ist alles erlaubt. Ein Interview. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Würzburg, S. 123-142. Wieviorka, Michel (1988): Sociétés et terrorisme. Paris.

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Die Haut als Bühne – Der Körper als Aktions-Raum Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Shakespeares Macbeth STEFAN TIGGES Wer kommt da voller Blut? Dem Zustand nach kann er vom letzten Stand der Rebellion Bericht erstatten. 1 (Duncan, 2. Szene, Macbeth) Der rausch der grausamkeit erlaubt das extrem verbotene und endet im töten. 2 (Hermann Nitsch) Kommen Sie, nehmen wir Macbeth. Wir kennen das Stück gut. Wie sieht der Schauplatz aus, an dem das Stück spielt? Wie bietet er sich dar, zuerst unserem geistigen, dann unserem leiblichen Auge? 3 (Edward Gordon Craig)

„Der Körper ist nicht Bild-von. Sondern er ist Ankunft in der Gegenwart [...]“, schreibt Jean-Luc Nancy in Corpus und fährt fort: „Im Denken über den Körper zwingt der Körper das Denken immer weiter, immer zu weit: zu weit, als dass es noch Denken ist, doch nie weit genug, dass es Körper wäre.“ Für Nancy steht damit fest, dass es keinen Sinn ergibt, „von Körper und Denken als voneinander losgelöst zu sprechen.“4 Seine Diagnose zum Verhältnis von Körper und Sprache klingt zunächst ebenso radikal, führt aber unmittelbar zum eigentlichen Thema: „Die Körper sind für die Sprachen undurchdringlich – und diese sind undurchdringlich für die Körper, da sie selbst Körper sind.“5

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William Shakespeare: Macbeth. Deutsch von Angela Schanelec. Programmheft Nr. 61 des Düsseldorfer Schauspielhauses. Spielzeit 2005/2006 (Premiere 29. September 2005). Zitiert nach Jahraus 2001, 261. Craig 1969, 28. Nancy 2003, 35 u. 57. Nancy 2003, 51.

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Tigges

Im Folgenden möchte ich exemplarisch an Jürgen Goschs und Johannes Schütz’ Macbeth-Inszenierung die diskursiven Körper-Dimensionen in drei Schritten reflektieren: Erstens im Hinblick auf den Corpus der Spielvorlage bzw. die spezifische Körperlichkeit der shakespearschen Sprache, die in Macbeth kulminiert und von den sieben männlichen Schauspielern – sie sind in der Düsseldorfer Textfassung, wie schon bei Shakespeare, nicht den 26 dramatis personae zugeordnet – anatomisch erlebt und szenisch realisiert wird.6 Dabei soll sich auch zeigen, dass mit dem extrem körperlichen Spiel der Darsteller keineswegs eine Textabwertung verbunden ist, sondern die körperliche Spielvorlage damit erst die notwendige Aufmerksamkeit erfährt und dass von dieser eine eigene Wirklichkeit ausgeht, die sich im Zusammenspiel aller Theatermittel frei entfalten kann.7 Jürgen Gosch versucht dementsprechend, nach eigener Aussage, den „Sauerstoff des Textes“ in den Schauspielern zur Wirkung zu bringen. Hier kündigt sich bereits sein ausgeprägtes Interesse am Zusammenspiel von Text, Körper und Sprache an, das in Form der ästhetischen Kategorien des Textkörpers und des Körpertextes genauer beleuchtet werden soll.8 Zweitens werden die Körper-Dimensionen im Kontext der Ästhetik des Wiener Aktionismus reflektiert, dessen Vertreter sich mit „aggressiven Gesten gegen eine illusionistische Bildrepräsentation“, d.h. grundsätzlich gegen jede Form der Repräsentationalität wenden, die „Zertrümmerung des Tafelbilds“ propagieren (Otto Muehl), den Körper als Schauplatz und als Aktionsraum für extreme „Körperanalyse“ (Günther Brus) begreifen, einen radikalen Zugang zur Wirklichkeit, d.h. Präsenzqualitäten anstreben und „Materialaktionen“ veranstalten: Muehl spricht von „aktionen mit materialien und körpern im raume“.9 Bei einem Vergleich der Macbeth-Aufführung mit den spezifischen künstlerischen Positionen, Strategien und Zielen der Wiener Aktionisten treten sowohl signifikante ästhetische Analogien als auch zentrale Unterschiede auf, die jeweils pointiert reflektiert werden, um durch wiederholte Bezugnahmen ein allzu homogenisiertes österreichisches Avantgarde-Muster zu vermeiden. Durch kurze Verweise auf das Rezeptionsverhalten soll deutlich werden, dass die Ästhetik der Aufführung durch wiederholte Kontextualisierungsversuche mit dem Wiener Aktionismus fahrlässig verkürzt bzw. (bewusst) missverstanden wurde, das deutsche Feuilleton zudem eine unproduktive „Ekeltheaterdebatte“ entfachte, die an das damalige Wiener Echo anschließt und – so die These – als Versuch einer (erneut) primär politisch motivierten Abrechnung mit avantgardistischen Kunstströmungen, d.h. in

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Vgl. Schabert 1992, 121. Es geht im Sinne Heiner Müllers also nicht darum zu untersuchen, welche „Mitteilungen der Text über die Wirklichkeit" leistet, sondern welche eigene Wirklichkeit von der Spielvorlage ausgeht. Hierbei spielt für Müller der körperliche Umgang mit dem Text eine elementare Rolle: „Erst wenn der Schauspieler den Text auch in den Füßen hat und er von da hochkommt, ist es Theater. Theater ist ein Dialog zwischen Körpern und nicht zwischen Köpfen" (Birkenhauer 2004, 12-13). Vgl. Peters 2006 (Gespräch mit Jürgen Gosch). Vgl. Klocker 2005, 9-18 und Gorsen 2005, 77-90.

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diesem Fall mit dem sogenannten Regietheater seit den sechziger und siebziger Jahren zu lesen ist. Darauf aufbauend soll drittens im letzten Schritt gezeigt werden, dass die Macbeth-Aufführung – wie andere avancierte zeitgenössische Aufführungsästhetiken – mit der ästhetischen Kategorie des (interpretierenden) Regietheaters nicht mehr angemessen zu beschreiben ist, da diese sich weder aktualisierend gegen den Text stellt, noch das Drama übersetzend dekonstruiert, sondern die Spielvorlage kunstvoll szenisch realisiert wird. Damit trifft Theresia Birkenhauers Diagnose gerade hier zu: „Wenn Literatur ein InSzene-Setzen der Rede ist, dann sind dramatische Texte wie Inszenierungen Ergebnisse einer fortgesetzten Praxis des Schreibens und Lesens.“10 Zudem richten sich die Arbeiten von Jürgen Gosch und Johannes Schütz schon aus dem Grunde gegen den Begriff des Regietheaters, weil programmatisch zunehmend darauf verzichtet wird, den Proben eine fixe Konzeption voranzustellen, die dann als szenisch entwickelte Lesart dem Publikum im Verlauf der Aufführung zur Verifikation vorgestellt wird. Stattdessen streben die oftmals radikal offenen Arbeiten bewusst keine Premierenfassung an, in der Aufführungspraxis behalten sie konsequent ihren Probencharakter bei und lassen sich deshalb im Sinne Rita Thieles als nicht zur Ruhe kommende und das Publikum herausfordernde „kollektive reflexive Versuchsanordnungen“ bezeichnen – Macbeth stellt in diesem Kontext sicherlich eine ästhetisch extreme Entwicklungsstufe dar. Das erinnert an kollektiv geprägte avantgardistische Arbeitsformen und Performance-praktiken der sechziger und siebziger Jahre, in denen sich das zuvor zentrierte Regie-Monopol (erstmalig) zugunsten kollektiver Auftrittsformen bzw. der Regieausübung des gesamten Performer-Kollektivs auf und die „Ergebnisorientiertheit“ Schritt für Schritt abgebaut wird.11

10 Birkenhauer 2005, 127. Vgl. auch Birkenhauer 2006: Theresia Birkenhauer kommt hier am Beispiel der Woyzeck-Inszenierung von Michael Thalheimer (Salzburger Festspiele/Thalia Theater Hamburg, 2003) zu einem ähnlichen Befund. 11 Rita Thiele bezeichnet die Bühnen von Johannes Schütz als „kollektive Denk- und Imaginationsräume für Spieler und Zuschauer" bzw. als „optimale Laboratorien für eine Theaterarbeit, die nie die Illusion aufkommen lässt, sie bilde Leben ab". Thiele hebt vor allem die vom Bühnenraum ausgehenden Dramaturgiefunktionen (Lenkung von Wahrnehmungs- und Darstellungsfunktionen) hervor. Vgl. Thiele 2008. Zur speziellen Funktion und Bedeutung des Bühnenraumes sowie des prozessualen Zusammenarbeitens siehe auch das Gespräch mit den Schauspielern Constanze Becker, Jens Harzer und Ulrich Matthes über Onkel Wanja im Theater heute-Jahrbuch 2008. Die Schauspieler von Gosch/Schütz betonen wiederholt das von den Räumen ausgehende Selbstbewusstsein und das produktive Gefühl des „nie fertig Werdens".

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1. „So schlimm und schön sah ich noch keinen Tag.“12 Bühnentod und Leichenentsorgung Jürgen Gosch stellt in einem Interview während der Proben von Wie es euch gefällt fest, dass ihn gerade die körperliche Dimension an der Sprache Shakespeares besonders fasziniere.13 Dies gilt speziell für die blutige Tragödie Macbeth, in der die Sprache wie ein Fleisch gewordener Körper vielschichtig zu handeln beginnt und sich exzessiv verselbstständigt. Die freigesetzte bloße Einbildungskraft wird zum zentralen Schauplatz des Horrors, sie erscheint damit wichtiger als die Gewaltspirale der Mordhandlungen. Die Protagonisten und insbesondere Macbeth sprechen wiederholt von ihrem (verletzten) Körper, leiden an permanenter Unruhe, Zucken, Fieber und Wahn, projizieren andere (un-)tote Körper wie zum Beispiel Banquos Geist, womit der Eindruck entsteht, dass die Sprache selbst vor Blut trieft und das Bild einer aufklaffenden gewaltigen Fleisch-Wunde suggeriert wird, in der – so wie in den Hexenszenen am glühenden Kessel – selbst die (sprachlichen) Eingeweide zu brodeln beginnen. Für Harold Bloom bewegt sich der „Usurpator Macbeth“ in einer „konsistenten Blutphantasmagorie“ womit sich das „Blut als der eigentliche Gegenstand seiner Fantasie“ darstellt.14 Der blutige Kreislauf (Abb. 1) wird gerade dadurch immer wieder belebt, dass Macbeth weder, um Ruhe zu erlangen, zurückblicken, noch mit seinem Morden aufhören kann, da ihm der Rückweg verbaut und er damit gezwungen ist, so lange zu kämpfen bis „sie ihm das Fleisch von seinen Knochen hacken“.15 Jan Kott, dessen Macbeth-Lektüre dem dramaturgischen Grundriss der Inszenierung verwandt ist, hebt das Moment des Blutes hervor, von dem eine Macbeth-Aufführung unbedingt durchtränkt sein müsse: Die Geschichte in Macbeth ist zäh und klebrig wie Blut und Brei. [...] Das Blut ist nicht im übertragenen Sinn zu verstehen, es ist materiell, physisch vorhanden, fließt aus den Körpern der Ermordeten, klebt an Händen und Gesichtern, an Dolchen und

12 Macbeth, 3. Szene. Die der Übersetzung von Angela Schanelec zugrunde liegende Spielfassung verzichtet, im Gegensatz zum Original, auf eine Aktaufteilung und besteht aus insgesamt 26 Szenen, die in der Düsseldorfer Aufführung zumeist unmittelbar aufeinander folgen, womit entsprechend der Spiellogik der sich immer schneller und radikaler entfaltenden Gewaltspirale bzw. der spezifischen Zeitdramaturgie auf eine Pause verzichtet wird. 13 Vgl. Meyer-Arlt 2007 (Gespräch mit Jürgen Gosch). Die szenisch realisierte körperliche Dimension der shakespearschen Sprache, die auch Angela Schanelec als Übersetzerin interessiert, spielt ebenso in Was ihr wollt (Schauspielhaus Düsseldorf 2007) und im Sommernachtstraum (Deutsches Theater Berlin 2007) eine zentrale Rolle und böte sich für eine vergleichende Untersuchung an. 14 Bloom 2002. Eine gekürzte Fassung von Blooms Text findet sich auch im Programmheft des Düsseldorfer Schauspielhauses. 15 Vgl. Shakespeare 2005, 79. Zuvor äußert Macbeth: „Ich geh nicht mehr: Mir graut daran zu denken, was ich tat: Es noch mal zu sehen, das geht nicht" (31). Und danach: „[...] ich steck so tief im Blut, dass, sollte ich nicht weiter waten, der Rückweg ebenso ermüdend wäre" (55).

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Die Haut als Bühne Schwertern. [...] Im Macbeth sind Tod, Verbrechen und Mordtaten konkret. Auch die Geschichte ist hier greifbar und konkret. Sie ist Fleisch, raubt den Atem, sie ist das 16 Röcheln der Verendenden [...].

Abb. 1: William Shakespeare: Macbeth (Schauspielhaus Düsseldorf 2005), Regie: Jürgen Gosch; Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (v. l. n. r.: Devid Striesow, Jan Peter Kampwirth, Ernst Stötzner) Für die Aufführungspraxis stellt sich damit die Frage des Realismus-, Stilisierungs- und Abstraktionsgrades, das sinnlich höchst Schöne und zugleich hässlich Grauenvolle – in der Übersetzung von Angela Schanelec heißt es nüchtern „Schön ist schlimm und schlimm ist schön“ – in dynamische Körper(bild)räume zu übertragen und eine Form zu entwickeln, damit die KörperSprache der Darsteller nicht ästhetisch stillgelegt wird, bzw. die Sprache nicht zur körperlosen Kulisse erstarrt. Wie kommt es nun dazu, dass der blutüberströmte Hauptmann aus dem Anfangsbild, der König Duncan und seinem Gefolge über den „letzten Stand der Rebellion“ Bericht erstattet, nicht wie ein kostümierter und von der Maske großzügig bedachter Natural Born Killer-(Film-)Statist hilflos auf der Bühne erscheint und sich tragisch im Drama verirrt? Es gelingt Jürgen Gosch und Johannes Schütz bzw. dem SchauspielerKollektiv wiederholt, so die These, sich der Vorstellung Jean-Luc Nancys anzunähern, indem es die Spielvorlage äußerst sinnlich und konkret körperlich denkend am eigenen Leibe erfährt bzw. realisiert. So wird der Textkörper/Körpertext wirklich und tritt authentisch auf. Damit resultiert die Leibhaftigkeit der Sprache der Schauspieler (Maurice Merleau-Ponty) sowie ihre exzessive Körperpräsenz, die immer auch die Frage der Materialität ihrer Körper und die des gesamten Bühnenraumes anspricht, gerade aus dem 16 Vgl. Kott 2002, 92-105.

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Doppelstatus ihres Leibkörpers – Helmut Plessner unterscheidet bekanntermaßen zwischen Leibsein und Körperhaben – und verweist ebenso grundsätzlich auf den phänomenologischen Leibbegriff von Merleau-Ponty: „Der Leib, der wir sind, widersetzt sich der Tat der Eingemeindung in eine durchgängige Sinn-, Regel- oder Kausalsphäre. Der Leib ist mehr und anderes als ein verständliches oder erklärbares Etwas.“17 Das Macbeth-Ensemble wird durch seine schweren Körper, d.h. durch existentielle Körperlichkeit erfahrbar, was insbesondere in den Kampfszenen zum Ausdruck kommt, die selbst zu einer Zeit(raum)erfahrung werden, wie es z.B. im minutenlangen finalen Kampf zwischen Macduff und Macbeth deutlich wird. Das lässt auch an einen Gedanken Paul Valérys aus den Cahiers denken: „La pensée n’est sérieuse que par le corps. C’est l’apparition du corps qui lui donne son poids, sa force, ses conséquences et ses effets définitifs.“18

Abb. 2: v. l. n. r.: Ernst Stötzner, Thomas Wittmann Entsprechend transformieren die Darsteller, die wiederholt an ihre körperlichen Grenzen gehen, auch mit extremem körperlichem Einsatz den Bühnenraum, bis dieser am Ende der Aufführung zerlegt ist und sich dem Publikum ein einziges Bild der Verwüstung bietet (Abb. 2). In Analogie zu den Körpern entzieht sich dieses einer „Eingemeindung in eine durchgängige Sinn-, Regel- oder Kausalsphäre“. Vielmehr blickt es das Publikum auf einer körperlich-sinnlichen Ebene herausfordernd an: Die Mehrzahl der sich in einem grauen Kasten befindenden braunen Resopaltische und roten Plastikstühle liegt zertrümmert auf dem mit einem Schmutzfilm, d.h. mit

17 Zitiert nach Waldenfels 1999, 12. Waldenfels benutzt an dieser Stelle selbst den Begriff des Leibkörpers. 18 Zitiert nach Waldenfels 1999, 16.

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rutschiger „Pampe“ (Wasser, Kunstblut, Mousse au Chocolat, Mehl, Schweineleber) überzogenen Bühnenboden.19 Die Sprache erscheint in diesem Stadium längst nicht mehr von den Figuren eingekleidet bzw. beherrscht, sowenig wie die Schauspieler die Sprache eindeutig kontrollieren bzw. ihren Text „festlegen“. So zerbricht die dramatische Rahmung und das Drama tritt aus sich heraus. Die Sprache widersetzt sich radikal einer Sinn-Eingemeindung bzw. Sinn(be)setzung und tritt stattdessen im Zusammenspiel mit den Körpern und dem Raum programmatisch unbehandelt, ungeschützt und nackt auf, wodurch sich völlig neue Bildräume in der und durch die Sprache öffnen bzw. sich die Sprache mit und am Körper suchend durch den Raum bewegt.

Abb. 3: Ensemble

19 Bereits in einem der ersten Bilder war ein erstes (Vor-)Zeichen der Verwüstung gesetzt worden, indem eine vom Schnürboden herunterhängende Papierfahne von den Darstellern abgerissen wurde und sich die Stange mit den restlichen Papierfetzen bis zum Ende der Aufführung wie ein Gewaltgrad-Messer als eine Art kinetische Skulptur (Abb. 3) in extremer Verlangsamung im Bühnenraum drehte. In der Süddeutschen Zeitung bezeichnete der Kritiker Thomas Thieringer das zerfetzte Papiersegel treffend als einen „unerbittlichen Zeiger, der die Handlung durchmisst" (vgl. Thieringer 2005). Im Verlauf der Aufführung schlägt Ernst Stötzner in der Rolle des Macduff minutenlang auf die Möbel ein, bis diese auseinanderplatzen und von ihm akribisch weiter zerkleinert werden. Damit kommt es sowohl zu einer sinnbildlichen Auslöschung der zuvor mit den Möbeln markierten, wechselnden imaginierten Schauplätze als auch zu einer Destruktion der zeichenlosen, d.h. ausschließlich auf sich selbst verweisenden realen, d.h. kalten Bühnen(bild-)elemente, womit letztlich die Darsteller und das Publikum auf sich selbst zurückgeworfen werden und mit einem scheinbar (sinn-)entleerten Raum konfrontiert werden, in dem die Grenzen von Innen und Außen aufgehoben sind und der als Kunst-Raum erfahrbar wird.

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Diagnostiziert Oliver Jahraus bei den Wiener Aktionisten grundsätzlich eine „Intensivierung von Realität“, die auch dadurch entsteht, dass die Malvorgänge aufgewertet werden bzw. die „Sprachlichkeit des Textes“ herausgestellt wird, indem „der Text seiner Ausdrucksfunktion enthoben und lediglich als Aktionstext zu einem Sinnanteil der Aktion verwandelt wird“,20 so fällt auf, dass Gosch/Schütz ebenso die szenischen Prozesse, d.h. die theatralen Vorgänge und damit die Schauspieler selbst stark aufwerten. Dazu gehört insbesondere auch das Interesse an den (körper-)sprachlichen Dimensionen. Anstatt jedoch in der Macbeth-Aufführung ausschließlich Sinnverluste zu bilanzieren – in der Rezeption wurden wiederholt Textabwertungen und die Unmöglichkeit von Bedeutungszuschreibungen konstatiert –, sollte vielmehr die Aufmerksamkeit auf die neu entstandenen körper-sprachlichen Freiräume und auf die von ihnen ausgehenden aktiven situationsgebundenen Erlebnis- und Assoziationsspektren gelenkt werden.21 Anders formuliert: Jürgen Gosch und Johannes Schütz gelingt es mit ihrem Ensemble in Macbeth, das Theater aus seiner Dramenverkettung zu befreien und im Bühnenraum eine neue Wirklichkeitsform zu erzeugen, die eben auch die Sprache betrifft und die bereits Hermann Nitsch für sein Aktionstheater anstrebte: „das traditionelle theater trägt mit seinem durch literaturregeln verstellten drang zur wirklichkeit die latenz des aktionstheaters in sich, wo leben sich frei, intensiv orgiastisch entfalten kann.“22 Es tritt jedoch noch eine weitere ästhetische Parallele zu den Wiener Aktionisten auf, die in den Raum der Sprache hineinspielt und die Frage nach dem Umgang mit Symbolen stellt. Spricht sich Johannes Schütz programmatisch gegen „installierte Realitäten“ im Bühnenraum aus und meint damit aus der Außenwelt installierte Zeichen und Symbole, die lediglich die Welt nachbauen, bzw. intendiert Schütz eine Bühne, die „real“ und „kalt“ bleiben sowie nicht abbilden als auch nicht interpretieren soll, womit die Sprache bereits eindeutig aufgewertet wird, lehnt Otto Muehl einen an das Material gebundenen Symbolbegriff strikt ab und kritisiert dabei zugleich traditionelle Theaterformen: „[...] das theater arbeitet noch vielfach mit symbolen, die eine fabel illustrieren sollen. die materialaktion arbeitet mit symbolen, die selbst die geschichte sind, die aneinanderreihung und mischung von symbolen als für sich existierende wirklichkeiten.“23 Konkret auf die Aufführung bezogen bedeutet dies, dass das scheinbar aus den Körpern und der Sprache herausquellende Blut weder die Fabel illustriert noch durch die literarisch-theatrale Form verstellt wird und genauso wenig die Gefahr besteht, dass ein Symbolüberschuss die Präsenzqualität im Kunstraum radikal abbaut. 20 Jahraus 2001, 124. 21 Produktiver wäre es dementsprechend, die von Oliver Jahraus geleisteten folgenden Beobachtungen in den Theaterraum zu übersetzen und dabei die von der Funktion des Inhalts bzw. des Repräsentierten befreite Form zu untersuchen: „Die Rezeption wird vom Gemalten, vom fertigen Produkt abgelöst und an den Produktionsvorgang gebunden. Wirklichkeit wird im Malen nicht mehr abgebildet, sondern die Malaktion stellt selbst eine Wirklichkeit, eine reale, sich vollziehende Situation dar" (Jahraus 2001, 125). 22 Zitiert nach Jahraus 2001, 244. 23 Vgl. Gohr 2008 (Gespräch mit Johannes Schütz) und Muehl 1992, 279.

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Das Kunstblut rinnt in der Aufführung literweise- nicht als realistischer „Fake“ aus den Körpern, sondern zeichenhaft aus Flaschen, die sich die Darsteller selbst oder gegenseitig vor oder während ihrer Auftritte und Kampfszenen über die zumeist nackten Körper schütten oder damit ihre privat anmutenden Kleidungsstücke durchtränken, um jede Spielillusion im Keim zu ersticken.24 Gerade durch die konsequent gesetzte und kalkulierte Künstlichkeit – und dies verwundert insbesondere – erzielt die Aufführung einen beeindruckend hohen Authentizitätsgrad, der im Verlauf der Vorstellung zunehmend steigt. Das Blut wird zum Teil von den Schauspielern mit Wasser abgewaschen und mit Handtüchern abgerieben, kann aber auch wie eine zweite Haut auf den Körpern haften bleiben bzw. sie als Kostüm schützen, sogar Rollenwechsel miterleben und für die Darsteller und das Publikum transparent werden, indem es auf den Bühnenboden tropft oder auf der Haut sinnbildlich austrocknet und einen weißen/blinden Flecken erzeugt, bis es bei einem erneut eintretenden Bühnentod – der Darsteller kann dabei längst eine andere Figur spielerisch ergründen – wieder sichtbar und sinnlich erfahrbar wird, womit die Frage der Leichenentsorgung vorerst kunstvoll geklärt wäre.25 Andererseits entsteht im Verlauf der Aufführung, die gerade den Dialog zwischen den präsenten und absenten Figuren fokussiert und damit Shakespeare unmittelbar beim Wort nimmt, der Eindruck, dass der Leichenberg stetig anwächst, die Toten kunstvoll die zunehmend verwüstete Bühne bevölkern und sich im Sinne Heiner Müllers bereits in der Überzahl befinden.26 Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Darsteller nur selten den Bühnenraum verlassen bzw. das Geschehen aus der ersten Parkettreihe mit ihren Blicken und ihrer körperlichen Präsenz noch potenzieren.27 24 Das Überschütten der eigenen oder fremden Körper mit Kunstblut lässt auch eine ästhetische Analogie zu Hermann Nitschs rotfarbigen Schüttbildern zu, in denen das aktionistische Moment unterstrichen wird, der Körper zu einem Aktionsraum wird und sich im Sinne von Merleau-Ponty auch von einer „Situationsräumlichkeit des Körpers“ sprechen lässt, die vor dem Publikum diskursiv verhandelt wird. Vgl. MerleauPonty 1966, 125. 25 Ein gutes Beispiel bildet hier der als Geist bzw. als living sculpture auftretende Banquo, der seinen blutroten Körper mit Mehl beschüttet, das auf der nassen Haut kleben bleibt und ihn weiß einfärbt. Dass unmittelbar darauf die Zeichen doppelt codiert sein können, zeigt das Festbankett. Macbeth bewirtet seine an einem langen Tisch sitzenden Gäste, indem er den Tisch zunächst mit Mehl bestreut und anschließend mit Kunstblut bearbeitet. 26 Macbeth versucht seine ihn zunehmend quälenden Gedanken und Wahnvorstellungen auch dadurch zu bekämpfen, dass er eine körperliche Nähe zu den Toten sucht: „Da lieber mit den Toten sein, die wir für unsere Ruh’ zur Ruhe schickten, als auf der Folter der Gedanken liegen, endlos gepeinigt" (Shakespeare 2005, 46). 27 Die Totalpräsenz der (Un-)Toten erscheint gerade hier besonders schlüssig, da Macbeth feststellt, dass die „Toten einem heute aus Leichenschauhäusern und Gräbern entgegen kommen" würden. In der Übersetzung von Angela Schanelec heißt es weiter: „War man mit eingeschlagnem Schädel tot, und damit Schluss; doch jetzt, jetzt stehn sie auf, mit zwanzig tödlich tiefen Schädellöchern, und stoßen dich vom Stuhl. Das ist erstaunlich, mehr als der Mord an sich" (Shakespeare 2005, 53).

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Johannes Schütz bezeichnet als Ausstatter die Haut als ein „nichttextiles Kostüm“, erstrebt eine „Realpräsenz des unbekleideten Darstellers“ und stellt zurecht fest, dass „reale Nacktheit auf der Bühne immer noch Bestandteil des Katalogs der Hässlichkeiten und der Obszönitäten“ sei, was wiederholt in Rezensionen zu Gosch und Schütz-Arbeiten zum Ausdruck kommt.28 Im Falle der Inszenierung und in Bezug auf den Kostümbegriff von Schütz stellt sich jedoch die Frage, ob die mitspielende Haut der Schauspieler nicht auch eine elementare Bühnenbild- bzw. Bühnenraumkomponente bildet und von den Körpern der Darsteller ein extrem raumkonstituierendes Moment ausgeht, das den Raum als einen aktiven, dreidimensional agierenden, auffällig beweglichen und damit nicht zur Ruhe kommenden Mitspieler/ Reflexionspartner erscheinen lässt.29 Johannes Schütz, so die These, hinterfragt damit nicht nur die Funktion und ästhetische Bedeutung des Ausstattungsspektrums, sondern hebt hier in besonderem Maße die Grenzen von Kostüm und Bühnenbild/Bühnenraum auf. Damit trägt er entscheidend dazu bei, Diskurse der (Körper-)Materialität sowie der Spielästhetik spielerisch neu zu verhandeln. Zugleich geht hier von dem Bühnenraum, der die Sprache und die Körper neu vermisst und die Schauspieler aufwertet, eine zukunftsweisende Dramaturgie- und Regiefunktion aus, die speziell durch den Dialog mit der Bildenden Kunst eine ästhetische Reibungskraft erzeugt und das Drama/dramatische Theater wieder belebt und neu hinterfragt.30 Mit einem Zitat von Antonin Artaud, der radikal das fiktionale, mimetische und rationale Moment des Theaters attackiert, die „Wiederkehr des Körpers“ (Dietmar Kamper/Christoph Wulf) einfordert und den Körper zum anatomischen (selbstquälerischen) Erfahrungsraum erhebt, um endgültig 28 Vgl. Gohr 2008, 13 (Gespräch mit Johannes Schütz). 29 Auf einer anderen Ebene stellt sich im Kontext der von Johannes Schütz in Bewegung gesetzten Bühnenräume die Frage, inwieweit diese durch die Zusammenarbeit mit Reinhild Hoffmann geprägt sind, worauf mich auch Gabriele Brandstätter anlässlich einer Tagung in Amsterdam aufmerksam machte. Hier wäre genauer zu untersuchen, welche choreographischen Funktionen vom Bühnenraum ausgehen, wie dieser mit den Körpern zusammenspielt und diese neben der Sprache vergrößert. Nicht nur in dieser Hinsicht ließe sich an eine Vorstellung von Edward Gordon Craig anschließen, die er in Die Künstler des Theaters der Zukunft (1907) formuliert: „Wenn sie bei der Vorbereitung einer Inszenierung sich mit dem Bühnenbild beschäftigen, dann geben sie immer wieder ihren Gedanken schnell eine andere Wendung und betrachten sie Spiel, Bewegung und Stimme des Schauspielers. Entscheiden sie noch nichts, springen sie sofort weiter und gewinnen sie immer wieder einen anderen Blickpunkt für diese Einheit" (Craig 1969, 34). 30 Die Auszeichnung „Kostümbildner des Jahres“ (2006) für Macbeth erscheint in der Form adäquat, dass damit im Sinne von Johannes Schütz die Haut von den Kritikern als nichttextiles Kostüm begriffen wurde. Problematisch erscheint mir aber – wie aufgezeigt – dass hier die von den Körpern und dem Raum ausgehenden und zusammenspielenden Dramaturgie- und Regiefunktionen völlig unterbelichtet bleiben und nicht von der ästhetischen Kategorie des Bühnenbildes bzw. Bühnenraums zu trennen sind. 2007 wurde dieser Umstand, der grundsätzliche theaterpraktische sowie -theoretische Fragen aufwirft, korrigiert, indem Johannes Schütz auf der Prager Quadriennale die Goldmedaille für die Ausstattung für Macbeth erhielt.

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die Repräsentationsästhetik zu überwinden, sollen die ästhetischen Strategien der Wiener Aktionisten noch stärker ins Spiel gebracht werden: „Ich schlage daher ein Theater vor, in dem körperliche, gewaltsame Bilder die Sensibilität des Zuschauers, der im Theater wie in einem Wirbelsturm höherer Kräfte gefangen ist, zermalmen und hypnotisieren.“31

2. Körperwahrheiten als „Zerreißprobe“ Der mensch wird in der materialaktion wie ein ei 32 aufgeschlagen und zeigt den dotter.

Ein erneuter Blick auf die früheren Arbeiten des Wiener Aktionismus im Kontext der aktionistisch geprägten Macbeth-Aufführung überrascht wohl wenig und liegt zugleich im weiter anhaltenden Trend, zeitgenössische Kunst in „performativen Praktiken revolutionären Körperdenkens“33 der Avantgarden (Fluxus, Happening, Performance-Art, Body Art) zu spiegeln. Hier stellt sich jenseits aller Polemik die dringende Frage, inwieweit die Kunst- und Rezeptionspraxis sich heute wirklich vom Avantgarde-Erbe der 60er und 70er Jahre emanzipiert haben und möglicherweise drohen, sich im endlosen Referenztaumel zu verfangen, bzw. wie diese sich darauf einlassen, aus dem Referenzreigen auszubrechen, um einmal wieder „zeitgenössisch“ (ästhetisch) durchzuatmen. Liegt es an den aktuellen, sich fast permanent rückbesinnenden Kunstformen, denen eine nachhaltige Gegenwartspositionierung schwer fällt oder an der Rezeption, die nur ungern von ihren Folienblicken ablässt?34 Oder bedingt das eine das andere? Inwiefern erweisen sich die (Re-)Kontextualisierungsstrategien weiterhin als fruchtbar? Es erscheint mir an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass im Falle von Jürgen Gosch und Johannes Schütz – und dies belegen auch weitere aktuelle Arbeiten – ein über die aktuelle Aufführungspraxis hinausgehendes Interesse besteht, neben der eigenen Arbeit auch die klassischen sowie modernen (Theater-)Avantgarden als auch historische und aktuelle Strömungen/Strategien der Bildenden Kunst/Performance Art nachhaltig zu reflektieren. Das kann soweit führen, dass die bespielten Kunsträume von Gosch/Schütz selbst ästhetische Maßstäbe für angrenzende Kunstformen setzen können.35

31 32 33 34

Artaud 1979, 79-88. Muehl 1992, 270. Vgl. im vorliegenden Band das Vorwort, 9. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht liegt es nahe, dass die von Erika Fischer-Lichte für die sechziger Jahre diagnostizierte performative Wende (vgl. u.a. Fischer-Lichte 2004) nach wie vor entscheidend dazu beiträgt, zeitgenössische avancierte (Theater) Kunstformen auf ihre (performativen) Wurzeln und Entwicklungslinien zu untersuchen bzw. programmatisch Schnitträume zur Performance Art zu konstruieren. 35 Beispiele dafür sind insbesondere Aufführungen, in denen kinetische Skulpturen/ Mobiles mitspielen, der Raum damit avancierte Dramaturgie- und Regiefunktionen übernimmt oder wenn Farbe, Körper und Bühnenraumelemente Materialität(en) verhandeln wie dies z.B. in Was Ihr wollt (Schauspielhaus Düsseldorf 2007) der Fall war,

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Motivieren die Wiener Künstler in ihren Aktionen mit divergierenden Strategien das unmittelbar konkrete Erleben durch „Zerreißung, Zerfleischung, Versumpfung, Beschmutzung, Verstümmelung oder Entleibung“ (am eigenen Körper oder wie Nitsch am Tierkörper), das in den unwiederholbaren, prozessualen, schmerzhaften sowie schockartigen Ereignissen erfahrbar wird, wobei der (triebgesteuerte) „Zerstörungsakt als befreiendes Grundelement“ betrachtet wird und letztlich im Idealfall „Wirklichkeit und Selbstverwirklichung eins werden“ sollen (Peter Gorsen), so wäre es ein folgenreicher Irrtum die verstörende und den Rezipienten körper-sprachlich (über-)fordernde Macbeth-Aufführung ausschließlich in dieser Tradition zu lesen und als pure Provokation zu verstehen.36 Ebenso entfallen in der Inszenierung die erstrebte Symbiose von Wirklichkeit und Selbstverwirklichung, das echte Blut und die real verletzten Körper. Zudem findet die Zerreißprobe an einer literarischen Spielvorlage statt, womit die körperliche Sprache eine andere Funktion ausübt und nicht – wie im Wiener Aktionismus – grundsätzlich verweigert und durch „bedeutungsfreie Zungensprache, averbale rein körpersprachliche Gesten“ ersetzt wird, obwohl die Aufführung auch auf dieser Ebene mit Kritiken konfrontiert wurde, die an die Angriffe auf die Wiener Aktionisten erinnern. Eine Parallele liegt vielmehr in der Suche nach der Körperwahrheit, der Körperanalyse, wobei im Falle von Macbeth gerade der körperliche Umgang des Ensembles mit dem körperlichen Text besonders interessiert, der sich in die aktionen mit materialien im raum einfügt und sich risikofreudig sowie reflexiv bewegt. Thematisiert Johannes Schütz gemeinsam mit Jürgen Gosch und den Schauspielern die transparenten Theatermittel, wobei die erfahrungszentrierten Aufführungen bewusst offen gelassen werden und im Idealfall wie fortlaufende Proben erscheinen, erinnert diese ästhetische Strategie an eine von Otto Muehl formulierte Vorstellung seiner Materialaktionen (19631969), in denen immer wieder „Ekelsubstanzen“ wie Ausscheidungsstoffe, klebrige Stoffe, Schlamm etc. zum Einsatz kommen: „[...] ab sofort wird dem publikum nichts mehr vorgemacht. alles was es gibt, wird direct (sic) dargestellt [...].“37 vor Publikum (sprach-)spielerisch gemalt wird, die Schauspieler als „lebende Pinsel“ agieren bzw. zu Orten der Bilder (Hans Belting) transformieren und damit kunsthistorische Kommentare/Echos (u.a. Informel, Tachismus, Fluxus, Anthropometrie-Performance, Action Painting, Body Art) geleistet werden, die schließlich noch mit aktuellen ästhetischen Strategien in den Dialog gesetzt und dabei Selbst- und Fremdreferenzen synchronisiert bzw. reflexiv verdichtet werden. 36 Vgl. Gorsen 2005. 37 Vgl. Muehl 1969, 11. Muehl präzisiert das Ziel seiner Materialaktionen, wobei die Analogien zu der Macbeth-Aufführung noch deutlicher werden: „sie wollen nichts erklären, sie sind das, was sie erscheinen, als eine sich vollziehende wirklichkeit. die materialaktion ist eine methode, die wirklichkeit zu erweitern, wirklichkeiten zu erzeugen und die dimension des erlebens auszudehen" und: „materialaktion ist dargestellte malerei. [...] alles kann als material verwendet und verarbeitet werden. Der menschliche körper wird den materialien gegenübergestellt, er wird mit ihnen vermischt, überschüttet, zugedeckt und in sie hineinverflochten" (Muehl 1992, 270 u. 263). Vgl. auch Jahraus 2001, 128.

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Otto Muehls Standpunkt weist wiederum eine Nähe zu Antonin Artauds Versuch der konsequenten Eliminierung des Repräsentationsmoments in seinem Theater der Grausamkeit sowie dessen Ideal der unmittelbaren Erfahrung von Wirklichkeit auf, die Artaud mit seiner „direkten Inszenierung“ modellartig anstrebt. In diesem Sinne könnte man die Macbeth-Arbeit von Gosch/Schütz, die die Strategien der Körper- und Materialaktionen anteilig ästhetisch zu einer Art „Totaltheater“ verdichtet, in ihrem Wirklichkeitsprofil mit Artauds Begriff der „direkten Inszenierung“ zusammen denken. Sucht Artaud den Weg von der Sprache zur Realität, wird in Macbeth die KörperSprache (und der Sprachkörper!) selbst wirklich bzw. agiert authentisch. Dabei ergibt sich in beiden Beispielen eine erstaunliche ästhetische Schnittmenge, die im Zusammenspiel der motivierten Körper- und Räumlichkeit begründet liegt.38 Unmittelbar direkt und transparent – jedoch nicht als „Primat des Organischen“ – treten auch die zeichenhaften „Ekelsubstanzen“ in der Aufführung auf. Das geschieht z.B. wenn die Hexen vom Tisch urinieren, indem hinter ihrem Rücken stehende Schauspieler Plastikwasserflaschen entleeren, die Hexen in der letzten Prophezeiungsszene von einer Art Latrine von den aufgerichteten Tischen auf den Boden defäkieren, sich mit dem Mousse au Chocolat ihre Körper beschmieren, sich davon etwas in den Mund stopfen, sich die rutschige Bühnenboden-Pampe aus Wasser, Blut und Mehl noch braun einfärbt und der Kunstraum einem verwüsteten Schlachtfeld gleicht, das bildräumliche Analogien zu Muehls aktionen mit materialien und körpern im raume geradezu hervorruft.39 Obwohl die ästhetischen Analogien (Verflechtungen von Körper, Material, Raum) zu Muehls Materialaktionen am offenkundigsten sind, erinnern gerade die Szenen, in denen die Schauspieler ihre Körper mit Kunstblut für die nächste Szene präparieren, um anschließend mit ihren Körpern auch den Bühnenraum zu transformieren, entfernt an Günter Brus Körperaktionen (Selbstbemalungen), wobei der Künstler jedoch primär mit weißen Farben operierte und sich bei seinen Zerreißproben immer wieder selbst verstümmelte bzw. selbst entleibte.40 38 Oliver Jahraus fasst treffend das KörperRaum-Programm Artauds zusammen, das zumindest in diesem Moment ohne Einschränkungen auf die Macbeth-Aufführung bezogen werden kann: „Weil der Körper selbst Raum ist und seine Körperlichkeit nur räumlich durch die Dynamik seiner Bewegungen ausagiert werden kann, wird der Körper darüber hinaus zum Medium der Raumkonstitution", womit „Raum und Räumlichkeit selbst zu einem Medium der Realisation von Kunst und der Umsetzung ästhetischer Konzepte" werden bzw. Räumlichkeit zu einer zentralen „Präsentationsform von Kunst" wird. Vgl. Jahraus 2001, 186 u. 257. 39 In der letzten Hexenszene wird möglicherweise auch mit einem größeren Fleischbrocken (Rinderleber) auf Hermann Nitsch verwiesen, wobei jedoch der Eindruck entsteht, dass es sich hier um einen ironischen Kommentar handelt. 40 Günter Brus beschreibt Technik und Ziele selbst wie folgt: „Selbstbemalung ist eine Weiterentwicklung der Malerei. Die Bildfläche hat ihre Funktion als alleiniger Ausdrucksträger verloren. [...] Durch die Einbeziehung meines Körpers als Ausdrucksträger entsteht als Ergebnis ein Geschehen, dessen Ablauf [...] der Zuschauer miterleben kann. Der Raum, mein Körper und alle Objekte, die sich im Raum befinden, werden verwandelt" (Zitiert nach Jahraus 2001, 128). Zu Leiden und Selbstverletzung

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Ob nun die Macbeth-Aufführung ästhetisch näher mit den Materialaktionen oder den Körperaktionen in Verbindung zu bringen ist bzw. wie die jeweiligen Anknüpfungen exakt ausfallen, müsste im Rahmen einer Aufführungsanalyse noch genauer untersucht werden. Eindeutig ist zumindest, so auch Oliver Jahraus, dass „jede Materialaktion per se auch eine Körperaktion ist, da der Körper in jeder Aktion als Material fungiert“.41 Wurde zuvor gezeigt, in welcher Weise sich die Haut als Bühne und der Körper als Schlacht- bzw. Aktionsraum verstehen lassen und wie KörperSprache und Raum durch ihr Zusammenspiel in Bewegung gesetzt werden, soll abschließend eine Parallele zum künstlerischen Selbstverständnis von Hermann Nitsch angedeutet werden. In seinen Überlegungen zum Orgien Mysterien Theater kommt dieser zu dem Ergebnis, dass die „aktionen als ästhetische gebilde selbstständig bestehen“ könnten und „im grunde genommen keiner interpretation“ bedürften.42 Diese Grundidee korrespondiert unmittelbar mit den Arbeiten von Gosch und Schütz, die sich in den letzten Jahren zunehmend von der Idee einer Stückinterpretation (Konzeption vor Ausführung) verabschiedet haben und erst über die „ständige Untersuchung der Theatergrundlagen“ (Johannes Schütz) in einer Art kollektiven Laborsituation den Text absichtsvoll absichtslos spielerisch mit den Schauspielern arbeiten lassen. Wie Theresia Birkenhauer argumentiert, lassen sie diesen als literarische Praxis mit dem Publikum erleben und damit einerseits neue Dramaturgieformen begründen und andererseits die ästhetische Kategorie des Regietheaters überwinden.43 Die Lokal- und Boulevardpresse erkannte diese ästhetische Transformationsleistung so gut wie nicht, suchte den Skandal und sah in der Aufführung entsprechend schwere künstlerische „Regelverletzungen“, die wiederum ein „willkürliches Regietheater“ widerspiegeln würden. Die Rede war von einem „Ekel-Skandal“, „purer Provokation“, „ausuferndem Aktionismus“ sowie von einem „Sudel Mac“, der die Kunst in Frage stelle.44 Eine Kritikerin diagnostizierte: „Wen schert der Dichter, wenn die Regie alles geben kann? Blut und Kot statt Schuld und Seelenpein! Das versteht kein Mensch, weil es nix zu verstehen gibt!“45 Der Düsseldorfer Oberbürgermeister, der die Premiere zunächst kommentierte ohne diese überhaupt gesehen zu haben, erinnert mit seiner Aussage sowohl an die durch den Zwischenruf des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters entfachte Debatte über den Auftrag des Theaters als auch an den durch die Rede des Bundespräsidenten angestoßenen Diskurs über den Umgang mit Klassikern: „Man sollte Macbeth so machen, dass man

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in der Performance Art siehe u.a. Meyer 2008. Meyer behandelt in seiner Untersuchung fast ausschließlich junge Performance-Künstler, wobei er jedoch wiederholt Analogien zu den Wiener Aktionisten herstellt. Jahraus 2001, 218. Zitiert nach Gorsen 2005, 85. Vgl. Birkenhauer 2005, 127. Vgl. Michael Kersts Kritik im Düsseldorf Express: „Ekel-Skandal im Schauspielhaus. Sudel-Mac: Ist das noch Kunst?“ (Kerst 2005). Vgl. Petra Keipers Kritik in der Neuen Rhein-Zeitung: „Ganz schön schlimm. Tschüss Shakespeare, hallo Jürgen Gosch“ (Keiper 2005).

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Shakespeare noch erkennt – das habe ich immer von der Intendantin gefordert. Solche Umdichtungen sind ein unerträglicher Trend.“46 Ein Düsseldorfer Kulturausschussmitglied fühlt sich dagegen an die Zeit der siebziger Jahre erinnert: „Gosch hat wohl seine kindliche Schlammphase ausgelebt. Dieser modische Schnickschnack erinnerte mich an TheaterProvokationen der Zeit um 1970 – aber die ist nun mal lange vorbei.“47 Christopher Schmidt nimmt 2006 u.a. die Aufführung zum Anlass, selbst ein Manifest zu verfassen, in dem er in Bezug auf Jürgen Gosch von einem „Anfall von Altersextremismus eines Regie-Veteranen“ spricht, auf den Bühnen heute nur noch „Hardcore Clowns, Fäkal-Kaskadeure, Krawall-Autisten und Fake-Pornographen“ erkennt, die die „menschlichen autonomen Existenzen“ ersetzen, die Provokateure als „Mitläufer und Opportunisten“ bezeichnet und schließlich in Anspielung auf die 68er Künstlergeneration bzw. die Kunst der 60er und 70er Jahre mit einem Teil des zeitgenössischen politischen Theaters abrechnet: Es ist immer vier Uhr morgens nach einem Porno-Dreh, und Sex und Crime sind nur die zwei Seiten derselben Medaille. Das Theater macht durch, es peitscht Stoffe und Menschen durch die Schleusen von Zumutung, Schmerz und Erschöpfung, und das soll als Konsumverweigerung und also als todesmutiges politisches Statement ver48 standen werden.

Auch wenn hier bewusst ein Negativausschnitt gewählt wurde, zeigt das Rezeptionsverhalten, dass in Teilen der Zeitungslandschaft sowie der (politischen) Öffentlichkeit (Theater-)Kunstavantgarden der sechziger und siebziger Jahre noch immer stereotypisch verurteilt werden. Neben dem Unverständnis wird dabei auch eine politische Motivation in Form eines erneuten Abrechnungsbedürfnisses deutlich. Andererseits zeigt sich, dass aktuelle avancierte Kunstformen zum Teil weniger aus dem Gegenwartskontext heraus rezipiert, sondern ästhetisch auffällig in den modernen Avantgarden des 20. Jahrhunderts angesiedelt werden, was sich wiederholt in einer eindimensionalen Terminologie niederschlägt. Damit werden grundlegende, avanciertere theoretische Modelle erforderlich.

3. Grenzenloses Regietheater – Die Grenzen des Regietheaters Fragwürdig mutet auch Christopher Schmidts folgende Frage an, die auf seiner Vorstellung einer in den sechziger Jahren begründeten und anhaltenden Ästhetik basiert, die ihn scheinbar seit langem schmerzt:

46 Vgl. Kerst 2005. 47 Kerst 2005. 48 Spätere Inszenierungen von Gosch/Schütz - wie z.B. Onkel Wanja und Die Möwe - begreift Schmidt dagegen als außergewöhnliche und künstlerisch höchst wertvolle Arbeiten. Vgl. Schmidt 2006.

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Tigges Warum müssen Klassiker immer noch gegen den Strich gelesen werden, da man die Kenntnis doch ohnehin kaum noch voraussetzen kann? Warum muss die Phantasie 49 des Zuschauers permanent entmündigt werden durch die fixen Ideen der Regie?

Bezieht man diese Diagnose auf die Macbeth-Aufführung werden gleich mehrere Verfehlungen und damit auch die von dem Begriff des Regietheaters ausgehenden Missverständnisse und Engführungen deutlich. Die Konfliktgeschichte von Theater und Literatur, die speziell die problematische und längst entschärfte Gegenüberstellung von Drama und Aufführung beinhaltet, erweist sich trotz fundierter künstlerischer und theoretischer Abschiedsszenarien und eines längst eingetretenen Konsens als äußerst hartnäckig. Neue (körperbetonende) sich von den „dramatischen Fesseln“ befreiende avancierte Spielformen, die mit der Sprache anders arbeiten und die Aufmerksamkeit auf die von der Sprache ausgehenden Realitäten im Kunstraum lenken, werden nach wie vor von Teilen der Kritik missverstanden, indem lediglich sprachliche Verluste bzw. ein Werktreuebruch bilanziert werden.50 Der Begriff des Regietheaters – Günther Heeg spricht in kritischer Auslegung vom Regietheater als Interpretationstheater51 – findet trotz signifikanter Abnutzungserscheinungen immer noch Verwendung, obwohl er bereits spezifische Zeiträume wie die Theatermoderne um 1900 und die sechziger und siebziger Jahre markiert und damit heute epochal ausbleicht bzw. verschwimmt. Er suggeriert fälschlicherweise ein fixes Konzept/eine festgelegte (Regie-)Lesart, mit der dem Drama begegnet wird, um es im nächsten Schritt „spielerisch dekonstruierend zu übersetzen“. So erhält sich die Vorstellung, dass das „Theater der Ort der empirischen Realisierung von Literatur“ (Birkenhauer) sei, die sich transformierende „Sprachpraxis“ bzw. das Theater als literarische Praxis bleibt unterbelichtet.52 Der Begriff des Regietheaters suggeriert aber ebenso, dass die (freie) Spiellenkung (fast) ausschließlich von der Regie ausgeht, d.h. die Regie wird als aktualisierender Autor oder überschreibender Co-Autor verstanden. Demzufolge berücksichtigt der Begriff unzureichend die Schauspieler, die als Performer oder als polyphones Performer-Kollektiv zunehmend selbst offene, 49 Schmidt 2006. 50 Vgl. hier insbesondere Birkenhauer 2005, 12-25 u. 122ff. Christopher Balme weist nach, wie stark die Diskurse um Regietheater und Werktreue ineinander spielen und die Werktreue-Diskussion in den sechziger und siebziger Jahren zu einer Art „Glaubenskrieg" wurde, der sich mit dem zunehmenden Siegeszug der Theatersemiotik und des damit einhergehenden neuen Textmodells (die Aufführung als Text) langsam entschärfte. Obwohl Balmes Diagnose grundsätzlich zutrifft, hat sich jedoch mit dem Aufkommen performativitätstheoretischer Diskurse, die dem Textmodell die Grenzen aufwiesen, gezeigt, dass die Werktreue- und Regietheater-Debatte keineswegs vollständig abgeschlossen war, unter neuem alten Licht wieder auftrat und sich speziell dabei zeigte, dass eine komplexere Theoriebildung des (Theater-)Textes und der Sprache im Theater nach wie vor aussteht und sich ebenso in theoretischen Ansätzen zum postdramatischen Theater entwickelungsbedürftig darstellt. Vgl. Balme 2008. 51 Vgl. Heeg 2008. 52 Birkenhauer 2005, 125. Vgl. auch Heeg 2008.

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situationsgebundene Regiefunktionen übernehmen, die sich von Aufführung zu Aufführung dynamisch verhalten, die Einnahme einer Zentralperspektive unmöglich machen und sich letztlich immer einer Festschreibung entziehen. Außerdem stößt der Begriff des Regietheaters auch in dem Sinne an seine Grenzen, dass das Publikum in Theaterformen, die durch einen einkalkulierten Grad an Absichtslosigkeit sowie Konzeptlosigkeit gekennzeichnet sind, zunehmend Dramaturgie- als auch Regiefunktionen übernimmt und zu Formen des gedanklichen Mitspiels angestiftet wird. Die offenen Sichtweisen, die durch „schwebender Aufmerksamkeiten“ (Georges Didi-Huberman) bewusst in Szene gesetzt werden, lassen sich nicht interpretatorisch in Form einer bestimmbaren zentralen Regielesart kurzschließen.53 August Macke formulierte 1906 in einem Brief an seine spätere Frau Elisabeth Gerhard, dass auf der Bühne viel zu viel Ausstattung getrieben würde. Im selben Jahr entwarf er für das Düsseldorfer Schauspielhaus ein Bühnenbild für eine Macbeth-Inszenierung entwarf, das, so die Kritik, mit dem damals vorherrschenden szenischen Naturalismus brach und die Bühnenvorgänge plastisch hervorhob. Macke deutet eine Raumvorstellung an, auf die Johannes Schütz und Jürgen Gosch in dem Sinne aufbauen, dass die minimalistischen Bühnenräume die Schauspieler zu Extremerfahrungen herausfordern, eine neue (grenzenlose) Theatralität begründet wird, dabei die Grenzen des Regietheaters evident werden und die Darsteller auffällig vergrößert werden.54 Damit kommt es insbesondere zu einer Aufwertung der Körper und der Sprache, die, wie aufgezeigt, im Sinne Jean-Luc Nancys als SprachKörper authentisch im Hier und Jetzt ausströmen. Das „revolutionäre“ szenische körperliche Denken fordert das Publikum spielerisch heraus und konfrontiert es mit einer neuen Form von unmittelbarer Sinnlichkeit. Dass es dem Macbeth-Ensemble gelingt, die Haut als Bühne und die Körper als Schlacht- bzw. als Aktionsräume aufzuladen, liegt sowohl an der genau kalkulierten Künstlichkeit als auch an dem Bewusstsein, szenisch sparsam zu operieren, dem (nackten) körperlichen Spiel viel Raum zu geben, die doppelte Perspektivierung dramatischer Rede (Theresia Birkenhauer) subtil zu ergründen und auf ein Interpretations(über)angebot zu verzichten, womit Edward Gordon Craigs Theater der Zukunft vergegenwärtigt wäre: 53 Bernd Stegemann geht als Dramaturg so weit, dass er den Zuschauer selbst als „zweiten Autor" bezeichnet und begründet dies insbesondere damit, dass die Mittel, mit denen die Geschichte erzählt wird, zunehmend zum Bedeutungsträger werden und das Publikum dementsprechend die Arbeit des Zusammenerlebens und Zusammendenkens der angezettelten Kollisionen leistet und die körperliche Wahrnehmung selbst ein zentrales Thema der Theatererfahrung wird. Stegemann nennt eine weitere Begründung für die wachsende Autorschaft des Publikums und deutet damit zugleich auf eine Verschiebung der politischen Dimension hin, die immer stärker von den Zuschauern selbst ausgehen kann: „Die Autorschaft des Zuschauers vollzieht nun eine Arbeit, die ehemals Weltbild/Ideologie und/oder der Handlungszusammenhang des Dramas geleistet hatten." Vgl. Stegemann 2008. 54 Die neue, starke plastische Wirkung wurde speziell dadurch erzielt, dass, so die Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 15.12. 1906, auf die landschaftliche Hinterkulisse verzichtet wurde und die draußen spielenden Szenen durch einen schlichten, grauen Vorhang abgeschlossen wurden. Vgl. Eckert 1998, 48.

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„Der fehlende mut, das fehlende vertrauen in den wert der sparsamkeit und der proportion verderben alle guten ideen heutiger bühnenbildner. Sie wollen zwanzig aussagen auf einmal machen [...].“55

Literatur Artaud, Antonin (1979): Das Theater und sein Double. Frankfurt a.M. Balme, Christopher (2008): Werktreue. Aufstieg und Niedergang eines fundamentalistischen Begriffs. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt. Würzburg, S. 43-50. Becker, Constanze/Jens Harzer/Ulrich Matthes (2008): Warten auf die Wahrheit. In: Theater heute. Jahrbuch 2008. Berlin, S. 92-102. Birkenhauer, Theresia (2004): Der Text ist ein Coyote [...] und man weiß nicht wie er sich verhält. In: Schulte, Christian/Brigitte Maria Meyer (Hg.): Der Text ist der Coyote. Heiner Müller. Bestandsaufnahme. Frankfurt a.M., S. 11-34. Birkenhauer, Theresia (2005): Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort für Literatur. Maeterlinck, Cechov, Beckett, Müller. Berlin. Birkenhauer, Theresia (2006): Verrückte Relationen zwischen Szene und Sprache. In: Gerstmeier, Joachim/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin, S. 178-191. Bloom, Harold (2002): Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen: Komödien und Historien. Berlin. Craig, Edward Gordon (1969): Über die Kunst des Theaters. Berlin. Eckert, Nora (1998): Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert. Berlin. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. Gohr, Siegfried (2008): Im Gespräch mit Johannes Schütz. In: Schütz, Johannes (Hg.): Bühnen/Stages. 2000-2007. Bd. 1. Nürnberg, S. 6-25. Gorsen, Peter (2005): Der Wiener Aktionismus in seinen Festen des psychologischen Naturalismus. In: Hummel, Julius (Hg.): Wiener Aktionismus. Mailand, S. 77-90. Heeg, Günther (2008): Die Zeitgenossenschaft des Theaters. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt. Würzburg, S. 29-42. Jahraus, Oliver (2001): Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewusstseins. München. Keiper, Petra (2005): Ganz schön schlimm. Tschüss Shakespeare, hallo Jürgen Gosch. In: Neue Rhein-Zeitung. 01.10.2005. Kerst, Michael (2005): Ekel-Skandal im Schauspielhaus. Sudel-Mac: Ist das noch Kunst? In: Düsseldorf Express. 01.10.2005. Klocker, Hubert (2005): Tour de force. In: Hummel, Julius (Hg.): Wiener Aktionismus. Mailand, S. 9-18. Kott, Jan (2002): Shakespeare Heute. Berlin. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Meyer, Helge (2008): Schmerz als Bild. Bielefeld. Meyer-Arlt, Ronald (2007): Interview mit Jürgen Gosch. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 27.4.2007. 55 Vgl. Craig 1969, 30.

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Muehl, Otto (1969): Mama und Papa. Materialaktion 63-69. Frankfurt a.M. Muehl, Otto (1992): Die Materialaktion. In: Weibel, Peter/Christa Steinle (Hg.): Identität: Differenz. Tribüne Trigon. 1940-1990. Eine Topografie der Moderne. Wien, Köln, Weimar. Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus. Berlin. Nitsch, Hermann (1990): Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste, Aufsätze, Vorträge. Salzburg, Wien. Peters, Nina (2006): Mit Beckett auf dem Abstellgleis. Der Regisseur Jürgen Gosch über Natürlichkeit, Scham und den Sauerstoff des Textes. Jürgen Gosch im Gespräch mit Nina Peters. In: Theater der Zeit 5/2006, S. 2126. Schabert, Ina (Hg.) (1992): Shakespeare Handbuch. Stuttgart. Schmidt, Christopher (2006): Im Verführerbunker. Das deutsche Theater hat Gefühle verboten und ist dabei auf den Hund gekommen. Ein Manifest. In: Süddeutsche Zeitung. 11.12.2006. Shakespeare, William (2005): Macbeth. In der Übersetzung von Angela Schanelec. Programmheft Nr. 61, Düsseldorfer Schauspielhaus. Düsseldorf. Stegemann, Bernd (2008): Vom Nutzen und Nachteil der Kritik für das Regietheater. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt. Würzburg, S. 105-112. Thiele, Rita (2008): Zuschauen, wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz. In: Tigges, Stefan (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Bielefeld, S. 263-272. Thieringer, Thomas (2005): Die Erde wirft Blasen. Kritik zu Macbeth. In: Süddeutsche Zeitung. 04.10.2005. Waldenfels, Bernhard (1999): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M.

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„Let's Get Physical!“ Vom Atomstück zur Performance: Theatrale Darstellungen der Physik seit den 1960er Jahren MICHAEL BOPP „Physik in unserer Zeit soll die neue Zeitschrift heißen. Ist aber nicht ‚unsere Zeit’ ein Produkt der Physik?“,1 so lautet der erste Satz des ersten Editorials der 1970 erstmals erschienenen Zeitschrift Physik in unserer Zeit. Autor Walther Gerlach, Münchner Physiker, schreibt von der Rolle, welche dieses neue Periodikum innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Physiker und darüber hinaus in Zukunft einnehmen solle. Zunächst wird aber ein Bildungssystem beklagt, welches – wer Charles Percy Snow und seine These von den „Zwei Kulturen“2 kennt, wird nicht überrascht sein – von hauptsächlich geisteswissenschaftlich ausgebildeten Politikern bestimmt werde. Deswegen herrsche in der Gesellschaft eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber den Naturwissenschaften und speziell gegenüber der Physik, die es gelte, durch Aufklärung zu mindern, so Gerlach. Er sieht die Zeitschrift Physik in unserer Zeit als notwendigen „Mittler zwischen [s]einer Wissenschaft und der Allgemeinheit“.3 Der Autor beendet das Editorial mit der Frage nach einer „neuen Ethik“ angesichts der potentiellen Bedrohung, welche vom „Mißbrauch [...] [des] Wissens und Könnens“4 ausgehe. Auch die Jahrgänge 1967 bis 1970 des Periodikums der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), mit dem Titel Physikalische Blätter, entsprechen weitgehend der Stoßrichtung von Gerlachs Editorial: In ihnen ist ein dominantes Thema die Verantwortung der Physiker angesichts der potentiell weltbedrohenden Auswirkungen ihrer Wissenschaft. Physiker „wollen nicht bloß Handlanger der Politik sein, sondern an großen Entscheidungen zumindest beratend Anteil haben“ – das schreibt etwa der Physiker Max Born in seiner Monographie Physik und Politik von 1960, die in den Physikalischen Blättern zitiert wird.5 Der Leitartikel einer Ausgabe der Physikalischen Blätter von 1968 trägt den Titel „Wir Physiker müssen mehr in der Politik mitarbeiten!“6 Autor 1 2

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Gerlach 1970, 1. Der englische Physiker und Romancier Charles Percy Snow konstatierte in einer Rede 1962 die Teilung der akademischen und außerakademischen Gesellschaft in zwei voneinander geschiedene Gruppen: eine literarisch bzw. geisteswissenschaftlich gebildete und eine naturwissenschaftlich gebildete. Vgl. Snow 1967. Gerlach 1970, 1. Gerlach 1970, 1. Born 1960, 82. Zitiert in Luck 1968, 22. Kersten 1968, 1.

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Martin Kersten spricht von der „geistigen Jahrhundertwende“7, welche die Physik ausgelöst habe. Der Physik wird die Leitrolle in der Erneuerung der Denkmodi zugeschrieben. Kersten bezieht sich hier besonders auf die Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation, die von Werner Heisenberg aufgestellt wurde – also auf die Erkenntnis, dass Ort und Impuls eines Teilchens in mikroskopischer Dimension nicht gleichzeitig genau messbar sind. Diese Erkenntnis wurde oftmals als der Einzug des Zufalls in die exakten Naturwissenschaften gesehen.8 Aus dieser Erkenntnis, zu der Physiker und physikalische Forschung führten, leitet Martin Kersten eine Verantwortung eben der Physiker gegenüber dem Rest der Gesellschaft ab, die im Hinblick auf die Jugend wahrgenommen werden müsse: Vor allem müssten Physiker mithelfen, die Bildungspläne so umzustrukturieren, dass die Bürger schon im Schulalter von den revolutionären Gedanken der neuen Physik – besonders von der Quantentheorie – erfahren. Nur auf diese Weise ausgebildete Menschen seien später zu politisch richtigen Entscheidungen fähig, etwa weil nur sie die Wirkung atomarer Waffen richtig einzuschätzen wüssten. Was die Studentenbewegung und die Proteste am Ende der sechziger Jahre angeht, so bleiben sie in der deutschen Physikergemeinschaft – zumindest soweit sich diese in ihren publizistischen Organen äußert – nur am Rande erwähnt und meist negativ bewertet: Unter der Überschrift „AltHeidelberg, du feine“ fassen die Physikalischen Blätter im ersten Heft von 1969 Zeitungsberichte zu den Unruhen an der Heidelberger Universität zusammen. Dieser unbeteiligten und unkommentierten Schau folgt eine anonyme Leserstimme: Der Autor fragt, wie lange die Aktivisten noch auf der Universität bleiben dürften, und warum der Staat die Störer nicht ins Zuchthaus stecke.9 Außerdem wird in der folgenden Ausgabe vermerkt, dass sich die Heidelberger Professoren der Physik gegenüber den neuen Hochschulgesetzen verwehrt hätten.10 Mit dem Verweis auf das Ende von Buschs Max und Moritz in der Mühle kommentiert eine Glosse im Jahr 1969: Mögen die Extremen unter den Studenten daran denken, daß in Versen von Wilhelm Busch Wahrheit steckt! Könnten die vernünftigen Studenten nicht eines Tages ihre 11 Aufgabe erkennen und wahrnehmen.

Unter der Überschrift „Hochschulmisere und studentische Mitbestimmung“ schreibt Jurist Franz Gamillscheg 1968 in den Physikalischen Blättern, dass die Forderungen der Studentenschaft nach Mitbestimmung die Hochschule zerstören würden: „Sandkastenspiele des Parlamentarismus gehören in den Sandkasten; die Universität ist kein Sandkasten, sie wäre denn auch ein sehr teurer. Wenn man dies verkennt, wird sie sehr bald nur mehr Politidioten erzeugen.“12 Dem Artikel Gamillschegs folgt eine Umfrage der Redaktion der 7 8

Kersten 1968, 1. Aus Heisenbergs Erkenntnis folgt, dass die Bahn eines Teilchens nicht genau vorher gesagt werden kann, sondern eine Vorausberechnung immer mit einer Unschärfe behaftet ist. Vgl. etwa Heisenberg 1927. 9 Siehe Physikalische Blätter 1/1969, 46. 10 Siehe Physikalische Blätter 2/1969, 89. 11 Physikalische Blätter 7/1969, 336. 12 Gamillscheg 1968, 217.

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Physikalischen Blätter unter den Dekanen von 25 Physikfakultäten in Deutschland mit der Frage: Sind Physik-Studenten Revoluzzer? Die Antworten ergaben laut Redaktion ein homogenes Bild: „Meist wird betont, daß kein allzu starkes Interesse erkennbar sei und daß sich die Studenten der Fakultät bei politischen Demonstrationen nicht hervortäten.“ Weiter heißt es: Es scheint einen ziemlich scharfen Schnitt zwischen den Fächern zu geben, die man leichthin und vereinfachend der „Geisteswissenschaft“ und denen, die man der „Naturwissenschaft“ einzugliedern pflegt. [...] Es liegt ihnen [den Physikern] auch nicht, 13 sich politisch stark zu betätigen; sie wollen arbeiten und lernen.

Die Frage, ob diese Umfrage repräsentativ ist, und ob die Dekane der Fachbereiche über die politischen Aktivitäten ihrer Studenten verlässlich Auskunft geben können, oder nicht nur die eigene Meinung wiedergeben, sei dahingestellt. Jedenfalls zeugen die Umfrage und deren Interpretation seitens der Physikalischen Blätter von einer eher rechts-konservativen Haltung der Zeitschrift. Außerdem fällt der Widerspruch zu den Leitartikeln auf: Einerseits sehen sich die Physiker als entscheidend für die Entwicklung der Welt und den Fortgang der Menschheitsgeschichte und wollen deswegen mehr in der Politik mitwirken. Andererseits wird begrüßt, dass die Physik-Studenten sich vermeintlich nicht an der von den Geisteswissenschaftlern geführten Revolte beteiligen. Es wird sogar von Politidioten gesprochen, welche durch eine studentisch mitbestimmte Universität produziert würden. In einem Kommentar unter der Überschrift „Physiker unpolitisch?“ ist zu lesen: „Physiker sind keine Politiker und scheuen sich vor politischer Aktivität. Aber sie dürfen nicht als unpolitisch bezeichnet werden.“14 Die Physik wird als Leitwissenschaft gesehen, deren Erkenntnisse gesellschaftlich relevant, aber in der Gesellschaft zu wenig bekannt seien: Die eigentliche naturwissenschaftliche Arbeit vollzieht sich öffentlichkeitsfern; sie ist auch nicht leicht mitteilbar. Die Öffentlichkeit erfährt die Erfolge und den Fortschritt 15 der Naturwissenschaften nur aus zweiter Hand und in großen Abschnitten.

Hier – wie in vielen anderen Aussagen von Autoren der Physikalischen Blätter – wird die Notwendigkeit einer Vermittlerinstanz zwischen der Physik samt deren komplexen Erkenntnissen und der übrigen Gesellschaft gesehen. Die Notwendigkeit impliziert eine – in Teilen an Snows eingangs erwähnte Theorie von den zwei Kulturen erinnernde – Opposition der Physik auf der einen Seite und dem öffentlich gesellschaftlichen Diskurs auf der anderen Seite. Snow beschreibt 1959 in seiner heute noch häufig zitierten Rede diese „zwei Kulturen“ als hermetisch voneinander geschieden und durch eine unüberwindbare Kluft getrennt. Snow, selbst Romancier und Physik-Professor am damals sehr humanistisch geprägten Cambridge, macht diese Trennung vor allem an persönlichen Erfahrungen, insbesondere im Umfeld der Akademie fest. Er beschreibt Geisteswissenschaftler, die voller Stolz verneinen, die 13 Physikalische Blätter 4/1968, 219. 14 Physikalische Blätter 9/1968, 432. 15 Physikalische Blätter 2/1968, 85.

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grundlegenden Gesetze der Physik zu kennen und Naturwissenschaftler, denen Shakespeare im besten Fall ein als Fakt bekannter Autor ist, vor dem es sich aus Gewohnheit geistig zu verbeugen gilt. Laut Snow sind die beschriebenen „zwei Kulturen“ und deren völlige Trennung an der Universität sowie in Politik und Kunst zu beobachten. Diese Trennung, die nicht zuletzt vom Unwillen beider Seiten zur gegenseitigen Verständigung herrührt, führe über kurz oder lang zur Ohnmacht der westlichen Gesellschaften gegenüber einer weltweiten, technisch bedingten und umwälzenden Änderung der Verhältnisse, der nur mit naturwissenschaftlicher Bildung begegnet werden könne.16 Zwischen diesen beiden Binnenkulturen innerhalb einer Gesamtkultur soll nun jedoch ein Austausch stattfinden. Denkt man also beide Binnenkulturen als offene, auf Austausch angelegte und angewiesene Werte- und Regelsysteme – also nicht etwa im Sinne Snows, der einen eher statischen und hermetischen Kulturbegriff verwendet – dann soll also ein interkultureller Austausch von Kulturgütern zwischen der Physik und dem öffentlich gesellschaftlichen Diskurs stattfinden.17 Das Modell der zwei gegenüberliegenden Kulturen im oben erläuterten Sinn vor Augen, existiert zwischen beiden ein dritter Ort der Vermittlung, welcher von Akteuren beider Kulturen genutzt werden kann. Die Vermittlung ist nicht nur aufgrund der Komplexität beispielsweise einer physikalischen Erkenntnis notwendig, sondern vor allem deswegen, weil speziell die Sprache der Physik meist die der Mathematik ist. Eine mathematisch formulierte physikalische Erkenntnis muss also zunächst in der jeweiligen Schriftsprache aufbereitet werden, um überhaupt ausgetauscht werden zu können. Physiker, als Akteure der einen Kultur, schreiben zum Beispiel allgemein verständliche Bücher über ihre Arbeit und deren Erkenntnisse, bekannt sind etwa die Schriften von Werner Heisenberg.18 Akteure des öffentlich gesellschaftlichen Diskurses auf der anderen Seite sind etwa Wissenschaftsjournalisten, Filmemacher oder Dramatiker. Der Teil des Diskurses, der durch einen Vermittlungsvorgang angesprochen beziehungsweise erreicht wird, unterscheidet sich von Mal zu Mal. So schreibt sich das Werk eines Dramatikers typischerweise über die Theaterbühne in den öffentlich gesellschaftlichen Diskurs ein. Das heißt jedoch, dass die Öffentlichkeit im Sinne eines Publikums oder Rezipientenkreises nicht deckungsgleich mit der Öffentlichkeit ist, welche die Wissenschaftsseiten einer Zeitung oder Zeitschrift liest. Auch die ausgetauschten Kulturgüter unterscheiden sich je nachdem, aus welcher Kultur der Akteur kommt, der den dritten Ort der Vermittlung nutzt und in welcher Form der Ort der Vermittlung ausgefüllt wird. Ein Theaterautor muss entscheiden, welche Kulturgüter der Physik er dramatisiert: den einzelnen Physiker samt seiner Lebensgeschichte – zum Beispiel Werner Heisenberg in Michael Frayns Kopenhagen (1998) –, eine spezielle Erkenntnis und deren Auswirkungen auf die Welt – zum Beispiel das heliozentrische Weltbild in Bertolt Brechts Galileo Galilei (1938) –, oder ein Paradigma innerhalb der Physikergemeinschaft – zum Beispiel das Dilemma des Wissenschaftlers in Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (1962). Durch den Vorgang 16 Vgl. Snow 1967. 17 Kulturdefinition: Vgl. Wierlacher 1993. Kultureller Austausch: Vgl. Greenblatt 1993. 18 Siehe etwa Heisenberg 1983.

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der Vermittlung sind freilich die Elemente, welche sich in den öffentlich gesellschaftlichen Diskurs einschreiben, nicht mehr reine Physik im Sinne fachwissenschaftlicher Theorien oder Erkenntnisse. Vielmehr wird die Physik im dritten Ort der Vermittlung durch den jeweiligen Akteur bereits auf eine bestimmte Art und Weise inszeniert. Was das Theaterpublikum eines Stücks mit dem Thema Physik rezipiert, ist folglich die Inszenierung der Physik als fremde Kultur seitens des Dramatikers, der im Normalfall Akteur der Kultur des öffentlich gesellschaftlichen Diskurses, nicht der Physik, ist. Interessant und aufschlussreich für beide Kulturen ist somit die Analyse einer solchen Inszenierung.

Das Atomstück Die Physiker Das Theater als dritter Ort der Vermittlung zwischen einer physikalisch mehrheitlich ungebildeten Öffentlichkeit und der Physik nimmt die widersprüchlichen Tendenzen innerhalb der deutschen Physikergemeinschaft – der Wille zur politischen Mitarbeit aufgrund der politischen Dimension der eigenen Arbeit einerseits und politisches Desinteresse andererseits – in den 1960er Jahren auf: In einer Rezension zur Uraufführung von Dürrenmatts Physikern in Zürich 1962 schreibt Joachim Kaiser in Theater heute vom „Atomstück“ als neuer Stückegattung.19 Tatsächlich gab es – vor allem in Folge der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg – eine Reihe von Dramatikern, die sich speziell mit Kernphysikern und deren moralischen Dilemmata beschäftigten: etwa Brecht mit seiner dritten Fassung des Galilei (1955)20, Zuckmayer mit Das kalte Licht (1955), Kipphardt mit In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) und natürlich Dürrenmatt mit Die Physiker, dem wohl bekanntesten Physiker-Drama bis heute. Carl Friedrich von Weizsäcker bezeichnete in einer 1968 in den Physikalischen Blättern als Leitartikel abgedruckten Rede mit dem Titel „Die Wissenschaft als ethisches Problem“ Dürrenmatts Physiker als „komödienhafte Darstellung des Problems, aber eine Darstellung, die richtig zeigt, daß die Möglichkeit, Folgen der Wissenschaft der Welt zu ersparen, nicht besteht.“21 Weiter bemerkt Weizsäcker angesichts des realen Fortschritts, „wie es in einer derart technisierten Welt noch individuelle Freiheit geben kann, d.h. Unabhängigkeit von den Kontrollen anonymer Mächte, muß noch geprüft werden.“22 Weizsäcker hat damit zwei wesentliche Elemente von Dürrenmatts Drama benannt: die fehlgeleitete, selbst auferlegte Verantwortung des Wissenschaftlers und dessen Kontrolle durch anonyme, höhere Mächte. Die Grundsituation von Die Physiker spiegelt eine Abgeschiedenheit der Physik gegenüber einer Öffentlichkeit wider und steigert diese noch qua der Kulisse einer geschlossenen Anstalt. Der Kontext des kalten Krieges und der atoma19 Siehe Kaiser 1962, 5. 20 Diese dritte Fassung des Dramas ist weitestgehend die Übersetzung der zweiten, amerikanischen Fassung von 1947 in englischer Sprache. Die erste Fassung wurde 1938 beendet. 21 Weizsäcker 1968, 437. 22 Weizsäcker 1968, 439.

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ren Bedrohung klingt bereits zu Beginn des Dramas – im Rahmen einer vorgeschobenen Kriminalhandlung – an: Ein Patient erzählt einem Kommissar, Einstein habe die Atombombe ermöglicht. Dabei habe dieser doch nur Naturbeobachtungen in mathematischer Sprache notiert. Jetzt könne jeder physikalisch noch so Ungebildete die Bombe zünden.23 Diese Replik der Dramenfigur Einstein greift die widersprüchliche politische Stoßrichtung der Physikalischen Blätter auf: Ohne sich für Politik zu interessieren, sind die Physiker mit ihrer Wissenschaft politisch geworden. Auf einmal kommt ihnen durch ihr rein wissenschaftliches, scheinbar unpolitisches Tun eine Verantwortung für die Welt zu. Auch die Dramenfigur Möbius, deren Name auf einen historischen Leipziger Mathematiker, den Erfinder der Möbius-Schleife, verweist,24 hat eine bahnbrechende, die Physik und die gesamte Welt potentiell verändernde und bedrohende Entdeckung gemacht. Möbius hat bereits Teile davon veröffentlicht, als er erkennt, was er eigentlich gefunden hat – wieder ein Physiker, der durch scheinbar unpolitisches Tun und ohne politisches Interesse zum Politikum wird. Er zieht für sich die Konsequenz, als Irrer getarnt in eine geschlossene Anstalt zu gehen, um sein Wissen geheim zu halten. Allerdings forscht er in der Anstalt weiter – ein erneuter Widerspruch in der Logik des Dramas, der in Möbius’ Replik „Physiker, aber unschuldig“25 kondensiert ist. Der Zuschauer erfährt, dass Möbius die Physik zu einem Ende gebracht, die Weltformel, ja sogar die Formel aller möglichen Erfindungen gefunden habe: Die Schlagwörter Gravitation, Formel, Feldtheorie und Elementarteilchen werden von den beiden Mitpatienten – zwei Physikern und Geheimagenten – genannt.26 Natürlich gibt es in der realen Physik für ein „System aller möglichen Erfindungen“27 keine Entsprechung. Allerdings existiert der Begriff „Weltformel“: Die Physiker meinen damit eine Theorie, welche die vier bekannten Kräfte in der Natur vereint – Gravitation (Schwerkraft), Elektromagnetismus (elektrische und magnetische Kräfte) sowie die schwache und die starke Wechselwirkung (Kräfte, die innerhalb von Atomen und zwischen Atomen wirken). 1958, vier Jahre vor der Uraufführung der Physiker, verkündete der deutsche Physiker Werner Heisenberg – einer der Protagonisten der frühen Quantenmechanik und Atomforscher im Dritten Reich – diese Weltformel gefunden zu haben, was sich jedoch nach ihrer Veröffentlichung als Irrtum erwies.28 Dennoch ist diese Vereinigung der vier bekannten Kräfte auch heute noch ein Fluchtpunkt physikalischer Forschung und tatsächlich mit den im Stück genannten Schlagwörtern Feldtheorie, Gravitation und Elementarteilchen verknüpft.29 23 24 25 26 27 28 29

Siehe Dürrenmatt 1962, 19. August Ferdinand Möbius (1790-1868). Siehe Stewart 1994. Dürrenmatt 1962, 66. Siehe Dürrenmatt 1962, 59 f. Dürrenmatt 1962, 59. Siehe Bührke 2003, 206. Siehe Fritzsch 1983, 283-302. Auch der LHC (Large Hadron Collider) am CERN (Centre Européenne de la Recherche Nucléaire) in Genf, der von den Medien als größte jemals von Menschenhand erbaute Maschine gefeierte Teilchenbeschleuniger dient letztlich der Vereinigung der vier bekannten Naturkräfte in einer einheitlichen Theorie.

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Da Dürrenmatts Drama diese Zusammenhänge jedoch nicht erklärt, ist Möbius’ Forschung vor allem eines: eine mythisch verklärte, für die Machthungrigen verheißungsvolle Möglichkeit zum Bau potentiell apokalyptischer Waffen. Diese Forschung liegt in der Hand eines einzigen Physikers, der glaubt, sie durch die eigene Heldentat des Exils im Irrenhaus schützen zu können, was das Drama doppelt negiert. Einerseits hat Möbius bereits Teile seiner Forschung veröffentlicht, was die zwei Großmächte auf den Plan ruft. Andererseits sind Möbius und dessen Verfolger als Vertreter eines kleinlichen Kampfes um die politische Weltherrschaft schon lange unbewusst die Schachfiguren im Spiel einer göttlichen Bewegerinstanz geworden – der Irrenhausdirektorin Mathilde von Zahnd. Dürrenmatts stark von der Zeitgeschichte des Kalten Krieges geprägtes Drama stellt trotz seines Namens nicht die Wissenschaft Physik dar. Es geht zum einen vielmehr um die Gefahren des modernen, technischen Fortschritts – und vor allem deren Unberechenbarkeit – und zum anderen um die Entlarvung der Hybris eines Wissenschaftlers, der sich anmaßt, durch das eigene Schweigen eine wissenschaftliche Erkenntnis geheim halten zu können. Dürrenmatts Drama könnte somit auch Die Chemiker, oder – in heutiger Zeit – Die Molekularbiologen heißen. Die Physik als solche mit ihren Spezifika spielt keine entscheidende Rolle. Die angeschnittenen Theorien der Physik werden weder näher erläutert und in sinnvollen Zusammenhang gebracht, noch werden epistemologische Grundlagen dieser Wissenschaft demonstriert, etwa qua welcher Gedankengänge Möbius auf die so genannte Weltformel gekommen sei. Dennoch thematisiert das Drama ein Paradigma der Zeit innerhalb der Physikergemeinschaft in Deutschland: „Physiker sind keine Politiker und scheuen sich vor politischer Aktivität. Aber sie dürfen nicht als unpolitisch bezeichnet werden.“30 Unversehens und unschuldig sind die Physiker durch ihre Forschung und deren Ergebnisse zum Gegenstand der Weltpolitik geworden. Da sie sich für diese – sie sind ja keine Politiker – nicht interessieren, stehen sie diesem Umstand hilflos gegenüber. Möbius’ Weg ins selbst gewählte Exil der Irrenanstalt, um „Physiker, aber unschuldig“ zu bleiben, ist jedoch kein gangbarer. Dürrenmatts Stück sieht freilich überhaupt keine Hoffnung für einen sinnvollen Umgang mit den Physikern und deren Wissenschaft. Die Menschheit rast – laut Dürrenmatt – auf die selbst verschuldete Apokalypse zu.31 Die Physik und die daraus resultierenden technischen Möglichkeiten sind dieser Idee immanente Helfer des Untergangs.

Die Performance Physik 2002 brachte die Performance-Gruppe Hygiene Heute, bestehend aus Bernd Ernst und Stefan Kaegi, ihre Performance Physik auf die Bühne.32 Bis auf den Titel und die 21 Thesen zu Beginn der Performance – Dürrenmatt stellt

30 Physikalische Blätter 1968/9, 432. 31 Siehe Dürrenmatt 1955. 32 Uraufführung am 12. Dezember 2002 im Tanzquartier Wien. In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf eine Videoaufzeichnung dieser Aufführung.

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21 Thesen an den Schluss seines Dramas – erinnert in Physik zunächst nichts an Die Physiker: Die Bühne, auf der die beiden Akteure Karl Bruckschwaiger und Amadeus Kronheim während der Performance agieren, ist gegenüber dem Zuschauerraum nicht erhöht. Die beiden Akteure tragen moderne Alltagskleidung und bewegen sich zwischen verschiedenen technischen Apparaturen, welche sich dem physikalisch vorgebildeten Zuschauer als Versuchsaufbauten erweisen, auf den ersten Blick jedoch wenn nicht fremdartig, so doch zumindest ganz und gar nicht alltäglich wirken: Zu sehen sind etwa ein so genanntes Chaospendel und ein Frequenzgenerator.33 Die beiden Akteure Karl Bruckschwaiger und Amadeus Kronheim führen physikalische Experimente vor: Sie zeigen zum Beispiel den Katzenturner, welcher von einem Physiklehrer für die Performance gebaut wurde. An dieser mittels einer Fernbedienung gesteuerten Puppe lässt sich anhand der Bewegungen der Extremitäten und ihrer Auswirkung auf die gesamte Puppe die Drehimpulserhaltung erklären – was die beiden Performer jedoch nicht tun. Stattdessen führen sie eine Choreographie zum Lied Let’s Get Physical34 auf, in der zwar – wie bei fast jeder Körperbewegung – Impuls- und Drehimpulserhaltung eine Rolle spielen, dem Zuschauer aber nicht erklärt wird, welche hier wie greifen.35 Diesem Teil, der bisweilen an eine akademische Experimentalphysikvorlesung erinnert – Gegenstand der Experimente ist der Inhalt der Kursvorlesung Experimentalphysik 1, also Mechanik, Thermodynamik und Wellen –36 folgt das Verlesen historischer Fakten vor dem Chaospendel. Die Bewegungen dieses Chaospendels sind nur sehr schwer berechenbar und damit kaum vorhersehbar. Deswegen wird diese Apparatur oft eingesetzt, um die Grenzen der Physik zu demonstrieren.37 Amadeus Kronheim verliest Stationen aus der Karriere des historischen Physikers Jan-Hendrik Schön. Schön galt als großes Talent, veröffentlichte zeitweise im Wochenrhythmus bahnbrechende Erkenntnisse und wurde letztlich 2002 als Schwindler und Hochstapler entlarvt. Es folgte damals eine

33 Ein Frequenzgenerator ist eine technische Apparatur, die je nach Einstellung verschieden schnelle Schwingungen erzeugen kann, welche dann zum Beispiel als verschiedene Töne aus einem Lautsprecher kommen. 34 Zu hören ist die Originalversion des Lieds aus dem Jahr 1981, gesungen von Olivia Newton-John. 35 Das Gesetz der Impulserhaltung besagt, dass der Impuls, also das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit, eines Körpers immer gleich bleibt, wenn keine äußere Kraft wirkt. Wird etwa die Masse des Körpers kleiner, muss dessen Geschwindigkeit größer werden. Ebenso gilt bei Drehbewegungen – wie sie etwa ein tanzender Mensch ausführt – die Drehimpulserhaltung: Ändert sich die Massenverteilung, ändert sich die Geschwindigkeit der Drehung. Siehe etwa Tipler 2000, 244. 36 Vgl. Otten 1998. 37 Das Prinzip des so genannten Chaospendels ist die gekoppelte, anharmonische – im Gegensatz zur harmonischen – Schwingung. Es existiert in mehreren Ausführungen, wobei die einfachste aus zwei Winkeln besteht, die miteinander verbunden sind. Somit hat das Pendel einen festen und einen relativen, beweglichen Drehpunkt, was zu überraschenden Bewegungen des gesamten Aufbaus führt. Siehe etwa Otten 1998, 268.

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breite, öffentliche Debatte über die Redlichkeit naturwissenschaftlicher Forschung.38 Die in Choreographien ausartenden Experimente – meist musikalisch von Let’s Get Physical untermalt – wechseln sich während der ganzen Performance mit dem Verlesen der Geschichte Schöns und einem Interview mit einem Wiener Kernphysiker ab. Dieser erklärt auf Englisch, dass seine Arbeit an einem Teilchenbeschleuniger nichts mit Theater zu tun habe.

Vom Atomstück zur Performance Im Vergleich zum 1960er Jahre Atomstück Die Physiker hat die Physik in der gleichnamigen Performance eine gänzlich andere Rolle und Bedeutung: Schon Kulisse und Bühnenbild machen dem Zuschauer klar, dass hier eine Wissenschaft auf der Theaterbühne präsentiert wird – nicht etwa ein Wissenschaftler im Irrenhaus. Durch die ständige Präsenz von Versuchsapparaturen auf der Bühne gewinnt die Performance die Atmosphäre einer akademischen Experimentalphysikvorlesung. Das Interessante daran ist, dass im Normalfall die Mehrheit des Publikums noch keine akademische Physikvorlesung besucht hat. Deswegen sind die für Physiker alltäglichen Handlungen in den Augen der meisten Zuschauer überraschend neuartig. Natürlich fehlen im Vergleich zur akademischen Vorlesung die fachlichen Erklärungen für die gezeigten Phänomene – und dennoch zeigen die beiden Akteure hier tatsächlich handfeste Physik. Vergleicht man beide Stücke als zwei Ausgestaltungen des dritten Ortes der Vermittlung zwischen Physik und Öffentlichkeit im Hinblick auf die ausgetauschten Kulturgüter aus der Physik – im Sinne des oben erläuterten Modells –, zeigt sich Folgendes: Dürrenmatt bedient sich an der Physik zunächst in Form ihrer historischen Vertreter. Es gibt eine Newton- und eine Einstein-Figur sowie den Protagonisten Möbius, dessen Name auf einen historischen Mathematiker und Astronomen verweist. Weiterhin benutzt Dürrenmatt allerlei Schlagwörter verschiedener physikalischer Provenienz sowie den Komplex der Kernphysik und den Fluchtpunkt physikalischer Forschung, die Vereinigung der vier bekannten Naturkräfte. Die Auswahl ist zum einen von der Zeit der Dramenentstehung und zum andern vom Thema des Stückes geprägt. Alle physikalischen Elemente dienen der Unterstützung der Stückaussage, beziehungsweise der Illustrierung des Dilemmas eines modernen Wissenschaftlers. Darüber hinaus werden sie in keinerlei Zusammenhang gestellt oder näher erläutert. Was das Stück also seinem Publikum von der Wissenschaft Physik – über die zeitgeschichtliche Situation hinaus – vermittelt, ist relativ wenig. Hygiene Heute hingegen lassen das historische Personal der Physik weitgehend außen vor. Einziger Vertreter ist ein Physiker, der mehr durch seine Hochstapelei, denn durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse berühmt wurde. Das beherrschende Element in dieser Inszenierung der Physik ist das Experiment als Demonstration von Naturphänomenen. Auch wenn die jeweilige theoretisch mathematische Erklärung dieser Naturphänomene fehlt, ist die Demonstration von Experimenten doch eine ureigen physikalische Sache. 38 Siehe Evers 2002, 234 f.

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Das Experiment ist darüber hinaus das maßgebliche epistemologische Vorgehen, welches die Physik als empirische Wissenschaft, auch historisch im Sinne Bacons, ausmacht.39 Die Experimente werden zwar von den Akteuren auf der Theaterbühne mit Distanz vorgeführt, beziehungsweise vorgespielt, was sie kurios und exotisch erscheinen lässt. Trotz dieses exotistischen Umgangs handelt es sich jedoch um Experimente, wie sie bis heute im Rahmen der akademischen Physikerausbildung in Vorlesungssälen verwendet werden. Somit vermittelt die Performance ihrem Publikum mehr epistemologische Grundlagen der Wissenschaft Physik als Dürrenmatts Drama. Die Physik ist in der Performance von Hygiene Heute ein Kuriosum, das vor Publikum ausgestellt wird. Gleichzeitig fehlt ihr – anders als bei Dürrenmatt – die politische Dimension. Hygiene Heute stellt Physik in gewisser Weise demokratisiert dar: Sie ist nicht mehr in der Hand genialer Spezialisten, die in völliger Abgeschiedenheit forschen und sich dann aus Furcht vor der eigenen Erkenntnis noch mehr isolieren. In der Performance Physik kann scheinbar jeder Physik betreiben, verstehen und bewundern. Die Performancegruppe Rimini Protokoll, an der auch Stefan Kaegi von Hygiene Heute beteiligt ist, bedient sich für ihre Performances so genannter „Experten des Alltags“. Diese sprechen dann als Akteure sich selbst und über ihr Leben.40 Interessanterweise sind die beiden Akteure in Physik aber auch keine „Experten des Alltags“. Die Physik wird vollständig vom Physiker abgelöst, indem zwei Akteure ohne physikalische Ausbildung eine ursprünglich urphysikalische Sache tun: Experimente durchführen vor Publikum. Für die Theaterbühne bieten diese Experimente ungewohnte Möglichkeiten der Einbeziehung des Zuschauers: Zum einen ist die Unmittelbarkeit noch stärker als beim konventionellen Sprechtheater gegeben, da ein misslungenes Experiment eher auffällt, als eine vergessene Replik oder ein falscher Gang. Zum anderen verändern die Zuschauer, zwar passiv, aber dennoch maßgeblich, die Thermik im Raum, aufgrund derer am Ende der Performance ein Luftschiff über das Publikum schwebt. Gleichzeitig hat die Performance einen anachronistischen Zug: Wie die Elektrisierer um Volta und Lichtenberg im 18. Jahrhundert, die mittels verschiedener Versuchsaufbauten mehrere elektromagnetische Effekte erzeugten, aber nicht erklären konnten,41 spielen die beiden Akteure mit der Physik und begeistern sich und das Publikum für die sonderbaren Erscheinungen, die beim Spiel entstehen. Die Performance Physik holt somit zwar – zumindest auf der Theaterbühne – die Physik aus ihrer der Differenzierung und Spezialisierung geschuldeten Isolation heraus, geht dafür aber auch – was die Inhalte und die Form, diese zu präsentieren angeht – weit vor Dürrenmatts Zeit zurück. Die Unschuld – im Sinne der Auswirkung ihrer Forschungsergebnisse – erlangt die Physik auf der Bühne von Hygiene Heute also qua eines Rückgriffs auf einen Stand der Wissenschaft vor über 200 Jahren. 2002 kommt der Physik, angesichts des Endes des Kalten Krieges nicht mehr die Bedeutung zu, die ihr in den 1960er Jahren noch aufgrund der atomaren Bedrohung zukam. Natürlich dient die Grundlagenforschung auch 40 Jahre später noch unter anderem der Rüstungsindustrie. Aber der vorherrschende Aspekt der Physik, was 39 Vgl. Röd 1999. 40 Vgl. Dreysse 2004. 41 Siehe Physikalische Blätter 4/1968, 145; Heerde 2006.

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ihre massenmediale Darstellung betrifft, ist der Anspruch, den Ursprung des Universums zu klären. Auf der technischen Seite dominieren Bildgebungsverfahren für medizinische Anwendungen und Sicherheitssysteme für den Straßenverkehr.42 Schreiben die Autoren der Physikalischen Blätter 1968 noch über die Möglichkeiten verschiedener Raketensysteme und die Rüstungspolitik des Ostblocks, ist davon etwa in der Festschrift zum Jahr der Physik 2000 – Herausgeber ist ebenfalls die Deutsche Physikalische Gesellschaft – nichts mehr zu lesen. Bildungspolitisch ähneln sich die Äußerungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft jedoch: Damals wie heute gebe es zu wenige Studenten der Physik und damals wie heute sei dafür die geisteswissenschaftlich geprägte Bildungspolitik verantwortlich. Auch der Anspruch der Leitwissenschaft und damit der Anspruch auf große gesellschaftliche Bedeutung der Physik kommt in der Festschrift zum Ausdruck. Was den von den Massenmedien vermittelten, öffentlichen Diskurs um die Physik nach 2000 am meisten bestimmte, war – neben der Diskussion um die Finanzierung teurer Grundlagenforschung – der Hochstapler Jan Hendrik Schön:43 „Jan-Hendrik Schön verstehen, heißt die Physik als Finanzplatz verstehen“, lautet eine These zu Beginn der Performance von Hygiene Heute. Hygiene Heute thematisieren in ihrem Bühnenwerk – wie vor 40 Jahren Dürrenmatt – also das 2002 beherrschende Element des öffentlichen Diskurses um die Physik. An die Stelle des Wissenschaftlers mit Verantwortung für die Menschheit und moralischem Konflikt tritt allerdings der PhysikHochstapler als Narrenfigur einer Wissenschaft. Schön hat seine Erkenntnisse, die gar keine waren, offensiv an die fachwissenschaftliche Öffentlichkeit gebracht – wobei manche qua Vermittlung durch die Massenmedien sogar an eine noch breitere Öffentlichkeit gelangten. Die theatrale Darstellung der Physik hat sich somit in den letzten 40 Jahren nicht nur vom Atomstück zur Performance – mit allen Gattungsunterschieden zwischen beiden Theaterformen – gewandelt. Zwischen der Replik „Physiker, aber unschuldig“ der Figur Möbius und dem Tanz zweier Performer und Physik-Laien zu Let’s Get Physical liegt noch mehr: Die Physik wechselt von der starken Politisierung und Moralisierung der 1960er Jahre in Die Physiker zur performativen Banalisierung in Physik 2002. „Die Physik in unserer Zeit“ ist in der Performance nicht mehr mythisch verklärte, für die Machthungrigen verheißungsvolle Möglichkeit zum Bau potentiell apokalyptischer Waffen, sondern humorvoll auf der Theaterbühne präsentiertes Kuriosum.

Literatur Born, Max (1960): Physik und Politik. Stuttgart. Bührke, Thomas (2003): Sternstunden der Physik. Von Galilei bis Lise Meitner. München.

42 Vgl. Deutsche Physikalische Gesellschaft 2000. 43 Siehe Evers 2002, 234 f.

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Deutsche Physikalische Gesellschaft (Hg.) (2000): Physik. Themen, Bedeutung und Perspektiven physikalischer Forschung. Ein Bericht für Gesellschaft, Politik und Industrie. Bad Honnef. Dreysse, Miriam (2004): Spezialisten in eigener Sache. In: Forum Modernes Theater 19:1, S. 27-42. Dürrenmatt, Friedrich (1955): Theaterprobleme. Zürich. Dürrenmatt, Friedrich (1962): Die Physiker. Zürich. Evers, Marco/Gerald Traufetter (2002): Ikarus der Physik. In: Der Spiegel 41/2002, S. 234-235. Frayn, Michael (2005): Kopenhagen. Stück in zwei Akten. Göttingen. Fritzsch, Harald (1983): Quarks. Urstoff unserer Welt. München. Gamillscheg, Franz (1968): Hochschulmisere und studentische Mitbestimmung. In: Physikalische Blätter 4/1968, S. 213-217. Gerlach, Walther (1970): Zum Geleit. In: Physik in unserer Zeit 1:1, S. 1. Greenblatt, Stephen (1993): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt a.M. Heerde, Hans-Joachim (2006): Das Publikum der Physik: Lichtenbergs Hörer. Göttingen. Heisenberg, Werner (1927): Über den anschaulichen Inhalt der quantenmechanischen Kinematik. In: Zeitschrift für Physik 43:3-4, S. 172-198. Heisenberg, Werner (1983): Der Teil und das Ganze: Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München. Kaiser, Joachim (1962): Die Welt als Irrenhaus. In: Theater heute H. 4, S. 57. Kersten, Martin (1968): Wir Physiker müssen mehr in der Politik mitarbeiten! In: Physikalische Blätter 1/1968, S. 1-3. Kipphardt, Heinar (1964): In der Sache J. Robert Oppenheimer. Frankfurt a.M. Luck, Werner A. P. (1968): Die Verantwortung der Wissenschaftler. Von den Aufgaben der Gesellschaft für Verantwortung in der Wissenschaft. In: Physikalische Blätter 1/1968, S. 20-23. Otten, Ernst W. (1998): Repetitorium Experimentalphysik für Vordiplom und Zwischenprüfung. Berlin, Heidelberg. Röd, Wolfgang (1999): Die Philosophie der Neuzeit 1. Von Francis Bacon bis Spinoza. München (Geschichte der Philosophie. 7). Snow, Charles Percy (1967): Die zwei Kulturen: literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart. Stewart, Ian (1994): Möbius’ Vermächtnis. In: Fauvel, John/Raymond Flood/Robin Wilson (Hg.): Möbius und sein Band. Der Aufstieg von Mathematik und Astronomie im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Basel, Boston, Berlin, S. 153-204. Tipler, Paul A. (2000): Physik. Heidelberg, Berlin, Oxford. Weizsäcker, Carl Friedrich (1968): Die Wissenschaft als ethisches Problem. In: Physikalische Blätter 10/1968, S. 433-441. Wierlacher, Alois (Hg.) (1993): Kulturthema Fremdheit: Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München. Zuckmayer, Karl (1955): Das kalte Licht. Frankfurt a.M.

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Autorinnen und Autoren Michael Bachmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Politikwissenschaft promovierte er im Rahmen des Internationalen Promotionsprogramms Performance and Media Studies (Mainz) mit einer Arbeit zu Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah (Tübingen: Francke, 2009). Er hat Aufsätze u.a. zur Erinnerungspolitik im Theater, zu Jacques Derrida und zur Gattungsproblematik in Holocaust-Memoiren veröffentlicht. Emmanuel Béhague, geb. 1970, ist Dozent am Institut für Germanistik der Universität Straßburg. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum deutschsprachigen zeitgenössischen Theater und Drama, u.a. Le théâtre dans le réel. Formes d’un théâtre politique allemand après la réunification (19902000) bei den Presses Universitaires de Strasbourg. Derzeit konzentrieren sich seine Forschungsarbeiten auf das Verhältnis von Theater und kollektiver Identität am Beispiel verschiedener Regiearbeiten der 70er und 80er Jahre in der BRD. Michael Bopp hat an der Universität Mainz Deutsche Philologie, Publizistik sowie Theaterwissenschaft studiert. Parallel studierte er Physik, wo er 2004 die Diplomvorprüfung ablegte. Michael Bopp ist seit 2007 Doktorand bei Prof. Friedemann Kreuder am Mainzer Institut für Theaterwissenschaft, Mitglied des Internationalen Promotionskollegs Performance and Media Studies und Stipendiat der Landesgraduiertenförderung Rheinland-Pfalz. Sein Promotionsprojekt mit dem Titel „Theater als dritter Ort der Vermittlung zwischen Physik und Öffentlichkeit“ beschäftigt sich mit der Rolle und Darstellung der Physik in Bühnenwerken der letzten 100 Jahre. Klaus Dermutz, geb. 1960 in Judenburg (Österreich), Publizist und Theaterkritiker, von 2001-2009 gemeinsam mit dem Burgtheater-Direktor Klaus Bachler Herausgeber der "Edition Burgtheater", Buchpublikationen über die Theaterarbeit von Andrea Breth, Klaus Michael Grüber, Tadeusz Kantor, Christoph Marthaler, Otto Sander, Ignaz Kirchner und Martin Schwab, Gert Voss und Peter Zadek; außerdem Bücher zum "Burgtheater 1955-2005" und zur "Next Generation" des Burgtheaters. Sabine Haenni ist Professorin für Filmwissenschaft an der Cornell University in Ithaca, New York. Sie ist die Autorin von The Immigrant Scene: Ethnic Amusements in New York, 1880-1920 (University of Minnesota Press, 2008). Zusammen mit John White gibt sie Fifty Key American Films (Routledge, 2009) heraus. Zu ihren Forschungsgebieten zählen der Stummfilm, Populärund Massenkultur sowie Kino im Kontext anderer Medien. 283

Politik mit dem Körper

Joseph Jurt, geb. 1940 in Willisau (Schweiz). Studium der Romanistik und der Geschichte an der Universität Fribourg und an der Sorbonne. 1966 Promotion. Forschungsstipendium in Paris. 1978 Habilitation an der Universität Regensburg. 1981–2005 Professor für Französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. Mitbegründer und Vorsitzender des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg (1993-2000). Gastdozenturen an der Haute Ecole en Sciences Sociales (Paris), an der Sorbonne Nouvelle und an der Bundes-Universität Rio de Janeiro. Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates (1997-2000); Mitglied und dann Vizepräsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates (2000-2007). Letzte Veröffentlichungen: Absolute Pierre Bourdieu (2003, 2007), Bourdieu in der Reihe „Grundwissen Philosophie“ (2008). Als Herausgeber: Unterwegs zur Moderne (2004), Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah (2005), Champ littéraire et nation (2007). Friedemann Kreuder ist seit 2005 Professor und Institutsleiter der Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie Sprecher des dortigen Internationalen Promotionsprogramms Performance and Media Studies; nach dem Studium an der Universität Mainz wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin; 2001 Abschluss der Promotion zum Theater Klaus Michael Grübers (veröffentlicht im Alexander Verlag als Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers); 2005 Habilitation im Fach Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin (Habilitationsschrift: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts); weitere Publikationen zu Richard Wagner, zum Geistlichen Spiel, zum Theater des 18. Jahrhunderts und zum Gegenwartstheater. Alfred Krovoza ist außerplanmäßiger Professor und Hochschuldozent i.R. am Soziologischen Institut (Abteilung Sozialpsychologie) der LeibnizUniversität Hannover. Nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Psychologie und Germanistik Promotion und Habilitation (venia Sozialpsychologie) an der TU Hannover. Von 1993-2006 war er Mitherausgeber von Psyche, der Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Zu seinen zahlreichen Publikationen zählen u.a. Produktion und Sozialisation (1976) und Politische Psychologie: Ein Arbeitsfeld der Psychoanalyse (Hrsg., 1996). Patrice Pavis ist Professor an der University of Kent at Canterbury. Dr. h.c. der Universitäten London und Bratislava; Humboldtpreisträger (2008). Autor von Büchern über Theatertheorie und eines Dictionnaire du théâtre, das in 30 Sprachen übersetzt wurde. Letztes Buch: Le Théâtre contemporain (Armand Colin, 2007). Letztes Stück: Vania et elle (Universidad de Alcala, 2009). Auf Deutsch ist zuletzt Das französische Theater der Gegenwart: Textanalysen von Koltès bis Reza erschienen (epodium, 2008). Martin Puchner ist Professor für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University, New York, wo er auch das Promotionsprogramm in Theaterwissenschaft leitet. Er ist der Autor von Stage Fright: Modernism, Anti-Theatricality, and Drama (Johns Hopkins, 2002) und Poetry of the Revolution: Marx, Manifestos, and the Avant-Gardes (Princeton, 2006; ausgezeichnet mit dem James Russell Lowell Award der 284

Autorinnen und Autoren

MLA). Er ist der Mitherausgeber der Northon Anthology of Drama (2009) und Hauptherausgeber der dritten Auflage der Norton Anthology of World Literature (im Erscheinen). Sein neues Buch The Drama of Ideas: Platonic Provocations in Theater and Philosophy erscheint bei Oxford University Press. Karl N. Renner, Jg. 1949. Studium der Deutschen Literaturwissenschaft, Filmphilologie und Linguistik an der Universität München. 1981 Promotion mit einer Dissertation über den Medientransfer narrativer Strukturen bei Literaturverfilmungen. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770-1900 in München. Von 1985 bis 1995 Arbeit als Fernsehjournalist und als Autor von TV-Dokumentationen für den Bayerischen Rundfunk. Seit 1995 Professor für Fernsehjournalismus am Journalistischen Seminar der Universität Mainz. Mitglied der Faculty des IPP Performance and Media Studies. Arbeitsgebiete: Journalismus im Fernsehen; Zeichen- Kommunikations- und Medientheorie; Erzähltheorie. Constanze Schuler hat Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Kunstgeschichte an den Universitäten Mainz und Wien studiert. Von 1996-1998 war sie Mitarbeiterin in der Dramaturgie der Salzburger Festspiele, anschließend bis 2001 Dramaturgin an der Württembergischen Landesbühne Esslingen. Nach der Promotion im Rahmen des interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs Raum und Ritual an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, war sie seit 2005 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin des Promotionsprogramms Performance and Media Studies am Institut für Theaterwissenschaft in Mainz tätig. Im Frühjahr 2007 erschien die Dissertation unter dem Titel Der Altar als Bühne. Die Salzburger Kollegienkirche als Aufführungsort der Festspiele beim Francke Verlag. Seit 2007 ist Constanze Schuler Akademische Rätin am Institut für Theaterwissenschaft in Mainz. Sabine Sörgel promovierte im Rahmen des Promotionsprogramms Performance and Media Studies an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo sie bis 2008 am Institut für Theaterwissenschaft lehrte. Zu ihren Forschungsgebieten zählen postkoloniale Theorie, interkulturelle Konstruktionen von Körperlichkeit und Identität im zeitgenössischen Theater und Tanz. 2003 war sie Visiting Scholar an der University of the West Indies, Kingston, Jamaica. Ihr Buch Dancing Postcolonialism: The National Dance Theatre Company of Jamaica wurde 2007 beim Transcript Verlag veröffentlicht. Seit 2008 ist sie Lecturer in Drama, Theatre and Performance an der Universität Aberystwyth, Wales. Stefan Tigges, nach einer fünfjährigen Tätigkeit als DAAD-Lektor an den Universitäten Avignon u. Rouen (Frankreich) Lehraufträge am Institut für Theaterwissenschaft an der Ruhruniversität Bochum, der Johannes GutenbergUniversität Mainz sowie der Universität Wien. Mitglied in der internationalen Forschungsgruppe CR2A. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: zeitgenössische Theater- und Performanceästhetiken, Aufführungsanalyse, deutschsprachige Gegenwartsdramatik. Aktuelles Forschungsvorhaben (im Rahmen eines DFGProjektes an der Universität Bochum): Theater als Raumkunst. Die Spiel- und 285

Politik mit dem Körper

Kunsträume von Jürgen Gosch und Johannes Schütz. Publikationen u.a.: Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung (Transcript, 2009) u. als Herausgeber: Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater (Transcript, 2008). Dorothea Volz ist seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Geschichte in Mainz und Paris, arbeitete u.a. für die Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz und betreute als Produktionsleiterin mehrere szenische Projekte. Seit 2009 promoviert sie im Rahmen des Internationalen Promotionsprogramms Performance and Media Studies mit einer Arbeit zur Inszenierung europäischer Identitätsbilder im historischen Wandel. Matthias Warstat ist seit 2008 Professor für Theater- und Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Theaterwissenschaft und Neueren Geschichte an der FU Berlin. 2002 Promotion im DFG-Schwerpunktprogramm Theatralität (Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33). 2007 Habilitation an der FU Berlin (Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters). Mitglied der Jungen Akademie bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen zu den Themen: Theorien des Ästhetischen, Theatralität der Politik, Theater und Fest/Ritual, Theatergeschichte der Moderne. Philippe Wellnitz hat in Münster, Bordeaux, Toulouse und Basel Germanistik studiert. Er ist agrégé d’allemand und Docteur ès lettres mit einer Arbeit über Satire und Groteske in Friedrich Dürrenmatts Dramen; Habilitation zu Botho Strauss' frühem Theater. Er lehrt zur Zeit deutsche Literatur an der Universität Paul Valéry in Montpellier. In Strasbourg, wo er bis 1999 an der Universität deutsche Literatur und an der Ecole Nationale d’Administration internationale Beziehungen unterrichtet hat, leitet er die Buchreihe Helvetica, die sich mit Schweizer Kultur befasst. Er hat Sammelbände zu Max Frisch, Franz Kafka, Günter Grass, Thomas Mann sowie zur Schweiz und über die Satire herausgebracht; seine Artikel beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem Theater und der Schweizer Kultur. Martin Zenck, geb. in St. Peter (Freiburg); nach dem Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und neueren deutschen Literaturwissenschaft in Freiburg und Berlin Promotion und Habilitation bei Carl Dahlhaus an der TU Berlin, seit 1989 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bamberg, seit 2006 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Würzburg mit den Schwerpunkten Gegenwartsmusik, Ästhetik und Medien. Teilnahme am DFG-Schwerpunktprogramm Theatralität (1996-2002), dann Durchführung und Herausgabe der Kongressberichte: Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien (Berlin 2007), Signatur und Phantastik in den schönen Künsten und Kulturwissenschaften der frühen Neuzeit (München 2008), Verstehensbegriffe in den Kulturwissenschaften (München 2009) und Theorie der Passage (Saarbrücken 2009). Gegenwärtig 286

Autorinnen und Autoren

Schwerpunkt auf den Forschungsgebieten Intermedialität, Performativität, Intuition und Handhabung. Er arbeitet an einem Buch über Pierre Boulez und das Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Seit mehr als 15 Jahren ist er Mitglied und Vizevorsitzender des Beirats „Musik“ im Goethe-Institut in München.

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Abbildungen

S. 45-47

Filmstills aus Les Renaud Barrault, bâtisseurs de théâtre (Gérard Bonal und Jacques Tréfouël, 1999)

S. 81

Archiv Marcel Bugiel

S. 104-119

Filmstills aus Der Polizeistaatsbesuch (Regie: Roman Brodmann, 1967)

S. 126-129

Archiv Ruth Waltz

S. 177

Filmstill aus Sommergäste (Regie: Peter Stein, 1976)

S. 212

Filmstill aus Bonny and Clyde (Regie: Arthur Penn, 1967)

S. 215

Filmstill aus Die Fälschung (Regie: Volker Schlöndorff, 1981)

S. 217-218

Filmstills aus The Long Goodbye (Regie: Robert Altman, 1973)

S. 255-257

Archiv Johannes Schütz

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Theater Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Januar 2010, ca. 434 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität Oktober 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Februar 2010, ca. 236 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-10-29 12-04-13 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 031b224715072078|(S.

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3) ANZ1223.p 224715072086

Theater Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens März 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten März 2010, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung Juli 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7

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3) ANZ1223.p 224715072086

Theater Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-338-9

Gabi dan Droste (Hg.) Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit Mai 2009, 260 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1180-9

Christine Regus Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ästhetik – Politik – Postkolonialismus 2008, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1055-0

Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater 2006, 446 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-461-4

Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater 2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-853-7

Julia Glesner Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert 2005, 386 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-389-1

Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899) 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-596-3

Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN 978-3-89942-909-1

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