Plotin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung 347605974X, 9783476059741

Plotin ist der Begründer des Neuplatonismus. Seine Interpretation des Platonismus als eines konsequenten Denkens der Tra

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Plotin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung
 347605974X, 9783476059741

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Zitierweise, Übersetzungen, Transliteration, Abkürzungen
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Teil I Leben
1 Zur Biographie Plotins
1.1 Der historische Rahmen
1.2 Die Vita Plotini des Porphyrios
1.2.1 Die Vita Plotini als Biographie
1.2.2 Die Vita Plotini und die Schriften Plotins
1.2.3 Die Vita Plotini unter literarischen Aspekten
Literatur
Teil II Das Werk
2 Die Philosophenschule als Entstehungshorizont der Schriften
2.1 Schulgründung
2.2 Esoterik und Schultätigkeit mit Blick auf Ammonios
2.3 Der Lehrbetrieb als Ort der Schriften Plotins
Literatur
3 Die Enneaden-Ausgabe
3.1 Porphyrios als Herausgeber Plotins
3.2 Datierung der Sammlung
3.3 Titel und Enneaden-Ordnung
3.4 Chronologie der Schriften
3.5 Amelios
3.6 Plotins Schriften in der Enneaden-Anordnung
Literatur
4 Textsorten, Argumentationsformen, literarische Machart
4.1 Plotins Texte und ihre Funktion
4.2 Qualität der Schriften
4.3 Die Gattungen der Schriften
4.4 Schriften und Unterricht
4.5 Literarisierung und Argument
4.6 Rhetorik und Argument
4.7 Methodische Konvergenzen mit dem Unterricht
Literatur
5 Plotins einzelne Schriften
Textausgaben
6 Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick
6.1 Das System der drei Hypostasen
6.2 Die Seele
6.3 Der Geist und das Sein
6.3.1 Das Denken des Geistes
6.3.2 Der Geist als Ursache der sinnlich wahrnehmbaren Welt
6.4 Das Eine und das Gute
6.4.1 Das Eine als Prinzip und die negative Theologie
6.4.2 Das Gute als Ziel
6.4.3 Warum ist überhaupt etwas außer dem Einen?
6.5 Die Einswerdung und das Selbst
Literatur
Teil III Traditionen und Kontexte
7 Plotin als Exeget
7.1 Plotins Selbstverständnis als Exeget Platons
7.2 Die Kriterien der Exegese
7.3 Die exegetische Praxis
Literatur
8 Die Vorsokratiker
8.1 Vorplatoniker in den Enneaden: Ein Überblick
8.2 Quellen und Quellenbenutzung
Literatur
9 Platon
9.1 Einleitung: Die exegetische Konstruktion eines Platonbildes
9.2 Platon und die metaphysische Struktur der Wirklichkeit
9.2.1 Die drei Prinzipien
9.2.2 Ethik und Dialektik
9.2.3 Kosmologie
9.3 Platon-Exegese zur Abwehr der Kritik des Aristoteles
9.3.1 Der Sophistes und die Struktur des Geistes
9.3.2 Parmenides, Timaios und die Kausalität der Formen
9.4 Die Seele: Innere Struktur und Selbstbewegung
9.5 Die Konstruktion einer platonischen Identität
9.6 Ein Zeugnis für Plotins mündliche Platonerklärung?
Literatur
10 Die Alte Akademie
10.1 Aristoteles über Speusipps und Xenokratesʼ Metaphysik
10.2 Speusipp und Xenokrates als Mittler in einem vermuteten Traditionszusammenhang von Platon bis Plotin
10.3 Henologie
10.4 Noologie
Fragmentsammlungen
11 Aristoteles und der Aristotelismus
11.1 Texte und Lehrtätigkeit
11.2 Potenz und Akt (dynamis/energeia)
11.3 Geist
11.4 Seele
11.5 Kategorien
11.6 Körper und Materie
11.7 Ethik
Literatur
12 Hellenistische Philosophie: Stoa, Epikureismus, Skeptizismus
12.1 Plotin und die hellenistischen philosophischen Schulen
12.2 Stoizismus
12.2.1 Logik und Erkenntnistheorie
12.2.2 Physik (einschließlich ontologischer Fragen)
12.2.3 Seelenlehre
12.2.4 Ethik
12.3 Epikureismus
12.3.1 Erkenntnistheorie
12.3.2 Physik
12.3.3 Ethik
12.4 Skeptizismus
Literatur
13 Der Mittelplatonismus
13.1 Plotin und die mittelplatonische Tradition
13.2 Mittelplatonische Prinzipienlehre und Theologie
13.3 Mittelplatonische Ontologie und Kosmologie
13.4 Mittelplatonische Ethik
Literatur
14 Platonisierende Strömungen außerhalb der Schulen
14.1 Philon von Alexandria
14.2 Der Hermetismus
14.3 Das Christentum
14.4 Die Gnosis
Literatur
Teil IV Themen
15 Aufstieg
15.1 Der Aufstieg vom Sinnlichen zum Geistigen
15.2 Der Aufstieg der Seele zu sich selbst
15.3 Die Methode des Aufstiegs
Literatur
16 Bewusstsein
16.1 Die vier verschiedenen Bewusstseinsbegriffe
16.2 Bewusstsein in der menschlichen Seele
16.3 Bewusstsein und Weltseele
16.4 Bewusstsein und Geist
16.5 Hat das Eine ein Bewusstsein?
Literatur
17 Bild, Abbild
17.1 Grundlagen
17.2 Das Vokabular der Abbildung
17.3 Der Geist als Abbild des Einen
17.4 Die Seele als Abbild des Geistes
17.5 Geistige und sinnliche Welt
Literatur
18 Einheit und Vielheit
18.1 Die Grundzüge von Plotins Henologie
18.2 Negative Theologie: Sprechen über das Eine
18.3 Denken des Einen?
18.4 Quellen und Probleme
Literatur
19 Erinnerung und Vorstellung
19.1 Erinnerung und Vorstellung als Seelenvermögen
19.2 Erinnerung und Vorstellung zwischen Wahrnehmung und Denken
19.3 Erinnerung, Zeitlichkeit und Erinnerung nach dem Tod
Literatur
20 Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Denken
20.1 Erkenntnis
20.2 Denken
20.3 Selbsterkenntnis
Literatur
21 Freiheit
21.1 ‚Freiheit‘ vor Plotin
21.2 ‚Freiheit‘ in Plotins Schriften
21.2.1 IV 8 [6]; V 1 [10]: Der Abstieg der Seele
21.2.2 III 1 [3]: Schicksal
21.2.3 III 2–3 [47–48]: Vorsehung
21.2.4 VI 8 [39]: Göttliche und menschliche Freiheit
Literatur
22 Geist
22.1 Die Abkunft des Geistes vom Einen-Guten und der Geist als ‚Gott‘
22.2 Der Geist als Einfachheit und Vielheit
22.3 Identität von Denken und Sein
22.4 Der Geist als intelligible Welt
22.5 Der Geist als das ‚wahre Selbst‘
Literatur
23 Glück (Eudaimonie)
23.1 Das Glück des Weisen: die Angleichung an den Geist
23.2 Glück und Zeit
Literatur
24 Gott, Götter, Dämonen
24.1 Götter und Gottesbegriff Plotins
24.2 Göttliche Kausalität
24.3 Das Eine (Gott)
24.3.1 Negative Theologie des Einen
24.3.2 ‚Positive ‘ Theologie des Einen
24.4 Der Kosmos als Gott
24.5 Dämonen
Literatur
25 Gut
25.1 Die Gleichsetzung des Guten (agathon) mit dem Einen (hen)
25.2 In welchem Sinn ist das erste Prinzip gut?
25.3 Konstitution des Seins durch das Gute
25.4 Der Aufstieg zum Guten
25.5 Axiologie: Güter als Konstituentien des Glücks
Literatur
26 Ideen
26.1 Die Bedeutung der Ideen in Plotins Philosophie
26.2 Die Ideen als Vorbilder der Sinnenwelt
26.3 Die Ideen und die Möglichkeit des Wissens
26.4 Die Ideen und die Bestimmung des Menschen
26.5 Die Ideen im plotinischen Modell der Wirklichkeit
Literatur
27 Individualität
27.1 Die Tradition vor Plotin
27.2 Ideen von Individuen bei Plotin
27.3 Individualideen und Seelenaufstieg
27.4 Individualideen und empirische Individualität
Literatur
28 Kategorien
28.1 Plotins ontologische Auffassung der Kategorien
28.2 Die Untersuchung der peripatetischen und stoischen Kategorienlehre
28.3 Die platonischen „größten Gattungen“ als wahre Gattungen des Seienden
28.4 Plotins Kategorien der sinnlich wahrnehmbaren Welt
28.5 Plotin im Rahmen der antiken Kategorien-Kommentierung
Literatur
29 Kausalität
29.1 Kausalität der Formen und des Geistes
29.2 Kausalität des Einen
29.3 Kausalität der Seele
29.4 Kausalität, geistige Tätigkeit und Kontemplation
Literatur
30 Kontemplation
30.1 Die Kontemplation und das Eine
30.2 Natur, Seele und Kontemplation
30.3 Die Kontemplation des Geistes
30.4 Plotins Originalität
Literatur
31 Kosmos
31.1 Die Ewigkeit des Kosmos
31.2 Die Weltseele
31.3 Die Himmelsbewegung
Literatur
32 Licht
32.1 Die ursprüngliche Lichtquelle
32.2 Das Licht als die Wahrheit der intelligiblen Welt
32.3 Der absolute Urgrund der Wahrheit des intelligiblen Wesens
Literatur
33 Liebe (Eros)
33.1 Die sinnliche Liebe
33.2 Die Erotik des Aufstiegs zum Schönen, Guten und Einen
33.3 Eros als Gott und Daimon
33.4 Das Gute als Liebe zu sich selbst
33.5 Schluss
Literatur
34 Materie
34.1 Definitionslosigkeit und Funktion
34.2 Die ‚zwei Materien‘
34.3 Ist die Materie das Böse?
34.4 Die materielle Welt
Literatur
35 Mensch
35.1 Zweiteilung des Menschen
35.2 Individualität
35.3 Freiheit und Eudaimonie
35.4 Mensch und Tier
Literatur
36 Mystik
36.1 Die absolute Transzendenz und Unsagbarkeit des Prinzips
36.2 Die Selbstaufhebung des Denkens in Richtung der Vereinigung mit dem Einen
36.3 Die mystische Erfahrung der Vereinigung mit dem Einen-Guten als Ekstasis und Überwindung des Selbst
Literatur
37 Natur
37.1 Natur als schaffende Seele
37.2 Das natürliche Schaffen
37.3 Natur und Körper
Literatur
38 Nichtsein
38.1 Das Nichtsein des Einen
38.2 Die intelligible Andersheit
38.3 Das Nichtsein des Sinnlichen
38.4 Das Nichtsein der Akzidenzien
38.5 Das Nichtsein der Materie
Literatur
39 Schönheit, Kunst
39.1 Schönes/Schönheit vor Plotin
39.2 Schönes und Schönheit bei Plotin
39.2.1 Die Stellung der Schönheit in Plotins Ontologie (‚Naturschönes‘)
39.2.2 Schönheit und Kunst (‚Kunstschönes‘)
39.3 Nachwirkung
Literatur
40 Seele
40.1 Die Seele in der geistigen Welt
40.2 Die Seele im Verhältnis zur Körperwelt
40.3 Die Vermögen der Seele
40.4 Plotins Seelenlehre im philosophiehistorischen Kontext
Literatur
41 Sein
41.1 Das Sein und das Eine
41.2 Das Sein und der Geist
41.3 Sensibles und intelligibles Sein
41.4 Das intelligible Sein: einige Grundzüge
41.5 Ausblick auf die Entwicklung nach Plotin
Literatur
42 Selbst
42.1 Plotins ‚Theorie des Selbst‘ in der Forschung
42.2 Plotins Terminologie
42.3 Eine Theorie des Selbst bei Plotin?
Literatur
43 Sprache
43.1 Zur Bestimmung sprachlicher Äußerungen
43.2 Sprache als Kommunikationsmittel
43.3 Sprachliche Äußerungen als Abbilder innerseelischer logoi
43.4 Sprachliche Äußerungen als Dolmetscher des Geistes
43.5 Die Defizienz sprachlicher Äußerungen im Verhältnis zum Geist
43.6 Die Defizienz sprachlicher Äußerungen im Verhältnis zum Einen
Literatur
44 Transzendenz und Teilhabe
44.1 Transzendenz
44.2 Teilhabe
44.2.1 Teilhabe der Körper am Unkörperlichen
44.2.2 Teilhabe geistiger Prinzipien untereinander
Literatur
45 Tugend
45.1 Natürliche Tugenden
45.2 Politische Tugenden
45.3 Die höheren Tugenden
45.4 Forschungsfragen
Literatur
46 Übel
46.1 Begriffliches
46.2 Die Ausgangslage für das philosophische Problem
46.3 Die Materie und das Problem der Undefinierbarkeit
46.4 Mögliche Antworten
46.4.1 Die ‚absolutive‘ Variante: Privation als nomen acti
46.4.2 Die ‚ergative‘ Variante: Privation als nomen actionis
46.4.3 Fazit
46.5 Die physischen und moralischen Übel
Literatur
47 Unendlichkeit
47.1 Die negative Unendlichkeit
47.1.1 Unendliche Teilbarkeit der Körper und unendliche Addierbarkeit der Zahl
47.1.2 Die Materie als das primäre Unbegrenzte in der Erscheinungswelt
47.1.3 Das primäre Unbegrenzte in der Geisteswelt
47.2 Die positive Unendlichkeit
47.2.1 Das geistige Sein
47.2.2 Das Eine
Literatur
48 Vorsehung und Schicksal
48.1 Vorsehung
48.1.1 Plotins Definition der Vorsehung
48.1.2 Die Wirkung der Vorsehung
48.1.3 Widerlegung von Einwänden
48.2 Schicksal
Literatur
49 Wahrnehmung
49.1 Wahrnehmung als Urteil
49.2 Einzelsinne
49.3 Einheit der Wahrnehmung
49.4 Repräsentationsfähigkeit (phantasia)
49.5 Inhalt der Wahrnehmung
Literatur
50 Zeit und Ewigkeit
50.1 Die Enneade III 7 [45] in ihrem Kontext
50.2 Die Enneade III 7 als Fortsetzung einer Kategorienlehre
50.3 Plotin über die Ewigkeit (III 7,2–6)
50.4 Plotin über die Zeit (III 7,7–13)
50.5 Plotinische und nachplotinische Ausblicke
Literatur
Teil V Wirkung 1: Antike und Mittelalter
51 Der Neuplatonismus der Spätantike
51.1 Die Hypostasen
51.2 Die kategoriale Analyse der Sinneswelt
51.3 Die Materie und das Böse
51.4 Intelligible Materie
51.5 Die Seele
Literatur
52 Griechische frühchristliche Autoren
52.1 Eusebios von Caesarea
52.2 Areios und Eunomios
52.3 Basileios von Caesarea
52.4 Gregor von Nazianz
52.5 Gregor von Nyssa
52.6 Evagrios von Pontos
52.7 Synesios von Kyrene
52.8 Nemesios von Emesa
52.9 Kyrill von Alexandria
52.10 Theodoret von Kyrrhos
52.11 Ps.-Dionysios Areopagites
52.12 Johannes Philoponos
52.13 Die für Plotin charakteristischen Gedanken
Literatur
53 Lateinische frühchristliche Autoren
53.1 Marius Victorinus (gest. nach 363 n. Chr.)
53.2 Ambrosius von Mailand (339–397 n. Chr.)
53.3 Augustin von Hippo
53.3.1 Gott als geistiges Sein
53.3.2 Die Privationstheorie des Bösen
53.3.3 Der unhintergehbare Transzendenzbezug der Seele
53.3.4 Gottes Einwirken auf den Kosmos und Erkenntnislehre
53.4 Lateinische christliche Literatur bis Boethius
Literatur
54 Plotin in arabischer Übersetzung
54.1 Die arabische Adaptation
54.2 Philosophische Themen in der adaptiven Übersetzung
54.3 Plotins Einfluss auf die Philosophie in der islamischen Welt
Literatur
55 Jüdische mittelalterliche Religionsphilosophie
55.1 Isaak ben Salomon Israeli (um 855–um 955)
55.2 Moses Maimonides (um 1135–1204)
55.3 Solomon ibn Gabirol (um 1021–um 1058)
Literatur
56 Byzanz
56.1 Einleitung
56.2 Vom 5. bis zum 10. Jahrhundert
56.3 Das 11. Jahrhundert: Michael Psellos und Johannes Italos
56.4 12. und 13. Jahrhundert: Von Michael von Ephesos über Nikolaos von Methone bis zu Nikephoros Chumnos
56.5 Das 14. und 15. Jahrhundert: Palamas, Plethon und andere
56.6 Zusammenfassung: Plotin in Byzanz
Quellen
57 Lateinisches Mittelalter
57.1 Bedingungen und Quellen mittelalterlicher Plotin-Rezeption
57.2 Peter Abaelard (1079–1142) und Ps.-Alexander von Hales
57.3 Albertus Magnus (1193–1280)
57.4 Thomas von Aquin (1225–1274)
Quellen
Teil VI Wirkung 2: Renaissance und Frühe Neuzeit
58 Marsilio Ficino
58.1 Ficinus Platonicus
58.2 Ein grundlegender Konflikt
58.3 Plotinischer Einfluss im Denken Ficinos
Quellen
59 Denker der Frühen Neuzeit bis zu den Cambridge Platonists
59.1 Traditionen und Wege der frühneuzeitlichen Plotin-Rezeption
59.2 Naturphilosophie in der Tradition Ficinos: Bruno und Campanella
59.2.1 Giordano Bruno (1548–1600)
59.2.2 Tommaso Campanella (1568–1639)
59.3 Plotin-Rezeption nach Ficino: Die Cambridge Platonists
59.3.1 Henry More (1614–1687)
59.3.2 Ralph Cudworth (1617–1688)
Quellen
Teil VII Wirkung 3: Deutscher Idealismus
60 F.W.J. Schelling
60.1 Schellings Plotin-Kenntnis
60.2 Übereinstimmungen mit Plotin in Schellings Denken
60.2.1 Das Absolute
60.2.2 Die Selbstkonstitution Gottes bzw. des Geistes
60.2.3 Die Freiheit des Absoluten
Literatur
61 G.W.F. Hegel
61.1 Frühe Kontakte mit neuplatonischem Gedankengut
61.2 Der Geist des Christentums (1800)
61.3 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (seit 1805)
61.3.1 Das Selbstdenken des Geistes und der triadische Geistbegriff
61.3.2 Das Eine und seine Identifikation mit dem reinen Sein
Literatur
Teil VIII Wirkung 4: 19. und 20. Jahrhundert
62 Henri Bergson
62.1 Bergson und die griechische „Philosophie der Ideen“
62.2 Bergsons individualpsychologische Plotin-Deutung
62.3 Philosophie als Überwindung der condition humaine
Literatur
63 Ikonologie (Erwin Panofsky, Edgar Wind)
Literatur
64 Edmund Husserl
64.1 Husserls Kenntnis und Beurteilung des Neuplatonismus
64.2 Husserl und Plotin über das Absolute
Literatur
65 Martin Heidegger
65.1 Heideggers Plotin-Kenntnisse
65.2 Heidegger und die negative Theologie
65.3 Heideggers Geringschätzung des Neuplatonismus
Literatur
66 Karl Jaspers
66.1 Metaphysik und Transzendenz
66.2 Transzendenz und Existenz
Literatur
67 Emmanuel Levinas
67.1 Transzendenz als Alterität im Denken von Emmanuel Levinas
67.2 Ausdrückliche Bezugnahmen auf Plotin
67.3 Forschungsfragen
Literatur
68 Jacques Derrida und Jean-Luc Marion
68.1 Derrida
68.2 Marion
Literatur
69 Plotin und die moderne Literatur
69.1 Rezeptionssystematische Vorbemerkung
69.2 Historische Kontexte der Plotin-Rezeption
69.3 Rezeption Plotins in der modernen Literatur
69.3.1 Weimarer Klassik und deutsche Romantik
69.3.2 Englische Romantik
69.3.3 Zweifache Distanz: Synkretismus und Popularisierung
69.3.4 Italienische und französische Romantik
69.3.5 Amerikanischer Transzendentalismus
69.3.6 Reaktionäre Moderne
69.3.7 Autoren des Oxforder ‚Inklings‘-Kreises
69.3.8 Beat-Literatur
69.3.9 Spätmoderne: USA, Argentinien, Deutschland
Literatur
Personenregister
Sachregister

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Christian Tornau (Hg.)

Plotin Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Plotin-Handbuch

Christian Tornau (Hrsg.)

Plotin-Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Hrsg. Christian Tornau Institut für Klassische Philologie Julius-Maximilians-Universität Würzburg Würzburg, Deutschland

ISBN 978-3-476-05974-1 ISBN 978-3-476-05975-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Titelbild: ‚Plotin von Ostia‘ (Marmorkopf aus dem 3. Jh. n. Chr.) © picture-alliance/Leemage Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Zitierweise, Übersetzungen, Transliteration, Abkürzungen . . . . . . . XV Plotins Schriften: Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX Herausgeber, Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI Teil I  Leben 1

Zur Biographie Plotins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmgard Männlein-Robert

3

Teil II  Das Werk 2

Die Philosophenschule als Entstehungshorizont der Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Erler

3 Die Enneaden-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Erler 4

Textsorten, Argumentationsformen, literarische Machart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Erler

15 21

27

5

Plotins einzelne Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Tornau

37

6

Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick . . . . . . . . . Christian Tornau

71

Teil III  Traditionen und Kontexte 7

Plotin als Exeget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filip Karfík

91

V

VI

8

Inhaltsverzeichnis

Die Vorsokratiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Giulia Guidara

97

9 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Alexandra Michalewski 10 Die Alte Akademie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Benedikt Strobel 11 Aristoteles und der Aristotelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Riccardo Chiaradonna 12 Hellenistische Philosophie: Stoa, Epikureismus, Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 László Bene 13 Der Mittelplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Franco Ferrari 14 Platonisierende Strömungen außerhalb der Schulen . . . . . . . 163 George Karamanolis Teil IV  Themen 15 Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Euree Song 16 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Alexandrine Schniewind 17 Bild, Abbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Sui Han 18 Einheit und Vielheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Christoph Horn 19 Erinnerung und Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Michael Schramm 20 Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Péter Lautner 21 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Benedikt Krämer 22 Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Thomas Leinkauf 23 Glück (Eudaimonie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Alexandrine Schniewind 24 Gott, Götter, Dämonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Benedikt Krämer 25 Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Christoph Horn

Inhaltsverzeichnis

VII

26 Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 László Bene 27 Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Franco Ferrari 28 Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Damian Caluori 29 Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 George Karamanolis 30 Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Salvatore Lavecchia 31 Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 James Wilberding 32 Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Michele Abbate 33 Liebe (Eros) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Wiebke-Marie Stock 34 Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Christian Schäfer 35 Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Michael Schramm 36 Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Michele Abbate 37 Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Euree Song 38 Nichtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Sui Han 39 Schönheit, Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Christian Pietsch 40 Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Damian Caluori 41 Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Thomas Leinkauf 42 Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Wiebke-Marie Stock 43 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Benedikt Strobel 44 Transzendenz und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Filip Karfík

VIII

45 Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 James Wilberding 46 Übel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Christian Schäfer 47 Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Sui Han 48 Vorsehung und Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Christian Pietsch 49 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Péter Lautner 50 Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Gheorghe Paşcalău Teil V  Wirkung 1: Antike und Mittelalter 51 Der Neuplatonismus der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Mareike Hauer und Jan Opsomer 52 Griechische frühchristliche Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Lenka Karfíková 53 Lateinische frühchristliche Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Volker Henning Drecoll 54 Plotin in arabischer Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Peter Adamson 55 Jüdische mittelalterliche Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . 507 Ze’ev Strauss 56 Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Denis Walter 57 Lateinisches Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Aurelia Maruggi und Matthias Perkams Teil VI  Wirkung 2: Renaissance und Frühe Neuzeit 58 Marsilio Ficino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Fosca Mariani Zini 59 Denker der Frühen Neuzeit bis zu den Cambridge Platonists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Riccardo Chiaradonna Teil VII  Wirkung 3: Deutscher Idealismus 60 F.W.J. Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Tobias Dangel

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

IX

61 G.W.F. Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Tobias Dangel Teil VIII  Wirkung 4: 19. und 20. Jahrhundert 62 Henri Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Michel Narcy 63 Ikonologie (Erwin Panofsky, Edgar Wind) . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Thomas Arnold 64 Edmund Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Thomas Arnold 65 Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Rico Gutschmidt 66 Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Tolga Ratzsch 67 Emmanuel Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Thomas Arnold und Hai Linh Ngo 68 Jacques Derrida und Jean-Luc Marion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Martina Roesner 69 Plotin und die moderne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Daniel-Pascal Zorn Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639

Vorwort

Plotin (griechische Namensform: Plotinos) begründete im 3. Jahrhundert n. Chr. gleichsam wider Willen eine neue philosophische Richtung, für die die Philosophiegeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts den Namen ‚Neuplatonismus‘ geprägt hat. Er selbst verstand sich schlicht als ‚Platoniker‘, d. h. als Nachfolger und Ausleger der Philosophie Platons, dessen Aufgabe darin besteht, die in Platons Dialogen niedergelegten Einsichten zu explizieren und denkerisch einzuholen. Text- und Sachbezug bilden in diesem Philosophieverständnis eine Einheit: Da Platon nach neuplatonischer Überzeugung die Wahrheit bereits erkannt hat, ist das Bemühen um das angemessene Verständnis seiner Texte von dem Streben nach eigener Wahrheitserkenntnis nicht zu trennen. Ein so verstandener Platonismus bietet offenkundig beträchtlichen Raum für Originalität; in diesem Sinne ist Plotins Werk paradigmatisch für das innovative Potential einer sich als Exegese begreifenden Philosophie. Während Plotin im 19. und 20. Jahrhundert lange im Schatten seiner klassischen und hellenistischen Vorgänger stand, hat die philosophische und philosophiehistorische Forschung etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder größeres Interesse an seinem Denken entwickelt. Die Grundintentionen seiner Philosophie – der Versuch einer denkerischen und sprachlichen Annäherung an das undenkbare und unsagbare Transzendente, das Bemühen, das Wesen des Menschen von seinem Transzendenzbezug her zu begreifen, und die metaphysische und sprachphilosophische Reflexion der Möglichen und Grenzen dieses Bemühens – werden heute vermehrt als legitime philosophische Anliegen betrachtet, die auch aus gegenwärtiger Perspektive die Auseinandersetzung lohnen; zugleich hat ein gewachsenes Verständnis für textorientiert-exegetische Formen des Philosophierens den Sinn für Plotins philosophische Originalität gefördert. Diese Entwicklungen haben seit den 1980er Jahren zu einer dynamischen internationalen Forschungsaktivität geführt, deren Ergebnis ein reicher und ständig wachsender Bestand an Plotin und seinem Werk gewidmeten Monographien, Sammelbänden, Aufsätzen und Kommentaren ist. Dabei treten neben das vor ca. 50 Jahren noch dominierende philosophiehistorisch-philologische XI

XII

I­ nteresse, das Plotin in erster Linie von der ihn prägenden griechisch-antiken Tradition her begriff, neuerdings zunehmend philosophisch-systematische Studien, deren Ausgangspunkt Fragerichtungen der Gegenwartsphilosophie wie die nach Subjektivität, Bewusstsein oder dem Verhältnis von Sprache und Denken sind. Dieser Trend, der die Forschung zu Platon, Aristoteles und den hellenistischen Philosophien schon längere Zeit prägt, hat inzwischen auch die Plotin-Forschung erfasst und ihr einen beträchtlichen Zuwachs an Dynamik verschafft. Es scheint daher an der Zeit, ein Handbuch vorzulegen, das diesen Entwicklungen Rechnung trägt. Dieses Handbuch erhebt sicher nicht den Anspruch, ein verbindliches Bild ‚des‘ Forschungsstandes zu zeichnen oder in positivistisch-autoritativer Weise ‚das Wissen‘ über Plotin komprimiert zusammenzustellen. Es will die aktuelle Forschung aber durchaus spiegeln und Einsteigerinnen und Einsteigern ebenso wie erfahrenen Forschenden als Hilfsmittel und Ausgangspunkt für die künftige informierte Reflexion über Plotin dienen. Der Aufbau des Handbuchs orientiert sich an dem titelgebenden Dreischritt von Leben, Werk und Wirkung. Im Mittelpunkt des biographischen Teils steht die einzige erhaltene antike Quelle, die von Plotins Schüler und Herausgeber verfasste und der Ausgabe der Enneaden vorangestellte Lebensbeschreibung (Vita Plotini), die auch Auskunft über Plotins Lehrmethoden und die Entstehung seiner Schriften gibt (Kap. 1). Dem Werk Plotins und dem Inhalt seiner Philosophie nähert sich das Handbuch aus drei Richtungen an. Zunächst wird – wiederum anhand der Vita Plotini – der ‚Sitz im Leben‘ der plotinischen Schriften, ihre Verankerung im mündlichen Unterricht und ihr mutmaßliches Primärpublikum bestimmt sowie ein Überblick über Plotins Schriften gegeben und eine systematisierende Gesamtdarstellung seiner Philosophie versucht (Kap. 2–6). Unter der Überschrift „Traditionen und Kontexte“ erfolgt dann eine Annäherung über Plotins philosophischen Hintergrund. Hier geht es nicht in erster Linie um die philosophiehistorische Verortung Plotins oder um die Feststellung, von welchen älteren und zeitgenössischen Richtungen sein Denken ‚beeinflusst‘ ist. Vielmehr sollte deutlich werden, wie die ständige – affirmative oder kritische – Bezugnahme auf die Tradition seiner Philosophie ihre spezifische Gestalt verleiht und wie sich sein Selbstverständnis als Exeget – dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist – konkret auf seine philosophische Praxis und die Eigenart seiner Texte auswirkt (Kap. 7–14). Den dritten Zugang bildet eine Darstellung von philosophischen Themen und Grundbegriffen, die in Plotins Werk präsent oder für das Verständnis seines Denkens von Bedeutung sind und zu denen er sich in philosophisch nachdenkenswerter Weise geäußert hat (Kap. 15–50). Dieser Versuch einer philosophischen Erschließung ist in einem zweifachen Sinne perspektiviert. Zum einen stammt sie von einer Vielzahl verschiedener Forscherpersönlichkeiten, die jeweils eine eigene Sicht auf Plotin und eigene Fragen an seine Philosophie mitbringen. Zum anderen ist es charakteristisch für den philosophischen Stil Plotins, dass er die vielfältigen Einzelfragen, die er in seinen Schriften behandelt, stets im Horizont des Ganzen seiner Metaphysik zu beantworten sucht und umgekehrt aus partikulären Phänomenen Impulse für die Lösung metaphysischer Grundfragen gewinnt. Die Begründungs-

Vorwort

Vorwort

XIII

strukturen der Teile und des Ganzen greifen vielfältig ineinander – wie es angesichts der die Geistmetaphysik und Erkenntnislehre Plotins prägenden Dialektik von Einheit und Vielheit auch zu erwarten ist. Insofern bieten die Kapitel unter der Überschrift „Themen“ nicht so sehr ‚Ausschnitte‘ aus der Philosophie Plotins als vielmehr eine Reihe thematisch perspektivierter Annäherungen an das Ganze derselben. Eine Folge davon ist, dass diese Kapitel einander in vielfacher Weise berühren und ergänzen; ein dichtes Netz von Verweisen setzt die Nutzerinnen und Nutzer des Handbuchs in den Stand, diesen Querverbindungen nachzugehen. Große Aufmerksamkeit erhält in diesem Handbuch die Wirkung Plotins von der Spätantike bis ins 20. und 21. Jahrhundert (Kap. 51–69). Mit dem Versuch einer Gesamtschau dieser Entwicklung wird in gewisser Weise Neuland betreten. Zwar existiert eine Fülle von Einzelforschungen zur Rezeption Plotins im antiken Christentum, im arabischen Raum, in der Renaissance, im Deutschen Idealismus und darüber hinaus. Eine einführende Gesamtdarstellung dieser vielfältigen und oft nur mithilfe beträchtlicher Spezialkenntnisse zu erschließenden Rezeptionsräume gibt es bisher jedoch m. W. noch nicht. Angesichts dieser Sachlage können und wollen die Rezeptionsteile des Handbuchs weder Vollständigkeit noch abschließende Geltung beanspruchen. Ihr Ziel ist es vielmehr, einen Zugang zu Gebieten zu eröffnen, die vielen Plotin-Interessierten bislang fremd geblieben sein dürften, und Fingerzeige für künftige Forschungen auf dem weiten und großenteils noch unerschlossenen Feld der Plotin-Rezeption zu geben. Der Schwerpunkt dieser Teile liegt auf der direkten, textlich nachweisbaren Wirkung Plotins. Indirekte Rezeptionsformen werden nur in dem Maße berücksichtigt, wie sie sich der Person und dem Werk Plotins mit hinreichender Konkretion zuordnen lassen und sinnvoll als Bestandteil des für eine Epoche typischen Plotinbildes betrachtet werden können. Auf das Geistesleben einer Epoche prägende neuplatonische Elemente im Allgemeinen wird der Blick dagegen nur ausnahmsweise geweitet. Zwar lassen sich in nahezu allen derartigen Fällen Verbindungslinien zu Ansätzen bei Plotin ziehen; doch sind die Berührungen in der Regel zu unspezifisch, als dass man noch in einem bedeutungsvollen Sinne von Plotin-Rezeption sprechen könnte. Dass es sich dabei bisweilen um eine Gratwanderung handelt, sei nicht bestritten; ob sie gelungen ist, müssen die Nutzerinnen und Nutzer beurteilen. Gedankt sei zunächst den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für eine wissenschaftlich wie menschlich erfreuliche, von Geduld und Zuverlässigkeit geprägte Zusammenarbeit. Jens Halfwassen (Heidelberg) und Dominic O’Meara (Fribourg) danke ich für Unterstützung und Beratung bei der Konzeption des Handbuchs und für wertvolle Anregungen. Jens Halfwassen hat außerdem den Kontakt zu mehreren Autorinnen und Autoren insbesondere des Rezeptionsteils vermittelt. Dass er aufgrund seines plötzlichen Todes im Frühjahr 2020 das Ergebnis nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann, ist schmerzlich. Lara Schanzenbacher und Marika Sturmfels sei für ihre Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung gedankt; vor allem Marika Sturmfels hat nahezu die gesamte Entstehungszeit des Handbuchs begleitet und sich auch Verdienste bei der Registererstellung erworben. Ein besonderer Dank gilt

XIV

Vorwort

Franziska Remeika vom Verlag J.B. Metzler für ihre ebenso geduldige wie energische Unterstützung des Projekts durch Rat und Tat. Während der Arbeit am Handbuch sind mit Werner Beierwaltes (1931– 2019) und Jens Halfwassen (1958–2020) zwei bedeutende deutsche Neuplatonismus-Forscher kurz nacheinander verstorben. Wie viel die nationale und internationale Plotin-Forschung ihnen verdankt, lässt sich an nahezu jeder Seite dieses Bandes ablesen. In diesem Sinne dient er auch ihrem Gedenken. Würzburg im März 2023

Christian Tornau

Zitierweise, Übersetzungen, Transliteration, Abkürzungen

Die Schriften Plotins werden folgendermaßen zitiert: Enneade (römische Ziffer), Traktat innerhalb der Enneade, Kapitel, Zeile nach der Ausgabe von Henry und Schwyzer (HS): I 1,1,1 = erste Enneade, erste Schrift, erstes Kapitel, Zeile 1. Bei Bedarf wird die Nummer der chronologischen Folge in eckigen Klammern nach der Traktatnummer angegeben (s. auch die Konkordanz von Enneaden-Ordnung und chronologischer Folge, S. XIX): I 1 [53],1,1 = erste Enneade, erste Schrift [Nr. 53 der chronologischen Reihenfolge], erstes Kapitel, Zeile 1. Ausgaben und Übersetzungen der Schriften Plotins sind in der Bibliographie zu Kap. 5 zusammengestellt. Die Plotin-Zitate im Handbuch orientieren sich an den vorliegenden deutschen Übersetzungen; strikte Einheitlichkeit wurde jedoch bewusst nicht hergestellt, weil, gerade bei den knappen und schwierigen Texten Plotins, jede Übersetzung Interpretation und kontextgebunden ist. Griechische Wörter und Ausdrücke werden immer übersetzt oder erläutert und in der Regel transliteriert; nur bei einigen längeren Zitaten wurde die griechische Schrift beibehalten. Auf die Transliterierung des Iota subscriptum wird aus Gründen der Lesbarkeit in der Regel verzichtet. Es wird nur zur Unterscheidung von ansonsten gleichlautenden Formen als eingeklammertes i angegeben: energeia(i) = ἐνεργείᾳ (‚aktual‘) zur Unterscheidung von energeia = ἐνέργεια (‚Aktualität‘), aber zôon (nicht zô(i)-on) = ζῷον. Griechische und lateinische Autoren und ihre Werke werden nach dem Neuen Pauly abgekürzt (Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik, Manfred Landfester u. a. Stuttgart 1996 ff.; https://referenceworks.brillonline.com/entries/brill-s-new-pauly/ancient-authors-and-titles-of-works-Ancient_Authors_and_Titles_of_Works). Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen benutzt:

XV

XVI

Alcin.

Zitierweise, Übersetzungen, Transliteration, Abkürzungen

Alkinoos Didasc.

Alex. Aphr.

Aristot.

Alexander von Aphrodisias in metaph.

In Aristotelis metaphysica commentaria

an.

De anima

fat.

De fato

quaest.

Quaestiones

Aristoteles int.

De interpretatione

mem.

De memoria et reminiscentia

Attic.

Attikos

Boeth.

Boethius

Dexipp.

Dexippos

cons. in cat. Epict.

Iambl.

In Aristotelis categorias commentaria

diss.

Dissertationes

ench.

Enchiridion

Iamblichos

Numen.

Numenios

Plut.

Plutarch

Procl.

De consolatione philosophiae

Epiktet

DCMS

Porph.

Didaskalikos

De communi mathematica scientia

de an. procr.

De animi procreatione in Timaeo

de E

De E apud Delphos

de facie

De facie in orbe lunae

de Stoic. rep.

De Stoicorum repugnantiis

virt. mor.

De virtute morali

Porphyrios in cat.

In Aristotelis categorias commentaria

isag.

Isagoge

sent.

Sententiae ad intellegibilia ducentes

VP

Vita Plotini

Proklos in Alc.

In Platonis Alcibiadem commentarii

inst. theol.

Institutio (sive Elementatio) theologica

in Parm.

In Platonis Parmenidem commentaria

in remp.

In Platonis rem publicam commentarii

in Tim.

In Platonis Timaeum commentaria

Zitierweise, Übersetzungen, Transliteration, Abkürzungen

theol. Plat. Simpl.

Theophr.

XVII

Theologia Platonica

Simplikios in cael.

In Aristotelis de caelo commentaria

in cat.

In Aristotelis categorias commentarium

in phys.

In Aristotelis physicorum libros commentaria

Theophrast metaph.

Metaphysica

Alle übrigen Autoren und Werke werden ausgeschrieben. Folgende Siglen werden außerdem verwendet: HS1

Plotini Opera. Ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer. 3 Bde. Paris/Brüssel/Leiden 1951–1973 [Editio maior].

HS2

Plotini Opera. Ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer. 3 Bde. Oxford 1964–1982 [Editio minor].

CAG

Commentaria in Aristotelem Graeca. 23 Bde., 3 Supplementbände. Berlin 1882–1909 (https://de.wikisource.org/wiki/Commentaria_in_Aristotelem_Graeca).

DK

Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. von Hermann Diels, Walther Kranz. 3 Bde. Berlin 61951–1952.

PG

Migne, Jacques-Paul: Patrologia Graeca. Paris 1857–1866.

SVF

Stoicorum Veterum Fragmenta. Hg. von Hans von Arnim. 4 Bde. Leipzig 1905–1924.

Test. Plat. Gaiser, Konrad: Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons. In: Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Stuttgart 21968, 443–556. ThA

Pseudo-Theologia Aristotelis (s. Kap. 54)

Siglen, die nur in einem Kapitel vorkommen, werden an Ort und Stelle entschlüsselt.

Plotins Schriften: Konkordanz

Enneaden-Ordnung – chronologische Folge I1

53

II 1

40

III 1

3

IV 1 21

V1

10

VI 1

42

I2

19

II 2

14

III 2

47

IV 2 4

V2

11

VI 2

43

I3

20

II 3

52

III 3

48

IV 3 27

V3

49

VI 3

44

I4

46

II 4

12

III 4

15

IV 4 28

V4

7

VI 4

22

I5

36

II 5

25

III 5

50

IV 5 29

V5

32

VI 5

23

I6

1

II 6

17

III 6

26

IV 6 41

V6

24

VI 6

34

I7

54

II 7

37

III 7

45

IV 7 2

V7

18

VI 7

38

I8

51

II 8

35

III 8

30

IV 8 6

V8

31

VI 8

39

I9

16

II 9

33

III 9

13

IV 9 8

V9

5

VI 9

9

Chronologische Folge – Enneaden-Ordnung 1

I6

10

V1

19

I2

28

IV 4

37

II 7

46

I4

2

IV 7

11

V2

20

I3

29

IV 5

38

VI 7

47

III 2

3

III 1

12

II 4

21

IV 1 30

III 8

39

VI 8

48

III 3

4

IV 2

13

III 9

22

VI 4 31

V8

40

II 1

49

V3

5

V9

14

II 2

23

VI 5 32

V5

41

IV 6

50

III 5

6

IV 8

15

III 4

24

V6

33

II 9

42

VI 1

51

I8

7

V4

16

I9

25

II 5

34

VI 6

43

VI 2

52

II 3

8

IV 9

17

II 6

26

III 6

35

II 8

44

VI 3

53

I1

9

VI 9

18

V7

27

IV 3 36

I5

45

III 7

54

I7

XIX

Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Über den Herausgeber Christian Tornau, Prof. Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Klassische Philologie

Die Autorinnen und Autoren Michele Abbate, Prof. Dr.,  Università degli Studi di Salerno, Dipartimento di Scienze del Patrimonio Culturale (DISPAC) (32 Licht; 36 Mystik) Peter Adamson, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Lehrstuhl für spätantike und arabische Philosophie (54 Plotin in arabischer Übersetzung) Thomas Arnold, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Philosophisches Seminar (63 Ikonologie (Erwin Panofsky, Edgar Wind); 64 Edmund Husserl; 67 Emmanuel Levinas) László Bene, Assoz. Prof. Dr. habil.,  Eötvös-Loránd-Universität Budapest, Institut für Philosophie, Department für antike und mittelalterliche Philosophie (12 Hellenistische Philosophie: Stoa, Epikureismus, Skeptizismus; 26 Ideen) Damian Caluori, Dr.,  Senior Lecturer in Ancient Philosophy, University of Edinburgh, School of Philosophy, Psychology and Language Sciences (28 Kategorien; 40 Seele) Riccardo Chiaradonna, Prof. Dr.,  Università Roma Tre, Dipartimento di filosofia (11 Aristoteles und der Aristotelismus; 59 Denker der Frühen Neuzeit bis zu den Cambridge Platonists)

XXI

XXII

Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Tobias Dangel, PD Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Philosophisches Seminar (60 F.W.J. Schelling; 61 G.W.F. Hegel) Volker Henning Drecoll, Prof. Dr.,  Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Evangelisch-theologische Fakultät, Lehrstuhl für Kirchengeschichte II mit Schwerpunkt Alte Kirche; Ephorus des Evangelischen Stifts, Tübingen (53 Lateinische frühchristliche Autoren) Michael Erler, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Klassische Philologie; Seniorprofessor und Mitglied des Direktoriums (‚chair‘) des Siebold-Collegium. Institute for Advanced Studies (SCIAS) der Universität Würzburg (2 Die Philosophenschule als Entstehungshorizont der Schriften; 3 Die Enneaden-Ausgabe; 4 Textsorten, Argumentationsformen, literarische Machart) Franco Ferrari, Prof. Dr., Università degli Studi di Pavia, Dipartimento di Studi Umanistici, Sezione di Filosofia (13 Mittelplatonismus; 27 Individualität) Giulia Guidara, PhD,  Università di Pisa, Dipartimento di Civiltà e Forme del Sapere (8 Die Vorsokratiker) Rico Gutschmidt, PD Dr.,  Universität Konstanz, Fachbereich Philosophie (65 Martin Heidegger) Sui Han, Dr.,  Distinguished Research Fellow, Zhejiang University, Hangzhou, Sino-West Academy (17 Bild, Abbild; 38 Nichtsein; 47 Unendlichkeit) Mareike Hauer, Dr.,  KU Leuven (Belgien), De Wulf-Mansion Centre for Ancient, Medieval and Renaissance Philosophy, Mitarbeiterin des ERC-Projekts 885273 ‚PlatoViaAristotle‘ (51 Der Neuplatonismus der Spätantike) Christoph Horn, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Philosophie (18 Einheit und Vielheit; 25 Gut) George Karamanolis, Assoz. Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Philosophie (14 Platonisierende Strömungen außerhalb der Schulen; 29 Kausalität) Filip Karfík, Prof. em. Dr.,  Université de Fribourg, Département de philosophie/Institut du monde antique et byzantin (7 Plotin als Exeget; 44 Transzendenz und Teilhabe) Lenka Karfíková, Prof. Dr., Karls-Universität Prag, Palacký-Universität Olmütz, Tschechische Republik (52 Griechische frühchristliche Autoren) Benedikt Krämer, Dr.,  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Klassische Philologie (21 Freiheit; 24 Gott)

Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Péter Lautner, Prof. Dr., Katholische Péter-Pázmány-Universität Budapest, Philologische Fakultät, Lehrstuhl für Philosophie (20 Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Denken; 49 Wahrnehmung) Salvatore Lavecchia, Prof. Dr., Università degli Studi di Udine, Dipartimento di Studi Umanistici e del Patrimonio Culturale (30 Kontemplation) Thomas Leinkauf, Prof. Dr.,  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Philosophisches Seminar (22 Geist; 41 Sein) Irmgard Männlein-Robert, Prof. Dr.,  Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Philologisches Seminar (1 Zur Biographie Plotins) Fosca Mariani Zini, Prof. Dr., Université François Rabelais, Tours, Département de philosophie (58 Marsilio Ficino) Aurelia Maruggi, Dr. des.,  Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Philosophie (57 Lateinisches Mittelalter) Alexandra Michalewski, Dr., Forscherin am Centre Léon-Robin (UMR 8061), Sorbonne-Université, Paris (9 Platon) Michel Narcy, Prof. Dr.,  Forschungsdirektor (emeritus) beim Centre Jean Pépin, Centre national de la recherche scientifique/École Normale Supé­ rieure, Paris (62 Henri Bergson) Hai Linh Ngo, M.A., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Philosophisches Seminar (67 Emmanuel Levinas) Jan Opsomer, Prof. Dr. Dr. h.c., KU Leuven (Belgien), De Wulf-Mansion Centre for Ancient, Medieval and Renaissance Philosophy, Principal Investigator des ERC-Projekts 885273 ‚PlatoViaAristotle‘ (51 Der Neuplatonismus der Spätantike) Gheorghe Paşcalău, Dr.,  New Europe College, Bukarest (Rumänien) (50 Zeit und Ewigkeit) Matthias Perkams, Prof. Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Philosophie, Professur für Philosophie mit Schwerpunkt Antike und mittelalterliche Philosophie (57 Lateinisches Mittelalter) Christian Pietsch, Prof. Dr.,  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Klassische Philologie (39 Schönheit und Kunst; 48 Vorsehung und Schicksal)

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Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Tolga Ratzsch, Dr.,  freier Mitarbeiter der Karl-Jaspers-Gesamtausgabe (66 Karl Jaspers) Martina Roesner, PD Dr.,  Universität Wien, Institut für Historische Theologie, Leiterin des Forschungsprojektes P 31358-G32 des Austrian Science Fund zum Thema „Der Lebensbegriff bei Meister Eckhart und Husserl“ (68 Jacques Derrida und Jean-Luc Marion) Christian Schäfer, Prof. Dr., Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl für Philosophie I (34 Materie; 46 Übel) Alexandrine Schniewind, Prof. Dr., Universität Lausanne (Schweiz), Department für Philosophie (16 Bewusstsein; 23 Glück (Eudaimonie)) Michael Schramm, PD Dr.,  Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Klassische Philologie (19 Erinnerung und Vorstellung; 35 Mensch) Euree Song, Prof. Dr.,  Kyung Hee University, Seoul, Department of Philosophy (15 Aufstieg; 37 Natur) Wiebke-Marie Stock, PD Dr.,  Universität Bonn, Institut für Philosophie; University of Notre Dame (USA), Medieval Institute (33 Liebe (Eros); 42 Selbst) Ze’ev Strauss, Prof. Dr.,  Universität Hamburg, Fakultät für Geisteswissenschaften, Juniorprofessur für Jüdische Religion (55 Jüdische mittelalterliche Religionsphilosophie) Benedikt Strobel, Prof. Dr.,  Universität Trier, Fachbereich I – Philosophie (10 Die Alte Akademie; 43 Sprache) Christian Tornau, Prof. Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Klassische Philologie (5 Plotins einzelne Schriften; 6 Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick) Denis Walter, Dr.,  Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Philosophie (56 Byzanz) James Wilberding, Prof. Dr.,  Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie (31 Kosmos; 45 Tugend) Daniel-Pascal Zorn, Dr. phil., Bergische Universität Wuppertal, Philosophisches Seminar (69 Plotin und die moderne Literatur)

Teil I

Leben

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Zur Biographie Plotins Irmgard Männlein-Robert

1.1 Der historische Rahmen Plotins Lebenszeit ist das 3. Jahrhundert n. Chr., ein seit Eric Robertson Dodds (1965) immer wieder als „age of anxiety“ beschworenes Zeitalter, das freilich eher als Zeitalter politischer Wirren und sozialer wie kultureller Veränderungen, als historische Phase vielfacher Umbrüche und Krisen zu verstehen ist, welche die charakteristischen politischen und religiösen Transformationen und Mutationen in der Spätantike erst bedingten und ermöglichten (Johne 2008; Stroumsa 2011). Außerordentlich viele und gewaltsame Wechsel der römischen Kaiser hatten gerade an den äußeren Grenzen des damals sehr großen römischen Reiches politische Instabilität zur Folge. Die außenpolitischen Schwierigkeiten führten zu oft langen Absenzen der Soldatenkaiser von Rom und erzeugten somit ein gefühltes oder auch faktisches Machtvakuum. Von Plotins Geburt 204/205 n. Chr. an bis zu seinem Tod 270 regierten (neben zahllosen Gegenkaisern und Usurpatoren) mindestens 17 verschiedene römische Kaiser (u. a. Septimius Severus, Caracalla, Elagabal, Maximinus Thrax, Gordian I., Gordian III., Decius, Valerian, Gallienus). Die durch politische Instabilität bedingten gesellschaftlichen Krisen des 3. JahrI. Männlein-Robert (*)  Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

hunderts n. Chr. verstärkten die Hinwendung der Zeitgenossen zu Göttern und religiösen Gruppen, die Trost, Rettung oder Erlösung von den aktuellen Sorgen des Lebens (vielfach post mortem) versprachen. Im Osten wie im Westen fanden sich im 3. Jahrhundert neben dem verbindlichen Kaiserkult etwa Manichäismus, Asklepios- und Magna Mater-Kult sowie zahlreiche Mysterienkulte (darunter besonders prominent der Mithras- und der Isiskult) nebeneinander. Freilich wurde die religiöse Szene zunehmend durch das sich rasch ausbreitende und auch institutionell stabilisierende Christentum sowie durch divergente christliche Gruppierungen (etwa christliche Gnostiker) bestimmt. Denn neben die alten Kulte für die griechischen und die römischen Götter sowie die in den vielen Provinzen verehrten etablierten lokalen Gottheiten trat nun die christliche Religion, die sich zunächst im Osten des Reiches, dann auch in Rom sowie zunehmend reichsweit in regionalen und lokalen Christianisierungen spürbar bemerkbar machte (Leppin 2012). Die Verweigerung des Kaiserkultes und die strikte Ablehnung konventioneller (Tier-)Opfer durch die Christen (Stroumsa 2011) führten zu erheblichen gesellschaftlichen und politischen Spannungen, die in wiederholten Christenverfolgungen Ausdruck fanden (reichsweit vor allem 249–251 n. Chr. unter Kaiser Decius und 257–260 unter Kaiser Valerian). Sie taten der weiteren Verbreitung der christlichen Reli-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_1

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gion jedoch keinen Abbruch, vielmehr scheinen christliche Märtyrer gerade zur Glaubwürdigkeit der neuen Religion beigetragen zu haben. Märtyrer, Priester und Bischöfe wurden zu ebenso lebensweltlichen wie spirituellen Leitfiguren der Christen, die der zeittypischen Erlösungssehnsucht modellhaft Ausdruck verliehen. Gleichwohl verharrten die Eliten im dritten nachchristlichen Jahrhundert noch vielfach im traditionellen Religions- und Bildungssystem; in ihren Bildungsgängen dominierten im Osten wie im Westen nach wie vor die traditionellen Bildungsfelder Rhetorik und Philosophie. Seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. hatten römische Kaiser und Machthaber Interesse an Ausbau und Förderung von Bildung und Kultur im ganzen römischen Reich demonstriert, einzelne Kaiser pflegten sogar persönliche Kontakte zu zeitgenössischen Philosophen: So standen etwa der peripatetische Philosoph Eudemos und der Mittelplatoniker und Arzt Galen zu Marc Aurel oder Plotin zu Kaiser Gallienus und seiner Frau Salonina in engem Kontakt. Während für die ersten Jahrzehnte des 3. Jahrhunderts noch zahlreiche peripatetische, stoische und platonische Philosophen an den etablierten Standorten für Philosophie (z. B. Athen, Alexandria, auf Rhodos, in Kleinasien etc.) nachweisbar sind, scheint sich die philosophische Szene später rasch auf platonische Philosophen verengt zu haben. Mit Blick auf den auch in diesem Jahrhundert eng mit (neu-)pythagoreischem Gedankengut verschlungenen Platonismus lassen sich sowohl Kontinuität als auch Neuakzentuierungen identifizieren: Während die Vertreter des sogenannten Mittelplatonismus in engem Bezug auf Platons Schriften dessen Ethik, Kosmologie, Ontologie und Theologie meistens in systematischen und unterrichtstauglichen Textformaten wie Handbüchern, Kommentaren oder Traktaten diskutierten und dabei philologisch – besonders prominent war dafür Plotins etwas älterer Zeitgenosse Longin – auf den Ausweis von Orthodoxie und Kohärenz im Œuvre und im philosophischen Denken Platons abzielten (Ferrari 2018, 547–555; s. Kap. 13), markierte Plotin bereits aus antiker Sicht einen

I. Männlein-Robert

singulären Neuansatz innerhalb des Platonismus (so etwa Procl. theol. Plat. 1,1), und zwar mit Blick auf seine Seelenlehre (Psychologie), seine Konzeption des Geistes sowie seine Lehre vom übertranszendenten Einen in ontologischer wie theologischer Hinsicht. Bemerkenswert ist aber nicht nur Plotins originelle Interpretation der platonischen Philosophie, sondern auch, wo er als philosophischer Lehrer wirkte: Erst mit Plotin wird Rom für einige Jahrzehnte zu einem relevanten Standort, an dem in Schulform platonische Philosophie betrieben wird; denn Rom war im Vergleich zu Athen oder Alexandria nicht als Zentrum platonischen Philosophierens etabliert. Plotin zog stadtrömische wie externe Hörer nach Rom, die zum Teil von weit her kamen. Seine Sonderrolle wurde innerhalb der platonischen Szene des 3. Jahrhunderts auch durchaus registriert: Der Platoniker Longin bescheinigte ihm relativ früh große philosophische Originalität sowie gedankliche Präzision (Porph. VP 20,68–76 = Longin. fr. 11 M.-R.). Origenes, ein früherer Kommilitone aus Alexandria, besuchte ihn überraschend in Rom während einer Seminarsitzung, jüngere philosophische Adepten wie Antoninos von Rhodos und Porphyrios wechselten seinetwegen ihren bisherigen Studienort und kamen zu ihm von Athen nach Rom. Als der bedeutendste Schüler Plotins darf sicherlich Porphyrios aus Tyros gelten, der wie kein anderer die Erinnerung an Plotin als Person und als Philosophen geprägt, überdies auch Plotins Schriften herausgegeben und tradiert hat.

1.2 Die Vita Plotini des Porphyrios 1.2.1 Die Vita Plotini als Biographie Biographische Informationen über Plotin gibt es nur sehr wenige, und diese vermittelt fast ausschließlich der platonische Philosoph Porphyrios in seiner zu Beginn des 4. Jahrhunderts n. Chr. als Vorrede der Enneaden-Ausgabe (s. Kap. 3) verfassten Darstellung Über das Leben Plo-

1  Zur Biographie Plotins

tins und die Anordnung seiner Schriften (meistens kurz als Vita Plotini bezeichnet; kritische Ausgabe: HS1, Bd. 1, 1–46; HS2, Bd. 1, 1–38). Einzelne zusätzliche biographische Informationen, die jedoch kaum faktisch sind, sondern die durch Porphyrios überlieferten Angaben phantasievoll und tendenziös ausgestalten, finden sich bei Firmicus Maternus (Mathesis 1,7,14–22 zu Krankheit und Tod Plotins) und bei Eunapios (vit. soph. 3,1,1, p. 5,18–20 Giangrande zum Geburtsort Plotins). Die Sudanotiz enthält keine über Porphyrios und Eunapios hinausgehenden Informationen (Suda, Πλωτῖνος, 4,151,23–28 Adler). Somit ist die Vita Plotini die einzige authentische antike Quelle über das Leben Plotins und bietet trotz ihrer literarischen Überformung durch den Verfasser Porphyrios zahlreiche, akribisch nach den Regierungsjahren des jeweiligen römischen Kaisers notierte und nach Chronistenart fixierte historische Daten (Goulet 1982, 187–227). Dadurch wird die Lebens- und Schaffenszeit Plotins zur Chronologie der regierenden römischen Kaiser und zu großen Ereignissen (z. B. dem Perserfeldzug Gordians III. 243/4; vgl. die grassierende Seuche, wohl Pocken, in Rom, VP 2,7– 8) in engen Bezug gesetzt und Plotin so als bedeutender Zeitgenosse figuriert. Dazu bietet Porphyrios viele wertvolle Informationen über einzelne Lebensstationen Plotins, seine Lebensweise und seinen Alltag, seinen Charakter und seine Eigenheiten, seine charismatische Persönlichkeit, seine sozialen Kontakte sowie sein Engagement als philosophischer Lehrer, das Verhältnis zu seinen Schülern sowie den zum Teil sehr nachhaltigen Einfluss auf seine Hörer. Generisch ist dieser Text mehr als eine übliche Praefatio, ist vielmehr ein überaus merkwürdiges und buntes Hybrid: Zum einen handelt es sich um einen bios, also eine Darstellung von Plotins Leben nach dem Modus der Biographie, die Herkunft, Werdegang, Charakter und Wirken als Philosoph schildert (Brisson 1992, 1–29; Edwards 2000, XXXVI–XXXVII; 1–53; Edwards 2001). Tatsächlich werden auch entsprechende Daten und Informationen geboten, allerdings nicht die für eine antike Biographie erwartbaren, wie etwa Geburt, Kindheit und Jugend-

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geschichte – zumindest nicht in der üblichen Weise. Stattdessen ist die biographische Darstellung auf Plotins Wirken und Philosophieren in Rom (von 244 bis ca. 269 n. Chr.) fokussiert und bietet viele wichtige Informationen aus dieser Zeit. Zudem fügt Porphyrios seiner Lebensbeschreibung Plotins chronologische und thematische Listen von Plotins Schriften ein, verbindet also biographische mit editorischen Informationen, die auf die Entstehungszeit der Texte wie deren thematische Anordnung (taxis) in der mit der Vita Plotini vorgelegten Werkausgabe bezogen sind. Zu der eigenwilligen Verschmelzung von biographischen und editorischen Details (Gliederung bei Harder 1958, 75–77; s. auch Abschn. 3.6) kommt eine weitere Besonderheit: Wir erfahren autobiographische Details und Angaben über den Biographen und Editor Porphyrios selbst, der sich in der Rolle eines privilegierten Schülers des Plotin darstellt und sich als vom Meister persönlich autorisierter Editor und Herausgeber von dessen Schriften der Biographie des verehrten Lehrers mit einschreibt (VP 24,1–16; Männlein-Robert 2002, 596–602). Das ist insofern relevant, als es im ausgehenden 3. Jahrhundert n. Chr. offenbar konkurrierende und durchaus voneinander abweichende Versionen und Ausgaben von Plotins Texten (einzeln oder als Gesamtausgabe) gab, die unter den Schülern kursierten. Porphyrios will mit seiner Kombination aus biographischen Nachrichten und editorischen Bemerkungen seine philologisch sorgsam redigierte und planvoll angeordnete Textedition als die kanonische und vom Meister selbst autorisierte Ausgabe etablieren. Er betont mehrfach, dass Plotin manche Begebenheiten im Schülerkreis selbst erzählt oder er, Porphyrios, bestimmte Routinen Plotins oder besondere Ereignisse als enger Schüler und Augenzeuge selbst miterlebt oder als Vertrauter anderer enger Schüler erfahren habe. Die betonte Insiderperspektive des Porphyrios soll die Authentizität des Berichteten verbürgen. Was wir aus dieser generisch singulären Melange von biographischen, autobiographischen sowie editorischen und historisch-chronologischen Informationen an wohl verlässlichen Nachrichten über das Leben Plotins gewinnen können, wird

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im Folgenden dargestellt (vgl. D’Ancona 2012, 886–909): Porphyrios zufolge schämte sich Plotin so sehr, in einem Körper zu sein, dass er nichts über seine Herkunft, seine Familie, sein Vaterland oder über seinen Geburtstag mitteilen wollte (VP 1,1–4). Aller Wahrscheinlichkeit nach stammte er aber aus Ägypten. Nur bei Eunapios (vit. soph. 3,1,1, p. 5,18–20 Giangrande), also etwa 100 Jahre später und nicht etwa in der Vita Plotini, findet sich die Nachricht, Plotin sei in der ägyptischen Stadt Lyko geboren worden (gemeint ist wohl Lykopolis, das heutige Assiut; vgl. auch Procl. theol. Plat. 1,1; David, In Porphyrii isagogen, CAG 18.2, 91,26 Busse; Suda, Πλωτῖνος, 4,151,23 Adler). Porphyrios errechnet nach der Angabe des Plotinschülers und Arztes Eustochios, wonach Plotin mit 66 Jahren gestorben sein soll, als Geburtsjahr 204/205 n. Chr. (VP 2,34–37). Mit Blick darauf, dass Plotin von einer ihm bis zum Alter von sieben Jahren zur Verfügung stehenden Amme berichtet habe (VP 3,1–6) und dass er erst mit 28 Jahren, also 232/33, im ägyptischen Alexandria das Studium der Philosophie begonnen habe (VP 3,6– 10), ist ein wohlhabender familiärer Kontext zu vermuten. In Alexandria sei er, unzufrieden mit allen bisherigen philosophischen Lehrern dort, auf den rein mündlich philosophierenden platonischen Philosophen Ammonios getroffen und habe bei diesem elf Jahre studiert (232/3– 243/4). Als Studienkollegen Plotins aus dieser Zeit werden von Porphyrios Origenes und He­ rennios (VP 3,24–25) genannt. Plotin schloss sich, vielleicht aus dem Drang heraus, mit persischer und indischer Philosophie in Kontakt zu kommen, im Alter von 39 Jahren (243/4) dem römischen Kaiser Gordian III. an, als dieser zu einem Feldzug gegen die Sassaniden unter König Schapur I. aufbrach. Vermutlich zog Plotin nicht als Söldner, sondern als philosophischer Berater oder Ratgeber in der kaiserlichen Entourage in den Osten mit. Als der Kaiser im Februar 244 gegen Ende dieses an sich siegreichen Feldzugs zu Tode kam, rettete sich Plotin aus den ausbrechenden politischen Wirren ins syrische Antiochia. Von dort begab er sich noch im selben Jahr (244) nach Rom (VP

I. Männlein-Robert

3,13–24), wo er offenbar günstige Rahmenbedingungen vorfand. Dort begann der jetzt 40-jährige Plotin rasch Philosophie zu lehren, was er dann 25 Jahre lang tat. Der zunächst rein mündliche Unterricht in den frühen römischen Jahren soll – hier beruft sich Porphyrios auf Amelios, der bereits 245/6 n. Chr. Schüler Plotins geworden war – chaotisch gewesen sein (VP 3,35–38). Erst nachdem Porphyrios 263 n. Chr. nach Rom zu Plotin gekommen war, nahm dessen bis dahin nur spärliche, esoterische Produktion von Schriften deutlich zu. Denn Porphyrios und Amelios drängten Plotin zum Schreiben (VP 5,6–7), und dieser kam dem Wunsch seiner engsten Schüler nach. Auf Porphyrios ist wohl auch eine zunehmende Klarheit und Ausführlichkeit von Plotins Schriften zurückzuführen, die vielfach aus den aktuellen Diskussionen im Plotinkreis resultierten (VP 16; 18; O’Meara 2010, 304). Im Unterricht ließ er zunächst Kommentare und Schriften von mittelplatonischen und neupythagoreischen Philosophen vorlesen (etwa von Severos, Kronios, Numenios, Gaios, Attikos, Longinos; auch von Peripatetikern, VP 14,10–14; O’Meara 2010, 303), die er eigenständig und originell, tiefsinnig und ohne Umschweife auslegte. Mit zeitgenössischen Platonikern außerhalb Roms, etwa Eubulos oder Longinos, die in Athen wirken, stand Plotin in schriftlichem Austausch oder kannte ihre Schriften (VP 14,18–20; 15,18–21). Plotin lebte in Rom im Haus einer wohlhabenden römischen Gönnerin und Schülerin namens Gemina (VP 9,1–3), die nicht nur mit ihrer gleichnamigen Tochter begeistert die philosophischen Seminare Plotins besuchte, sondern ihm und seinem engsten Mitarbeiter- und Schülerkreis ein Haus und damit Unterrichtsräume mitsamt der nötigen Infrastruktur zur Verfügung stellte. Sein Unterricht stand allen offen (VP 1,13–14). Es gab, wie meistens üblich (Watts 2006, 30–31), einen engeren Schülerkreis um Plotin sowie weitere interessierte Kreise (VP 7): Unter den engeren Schülern waren neben den besonders Vertrauten Amelios aus Etrurien und Porphyrios aus Tyros auch Frauen, wie die beiden Geminae oder Amphikleia (vermutlich die Schwiegertochter Iamblichs), aber auch

1  Zur Biographie Plotins

Ärzte (Paulinus, Eustochios, der Araber Ze­ thos), ein Dichter und Philologe (Zotikos), ein Rhetoriker (Serapion) sowie einige politisch aktive Römer (neben dem bereits genannten Ze­ thos auch Castricius Firmus). Unter den interessierten Zuhörern befanden sich vor allem zahlreiche römische Senatoren, etwa Rogatian, der unter dem Einfluss Plotins seinen Besitz aufgab, die Senatorenwürde niederlegte und sein Amt als Prätor im letzten Moment vor der Amtseinsetzung nicht antrat. Plotins Schüler- und Hörerkreis in Rom umfasste somit sozial hochstehende stadtrömische Persönlichkeiten und Amtsträger ebenso wie intellektuelle Migranten aus dem griechischen Osten (aus unterschiedlichen Ethnien; Männlein-Robert 2019, 343– 344). Überdies unterhielt Plotin enge persönliche Kontakte zum römischen Kaiser Gallienus, der von 253 an zuerst mit seinem Vater Valerian, ab 260 bis 268 allein regierte, und dessen Frau Salonina. Auf große Kaisernähe deutet wohl auch sein (gescheiterter) Versuch hin, eine unbewohnte Stadt in Kampanien zu einer Modellstadt im Sinne Platons zu machen (VP 12,3–9; O’Meara 2003, 13–16). Vermutlich wollte Plotin eher die platonische Utopie eines Idealstaates realisieren und den idealen Ort für philosophische Anachorese etablieren als politisch aktiv werden. Darauf deutet auch die überlieferte Episode, in der sein Schüler Zethos in seinem politischen Engagement von Plotin gebremst wurde (VP 7,20–21). Klar hingegen wird Plotins soziales Engagement daran erkennbar, dass er die Vormundschaft und damit nicht nur die Erziehung, sondern auch die Vermögensverwaltung für zahlreiche Waisen aus den besten Familien Roms übernahm. Vielfach wurde er auch als Mediator in Streitfällen hinzugezogen (VP 9). Streitlustig agierte Plotin hingegen in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen christlich-gnostischen Sekten und deren Vertretern (z. B. Adelphios, Aquilinus) sowie mit gnostischen und zoroastrischen Offenbarungstexten, die sich damals einiger Beliebtheit erfreuten und, wenigstens in Plotins Augen, Platons philosophische Autorität in Frage stellten (VP 16; Edwards 1990; s. auch Abschn. 14.4). Die auch unter Platonikern üblichen Rituale der

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Volksreligion, wie etwa die an Neumond und Kultfesten üblichen Opfer für die Götter, vollzog Plotin nicht mit, forderte vielmehr: „Jene müssen zu mir kommen, nicht ich zu jenen“ (VP 10,35–36). Dagegen pflegte er den auch in anderen platonischen Gruppen seiner Zeit (vgl. bei Longin in Athen, so Porph. fr. 408–410 Smith) etablierten Brauch, alljährlich die Platoneia, also den Geburtstag des Schulgründers Platon, am 7. Thargelion (= 7. April) gottesdienstähnlich zu feiern (VP 2,40–43; 15,1). Plotins Annäherung an das Göttliche manifestiert sich zum einen in seiner kontinuierlichen, trotz anderer Tätigkeiten nie unterbrochenen Fokussierung auf den Nous und das Eine, zum anderen in seinen zu Lebzeiten mehrfach erreichten ekstatischen, gleichsam mystischen Vereinigungen mit dem Einen. Durch langwierige Askese und intellektuelle Vorbereitung scheint Plotin eine beständige spirituelle Anspannung und Ausrichtung auf das Ziel des transzendenten Göttlichen erreicht zu haben (VP 23; Männlein-Robert 2013, 105– 111). In fortgeschrittenem Alter laborierte Plotin oft an Unterleibsbeschwerden, verweigerte jedoch die damals üblichen (tier-)medizinischen Prozeduren (VP 2,1–5). Eine aggressive weitere Krankheit kam hinzu (diskutiert werden Elephantiasis Graeca, Lepra, Tuberkulose oder Pocken; Schwyzer 1951, 474–476) und beeinträchtigte seine Stimm- wie seine Sehkraft erheblich; Hände und Füße waren ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Schwer krank zog sich Plotin auf das Landgut seines verstorbenen Freundes Zethos in Kampanien zurück und wurde von Minturnae aus von Castricius Firmus versorgt. Beim Tod Plotins im Jahr 270 n. Chr. war allerdings nur der aus Puteoli angereiste Arzt und Freund Eustochios anwesend, der die Sterbeszene sowie die letzten Worte Plotins überlieferte: Demnach habe Plotin zuletzt gesagt, dass er noch auf Eustochios gewartet habe und jetzt versuche, „das Göttliche in uns zum Göttlichen im All hinaufzubringen“ (VP 2,25–27; D’Ancona Costa 2002; Most 2003). In diesem Moment sei eine Schlange unter seinem Bett hindurch- und in ein Wandloch hineingekrochen und Plotin habe seinen letzten Atem-

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zug getan. Er wurde 66 Jahre alt. Porphyrios selbst hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Lilybaion auf Sizilien, Amelios im syrischen Apameia und Castricius in Rom auf (VP 2,23–31).

1.2.2 Die Vita Plotini und die Schriften Plotins Die Vita Plotini umfasst neben biographischen Informationen auch Angaben zur zeitlichen Entstehung der Schriften Plotins sowie editorische Bemerkungen des Porphyrios zu seiner Plotinausgabe, insbesondere zur thematischen Neuanordnung der Texte. Viele historische Angaben bietet Porphyrios in den Rahmenpassagen zu seinen umfassenden Listen der Schriften Plotins, die er zuerst (VP 4–6) in der Reihenfolge ihrer historischen Entstehung einzeln mit Titeln auflistet und dazu jeweils ein einzeiliges Incipit (den Werkanfang) zitiert. Gegen Ende der Vita (VP 24–26) bietet er einen Katalog der Schriften Plotins (ebenfalls wieder mit Titeln und Incipit) in seiner eigenen Ordnung in sechs Neunergruppen (Enneaden, s. unten). Zu einigen Plo­ tinschriften fügte Porphyrios offenbar sogar einen Kommentar hinzu (VP 26,29–32), der jedoch in keinem Fall erhalten ist. Porphyrios’ Gründe, gegen Ende seines eigenen Lebens eine solche Ausgabe zu erstellen (wohl 301 n. Chr.; vgl. VP 24,1–16), liegen auf der Hand: Plotin war ein Philosoph, der zunächst vornehmlich mündlich philosophierte und erst auf Drängen seiner Schüler, vor allem des Porphyrios selbst, seine Überlegungen und Erkenntnisse schriftlich niederlegte. Seine offenbar chronische Sehschwäche sowie seine schwer lesbare Handschrift erforderten einen skrupulösen Redaktor und überhaupt Hilfe bei der Verschriftlichung seiner Gedanken. Daher wird Porphyrios in der Vita Plotini nicht müde, seine wichtige Rolle als vom Meister direkt autorisierter Schüler zu betonen, der dessen Schriften redigieren darf (VP 7,49–51; VP 8). Dass Porphyrios das – im Gegensatz zu anderen Plotinschülern wie etwa Amelios – besonders gut kann, dokumentiert er u. a. anhand eines externen Zeugnisses, das er in die Vita Plotini

I. Männlein-Robert

einlegt: Er zitiert ausführlich aus einem Brief des Platonikers und renommierten Literaturkritikers Longin, in dem dieser seinem früheren Schüler Porphyrios mustergültige philologische Akribie im Umgang mit den Plotintexten bescheinigt (VP 19,7–41; 20,1–9). Einzelne Schriften Plotins kursierten in den ersten Jahren des römischen Schülerkreises ohne Titel unter der Hand oder wurden nur an einzelne Schüler ausgehändigt (VP 4,14–16), erst mit der Ankunft des Porphyrios dort (263 n. Chr.) beginnt Plotin, mehr zu schreiben, und zwar besser gegliedert und stilistisch nicht mehr so knapp wie vorher (VP 18,20–22). Offenbar sandte Plotin dem Porphyrios Schriften, als dieser sich (ab 268) in Sizilien aufhielt (VP 6,1–4). Von Amelios, der wohl ab 269 n. Chr. im syrischen Apameia lebte, erhielt Longin Plotinschriften, die er in Palmyra zur Verfügung hatte (VP 19). Namentlich nicht genannte Philosophen aus Hellas bezichtigten Plotin des Plagiats an Numenios (VP 17), müssen also Schriften von ihm eingesehen haben. Zu Plotins Lebenszeit kursierten seine Schriften demnach offenbar einzeln und ohne (feste) Titel sowie vorwiegend über die Vermittlung seiner engeren Schüler. Porphyrios wollte offenbar mit seiner neuen Gesamtausgabe Plotins philosophisches Erbe zusammen- und verfügbar halten, möglicherweise auch konkurrierende Ausgaben anderer Plotinadepten (vielleicht des Eustochios oder des Amelios) überflüssig machen. Dezidiert lehnte er sich an ältere Vorbilder und Modelle an, indem er sich für seine thematische Gruppierung nach Themen auf Apollodoros von Athen und den Peripatetiker und Aristotelesherausgeber Andronikos berief (VP 24,6–11). In seiner Plotinausgabe fügte Porphyrios allen Schriften nicht nur Titel und Incipit, sondern auch knappe Inhaltsangaben (kephalaia) sowie Rekapitulationen (epicheirêmata), einzelnen Schriften sogar einen Kommentar hinzu (VP 26,29–32), stellte sich also in die (bei Longin erlernte) Tradition der alexandrinischen Philologie. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich zwei Besonderheiten der Vita Plotini ab: Zum einen ist es bemerkenswert, dass die Informationen über Plotin als Person sowie die über die Datie-

1  Zur Biographie Plotins

rung und Reihung seiner Schriften in der Darstellung des Porphyrios so eng verschmolzen sind. Leben, Lebensführung und sich in schriftlichen Texten niederschlagendes Philosophieren sind im Falle Plotins – das will Porphyrios vermitteln – aufs engste verbunden, die Schriften Plotins haben einen klaren und deutlichen Sitz im Leben ihres Autors. Mitunter geht aus einer berichteten Begebenheit oder Anekdote eine thematisch affine philosophische Schrift Plotins hervor (wie z. B. VP 10,15–33 aus der Beschwörung von Plotins Daimon im Isis-Tempel in Rom die Schrift Über den Daimon, der uns erlost hat, III 4 [15]). Exemplarische Episoden deuten die zentralen philosophischen Themen und Anliegen Plotins an, die den Lesern bereits vor dem Studium seiner philosophischen Texte literarisch illustriert und szenisch einprägsam vermittelt werden. Doch nicht nur die enge Verzahnung der Lebensbeschreibung Plotins mit der Entstehung seiner einzelnen Schriften erweist sich als planvolle Komposition des Porphyrios, sondern auch die von ihm selbst als Herausgeber vorgenommene Neuordnung des plotinischen Œuvres in sechs thematische Gruppen zu je neun Schriften (die sog. Enneaden), die in der Vita ebenfalls eingeführt wird. Wie bereits der Platoniker Thrasyllos im 1. Jahrhundert n. Chr. in seiner Ausgabe der Platonschriften diese wohl auch nach pythagoreischer Zahlensemantik in Tetralogien (Vierergruppen) anordnete und auch andere zahlensymbolisch strukturierte Werkausgaben Platons in der Kaiserzeit bezeugt sind (Albinos, Prologus 3 und 6; Diog. Laert. 3,49–50), so ist für Porphyrios’ Enneaden eine vergleichbare Motivation denkbar. Denn wie Porphyrios selbst sagt, sind die sechs Enneaden vom Einfachen zum Komplizierteren hin angeordnet (VP 24,11–16). Erkennbar wird somit eine isagogische und zugleich anagogische Struktur, sodass sich ein von Porphyrios intendiertes und empfohlenes Curriculum abzeichnet (Hadot 1966, 127–129; Männlein-Robert 2022). Denn in der ersten Enneade, so Porphyrios explizit (VP 24,36–37), habe er die auf ethische Themen und Fragen bezogenen Schriften Plotins gebündelt, in der zweiten Enneade auf Physika und den Kosmos Bezogenes, in der dritten

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alle auf den Kosmos in einem weiteren Sinne gerichteten Schriften, in der vierten Enneade alles über die Seele, in der fünften alle Schriften über den Geist und die Ideen und schließlich in der sechsten Enneade Plotins Schriften über das Seiende, das Eine und das Gute zusammengestellt. Damit wird eine mit Themen von praktischer Relevanz (Ethik) anhebende und zu abstrakteren Fragen nach dem Seienden und Einen (Metaphysik/Ontologie) aufsteigende Komplexität der philosophischen Anliegen Plotins dokumentiert. Porphyrios präsentiert Plotins Schriften also systematisch, in einer philosophischen, auf große Themen bei Plotin konzentrierten und entsprechend strukturierten Form.

1.2.3 Die Vita Plotini unter literarischen Aspekten Die Vita Plotini ist nicht nur eine biographische und editorische Einleitung in die Gesamtausgabe der Schriften Plotins, sie ist in all ihrer generischen Eigenwilligkeit ein literarisch überformter Text, der den Protagonisten Plotin als originellen Platoniker und philosophischen Lehrer von anderen absetzen will. So wird Plotin anhand von stilistisch brillanten, scharf pointierten Aussprüchen (‚Apophthegmata‘), die er in bestimmten Situationen formuliert haben soll, als prägnanter und diagnostischer Menschenkenner gezeigt (VP 14,18–20; 15,1–17), der etwa die religiöse Begeisterung des Porphyrios goutiert, Longins Prinzipienschrift hingegen als unphilosophisch brandmarkt. Der Biograph Porphyrios bettet in seine Vita Plotini zudem etliche Originaldokumente unterschiedlicher Herkunft und Gattungszugehörigkeit ein, die im literarischen Kontext konkrete Funktionen haben: So zitiert er ausführlich aus einem an ihn, Porphyrios, selbst gerichteten persönlichen Brief Longins, in dem dieser die inhaltliche Stringenz sowie die stilistische Prägnanz Plotins lobt (VP 19,7–41; 20,1–9), sowie aus dem Prooimion von Longins Schrift Über das Ziel, wo Longin von allen zeitgenössischen philosophischen Autoren nur Amelios und vor allem Plotin für relevant und studierwürdig hält (VP 20,68–104).

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Außerdem zitiert Porphyrios eine ihm selbst gewidmete Schrift des Amelios, in der dieser den Meister gegen den Vorwurf, Numenios plagiiert zu haben, verteidigt (VP 17). Stets soll die überaus positive Außenwahrnehmung Plotins aus dem Munde ausgewiesener Persönlichkeiten dokumentiert werden. Vor allem aber schildert Porphyrios seinen Protagonisten als singulären Charismatiker und inszeniert ihn als eine Art Heiligen nach dem Typus des paganen ‚göttlichen Mannes‘ (theios anêr; Bieler 1935/1936; Edwards 2001; Männlein-Robert 2002, 587–593), vermutlich sogar gezielt als Gegenmodell zu christlichen Märtyrern und Heiligen. Die hagiographische Stilisierung wird bei Porphyrios ganz deutlich: Plotin pflegte, so sein Biograph, nicht nur einen entbehrungsreichen, asketischen Ernährungs- und Lebensstil oder erschien beim Philosophieren in einem nimbusähnlichen, strahlenden Licht (VP 13,5–10), sondern besaß vor allem eine besondere, normale menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten übersteigende Sensibilität und Spiritualität: So hatte Plotin die richtige Ahnung bei der Entlarvung eines Sklaven als Dieb in Geminas Haus oder konnte treffsicher voraussagen, wie sich die in seine Obhut gegebenen Waisenkinder künftig entwickeln würden (VP 11). Er hatte, so Porphyrios, die Fähigkeit, gegen ihn gerichteten Schadenszauber von sich abzuwehren und auf den Urheber selbst zurückzuwerfen (VP 10,1–15), verfügte also über übersinnliche Kräfte. Als Plotin einem ägyptischen Priester erlaubte, im Isis-Tempel in Rom seinen Daimon durch Beschwörung sichtbar zu machen, sei nicht ein Daimon, sondern ein Gott erschienen, was einmal mehr Plotins übermenschlichen, göttlichen Status illustrierte (VP 10,21–23; s. auch Kap. 24). Plotins wohl historische Geringschätzung seines eigenen Körpers (und der eigenen Familiengeschichte) dient Porphyrios im Kontext seiner hagiographischen Stilisierung als zentraler Gedanke, gleichsam als Leitmotiv der Körper- und Weltflucht, mit dem er den biographischen Teil der Vita Plotini rahmt: „Plotin, der Philosoph, unser Zeitgenosse, glich einem, der sich schämt, im Körper zu sein“ (VP 1,1– 2): Das ist der erste, programmatisch anhebende

I. Männlein-Robert

Satz der Vita Plotini. Als Beleg dafür berichtet Porphyrios eine charakteristische Episode, wonach Plotin es Amelios untersagte, ein Porträt von ihm erstellen zu lassen, da es sich dabei um das Abbild eines Abbildes handle. Trotz Plotins gut platonischer Ablehnung eines künstlerischen Bildes brachte Amelios den Maler Karterios mit in Plotins (stets öffentliche) Vorlesungen und dieser erstellte aus dem Gedächtnis ein Porträt Plotins ohne dessen Wissen (VP 1,4–19; Lang 2012). Diese Episode illustriert gleich im Eingang der Vita Plotini, gewissermaßen als Ersatz einer körperlichen Beschreibung Plotins und ex negativo, dessen radikale und programmatische Ablehnung alles Körperhaften, Uneigentlichen und Vergänglichen. Darauf folgen bei Porphyrios sogleich Plotins Krankheit, Sterben und Tod (VP 2), während Plotins philosophischer Werdegang sowie sein Wirken in Rom ins Zentrum der Ausführungen gerückt werden (VP 3–21). Abgerundet wird der ‚biographische‘ Mittelteil, dem jede Geburts- und Familiengeschichte fehlt, am Ende durch die Einfügung des Apollonorakels, das Amelios nach dem Tod Plotins eingeholt haben soll, um zu erfahren, wohin Plotins Seele nach seinem physischen Tod gegangen sei (VP 22). Stilisiert als hochpoetische, hymnische Begrüßungsrede Apollons bei Plotins Ankunft in einer anderen, höheren Welt, autorisiert und bestätigt dieser Text Plotins göttlichen Rang gleichsam aus göttlichem Munde. Plotins Seele, deren Ekstasen bereits zu Lebzeiten punktuelle Vereinigungen mit dem Göttlichen erzielt hatten, gesellt sich, so das Orakel, nun in einer Sphäre heiteren Lichtes zur Schar anderer Seliger, darunter Platon und Pythagoras. Die Seele des zeitgenössischen Philosophen Plotin wird also post mortem den großen alten Philosophen und Urvätern des Platonismus, Platon und Pythagoras, gleichgestellt. Das Apollon-Orakel der Vita Plotini dokumentiert somit die Rückkehr seiner (göttlichen) Seele zu ihrem göttlichen Ursprung (vgl. VP 2,25–27) und erweist mit Rückwirkung auf den Eingang der Vita den körperlichen Tod Plotins als wichtigsten und entscheidenden Moment in seinem Leben, als beglückende Befreiung der Seele aus dem kranken, lästigen Körper. Ersichtlich wird damit eine von Porphy-

1  Zur Biographie Plotins

rios planvoll und programmatisch konzipierte ‚thanatographische’ Rahmung der (Hagio-)Biographie dieses besonderen Platonikers (Männlein-Robert 2002, 586), dessen philosophisches Denken wesentlich auf die Befreiung der Seele aus dem Körper, auf die Rückkehr der Seele in die eigentliche, transzendente Heimat gerichtet war.

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Teil II

Das Werk

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Die Philosophenschule als Entstehungshorizont der Schriften Michael Erler

2.1 Schulgründung Nachdem Plotin Alexandria verlassen hatte, wo ihn vor allem Unterrichtserfahrungen bei Ammonios prägten, und er sich im Jahr 244 n. Chr. in Rom niedergelassen hatte, gründete er dort eine Schule. Plotin verfügte freilich nicht über einen institutionalisierten Lehrstuhl. Ort seines Unterrichts war das Haus einer Gönnerin mit Namen Gemina (Porph. VP 9,1–5). Der Unterricht fand also in einem privaten Umfeld statt, an einem festen Ort, wohl zu fester Zeit und vielleicht in festen Organisationsformen. Porphyrios verwendet in der Vita Plotini verschiedene Bezeichnungen für die schulischen Treffen: synousia (VP 3,46), diatribai (VP 3,34), homiliai (VP 3,1). Letzteres steht wohl für ein Treffen mit wenigen (Kalligas 2014, 21); die anderen Bezeichnungen sind kaum eindeutig zu spezifizieren. Plotin setzte damit die Tradition des privaten philosophischen Unterrichts fort (Hadot 2003), der neben den kaiserlichen und städtischen Einrichtungen bestehen blieb und auch für die Fächer Grammatik und Rhetorik zu beobachten ist. Die mehrere Generationen überdauernde neuplatonische Schule von Athen hatte ebenfalls einen eher privaten Charakter. Wie sich aus Porphyrios’ Vita Plotini ergibt, hat sich im M. Erler (*)  Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Kreis um Plotin eine Art Lehrbetrieb etabliert, der aber wohl keinem bestimmten Curriculum folgte und offen für alle war (VP 1,13). Frauen waren in Plotins Kreis ebenso willkommen wie Gäste (VP 9,1–5). Wir hören, dass Plotin für Waisenkinder Fürsorge übernahm. Im Kreis um Plotin herrscht also ein Umgang, der von Freundschaft und wissenschaftlicher, aber auch menschlicher Zuwendung geprägt war. Dieses Verhalten Plotins belegt jene Aufmerksamkeit und Fürsorge, die als wichtige Merkmale seiner philosophisch geprägten Lebenshaltung angesehen werden können. In Plotins Kreis wurden offenbar zwei Arten von Schülern unterschieden: wirkliche Philosophenschüler und Forscher (zêlôtai), die ihrem Lehrer nacheiferten, und eher beiläufige Zuhörer (akroatai; vgl. VP 7,1–2). Unter den an Philosophie interessierten Schülern Plotins sollte man sich wohl keine jungen Studenten, sondern eher schon ältere Menschen vorstellen, zu denen z. B. Mediziner wie Eustochios aus Alexandria oder Senatoren wie Castricius Firmus und Rogatianus, aber auch professionelle Philosophen wie Amelios aus Etrurien, der sich bei Gründung der Schule angeschlossen hatte und bis 269 n. Chr. in ihr verblieb, oder Porphyrios aus Tyros gehörten. Porphyrios hatte zuvor bei Longinos studiert und stieß im Jahr 263 n. Chr. zu Plotins Kreis, wo er für sechs Jahre blieb. Im Jahr 268 n. Chr. trennte er sich aus gesundheitlichen Gründen – Porphyrios litt an Depressionen –

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_2

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einvernehmlich von Plotin und ging auf dessen Empfehlung hin nach Sizilien. In der Vita Plotini zeichnet Porphyrios von Plotin das Bild eines philosophischpädagogischen Paradigmas. Plotin wird als inspirierender Lehrer vorgestellt, dessen Intelligenz und Brillanz sich in seinen durchaus anspruchsvollen Kursen manifestierte: „Während er sprach, trat sein Geist sichtbar zutage und bestrahlte mit seinem Glanz selbst noch sein Angesicht. Er wirkte ja immer anziehend, in solchen Augenblicken aber war er geradezu schön; ein leichter Schweiß stand ihm auf dem Gesicht, seine milde Menschlichkeit schien hervor, er bewies eine freundliche Bereitschaft gegenüber Fragen und zugleich eine nimmermüde Aufmerksamkeit. Als ich, Porphyrios, ihn einmal drei Tage lang über die Verbindung der Seele mit dem Leib befragte, legte er, ohne innezuhalten, seine Lehre dar“ (VP 13,1–10). Plotins Vorlesungen werden als klar und mitreißend beschrieben. Er sei in der Lage gewesen, mit wenigen Worten die Bedeutung einer wichtigen Lehre zu verdeutlichen. Dabei habe er allen rhetorischen Pomp gemieden. Sein Unterricht war von mündlicher Diskussion philosophischer Probleme, aber auch durch Exegese philosophischer, zumeist platonischer Texte, geprägt. Zentral war für ihn offenbar der lebendige mündliche Diskurs. Auch in seinen Vorlesungen erweckte er offenbar den Anschein, als befinde er sich in einem Gespräch mit den Schülern (VP 18,6–8). Porphyrios betont, dass Plotin sich bei seinen Überlegungen und Ausführungen immer von eigenen und originellen Gedanken leiten ließ, bei seinen Untersuchungen aber auch den „Geist“ (nous) seines Lehrers Ammonios walten ließ (VP 14,10–16).

2.2 Esoterik und Schultätigkeit mit Blick auf Ammonios Der Umstand, dass Plotin sich bei der Lehrtätigkeit offenbar stark an seinem Lehrer Ammonios orientierte, wirft die viel diskutierte Frage auf, inwieweit dies mit jenem Verschwiegenheitspakt zu vereinbaren ist, den Ammonios’ Schüler

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Plotin, Origenes und Herennios geschlossen hatten, die Lehren ihres Meisters Ammonios nicht enthüllen zu wollen (Porph. VP 3,24–27; Kalligas 2014, 34–35). Für die Erklärung des Paktes wurden religiöse (Pythagoreismus) und juristische Gesichtspunkte erwogen (vgl. GouletCazé 1982, 258–260), aber auch auf Aspekte einer platonischen ‚Esoterik‘ verwiesen, wie sie in Platons (?) Siebtem Brief anzutreffen ist (Szlezák 1977, 52–69). Freilich sind diese Erklärungen für den Pakt nicht völlig überzeugend. Im Siebten Brief geht es um die Problematik einer schriftlichen Fixierung der platonischen Lehre. Im Pakt aber ist die gewünschte Geheimhaltung prinzipieller Natur und betrifft auch die mündliche Weitergabe. Zu bedenken ist auch, dass Ammonios weitere Schüler hatte, die offenbar nicht in den Pakt eingebunden waren; dieser galt nur für die drei herausragenden Schüler. Er sollte wohl nur verhindern, dass einer von diesen sich mit Ammonios’ Lehre besonders profilieren konnte (Kalligas 2014, 35). Jedenfalls hielt sich Plotin offenbar nicht mehr an den Geheimhaltungspakt, als er sich in seinem zunächst (bis ins Jahr 254 n. Chr.) rein mündlichen Unterricht in Rom und später auch in seinen Texten an Ammonios’ PlatonVerständnis orientierte (VP 3,32–35). Freilich hatten offenbar schon zuvor zuerst ­ Herennios und dann Origenes die Verabredung nicht eingehalten (VP 3,29–30). Vielleicht erfolgte die Verabredung zunächst aus der Erkenntnis heraus, dass Ammonios in seinem Unterricht eine gegenüber der zu dieser Zeit t­raditionellen Platon-Auffassung z. B. des Numenios außergewöhnliche, ja revolutionäre Form des Platonis­mus geprägt hatte, bei der man von Kontroversen ausgehen musste und die neue Perspektive darum zunächst selbst weiterentwickeln und untermauern wollte (Goulet-Cazé 1982, 260). Doch mag schnell klar geworden sein, dass derartige zentrale Fragen nicht im Geheimen weiterentwickelt werden konnten, sondern eine Diskussion innerhalb des Platonismus erforderten. Immerhin erfolgte der ‚Bruch‘ durch Plotin schrittweise zunächst durch Diskussionen allein im mündlichen Unterricht im kleinen Kreis der Schüler und erst später auch durch

2  Die Philosophenschule als Entstehungshorizont der Schriften

Schriften, die aber ebenfalls offenbar nicht für weite Kreise bestimmt waren. Zur Zeit der Anwesenheit des Porphyrios in der Schule war die Frage nach der Geheimhaltung jedenfalls kein Problem mehr. Dass Plotin überhaupt bereit war, sich in einem philosopischen Unterricht Schülern und Schülerinnen zuzuwenden, mag mit Blick auf seine eher am Jenseits orientierte Auffassung von Philosophie erstaunen. Doch passt dies zu Plotins Konzept der ‚Fürsorge‘ und Hinwendung als wichtiges Element seiner Philosophie und zu seinem generellen Verständnis von Philosophie als einer Lebensform (Hadot 1999, 184–197). Porphyrios spricht ihm die Eigenschaft zu, ganz bei sich selbst und zugleich anderen zugewandt gewesen zu sein (VP 8,19). Eine derartige Verbindung von Selbstsorge und Fürsorge für andere, von Theorie und Praxis entspricht der Auffassung Platons; generell schließt platonische Jenseitsorientierung eine Weltzugwandtheit nicht aus (Song 2009; s. auch Abschn. 45.4). Plotins Lehrtätigkeit lässt sich als eine Art sokratisches Element im Rahmen seiner philosophischen Tätigkeit verstehen (Erler 2020a). Er war sich jedenfalls bewusst, dass sich ein Mensch, der Kenntnis und Tugend erlangt hat, um die Mitmenschen kümmern und Weltverantwortung übernehmen muss. Der Erwerb eigenen Wissens und dessen Weitergabe an andere galt ihm als wesentliches Element der politischen Tugend der Philosophen (III 8 [30],4,31– 43; O’Meara 2003, 74–76). Denn Plotin war überzeugt, dass gemeinsame Übung, eigenständiges Streben nach Erkenntnis (zêtêsis) und ein belehrender Impuls von außen (didaxis) zur Erkenntnis der Wahrheit und der Schau Gottes beitragen (VI 9 [9],4,15; Erler 2002, 391– 392). Dabei macht Belehrung von außen Eigenleistung nicht überflüssig, sondern fördert diese. Für Plotin steht das Vertrauen auf die Fähigkeit des Menschen zu eigenständiger Selbsterkenntnis sogar im Vordergrund, weil nach seiner Überzeugung die Seele des Menschen mit dem Jenseits in bleibendem Kontakt steht (IV 8 [6],8; s. Abschn. 35.1). Doch wird von ihm ein Impuls von außen in Form von schriftlicher und mündlicher Belehrung, zumindest am Beginn

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der Belehrung, als hilfreich und notwendig angesehen. Diese Positionen sind wesentlich, um zu verstehen, dass Plotin im Unterricht offenbar sehr auf den Diskurs und eigene Initiativen, Thesen und Fragen der Schüler, also auf ein Fördern durch Fordern setzte.

2.3 Der Lehrbetrieb als Ort der Schriften Plotins In Porphyrios’ Vita Plotini werden Philosophen, die mündlichen Unterricht praktizieren, von solchen unterschieden, die sich auf schriftliche Texte stützen (VP 20,25–29; Männlein-Robert 2001, 178–200). Plotin wird zu den letzteren gezählt. Überblickt man freilich die 26 Jahre von Plotins Lehrtätigkeit in Rom, scheint diese Beurteilung zumindest einseitig. Wir hören, dass Plotin in seiner Schule zunächst nahezu zehn Jahre lang rein mündlich unterrichtete, was in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches ist (Kalligas 2014, 36). Schüler fertigten freilich während des Unterrichts Mitschriften an, die als „Scholia“ bezeichnet wurden (VP 3,46–47; 4,5–6; GouletCazé 1982, 270–271; Hadot 2003, 63). Sie wurden offenbar von Amelios gesammelt, redigiert und in 100 Büchern veröffentlicht (VP 3,46– 47; s. Kap. 3). Plotin selbst äußerte sich erst ab ca. 253/254 n. Chr. schriftlich und begann Traktate zu verfassen. (VP 4,9–14). Allerdings hatte für ihn bei der Lösung philosophischer Probleme immer die mündliche Diskussion Vorrang vor der Lektüre von Texten. Diesen Umstand illustriert eine von Porphyrios erzählte Anekdote: Demnach protestierte ein Schüler namens Thaumasios gegen Plotins ausgedehnte Diskussionen mit Porphyrios und wollte unbedingt etwas zum Nachschreiben Geeignetes hören. Plotin jedoch bestand darauf, dass ohne mündliche Auseinandersetzungen eine Diskussion über Texte keinen Sinn mache (VP 13,10–17). Hervorgehoben wird in der Tat Plotins pädagogische Energie im Unterricht, welche die Beteiligung der Schüler an der Wahrheitssuche wünschte und einforderte. Seine Unterrichtsform kann man geradezu als aporetisch bezeichnen. Wenn Por-

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phyrios zur Beschreibung des Unterrichtes von einem Miteinander von „Erklären“, „Finden“ und „Erwägen“ spricht, bedient er sich einer Begriffstrias, die auch in der Rhetorik eine wichtige Rolle spielt (VP 13,1–2; Kalligas 2014, 56). Plotin wird als Lehrer geschildert, der Konzepte zu finden und zu analysieren in der Lage war, ohne dabei zum trockenen Logiker oder Syllogistiker zu werden. Bei aller Konzentration auf das Wesentliche ließ Plotin große Bildung und Kenntnis von Geometrie, Arithmetik und Mechanik erkennen (VP 14,7–9), was seine Kurse bisweilen durchaus voraussetzungsreich erscheinen ließ. Freilich ist unklar, inwieweit Mathematik im Unterricht wirklich eine Rolle spielte. In den Traktaten ist dies jedenfalls nicht der Fall. Man kann sich anhand der Schriften ein Bild von Plotins Gelehrsamkeit machen, wenn man die häufigen Anspielungen auf Dichter, Dramatiker und Epiker (Cilento 1960) und vor allem die zahlreichen Zitate aus Platons Werk berücksichtigt (z. B. ca. 250 Zitate aus dem Timaios oder 140 aus der Politeia). Unklar ist, ob Plotins Einsatz literarischer Gelehrsamkeit zur Unterhaltung des Lesers auf die Schriften beschränkt war. Vielleicht diente sie auch im Unterricht zur Illustration und Affirmation der Ergebnisse abstrakt-philosophischer Argumentation (s. Kap. 4). Die Gelehrsamkeit mag freilich auch spiegeln, was bei Plotins Vorträgen zu erwarten war. Porphyrios bezeugt in der Vita Plotini verschiedentlich, dass die Schriften Plotins in engem Zusammenhang mit seinem mündlichen Unterricht standen (VP 4,9–11). Als Plotin eigene Schriften zu verfassen begann, wurden diese offenbar – wenigstens zunächst – nur ausgewählten Mitgliedern der Schule zugänglich gemacht (VP 4,14–16; 18,20; dies legt auch der Ausdruck ekdosis – ‚Herausgabe‘ – nahe, vgl. Kalligas 2014, 39). Plotins Traktate deuten jedenfalls an, dass er sich in manchen seiner Kurse thematisch an Fragen seiner Schüler anschloss. Auch wenn die mündliche philosophische Diskussion von Plotin präferiert wurde, spielten Abhandlungen, Kommentare und Exegese als Diskussionsgrundlage in seinem Unterricht eine wichtige Rolle. Diskussionen

M. Erler

über Fragen philosophischer Systematik gingen einher mit Auseinandersetzungen, welche die philosophische Tradition und ihre Werke betrafen, vor allem die Dialoge Platons und hier vor allem dessen späteres Werk (Politeia, Phaidros, Timaios, Parmenides), weniger jedoch die frühen Dialoge (s. Kap. 9). Aber auch Aristoteles war von zentraler Bedeutung, nach Angabe des Porphyrios vor allem die Metaphysik (VP 14,5–7). Plotin betont freilich, dass er seine Vorgänger nicht aus einem rein historischen Interesse rezipiert, sondern sie als Ausgangspunkt für eine eigenständige Reflexion der von ihnen behandelten Probleme betrachtet (III 7 [45],1,7– 16). In seinen Seminaren ließ sich Plotin zu bestimmten Fragestellungen wichtige Schriften vorlesen und kommentierte sie – Lehrer und Schüler lasen gemeinsam einen Abschnitt eines philosophischen Traktats, den der Lehrer danach kommentierte (VP 14,10–16). Auf dieser Basis entstanden die erwähnten Mitschriften („Scholia“). Ein Reflex des mündlichen Unterrichts findet sich vielleicht in einem in syrischer Übersetzung erhaltenen Text des Porphyrios, wo es heißt, dass „mein Lehrer Plotin“ sich in der Frage der ungeordneten Bewegung der Elemente vor der Erschaffung der Welt (Plat. Tim. 30a) der Auffassung des Mittelplatonikers Severos anschloss (Porphyrios, Über die Prinzipien und die Materie, §§ 94–95; Arzhanov 2021, 122–123; s. Abschn. 9.6). In Plotins schriftlichem Werk wird das Problem nicht diskutiert. Man darf vermuten, dass es in der Schule Plotins nicht viel anders zuging als etwa im Unterricht des Epiktet, wo es z. B. eine Lesung und Interpretation eines Textes durch einen Schüler gab, die dann durch den Meister ergänzt oder korrigiert wurde (Epict. diss. 1,10,8; Goulet-Cazé 1982, 265). Derartige Verbindungen von Exegese- und Diskussionsrunden kennen wir auch aus platonischem Kontext. Plutarch illustriert in der Schrift Adversus Colotem, wie es in seinem Kreis zuging: Dort wird eine Schrift des Epikureers Kolotes vorgelesen und dann abschnittsweise diskutiert und kritisiert. Danach schließt sich eine allgemeine Diskussion über das Thema an, ob man nach Epikurs Lehre gut leben kann, die ihrerseits in Plutarchs Schrift Non posse sua-

2  Die Philosophenschule als Entstehungshorizont der Schriften

viter vivi secundum Epicurum nachgezeichnet wird (Erler 2020b, 522–523). Mit aller Vorsicht darf man derartige Beschreibungen wohl heranziehen, um sich ein Bild auch von Plotins Unterricht zu machen. Jedenfalls stehen auch Plotins Texte und sein Unterricht in engem Zusammenhang; beispielsweise mag die kritische Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen in den Texten in Form und Inhalt jene Debattenkultur spiegeln, die in der Schule offenbar gepflegt wurde. Denn in Plotins Schule herrschte ein durchaus kritischer Geist und galt die Eigenbeteiligung der Schüler als eine wichtige Komponente des gemeinsamen Strebens nach der Schau des obersten Prinzips. Deshalb hat Plotin seine Schüler immer wieder ermuntert, Fragen zu stellen zu Problemen, die dann Gegenstand der Diskussionen und Belehrung im Unterricht, aber auch von Plotins Schriften wurden (VP 3,35–38; Schwyzer 1951, 485–486). Zu diesen Diskussionen gehörte offenbar auch Kritik an anderen Positionen. Innerhalb des Schulkontextes war polemische Auseinandersetzung durchaus üblich und wurde auch in schriftlicher Form geführt. Wir hören von polemischen Auseinandersetzungen des Porphyrios mit Amelios und Plotin (VP 18,10–19), von Longinos’ Kritik an Plotin, Amelios und Porphyrios hinsichtlich des Ortes der Ideen im geistigen Bereich (VP 20,89–97) und einer Auseinandersetzung des Longinos mit Amelios über die Frage nach der Gerechtigkeit bei Platon (VP 20,87–89), einer dreitägigen Debatte, die Porphyrios mit Plotin über die Verbindung der Seele mit dem Körper führte (VP 13,10–17), und von einem Streit gegen die Gnosis, der von Amelios und Porphyrios geführt wurde und in den Plotin mit seiner Schrift Gegen die Gnostiker eingriff (VP 16,9–18). Diese Kritikfreude findet einen Niederschlag in Plotins Werken, aber auch in Texten seiner Schüler. Die kritische Auseinandersetzung mit den Gnostikern in der Schrift Gegen die Gnostiker (II 9 [33]) mag ein Beispiel dafür sein, dass und wie ein Text mündliche Schulpraxis spiegelt (Narbonne 2008, 636). In der Tat finden sich in den Traktaten Plotins unterschiedliche Arten von Diskursen, darunter auch verschiedene Widerlegungsstrategien

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wie direkte Kritik, Kritik an Positionen, die anonymen Partnern zugeschrieben werden (Schniewind 2003, 64–66), dialektische Untersuchungen mit Frage und Antwort (z. B. V 3 [49],3,15–32; zu Plotins Auffassung von Dialektik vgl. I 3 [20]), Thesenverteidigung oder gemeinsame Untersuchungen. Wir hören von zahlreichen polemischen Schriften, die in der Schule Plotins entstanden, wie etwa Amelios’ Widerlegung der gnostischen ‚Zoroaster-Apokalypse‘, die als unecht erwiesen wurde (VP 16,12–18). Lebendig war die Diskussion über den Ort der Ideen, die zu einem Streit und Schriftentausch zwischen Porphyrios und Amelios führte (VP 18,10–19), was dann offenbar Plotin dazu veranlasste, ausführlich seine eigene Meinung darzulegen (V 5 [32],1–2). Porphyrios trug seinen „Widerruf“ (palinôdia), mit dem er sich zu Plotins Auffassung bekannte, im Unterricht vor und erhielt von da an Zugang zu Plotins Schriften (VP 18,18–20). Bisweilen trugen Schüler auch eigene Werke vor, wie z. B. Porphyrios anlässlich des Geburtstages Platons ein Gedicht über die ‚Heilige Hochzeit‘ (VP 15,1–6). Solche ‚Lesungen‘ waren offenbar Anlass von Lob oder Kritik seitens des Meisters und von Polemiken. Plotin forderte z. B. Porphyrios auf, den Redner Diophanes zu widerlegen, der eine Apologie des Alkibiades in Platons Symposion vortrug und behauptete, um des Wissenserwerbs willen müsse man als Schüler dem Lehrer zu Willen sein (VP 15,6–17). Dies mag ein eher kurioser Fall sein; zusammen mit den anderen von Porphyrios berichteten Situationen belegt er aber, dass der freundliche oder polemische Austausch von Schriften ein tragendes Element des Schulbetriebs war und den inneren Schülerkreis (zêlôtai) ebenso wie die beiläufige Hörerschaft (akroatai; zu diesen wird man Diophanes rechnen dürfen) involvierte. In diesem Rahmen dürfte auch die ursprüngliche Funktion der Schriften Plotins zu suchen sein. Freilich blieben diese, vielleicht aufgrund eines wie auch immer gearteten Verständnisses platonischer Esoterik, dem inneren Kreis vorbehalten; erst 35 Jahre nach Plotins Tod werden sie durch die Enneaden-Ausgabe allgemein zugänglich (s. Kap. 3).

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Literatur Arzhanov, Yury: Porphyry on Principles and Matter. A Syriac Version of a Lost Greek Text with an English Translation, Introduction, and Glossaries. Berlin 2021. Brisson, Luc/Goulet-Cazé, Marie-Odile/Goulet, Richard/O’Brien, Denis: Porphyre. La Vie de Plotin 1: Travaux préliminaires et index grec complet. Paris 1982. Brisson, Luc/Cherlonneix, Jean-Louis/Goulet-Cazé, Marie-Odile/Goulet, Richard/Grmek, Mirko D./Flamand, Jean-Marie/Matton, Sylvain/Pépin, Jean/Saffrey, Henri Dominique/Segonds, Alain-Philippe/Tardieu, Michel/Thillet, Pierre: Porphyre. La Vie de Plotin 2: Études d’introduction, texte grec et traduction française, commentaire, notes complémentaires, bibliographie. Paris 1992. Brisson, Luc: Longinus (Cassius). In: Richard Goulet (Hg.): Dictionnaire des philosophes antiques 4. Paris 2005, 116–125. Cilento, Vincenzo: Mito e poesia nelle enneadi di Plotino. In: Les sources de Plotin (Entretiens sur l’antiquité classique 5). Vandœuvres-Genève 1960, 243– 323. Erler, Michael: Hilfe der Götter und Erkenntnis des Selbst. Sokrates als Göttergeschenk bei Platon und den Platonikern. In: Michael Erler/Theo Kobusch (Hg.): Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens. Akten des Internationalen Kongresses vom 13.–17. März 2001 in Würzburg. München/Leipzig 2002, 387–414. Erler, Michael: Sokrates in der Höhle. Aspekte praktischer Ethik im Platonismus der Kaiserzeit. Tübingen 2020 [Erler 2020a]. Erler, Michael: Plutarch. In: Phillip Mitsis (Hg.): The Oxford Handbook of Epicurus and Epicureanism. Oxford 2020, 507–530 [Erler 2020b].

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Die Enneaden-Ausgabe Michael Erler

3.1 Porphyrios als Herausgeber Plotins Die Überlieferung der Texte Plotins geht auf eine Ausgabe zurück, die Plotins Schüler Porphyrios 31 Jahre nach Plotins Tod (270 n. Chr.) im Jahre 301 n. Chr. besorgt hat (Porph. VP 7,51; 24,2–5; D’Ancona Costa/Lang 2012, 895– 896). Plotins Lehrtätigkeit in Rom erfolgte zunächst rein mündlich. Erst nach ungefähr zehn Jahren begann er, schriftliche Texte zu verfassen (VP 4,9–13; s. Abschn. 2.2). Er war zu diesem Zeitpunkt 49 Jahre alt. Seine schriftstellerische Tätigkeit erstreckt sich dann über 16 Jahre bis kurz vor seinem Tod 269/70 n. Chr. Als Porphyrios im Jahr 263 n. Chr. nach Rom kam und sich ihm anschloss, hatte Plotin bereits 21 Traktate verfasst. In den sechs Jahren, als Porphyrios in Plotins Schule anwesend war (263 bis 268 n. Chr.), schrieb Plotin den Großteil seiner Traktate (24). Es war die wohl produktivste Zeit seines literarischen Schaffens. Denn nach 268 n. Chr. sind nur noch 9 weitere Schriften entstanden. Allerdings zeugen noch die letzten Texte, wie z. B. die Schrift Über das Woher des Bösen (I 8 [51]), von großer geistiger und literarischer Energie und Frische des Verfassers.

M. Erler (*)  Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Als Plotin den Plan fasste, eine Gesamtausgabe seiner Schriften zu besorgen, zog er seinen Schüler Porphyrios heran und beauftragte ihn mit der Zusammenstellung und der Korrektur seiner Werke (VP 7,50–1; 24,2–5). Porphyrios war Philosoph, hatte aber auch beim Platoniker und Philologen Longinos studiert. Nach seiner Ankunft in Rom schloss er sich dem Kreis um Plotin an. Dort hat er sich in wichtigen philosophischen Positionen – z. B. der Frage, ob die Ideen außerhalb oder innerhalb des Geistes anzusiedeln sind – nach eingehender Diskussion der Position Plotins angeschlossen und wurde zu dessen engem Schüler. Porphyrios will „Kommentare“ (hypomnêmata) zu den Schriften Plotins verfasst haben, die nicht erhalten sind (VP 26,29–37; Kalligas 2014, 91–92). Eine Gesamtausgabe der Werke Plotins erwies sich als wünschenswert und notwendig. Denn Plotins Traktate zirkulierten offenbar nur einzeln; manche Schriften waren an ausgewählte Personen, z. B. Longinos, sozusagen als Freundschaftsgaben geschickt worden (VP 19,4–5; GouletCazé 1982, 280–294; D’Ancona/Lang 2012, 899). Porphyrios empfand die Aufgabe einer Edition der Werke Plotins als große und ehrenvolle Verpflichtung (VP 7,51; 24,2–3). Dies wird auch dadurch deutlich, dass er in der von ihm verfassten Biographie Plotins oft Hinweise auf diese Edition gibt. Er unterstreicht die Bedeutung, die Plotin selbst einer vollständigen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_3

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Gesamtausgabe seiner Werke durch ihn beimaß, durch den Hinweis, dass Plotin ihm noch seine letzten Werke nachgeschickt habe, als er 268 n. Chr. aus gesundheitlichen Gründen Rom verlassen hatte (VP 6,1–4; Goulet-Cazé 1982, 287). Die dann 30 Jahre nach Plotins Tod erschienene Gesamtausgabe durch Porphyrios wurde zur Standardausgabe der Werke Plotins. In der Tat verdanken wir es Porphyrios, dass das Werk Plotins vollständig auf uns gekommen ist. Die Ausgabe umfasst sogar einige Notizen zu verschiedenen Bereichen seiner Philosophie (I 9 [16]; III 9 [13]; IV 1 [21]). Die Überlieferungslage von Plotins Werk ist somit ausgezeichnet. Wir besitzen offenbar alles, was er geschrieben hat. Zudem ist – im Gegensatz etwa zu den Werken Platons – alles, was wir haben, in seiner Echtheit unumstritten.

3.2 Datierung der Sammlung In seiner Vita Plotini bietet uns Porphyrios nicht nur Informationen über die Edition selbst und ihre systematische Ausrichtung, sondern gibt auch Hinweise für die Datierung der Schriften und die zeitliche Reihenfolge ihrer Entstehung sowie über den Zeitpunkt des Abschlusses der Sammlung selbst. Diese war zur Zeit der Abfassung der Vita Plotini offenbar grundsätzlich abgeschlossen. Porphyrios war nach eigener Angabe bei der Abfassung der Vita Plotini 68 Jahre alt (VP 23, 13–14) und erwähnt die Edition und ihre Komposition im Vergangenheitstempus; die Edition muss demnach um das Jahr 301, also ca. 30 Jahre nach Plotins Tod (270 n. Chr.) und kurz vor Porphyrios’ eigenem Tod um 305 n. Chr. weitgehend fertiggestellt gewesen sein. Andererseits spricht Porphyrios davon, dass noch Korrekturen und eine Art Endredaktion ausstehen, und benutzt hier das Futur (VP 26,37–39). Die endgültige Fertigstellung der Gesamtausgabe erfolgte somit wohl zwischen 301 und 305 n. Chr., also in den letzten Lebensjahren des Porphyrios (D’Ancona/Lang 2012, 902–903).

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3.3 Titel und Enneaden-Ordnung Die überlieferten Texte der Traktate Plotins lassen nicht klar erkennen, ob Porphyrios in die Texte eingegriffen hat. Porphyrios hat den Traktaten jedoch Titel gegeben, wie es bei Editionen zu seiner Zeit üblich war. Freilich gibt es in der Vita Plotini zwei Listen von Titeln, eine davon im Zusammenhang mit der chronologischen Aufzählung der Werke (VP 4–6) und eine weitere bei der systematischen Auflistung nach der Enneaden-Ordnung (VP 24–26). Beide Listen stimmen nicht immer überein; manche Titel dürften daher schon vor der editorischen Tätigkeit des Porphyrios existiert haben (D’Ancona/ Lang 2012, 899). Vor allem aber stammt von Porphyrios die namengebende Einteilung der Werke in sechs Neunergruppen (Enneaden von griechisch enneas ‚Neunzahl‘). Dabei lässt er sich offenbar von Pythagoreischer Zahlenmystik leiten. Durch die Einteilung der Werke in sechs Neunergruppen ergibt sich die Gesamtzahl 54. Sie hat besondere Bedeutung, denn sie ist das Produkt zweier ‚perfekter‘ Zahlen: der Zahl 6, die zugleich Summe und Produkt der Zahlen 1, 2 und 3 ist (1 × 2 × 3 = 1 + 2 + 3), und der Zahl 9, die als Symbol der Totalität galt. Freilich erreicht Porphyrios die Zahl 54 nur auf etwas gewaltsamem Weg, indem er längere zusammengehörige Schriften zerteilt (IV 3–5 [27–29]; VI 4–5 [22–23]; die Schriften III 8 [30], V 8 [31], V 5 [32], II 9 [33] werden sogar auf drei verschiedene Neunergruppen verteilt; s. auch Abschn. 4.4). Ein solches Zerschneiden zusammenhängender Texte ist bei Plotin pro­ blematisch. Denn Plotin schreibt nicht monothematisch, wie z.  B. Aristoteles dies zumeist tut, sondern behandelt in einem Text verschiedene Fragen, die sich thematisch selten klar einordnen lassen (O’Meara 1993, 9). Offenbar möchte Porphyrios die ursprünglich ungeordneten Traktate Plotins in eine Ordnung bringen, die sich an inhaltlichen Kriterien orientiert und eine zugrunde liegende philosophische Systematik voraussetzt (vgl. Hadot 1966). Nach

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Porphyrios’ Aussage bietet Enneade I Ethisches (VP 24,16–17), die Enneaden II–III befassen sich mit Physik und Kosmologie (VP 24,36– 39), Enneade IV behandelt Psychologisches (VP 25,10–11) und Enneade V Themen rund um den Geist bzw. Intellekt (VP 25,32–33). Enneade VI sammelt die verbleibenden Texte und handelt vom Jenseitigen (VP 26,2–3). Es ergibt sich, dass Porphyrios sich mit seiner Systematisierung der Schriften von Ethik, Physik und Metaphysik als den Phasen eines philosophischen Curriculums leiten ließ, das im Unterricht in der platonischen Schule eine Rolle spielte und in gewisser Weise durch die systematische Anordnung der Traktate gespiegelt wird. Ob eine solche Systematik des Unterrichtes auch in Plotins Kreis vorlag, ist ungewiss und im Grunde wenig wahrscheinlich. Seinem philosophischen Denken scheint sie aber durchaus angemessen. Jedenfalls soll nach Porphyrios’ Vorstellung eine durchgehende Lektüre der Traktate offenbar den erstrebten Aufstieg aus dem Bereich der Phänomene zum Einen unterstützen, indem sie die Seele des Lesenden zunächst mit ethischen Fragen, dann mit Physik und Kosmologie, dann mit Psychologie und dem Geist beschäftigt und schließlich zum Einen führt. Die einzelnen Enneaden waren auf drei Codices (sômatia) aufgeteilt: Das erste sômation enthielt die Enneaden I–III (27 Schriften), das zweite die Enneaden IV–V (18 Schriften) und das dritte die Enneade VI (9 Schriften). Der Textumfang ist in allen drei Gruppen ungefähr gleich (VP 25,1–2; 26,1–6; Wilkens 1977; D’Ancona Costa/Lang 2012, 902–909).

3.4 Chronologie der Schriften Die Enneaden-Anordnung ist also inhaltlich teilweise künstlich und für die Lektüre der Schriften nicht immer hilfreich. Man wird sich bei der Interpretation eher von der chronologischen Anordnung leiten lassen (vgl. O’Meara 1993, 8–11). Denn Porphyrios macht in der Vita Plotini auch hilfreiche Angaben über die Chronologie der Werke Plotins (VP 4–6). Wir erfahren, dass es sich bei der Abhandlung Über das

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Schöne (I 6 [1]) um die erste und bei dem Traktat Über das Glück (I 7 [54], Titel in der Enneaden-Ausgabe: Über das erste Gut und die anderen Güter) um die letzte der Schriften Plotins handelt. Doch sollte man vorsichtig sein, aus der zeitlichen Reihenfolge der Schriften und aus vermeintlichen oder wirklichen Widersprüchlichkeiten Schlüsse auf die geistige Vita Plotins zu ziehen. Seine Schriften sind nicht zuletzt als Reaktionen auf bestimmte Fragestellungen zu sehen, die innerhalb der Schule aufgeworfen wurden, und haben insofern situativen Charakter (s. Abschn. 2.3). Das bedeutet natürlich nicht, dass sie Dokumente der im Unterricht geführten Diskussionen sind. Plotins Schriften sind letztlich fiktionale Texte, auch wenn sie nicht von höchster literarischer Qualität sind (s. Abschn. 4.2). Deshalb muss man vorsichtig sein, ihnen Hinweise auf Plotins geistige Biographie entnehmen zu wollen und sie nach möglichen Entwicklungen seiner Lehre zu befragen. Es mögen sich Aspektverschiebungen erkennen lassen. Doch muss man bei deren Bewertung die jeweiligen Kontexte in Rechnung stellen, bevor man von einer Änderung in Plotins philosophischer Position spricht. Zu bedenken ist auch, dass Plotin erst mit 49 Jahren, also in den letzten 16 Jahren seines Lebens, zu schreiben begann. Zu dieser Zeit sollten seine philosophischen Positionen gefestigt gewesen sein. Das schließt natürlich nicht aus, dass man möglicherweise Akzentuierungen oder Nuancierungen feststellen kann (Narbonne 2008). Porphyrios’ Edition und seine EnneadenOrdnung war Grundlage für die weitere Rezeption der Werke Plotins. Auf ihr fußt auch Marsilio Ficinos lateinische Übersetzung, die Plotin in der Frühen Neuzeit der lateinisch sprechenden und schreibenden Welt vermittelte und großen Einfluss erlangte (s. Kap. 58 und 59). Von Ficino stammt die Einteilung der Schriften in Kapitel.

3.5 Amelios In der Zeit der ausschließlich mündlichen Unterweisung Plotins wurde seine Lehrtätigkeit offenbar in gewisser Weise dokumentiert durch eine

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umfangreiche Zahl von Notizen (scholia, Mitschriften), die sich der dem Schülerkreis Plotins seit 246 n. Chr. angehörende Amelios gemacht hatte und die 100 Bücher umfasst haben sollen. Sie sind uns aber verloren (VP 3,46–48; 4,4–6; D’Ancona Costa/Lang 2012, 894–909; zu Amelios vgl. Brisson 1987; Brisson 1989). Amelios war aber auch sonst ein Ansprechpartner für vieles, was die Schriften Plotins betraf. Man hat deshalb an eine Ausgabe auch des Amelios gedacht (vgl. hierzu Männlein-Robert 2018, 1320). Porphyrios deutet zudem an, dass von Amelios manche Schriften Plotins redigiert wurden und an Personen z. B. in Athen, die nicht zum Kreis um Plotin gehörten, verteilt wurden (VP 20,5–9). Als es zu einer Debatte über einen Plagiatsverdacht gegen Plotin an Numenios kam, kontaktierte man Amelios (VP 17,1–10). Longinos besaß Schriften Plotins; er beklagte sich über deren mangelhaften Zustand und bat Porphyrios um bessere Texte (VP 19,19–27). Man hat einen Nachhall dieser gegenüber der Porphyrios-Ausgabe ‚schlechteren‘ Texte in den Auszügen aus dem Werk Plotins gesehen, die Eusebios in der Praeparatio Evangelica zitiert und die u. a. Teile der Schrift IV 7 [2] enthalten, die in der Enneaden-Überlieferung fehlen (Kalligas 2001; s. Abschn. 52.1). Bemerkenswert ist, dass Porphyrios seine offenbar bessere, systematisch angelegte Edition, die er im Auftrag Plotins durchführte, noch in den Jahren 301–304 als Konkurrenzunternehmen zu Amelios ansah (zu den möglichen weiteren Motiven des Porphyrios: Saffrey 1992). Gleich zu Anfang der Vita wird z. B. berichtet, wie Amelius die Wünsche Plotins nicht respektierte, indem er heimlich ein Portrait von ihm herstellen ließ (VP 1,4–19); man hat vermutet, dass er dieses Portrait seiner Ausgabe von Plotins Schriften als Frontispiz beigab (Männlein-Robert 2018, 1321). Im Gegensatz zu der erst nach 301 n. Chr. fertiggestellten Ausgabe des Porphyrios erfolgte die Ausgabe des Amelios – falls es sie gab – jedenfalls noch zu Lebzeiten Plotins und darf als unmittelbar der Schultradition entstammend angesehen werden (Brisson 1987, 809). Freilich ist vieles ungesichert. Wir hören auch von einer Edition des

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Eustochios (Scholion zu IV 4 [28],29,55), die vielleicht nur einzelne Schriften umfasste; ob man sie als Hintergrund der Auszüge bei Eusebios vermuten darf (Henry 1935), ist umstritten.

3.6 Plotins Schriften in der Enneaden-Anordnung Die nachstehende Liste folgt der EnneadenAufstellung bei Porphyrios (VP 24–26). In der chronologischen Reihenfolge sind die Schriften unten in Kap. 5 besprochen (siehe auch die Konkordanzen am Anfang des Bandes, S. XIX). Enneade I: I 1 [53] Was das Lebewesen sei und was der Mensch I 2 [19] Die Tugenden I 3 [20] Dialektik I 4 [46] Die Glückseligkeit I 5 [36] Ob die Glückseligkeit sich in der Zeit erstreckt I 6 [1] Das Schöne I 7 [54] Das erste Gute und die anderen Güter I 8 [51] Woher kommt das Böse? I 9 [16] Berechtigter Freitod? Enneade II: II 1 [40] Das Weltall II 2 [14] Die Kreisbewegung des Himmels II 3 [52] Ob die Sterne wirken II 4 [12] Die beiden Materien II 5 [25] Aktuell und potentiell II 6 [17] Qualität und Form II 7 [37] Die durchdringende Mischung II 8 [35] Weshalb das von fern Gesehene als klein erscheint II 9 [33] Gegen die, welche den Schöpfer des Weltalls und das Weltall für böse erklären Enneade III: III 1 [3] Das Schicksal III 2 [47] Von der Vorsehung I III 3 [48] Von der Vorsehung II III 4 [15] Der Daimon, der uns erloste

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III 5 [50] Eros III 6 [26] Die Affektionsfreiheit des Unkörperlichen III 7 [45] Zeit und Ewigkeit III 8 [30] Die Natur, die Betrachtung und das Eine III 9 [13] Vermischte Untersuchungen Enneade IV: IV 1 [21] Über das Wesen der Seele II IV 2 [4] Über das Wesen der Seele I IV 3 [27] Probleme der Seele I IV 4 [28] Probleme der Seele II IV 5 [29] Probleme der Seele III: Das Sehen IV 6 [41] Wahrnehmung und Gedächtnis IV 7 [2] Die Unsterblichkeit der Seele IV 8 [6] Der Abstieg der Seele in die Leibeswelt IV 9 [8] Die Einheit aller Seelen Enneade V: V 1 [10] Die drei ursprünglichen Wesenheiten V 2 [11] Entstehung und Ordnung der Dinge nach dem Ersten V 3 [49] Über die erkennenden Wesenheiten und das Jenseitige V 4 [7] Das Erste und das nach ihm; das Eine V 5 [32] Die geistigen Gegenstände sind nicht außerhalb des Geistes; das Gute V 6 [24] Das jenseits des Seienden Gelegene denkt nicht. Das primär und das sekundär Denkende V 7 [18] Ob es auch von den Einzeldingen Ideen gebe V 8 [31] Die geistige Schönheit V 9 [5] Geist, Ideen und Seiendes Enneade VI: VI 1 [42] Die Klassen des Seienden I VI 2 [43] Die Klassen des Seienden II VI 3 [44] Die Klassen des Seienden III VI 4 [22] Das Seiende, obgleich eines und dasselbe, ist zugleich als Ganzes überall I VI 5 [23] Das Seiende, obgleich eines und dasselbe, ist zugleich als Ganzes überall II VI 6 [34] Von den Zahlen VI 7 [38] Wie kam die Vielheit der Ideen zustande? Das Gute

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VI 8 [39] Der freie Wille und das Wollen des Einen VI 9 [9] Das Gute oder das Eine

Literatur Brisson, Luc: Amélius: sa vie, son œuvre, sa doctrine, son style. In: Wolfgang Haase/Hildegard Temporini (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II.36.2. Berlin/New York 1987, 793–860. Brisson, Luc: Amélius. In: Richard Goulet (Hg.): Dictionnaire des philosophes antiques 1. Paris 1989, 160– 164. D’Ancona, Cristina/Lang, Jörn: Plotin. In: Richard Goulet (Hg.): Dictionnaire des philosophes antiques 5/1. Paris 2012, 885–1070. Goulet-Cazé, Marie-Odile: L’arrière-plan scolaire de la Vie de Plotin. In: Brisson, Luc/Goulet-Cazé, MarieOdile/Goulet, Richard/O’Brien, Denis: Porphyre. La Vie de Plotin 1: Travaux préliminaires et index grec complet. Paris 1982, 231–327. Hadot, Pierre: La métaphysique de Porphyre. In: Olivier Reverdin (Hg.): Porphyre. Genève 1966 (Entretiens sur l’Antiquité Classique 12), 127–157. Henry, Paul: Recherches sur la Préparation évangélique d’Eusèbe et l’édition perdue des œuvres de Plotin publiée par Eustochius. Paris 1935. Kalligas, Paul: Traces of Longinus’ Library in Eusebius’ Praeparatio Evangelica. In: The Classical Quarterly 51 (2001), 584–598. Kalligas, Paul: The Enneads of Plotinus. A Commentary. Bd. 1. Translated by Elizabeth Key Fowden/Nicholas Pilavachi. Princeton 2014. Männlein Robert, Irmgard: Longinos und Amelios. In: Christoph Riedweg/Christoph Horn/Dietmar Wyrwa (Hg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike 5/2). Basel 2018, 1310–1321. Narbonne, Jean-Marc: Les écrits de Plotin. Genre littéraire et développement de l’œuvre. In: Laval théologique et philosophique 64/3 (2008), 627–640. O’Meara, Dominic J.: Plotinus. An Introduction to the Enneads. Oxford 1993. Saffrey, Henri Dominique: Pourquoi Porphyre a-t-il édité Plotin? In: Luc Brisson/Jean-Louis Cherlonneix/Marie-Odile Goulet-Cazé/Richard Goulet/Mirko D. Grmek/Jean-Marie Flamand/Sylvain Matton/Jean Pépin/Henri Dominique Saffrey/Alain-Philippe Segonds/Michel Tardieu/Pierre Thillet: Porphyre. La Vie de Plotin 2: Études d’introduction, texte grec et traduction française, commentaire, notes complémentaires, bibliographie. Paris 1992, 31–57 [wieder in: Henri Dominique Saffrey: Le Neoplatonisme après Plotin. Paris 2000, 3–26]. Wilkens, Karsten: Zwei Anmerkungen zur Plotin-Ausgabe des Porphyrios. In: Hermes 105 (1977), 275– 289.

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Textsorten, Argumentationsformen, literarische Machart Michael Erler

Wie Platon will auch Plotin den Leser zu einer

4.1 Plotins Texte und ihre Funktion aktiven Lektüre einladen, die dazu inspiriert, Die Forschungen über Plotins philosophische Gedankenwelt haben in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht. Auch die Frage, wie man Plotins Text lesen soll (Ham 2000, 28–32), in welchem Zusammenhang Form, Funktion und Gehalt in Plotins Schriften stehen, ob und welche Relevanz dieser Zusammenhang für den philosophischen Gehalt hat und ob und welcher Bezug zwischen Plotins Texten und dem schulischen Kontext besteht, findet Interesse und hat wichtige Beiträge und Ansätze hervorgebracht. In der Tat betritt der Leser der Schriften Plotins eine besondere und neue Gedankenwelt, deren Darstellung durch Plotin sich von sonstigen Darstellungsformen philosophischer Lehre deutlich unterscheidet. Obgleich Plotins Schriften keine Dialoge sind und ihre Herkunft eher in Lehrvorträgen haben (s. Kap. 2), fühlt man sich bei der Lektüre doch bisweilen an platonische Dialoge erinnert. Denn wie diese sind Plotins Schriften offenbar nicht so sehr daran interessiert, dem Leser nur die Ergebnisse philosophischer Reflexionen anzubieten. Sie wollen vielmehr die Denkprozesse nachzeichnen und nachvollziehbar machen, die zu diesen Ergebnissen führen.

M. Erler (*)  Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

die Erkenntnisse selbst zu erwerben, die in den Schriften entwickelt werden. Dies passt zu Plotins Wunsch in seinem Unterricht, dass seine Schüler sich an den Untersuchungen mit Fragen und Vorschlägen aktiv beteiligen sollten (vgl. Porph. VP 13,10–17). Wer Plotins Traktate liest, bemerkt schnell, dass sich die einzelnen Schriften einer systematisch interessierten Lektüre verweigern. Mag ihnen auch eine Systematik zugrunde liegen, über die Plotin in mündlichem Unterricht mit seinen Schülern diskutierte, lassen die Schriften die Darstellung einer solchen jedoch nur in Ansätzen erkennen (Schwyzer 1951, 548; Hadot 1994, 21). Deshalb wird jeder Versuch, Plotins Ausführungen in ein System zu bringen, sich als problematisch erweisen. Diese Schwierigkeit lässt nicht zuletzt die auf Systematik angelegte Enneaden-Ausgabe des Porphyrios erkennen (s. Abschn. 3.3). Wie in Platons Dialogen ist man auch bei Plotins Schriften gezwungen, Ergebnisse und eine diesen zugrunde liegende systematische Einordnung aus verschiedenen facetten- und perspektivenreichen Darstellungen zu rekonstruieren und Fragmente zu einem möglichen Ganzen zusammenzusetzen. Die Schriften Plotins sollen dem Leser nach dem Willen des Verfassers als Zeugnis, Anregung und Spiegel jener Denkprozesse dienen, welche zu den Konzepten und Überzeugungen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_4

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hinführen, die Plotin vertritt und in der Schule sicherlich diskutiert hat. Immerhin hat Plotin lange Zeit nur mündlich philosophiert und jene Gedanken entwickelt, die gleichsam hinter den Texten stehen, dort aber immer nur andeutungsweise zum Vorschein kommen. Man darf jedenfalls einen inhaltlichen und methodischen Zusammenhang zwischen den in der Schule mündlich diskutierten Themen und Plotins schriftlichen Darstellungen annehmen, in denen Themen nicht systematisch und erschöpfend abgehandelt werden, gleichwohl aber als Teil einer philosophischen Gesamtschau angesehen werden können. Manches, was dem Leser der Schriften dunkel zu sein scheint, mag deshalb Schulmitgliedern, für die die Texte bestimmt waren, unproblematisch und vertraut gewesen sein. Der moderne Leser jedoch muss versuchen, sich mithilfe einer verbindenden Lektüre der Texte jene Kenntnis plotinischer Vorstellungen zu erwerben, die ihm voraussetzungsreiche Passagen in einzelnen Traktaten zu entschlüsseln hilft. Die Texte aus Plotins letzten Lebensjahren, die er als kranker Mann in Kampanien verbrachte, stehen naturgemäß nicht mehr in schulischem Zusammenhang (I 8 [51], II 3 [52], I 1 [53], I 7 [54]; VP 6,15–25). Denn dort war es nach Angaben des Porphyrios einsam um Plotin geworden. Freilich hören wir, dass sein Arzt Eustochios, der auch Mitglied der Schule war, ihn regelmäßig besuchte und auch bei seinem Tod anwesend war. Möglicherweise gab es auch in diesen Jahren noch Unterweisungen in einem engsten Kreis. Plotins Schriften beleuchten verschiedene Facetten eines Problems aus unterschiedlichen Perspektiven, teils in einer Art von Vortrag, teils notizenartig, teils mit dialogischen Ansätzen oder in einer Art Meditation. Sie argumentieren bisweilen nicht gradlinig, sondern spiralförmig und illustrieren mit diesen unterschiedlichen Diskursformen jene Denkprozesse, die Plotin für erfolgversprechend hält und denen der Leser folgen soll. Insofern die Schriften Plotins nicht nur Ergebnisse vermitteln, sondern vor allem die Bedeutung von Denkbewegungen betonen, die zu

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philosophischen Erkenntnissen führen, und insofern sie Anregung und Anleitung zu richtigem Denken mit einer Illustration philosophischer Denkpraxis verbinden, stehen sie in der Tradition des platonischen Dialoges. Sie sind Zeugnisse für jene philosophischen geistigen Übungen, welche für antike Philosophie kennzeichnend, für die formale Gestaltung ihrer literarischen Manifestationen mitverantwortlich und bei der Interpretation dieser Texte zu beachten sind (Hadot 1999, 209–270).

4.2 Qualität der Schriften Plotin hat erst spät begonnen, seine Philosophie schriftlich zu fixieren; der mündliche Diskurs hatte für ihn immer Vorrang. Das passt zu Porphyrios’ Bemerkung, Plotin sei es beim Schreiben vor allem um die Inhalte gegangen; um das Schönschreiben, z. B. um Silbentrennung oder Orthographie, habe er sich nicht gekümmert. Auch habe er sie wegen seiner schlechten Augen nach der Niederschrift nicht mehr durchgesehen (VP 8,1–8; Horn 2018, 12–57; O’Brien 1982). Seine Werke bedurften deshalb der formalen Korrektur, die dann Porphyrios anvertraut wurde (VP 7,51; 24,2–3). Wenn Porphyrios Plotins Stil mit den Worten beschreibt: „Beim Schreiben war er wortkarg, gedankenschwer und knapp, reicher an Gedanken als an Worten“ (VP 14, 1–2), wird der moderne Leser dieses Urteil teilen. In der Tat sind Plotins Sprache und Stil weder leicht zu lesen noch zu verstehen (Schwyzer 1951, 512–530; Schwyzer 1978, 321–323; Phillips 1980, 31–199). Seine Art und Weise, Thesen dialektisch zu erörtern, macht es nicht immer leicht, seine eigenen Vorstellungen zu identifizieren (Halfwassen 2004, 30). Plotins Ausführungen wirken bisweilen unsystematisch und dunkel. Es kommt zu Überschneidungen in den Texten und manchmal bleibt offenbar der Gesprächscharakter der Schule erhalten. Andererseits lassen die Schriften Plotins eine durchaus elaborierte Darstellungsform erkennen. Jedenfalls hat der wichtige Philologe und Platoniker Longinos den Stil und die inhaltliche Tiefe seiner Werke, die er als hypom-

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nêmata bezeichnete („Aufzeichnungen“ oder spezifischer „Kommentare“), durchaus positiv beurteilt, obgleich er Plotins philosophischen Hypothesen gegenüber eher distanziert war (Porph. VP 19,32–41 = Longinos, fr. 10 Männlein-Robert; dazu Männlein-Robert 2001, 152– 167). Die Schriften Plotins verfolgen eine zentrale Fragestellung, dies aber nicht immer gradlinig, sondern dialektisch, mit wechselnden Perspektiven und Digressionen und bisweilen eher spiralförmiger Annäherung an ihr Ziel; sie stellen dadurch auch formal etwas Neues dar. Ihre formale Gestaltung ist freilich nicht nur literarisch-stilistisch, sondern auch philosophisch zu bewerten. So ist in vielen Traktaten eine aufsteigende Linie der Argumentation zu beobachten, welche die anagogische Intention der philosophischen Argumentationen nicht nur illustriert, sondern den Leser einladen will, sich an diesem seelischen Aufstieg zu beteiligen (I 6 [1], mit ausdrücklicher Anlehnung an die Diotima-Rede in Platons Symposion; V 1 [10]; VI 7 [38]).

4.3 Die Gattungen der Schriften Auch literarisch sind die Schriften Plotins schwer einzuordnen. Bisweilen wurden sie mit der Diatribe in Verbindung gebracht, die im philosophischen Kontext insbesondere bei Kynikern oder Stoikern eine gewisse Prominenz erreicht hatte (Bréhier 1924, XXVI–XXXVI). Sie zeichnete sich durch eine eher lockere thematische Einheit aus und diente der moralischen Erbauung der Rezipienten. Gern wird z. B. Plotins ethischer Traktat I 4 [46] Über die Glückseligkeit als Diatribe bezeichnet (Schwyzer 1951, 577). Plotins Texte sind zweifellos Seelenleitung in schriftlicher Form und setzen hierin offenbar die mündliche Praxis in der Schule fort. Doch lassen sich gegen eine generelle Einordnung als Diatriben Bedenken vorbringen (Schniewind 2003, 65). Plotins Schriften unterscheiden sich in vieler Hinsicht von der Diatribenform und lassen Merkmale anderer Gattungen erkennen, wie etwa der seit Aristoteles bekannten, sachlichen oder exegetischen Einzelfragen ge-

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widmeten Quaestiones, Problemata oder Zetemata, die insbesondere im Mittelplatonismus, aber auch in anderen Schulen eine Rolle spielen (Plutarch, Platonicae quaestiones; Alexander von Aphrodisias, Quaestiones et solutiones; bei Plotin z. B. II 1 [40]; IV 2 [4]; V 7 [18]; Tornau 2017, 414; Narbonne 2008, 628). Von Form und Gestaltung sind sie auch von jener Art des Kommentars unterschieden, die sich im Platonismus – etwa im Kreis um Jamblich– und anderswo entwickelt (Dalsgaard Larsen 1972, 320–348; Dörrie 1990, 96–109; 356–368).

4.4 Schriften und Unterricht Plotins Schüler Porphyrios betont in der Vita Plotini verschiedentlich, dass die Schriften Plotins in engem Zusammenhang mit seinem mündlichen Unterricht stehen (s. Kap. 2). Mündlicher wie schriftlicher Form philosophischer Kommunikation Plotins gemeinsam ist eine protreptische und eine anagogische Intention. Das deutet Plotin selbst an: „Wir reden und schreiben von einem Guten nur, um zu ihm hinzuleiten, um aus den Begriffen zum Schauen hin aufzuwecken und gleichsam den Weg zu weisen demjenigen, der etwas schauen will; denn die Belehrung (didaxis) reicht nur bis zum Weg, bis zum Aufbruch; die Schau (thea) muss dann jeder selbst vollbringen, der etwas sehen will“ (VI 9 [9],4,12–16). Mit „Belehrung“ und „Schau“ sind zwei wichtige Komponenten des Unterrichts Plotins, aber auch seiner Schriften genannt. Demnach sind für das Ziel des Strebens nach Erkenntnis Eigenbemühung der Schüler und Belehrung durch Plotin vorausgesetzt. Dieses Miteinander wird in seinen Traktaten durchaus gespiegelt. Freilich handelt es sich bei Plotins Traktaten letztlich um fiktive Texte, nicht um Dokumentationen des Unterrichts. Die zahlreichen rhetorischen Fragen sind weniger dem Versuch geschuldet, Dialoge an einem realen Ort zu rekonstruieren, als dem Umstand, dass Plotin offenbar so schrieb wie er sprach (vgl. Porph. VP 13,1–5). Der häufige Gebrauch der 2. Person – also die Anrede an ein ‚Du‘ – bezieht

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sich in den Traktaten nicht auf den Schüler, sondern auf den Leser (Schwyzer 1951, 528). Trotz der Reminiszenzen an die Oralität der philosophischen Kurse in der Schule sind die Traktate Plotins zur Lektüre bestimmt. Eher darf man die Verbindung von Schule und schriftlichem Werk in der Vertiefung der dort diskutierten Fragen sehen (vgl. VP 4,11). Plotins Texte sollten und konnten die dialektische mündliche Wahrheitssuche nicht ersetzen, diese aber wohl unterstützen. Sie fungierten dabei als geistige Übungen (Hadot 1999, 184–197), die der Seele der Rezipienten beim erstrebten Aufstieg aus der Welt der Phänomene in dem geistigen Bereich halfen (Ham 2000, 27–32). Es ist diese anagogische Funktion, der Porphyrios offenbar mit seiner nicht-chronologischen, sondern systematischen Anlage der Enneaden-Ausgabe gerecht zu werden versuchte (s. Abschn. 3.3). Für die Beurteilung der literarischen und argumentativen Strategien Plotins ist es hilfreich zu versuchen, sich ein Bild von möglichen Adressaten in der Schule zu machen, die Plotin vor Augen gehabt haben mag (Schniewind 2003, 60–63). Gewiss sind die Schriften nicht an ein breites Publikum gerichtet (Kalligas 2014, 39). Sie wurden vielmehr bei Freunden, Schülern und Kollegen wie Longinos verbreitet. Vor allem spielten sie eine Rolle im Kreis um Plotin. Freilich ist es auch hier schwierig, sich eine Vorstellung vom Kenntnisstand der Zuhörer oder Leser zu machen, da die Schule offen war und es offenbar kein festes Curriculum gab. Man mag an unterschiedliche Rezipienten denken – mit eher niedrigem Kenntnisstand bei den ‚Hörern‘ (akroatai), einiger Vorbildung bei den direkten Schülern und Mitforschern und sehr hoher Kenntnis bei Plotins Assistenten wie Amelios und Porphyrios. Versuche, Schriften mit Blick auf unterschiedliche Niveaus, Darstellungsformen und Adressatengruppen zu analysieren und dabei eine psychagogische Intention zu erkennen (z. B. Schniewind 2003, 67 zu I 4 [46]: Kap. 1–4: Hörer; Kap. 5–11: Forscher; Kap.  12–16: Assistenten), bieten interessante Einsichten, sind aber auch bisweilen problematisch.

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4.5 Literarisierung und Argument Die Schriften Plotins machen auf den ersten Blick einen literarisch wenig ambitionierten Eindruck. Sie wirken unter formal-ästhetischen Gesichtspunkten wie Schulschriften für einen Schülerkreis. Dieser Eindruck fügt sich zu Nachrichten, wonach Plotin seiner schriftstellerischen Tätigkeit weniger Gewicht beigemessen habe als dem mündlichen Unterricht und in seinen Traktaten inhaltlichen Aspekten den Vorrang vor Fragen der Gestaltung gegeben habe (Porph. VP 8,1–8; Kalligas 2014, 46–47). Trotz dieser eher untergeordneten Funktion macht genaue Lektüre deutlich, dass die Traktate eine literarische Komposition und beträchtliche Gelehrsamkeit Plotins erkennen lassen und dass er rhetorische Strategien anzuwenden in der Lage ist. Deutlich wird freilich auch, dass die Verwendung von literarischen Motiven, Zitaten oder Anspielungen kein bloßer Ornat und Selbstzweck ist. Ihnen kommt vielmehr eine rhetorisch-strategische Funktion innerhalb des philosophischen Kontextes zu, insofern sie den Leser bei eigenen philosophischen Reflexionen unterstützen sollen (Hadot 1988, 15–30). Sie werden als Mittel der persuasio funktionalisiert, um dem Leser zu helfen, Ergebnisse abstraktphilosophischer, dialektischer Argumentation zu akzeptieren und zu habitualisieren (Dillon 2016, 305). Die literarischen Aspekte unterstützen die anagogisch-protreptische Funktion, die Texten im Platonismus allgemein und auch bei Plotin zukommt (Erler 2016). Plotin verwendet nicht nur stilistische Mittel wie Assonanz, Hyperbaton, Parisose, Anapher (Schwyzer 1951, 512–530; Schwyzer 1978, 321–323), sondern bedient sich auch einer bildreichen Sprache, angereichert mit Metaphern, Vergleichen, Gleichnissen oder Mythen (Ferwerda 1965) – dies alles freilich nicht als Selbstzweck, sondern als Hilfsmittel für die Darstellung der oftmals sehr abstrakten Inhalte seiner Philosophie. Von zentraler Bedeutung in diesem Kontext ist die von Plotin gern verwendete und philosophisch besonders relevante Metapher des Lichts (Beierwaltes 1977) oder

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die Metapher von der „Sehnsucht des Logos“ (Tornau 2016, 317–329) als Bezeichnung für die Bereitschaft, sich von Diesseitigkeit zu lösen und nach dem Guten zu streben. Obgleich Plotin an seinem Kollegen Longinos beklagte, er sei eher Philologe als Philosoph (Porph. VP 14,18–20; Männlein-Robert 2001, 140–149), verschmäht er selbst es als Philosoph keineswegs, philologische und literarische Möglichkeiten zu nutzen, diese aber dabei seinen philosophischen Vorstellungen anzupassen, um seine philosophische Botschaft klarer kommunizieren zu können (Dillon 2016, 309). Nicht selten leiten Plotin didaktische Intentionen, wenn er in seinen Werken literarische Bezüge zu anderen Gattungen wie Epos, Drama und Lyrik herstellt (Cilento 1960). In diesem Zusammenhang ist Plotins Verwendung von Mythen besonders bemerkenswert, weil er bei diesen nicht nur die dienende Funktion von literarischen Elementen vorführt, sondern diese auch reflektiert. Das Erzählen von Mythen im philosophischen Kontext ist ebenfalls kein Selbstzweck und dient nicht nur der Unterhaltung des Rezipienten. Plotin macht vielmehr deutlich, dass er Mythen in den philosophischen Diskurs eingebettet hat im Bemühen, abstrakt-philosophische Darlegungen für die Leser zu konkretisieren und plausibel zu machen (s. auch Abschn. 7.3). Dabei lassen sich freilich Akzentuierungen, Umdeutungen und sogar Umgestaltungen beobachten. So wird z. B. der kosmologisch-theogonische Mythos des Hesiod über Uranos, Kronos und Zeus philosophisch aufgeladen und als Plausibilisierungsinstanz herangezogen, indem ‚Kronos‘ etymologisch als ‚gesättigt‘ (koros) gedeutet und in Bezug zu den geistigen Entitäten in Plotins Kosmos gesetzt wird (V 1 [10],7,27–37, vgl. 4,9– 10; umfassende Allegorese des Mythos in V 8 [31],12–13). Gern verweist Plotin auf die Geschichte von Eros und Psyche als Illustration der Sehnsucht der Seele nach dem geistig-göttlichen Bereich (VI 9 [9],9,24–26), auf die platonische Unterscheidung einer gemeinen von einer himmlischen Aphrodite (VI 9 [9],9,28–30; III 5 [50],2 nach Plat. symp. 180d) oder auf die Geschichte von Penia und Poros zu Erklärung des

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Eros in Platons Symposion (203b–c, vgl. etwa III 6 [26],14; die Schrift III 5 [50] ist insgesamt ein Kommentar dieses platonischen Mythos; s. Kap. 33). In diesem Zusammenhang äußert sich Plotin auch allgemein über die Funktion von Mythen im philosophischen Kontext. Nach seiner Ansicht zeichnen sich Mythen generell dadurch aus, dass sie infolge ihrer narrativen Form unzeitlich Zusammenhöriges in ein zeitliches Nacheinander auffächern und auffächern müssen, dies aber so, dass bei dieser Auffaltung das ursprünglich Zusammengehörige oder Unzeitliche als solches kenntlich bleibt. Mythen haben demnach eine zeichenhafte, hinweisende Bedeutung, dienen der Illustration und erfüllen eine anagogische Funktion: „Die Mythen sind, wenn sie wirklich Mythen sein wollen, genötigt, das, was sie behandeln, der Zeit nach zu zerlegen und viele Dinge voneinander abzutrennen, welche beisammen sind und nur in der Anordnung oder den Kräften auseinandertreten (selbst wissenschaftliche Darstellungen lassen ja das Nie-Entstandene entstehen und trennen auch ihrerseits das Beisammen-Befindliche); die Mythen weisen uns nach besten Kräften darauf hin, und wer diese Hinweise versteht, dem gestatten sie das Getrennte wieder zusammen zu fügen“ (III 5 [50],9,24–29). Dieses Verständnis des Mythos macht Plotin für die didaktischen Zwecke seiner Schriften nutzbar, z. B. zur Erklärung der Entstehung der Welt und der Deutung literarisch-philosophischer Vorlagen wie des platonischen Timaios. Mythen werden also wegen ihres didaktischen Potentials von Plotin in den philosophischen Diskurs eingebettet. Sie verleihen Plotins Traktaten literarischen Charakter und dienen zugleich als Ausgangspunkte für philosophische Überlegungen. Besonders bemerkenswert ist, dass Plotin Bilder oder Metaphern nicht nur einführt, sondern bisweilen geradezu weiterentwickelt, um Philosophisches zu plausibilisieren oder zu illustrieren. Seit Émile Bréhier spricht man in diesem Zusammenhang von „dynamischen Bildern“ bei Plotin (Bréhier 1961, 20–22; Dillon 2016, 298–305; vgl. z. B. VI 4 [22],14,22–

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26 mit dem Bild des Leibs als eines „anderen Menschen“, der sich um den originalen geistigen Menschen „herumwindet“ und sich mit ihm zu verbinden sucht; Tornau 1998, 272–274). Es handelt sich um Bilder, die durch ihre ‚Dynamik‘ gleichsam eine anagogische Funktion für den Leser entwickeln. Diese nur unterstützende Funktion von Mythen wie dem vom Spiegel des Dionysos als Illustration des Abstiegs der Seele (IV 3 [27],12,1–4) oder dem Prometheus-Mythos (IV 3,14) wird auch dadurch deutlich, dass Plotin sich bei der Nachgestaltung der Mythen Freiheiten nimmt und dies auch offen zugibt.

4.6 Rhetorik und Argument Plotins Ausführungen in seinen Schriften zeichnen sich durch eine Verbindung von dialektischer Wahrheitssuche und rhetorisch-persuasiver Überzeugungsarbeit aus, welche den dialektischen Ausführungen nicht gleichberechtigt, sondern ihnen als Unterstützung beigegeben ist. Die dialektische Wahrheitssuche (zêtêsis) erfolgt in einem Frage- und Antwortprozess, der die logische Notwendigkeit (anankê) einer These zu erweisen sucht, wobei sich diese Suche auch in Zirkeln oder spiralförmig (vgl. Plat. Tht. 196d) vollziehen kann, wie dies Porphyrios als mündliche Praxis Plotins mit der Thaumasios-Anekdote illustriert (VP 13,10–17; s. Abschn. 2.3). Eben dieses Mäandern des Diskursverlaufes ist ein Merkmal auch der schriftlichen Darstellungsform. Plotin erwartet, dass der Rezipient seinen oftmals verschlungenen Denkwegen folgt, den Denkprozess in seiner Bedeutung wahrnimmt und sich dadurch beim Aufstieg der eigenen Seele unterstützen lässt. Andererseits ist aber seit Platon nicht nur von einer Konfrontation zwischen Philosophie und Rhetorik auszugehen, wie dies in der Forschung zumeist noch geschieht. Vielmehr kritisiert Platon Rhetorik zumeist mit Blick auf ihre Intention, nicht auf ihre Mittel; er billigt einer in Zweck- und Zielorientierung transformierten Rhetorik durchaus eine Rolle im philosophischen Diskurs zu, die er in den Dialogen illustriert (Erler 2004; Erler 2019). Sie kann

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auch als ein Merkmal für Plotins Schriften dienen. Demnach wird in Plotins Texten traditionelle Rhetorik innerhalb des philosophischen Diskurses angewendet und funktionalisiert, um die Ergebnisse rationaler Argumentation bei jenen Rezipienten und Lesern zu plausibilisieren, die durch rational zwingende Argumentation gewonnene Ergebnisse zwar zu akzeptieren bereit sind, sie gleichwohl aber nicht annehmen und zur Grundlage ihres Handelns machen können oder wollen (Tornau 2016; Tornau 2019, 496–498). Rhetorische Strategien sind somit bei Plotin wie schon bei Platon hilfreich, um Ergebnisse logisch zwingender Argumente praktisch werden zu lassen. In diesem Sinne spielt Rhetorik auch für die politische Tugend des Philosophen, sein Handeln in Welt und Gesellschaft, eine wichtige Rolle (III 8 [30],4,31–43; VI 9 [9],7,21–26; O’Meara 2003, 74–76). In der Tat lässt eine Leseweise der Traktate, die auf ein Miteinander von persuasiver Rhetorik und zwingender Argumentation achtet, eine Affinität auch Plotins zu rhetorischen Strategien erkennen, die geeignet sind, komplexe philosophische Sachverhalte zu illustrieren oder zu klären. Plotin kombiniert in seinen Texten persuasive und dialektische Passagen, weil die Seelen der Menschen aus dem geistigen Bereich ins Sinnliche herabgestiegen und daher anfällig für nichtrationale Momente sind (Tornau 2016, 334–337 zu V 3 [49],6). Zu den persuasiven Elementen gehören Ausdrucksmittel wie Aufforderungen, Befehle und Vorschriften, aus denen sich ein adhortativer Charakter der Ausführungen ergibt, der durchaus auch auf Emotionen zielt und die rationalen Überzeugungsstrategien hierdurch unterstützen will. Das bringt Plotin selbst zum Ausdruck: „Hat also die Argumentation (logos) einen solchen Beweis erbracht, dass er auch überzeugende Wirkung entfaltet? Nun: Zwingende Notwendigkeit hat sie auf diese Weise zwar, aber keine Überzeugungskraft; denn die Notwendigkeit ist im Geist, die Überzeugung dagegen in der Seele. Wir suchen also, wie es scheint, eher selbst überredet zu werden als mit dem reinen Geist die Wahrheit zu schauen“ (V 3 [49],6,8–12; Tornau 2016, 321).

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In Plotins Werken findet sich also adressatenbezogenes Argumentieren im Sinne einer Psychagogie, wie sie bereits Platon propagiert (Plat. Phaidr. 271c) und in den Dialogen praktiziert. Rhetorische Mittel erhalten philosophische Relevanz aufgrund der Erkenntnis, dass argumentativer Zwang nicht notwendig auch Überzeugung generiert. Schon zu Platons Zeit wusste man, dass hierfür nicht allein logischer Zwang erforderlich ist, sondern Argumente, welche „die Seele erreichen“ (Erler 2005). Man kann von sokratischen Elementen im neuplatonischen Diskurs sprechen (Erler 2020, 162–198); neu ist bei Plotin die metaphysische Begründung durch den Abstieg der Seele. Dem rhetorischen Zentralbegriff der Wahrscheinlichkeit kommt auch eine Unterstützungsfunktion zu beim Versuch zu adressieren, was nach Plotin sprachlich nicht oder nur schwer auszudrücken ist: den Bereich des obersten Prinzips (Abbate 2016). Für Plotin ist das oberste Ziel allen Denkens und Strebens, das Gute oder Eine, weder mit argumentativen noch mit rhetorisch-persuasiven Mitteln allein erreichbar (s. Abschn. 25.3). Die Überredung (peithô) trägt jedoch im Sinne einer geistigen Übung zu jenen meditativen Aktivitäten der Seele bei, die die Annäherung an das Eine bis zu einem gewissen Grade erlauben.

4.7 Methodische Konvergenzen mit dem Unterricht Porphyrios berichtet, dass sich Plotin in seinen Seminaren zu bestimmten Fragestellungen wichtige Schriften vorlesen ließ, dabei aber niemals die Lehren anderer übernahm, sondern ihre Gedanken eigenständig weiterentwickelte. Dabei wird die Tiefe seiner Gedanken gerühmt. Wir hören auch, dass Plotin bei seinen philosophischen Überlegungen die Auffassung seines Lehrers Ammonios im Blick behielt (VP 14,14–16 mit Kalligas 2014, 61). Dieses Philosophieren oder Interpretieren mit Blick auf ein Vorbild spiegelt sich auch in seinen Schriften, z. B. wenn es um die Rezeption von platonischen Überlegungen geht. Plotin illust-

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riert in seinen Texten einen derartigen Umgang mit philosophischen und literarischen Traditionen und spiegelt auch hier offenbar Schulpraxis. Denn wie sich in den Schriften zeigt, nimmt er bestimmte Stellen in Werken oder Gedanken anderer Philosophen, vor allem denjenigen Platons, zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen, die sich durchaus als originell erweisen – wie es ihm auch für den Unterricht bescheinigt wird –, die er selbst freilich wohl kaum als ‚neu‘ einstufen würde (vgl. V 1 [10],8,10–14). Vielmehr werden in den Argumentationen der Texte oftmals Zitate oder Passagen aus Dichtern, aber auch aus philosophischen Texten zum Anlass für Überlegungen genommen, denen es offensichtlich nicht so sehr um den zu interpretierenden Vers oder Text als um die Beglaubigung eigener Vorstellungen mithilfe altehrwürdiger Autoren und autoritativer Texte geht. Plotin bedient sich bei diesem in der Schule und in seinen Texten praktizierten Umgang mit Traditionen und Texten einer Methode, die nach „Ansatzpunkten“ (aphormai) für eigene Interpretationen unter bestimmten Gesichtspunkten sucht. Diese Methode, die letztlich aus der forensischen Rhetorik des 5. Jahrhunderts v. Chr. stammt und schon bei Platon, dann im Hellenismus und in der Kaiserzeit Verwendung findet, wird offenbar auch von Plotin angewandt, wenn er im Unterricht mit Blick auf Ammonios interpretiert, und sie strukturiert auch seine philosophischen Texte (Erler 2015; Erler 2016). Plotin fordert dazu auf, immer wieder zu den Grundtexten zurückzukehren (IV 8 [6],1,23–50; VI 2 [43],1,1–4; III 7 [45],1); diese fungieren für ihn als Ausgangspunkt (aphormê) eigener Überlegungen, die sich indes als bloße Exegese geben und Legitimation für eigene Gedanken unter dem Schutz des autoritativen Textes suchen. Auch hier lässt sich also ein Zusammenhang von Texten Plotins und seiner Lehre in der Schule zeigen. Dieser Zugriff passt zu seinem Umgang mit Mythen und bestätigt das Urteil bei Porphyrios, dass es bei Plotins Deutungen weniger um einen philologischen Umgang als um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Autoritäten wie Ammonios oder Platon geht (VP 14,14–16).

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Hierzu passt auch die abschätzige Bemerkung über Longinos, der ein Philologe, aber kein Philosoph sei (VP 14,18–20). Eine derartige Polemik findet sich auch andernorts (Epict. ench. 49; Sen. epist. 108,23; S. Emp. adv. math. 1,270–271) und manifestiert sich bisweilen konkret in der Frage, ob Grammatiker bzw. Philologen oder Philosophen Startpunkte (aphormai) in den Texten für eigene Interpretationen besser nutzen können. Mit der Polemik gegen Longinos und der in den Texten vorgeführten Methode positioniert sich Plotin in einem langanhaltenden Streit über die philologische oder philosophische Anwendung der aphormê-Methode und deutet zugleich einen für das Verständnis der Gestaltung seiner Texte hilfreichen Hintergrund an (Erler 2015). An einer auch für die Gestaltung seiner Texte wichtigen Stelle erklärt er, er sehe es als seine eigentliche Aufgabe an, die Werke Platons „auszulegen“, nicht aber Eigenes vorzutragen. Er drücke nur bisweilen etwas deutlicher aus, was Platon schon in immer gültiger Weise gesagt habe: „Diese Gedanken sind nicht neu, und sie sind auch nicht erst jetzt, sondern längst ausgesprochen, wenn auch nicht deutlich. Unsere jetzigen Gedanken sind nur eine Auslegung der früheren; dass diese Lehren alt sind, bezeugen Platons eigene Schriften“ (V 1 [10],8,10–14; s. auch Abschn. 7.1). Diese Stelle bildet den Abschluss einer zusammenfassenden Darstellung der Lehre vom dreistufigen Aufbau der geistigen Welt aus den drei Hypostasen des Einen, des Geistes und der Seele, die man nicht ohne Grund Plotin selbst zuschreibt (Szlezák 1979, 52–64). Gleichwohl gibt er sie als Interpretation Platons aus. Anlässlich seiner Bemühungen, eine mit seiner platonischen Philosophie übereinstimmende Kategorienlehre zu erarbeiten, bezeichnet es Plotin ausdrücklich als seine Aufgabe, seine Auffassungen auf die Meinung Platons zurückzuführen: „Nachdem wir die sogenannten zehn Klassen überprüft haben […], wäre es nun folgerichtig darzulegen, was denn unsere eigene Auffassung von dieser Frage ist, wobei wir versuchen, unsere Meinung auf die Lehre Platons zurückzuführen“ (VI 2 [43],1,1–4). Die-

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ses „Zurückführen“ charakterisiert eine Grundhaltung Plotins, ist ein wichtiges Motiv seiner Argumentation im Unterricht und ist auch bei der Analyse seiner Texte zu beachten (vgl. insbesondere seine Interpretationen des Timaios, z. B. IV 3 [27],7,9–12 zu Plat. Tim. 41d und IV 2 [4] zu Plat. Tim. 35a). Auch dies zeigt: Die Traktate stehen, was Fragestellungen, Inhalte, Motive oder Methode, aber auch was die psychagogisch-therapeutische Funktion der Philosophie und der sie darstellenden Texte für den Aufstieg der Seele des Rezipienten angeht, in engem Zusammenhang mit dem mündlichen Unterricht. Man wird die Texte deshalb in gewisser Hinsicht auch als Spiegel dessen nehmen dürfen, was im Unterricht zu erwarten war, und umgekehrt versuchen, den mündlichen Kontext für ein besseres Verständnis der Schriften Plotins fruchtbar zu machen.

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Plotins einzelne Schriften Christian Tornau

In der nachfolgenden Übersicht werden die Schriften Plotins in chronologischer Reihenfolge besprochen. Ein Verzeichnis nach der Enneaden-Ordnung findet sich in Abschn. 3.6 (siehe auch die Konkordanzen am Anfang des Bandes, S. XIX). I 6 [1]: Über das Schöne Plotins früheste Schrift versucht eine platonische Antwort auf die Frage: „Was ist schön?“ bzw. „Was ist das Schöne?“ Aus der exegetischen Orientierung an den Schönheitsstufen der Diotima-Erzählung des Symposions (Plat. symp. 210a–211d) ergibt sich ein aufsteigender Denkweg vom körperlich Schönen über die Schönheit der Seele bis zum Schönen an sich. Plotin beginnt mit einer Kritik der verbreiteten Definition von Schönheit als Symmetrie oder Gleichmaß (I 6,1). Kriterium des Schönen ist vielmehr dessen im weitesten Sinne erotische Anziehungskraft auf die Seele. Im Fall der körperlichen Schönheit erklärt sich diese aus der Anwesenheit einer die verschiedenen körperlichen Elemente harmonisch einigenden, selbst unkörperlichen Form (I 6,2–3). Die Seele wiederum – die eigene ebenso wie die anderer Menschen – empfindet man als schön, wenn sie die Tugenden besitzt (I 6,4). Plotin definiert die Tugen-

C. Tornau (*)  Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

den mit Platon (Phaid. 67a–69e) als eine Reinigung der Seele von entstellenden Zusätzen: Mit der Freilegung ihres ursprünglichen, einheitlichen, rein geistigen Seins wird die wesenhafte Schönheit der Seele wiederhergestellt (I 6,5–6). Aber warum ist reines Sein schön? Damit ist die Frage nach dem Schönen an sich gestellt. Plotin setzt es hier mit dem höchsten Guten gleich, das nach dem Grundaxiom der antiken Ethik das Ziel allen Strebens ist (I 6,7; vgl. Plat. rep. 6, 505d–e; Aristot. Eth. Nic. 1,1, 1094a1–3). Dieses Ziel erreicht man durch die Schau des Schönen an sich. Um zu ihr zu gelangen, darf man sich nicht an die scheinhafte Schönheit der Sinnenwelt verlieren, sondern muss unausgesetzt an sich selbst arbeiten, um selbst schön und dem erstrebten Gegenstand der Schau ähnlich zu werden (I 6,8–9). Anders als in der Schrift V 8 [31], wo Schönheit primär die Vollkommenheit der intelligiblen Welt ist, unterscheidet Plotin in I 6 [1] nicht scharf zwischen dem Einen-Guten und dem Schönen an sich. Der Grund hierfür ist keine Meinungsänderung oder Entwicklung Plotins, sondern die erotische Perspektive auf das Schöne, die Plotin auch in späteren Schriften noch des Öfteren einnimmt (vgl. VI 7 [38],32,28–39). Kommentare: Darras-Worms 2007; Smith 2016. IV 7 [2]: Über die Unsterblichkeit der Seele Die Unsterblichkeit der Seele galt und gilt neben der Ideenlehre als Kernelement platonischer

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_5

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Philosophie. Platon selbst hat sie mehrfach zu begründen versucht (Phaidon; Phaidr. 245c– 246a). Aristoteles äußerte sich jedoch zurückhaltend (an. 413b26–28), und Stoa und Epikureismus sowie der kaiserzeitliche Peripatos lehnten sie mehr oder weniger explizit ab (vgl. z. B. Alex. Aphr. an., CAG Suppl. 2.1, 17,9–15 Bruns). Diese Entwicklung ist der Ausgangspunkt der Unsterblichkeitsargumentation Plotins. Seine Methode ist eine Art Ausschlussverfahren. Er weist zunächst gegen die materialistischen Schulen nach, dass die Seele nicht körperlich ist (IV 7,1–83; besondere Aufmerksamkeit erhält die Stoa), und zeigt dann, dass sie keine körperabhängige Qualität (IV 7,84, gegen die pythagoreische Harmonielehre) oder immanente Form (IV 7,85, gegen Alexanders Version der hylemorphistischen Seelenlehre des Aristoteles) sein kann. Sein interessantestes antimaterialistisches Argument gewinnt Plotin aus der Einheit der sinnlichen Wahrnehmung: Da die Seele einen auf eine beliebige Stelle des Körpers wirkenden Impuls immer als ganze wahrnimmt, kann sie nicht selbst im Raum verteilt und folglich nicht körperlich sein (IV 7,7; vgl. IV 2 [4],2,12–35). Aus der Widerlegung der materialistischen Seelenlehren folgt für Plotin, dass die Seele eine immaterielle, vom Körper unabhängige Substanz ist, die selbstbewegt und Ursache allen Lebens in der Körperwelt ist. Ihre Wurzel ist die mit dem Geist identische Welt des wahren, transzendenten Seins; durch Reinigung kann jede individuelle Seele wieder dorthin aufsteigen und die Kontemplation der Geistinhalte erreichen (IV 7,9–15). Anders als die meisten kaiserzeitlichen Platoniker vor und nach ihm hält Plotin auch die Seelen der Tiere für unsterblich (IV 7,14; vgl. dagegen Alcin. Didasc. 25, p. 178,24–32 Whittaker/Louis; Procl. in Tim. 3,234–238 Diehl). Kommentare: Longo 2009; Fleet 2016; D’Ancona 2017. III 1 [3]: Über das Schicksal Verursachung, Vorherbestimmung, Freiheit und Verantwortung waren seit dem Hellenismus vieldiskutierte philosophische Fragen. Die Debatte entzündete sich insbesondere an dem stoischen Begriff des Schicksals (heimarmenê) als

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einer lückenlosen universalen Kausalkette und der Frage, ob dieser stoische Determinismus – kompatibilistisch – mit menschlicher Entscheidungsfreiheit in Einklang zu bringen war. Plotin verfährt zunächst doxographisch und diskutiert materialistische Ursachenlehren (insbesondere den Atomismus), den stoischen Schicksalsbegriff und den astrologischen Determinismus (III 1,1–7). Keine dieser Theorien lässt in seinen Augen Raum für einen Bereich, der „in unserer Verfügung steht“ (eph’ hêmin; III 1,7). Dass man subjektiv aus eigenem Antrieb handelt, ist kein hinreichendes Kriterium für Freiheit (III 1,7). Man muss daher die Seele als eigenständige, primäre Ursache betrachten, die genau dann selbstbestimmt handelt und kausal wirkt, wenn sie rein aus sich heraus als vom Körper unabhängiges Geistwesen handelt. Begibt sie sich dagegen in Gemeinschaft mit dem Körper und in Abhängigkeit von ihm, so ist ihr Handeln durch körperbezogene Emotionen oder Begierden bestimmt und ist eher ein Erleiden als ein Tun. Wirkliches selbstbestimmtes Handeln ist somit dem platonischen Weisen vorbehalten (III 1,8–10). Die insgesamt recht skizzenhaften Gedanken dieser Schrift werden in späteren Traktaten vertiefend wiederaufgenommen (VI 8 [39]; I 4 [46]; II 3 [53]). Kommentar: Chappuis 2006a. IV 2 [4]: Über das Wesen der Seele 1 Die kurze Schrift führt die Überlegungen von IV 7 [2] zum Verhältnis der Seele zum Geist einerseits und zum Körper andererseits fort und versucht das Paradoxon der ungeteilten Allgegenwart der Seele im Körperlichen anhand der Begriffe „teilbar/geteilt“ (meristos) und „unteilbar/ ungeteilt“ (ameristos) aus der Psychogonie des Timaios (Plat. Tim. 35a, zitiert IV 2,2,49–52) zu präzisieren. Der körperfreie transzendente Geist ist absolut unteilbar, während der Körper wegen seiner Zerstreuung im Raum vollständig teilbar ist. Dazwischen liegen mit der Seele und der dem Körper inhärierenden Qualität (poiotês) oder materiegebundenen Form (eidos) zwei Entitäten, die sowohl ungeteilt als auch teilbar sind. Die Qualität oder Form ist als solche immateriell und daher unteilbar, wird aber als Akzidens des Körpers zugleich mit diesem geteilt.

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Dagegen ist die Seele als selbständige geistige Substanz wie der Geist wesenhaft unteilbar. Sie wirkt jedoch direkt auf die Körper und zeigt sich an ihnen und scheint daher wie sie im Raum verteilt zu sein, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht ist (IV 2,1). Die Allgegenwart der Seele beim Körper bei gleichzeitiger Immaterialität und Körperunabhängigkeit wird bestätigt durch das Phänomen der einheitlichen sinnlichen Wahrnehmung (IV 2,2; vgl. IV7 [2],7). Wegen der Doppelüberlieferung von IV 1 [21] (s. dort) wird IV 2 [4] bisweilen auch als IV 1 [4] zitiert. Kommentare: Chappuis 2006b; Gurtler 2015, 299–306; 319–338. V 9 [5]: Über den Geist, die Ideen und das Seiende Die Schrift ist eine systematische Untersuchung zum Geist (nous) als Prinzip, seiner Abgrenzung von der Seele und seiner Identität mit den Formen oder Ideen. Die Frage nach einem dem Geist noch transzendenten Prinzip – dem Einen oder Guten – wird nur gestreift (V 9,2,23–27). Plotin beginnt mit dem Gedanken des Aufstiegs: Materialistische und sensualistische Denker (Epikureer und Stoiker) gleichen flugunfähigen Vögeln; nur göttliche Menschen (die Platoniker) können sich über die Sinnenwelt erheben. Motor des Aufstiegs ist wie in der Schrift I 6 [1] der philosophische Eros des Symposions; die nachfolgende Argumentation soll ihn gleichsam pädagogisch begleiten (V 9,1–2). Die Ansetzung des Geistes als eines eigenständigen Prinzips oberhalb der Welt und der Seele ergibt sich daraus, dass der Geist der Körperwelt die Formen verleiht, die er selbst in materiefreier Weise besitzt, und dass die Seele für die Aktivierung und Vollendung ihrer Tätigkeit auf den Geist angewiesen ist (V 9,3–4; vgl. Aristot. an. 3,5, 430a10–25). Als vollkommener und stets aktiver Geist denkt der Geist sich selbst, indem er das wahrhaft Seiende denkt; Sein und Denken sind eins. Der Geist enthält alle Seienden (Ideen) in nichträumlicher Weise in sich und ist damit Einheit und Vielheit zugleich (V 9,5–6, neben V 5 [31],1–2 eine der ausführlichsten Argumentationen für die Einheit der intelligiblen Gegenstände

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mit dem sie erkennenden Geist). Das bedeutet nicht, dass der Geist die Seienden durch sein Denken erst hervorbringt: Denken und Sein sind gleichursprünglich und eine und dieselbe Aktivität (V 9,7–8; vgl. V 3 [49],5). Die Schlusskapitel behandeln die traditionelle Frage, wovon es Ideen gibt (s. Kap. 27). Als platonischer Ideenkosmos und Vorbild der sinnlich wahrnehmbaren Welt (vgl. Plat. Tim. 33b; 39e) enthält der Geist Ideen aller natürlichen Dinge, nicht aber von Naturwidrigem oder Schlechtem (V 9,9– 11). Ob es Ideen von menschlichen Individuen gibt, wird offengelassen (V 9,12). Eine Idee der Seele (autopsychê) gibt es nicht, weil die Seele als solche Teil der intelligiblen Welt ist (V 9,13– 14). Kommentare: Vorwerk 2001; Schniewind 2007. IV 8 [6]: Über den Abstieg der Seele in die Körper Der Aufenthalt der Seele als eines geistigen Wesens in der Körperwelt ist aus platonischer Sicht erklärungsbedürftig. Plotin nähert sich dem Problem aus phänomenaler und exegetischer Perspektive an. Unser Status als psychophysische Wesen wird uns fragwürdig, sobald wir einmal nach einem gelungenen Aufstieg unsere ursprüngliche Einheit mit der intelligiblen Welt erfahren haben. Platon wiederum spricht im Phaidros von einem selbstverschuldeten „Sturz“ der Seele in die Körper, weist der Seele im Timaios aber eine providentielle Funktion bei der Entstehung und Erhaltung des Kosmos zu (IV 8,1). Diesen scheinbaren Widerspruch versucht Plotin zu lösen, indem er betont, dass die Seele nicht räumlich an ihren Körper gebunden ist, sondern durch die Haltung, die sie zu ihm einnimmt. Die Weltseele verwaltet dank ihrer besonderen Nähe zum Geist den Weltkörper mühelos und ohne ihre Kontemplation des Intelligiblen aufzugeben (IV 8,2). Die menschlichen Einzelseelen verlieren zwar ebenfalls nie den Kontakt zum Geistigen, neigen aber dazu, ihre Aufmerksamkeit ganz den ihrer Fürsorge anbefohlenen Körpern zuzuwenden; sie sind quasi Amphibien, die zugleich in der geistigen und der körperlichen Welt leben (IV 8,4,31–35). Verlieren sie sich ans

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Körperliche, so liegt dies in ihrer eigenen Verantwortung und ist Schuld und Strafe zugleich (IV 8,3–5). Grundsätzlich ist die Mittelstellung der Seele im Seinsganzen und ihre vermittelnde Funktion bei der Abbildung des geistigen Seins im ‚Medium‘ des Körperlichen jedoch notwendig und gut (IV 8,6–7). Plotin schließt mit der ausdrücklich als Abweichung von der exegetischen Tradition gekennzeichneten These, dass der höchste, geistig erkennende Teil der menschlichen Seele immer in der intelligiblen Welt verbleibt (IV 8,8). Kommentare: D’Ancona 2003; Fleet 2012. V 4 [7]: Wie das, was nach dem Ersten kommt, von diesem herkommt, und über das Eine Die kurze, aber bedeutsame Schrift formuliert zum ersten Mal eine negative Theologie des Einen unter expliziter Berufung auf die Erste Hypothese des Parmenides (V 4,1,9  = Plat. Parm. 142a) und das Sonnengleichnis der Politeia (V 4,1,10 = Plat. rep. 6, 509b) und versucht eine prinzipientheoretische Ableitung des Geistig-Seienden aus dem Einen. Da das erste Prinzip allem Seienden vorgängig ist, muss es absolut einfach sein; die Produktivität des Ersten ergibt sich aus seiner Vollkommenheit und Übermächtigkeit (V 4,1). Damit stellt sich die von Plotin wiederholt diskutierte Frage, warum das aus dem Ersten Entstandene Geist ist (vgl. V 1 [10],7,1–26; VI 7 [38],16–17; V 3[49],11). Die Antwort bietet ein partiell an der aristotelischen Wahrnehmungstheorie orientiertes Modell von Hervorgang, Rückwendung und Formung: Das ‚zunächst‘ noch unbestimmte, formlose Sein wendet sich ‚nach‘ seinem Hervorgang aus dem Einen zu diesem zurück und gestaltet sich zur strukturierten Einheit-Vielheit des sich selbst erkennenden Geistes (V 4,2). Die Frage, wie das Eine Vielheit verursachen kann, ohne selbst Vielheit zu sein, beantwortet Plotin hier, indem er in singulärer Weise die Grundcharaktere des Geistes (Erkennbarkeit, Selbstbewusstsein, Selbstunterscheidung, Denken) in transzendenter Form bereits dem Einen selbst zuweist (V 4,2,13–19). Kommentar: Bussanich 1988, 7–33 (zu V 4,2).

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IV 9 [8]: Ob alle Seelen eine sind Das plotinische Paradoxon, dass die vielen an den einzelnen Körpern in Erscheinung tretenden Seelen tatsächlich nur eine einzige sind, ergibt sich aus der Annahme, dass die Seele immateriell und daher körperlicher Einwirkung und räumlicher Teilung nicht unterworfen ist. Plotin verteidigt es auch andernorts in größerem Zusammenhang (VI 4 [22],4–6; IV 3 [27],2–6). Plotin formuliert zunächst einige Aporien zu seiner These (IV 9,1) und löst sie: Die Seele hat in verschiedenen Körpern keine gemeinsame Empfindung, weil das Empfindende das Kompositum aus Körper und Seele ist, nicht die Seele allein (IV 9,2,1–3,9). Die Existenz verschiedener Seelenvermögen – des rationalen, sinnlichen und vegetativen – ist für die Einheit der Seele als Substanz kein Problem (IV 9,3,10–29). Aber wie ist die Einheit aller Seelen genau zu verstehen? Sie ist nicht mit der Einheit einer identischen Qualität an mehreren Körpern zu vergleichen (IV 9,4; vgl. IV 2 [4],1,31–66). Die Einheit und gleichzeitige Vielheit der Seele ist vielmehr analog zur Struktur einer Wissenschaft (epistêmê), die als ganze alle einzelnen Lehrsätze in sich enthält und ihrerseits in jedem Lehrsatz als ganze enthalten ist (IV 9,5; vgl. IV 3 [27],2,50–59; VI 2 [43],20). VI 9 [9]: Über das Gute oder das Eine In dieser Schrift geht es erneut um die Erkenntnis des höchsten Prinzips. Plotin betrachtet es hier (trotz des Titels) nicht als das Gute oder wie in I 6 [1] als das Schöne, sondern als das Eine, d. h. als das selbst absolut einfache Prinzip der Einheit jedes Seienden. Die erste Hälfte der Schrift (VI 9,1–6) basiert mit ihrer negativen Theologie auf der Ersten Hypothese des Parmenides: Es wird gezeigt, dass das Eine auf keines der Prinzipien Seele, Geist und Sein reduzierbar ist, dass keinerlei Attribute im eigentlichen Sinne von ihm ausgesagt werden können und dass es für das sprachlich geprägte rationale Denken unerkennbar ist. Die Erkenntnis des Einen ist überrational und kann nur mit Metaphern wie ‚Gegenwart‘ oder ‚Berührung‘ beschrieben werden. Die zweite Hälfte (VI 9,7– 11) versucht eine sprachliche Annäherung an

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diese Erkenntnisform. Ihre Möglichkeit erläutert Plotin mithilfe eines asymmetrischen Konzepts von Gegenwärtigsein (pareinai). Als Prinzip unseres Seins ist das Eine uns immer gegenwärtig, aber seine Transzendenz hat zur Folge, dass wir ihm in der gewöhnlichen Verfasstheit unseres körpergebundenen Daseins nicht gegenwärtig, sondern fern sind. Erkenntnis des Einen bedeutet Einswerdung mit ihm, d. h. die Reduktion des Selbst auf die absolute Einfachheit unter Zurücklassung von allem, was unser gewöhnliches Dasein ausmacht, aber diese Einfachheit einschränkt: Emotionen, Erkenntnis, Bewusstsein unserer selbst und schließlich sogar das Sein, bis man „allein mit ihm allein“ ist (vgl. VI 9,11,51). Kommentare: Meijer 1992; Hadot 1994; Clark 2020. V 1 [10]: Über die drei Hypostasen mit Prinzipienrang Die Schrift versucht zum ersten Mal eine Art Gesamtdarstellung des plotinischen Hypostasensystems und verankert dieses in der griechischen philosophischen Tradition, insbesondere den Dialogen Platons. Zugleich trägt sie stark protreptische Züge. Ausgangspunkt ist der erlösungsbedürftige Zustand der Seele in der Körperwelt. Die Erlösung besteht in der Selbsterkenntnis der Seele, der Erkenntnis ihrer geistigen Prinzipien und der Rückkehr zu ihnen; diesem Ziel dient die Schrift (V 1,1). Hierzu beschreibt der erste Teil (V 1,2–7) die Seele als universales lebensspendendes Prinzip, den Geist als die Totalität des realen Seins und das Eine als das absolute, seinstranszendente Prinzip alles Seienden. Im Vordergrund steht dabei der Ursachencharakter eines jeden Prinzips. Dies führt im Fall des Einen auf das Grundproblem neuplatonisch-monistischen Denkens: Warum gibt es über das Eine hinaus überhaupt noch Sein, und wie kann das Eine die Vielheit und Vielgestaltigkeit des Seins begründen, wenn es selbst absolut einheitlich und einfach ist? Plotins Antwort fußt auf dem Gedanken, dass das Eine nicht leblos, sondern aktiv ist; die Aktivität des Einen wendet sich auf das Eine selbst als ihr Ziel zurück und definiert sich dadurch als Sein

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und Geist (V 1,5–7). Auf diese Prinzipienlehre folgt ein Abschnitt, in dem Plotin die Hierarchie von Einem, Geist und Seele in den Schriften Platons, insbesondere im Dialog Parmenides, nachzuweisen sucht und sein Selbstverständnis als „Exeget“ Platons erläutert (V 1,8–9; s. Kap. 7 und 9). Zuletzt wird gezeigt, dass die drei Prinzipien in jedem von uns gegenwärtig sind und der Aufstieg zu ihnen wesentlich darin besteht, dass wir uns ihre Gegenwart in uns bewusst machen (V 1,10–12). Kommentare: Atkinson 1983; Bussanich 1988, 34–54 (zu V 1,7,1–26); Perl 2015. V 2 [11]: Über die Entstehung und Ordnung der Dinge nach dem Ersten Die kurze Schrift ist eine Art Anhang zu V 1 [10] und nimmt das Thema der Entstehung der Vielheit des Seienden aus dem absolut einfachen Einen wieder auf. Plotin erklärt sie hier mit dem „Überströmen“ (V 2,1,8: hoion hypererrhyê) der Überfülle des Einen. Das so entstandene Emanat gestaltet sich zum Sein, indem es sich zu seinem Ursprung zurückwendet. Dieses Muster wiederholt sich auf den Ebenen des Geistes und der Seele (V 2,1). Zwischen den Seinsstufen besteht Kontinuität, sodass das geistige Sein als Ganzes – und letztlich auch das Eine – überall in der körperlichen Welt gegenwärtig ist (V 2,2). II 4 [12]: Über die Materie Die Materie (hylê), verstanden als unbestimmtes, formloses Substrat der Formen, wird schon von Aristoteles mit dem aufnehmenden Prinzip (hypodochê, chôra) des Timaios identifiziert (Plat. Tim. 48e–53c; Aristot. phys. 4,1, 209b11–13). Seitdem ist ‚Materie‘ ein Zentralbegriff griechischer Metaphysik und Naturphilosophie. Plotin nimmt diese Tradition auf (II 4,1) und argumentiert zunächst für die Existenz von Materie auch im intelligiblen Bereich (II 4,2–5), bevor er sich der den Körpern zugrunde liegenden Materie zuwendet (II 4,6– 16). Die intelligible Materie deutet Plotin als erste, noch unbestimmte Bewegung und „Andersheit“ (heterotês) gegenüber dem Einen, die sich durch Rückwendung zu diesem zum intelligiblen Kosmos gestaltet (vgl. V 4 [7],2;

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V 1 [10],6–7; VI 7 [38],17), dem sie auch im vollendeten Zustand noch als Moment des Unbestimmten zugrunde liegt (II 4,5,24–37). Das materielle Substrat der Körper ist für Plotin absolut qualitätslos (apoios) und unausgedehnt; insbesondere ist es – entgegen den ausdrücklich kritisierten Theorien der Vorsokratiker, aber auch gegen die stoische Lehre – nicht selbst Körper (II 4,6–8). Die Annahme eines solchen den Veränderungen der körperlichen Formen zugrunde liegenden Substrats ist zwingend, auch wenn es als reine Unbestimmtheit nur indirekt durch einen „unechten Denkakt“ (nothos logismos: II 4,10,11 nach Plat. Tim. 52b) erfasst werden kann (II 4,9–10). Die Materie ist nicht die den Elementen als den einfachsten Körpern zugrunde liegende „Masse“ (onkos, verstanden als bloße Dreidimensionalität und Widerständigkeit), da Körperlichkeit bereits Form ist. Materie ist die Bedingung für räumliche Größe, aber selbst größelos (II 4,11–12). Sie ist keine Qualität, sondern Abwesenheit von Qualität und Form und damit Privation (sterêsis); gegen Aristoteles (phys. 1,9, 102a3–12) hält Plotin eine begriffliche Unterscheidung von Privation und Materie für unangemessen (II 4,13–14). Als Gegensatz zu rationaler Bestimmung und Begrenzung (logos) ist die Materie das Unbestimmte, Unbegrenzte (apeiron; II 4,15), als Gegensatz zum Sein ist sie Nichtsein (II 4,16,1–16). Zuletzt ist kurz von dem Verhältnis der Materie zum Bösen die Rede, das in der Schrift I 8 [51] eingehend behandelt werden wird (II 4,16,16–27). Kommentare: Narbonne 1993; Perdikouri 2014; Long 2022. III 9 [13]: Verschiedene Überlegungen Keine zusammenhängende Schrift, sondern eine Sammlung von neun kurzen Notizen zu verschiedenen Themen. 1. Plotin diskutiert – möglicherweise bezugnehmend auf Numenios (fr. 22 des Places) – den Sinn der Platonstelle Tim. 39e und der dort genannten Entitäten „Geist“, „Lebewesen“ (= die Gesamtheit der platonischen Formen) und „Denkendes“ (III 9,1). 2. Das Verhältnis von Gesamtwissenschaft und Einzelsätzen (vgl. IV 9 [8],5) als Analogon für den ethischen Idealzustand der Seele (III 9,2). 3. Eine an IV 8 [6] erinnernde Skizze über den

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Unterschied zwischen Gesamtseele und Einzelseelen hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Körper (III 9,3). 4. Die Entstehung von Vielheit aus Einheit erklärt sich durch die Allgegenwart des geistig Seienden (III 9,4, vgl. VI 4–5 [22– 23]). 5. Die Seele als ein ‚Sehen‘ und als ‚Materie‘ des Geistes (III 9,5). 6. Der sich selbst erkennende Geist ist unser wahres Selbst; unser Selbstdenken bildet die Selbsterkenntnis des Geistes ab (III 9,6). 7. Der erkennende Geist besitzt Stillstand und Bewegung; das Eine ist jenseits von Stillstand, Bewegung und Denken (III 9,7). 8. Eine kurze Diskussion von Aktualität, Potentialität, Werden und Sein (III 9,8). 9. Plotin verteidigt das Paradoxon, dass „das Gute jenseits des Denkens“ (III 9,9,12) ist: Bewusstsein (parakolouthêsis), Leben und Aktivität (energeia) sind auf das Gute bezogen und gehören erst der nächsten Stufe – der des Geistes – an. II 2 [14]: Über die Kreisbewegung des Himmels Die Kreisbewegung des Himmels war schon für Platon und Aristoteles erklärungsbedürftig gewesen. Vor Plotin erklärte Alexander von Aphrodisias in einer Art Synthese platonischer und aristotelischer Gedanken die Kreisbewegung als Folge des Bestrebens der – mit dem aristotelischen fünften Element gleichgesetzten – Gestirnseelen, ihre intelligible Ursache zu imitieren (Alex. Aphr. quaest. 2,18, CAG Suppl. 2.2, 62,23–63,2 Bruns). Plotin knüpft an Alexander an, verzichtet aber auf das fünfte Element und die damit verbundene Annahme der natürlichen Kreisbewegung eines Körpers. Seine Grundidee ist, dass das „Kreisen“ (II 2,2,13: peritheousa) der Seele um den göttlichen Geist sich in eine im Wortsinn kreisende Bewegung des von der Seele regierten Weltkörpers umsetzt. Diese Kreisbewegung ist eine durch die Anwesenheit der Seele verursachte Modifikation der natürlichen Geradeausbewegung des Körpers; sie nähert den Weltkörper in der besten ihm möglichen Weise dem transzendenten und zugleich allgegenwärtigen Geistigen an (II 2,1). Dass die Einzelkörper sich nicht kreisförmig bewegen, obwohl sie beseelt sind, liegt an ihrer teilartigen Natur (II 2,2). Plotin schließt mit Überlegungen zur Rolle der sinnlichen und vegetativen Funktionen

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der Seele bei der Übertragung der seelischen Bewegung in den körperlichen Bereich (II 2,3).

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zen Notiz warnt Plotin vor der Selbsttötung, weil sie zu einer unzureichenden Loslösung der Seele vom Körper führen würde, lässt sie jedoch in einer Ausnahmesituation wie beginnendem Wahnsinn zu.

III 4 [15]: Über den Daimon, der uns erlost hat Die alte griechische religiöse Vorstellung von einem jedem Menschen zugewiesenen Daimon oder Schutzgeist war schon von Platon aufgenommen worden und bildete, zusammen mit dem Daimonion des Sokrates, einen wichtigen Impuls für die mittelplatonische Dämonologie. Plotin legt die betreffende Platonstelle (Phaid. 107d, zitiert in III 4,3,3–4; vgl. auch rep. 10, 620d, zitiert in III 4,5,8–9, und Tim. 90a, erwähnt in III 4,5,23) im Horizont seiner Seelenlehre und seiner Überzeugung von der ursprünglich göttlichen Natur des Menschen aus (vgl. VI 4 [22],14,18–19). Als die unterste der geistigen Hypostasen bringt die Seele keine neue geistige Entität, sondern lediglich die form- und leblose Materie hervor und gestaltet diese zum Körper (III 4,1). Als vielgestaltige Wesenheit, die von der intelligiblen Welt bis zu den elementaren körperlichen Lebensfunktionen reicht – für Plotin ist auch die Individualseele eins mit dem kosmos noêtos (III 4,3,22, vgl. IV 8 [6],8) – besitzt jede Seele alle seelischen Vermögen (das geistige, das sinnliche und das vegetative); welches davon sie aktiviert, hängt von ihrer ethischen Haltung ab. Der platonische Daimon ist die der gerade aktiven unmittelbar übergeordnete Stufe; das menschliche Leben gelingt, wenn es auf diesen Daimon ausgerichtet ist, also statt auf das Sinnenvermögen auf das rationale Denken oder sogar auf den Geist (III 4,2–4, vgl. III 4,6,1–4). Die Schlusskapitel diskutieren Fragen zur Entscheidungsfreiheit des Menschen im Diesseits und zur Reinkarnation, die sich aus der Erzählung der Politeia von der vorgeburtlichen Wahl des Lebensschicksals und des darüber wachenden Daimons ergeben (III 4,5–6, vgl. Plat. rep. 10, 617b–620d). Kommentar: Stock 2020.

II 6 [17]: Über Substanz oder Über Qualität Eine Studie zu der in der mittelplatonischen Debatte um die Kategorien des Aristoteles aufgeworfenen Frage, wie sich substanzbildende Eigenschaften oder differentiae specificae von rein akzidentellen Qualitäten unterscheiden lassen (s. Abschn. 11.5; Kap. 28). Der Kern von Plotins Antwort ist, dass substantielle Eigenschaften „Aktivitäten“ (energeiai) der intelligiblen Vorbilder der Sinnendinge sind. Im Detail stellt seine Stellungnahme die Interpretation indes durch ihre gedrängte und aporetische Formulierung vor Schwierigkeiten. Plotin beginnt mit dem Problem, dass in der intelligiblen Welt alle Eigenschaften den Charakter von Substanzen (ousiai) haben, während in der sinnlichen Welt substantielle und nichtsubstantielle Eigenschaften existieren (II 6,1). Dies führt auf eine nähere Untersuchung des Begriffs ‚Qualität‘ (poiotês). Eigenschaften, die Aktivitäten der rationalen Formprinzipien (logoi) der Sinnendinge sind, sollten von bloßen Qualitäten unterschieden werden, die dies nicht sind. Hier deutet sich ein Kriterium der Unterscheidung von sub­ stantiellen und nichtsubstantiellen Eigenschaften an, insofern eine identische Eigenschaft, z. B. Wärme, sich bei einigen Substanzen (z. B. dem Feuer) als Wirkung (energeia) des diese hervorbringenden Logos identifizieren lässt, bei anderen (z. B. einem erwärmten Stein) dagegen nicht (II 6,2–3). Die spätere große Schrift Über die Gattungen des Seienden (VI 1–3 [42–44]) wird, teils mit selbstkritischem Rückbezug auf die Schrift II 6, den Substanzcharakter von Eigenschaften in der Sinnenwelt noch stärker infrage stellen (VI 2 [43],14,14–22; VI 3 [44],8,12–23).

I 9 [16]: Über den Suizid Der Suizid war von der pythagoreisch-platonischen Tradition stets abgelehnt (vgl. vor allem Plat. Phaid. 61c–62c), von der Stoa aber dem Weisen unter bestimmten Umständen gestattet worden (SVF 3, 768). In der vorliegenden kur-

V 7 [18]: Über die Frage, ob es auch von Einzeldingen Ideen gibt Die Frage, ob man Ideen nicht nur von Allgemeinbegriffen (Gattungen, Arten), sondern auch von Individuen annehmen müsse, wurde in der platonischen Tradition wiederholt diskutiert

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und in der Regel verneint (s. Kap. 27). Plotin betrachtet sie vor dem Hintergrund seiner Überzeugung von der Verankerung jeder einzelnen Seele und damit auch jedes einzelnen Menschen in der intelligiblen Welt (V 7,1,1–3; vgl. IV 8 [6],8) und gibt eine vorsichtig positive Antwort. Individuelle Differenzen auch körperlicher Art müssen als rationale Strukturen (logoi) in der Seele vorgegeben sein und mithin eine Basis im Geist haben (V 7,1). Plotin lässt genetische und Umwelteinflüsse zu (V 7,2), besteht aber darauf, dass die Materie nur solche Unterschiede erklärt, die rein defizitären Charakter haben. Ursache von Individualität auch innerhalb einer und derselben Art ist die Einheit-Vielheit der geistigen Logoi; die Materie ist nicht principium individuationis (V 7,3). I 2 [19]: Über die Tugenden Nach der Überzeugung der kaiserzeitlichen Platoniker war es das Telos oder Ziel des menschlichen Daseins, mithilfe der Tugenden Gott ähnlich zu werden (vgl. Plat. Tht. 176a–b). Der platonische Gott steht jedoch wegen seiner Trans­zendenz über der Tugend; es erhebt sich also die Frage, wie eine solche Ähnlichwerdung überhaupt möglich ist (I 2,1; vgl. Alcin. Didasc. 28, p. 181,43–45 Whittaker/Louis). Plotin versucht eine Lösung, indem er die „politischen“ oder sozialen Tugenden (Plat. Phaid. 82a–b) von den gleichfalls bei Platon erwähnten „reinigenden“ oder „kathartischen“ Tugenden (Phaid. 69c) unterscheidet und beide in ein hierarchisches Verhältnis bringt. Die politischen Tugenden ordnen und bessern die körpergebundene Seele und mäßigen die Affekte (I 2,2); die reinigenden Tugenden lösen die Seele vom Körper und richten sie auf den Geist aus. Die Dissoziation vom eigenen Körper bewirkt für den Inhaber der Tugend, von Restbeständen abgesehen, Affektfreiheit (I 2,3–5). Durch Tugend wird die Seele zu einem reinen körperfreien Denkwesen und damit dem göttlichen Geist ähnlich, dessen Denkaktivität das Vorbild (paradeigma) der seelischen Tugend ist (I 2,6). Die politisch-sozialen Tugenden sind in den kathartischen Tugenden „potentiell“ (dynamei) enthalten; Inhaber der kathartischen Tugend besitzen auch die politische Tugend und wer-

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den beim Vorliegen entsprechender Umstände ihr gemäß handeln (I 2,7). Porphyrios hat diese Überlegungen zu der vierstufigen Hierarchie von politischen, kathartischen, kontemplativen/theoretischen und paradigmatischen Tugenden systematisiert und damit die spätneuplatonische Lehre von den Tugendgraden begründet (Porph. sent. 32). Kommentare: Catapano 2006; O’Meara 2019. I 3 [20]: Über Dialektik Dialektik war für Platon der Inbegriff philosophischer Methodik gewesen. Bei Aristoteles wurde sie weitgehend gleichbedeutend mit der formalen Logik; in der hellenistischen, insbesondere stoischen Tradition etablierte sie sich neben Naturphilosophie/Ontologie und Ethik als drittes Teilgebiet der Philosophie. Plotin ordnet sie in seine Aufstiegskonzeption ein und vertritt einen an Platons Dialogen orientierten Begriff von Dialektik als lebenspraktischer Metaphysik. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung des Phaidros zwischen musisch, erotisch und philosophisch begabten Menschen (Plat. Phaidr. 248d). Um diesen Seelen zum Aufstieg zum Seienden zu verhelfen, bedarf es einer je unterschiedlichen Didaktik, die im Fall philosophischer Begabung gleichbedeutend mit der Dialektik ist (I 3,1–3). Diese ist die Kunst, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen; sie durchläuft mittels der platonischen Dihärese die Gesamtstruktur des geistigen Seienden und findet zuletzt Ruhe in dessen Prinzip. Ihr Gegenstand sind nicht Sätze, sondern Sachen; sie ist nicht nur formale Logik und nicht Organon, sondern Teil der Philosophie (I 3,4–5). Sie ist unentbehrlich für die Naturphilosophie und vor allem für die Ethik, da die Tugend der Vernunft (phronêsis) bzw. Weisheit (sophia) auf ihr fußt (I 3,6). Kommentare: Jankélévitch 1998; Gourinat 2016. IV 1 [21]: Über das Wesen der Seele 2 Eine kurze Notiz zur Seelenentstehungslehre des Timaios (35a; vgl. auch IV 2[4]; IV 3 [27],19; VI 4 [22],4). Solange die Seele im Geist verbleibt, ist sie ungeteilt wie dieser; sobald sie in Kontakt zu den Körpern tritt, wird sie an diesen

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teilbar, bleibt aber gleichzeitig ungeteilt, weil der höchste Seelenteil nicht in die Körper absteigt (vgl. IV 8 [6],8) und weil ihre Gegenwart bei den Körpern eine immaterielle ist (vgl. IV 7 [2],7). Der Text ist sowohl am Ende der dritten als auch an zweiter Stelle der vierten Enneade nach IV 2 [4] überliefert und wird daher bisweilen auch als IV 2 [21] zitiert. Kommentare: Chappuis 2008; Gurtler 2015, 339–343. VI 4–5 [22–23]: Über das Problem, dass das Sein eines und dasselbe und dennoch überall zugleich ganz ist Die Schriften VI 4 und VI 5 stellen eine Einheit dar; vermutlich sind sie erst von Porphyrios für die Enneaden-Ausgabe voneinander getrennt worden (s. Abschn. 3.3). Plotin beginnt mit der Frage nach dem Verhältnis der Seele zum Körper (VI 4,1), stellt sie aber sogleich in einen weiteren Zusammenhang: Wie ist es möglich, dass das Sein, das einheitlich, unräumlich, unteilbar und nur geistig erkennbar ist, dennoch bei jedem von den vielen, räumlich unterschiedenen, körperlichen Seienden präsent ist (VI 4,2)? Hierbei handelt es sich um das alte Problem der Teilhabe vieler Einzeldinge an einer und derselben platonischen Form, das schon von Platon selbst auf das Paradoxon zugespitzt worden war: „Sie [die Form] soll also eines und dasselbe sein und dennoch in vielen zugleich sein, die voneinander separat sind“ (Plat. Parm. 131b). Plotin löst diese Paradoxie nicht auf, sondern verlangt von seinen Leserinnen und Lesern, sie als adäquate Beschreibung des Verhältnisses von sinnlich und geistig wahrnehmbarem Sein zu akzeptieren und auszuhalten; sie wird zur Grundthese der Schrift (VI 4,4,2; 7,1; 46–47; 9,44–45; 11,1; 12,49–50; VI 5,1,1; 3,29–30). Die unterschiedslose Anwendung des Paradoxons auf das Sein und die Seele (vgl. IV 2 [4],1,65–66) ist möglich, weil Teilhabe am Sein für Plotin die Gegenwart von Form bedeutet, die konkret immer durch die Seele vermittelt ist (vgl. V 8 [31],7,14– 16). Daher wechselt die Argumentation in VI 4–5 häufig von der Seele zum Sein und wieder

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z­urück; mit der Seele befassen sich vor allem die Kapitel VI 4,1; VI 4,4–6; VI 4,12; VI 4,14– 16. Das Paradoxon des Parmenides verliert seine Paradoxie, sobald man vom Körperlichen abzusehen und das geistige als das wahre und absolute Sein zu betrachten vermag. Aber unser Denken ist unvermeidlicherweise sinnlich geprägt (VI 4,2,27–32; VI 5,2); es kann das platonische Paradoxon nicht akzeptieren, ohne sich selbst aufzuheben (VI 4,4,4–6; VI 5,11,1–7). Wird die neue Perspektive wirklich realisiert, so ist sie eine Entgrenzung des Selbst, eine rein geistige Seins- und Erkenntnisform, die mystische Züge trägt (VI 5,7 und 12; s. auch Kap. 36). Hier liegt der Sinn der seltsamen Komposition der Schrift, die ihre Grundgedanken in den ersten drei Kapiteln entwickelt und danach das Denken auf immer neuen Wegen zu immer demselben Ziel führt: VI 4–5 ist eine ausgedehnte Meditation, in der das Denken mit seinen eigenen Mitteln über sich hinauszugelangen versucht. Kommentare: Tornau 1998; Emilsson/Strange 2015. V 6 [24]: Über die Tatsache, dass das, was jenseits des Seins ist, nicht denkt, und was primäres und sekundäres Denken ist Das Paradoxon, dass das erste Prinzip wegen seiner absoluten Einfachheit nicht denkt oder geistig erkennt, ist im Rahmen von Plotins Denken folgerichtig, läuft aber großen Teilen der griechischen philosophischen Tradition zuwider, insbesondere der auch im Mittelplatonismus rezipierten aristotelischen Position, dass das höchste Prinzip oder Gott „Denken des Denkens“ ist (Aristot. metaph. Λ 9, 1074b17–18; Alcin. Didasc. 10, p. 164,27–31 Whittaker/Louis). Plotin hat es bereits gelegentlich zur Sprache gebracht (VI 9 [9], 6,42–55; III 9 [13],9), widmet ihm jetzt aber erstmals eine eigene Schrift. Er beginnt mit der Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Denken (noein) und setzt das primäre Denken mit dem durch Einheit von Denkendem und Gedachtem ausgezeichneten Selbstdenken gleich, dem gegenüber das auf ein äußeres Objekt gerichtete Denken sekundär ist. Was absolut einfach und ohne jede Zweiheit ist,

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kann dagegen zwar aus der Sicht des Denkenden Denkobjekt (noêton; vgl. V 4 [7],2,12) sein, ist an sich aber weder Denkendes noch Gedachtes. Es ergibt sich also eine absteigende Hierarchie von Nichtdenken, Selbstdenken und objektbezogenem Denken (V 6,1–2). Das Denken kann nicht das Erste sein, weil Vielheit Einheit voraussetzt (V 6,3) und weil das Erste oder Gute absolut selbstgenügsam (autarkes), das Denken aber strebend-intentional auf das Gute gerichtet ist (V 6,4) Das Gute ist das ‚Licht‘, auf das der Geist für sein Sein und Denken angewiesen ist, das selbst aber ohne jedes Bedürfnis ist (V 6,4,14–22; vgl. Plat. rep. 6, 507a–509c). Im Gegensatz zum Guten ist das Denken etwas Abgeleitetes, weil es eine strebende Bewegung hin zum Guten ist; diese Bewegung macht das Denkende dem Guten ähnlich (agathoeides, V 6,5,13 nach Plat. rep. 6, 509a) und führt dazu, dass es sich selbst als gut und denkend erkennt (V 6,5). Das Gute selbst ist dagegen auf nichts gerichtet und benötigt keine Aktivität (energeia), auch nicht die des Denkens. Da Sein und Denken in einer einheitlich-vielheitlichen Struktur zusammengehören, ist das Gute, wenn es „jenseits des Seins“ (V 6,6,30 = Plat. rep. 6, 509b) ist, auch jenseits des Denkens (V 6,6). Kommentar: Bussanich 1988, 55–70 (zu V 6,5,1–6,11). II 5 [25]: Über Potentialität und Aktualität ‚Potentiell‘ (dynamei) und ‚aktual‘ (energeia(i)) sind Zentralbegriffe der aristotelischen Physik und Metaphysik, die bereits in die philosophische Sprache der Mittelplatoniker Eingang gefunden hatten und auch von Plotin intensiv rezipiert und reinterpretiert werden. Ausgangspunkt der vorliegenden Erörterung ist die Frage, ob sie auch auf den intelligiblen Bereich anwendbar sind, der ja kein Werden und folglich keinen Übergang von der Potentialität zur Aktualität kennt (II 5,1). Eine Vorüberlegung ordnet die Potentialität (dynamei) der Materie, die Aktualität (energeia(i)) dem Kompositum aus Stoff und Form und die Aktivität (energeia) der aus dem Intelligiblen stammenden Form zu (II 5,2). Die Diskussion um

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Potentialität im Intelligiblen konzentriert sich zunächst auf den Begriff der intelligiblen Materie, zu der sich Plotin hier skeptischer als in der früheren Schrift II 4 [12] äußert. Sie ist von der Form nur analytisch unterscheidbar und legitimiert daher nicht die Annahme von Potentialität im Intelligiblen; insofern sie lebendig und wirksam sind, sind die Formen Aktivität (energeia) und in diesem Sinne auch aktual (energeia(i); II 5,3). Im Gegensatz dazu geht die Materie im körperlichen Bereich niemals wirklich von der Potentialität zur Aktualität über (II 5,4); sie ist potentiell alles, aber nichts in Wirklichkeit und in diesem Sinne, mit der paradoxen Formulierung Platons, „reales Nichtsein“ oder „wahrhaft Täuschung“ (II 5,5 mit Zitat von Plat. rep. 2, 382a; soph. 254d). Kommentare: Narbonne 1998; Arruzza 2015. III 6 [26]: Über die Nichtaffizierbarkeit des Unkörperlichen Plotin beschränkt in dieser Schrift das Phänomen der Affektion (pathos, paschein) – verstanden als passives Erleiden einer Veränderung durch Einwirkung von außen – strikt auf die Körper und verteidigt die paradoxe These, dass sowohl die Seele (III 6,1–5) als auch die Materie (III 6,6–19) nicht affizierbar sind. Bei der Seele geht Plotin davon aus, dass die sinnliche Wahrnehmung nicht als passive Affektion, sondern als aktives Urteil der Seele zu interpretieren ist (III 6,1,1–4; vgl. VI 4 [22],6; IV 6 [41],1–2), und verallgemeinert dies zu dem Grundsatz, dass der Seele generell keine Affektion zugeschrieben werden darf, wenn ihre unkörperliche und unsterbliche Natur nicht gefährdet werden soll (III 6,1). Dies wirft freilich Schwierigkeiten bezüglich evidenter Phänomene (vgl. III 6,3,4–6) wie Güte, Schlechtigkeit und Emotion auf, die die Tradition – auch die platonische – als Affektionen der Seele zu deuten pflegte. Plotin erklärt dagegen Güte als die natürliche, auf den Geist ausgerichtete Funktionsweise der Seele (III 6,2) und weist der Seele nur die kognitive, nicht aber die affektive Seite der Emotionen zu, die als solche nicht ihr, sondern dem von ihr belebten Körper angehören (III 6,3–4). Das ethische Ideal

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der Reinigung der Seele durch Tugend (vgl. I 6 [1],5–6; I 2 [19],3–5) ist entsprechend intellektualistisch aufzufassen (III 6,5). Die Nichtaffizierbarkeit der Materie ergibt sich, anders als die der Seele, aus ihrer Schwäche (vgl. III 6,15,23– 25). Plotin zeichnet im zweiten Teil der Schrift ein beunruhigendes Bild von der körperlichen Welt, in der Materie und Formen sich nicht, wie im aristotelischen Hylemorphismus, zu einer Substanz (ousia) vereinigen, sondern die Qualitäten an der Materie wie an einem Spiegel abgleiten – eine Welt, in der der Mensch sich wie im Traum bewegt (III 6,6–10). Die Schlechtigkeit der Materie liegt eben in ihrer Nichtaffizierbarkeit durch das Gute; Platons Darstellung der „nichtseienden“, „sich entziehenden“ Materie im Timaios (Plat. Tim. 49a–52c) und der Mythos von Poros und Penia im Symposion deuten dies an (III 6,11–14). Körperlichkeit und räumliche Ausdehnung oder Größe (megethos) sind keine Eigenschaften der Materie, sondern ergeben sich aus dem Wirken der unkörperlichen Formen (logoi) und deren Erscheinen in ihr. Die mangelnde Aufnahmefähigkeit der Materie führt zur Separation der Formen im Raum und zu Konflikten zwischen ihnen, deren Ergebnis das körperliche Tun und Erleiden ist (III 6,15–18). Platons Bezeichnung der Materie als „Mutter“ (Tim. 50d; 51a) bezieht sich lediglich auf die Passivität der Materie, nicht auf ihre Produktivität (III 6,19). Kommentar: Fleet 1995. IV 3–5 [27–29]: Über Probleme der Seele 1–3 Diese ursprünglich zusammengehörige, umfangreichste Schrift Plotins (insgesamt 85 Kapitel) ist von Porphyrios für die Enneaden-Ausgabe in drei Teile geteilt worden (s. Abschn. 3.3). Sie lässt sich in sechs Einzeluntersuchungen zu (im antiken Sinne) psychologischen Fragen von der Metaphysik der Seele bis hin zu naturphilosophischen Fragen wie der Physiologie der Sinneswahrnehmung gliedern. 1. Zum Verhältnis der Seele als solcher (Hypostase Seele) zu Weltseele und Einzelseelen (IV 3,1–8). Plotin wendet sich gegen die stoische, aber auch durch manche Platonstellen (Tim. 30b; 90c–d; Phil. 30a; Phaidr. 246b) nahegelegte Auffassung, dass die Einzelseelen Teile

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der Weltseele sind, und plädiert stattdessen für die Annahme einer als solcher nicht körpergebundenen, unteilbaren Gesamtseele. Welt- und Einzelseelen sind Teile dieser Gesamtseele nicht im physischen Sinne, sondern so, wie Lehrsätze Teile der Gesamtwissenschaft sind (vgl. IV 9 [8],5): So wie diese sich durch Aussprechen manifestieren, werden Welt- und Einzelseelen als Teile sichtbar, sobald sie in Bezug zu Körpern treten. Ihre Individualität ist jedoch bereits auf der seelischen Ebene vorgegeben und nicht durch den Körperbezug verursacht (IV 3,1–5). Welt- und Einzelseelen stehen nicht in einem hierarchischen, sondern in einer Art Geschwister-Verhältnis (IV 3,6,13). Die Differenzen zwischen ihnen erklären sich dadurch, dass sie die ihnen qua Seelen gleichermaßen innewohnenden Möglichkeiten (dynameis) in unterschiedlichem Maße aktivieren. Dies lässt sich exegetisch auch mit den erwähnten Platon-Passagen harmonisieren (IV 4,6–7). Die Unterschiede zwischen den Lebewesen sind durch die verschiedene Aufnahmefähigkeit der Körper für Seelisches bedingt; die Seele als solche ist allgegenwärtig (IV 3,8). 2. In welchem Sinne ist die Seele im Körper, und wie geht sie als geistige Entität in ihn ein? (IV 3,9–24) Hintergrund dieser Partie ist die bereits in IV 8 [6] behandelte SeelensturzThematik des Phaidros. Bei der Weltseele kann man nicht im Wortsinne, sondern nur – wie Platon im Timaios – um der Anschaulichkeit willen von einem Eingehen in den Weltkörper sprechen, da die Welt ewig und immer schon beseelt ist. Die Seele schafft Raum und Körper; sie enthält die rationalen Strukturen (logoi) alles körperlich Seienden; die Körper werden in dem Maße beseelt, wie sie für die in unräumlicher Weise allgegenwärtige Kraft der unkörperlichen Seele aufnahmefähig sind. In besonderem Maße gilt dies für die Himmelskörper, die – wie die Tempel der Alten – göttliche Seelen aufzunehmen vermögen und daher sichtbare Götter sind (IV 3,9–11). Die menschlichen Einzelseelen dagegen verbleiben zwar mit ihrem höchsten, geistigen Teil auf der Geist-Ebene (IV 3,12,1–5; vgl. IV 8 [6],8), wenden sich aber in höherem Maße als die Weltseele den von ihnen

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geschaffenen und gelenkten Körpern zu (Metapher vom ‚Spiegel des Dionysos‘). Ihre Einkörperung und Reinkarnation vollzieht sich zyklisch nach der im Geist vorgegebenen gesetzmäßigen rationalen Struktur des Ganzen (logos; vgl. hierzu auch III 2–3 [47–48]). Insofern er Folge eines allgemeinen Gesetzes ist, beruht der Seelenabstieg nicht auf willentlicher Entscheidung; er ist aber auch nicht äußerlich determiniert, da das allgemeine Gesetz in die Natur der Seelen eingeht (IV 3,12–13). Weltund Einzelseelen wirken bei der Gestaltung und Ausschmückung der Körperwelt zusammen (IV 3,14: Allegorese des Pandora-Mythos). Die unterschiedlichen Grade des Abstiegs ergeben sich aus der Prädisposition der Seelen ebenso wie aus den Gegebenheiten der betreffenden Körper. Das traditionelle Bild vom ‚Sturz‘ der Seelen durch den Himmel hinab zu den irdischen Körpern (vgl. Plat. Phaidr. 249a) deutet Plotin immaterialistisch im Sinne einer größeren oder geringeren ontologischen ‚Nähe‘ oder ‚Ferne‘ der Körper zum geistigen ‚Licht‘. Physisches Übel ist nicht Teil des natürlichen Gesetzes, sondern eine Nebenwirkung desselben, die – wie erlittenes Unrecht – das wahre, geistige Wesen der Seele nicht betrifft (IV 3,15–17). Diskursives Denken (logismos) und Sprache kommen der nichtinkarnierten Seele und selbst der Welt- und den Gestirnseelen nicht zu, insofern sie durch die Einschränkungen der Körperwelt bedingte Ersatzformen für die unmittelbare geistige Einsicht sind (IV 3,18, vgl. ausführlicher IV 4,10–17). Eine in Form einer PlatonExegese vorgetragene Reflexion über die Relation der Seelenvermögen Sinneswahrnehmung, Wachstum und Denken (IV 3,19 zu Plat. Tim. 35a; vgl. IV 2 [4]; IV 1 [21]) leitet über zu der Frage, in welchem Sinne die Seele ‚im‘ Körper ist (IV 3,20–24). Als immaterielle Entität kann die Seele weder im räumlichen Sinne im Körper sein noch (entsprechend der aristotelischen Auffassung) wie die Form in der Materie. Am ehesten entspricht ihre Anwesenheit im Körper der des – unkörperlich gedachten – Lichtes in der erleuchteten Luft, das durch den Vorgang des Beleuchtens nicht geteilt wird und von den Veränderungen des Luftkörpers unbeeinflusst bleibt

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(IV 3,20–22, vgl. präzisierend IV 4,18,1–10). Die Vermögen der Seele, wie etwa die Sinneswahrnehmungen, lassen sich im Körper lokalisieren, weil bestimmte Körperteile als Organe für die Aktivierung des jeweiligen Vermögens fungieren (IV 3,23). Nach dem Tod ist die Seele ebenso wenig „irgendwo“ wie der Geist und die Ideen, es sei denn, sie wird aufgrund ihres Vorlebens reinkarniert (IV 3,24). 3. Gedächtnis und Erinnerung (IV 3,25– IV 4,17). Gedächtnis (mnêmê) und Erinnerung (anamnêsis) sind Standardthemen der antiken naturphilosophischen Psychologie (vgl. Aristoteles, De memoria et reminiscentia); für den Platonismus sind sie außerdem wegen der Anamnesislehre der platonischen Dialoge relevant. Plotins Leitfrage ist, ob die Seele nach ihrem Ausscheiden aus dem Körper Erinnerung besitzt (IV 3,25,1–5). Gleich eingangs stellt Plotin fest, dass die Anamnesis im Sinne Platons, d. h. das ‚Wiedererinnern‘ geistiger Inhalte, kein eigentliches Sicherinnern, sondern das Aktivieren und Bewusstmachen von Dingen ist, über die die Seele immer schon verfügt (IV 3,25,27–34; vgl. V 1 [10],12). Der erste Teil der Abhandlung versucht dann zu zeigen, dass eine Seele, die die Geist-Ebene erreicht bzw. ihren geistigen Anteil aktiviert hat, keine Erinnerung an ihr diesseitiges Leben besitzt bzw. benötigt (IV 3,25–IV 4,5). Plotin fragt zunächst nach dem Träger des Erinnerungsvermögens. Sowohl bei der Zuschreibung desselben an das Kompositum aus Seele und Körper als auch an die Sinnen- oder Denkseele ergeben sich Schwierigkeiten, weil die Erinnerung gleichermaßen Geistiges wie Sinnliches zum Gegenstand hat (IV 3,25–IV 3,29,22). Plotins Lösung ist die Zuweisung an die Vorstellungskraft (phantasia, phantastikon), die sowohl sinnliche Wahrnehmungen als auch in sprachlich-rationale Strukturen (logoi) umgesetzte geistige Erkenntnisse (noêseis) über die Zeit zu bewahren vermag (IV 3,29,22–IV 3,30). Dies scheint auf die Annahme von zwei verschiedenen Vorstellungsvermögen für die rationale und die sinnliche Seele zu führen; Plotin besteht jedoch darauf, dass diese ebenso eine Einheit bilden wie die Seele des psychophysischen Wesens eine Ein-

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heit ist (IV 3,31). Bei der Abscheidung der unteren Seele oder ihrem Aufgehen in der höheren Seele im Tod werden Erinnerungen an das zeitliche diesseitige Leben jedoch zurückgelassen; die mit dem Geist eins gewordene Seele hat dieselbe zeitfreie, intuitive Erkenntnisweise wie der Geist und nimmt die plurale, nach Gattungen und Arten beschreibbare Struktur des geistigen Seins ohne zeitliches Nacheinander „auf einmal“ (IV 4,1,20–21) wahr (IV 3,32–IV 4,1). Auf dieser Ebene hat die Seele lediglich eine ‚potentielle‘, implizite Erinnerung an ihre physische Existenz als menschliches Individuum („Sokrates“), so wie auch im körpergebundenen Zustand während intensiver Denkvorgänge die Aufmerksamkeit auf das Selbst in den Hintergrund tritt (IV 4,2; vgl. IV 4,4,16–20). Doch kann die Aktivität auf der geistigen Ebene nach einem erneuten ‚Abstieg‘ in die Körperwelt ihrerseits ‚nachträglich‘ erinnert werden (IV 2,3; vgl. IV 8 [6],1,1–11); eine solche Erinnerung erhält die Bindung der Seele ans Geistige, während – auch implizit-unbewusste – sinnliche Erinnerungen diese möglicherweise lösen und die Seele an die Körperwelt binden (IV 4,4–5). Der zweite Teil der Abhandlung zur Erinnerung wendet sich denjenigen Seelen zu, deren Einheit mit dem Geist immer schon und unaufhebbar aktiviert ist, d. h. der Weltseele und den Gestirnseelen (IV 4,6–17). Derartige Seelen benötigen keine Erinnerung, weil die von ihnen verursachte Bewegung der Welt und der Himmelskörper stets gleichförmig verläuft; sie ergibt sich von selbst aus ihrer Hinwendung zum Geistigen und bedarf keiner eigenen Aufmerksamkeit (IV 4,6–8). In seinen Überlegungen zur Weltseele nimmt Plotin die zuvor schon angesprochene Frage auf, ob ihr planenddiskursives Denken (logismos, dianoia) zugeschrieben werden kann (vgl. IV 3,18). Die philosophisch-religiöse Überzeugung von der Fürsorge (pronoia) des Zeus für die Welt und die Menschen scheint ein Denken und Erinnern des Gottes zu implizieren (IV 4,9), doch Plotin bestreitet dies: Versteht man unter ‚Zeus‘ den Demiurgen des Timaios – d. h. den Geist –, so muss sein Leben und Erkennen als nicht zeitgebunden und ewig betrachtet werden; identi-

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fiziert man ihn hingegen mit der Weltseele, so verfügt er zwar über ein Wissen um den Kosmos, das jedoch vom diskursiven Denken, das vom Unbekannten zum Bekannten fortschreitet und Wissen erst erstrebt (vgl. IV 4,12,5–7), zu unterscheiden ist. Plotin bezeichnet dieses Wissen mit dem aristotelischen Ausdruck für ‚praktische Vernunft‘ (phronêsis), wohl weil es nicht rein kontemplativ, sondern als unmittelbare Ursache des Kosmos praktisch und produktiv ist. Diese ‚Vernunft‘ gleicht einer vollkommen beherrschten Kunst oder Fertigkeit (technê), die sich ohne weitere Planung wie von selbst in einen zeitlichen Vorgang umsetzt, wie etwa das Saitenspiel. Das Wissen der Weltseele um das Zukünftige ist aus ihrer eigenen Sicht Wissen um Gegenwärtiges (IV 4,10–12). Die sichtbare Natur, die in den Körpern produktiv ist, ist ein Abglanz und Wiederschein dieser ‚Vernunft‘ (IV 4,13–14). Die von Platon vorgegebene Unterscheidung von Ewigkeit und Zeit und ihre Zuordnung zum Geist bzw. zur Seele (vgl. V 1 [10],4,16–25; Plat. Tim. 37c–38b; s. auch Kap. 50) ist dadurch nicht gefährdet: Die Weltseele ist zwar als solche nicht in der Zeit, bringt aber im Gegensatz zum Geist wesenhaft Zeitliches hervor; und die Einzelseelen sind wegen ihrer engen Bindung ans Körperliche vielfältig wechselnden Vorstellungen (phantasiai) und Meinungen ausgesetzt, sodass ihr Tun und Leiden (IV 4,15,16–17) und damit in gewisser Weise auch sie selbst (IV 4,15,12) der Zeit unterworfen sind (IV 4,15–17). 4. Der ‚lebende Körper‘ als Träger der Empfindungen und Begierden (IV 4,18–29). Plotin hatte in einer früheren Schrift für die Affektfreiheit der Seele argumentiert und hierzu die Sinneswahrnehmung nach ihrer körperlich-affektischen (pathos) und ihrer kognitivurteilenden Seite (krisis) unterschieden (III 6 [26],1,1–5). Körperliche Empfindungen lassen sich jedoch nicht völlig von der Seele abstrahieren. Plotin präzisiert daher jetzt seine frühere Analogisierung von Seele und Leib mit Feuer und Luft (IV 3,22): Der Leib gleicht nicht lediglich der erleuchteten, sondern der erwärmten Luft; die Seele bleibt vom Körper unbeeinflusst, aber der Körper wird durch ihre An-

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wesenheit zum ‚lebenden Körper‘. Diese Modifikation setzt ihn in den Stand, Veränderungen nicht nur zu erleiden, sondern auch zu empfinden, was dann von „uns“ – d. h. der Seele, von der der betreffende lebende Körper regiert wird – zur Kenntnis genommen wird (IV 4,18,1–21). Schmerz und Lust, die elementarsten Empfindungen, entstehen, wenn die Einheit des leibseelischen Kompositums gelockert bzw. wiederhergestellt wird; dass die Rolle der Seele hierbei eine kognitive ist, ist daran erkennbar, dass sie die Empfindung im Körper zu lokalisieren vermag (IV 4,18,21–19,29). Körperliche Begierden (epithymiai) wie Hunger und Durst nehmen ihren Anfang im lebenden Körper und teilen sich der vegetativen Seele mit; in der höheren Seele entsteht daraus eine Vorstellung (phantasia), der sie nachgeben oder sich widersetzen kann (IV 4,20–21). An die Erwähnung der vegetativen Seele oder „Natur“ schließt sich ein Exkurs an: Besitzt die Erde wie die Gestirne und der Himmel eine Seele im Vollsinne einschließlich der sinnlichen und erkennenden Vermögen (IV 4,22–27)? Plotin antwortet vorsichtig positiv (IV 4,27). Schwierigkeiten bereitet vor allem die Sinneswahrnehmung, da Erde und Gestirne sie nicht zu benötigen scheinen und auch keine Sinnesorgane besitzen; Sinnesorgane – also Körperteile, die zwischen dem von außen einwirkenden Objekt und der immateriellen Seele vermitteln, indem sie die Form der körperlichen Objekte in für die Seele rezipierbarer, d. h. geistiger Weise aufnehmen – sind aber die Voraussetzung sinnlicher Wahrnehmung (IV 4,23; vgl. I 1 [53],7; s. Kap. 49). Doch können die Sinnesorgane von Erde und Gestirnen eine andere Gestalt haben, oder die Sinneswahrnehmung wird durch die ‚Sympathie‘ (Empfindungsgemeinschaft, sympatheia) aller Teile des lebendigen Weltwesens ermöglicht (IV 4,24–26). Den Zorn (thymos; Plotin übernimmt den Begriff von Platon, verwendet ihn aber entsprechend hellenistischem Sprachgebrauch in engerer Bedeutung) erklärt Plotin als eine komplexe Wechselwirkung zwischen Vorstellungen (phantasiai) in der Seele und physischen Reaktionen des lebenden Körpers, z. B. Wallungen von Blut und Galle (IV 4,28). Ob die

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von der Seele verursachte, mit Beleuchtung oder Erwärmung vergleichbare Belebung des Körpers sich nach dem Tod in Nichts auflöst oder in der Seele aufgeht, hängt davon ab, ob sie selbst Seele oder ein körperabhängiges Leben ist; Plotin lässt die Frage vorerst offen (IV 4,29; vgl. I 1 [53],12,28–31 mit deutlicherer Stellungnahme zugunsten der Auflösung). 5. Kosmische Sympathie, Einfluss der Gestirne, Gebet und Magie (IV 4,30–45). In welcher Weise wirken die als Götter aufgefassten Gestirne auf das Leben der Menschen? Physische Wirkungen wie Erwärmung und Abkühlung durch den Umlauf der Welt und der Planeten sind evident, doch lassen sich individuelle Charaktere und Schicksale hierdurch nicht erklären (IV 4,30–31). Die Antwort bietet die Theorie der kosmischen Sympathie: Da die Welt nach Platon ein alle Wesen in sich enthaltendes einheitliches Lebewesen ist (IV 4,32,4–7 mit Zitat von Plat. Tim. 30d–31a), sind alle ihre Teile auch über Entfernungen hinweg durch Wirken und Leiden miteinander verbunden. Da das einheitliche Weltwesen zugleich vieles ist, können dabei wechselseitige Schädigungen der einzelnen Teile auftreten, die indes von den Göttern nicht mit Absicht (prohairesis) herbeigeführt werden, sondern sich aus der rationalen Struktur (logos) und dem Wohl (IV 4,35,32: agathon) des Ganzen ergeben. Einzelereignisse sind teils kosmisch, teils individuell verursacht; es gibt also keinen astrologischen Determinismus, sondern die Gestirnkonstellationen zeigen das irdische Geschehen in der Regel lediglich an (IV 4,32–35; vgl. II 3 [52]). Wegen der Vielgestaltigkeit des kosmischen Wesens finden sich in ihm eine Vielzahl größerer und geringerer Kräfte (dynameis) und auch scheinbar Unbelebtes. Vermeintlich negative Wirkungen der Gestirne sind durch mangelnde Aufnahmefähigkeit der Körper oder der Materie oder durch die kausale Einwirkung der Menschen selbst bedingt. Die Zeichenfunktion der Gestirne ist möglich, weil das Ganze rational strukturiert ist (kata logon); der platonische Grundsatz, dass „die Tugend ohne Herrn“ ist (IV 4,39,3 = Plat. rep. 10, 617e), bleibt durch sie unangetastet (IV 4,36–39; vgl. II 3 [52],9; 13). Die Wirk-

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samkeit von Magie (goêteia), Gebeten und Beschwörungen ist gleichfalls durch die kosmische Sympathie bedingt. Gebete können innerhalb des Ganzen kausale Wirkung entfalten, aber die Götter ‚erhören‘ sie nicht im physischen Sinne, und ihre Gewährung oder Nichtgewährung erfolgt nicht mit bewusster Absicht (prohairesis; IV 4,40–42). Auch der Weise (spoudaios) ist magischem Einfluss ausgesetzt, soweit er Teil der kosmischen Natur ist; seine Geistseele bleibt davon jedoch unbeeinflusst. Plotin fasst den Begriff der Magie oder „Bezauberung“ hier sehr weit und subsumiert darunter sämtliche – auch natürliche – Wirkungen, deren Ermöglichungsgrund durch kosmische Sympathie bedingte Relationen sind. Man kann sich dem nur entziehen, indem man seine Relation zur körperlichen Welt möglichst reduziert, d. h. durch eine auf den Geist bezogene kontemplative Lebensweise (theôria; IV 4,43–44). Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung des Sympathiegedankens und seiner ethischen Implikationen (IV 4,45). 6. Sehen und Sympathie (IV 5: Über Pro­ bleme der Seele 3 oder Über das Sehen). Vor dem Hintergrund der Sympathiediskussion nimmt Plotin die zuvor kurz angerissene Frage wieder auf, ob für Sinneswahrnehmungen über eine Distanz, etwa beim Sehen oder Hören, ein körperliches Medium erforderlich ist (IV 5,1; vgl. IV 4,23,43–48). Die ein solches Medium postulierenden Theorien – die peripatetische, aber auch die materialistischen hellenistischen Konzeptionen – können dessen Relevanz für den Sehvorgang nicht schlüssig begründen; die Annahme einer seelisch bedingten Fernwirkung aufgrund kosmischer Sympathie scheint leistungsfähiger (IV 5,2–4). Ähnliche Argumente lassen sich gegen die Erklärung des Hörens durch Schallwellen in der Luft anführen (IV 5,5). Es folgen Präzisierungen zur Natur des Lichts, die zugleich den früher vorgenommenen Vergleich von Beseelung und Beleuchtung bzw. Erwärmung vertiefen (vgl. IV 3,22; IV 4,18; IV 4,29). Licht ist keine Qualität des beleuchteten Körpers, sondern die nach außen gerichtete unkörperliche Aktivität (energeia) eines leuchtenden Körpers, z. B. der Sonne (vgl. V 4 [7],2,27–

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33; V 1 [10],6,27–37). Es ist für seinen Bestand nur auf die Existenz der Lichtquelle angewiesen. Der beleuchtete Körper nimmt das Licht auf, sofern er in der Nähe ist, aber seine Anwesenheit ist für den Vorgang des Leuchtens (und des Sehens) ohne Belang – so wie ein entsprechend aufnahmefähiger Körper in der ‚Nähe‘ der Seele zum lebenden Körper wird (IV 5,6–7). Die Frage, ob ein mit dem Auge durch Ähnlichkeit, aber nicht durch Sympathie verbundener Körper – etwa im Weltraum – für uns sichtbar ist, ist in sich widersprüchlich, weil eine solche Ähnlichkeit stets seelisch verursacht ist und Sympathie impliziert (IV 5,8). Kommentare: Helleman-Elgersma 1980 (IV 3,1–8); Dillon/Blumenthal 2015 (IV 3,1–IV 4,29); Gurtler 2015 (IV 4,30–45; IV 5). III 8 [30]: Über die Natur, die Schau und das Eine Die vier Schriften III 8, V 8, V 5 und II 9 sind wahrscheinlich ein ursprünglich zusammengehöriger Text, den Porphyrios auf drei verschiedene Enneaden verteilt hat (s. Abschn. 3.3). Diese ‚Großschrift‘ mündet in eine scharfe Kritik an der dualistischen Weltablehnung der Gnosis (II 9), für die die ersten drei Teile das systematische Fundament bilden: Plotin erläutert die Art und Weise natürlichen Schaffens (III 8) und führt sie auf die Seins- und Wirkweise der Prinzipien Geist (V 8) und Eines (V 5) zurück, die absolut schön bzw. absolut gut sind. Die Existenz verschiedener Titel für die vier Teile sowie eines Alternativ-Titels für II 9 (Porph. VP 24,56–57) deutet darauf hin, dass die Teilung der Schrift schon vor Porphyrios’ Ausgabe vorgenommen wurde. Die vier Schriften werden hier daher einzeln vorgestellt. Thema der Schrift III 8 ist die natürliche Produktion und ihre Rückführbarkeit auf den Geist und das Eine. Plotins grundlegendes Denkmittel ist dabei das Verständnis jeder Produktion als Schau oder Betrachtung (theôria; s. Kap. 30). Diese zunächst paradox anmutende These verteidigt Plotin zunächst für die Natur (physis) als die unterste Ebene der Seele: Natürliche Produktion ist die Weitergabe einer durch die Betrachtung aufgenommenen rationalen Struk-

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tur (logos) an eine niedere Seinsebene; diese Weitergabe erfolgt unbewusst und beiläufig als eine Art Nebenprodukt der Kontemplation (III 8,1–4). In ähnlicher Weise ist auf der Ebene der individuellen menschlichen Seele das Handeln (praxis) ein Beiprodukt oder ein Ersatz für die Schau; das Schauen der Seele besteht in der möglichst vollkommenen Aneignung des geschauten Gegenstandes und der Annäherung an die einheitliche Erkenntnisweise des Geistes (III 8,5–6). Nach einer Zusammenfassung (III 8,7) wird der Geist, d. h. die Identität von Erkennen und Sein, als die ursprüngliche Form der Schau aufgewiesen (III 8,8). Zuletzt fragt Plotin nach dem höchsten, absolut einheitlichen Prinzip, auf das der Geist durch seine Vielheit noch verweist, und untersucht, wie sich der Geist durch seinen Bezug zu diesem Prinzip selbst konstituiert (III 8,9–11). Kommentare: Deck 1967; Roloff 1970, 4–35; Cilento 1971, 121–155; Bussanich 1988, 71– 131 (zu III 8,8,26–11,45); Ham 2021. V 8 [31]: Über die geistig erkennbare Schönheit Im zweiten Teil der großen antignostischen Schrift III 8 – V 8 – V 5 – II 9 analysiert Plotin zunächst die Erscheinungsformen der Schönheit in Kunst (V 8,1) und Natur (V 8,2, vgl. III 8 [30],2–4) und führt sie auf die Schönheit des Geistes zurück. Das aus III 8 [30],8 bekannte Schauen des Geistes kehrt als „Weisheit“ (sophia) des Geistes wieder. Diese Weisheit ist die Letztbegründung für jede Schönheit und kann daher mit der absoluten, geistigen Schönheit identifiziert werden. Im Geist ist alles füreinander transparent, und jede Differenz ist zugleich Identität. Daraus ergibt sich für den Geist eine Form des Wissens, die total, nichtdiskursiv und nichtpropositional ist (V 8,3–6). Die geistige Weisheit ist, wie jede Weisheit, schöpferisch; dabei kann es sich aber nicht um ein Schaffen im Sinne einer zeitlichen Planung und Durchführung handeln, sondern die sinnlich wahrnehmbare Welt ist die natürliche und unmittelbare Abbildung der geistigen Schönheit (V 8,7–8). Wenn diese Abbildung ein Sichentfalten in Raum und Zeit ist, dann ist die Bedingung für

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unsere Erkenntnis des Geistes die Rücknahme dieser Entfaltung: Unser Denken erkennt den Geist dann, wenn es keine räumlichen und zeitlichen Differenzen enthält und zuletzt auch die Differenz zwischen sich und dem Geist aufhebt (V 8,9–11). Plotin schließt mit einer Zusammenfassung, die auf der Allegorese der mythischen Sukzession Uranos – Kronos – Zeus als neuplatonische Folge von Einem, Geist/Sein und Seele fußt (V 8,12–13). Gegenüber I 6 [1] erfährt der Begriff des Schönen in V 8 [31] trotz zahlreicher Übereinstimmungen eine gewisse Verlagerung (s. auch Kap. 39). Während in I 6 das entscheidende Kriterium für das Schöne das von ihm ausgelöste erotische Streben war, bedeutet Schönheit in V 8 in erster Linie Richtigkeit und Perfektion (zum Unterschied vgl. VI 7 [38],32,28–39). Damit verschiebt sich gegenüber I 6 auch das Verhältnis des Einen-Guten zum Schönen: Während in I 6 die Suche nach dem Schönen erst in der Vereinigung mit dem Guten ihr Ziel findet, wird das Schöne in V 8 an den Geist gebunden und von dem Einen klar getrennt (V 8 [31],8,5; ausführlicher V 5 [32],12). Kommentare: Roloff 1970, 36–94; Cilento 1971, 157–194; Darras-Worms 2018; Smith 2018; Vassallo 2019. V 5 [32]: Dass die geistig erkennbaren Gegenstände nicht außerhalb des Geistes sind, und über das Gute Die Schrift ist nach III 8 [30] und V 8 [31] der dritte Teil der ursprünglich zusammengehörigen ‚Großschrift‘. Im Anschluss an V 8 [31],13 argumentiert Plotin zunächst ausführlich für den Grundsatz, dass die Gegenstände des geistigen Erkennens (d.  h. die platonischen Formen) nirgendwo anders als im Geist selbst sind. Fundament der Begründung ist, dass der absolute Geist irrtumsfrei sein muss und seine Erkenntnis daher nicht zufällig oder äußerlich sein darf; echte Erkenntnis ist in diesem Sinne stets Selbsterkenntnis (V 5,1–2; vgl. V 6 [24],1– 2; s. Kap. 20 und 26). Der Rest der Schrift ist dem absolut einheitlichen ersten Prinzip gewidmet, das sogar dem sich selbst erkennenden Geist noch vorgängig ist. Dieses kommt zu-

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nächst in seiner Eigenschaft als das Eine in den Blick, wodurch eine Betrachtung seines Verhältnisses zu den Zahlen (V 5,4; vgl. VI 6 [34]) und zum Sein notwendig wird. Als Prinzip des Seins ist das Eine seinstranszendent und kann daher weder geistig erkannt noch sprachlich ausgedrückt werden. Dennoch ist es, wie Plotin in einer Exegese von Platons Sonnengleichnis herausarbeitet, die Bedingung allen geistigen Erkennens, so wie das Licht die Bedingung des Sehens ist, selbst aber nur in Ausnahmesituationen unmittelbar sichtbar ist. Eine ähnliche Ausnahmesituation ist das Erkennen des Einen: Es ist ein un- oder übergeistiges Erkennen, auf das man sich vorbereiten, dessen tatsächliches Eintreten man aber nur abwarten kann (V 5,5–8). Der Zugang zum Einen ist uns möglich, weil das Eine nicht nur unermesslich transzendent, sondern auch in uns präsent ist, analog zu dem in der Schrift VI 4–5 [22–23] ausführlich eingeübten Paradoxon von der ungeteilten Allgegenwart des Seins (V 5,9–11). Zuletzt wird das Prinzip in seiner Eigenschaft als das Gute in den Blick genommen. Plotin betont hier mit ungewöhnlicher Entschiedenheit die Zweitrangigkeit des Schönen gegenüber dem Guten (V 5,12) und zeigt, dass das Gute als Prinzip notwendigerweise absolut einfach ist (V 5,13). Kommentare: Roloff 1970, 94–150; Cilento 1971, 193–219; Bussanich 1988, 132–148 (zu V 5,7,31–8,27); Gerson 2013. II 9 [33]: Gegen die Gnostiker Es gab in Plotins Umfeld und unter seinen eigenen Hörern Vertreter christlicher Gnosis (II 9,10,3–5; Porph. VP 16; s. Abschn. 1.2, 2.3 und 14.4). Gegen sie richtet sich die Schrift II 9, der polemische Schlussteil der Großschrift III 8 – V 8 – V 5 – II 9. Plotin behandelt die Gnosis dabei als ein konkurrierendes philosophisches Unternehmen, das seine Wurzeln im Platonismus hat, aber von dessen authentischer Form zugunsten neuer, verfälschender Thesen abgewichen ist. Adressaten der Schrift sind nicht die Gnostiker selbst, sondern Plotin nahestehende Platoniker, denen er für die Auseinandersetzung mit den Gnostikern Argumentationshilfen geben will (II 9,10,7–11).

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Er argumentiert daher durchweg von seinem eigenen philosophischen Standpunkt aus; gnostische Begriffe und Theorieelemente werden nicht von ihren eigenen Voraussetzungen her betrachtet, sondern in das ontologische System des Platonismus eingeordnet und gelegentlich in platonische Terminologie ‚übersetzt‘. Plotin beginnt mit einer pointierten Zusammenfassung seiner philosophischen Grundüberzeugungen: Es kann nicht mehr als drei selbständige Prinzipien (Eines, Geist, Seele) geben; der Körperkosmos ist das natürliche Abbild einer mühelos schaffenden Seele und ebenso ewig wie die geistigen Prinzipien selbst (II 9,1–3; die Darstellung in II 9,2–3 setzt die in III 8 [30] entwickelte Theorie der schöpferischen Schau voraus). Von dieser Position aus attackiert Plotin die Vielzahl der Hypostasen im gnostischen Pleroma (II 9,6) und die gnostische Kosmologie, nach der die materielle Welt ein Abfallprodukt ist, das von einem durch einen Sündenfall der Seele entstandenen minderwertigen Schöpfer (Demiurgen) hergestellt worden ist und jetzt als Gefängnis der Seelen dient (II 9,4–5; II 9,10–12). Eine solche dualistische Weltsicht, die zwischen Körper- und Geisteswelt eine Mauer baut, verhindert für Plotin jede Gotteserkenntnis und führt zu einer absurden Selbstüberhebung. Der gnostischen Überzeugung von der eigenen Auserwähltheit steht Plotin mit besonderem Unverständnis gegenüber. Für ihn steht der Weg zur Erlösung jedem Menschen offen. Ihn zu gehen, kostet freilich Mühe: „Ohne Tugend ist Gott nur ein Wort“ (vgl. II 9,15,39–40). Die Vorstellung einer göttlichen Gnade ohne eigenes Verdienst ist mit diesem Elitedenken unvereinbar; hier zeigt sich die Differenz des Platonismus nicht nur zur Gnosis, sondern zum Christentum überhaupt (II 9,9; II 9,16). Kommentare: Roloff 1970, 151–226; Cilento 1971, 221–271; Alt 1990; Spanu 2012; Gertz 2017. VI 6 [34]: Über die Zahlen Zahlen sind ein vieldiskutiertes Thema in der griechischen Philosophie. Der Pythagoreismus schrieb ihnen Prinzipienrang zu; nach den

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Berichten des Aristoteles über die sogenannte Ideenzahlenlehre Platons hatten die p­ latonischen Formen zahlenartigen Charakter (Aristot. metaph. Α 6, 987b21–22; vgl. Plat. Tim. 53b; ausführliche Kritik: Aristot. metaph. Μ–Ν). Plotin knüpft an diese Tradition in eigenständiger Weise an. Sein Ziel ist es, die Realität der Zahlen argumentativ zu stützen und sie als Strukturprinzip des geistigen Seins zu etablieren. Insofern ist die Schrift – hierin der ‚Kategorienschrift‘ VI 2 [43] vergleichbar – auch der Versuch einer Binnendifferenzierung der Hypostase des Geistes. Die Überlegung setzt an beim Begriff der Unendlichkeit (apeiron; s. Kap. 47). Wenn das Unendliche das Nicht-Einheitliche, UnbegrenztUnbestimmte und potentiell Schlechte ist, die Zahl aber eine begrenzte Vielheit ist, wie kann die Zahl dann unendlich sein (VI 6,1–3; vgl. Plat. Parm. 144a)? Die Grundlage für die Antwort legt der Hauptteil der Schrift, in dem Plotin die Position der Zahlen innerhalb der intelligiblen Welt möglichst genau zu bestimmen versucht (VI 6,4–16). Zahlen sind kein Epiphänomen der platonischen Formen und auch keine Qualität (wie die Farbe) oder Aktivität von ihnen (wie die Bewegung); sie besitzen selbständiges Sein, das – wie bei allen Gehalten des Geistes – in der Einheit von Sein und Erkennen besteht (VI 6,4–7; hier argumentiert Plotin regelmäßig mit dem platonischen Axiom, dass etwas, um einem anderen zukommen zu können, zunächst eigene Realität besitzen muss, vgl. VI 6,5,25–34; 10,39–51). Nimmt man an, dass das geistige Sein nach den hierarchisch angeordneten Binnenmomenten ‚Sein‘ (on), ‚Geist‘ bzw. ‚Erkennen‘ (nous) und ‚Lebewesen‘ (zôon; gemeint ist das als die Gesamtheit der Formen verstandene „vollkommene Lebewesen“ aus Plat. Tim. 31b; 39e; diese Dreiheit ist von der häufigeren, aus Plat. soph. 248e–249a gewonnenen Triade ‚Sein – Leben – Denken‘ zu unterscheiden, vgl. dazu VI 7 [38],15–17), so können die Zahlen weder der ‚Geist‘- noch der ‚Lebewesen‘-Stufe zugeordnet werden, da sie sowohl für die Erkenntnis als auch für die Pluralität des Seienden bereits Voraussetzung sind. Die Zahlen gehören also der obersten,

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noch undifferenzierten Stufe des ‚Seins‘ oder ‚Eins-Seienden‘ an; sie sind das Prinzip, nach dem sich das Eins-Seiende in Geist und Formen ausdifferenziert (VI 6,8–10; vgl. VI 6,16). Diese Deutung sichert Plotin sodann argumentativ gegen Positionen – insbesondere die stoische –, die die Zahlen auf eine Operation der zählenden Seele oder auf eine Relation reduzieren (VI 6,11–14). Er konzediert allerdings, dass zwischen den Zahlen, die das Wesen eines Seienden ausmachen (VI 6,9,34: ousiôdês arithmos), und den mathematischen oder „zählenden“ Zahlen (VI 5,9,35: monadikos [arithmos]; VI 6,15,40; 16,6–7) zu unterscheiden ist (VI 6,15– 16). Auf dieser Basis erfolgt die Beantwortung der Ausgangsfrage: Die intelligible Zahl ist unendlich nicht im Sinne der Unbestimmtheit oder Strukturlosigkeit, sondern im Sinne der Trans­ zendenz; da sie selbst Maß (metron) und Begrenzung für alles Seiende ist, ist sie selbst keinem Maß unterworfen (VI 6,17–18). Kommentare: Bertier/Brisson/Charles u.  a. 2003; Maggi 2009; Slaveva-Griffin 2009. II 8 [35]: Über das Sehen oder Warum weit entfernte Objekte als klein erscheinen Eine kurze Stellungnahme zu einem in der antiken Naturphilosophie und Mathematik wiederholt diskutierten Problem. Plotin arbeitet nur eine, offenbar von ihm bevorzugte Erklärung näher aus, nach der das durch die Entfernung bewirkte Verblassen der Farbe – der beim Sehen primär wahrgenommenen Eigenschaft – sich auch auf „akzidentell“ (kata symbebêkos) wahrgenommene Eigenschaften wie die Größe auswirkt (II 8,1). Die geometrische Erklärung mit der Perspektive und der durch die Entfernung des Objekts bedingten Verkleinerung des Sehwinkels lehnt er ab (II 8,2) – vielleicht weil sie sich mit seiner Theorie des Sehens als einer durch kosmische Sympathie bedingten Fernwirkung nicht verträgt (vgl. IV 5 [29],4,38–46; Kalligas 2014, 355). I 5 [36]: Über die Frage, ob das Glück mit der Zeit zunimmt Die Relation von Glückseligkeit (eudaimonia) und zeitlicher Dauer wurde in der hellenisti-

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schen Ethik kontrovers diskutiert. Insbesondere die Stoa behauptete gegen die peripatetische Tradition dezidiert, dass das Glück des Weisen von der Zeit unabhängig sei (SVF 3, 43; vgl. dagegen Aristot. Eth. Nic. 1,7, 1098a16–20; s. Abschn. 12.2.4). Plotin schließt sich der stoischen Auffassung an, gibt ihr aber eine platonische metaphysische Begründung (I 5,7). Glück, verstanden als gegenwärtiger vollkommener Zustand, ist durch zeitliche Verlängerung nicht steigerbar. Gradierbare Dispositionen wie Tugend oder Schlechtigkeit können mit der Zeit zunehmen, nicht aber der Idealzustand der Eudaimonie (I 5,1–6). Bei der Zeit lassen sich Seiendes (Gegenwart) und Nichtseiendes (Vergangenheit) addieren, nicht aber bei der Glückseligkeit, die nur real ist, wenn sie seiend und gegenwärtig ist. Das gute und glückselige Leben ist insofern der Ewigkeit (aiôn) zuzurechnen und nicht der Zeit (chronos), die nur das Abbild und gleichsam die Zerstreuung der Ewigkeit ist (I 5,7; vgl. Plat. Tim. 37d). Die Erinnerung an vergangenes Glück ist nicht glücksrelevant (I 5,8–9). Die durch längere Zeit ermöglichte größere Zahl guter Handlungen steigert das Glück nicht, weil der ethische Wert und damit die Glücksrelevanz einer Handlung nicht vom zeitgebundenen äußeren Tun, sondern von der zeitfreien inneren Disposition abhängt (I 5,10; vgl. VI 8 [39], 5). Kommentare: Linguiti 2000; Linguiti 2007. II 7 [37]: Über die alles durchdringende Mischung Eine notizenartige Darlegung zur hellenistischen Diskussion um die stoische Sonderlehre der „totalen Durchmischung“ (krasis di’ holôn), d. h. einer Mischung, deren Elemente eine vollständige Verbindung eingehen, aber dennoch ihre Eigenschaften behalten. Plotin hatte diese Theorie als Erklärung für die Verbindung von Leib und Seele scharf abgelehnt (IV 7 [2],82), diskutiert sie jetzt aber in allgemeinerer und weitgehend aporetischer Form. Er referiert zunächst – möglicherweise auf der Basis von Alexander von Aphrodisias, De mixtione – peripatetische Einwände gegen die stoische Mischungslehre sowie die stoischen

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­ntgegnungen (II 7,1) und fügt dann eigene E teils kritische, teils konstruktive Überlegungen hinzu (II 7,2). Im Sinne seiner platonischen Auffassung vom Wesen der Körper merkt er an, dass „Körperlichkeit“ (sômatotês) selbst nichts Körperliches, sondern eine aus dem Intelligiblen stammende rationale Struktur (logos) ist (II 7,3). VI 7 [38]: Wie es zur Existenz einer Vielheit von Formen kommt, und über das Gute Die Schrift VI 7 ist eine ausgedehnte Reflexion über die beiden wichtigsten Prinzipien des Platonismus, den Geist und das Gute, und über ihr wechselseitiges Verhältnis. Exegetisch gesprochen, geht es um das Verständnis des Satzes aus Platons Politeia: „Das Gute ist nicht Sein, sondern noch jenseits des Seins, das es an Würde und Kraft überragt“ (Plat. rep. 6, 509b, zitiert in VI 7,40,26). Von den drei Hauptteilen der Schrift behandelt der erste den Geist (VI 7,1–14) und der zweite das Gute (VI 7,15–35); der dritte Teil enthält den Nachweis, dass das Gute nicht Geist ist (VI 7,36–42). In dem großen Mittelteil lassen sich wieder zwei Abschnitte unterscheiden, in denen das Gute zuerst als Ursache (archê; VI 7,15–23) und dann als Ziel (telos; VI 7,24–35) des Seins betrachtet wird. Plotin beginnt mit einem aus der antignostischen ‚Großschrift‘ vertrauten Problem (vgl. bes. V 8 [31],7): Wie ist es zu verstehen, wenn Platon im Timaios die Ausstattung des Menschenwesens mit Sinnesorganen in teleologischer Weise beschreibt? Da der göttliche Geist nicht, wie ein menschlicher Handwerker, zweckrational plant, kann die sinnvolle Ordnung der Welt nur als unmittelbare Abbildung einer präexistenten Ordnung des geistigen Seins verstanden werden (VI 7,1–7). Muss demnach für alle empirisch fassbaren Wesen einschließlich der irrationalen und leblosen eine geistige Präexistenz angenommen werden? Ja, denn es lässt sich zeigen, dass alles Geformte bis hinab zu den vier Elementen lebendig ist; und dies bedeutet, dass überall in ihm der Geist in Erscheinung tritt, der die Totalität des Lebens und das Leben in Perfektion ist. Der Geist ist somit zugleich die unermessliche Vielheit der lebendigen Formen und die alle Differenzen unter eine

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Einheit fassende, ordnende Erkenntnis (VI 7,8– 14). An dieser Stelle stellt sich die Frage nach dem Prinzip des Geistes. Plotin begründet zunächst nicht, warum der Geist nicht selbst das erste Prinzip ist, sondern fragt exegetisch nach der Bedeutung von Platons Aussage, dass das geistige Sein „von der Art und Form des Guten“ (Plat. rep. 6, 509a: agathoeides), aber nicht das Gute selbst ist. Konkret lautet die Frage nach dem Prinzip des Geistes also: Was ist das Gute? Plotin kann zeigen, dass die drei aus dem Sophistes gewonnenen Grundcharaktere des Geistes, Sein (on), Leben (zôê) und Erkennen (nous), auf das Gute als ihr gemeinsames Prinzip zurückgehen (VI 7,15–17; vgl. Plat. soph. 248e– 249a). Aber der Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung reicht für die inhaltliche Bestimmung der gemeinsamen Eigenschaft ‚gut‘ nicht aus (VI 7,18). Plotin führt daher als neuen Aspekt des Guten ein, dass die Seele nach ihm strebt; das Gute soll jetzt, über seine Bedeutung als kausales Prinzip hinaus, mit Blick auf seine Anziehungskraft verstanden werden (VI 7,19–23). Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die Funktion des Guten als Ziel menschlichen Handelns (VI 7,24–30). Plotin hat bisher nicht angeben können, was das Gute eigentlich ist, und er hat einen starken Akzent auf das Streben der Seele gelegt. Auf dem Gebiet der Ethik ergibt sich daraus ein Problem: Wenn Streben und Lust die einzigen Kriterien sind, nach denen etwas gut genannt werden kann, dann ist die Konsequenz ein hedonistischer Relativismus, den ein Platoniker ablehnen muss (vgl. VI 7,19,1–9). Es empfiehlt sich daher, das Streben nicht als Kriterium, sondern nur als Indikator des Guten aufzufassen, sodass die Absolutheit des Guten bewahrt werden kann. Plotin argumentiert: Das Gute, nach dem jedes Wesen strebt, ist das ihm unmittelbar Transzendente. Die Materie strebt nach Form, der Körper nach Seele, die Seele nach Tugend usw. Verallgemeinert bedeutet dies, dass das Sein als ganzes durch ein Streben gekennzeichnet ist, das auf ein außerhalb und jenseits des Seins liegendes Gutes verweist. Diese Struktur ist die Erklärung für das irritierende Phänomen, dass

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das Gute inhaltlich-seinsmäßig nicht bestimmt werden kann (VI 7,25,16–32). Aus der mit beschreibenden Mitteln vorgehenden Außenperspektive muss dies das letzte Wort sein. Anders verhält es sich mit der Innenperspektive der Seele. Wenn die Seele dem ihr angeborenen erotischen Verlangen folgt und sich an das über dem Seienden liegende ‚Licht‘ hält, das die Schönheit des Seins für sie erst anziehend macht (vgl. VI 7,22), dann kann sie über den Geist, das Sein und sich selbst hinausgelangen und in einem das gewöhnliche Bewusstsein und Erkennen transzendierenden und in diesem Sinne ‚mystischen‘ Moment die Vereinigung mit dem Guten erreichen (VI 7,31–35; s. Kap. 36). Der Boden der Philosophie ist damit nicht verlassen; vielmehr muss im Rahmen von Plotins Denken die Möglichkeit einer solchen Erfahrung zwingend angenommen werden, wenn das seinstranszendente Gute für uns eine Realität sein soll. Im Schlussteil verteidigt Plotin erneut (vgl. V 6 [24]) gegen die aristotelische, im Mittelplatonismus häufig akzeptierte Gleichsetzung des Guten und des ersten Prinzips mit dem sich selbst erkennenden Geist das Paradoxon, dass das Gute, gerade weil es das Höchste und sich selbst absolut Genügende ist, kein Denken und keine Erkenntnis seiner selbst benötigt. Um dem Guten – dem platonischen ‚König‘ (Ps.-Plat. epist. 2, 312e) – nahezukommen, muss man alles, auch das Erhabenste, hinter sich lassen (VI 7,36–42). Kommentare: Bussanich 1988, 149–200 (zu VI 7,16–17; 35,19–36,27); Hadot 1988. VI 8 [39]: Über die Freiwilligkeit und das Wollen des Einen Freiwilligkeit (to hekousion) und ‚das in unserer Verfügung Stehende‘ (to eph’ hêmin) sind Zentralbegriffe der aristotelischen und hellenistischen Ethik, insbesondere der Diskussion um den stoischen Kompatibilismus. Die Frage nach der Übertragbarkeit dieser Begriffe von der menschlichen auf die göttliche Sphäre wurde meist dahingehend beantwortet, dass die Götter von Natur aus gut sind und daher über der Willensfreiheit stehen (Alex. Aphr. fat., CAG Suppl. 2.2, 204,12–20 Bruns). An diese Frage-

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stellung knüpft Plotin an (VI 8,1). Er beginnt, indem er in Auseinandersetzung mit ­Aristoteles und unter Aufnahme stoisch-internalistischer Motive die menschliche Willensfreiheit diskutiert. Die Seele ist genau dann frei, wenn sie in vernunftbestimmter und ungehinderter, d. h. von äußeren Faktoren unabhängiger Weise nach dem Guten strebt. Der Geist ist wesenhaft frei, weil er von Natur aus stets nach dem Guten strebt und es stets erreicht. Auf das Gute oder Eine ist der Freiheitsbegriff nicht anwendbar, weil es nicht strebt, sondern lediglich erstrebt wird (VI 8,2–6, vgl. zusammenfassend VI 8,7,1–11). An dieser Stelle führt Plotin einen fundamentalen Einwand ein (tolmêros logos, „wagemutige Gegenrede“): Ein so verstandenes erstes Prinzip ist nicht frei, weil sein eigenes Wesen nicht in seiner Verfügung steht; sein Wirken als Prinzip ist daher Ergebnis eines Zufalls und erfolgt nicht willentlich, sondern gezwungenermaßen (VI 8,7,11–15; vgl. 10,21– 25). Der Widerlegung dieser voluntaristischen Fundamentalkritik ist der Rest der Schrift gewidmet (VI 8,7–21). Ein erster, der Methodik der negativen Theologie verpflichteter Durchgang betont den Prinzipienrang ebenso wie die Transzendenz des Einen-Guten gegenüber der sinnlichen und geistigen Wirklichkeit. Man kann die Freiheit des Ersten nicht bestreiten, ohne den Begriff der Freiheit überhaupt seines Sinns zu entleeren; und die Behauptung, das Prinzip sei dem Zufall unterworfen, unterwirft die gesamte von ihm abgeleitete Realität einschließlich der Hypostasen Geist und Seele dem Zufall und hebt ihre Vernünftigkeit, Ordnung und Güte auf (VI 8,7–11). Damit ist die voluntaristische Intuition jedoch nicht ausgeräumt (VI 8,12,1– 2). Es folgt daher ein zweiter argumentativer Durchgang, der im Zeichen einer im Gesamtwerk Plotins singulären Konzession steht (VI 8,12–18): Zwar lässt sich der Begriff der Selbstbestimmung oder Autonomie (kyrios heautou, „Herr über sich selbst“) nicht im Wortsinne von dem Einen-Guten prädizieren, da er Reflexivität und damit Dualität impliziert. Nimmt man jedoch überhaupt ein Sein, Wirken und Wollen des Einen an, so kommt man nicht umhin, ihm auch Selbstbestimmung zu attestieren (VI 8,12– 13). Wegen der Fragwürdigkeit dieser Annahme stehen alle Argumente des ­ Abschnitts unter

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dem Vorbehalt der Uneigentlichkeit („gleichsam“, hoion; vgl. VI 8,13,47–50). Im Folgenden schreibt Plotin dem Einen-Guten in gewagt-experimenteller Weise und unter ständiger Erinnerung an den hoion-Vorbehalt Züge zu, die an die selbstreflexive Einheit des Geistes erinnern: Wollen seiner selbst und Streben nach sich selbst (VI 8,13,50–59), Selbstliebe (VI 8,15,1–10; s. Abschn. 33.4), Selbstursächlichkeit (VI 8,16) und sogar eine Art transzendentes Denken (VI 8,16,32: hypernoêsis, „ÜberDenken“). Der genaue Status dieser ‚positiven Theologie‘ ist schwer zu bestimmen (s. auch Abschn. 24.3.2); mindestens besagt sie, dass das Eine-Gute eher in ‚personhafter‘ Manier denn als ein lebloses Objekt oder gar als ein Nichts zu denken ist. Plotin schließt mit der Aufforderung an die denkende Seele, selbst die Erfahrung des Einen zu suchen; hierzu muss sie auf jeden Zusatz von Vielheit verzichten und das Eine paradox als reine Aktivität (energeia) ohne Sein (ousia) denken (VI 8,19–21). Kommentare: Bussanich 1988, 201–220 (zu VI 8,16); Leroux 1990; Nölker 2016; Corrigan/ Turner 2017. II 1 [40]: Über den Himmel Plotin vertritt mit der Mehrheit der antiken Platoniker eine nichtzeitliche Interpretation von Platons kosmologischem Dialog Timaios, d. h. er nimmt die immerwährende Existenz des körperlichen Kosmos (kosmos oder ouranos, ‚Himmel‘) in Abhängigkeit von intelligiblen Ursachen an (s. Abschn. 31.1). Aber wie verträgt sich die ewige – numerische, nicht nur formale – Identität des Kosmos und der Himmelskörper mit dem platonischen Grundsatz der Vergänglichkeit alles Körperlichen? Platons Begründung mit dem Willen des Demiurgen (Tim. 41b) ist offenkundig auslegungsbedürftig; Aristoteles’ Hypothese eines unvergänglichen „fünften Elements“ (Cael. 1,3, 270b21–22) lehnt Plotin als Platoniker ab (II 1,1–2). Seine eigene Antwort lautet: Die Weltseele hält das reine kosmische Feuer, aus dem der Himmel und die Himmelskörper bestehen, in ewiger Existenz und Bewegung; dass die Einzelseelen für die Einzelkörper nicht dasselbe leisten können, liegt an deren minderwertigem Material (II 1,3–5).

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Der Wortlaut des Timaios legt scheinbar nahe, dass der Himmel auch andere Elemente als das Feuer enthält (II 1,6 mit Bezug auf Plat. Tim. 30b; 32b; 40a); eine sachgerechte Exegese zeigt jedoch, dass es sich um reines Feuer handelt, bei dem es weder Abnutzung noch Stoffwechsel gibt und das daher auch keiner Nahrungszufuhr bedarf (II 1,7–8). Kommentare: Dufour 2003; Wilberding 2006. IV 6 [41]: Über Sinneswahrnehmung und Gedächtnis Die kurze Schrift ordnet sich in Plotins Argumentation für das Verständnis von Sinneswahrnehmung als Aktivität (energeia) statt als passives Empfangen von Eindrücken ein (vgl. III 6 [26],1,1–4; VI 4 [22],6) und überträgt diesen Gedanken auf das Erinnerungsvermögen (mnêmê; vgl. bereits IV 3 [27],25–IV 4 [28],17). Die räumliche Entfernung zwischen dem Sehvermögen und dem gesehenen Objekt zeigt gegen den stoischen Materialismus, dass Wahrnehmung eine über ihren Träger hinausreichende „Kraft“ (dynamis) ist (IV 6,1); nur so kann sichergestellt werden, dass beim Sehen das Objekt selbst und nicht nur dessen Abbild in der Seele wahrgenommen wird (IV 6,1,28– 32). Diese Kraft ist kognitiver Natur und mit der geistigen Wahrnehmung (noêsis) vergleichbar (IV 6,2). Analoges gilt für das Erinnerungsvermögen: Wegen ihrer Mittelstellung zwischen der geistigen und der sinnlichen Welt vermag die Seele geistige wie sinnliche Inhalte für sich zu aktivieren und sich in diesem Sinne an sie zu ‚erinnern‘ (vgl. IV 3 [27],25,25–34) – vorausgesetzt, dass die hierfür zuständige Kraft (dynamis) der Seele stark genug ist. Diese Interpretation des Gedächtnisses als einer trainierbaren Kraft wird den mit der Erinnerung verbundenen Phänomenen besser gerecht als die materialistische Deutung als Speicher von Eindrücken (IV 6,3). Kommentar: Taormina 2022. VI 1–3 [42–44]: Über die Gattungen des Seienden 1–3 Die umfangreiche, in der Enneaden-Ausgabe in drei Bücher unterteilte Schrift verfolgt ein doppeltes Anliegen. Zum einen ordnet sie sich in die

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schon im Mittelplatonismus geführte Debatte um die Interpretation der aristotelischen Kategorien und ihre Integrierbarkeit in den Platonismus ein (VI 1 [42]; s. Kap. 28); zum anderen entfaltet sie Plotins wohl originelle Deutung der platonischen „größten Gattungen“ (Plat. soph. 254e–255a) als Prinzipien und Strukturmomente der intelligiblen Welt (VI 2 [43]). Im dritten Schritt stellt Plotin eine gegenüber Aristoteles verbesserte Kategorientafel für die sinnliche Welt vor (VI 3 [44]). VI 1. Das erste Buch behandelt ausführlich die aristotelische (VI 1,1–24) und kurz die stoische Kategorienlehre (VI 1,25–30). Wegen des knappen und voraussetzungsreichen Argumentationsstils ist man für das Verständnis häufig auf zusätzliche Quellen angewiesen, insbesondere den Kategorien-Kommentar des Simplikios. Anders als Porphyrios (fr. 46 Smith = Simpl. in cat., CAG 8, 10,20–11,22 Kalbfleisch) und die späteren Neuplatoniker legt Plotin durchweg ein ontologisches Verständnis der Kategorien zugrunde und wendet daher gleich einleitend ein, dass die aristotelische Kategorienlehre das geistige Sein unberücksichtigt lässt (VI 1,1). Darauf folgt die Einzelkritik der zehn aristotelischen Kategorien. Der Begriff der Substanz (ousia) ist zu vage, weil er so verschiedene Dinge wie Form und Materie umfasst und keinen Zugang zu dem eigentlichen Sein eröffnet, von dem die Einzelsubstanzen abgeleitet sind (VI 1,2–3). Bei der Quantität (poson) bleibt unklar, welches Kriterium ihre Zuweisung an Substanzen und an Phänomene wie Zahl, Zeit und Bewegung erlaubt und wie sie von der Substanz abzugrenzen ist (VI 1,4–5). Die Relation (pros ti) könnte als bloße reziproke Beziehung zwischen Seienden in ihrer Existenz angezweifelt werden; Beziehungen wie ‚Rechts – Links‘, ‚Vater – Sohn‘, ‚Tun – Leiden‘ werden bei Aristoteles unter eine gemeinsame Bezeichnung (katêgoria) subsumiert, ohne dass der Sachgrund deutlich ist, der ihre Einordnung in eine einheitliche Seinsgattung (genos) erlaubt (VI 1,6–9). Für die vielfältigen unter der Kategorie der Qualität (poion) zusammengefassten Erscheinungen lässt sich kaum ein sachhaltiger Oberbegriff – etwa ‚Kraft‘ (dynamis) – finden.

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Problematisch ist außerdem die Unterscheidung der Qualität von der substanzbildenden Eigenschaft (vgl. II 6 [17]) sowie die Abgrenzung der Qualität von anderen Kategorien, vor allem der Relation (VI 1,10–12). Die Kategorien des Wann (pote) und des Wo (pou) sind auf Quantität und Relation reduzierbar (VI 1,13–14). Statt Tun (poiein) und Leiden (paschein) ist eher die Aktivität (energeia) bzw. Bewegung (kinêsis) als Seinsgattung einzustufen, die ihnen gegenüber der umfassendere Begriff und in keiner anderen Kategorie enthalten ist. Aktivität und Bewegung sind nicht durch das Kriterium der Abgeschlossenheit voneinander differenzierbar (gegen Aristot. phys. 3,2, 201a31–32). Tun und Leiden sind der Sache nach eine einzige Bewegung aus zwei verschiedenen Perspektiven, ihre Differenz reduziert sich auf die Kategorie der Relation (VI 1,15–22). Die Gattungen Haben/Halten (echein) und Lage (keisthai) sind zu weit und lassen sich von Quantität, Qualität oder Relation nicht präzise unterscheiden (VI 1,23–24). In der Einzelkritik der stoischen Kategorien interpretiert Plotin die Gattung des Zugrundeliegenden (hypokeimenon) als materielles Substrat und wendet vom platonischen Standpunkt aus ein, dass damit alles Seiende von der passiven formlosen Materie abhängig gemacht oder auf sie reduziert wird (VI 1,25–28). Die Gattungen der Qualität (poion), des Sich-in-bestimmter-Weise-Verhaltens (pôs echon) und des Sich-relativ-in-bestimmter-Weise-Verhaltens (pros ti pôs echon) sind nichts anderes als Zustände der Materie und besitzen kein eigenes Sein. Nach den Prämissen des stoischen materialistischen Monismus kann überhaupt alles Seiende einschließlich Seele, Geist und Gott nur als Materie in einem bestimmten Zustand aufgefasst werden (VI 1,29–30). VI 2. Plotin eröffnet den konstruktiven Teil der Schrift mit einer Erinnerung an die platonische Opposition von Sein und Werden (VI 2,1 mit Zitat von Plat. Tim. 28a). Das zweite Buch ist dem Seienden im Vollsinne, d. h. dem intelligiblen Seienden, gewidmet. Gegen den ontologischen Monismus der Stoa postuliert Plotin

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für das geistig Seiende eine Pluralität von nicht aufeinander oder auf ein übergeordnetes Genus reduzierbaren Gattungen, die zugleich Prinzipien des intelligiblen Seins sind (VI 2,2). Die Einheit des Seienden und seiner Gattungen wird gesichert durch ihre Ableitung vom transzendenten Einen (VI 2,3). Die Annäherung an das geistige Sein erfolgt auf dem Umweg über die einheitlich-vielheitliche Struktur des Körpers und der Seele: Die Funktionen (dynameis) der Seele und ihr Leben sind von ihr unterscheidbar und doch eins mit ihrem Sein (VI 2,4–6); Entsprechendes gilt für den Geist, der sein einheitliches Sein (on) durch sein Selbstdenken in einen dynamischen (kinêsis, „Bewegung“) und einen stabilen (stasis, „Stillstand“) Aspekt analysiert, womit auch die Momente der Identität (tautotês) und Differenz (heterotês) gegeben sind. Damit sind die fünf „größten Gattungen“ des Sophistes als für jedes wahre, d. h. geistig erkennende Seiende als konstitutiv erwiesen (VI 2,7–8). Weitere für das Sein konstitutive Gattungen gibt es nicht: Das Eine ist wegen seiner Priorität gegenüber dem Seienden keine Gattung desselben; das jedem Seienden qua „Eins-Seiendes“ (Plat. Parm. 142d) immanente Einheitsmoment ist tatsächlich dessen Streben nach Einheit, d. h. nach dem ihm jeweils spezifischen Guten (VI 2,9–12; vgl. VI 7 [38],25,16–32). Die Quantität ist auf Bewegung und Stillstand reduzierbar oder – als Zahl und Größe – von diesen abgeleitet (VI 2,13). Bei der Qualität erhebt sich das Problem der „substanzbildenden“ Qualitäten (vgl. II 6 [17]; Rückverweis in VI 2,14,14–22); sie existieren im Intelligiblen nicht als Qualitäten, sondern gehören zum Sein (VI 2,14–15). Weitere Kandidaten wie die aristotelischen Kategorien der Relation, des Wann und Wo oder auch das Schöne und das Wissen erweisen sich als ontologisch nachgeordnet oder auf eine der fünf platonischen Gattungen reduzierbar. Für das Gute gilt Entsprechendes wie für das Eine; der Geist ist keine Gattung, sondern die Gesamtheit des Seienden (VI 2,16–18). Abschließend fragt Plotin, wie sich aus den platonischen obersten Gattungen

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die Vielheit der untergeordneten Gattungen und Arten entfaltet (VI 2,19). Die Einheit-Vielheit des sich selbst als hierarchisch geordnete Struktur denkenden Geistes lässt sich anhand der Analogie der Gesamtwissenschaft und der in ihr enthaltenen Einzelwissenschaften und Einzeltheoreme verstehen (VI 2,20; vgl. IV 9 [8],5). Die Seinsfülle und Denkaktivität des Geistes – des platonischen „vollkommenen Lebewesens“ und des dieses anschauenden Demiurgen (Plat. Tim. 39e) – enthält in sich bereits alle Differenzierungen, die in seinen Derivaten bis hin zum sinnlich wahrnehmbaren Kosmos zum Ausdruck kommen (VI 2,21–22). VI 3. Im dritten, den Gattungen des sinnlichen Seins oder Werdens gewidmeten Buch ist wieder die Auseinandersetzung mit den Kategorien des Aristoteles präsent. Wie schon in VI 1 [42] geht es Plotin nicht um sprachliche oder semantische ‚Kategorien‘, sondern um Gattungen im ontologischen Sinne. Die Darstellung abstrahiert ausdrücklich von der im Sinnlichen präsenten, aber dem Intelligiblen zuzurechnenden Seele (VI 3,1,21–28). Der in hohem Maße problemorientierte Charakter der Schrift dürfte damit zusammenhängen: Eine isolierte Betrachtung des Körperlichen, wie sie Aristoteles versucht hatte, muss in Plotins Augen offenbar aporetisch bleiben. Da das sinnliche zum intelligiblen Sein in einem „analogen“ oder „homonymen“, d. h. in einem Abbildverhältnis, steht (s. Kap. 17), können die in VI 2 [43] erarbeiteten fünf intelligiblen Gattungen nicht in synonymer Weise auf das sinnliche Sein übertragen werden; Materie und Form können nicht als die sinnlichen Pendants von Sein (on) und Bewegung (kinêsis) verstanden werden (VI 3,1–2). Plotin schlägt stattdessen vorläufig die Gattungen Substanz (ousia), Relation (pros ti), Quantität (poson), Qualität (poion) und Bewegung (kinêsis) vor, wobei die Substanz in Materie (hylê), Form (eidos) und das aus beiden Zusammengesetzte (synamphoteron) unterteilt wird (VI 1,3). Allerdings ist das aristotelische Konzept der zusammengesetzten sinnlichen Substanz (VI 3,4,14: synthetos ousia, nach Aristot. metaph. Η 3, 1043a30) problematisch. Man kann zwar sagen, dass sie „nicht in einem Zu-

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grundeliegenden“ ist (VI 3,4–5, vgl. Aristot. cat. 2, 1a24–25), aber Materie, Form und Kompositum können kein Genus bilden, weil ihnen das Sein in einem unterschiedlichen Sinne zukommt (VI 3,6–7). Die sinnliche Substanz lässt sich nicht unabhängig von ihren Akzidentien bestimmen; sie ist als solche nur ein „Konglomerat aus Qualitäten und Materie“, Substanzcharakter kommt ihr nur aufgrund ihres Abbildverhältnisses zum geistigen Sein zu (VI 3,8). Die Dihärese der sinnlichen Substanz nach Gattungen und Arten ist letztlich eine Dihärese ihrer Qualitäten (VI 3,9–10). Unter die Gattung der Quantität fallen Zahl und Größe der Körper. Quantitative Gegensätze wie ‚Groß‘ und ‚Klein‘ sind nicht auf die Kategorie der Relation reduzierbar; eine Dihärese der Gattung ist anhand der geometrischen Begriffe möglich (VI 3,11,1– 15,23). Substanzbildende Qualitäten existieren in dem Sinne, dass sinnliche Einzeldinge einen geistigen Logos in Form von Qualitäten abbilden und dadurch Substanzcharakter erhalten (VI 3,15,24–38; vgl. VI 3,8). Qualitäten sind generell Abbilder geistiger Formen; dies gilt insbesondere für Qualitäten der körpergebundenen Seele bzw. des Körper-Seele-Kompositums (VI 3,16). Die Einteilung der Gattung Qualität nach Differenzen ist schwierig, weil die Qualitäten selbst bereits Differenzen sind (VI 3,17–19). Die Diskussion qualitativer Gegensätze bleibt aporetisch (VI 3,20). Die von Plotin gegenüber Aristoteles neu eingeführte Gattung der Bewegung (kinêsis) ist auf keine andere Gattung reduzierbar und eignet sich als Oberbegriff für die vielfältigen Prozesse innerhalb der sinnlichen Welt – Werden und Vergehen, Wachstum, Realisierung einer Fähigkeit oder Potentialität (dynamis), Veränderung im Raum –, die sich ihr als Arten unterordnen lassen (VI 3,21– 26). Sie ist nicht mit dem aus dem Intelligiblen stammenden Leben (zôê) zu verwechseln, sondern dessen homonymes Abbild (VI 3,22,16– 18). Der Stillstand (stasis) ist dagegen nur im Intelligiblen eine Gattung des Seins; im sinnlichen Bereich ist er lediglich die Abwesenheit von Bewegung (VI 3,27). Eine kurze Schlussbemerkung gilt der Relation (VI 3,28). Kommentar: Isnardi Parente 1994.

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III 7 [45]: Über Ewigkeit und Zeit Platon hatte im Timaios die Ewigkeit der intelligiblen Welt und die Zeit als ihr bewegtes Abbild (eikôn) der sinnlichen Welt zugeordnet (Plat. Tim. 37c–38b). Plotin hat diese Thematik schon mehrfach anklingen lassen (V 1 [10],4,16–25; VI 5 [23],11,22–31; IV 4 [28],15; I 5 [36],7,15– 30) und widmet ihr jetzt eine ausführliche Abhandlung, die ausdrücklich an die Zeitdiskussion der älteren philosophischen Tradition und insbesondere an Platon anknüpft (III 7,1). Ein erster Durchgang gilt der Betrachtung der Ewigkeit (III 7,2–6). Sie ist nicht mit der intelligiblen Welt oder der Seinsgattung ‚Stillstand‘ (stasis) identisch, sondern das vollkommene, zugleich unveränderliche und differenziert-dynamische Leben des geistigen Kosmos (III 7,2–3). Ihr kommt nichts von außen zu und es mangelt ihr nichts, sodass sie weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, die beide Ausdruck der Mangelhaftigkeit des Werdenden sind (III 7,4). Die Seele gewinnt Zugang zur Ewigkeit und dem Ewigen, indem sie es mit „dem Ewigen in ihr selbst“ betrachtet (III 7,5, vgl. III 7,7,1–5). Dieses Leben ist vollkommen und ewig sich selbst gleich, weil es auf das Eine bezogen ist; dies meint Platon mit der Rede vom „Bleiben“ der Ewigkeit „im Einen“ (Plat. Tim. 37d). Sein, ewiges Sein und wahres Sein sind eins (III 7,6). Den Abschnitt zur Zeit eröffnet Plotin mit der Frage, was es bedeutet „in der Ewigkeit“ und „in der Zeit“ zu sein (III 7,7,1–7). Der erste Schritt zur Bestimmung des Wesens der Zeit ist eine ausführliche Kritik der Zeitdefinitionen früherer Philosophen, insbesondere der stoischen Bestimmung der Zeit als „Intervall der Bewegung“ und der aristotelischen als „Zahl“ bzw. „Maß der Bewegung“ (III 7,7–10; vgl. SVF 1, 93; Aristot. phys. 4,12, 220b32–221a1). Für Plotin selbst entsteht die Zeit dadurch, dass die Seele in Distanz und Differenz zum Geist tritt. Hierdurch „verzeitlicht“ sich die Seele und bewirkt so die Zeitgebundenheit des von ihr geschaffenen körperlichen Kosmos. Zeit ist ein „Auseinandertreten des Lebens“ (III 7,11,41: diastasis […] zôês); sie ist die spezifische Lebensform der Seele, die das ewige Leben des Geistes als ein unendliches Fortschreiten zum immer Neuen

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abbildet. Durch Rücknahme der zeitlichen Zerstreuung findet die Seele zurück in die Einheit und Ewigkeit (III 7,11–13). Kommentar: Beierwaltes 2010. I 4 [46]: Über die Glückseligkeit Die Schrift nimmt die hellenistische Debatte zwischen Peripatos und Stoa auf, ob für das Glück oder gelingende Leben äußere Güter von Bedeutung sind oder die Tugend hinreichend für die Erlangung der Glückseligkeit ist. Wie die Stoiker möchte Plotin den Weisen von allen äußeren Einflüssen unabhängig machen; er gibt dem Autarkiegedanken jedoch eine neue, platonische Begründung (zu seiner Aufnahme von Elementen der stoischen Ethik vgl. auch I 5 [36]; VI 8 [39],2–6). Plotin beginnt mit einer Kritik der peripatetischen und der stoischen Glücksdefinition. Die peripatetische Gleichsetzung von Glück und gutem Leben macht das Glück auch nichtrationalen Wesen zugänglich (I 4,1); die stoische Bestimmung des Glücks als vollkommene Vernunft degradiert mangels transzendenter Begründung die Tugend zum Instrument der Erfüllung natürlicher Bedürfnisse (I 4,2). Für Plotin selbst ist das Glück das höchste, geistige Leben; glücklich ist der Weise, der dieses potentiell jedem Menschen zukommende Leben für sich aktiviert hat und ganz auf die Geist-Ebene übergegangen ist, sodass er die physischen Anteile seines Menschseins als einen ihm eigentlich fremden Zusatz betrachten kann (I 4,3–4). In den verbleibenden Kapiteln widerlegt Plotin hellenistisch-peripatetisch inspirierte Einwände zugunsten der äußeren und körperlichen Güter. Äußeres Wohlergehen und körperliche Gesundheit sind wünschenswert als Voraussetzungen des Daseins, aber nicht glücksrelevant. Der Weise kann Schmerz und Unglück leicht ertragen, weil er weiß, dass sie ihn nicht eigentlich betreffen (I 4,5–8). Sogar das psychophysische Bewusstsein ist für das Glück entbehrlich, weil das Leben auf der Geist-Ebene von ihm unabhängig ist (I 4,9–10; s. auch Abschn. 16.4). Da der Weise nicht das psychophysische Lebewesen, sondern die reine Geistseele ist, wird weder seine Lust noch seine Aktivität noch sein

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Streben nach dem Guten durch äußere Faktoren eingeschränkt (I 4,11–16). Kommentare: Linguiti 2000; McGroarty 2006; Bonazzi 2016. III 2–3 [47–48]: Über die Vorsehung Gegenstand der in der Enneaden-Ausgabe aufeinander folgenden, ursprünglich zusammengehörigen Schriften III 2–3 ist die Verteidigung der göttlichen Vorsehung (pronoia) angesichts der Existenz des Übels in der Welt (s. auch Abschn. 48.1). Gegen Positionen, die die Vorsehung überhaupt leugnen (wie die Epikureer; vgl. III 2,1,7–8), ihr Wirken auf den supralunaren Bereich beschränken (die peripatetische Position; vgl. III 2,7,33) oder einen schlechten Weltschöpfer annehmen (wie die in II 9 [33] bekämpften Gnostiker; vgl. III 2,1,8–9), vertritt Plotin wie die Stoiker die Güte und Universalität der Vorsehung. Wie in der Schrift I 4 [46] wird eine hellenistische Debatte aufgegriffen, aktualisiert und einer platonisch begründeten Entscheidung zugeführt. Der Grundgedanke ist genuin plotinisch: Da die Welt nicht in der Zeit geschaffen ist, darf die Vorsehung des göttlichen Geistes (nous) nicht als planende Fürsorge aufgefasst werden. Sie ist vielmehr die einheitlich-vielheitliche, auch Gegensätzliches in sich vereinigende rationale Struktur (logos) des Geistes selbst, insofern sich diese in der Materie in raumzeitlicher Weise umsetzt (III 2,1–2, vgl. III 2,16,10– 36). Der Körperkosmos ist das bestmögliche Abbild des Geistes; wenn die im Geist harmonisch vereinten Gegensätze auf der Körperebene in Konflikte geraten, so liegt das an der eingeschränkten Aufnahmefähigkeit der Materie. Das vermeintliche Übel ist nur Privation des Guten und in den universalen Logos der Vorsehung integriert, der sogar das moralische Übel – menschliches Fehlverhalten – einem guten Zweck zuführt (III 2,3–5). Differenzierung – auch wertmäßige – gehört zum Wesen des Logos; die Vorsehung befreit die Menschen nicht von der Verantwortung für ihr moralisches Verhalten und von der Pflicht zur Selbstbehauptung. Vermeintliches Leid und Ungerechtigkeit in der Welt ist also nicht der Vor-

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sehung, sondern den Menschen anzulasten, zumal das Weltgeschehen sie nicht daran hindert, weise und glückselig zu werden. Die menschlichen Seelen sind selbst Teil des Logos, sie werden von ihm nicht äußerlich determiniert (III 2,6–12). In der universalen, auch den zeitlichen Bereich umgreifenden Ordnung des Logos findet jede Verfehlung ihre Strafe, ggf. in einem anderen Leben. Wer von der Körperwelt nicht in überzogener Weise die Perfektion der intelligiblen Welt fordert, wird sie als vollkommen anerkennen (III 2,13–14). Das menschliche Handeln und Leiden in der diesseitigen Welt gleicht einem wohlkomponierten Drama, dessen Dichter der Logos ist und das wie dieser konfligierende Elemente enthält, die zu einem harmonischen Ganzen vereinigt sind (III 2,15–18). In analoger Weise heben Kämpfe zwischen Tierarten die Einheit der Gattung nicht auf, und kriegerische Zusammentreffen werden von einer strategischen Vernunft überblickt (III 3,1–2). Die Willensfreiheit ist nicht dadurch eingeschränkt, dass der Mensch seiner Natur nach Mensch und nicht Gott ist; außerdem sichert der Logos nicht nur das natürliche Dasein des Menschen, sondern auch seine Kontinuität mit dem geistigen Bereich und damit seine Freiheit, die freilich – sei es aufgrund der natürlichen Schwäche des Menschen, sei es aufgrund von Belastungen aus früheren Leben – nur wenige gebrauchen (III 3,3–4; s. auch Kap. 21). Die Vorsehung wirkt in hierarchisch differenzierter Weise und in besonders hohem Maße im geistigen Teil des Menschen; richtiges Handeln ist im Sinne der Vorsehung, aber nicht von ihr determiniert (III 3,5). Die differenzierte Allgegenwart des Logos kann Zeichenfunktion entfalten und ermöglicht so die Mantik (III 3,6); sie macht die Welt zu einem in sich differenzierten Lebewesen, vergleichbar einem Baum mit Wurzel, Stamm und Zweigen (III 3,7). Kommentar: Boot 1984. V 3 [49]: Über die erkennenden Hypostasen und das Jenseitige Gegenstand der Schrift sind zwei miteinander zusammenhängende zentrale Thesen Plotins,

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die er schon mehrfach angesprochen hat, hier aber mit besonderer Intensität verteidigt: 1) Erkenntnis ist ihrem Wesen nach Selbsterkenntnis und dem göttlichen Geist vorbehalten (V 3,1–9; vgl. V 6 [24],1–2); 2) das Eine-Gute hat wegen seiner absoluten Einfachheit keine Reflexivität und keine Selbsterkenntnis (V 3,10–17; vgl. V 6 [24],3–6; VI 7 [38],37–41). Plotin setzt bei einem aus der skeptischen Tradition ererbten Dilemma an (vgl. S. Emp. adv. math. 7,284–286; 310–312): Selbsterkenntnis kann weder Erkenntnis eines Teils sein (denn dann erkennt ein Teil den anderen, nicht aber das Ganze sich selbst) noch des Ganzen (denn dieses wäre entweder Erkennendes oder Erkanntes, nicht aber beides zugleich). Dagegen will Plotin zeigen, dass auf der Ebene des Geistes – freilich nur dort – echte Selbsterkenntnis existiert (V 3,1). Der Seele kommt keine Selbsterkenntnis zu: Die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung liegen außerhalb ihrer selbst, ebenso diejenigen der über Sinnliches reflektierenden rationalen Seele, die der Sitz unseres alltäglichen, psychophysischen Selbst ist (V 3,2– 3). Durch Reflexion über sich selbst vermag die Seele allerdings ihre Kontinuität mit dem Geist und ihr wahres, geistiges Selbst zu aktivieren, sodass sie zur Selbsterkenntnis des Geistes gelangt (V 3,4). Die Selbsterkenntnis des Geistes ist, wie Plotin unter Rückgriff auf die Geistlehre des Aristoteles zeigt, die Einheit von Denkendem, Gedachtem und der Aktivität des Denkens selbst; dies ist so, weil das Sein des Geistes Denkaktivität ist (V 3,5, vgl. Aristot. metaph. Λ 7–9; an. 3,5). Die rationale Seele kann sich diesem ihr zunächst kontraintuitiv erscheinenden Sachverhalt annähern, indem sie sich ihre Herkunft vom Geist und ihre selbstreflexiven Züge bewusst macht (V 3,6). Beim Geist ist das Denken des Einen nichts anderes als sein Selbstdenken, weil er sich als vom Einen abkünftig denkt (V 3,7). Die kognitiven Funktionen der Seele – rationales Denken, Meinen und sogar sinnliches Wahrnehmen – bilden das lichtartige erkennende Leben des Geistes ab; die Seele kann daher durch meditative Wegnahme der sie vom Geist trennenden körperlichen Zusätze den Zugang zu ihm gewinnen (V 3,8–9).

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Der zweite, dem Einen gewidmete Teil der Schrift ist in erster Linie eine Übung in negativer Theologie, thematisiert aber auch immer wieder die Relation des Geistes/des Seins zum Einen (vgl. V 4 [7],2; V 1 [10],6–7; VI 7 [38],15–17). Um zu sein, was er ist, ist der Geist auf sich selbst und seine Denkaktivität angewiesen; dem Selbstdenken eignet also bereits eine Differenzstruktur, die es beim Einen nicht gibt (V 3,10). Beim Versuch, das Eine zu denken, konstituiert sich der Geist als in sich differenzierte Einheit; das transzendente Eine selbst ist dagegen ohne jede Pluralität. Versucht man dem Einen als dem Prinzip von Vielheit und Aktivität seinerseits Vielheit und Aktivität zuzuschreiben, so gerät man notwendig in die Aporie (V 3,11–12). Das Eine ist unsagbar (arrhêton), weil jede Aussage es als ein Etwas ansprechen müsste; es hat nicht einmal Selbstbewusstsein (synaisthêsis), weil damit wieder die reflexive Struktur und Bedürftigkeit des Geistes in das Eine importiert wäre (V 3,13; vgl. V 3,10). Doch ist eine sprachliche Annäherung an das Eine auf dem Wege der Reflexion über uns selbst und unsere Relation zu ihm möglich (V 3,14). Als Ursache jeder rational strukturierten Vielheit kann das Eine selbst nicht Vielheit und rationale Struktur (logos) sein; es ‚gibt‘, ohne zu ‚haben‘, und enthält das von ihm hervorgebrachte Seiende nur insofern, als es die „alles hervorbringende Wirkkraft“ (dynamis pantôn) ist (V 3,15). Die Grundcharaktere des Geistes, Leben und Denken, eröffnen den Zugang zum Einen-Guten nicht, insofern sie Leben und Denken sind, sondern insofern sie gut sind; im „Ablassen von allem“ (V 3,17,38: aphele panta, vgl. zu diesem plotinischen Imperativ VI 8 [39],21,26) besteht der einzige Weg zur Einswerdung mit dem ‚Licht‘ des Einen-Guten (V 3,16–17; s. auch Kap. 32). Kommentare: Bussanich 1988, 221–236 (zu V 3,11,1–18); Beierwaltes 1991; Oosthout 1991; Ham 2000. III 5 [50]: Über die Liebe Die Liebe (erôs) ist ein Kernthema der Dialoge Platons (vor allem Symposion und Phaidros) und in der Folge auch der platonischen Tradi-

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tion. Bei Plotin selbst ist sie schon mehrfach als Triebkraft des Aufstiegs der Seele zum EinenGuten zur Sprache gekommen (vgl. bes. I 6 [1]; VI 7 [38]; s. Abschn. 33.2). Die Schrift III 5 hat primär exegetischen Charakter; sie harmonisiert die verschiedenen Aussagen Platons über den Eros und legt den Symposion-Mythos im daimonologischen Sinne aus. Plotin thematisiert zunächst die Liebe als Affektion der Seele und allgemeine menschliche Erfahrung. Ihrem Wesenskern nach ist sie das natürliche Streben der Seele nach der geistigen Schönheit, das sich aus der Verwandtschaft der Seele mit dieser ergibt; verwechselt die körpergebundene Seele freilich die körperliche mit der wahren Schönheit, so wird dieses Streben fehlgeleitet und führt zu Verfehlungen (III 5,1). Platons doppelte Kennzeichnung des Eros als Gott (Phaidr. 242d) und Daimon (symp. 202d) korrespondiert mit seiner Unterscheidung von zwei Aphroditen (symp. 180d): Die „himmlische“ Aphrodite ist die unmittelbar aus dem Geist hervorgehende, als solche nicht in Bezug zu den Körpern stehende Hypostase Seele; ihr Eros ist ihre Hinwendung zu ihrer geistigen Ursache und ihre gemäß der Theorie der zweifachen energeia (vgl. V 4 [7],2) daraus erwachsende äußere Aktivität. Platons untere Aphrodite ist die Weltseele; ihr Eros entsteht ebenfalls aus ihrem Streben nach dem geistigen Ursprung, lenkt aber zugleich die sexuelle Reproduktion in der körperlichen Welt. Ein analoges Verhältnis von Seele und Eros liegt auch bei den Einzelseelen vor. Die Liebe der körperungebundenen Seele heißt Gott, die der mit dem Körperlichen vermischten Seelen Daimon (III 5,2–4; zur Unterscheidung von Seelenhypostase, Weltund Einzelseelen vgl. IV 3 [27],1–5). Die Erzeugung des Eros durch das Geist-Prinzip Poros und die die Materie symbolisierende Penia im Symposion (203b–c; zu Penia als Materieprinzip vgl. III 6 [26],14) ist keine Kosmogonie (III 5,5), sondern eine Daimonologie. Allen Daimonen liegt eine intelligible Materie zugrunde (vgl. II 4 [12],1–5; der Begriff wird in III 5 allerdings unspezifischer gebraucht), deren unbestimmtes Moment auch nach ihrer Formung durch den

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geistigen Logos erhalten bleibt und das bedürftig-strebende Wesen jedes Daimons und insbesondere des Eros verursacht (III 5,6–7). Zeus steht im Symposion-Mythos nicht, wie sonst, für die Seele (vgl. V 8 [31],12–13), sondern für den Geist (vgl. für eine ähnliche Ambiguität IV 4 [28],9–10); die Trunkenheit des Poros symbolisiert das Heraustreten und Sichentfalten des Logos aus dem Geist in die Seele. Generell sind Mythen als zeitlich-narrative Darstellungen zeitenthobener Sachverhalte aufzufassen und entsprechend auszulegen (III 5,8–9). Kommentare: Wolters 1984; Hadot 1990. I 8 [51]: Über die Frage, was das Übel ist und woher es kommt Die Frage, woher das Böse oder Übel stammt, ist in einem monistischen, ein absolut gutes universales Prinzip ansetzenden System wie dem Plotins ein Problem. Plotin hat sich ihr schon mit der Theodizee-Schrift III 2–3 [47–48] angenähert, stellt sie nun aber in grundsätzlicherer Weise. Seine Antwort ist komplex und in der Folgezeit auch von Denkern, die Plotins Auffassung von der Materie als Privation grundsätzlich teilten – etwa den späteren antiken Neuplatonikern oder Augustinus –, nicht übernommen worden (s. Abschn. 51.3 und 53.3). Als totale Abwesenheit des Guten und der Form, so argumentiert Plotin, ist die Materie das Übel an sich und ein Quasi-Prinzip des Übels. Jedes Übel in der Welt lässt sich auf die Existenz der Materie zurückführen; Plotin erklärt mit ihr auch das moralische Übel und die Schlechtigkeit der Seele, wobei er keineswegs eine Determinierung der Seele durch die Materie intendiert. Anlass für diese spannungsreiche Konstruktion ist u. a. das Anliegen, eine naturgegebene Schlechtigkeit der Seele zu vermeiden und an dem sokratischen Grundsatz der Unfreiwilligkeit des Bösen festzuhalten (I 8,4,8–12; 3,26–30; 11,10–19). Die Frage nach dem wesenhaft Bösen oder Prinzip des Bösen ist eigentlich paradox, weil das Böse Negativität und Nicht-Form ist; dennoch muss sie gestellt werden (I 8,1). Im Bereich der geistigen Hypostasen Eines, Geist und Seele gibt es nur Gutes; das primär Böse

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ist das diesem Guten radikal Entgegengesetzte, das per se Unbestimmte, Formlose und Mangelhafte, das in diesem Sinne als das Schlechte an sich gelten kann, auch wenn es kein Wesen und keine Substanz hat (I 8,2–3). Schlecht im abgeleiteten Sinne sind die Körper und die Seele, sofern sie von der Materie ein Moment der Unbestimmtheit erhält und gleichsam verdunkelt wird (I 8,4–5). Platons Aussage, dass das Böse als Gegensatz des Guten in der Körperwelt notwendig existiert (Plat. Tht. 176a), ist als Hinweis auf die Notwendigkeit der Materie zu verstehen, die als Endpunkt des Derivationsprozesses dem absolut Guten entgegensteht; der aristotelische Grundsatz, dass das Wesen (ousia) kein Gegenteil hat (Aristot. cat. 5, 3b24–25), gilt nicht für die Gesamtheit des Wirklichen, wo sich Sein und Nichtsein, Gutes und Schlechtes diametral gegenüberstehen (I 8,6–7). Die folgenden Kapitel thematisieren Schwierigkeiten dieser Theorie. Der Körper ist Ursache des Bösen in der Seele – etwas unkontrollierter Begierden – nicht qua Körper, sondern qua Materie (I 8,8). Ein Erkennen des Bösen ist nur durch Wegnahme alles Formbestimmten möglich, analog dem ‚Sehen‘ des Dunkels (I 8,9). Die Qualitätslosigkeit der Materie steht ihrer Identifikation mit dem Bösen nicht entgegen, weil das Böse bei ihr keine Qualität ist (I 8,10). Erklärte man die moralische Schlechtigkeit der Seele ohne Einbeziehung der Materie bloß als die Abwesenheit (Privation) des Guten, so ergäbe sich die unerwünschte Konsequenz, dass die Seele per se nicht gut, sondern schlecht ist. Aber die seelische Schlechtigkeit (kakia) ist ebenso wenig das Übel (kakon) an sich wie die Tugend das Gute an sich ist; extreme Schlechtigkeit ist vielmehr ein extremer Grad der Teilhabe am Übel (I 8,11–13). Die Erklärung von Schlechtigkeit als Schwäche (astheneia) der Seele greift zu kurz, weil die Ursache dieser Schwäche wieder die Materie ist, deren Anwesenheit die Seele an der Aktivierung ihrer aufs Geistige gerichteten Kräfte hindert (I 8,14). Für die reine, auf das Gute und den Geist gerichtete Seele gibt es kein Übel (I 8,15). Kommentare: Schröder 1916; O’Meara 1999.

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II 3 [52]: Über die Frage, ob die Sterne wirken Plotin hat den astrologischen Determinismus – die direkte kausale Wirkung von Gestirnkonstellationen auf das Leben und Verhalten der Menschen – bereits in früheren Schriften abgelehnt, aber eine Zeichenfunktion der Gestirne zugelassen (III 1 [3],5; IV 4 [28],39; III 3 [48],6). Diese Argumentation greift er jetzt auf und vertieft sie unter Rückgriff auf seine früher entfalteten Lehren von der kosmischen Sympathie (vgl. bes. IV 4 [28],30–45) und von der durch Geist und Seele verursachten rationalen Struktur (logos) des Kosmos (III 2–3 [47–48]). Die Eröffnung ist polemisch: Der von den Astrologen postulierte Einfluss der Sterne auf Schicksal, Aussehen und Charakter von Menschen ist weder verständlich, wenn die Sterne leblose Körper, noch wenn sie beseelt sind. Im letzteren Fall müsste man den Gestirnen – göttlichen Wesen – böse Absichten unterstellen, und die astrologische These von der Bedeutung der Konstellationen ist unter dieser Voraussetzung sinnlos (II 3,1–6). Die Zeichenfunktion der Sterne erklärt sich dagegen zwanglos aus der Einheit und Sympathie des körperlichen Kosmos; die wirkenden Ursachen sind nicht die Sterne, sondern die den Kosmos zusammenhaltende Weltseele und die individuellen Seelen (II 3,8,9: „wir“, hêmeis), deren Tugend und Schlechtigkeit davon abhängt, ob sie sich von dem Leib-Seele-Kompositum befreien oder sich an dieses verlieren. Das bestätigen bei sorgfältiger Exegese auch der Schlussmythos der Politeia und der Timaios (II 3,7–9). Die Schlechtigkeit des Kompositums ist oft nur eine Verdunkelung der Eigenschaften der Seele durch die Materie; der beobachtbare Einfluss von Gestirnen, etwa der Sonne, betrifft nicht das Wesen, sondern lediglich die Qualität (II 3,10– 12). Um kosmischen Einfluss und individuelle Handlungsspielräume voneinander abzugrenzen, muss man zwischen dem von der Weltseele gemäß einem rationalen Prinzip gelenkten Weltganzen (II 3,13,4: kata logon) und dem innerhalb dieses Ganzen ursächliche Wirkung entfaltenden Vernunftprinzip der Einzelwesen diffe-

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renzieren (II 3,13). Äußeres Geschehen obliegt dem Gesamt-Logos, doch ist die Seele, sofern sie sich vom Leib-Seele-Kompositum dissoziiert und als Seele aktiv ist, davon nicht betroffen (II 3,14–15; vgl. I 4 [46],4). Mit ihrem natürlichen – großenteils unbewussten – Schaffen durch den Logos bildet die Seele den Geist ab; Besseres und Schlechteres existiert in der Welt, weil unter den Bedingungen der Körperlichkeit die innere Differenziertheit von Logos und Geist nicht anders abbildbar ist (II 3,16–18). I 1 [53]: Über die Frage, was das Lebewesen und was der Mensch ist In seiner vorletzten Schrift, die er krank und vereinsamt kurz vor seinem Tod im Jahr 270 in Kampanien schrieb, befasst sich Plotin mit der Frage: „Was ist der Mensch?“ Die Antwort der platonischen Tradition ist die des Sokrates im Dialog Alkibiades: Der Mensch ist nichts anderes als seine Seele (Ps.-Plat. Alc. 1 130c). Plotin versucht eine differenzierende Interpretation dieses Satzes. Er entwirft einen Begriff des Selbst (‚Wir‘, hêmeis; s. Kap. 42), der es erlaubt, die komplexe Natur des Menschen als eines psychophysischen Lebewesens zu berücksichtigen und zugleich mit dem Alkibiades daran festzuhalten, dass das Wichtigste und Eigentliche an diesem Wesen die vernünftige Seele ist. Plotin beginnt mit der Frage, ob Affekte, Sinneswahrnehmung, Meinen, Denken und geistige Erkenntnis Akte der Seele, des Körpers oder von beiden zusammen sind (I 1,1). Da die meisten dieser Akte sowohl Bewusstsein als auch Körperlichkeit erfordern, müssen sie durch ein Zusammenwirken von Körper und Seele erklärt werden. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, dass die Seele als solche vom Körper unabhängig und somit körperlichen Affekten nicht unterworfen ist (I 1,2–6). Daraus ergibt sich eine komplexe Anthropologie, nach der die Seele zwar zum Menschen gehört, aber dem Körper transzendent bleibt und nur ihr Scheinbild (eidôlon) in ihm hinterlässt (I 1,7,1–6; an anderen Stellen spricht Plotin von einer ‚Spur‘ der Seele; s. Kap. 17). Das Selbst-Bewusstsein des so verstandenen Menschenwesens (‚wir‘)

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schließt den lebenden Körper ein; unser gewöhnliches Dasein in der empirischen Welt ist durch diese Selbstauffassung bestimmt. Das menschliche Selbst ist jedoch ein „doppeltes“ (I 1,10,5–6): Es kann das Bewusstsein des psychophysischen Wesens, aber auch das des platonischen „inneren Menschen“, d. h. der rational denkenden Seele, sein, und im letzteren Fall steht ihm auch der Zugang zum Geist grundsätzlich offen. Gelingt es uns, zu dieser Stufe emporzusteigen, so aktivieren wir unser wahres, dem lebenden Körper und seinen Affekten transzendentes Selbst (I 1,7–8; 10; 13). Durch Tugend und kontemplative Lebensweise kann man schon zu Lebzeiten die Seele von ihrem Scheinbild lösen und das Selbst auf die Stufe der reinen Seele und des Geistes verlagern (I 1,9–13). Kommentare: Aubry 2004; Marzolo 2006; O’Daly 2017. I 7 [54]: Über das erste Gut und die anderen Güter Plotins letzte Schrift ist eine kurze, Grundgedanken früherer Schriften in verknappter Form aufnehmende Meditation über das Gute. Das Gute, nach dem laut Aristoteles „alles strebt“ (I 7,1,22 nach Aristot. Eth. Nic. 1,1, 1094a3), ist „jenseits des Seins“ (Plat. rep. 6, 509b); es ist dasjenige, worauf die strebende Aktivität (energeia) alles Seienden zielt, und ist daher selbst jenseits aller Aktivität und allen Denkens (I 7,1; vgl. ausführlich V 6 [24],3–6; VI 7 [38],37–41; V 3 [49],10–17; nur scheinbarer Kontrast mit VI 8 [39],20). Seele und Geist sind gut, insofern sie auf das Gute blicken und dadurch Sein, Leben und Denken erhalten (I 7,2; vgl. VI 7 [38],15–23). Obgleich das Leben gut ist, ist der Tod kein Übel für die Seele, wenn sie ihr Leben rein bewahrt und sich schon zu Lebzeiten durch Tugend vom Körper separiert hat (I 7,3). Kommentar: Pigler 2004.

Textausgaben HS1 Plotini Opera. Ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer. 3 Bde. Paris/Brüssel/Leiden 1951–1973 [Editio maior].

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HS2 Plotini Opera. Ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer. 3 Bde. Oxford 1964–1982 [Editio minor mit verbessertem Text und erweitertem Quellenapparat]. HS3 Addenda et corrigenda ad textum et apparatum lectionum. In: HS1, Bd. 3 (1973), 348–410. HS4 Addenda et corrigenda ad textum et apparatum lectionum. In: HS2, Bd. 3 (1982), 304–325. HS5 Schwyzer, Hans-Rudolf: Corrigenda ad Plotini textum. In: Museum Helveticum 44 (1987), 191–210.

sche Übersetzung des Kommentarteils von Bd. 1–3 der kommentierten altgriechisch-neugriechischen Ausgabe von Pavlos Kalligas: Πλωτίνου Eννεάδες. 6 Bde. Athen 1994–2018]. Bussanich, John: The One and its Relation to Intellect in Plotinus. A commentary on selected texts. Leiden 1988 [zu V 4 [7],2; V 1 [10], 7,1–26; V 6 [24],5,1– 6,11; III 8 [30],8,26–11,45; V 5 [32],7,31–8,27; VI 7 [38],16–17 und 35,19–36,27; VI 8 [39],16; V 3 [49],11,1–18].

Lexikon

Kommentare zu einzelnen Schriften

Sleeman, John H./Pollet, Gilbert: Lexicon Plotinianum. Leiden 1980.

Serie ‚Les écrits de Plotin‘ (frz. Übersetzung und analytischer Kommentar):

Gesamt- und Teilübersetzungen und -kommentare Plotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen fortgeführt von Rudolf Beutler u. Willy Theiler. 6 Bde. Hamburg 1956–1971. Plotin: Ausgewählte Schriften. Hg., übers. und kommentiert von Christian Tornau [2001]. Stuttgart 22011. Plotinus. With an English Translation by Arthur H. Armstrong. 7 Bde. Cambridge, Mass./London 1966– 1988. Plotinus: The Enneads. Edited by Lloyd P. Gerson. Translated by George Boys-Stones, John Dillon, Lloyd P. Gerson, R.A.H. King, Andrew Smith, James Wilberding. Cambridge 2018. Plotin: Traités. Sous la direction de Luc Brisson et JeanFrançois Pradeau. 9 Bde. Paris 2002–2010 [frz. Übersetzungen von Luc Brisson, Jean-Michel Charrue, Richard Dufour, Jean-Marie Flamand, Francesco Fronterotta, Matthieu Guyot, Jérôme Laurent, Laurent Lavaud, Pierre-Marie Morel, Alain Petit, Jean-François Pradeau, Thomas Vidart]. Plotin: Œuvres completes 1.1. Introduction par Jean-Marc Narbonne. Traité 1 (I 6), Sur le beau. Texte établi par Lorenzo Ferroni. Introduit, traduit et annoté par Martin Achard et Jean-Marc Narbonne. Paris 2012. Plotin: Œuvres completes 2.3. Traités 30 à 33 (III.8, V.8, V.5 et II.9). Sous la direction de Lorenzo Ferroni et Jean-Marc Narbonne. Texte établi par Lorenzo Ferroni. Traduit par Simon Fortier, Francis Lacroix et Jean-Marc Narbonne. Introduit et annoté par Kevin Corrigan, Zeke Mazur, Jean-Marc Narbonne et John D. Turner. Paris 2021. Plotino: Enneadi. A cura di Mario Casaglia, Chiara Guidelli, Alessandro Linguiti, Fausto Moriani. Prefazione di Francesco Adorno. 2 Bde. Torino 1997. Kalligas, Paul: The Enneads of Plotinus. A Commentary. Bd. 1. Princeton 2014 [Enneaden I–III; engli-

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Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick Christian Tornau

6.1 Das System der drei Hypostasen Plotin hat keine Gesamtdarstellung seines philosophischen Systems verfasst. Seine Schriften entwachsen der lebendigen Diskussion des Schulbetriebs (s. Kap. 2); sie behandeln exegetische und sachliche Einzelfragen mehr oder weniger großen Umfangs, erheben aber nie den Anspruch, Plotins Gesamtsicht auf Welt und Mensch zu dokumentieren. Man könnte sogar behaupten, dass Plotin über gar kein System verfügt, sofern darunter ein begrifflicher Entwurf verstanden wird, der sich ein für allemal in schriftlicher Form fixieren ließe. Selbst auf grundlegende metaphysische Fragen formuliert Plotin keine letztgültige Antwort, sondern nähert sich ihnen in immer neuen Anläufen denkerisch an, ohne dass eine der Fassungen gegenüber den anderen eindeutig zu privilegieren wäre. Das entspricht dem lebenspraktischen, weniger auf die Formulierung dogmatischer Sätze als auf deren geistige Durchdringung und Aneignung gerichteten antiken Verständnis von Philosophie. Dennoch lassen sich in Plotins Denken bestimmte Grundelemente und Grundannahmen identifizieren, die über das Gesamtwerk hinweg

C. Tornau (*)  Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

konsistent bleiben. Sie lassen sich zu einer Art kohärentem Weltbild kombinieren, das in Plotins Schriften durchweg vorausgesetzt ist und je nach Fragestellung mit unterschiedlicher Akzentuierung ganz oder teilweise präsentiert wird (vgl. in diesem Sinne schon Schwyzer 1951, 548). Sein Grundzug ist das bekannte System der drei ‚Hypostasen‘. Hiernach steht an der Spitze der hierarchischen Gesamtordnung des Seins als erstes Prinzip das Eine; dieses ist zugleich das Gute. Aus dem Einen-Guten geht der Geist hervor, der mit der Gesamtheit des (geistig) Seienden identisch ist und der seinerseits die Seele als das dritte hypostatische Prinzip hervorbringt. Bis hierher reicht der geistige oder „göttliche“ Bereich (V 1 [10],7,49). Erst unterhalb der geistigen Prinzipien und durch sie verursacht existiert die physische, sinnlich erfahrbare Welt, und die unterste Stufe bildet die dem Körperlichen zugrunde liegende ungeformte Materie, die zugleich das Prinzip des Bösen ist. Dieses Hypostasenmodell wird von Plotin selbst gelegentlich formelhaft benannt oder zusammenfassend skizziert (V 1 [10],8,9– 10; II 9 [33],1,1–16; VI 7 [38],42; I 8 [51],1–3; zur Geschichte des von Plotin selbst nicht technisch gebrauchten Begriffs hypostasis vgl. Narbonne 2012, XCVIII–CLI). Die Seele ist in Plotins Augen verantwortlich für alles, was in der uns umgebenden Erfahrungswelt ‚real‘, d. h. gestaltet, lebendig, bewusst und denkend ist, von den elementaren Körpern bis zum denkenden

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_6

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Menschenwesen. Sie ist Teil der intelligiblen Welt und bewirkt die Realität des Körperlichen, indem sie die ewig bestehenden, unveränderlichen Formen – die paradigmatischen Ursachen der uns umgebenden Welt – in den physischen Bereich vermittelt. Die transzendenten Formen oder platonischen Ideen sind das eigentlich Seiende. Plotin begreift sie als ein einheitliches, kohärentes System, eine „geistig erkennbare Welt“ (z. B. V 3 [49],16,8–10: kosmos noêtos). Da Sein im Vollsinne für Plotin Leben und Aktivität (energeia) ist und die höchste Form der Aktivität das Denken oder Erkennen ist (III 8 [30],8,17–21; vgl. Plat. soph. 248e–249a), ist es das Wesen jeder Form, dass sie sich selbst und alle anderen Formen erkennt; entsprechend erkennt der universale oder Gesamt-Geist (nous) sich selbst, indem er sämtliche Formen und die intelligible Welt als ganze erkennt. In diesem Sinne sind Erkennen und Sein, der erkennende Geist und die intelligible Wirklichkeit als das im höchsten Maße Erkennbare eins. Diese Einheit von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt bzw. des einen erkennenden Geistes mit den vielen erkennbaren Formen ist der höchste innerhalb des Seins erreichbare Einheitsgrad. Sie ist jedoch keine absolute Einheit, da sie aufgrund ihrer Erkenntnisstruktur auch Momente der Zweiheit bzw. Vielheit enthält. Die Einheit von Geist und Sein setzt somit ihrerseits noch eine absolute, von jeglicher Pluralität freie Einheit voraus. Eine solche Einheit ist nicht mehr Seiendes, sondern Prinzip des Seienden; Plotin bezeichnet sie mit einer Wendung Platons als „jenseits des Seins und des Erkennens“ (VI 8 [39],16,34; vgl. Plat. rep. 6, 509b). Als das Eine verleiht dieses Prinzip jedem Seienden Einheit und damit Existenz; als das Gute verleiht es dem Seienden seine innere Dynamik, seinen teleologischen Sinn und seinen Wert. Die Stufen oder Hypostasen der intelligiblen Welt bilden auch eine wertmäßige Hierarchie, insofern für Plotin höhere Einheit und höherer Wert miteinander einhergehen. Dennoch sind alle geistigen Wesenheiten in ihrer je eigenen Weise vollkommen gut. Das physische und moralische Übel existiert erst auf der Ebene der körperlichen Welt, wo Vielheit mit räum-

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licher Zerstreuung einhergeht und Raum für Konflikte und wechselseitige Schädigung und für moralisches Fehlverhalten entsteht. Die Bedingung oder Ursache dieser Differenz ist für Plotin die Materie (hylê), d. h. der ungestaltete, unbegrenzte und sich potentiell ins Nichts zerstreuende Aspekt körperlicher Wesen. Sie ist das Böse an sich – nicht im Sinne eines dualistischen Gegenprinzips, sondern als die totale Abwesenheit des Guten und als eine reine Negativität, die bleibt, wenn der Derivationsprozess vom Einen her zum Ende gelangt (I 8 [51],3–5; 7,16–23; II 4 [12],16,16–24; IV 3 [27],9,12–29). Die körperliche Welt ist insofern wegen ihres Materie-Anteils zwar der ‚Ort‘ des Bösen; sie ist jedoch, wie Plotin gegen die Gnostiker betont, die beste auf ihrer ontologischen Stufe mögliche Abbildung des Intelligiblen (II 9 [33],8). Wegen der kausalen Ableitung aller Stufen des Seienden aus dem Einen-Guten bezeichnet man die Metaphysik Plotins als ein ‚Derivationssystem‘. Die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung als ‚Emanationssystem‘ ist wegen ihrer physikalischen Assoziationen etwas irreführend (vgl. Emilsson 2017, 48–57; Halfwassen 2004, 89–90; O’Meara 1993, 60–61; freilich spricht Plotin selbst einmal metaphorisch vom „Überströmen“ des Einen, vgl. V 2 [11],1,8). Grundlegend für die Konstruktion des Hypostasensystems ist das Axiom, dass Vielheit Einheit voraussetzt und auf sie zurückgeführt werden muss (vgl. III 8 [30],10,20; O’Meara 1993, 44–49: „principle of prior simplicity“). In diesem Sinne hat man als den Leitgedanken von Plotins Philosophie die „henologische Reduktion“ benannt (Halfwassen 2004, 40–43). Plotin folgt bei der Darstellung seiner Prinzipien oder ‚Hypostasen‘ in der Regel einem aufsteigenden Verfahren: Er beginnt in der Erfahrungswelt und arbeitet sich nach und nach zur Seele, dem Geist und ggf. dem Einen oder Guten vor (I 6 [1]; V 1 [10]; V 8 [31]; VI 7 [38] u. a.). Der Versuch einer deduktiven Ableitung des Seienden aus seinem ersten Prinzip ist demgegenüber – nicht zuletzt wegen der hiermit verbundenen philosophischen Schwierigkeiten – die Ausnahme (V 4 [7]; V 2 [11]). Es empfiehlt sich, dieser Vorgehensweise zu folgen und

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die nachstehende Überblicksdarstellung mit der Seele (psychê) beginnen zu lassen (entsprechend O’Meara 1993; Bréhier 1961; absteigend verfahren dagegen Emilsson 2017; Narbonne 2012; Halfwassen 2004; Gerson 1994).

6.2 Die Seele Die Seele (s. auch Kap. 40) ist für Plotin das geistig Seiende, insofern es in der sinnlich wahrnehmbaren Welt belebend und gestaltend in Erscheinung tritt. Sie ist unkörperlich bzw. immateriell und zeigt sich als Einzelseele von Menschen, Tieren und Pflanzen und als Weltseele. Bei seinem Entwurf einer platonischen Psychologie stand Plotin vor der Aufgabe, das zentrale platonische Dogma von der Unsterblichkeit der Seele zu wahren und zugleich eine Antwort auf die seit Aristoteles vieldiskutierte Frage zu finden, wie Seele und Körper ein einheitliches Lebewesen bilden. Er musste also die Seele als eine immaterielle und körperunabhängige Substanz (ousia) verstehbar machen, die nichtsdestoweniger im Körper gegenwärtig ist und kausal auf ihn wirkt (vgl. IV 7 [2],85,43–46). Sein wichtigstes Argument für ein derartiges Verständnis von Seele gewinnt Plotin aus dem Phänomen der Einheit der sinnlichen Wahrnehmung (s. auch Kap. 49). Wenn wir sinnlich wahrnehmen, so tun wir das nach allgemeiner antiker Überzeugung mit der Seele. Wenn nun Impulse unterschiedlicher Art auf den Körper treffen, von denen jeweils verschiedene Sinne aktiviert werden, so ist es eine und dieselbe Seele – wir würden sagen: ein und dasselbe Bewusstsein –, die diese verschiedenen Wahrnehmungen zueinander in Beziehung setzt. Außerdem nimmt die Seele die Impulse genau dort und genau in dem Moment wahr, wo sie auftreffen; sie lokalisiert einen durch einen Stich ausgelösten Schmerz im Fuß korrekt im Fuß und nicht etwa im Gehirn. Dies ist, so Plotin, unter materialistischer Prämisse nicht erklärbar. Die evidente Tatsache, dass die Seele an jeder Stelle des Körpers als ganze wahrnimmt (die Aussage, dass das wahrnehmende Bewusstsein zu einem physischen Teil im Fuß und zu einem anderen in

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der Hand ist, ist sinnlos), beweist für Plotin, dass sie überall im Körper gegenwärtig ist, ohne im räumlich-körperlichen Sinne auf ihn aufgeteilt zu sein. Sie ist somit unkörperlich und verfügt über einen besonderen, dem Körper gegenüber höheren oder transzendenten Grad an Einheit, der ihr Allgegenwart im Raum ohne räumliche Teilung ermöglicht. Nur aufgrund dieser transzendenten Einheit, deren Voraussetzung die Unkörperlichkeit ist, vermag die Seele auf den Körper zu wirken und seine Teile zu einem einheitlichen, lebenden und wahrnehmenden Wesen zu vereinigen (IV 7 [2],7; IV 2 [4],2; V 1 [10],2,30–40; VI 4 [22],1,17–29). Anders als im cartesischen Dualismus, ist die Immaterialität der Seele also kein Problem für die Einheit des psychophysischen Lebewesens, sondern gerade deren Bedingung. Dieses Argument hat für Plotins Denken systematische Bedeutung. Erstens gibt es dem Gedanken der Einheitsstufen einen präzisen Sinn: Ist die Einheit des Körpers eine Einheit räumlich getrennter Teile, so ist die Einheit der Seele eine nichträumliche (dem Räumlichen transzendente), die dennoch im Räumlichen anwesend und kausal wirksam (immanent) ist. Noch höher ist der Einheitsgrad des Geistes, der die Pluralität der seienden Formen in der Totalität einer raum- und zeitfreien Erkenntnis vereinigt. Das Eine schließlich ist absolut transzendent, weil es keinerlei innere Differenzierung kennt, und dennoch überall anwesend und wirksam (VI 9 [9],8,33–35). Zweitens zeigt das Argument, dass bestimmte Sätze, die als Regeln unseres Denkens universal gültig zu sein scheinen, in Wirklichkeit nicht universal, sondern an Körperlichkeit und Raum gebunden sind. Die Aussage „Eines und dasselbe ist überall zugleich ganz“ stellt für unser Denken einen Widerspruch dar, aber sie wird zu einer Erfahrungstatsache, sobald man die Aufmerksamkeit auf das eigene Bewusstsein richtet (VI 4 [22],4,11–18). Vermeintliche Gewissheiten des menschlichen Denkens fußen somit oft auf unausgesprochenen Prämissen aus dem uns vertrauten Bereich der sinnlichen Außenwahrnehmung und verfehlen die eigentliche, geistige Realität (VI 4 [22],2,25–30).

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Eine eigentümliche, aber für Plotins Denken bezeichnende Konsequenz der Transzendenz der Seele gegenüber dem Körper ist, dass es strenggenommen nur eine einzige Seele gibt. Wenn die Einzelseele durch den Einzelkörper nicht in räumlich abgrenzbare Teile zerlegt wird, dann gibt es keinen Grund für die Annahme, dass die Seele als solche von mehreren Körpern in verschiedene Teil-Seelen zerlegt werden sollte. Zwar ist die Existenz vieler individueller Seelen unbestreitbar. Sie ist jedoch keine Folge des Kontakts von Seele und Körper (Körper und Materie scheiden für Plotin als principium individuationis generell aus; s. Abschn. 27.4), sondern ergibt sich aus der einheitlich-vielheitlichen Struktur der Seele als solcher bereits vor ihrem Kontakt zum Körper. Einige dieser gleichsam präexistenten Individualseelen wenden sich Körpern zu und vereinzeln sich dadurch bis zu einem gewissen Grade, ohne jedoch ihre fundamentale Einheit mit der Gesamtseele zu verlieren (IV 9 [8],5). Diese Gesamtseele – in der Forschung oft als ‚Hypostase Seele‘ bezeichnet – ist als solche ohne Bezug zum Körper; sie darf nicht mit der Weltseele verwechselt werden, die den Einzelseelen nicht vorgängig ist, sondern in einem ‚Geschwister‘-Verhältnis zu ihnen steht und sich von ihnen lediglich dadurch unterscheidet, dass sie einen größeren und umfassenderen Körper versorgt als sie, nämlich den Körper der Welt (IV 3 [27],1–8, insbesondere 2,8–10; 4,14–37). Als Kompositum aus Weltseele und Weltkörper ist der Kosmos ein Lebewesen, dessen Teile wie die eines psychophysischen Einzelwesens ein gemeinsames Empfinden besitzen (sympatheia, ‚Sympathie‘). Hierdurch lassen sich kausale Fernwirkungen innerhalb des Kosmos erklären, vom Sehen entfernter Gegenstände bis hin zur Magie (IV 4 [28],30–45; IV 5 [29]). Eine Folge dieser Konzeption ist eine recht komplexe Anthropologie. Die Körper aller Lebewesen einschließlich der Menschen sind Teile des Weltkörpers und verfügen über eine Art Grundbeseelung durch die Weltseele, die die elementaren Lebensfunktionen und die Einordnung in die kosmische Sympathie sicherstellt; die höheren, insbesondere rationalen Seelenfunktionen gehören

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hingegen den Einzelseelen, die sich mit den von der Weltseele vorbeseelten Körpern verbinden (VI 7 [38],7,8–16). Die höhere Seele ist daher durch die kosmische Sympathie nicht determiniert, sondern vermag sich auf die Ebene der hypostatischen Gesamtseele und des Geistes zu erheben, die sie eigentlich nie verlassen hat. Wenn Plotin energisch und mit ausdrücklicher Wendung gegen die exegetische Tradition versichert, dass „etwas von unserer Seele immer im Geistigen verbleibt“ (IV 8 [6],8,1–6), so ist dies letztlich eine Konsequenz daraus, dass geistige Entitäten keiner körperlichen Einwirkung unterliegen. Im geistigen Bereich besteht Kontinuität auch über die Transzendenzstufen hinweg, weil Differenz hier nicht mit räumlicher Separation einhergeht. Die Unterscheidung zwischen Gesamtseele und Einzelseelen ist aus Plotins Sicht daher von begrenzter Aussagekraft: Die Seele eines individuellen Menschen ist letztlich eins mit der hypostatischen Seele an sich, und der Geist (nous) des Menschen ist nichts grundsätzlich anderes als der universale Geist, die Totalität von Erkennen und Sein (vgl. I 1 [53],8,1–8). Der Aufstieg der Seele zu ihrem geistigen Ursprung ist für Plotin daher die Wiederherstellung ihres eigentlichen Seins, und die Bedingung der Möglichkeit des Aufstiegs ist die Kontinuität innerhalb des geistigen Seins.

6.3 Der Geist und das Sein 6.3.1 Das Denken des Geistes Der Begriff des Geistes (s. Kap. 22) führt zunächst auf epistemologische Fragen. Platon hatte mit seiner Theorie der Formen (Ideenlehre; ‚Form‘ = eidos oder idea) die Möglichkeit erfahrungsunabhängiger Urteile sichern wollen. Diese Funktion haben die Formen auch bei Plotin (vgl. V 1 [10],11,1–4). Daneben tritt bei ihm aber auch – vermutlich vor dem Hintergrund der hellenistisch-skeptischen Angriffe auf die sensualistische Erkenntnistheorie der Stoa – die Frage nach den Bedingungen irrtumsfreier Erkenntnis überhaupt. Als Platoniker zweifelt Plotin nicht an der prinzipiellen Möglichkeit si-

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cherer Erkenntnis, die er in den intelligiblen Bereich verlegt: Den Geist (nous) als solchen – gleichsam die platonische Idee des Geistes – zeichnet es aus, dass er niemals Nicht-Geist ist, d. h. dass er unausgesetzt und stets wahrheitsgemäß erkennt (V 5 [32],1,1–3). Dieser Anforderung aber kann der Geist für Plotin nur dadurch genügen, dass seine Erkenntnis Selbsterkenntnis ist. Mittelbare Erkenntnis, etwa durch sinnliche Wahrnehmung, kann dem Irrtum unterliegen; gesicherte Erkenntnis ist nur als unmittelbare Erkenntnis und diese wiederum nur als Selbsterkenntnis möglich. Wenn es also einen Geist gibt, der absolut irrtumsfrei erkennt, dann erkennt dieser Geist sich selbst. Plotins Konzeption eines sich wesenhaft selbst erkennenden göttlichen Geistes ist ohne Zweifel durch die aristotelische Auffassung von Gott als „Erkennen des Erkennens“ inspiriert (Aristot. metaph. Λ 9, 1074b34–35: noêseôs noêsis, „Denken des Denkens“). Anders als bei Aristoteles ist der Erkenntnisakt des plotinischen Geistes jedoch nicht rein selbstreferentiell oder ‚leer‘, sondern hat als seinen Gegenstand das absolut Erkennbare, d. h. Reale, und dies ist im Rahmen von Plotins platonischer Geistmetaphysik die intelligible Welt mit ihren Inhalten, den Formen (VI 9 [9],5,14; II 9 [33],4,30; V 1 [10],9,20; V 5 [32],4,4). Dies ist der Grundsatz, „dass die geistig erkennbaren Gegenstände nicht außerhalb des Geistes sind“ (V 5 [32], Titel; zur Argumentation vgl. V 5 [32],1–2; V 3 [49],5; V 9 [5],5–6). Die Basis von Plotins Verständnis dieser sich selbst erkennenden Geisteswelt bildet die Zweite Hypothese des Parmenides, wo Platon zeigt, dass man ein „Eines, das ist“ (hen on), nur als sich ins Unendliche entfaltende Vielheit denken kann (Plat. Parm. 142a–144e). Die Einheit-Zweiheit von Erkennen und Sein impliziert bereits eine Vielzahl von Beziehungen. Weil der Geist sich selbst erkennt, stehen Erkennen und Sein zueinander im Verhältnis der Identität; zugleich sind sie aber auch unterscheidbar, besitzen also Differenz. Nach platonischem Grundsatz muss das Seiende, um Gegenstand des Wissens sein zu können, konstant und unveränderlich sein (Plat. Tim. 27d–28a; vgl. z. B. VI

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5 [23],2,12–13); Sein impliziert also Ruhe oder ‚Stillstand‘ (stasis). Erkenntnis ist demgegenüber Aktivität und mithin ‚Bewegung‘ (kinêsis). Aus der für den Geist konstitutiven Denkaktivität, die zugleich Seinsaktivität ist – Plotin etikettiert sie gern mit dem Satz des Parmenides: „Dasselbe ist Erkennen und Sein“ (Parm. fr. B 3 DK, zitiert in V 9 [5],5,29–30; V 1 [10],8,17–18; III 8 [30],8,8; I 4 [46],10,6; s. Kap. 8) – ergeben sich also unmittelbar die von Platon im Sophistes herausgearbeiteten „wichtigsten Gattungen“, Grundformen oder auch Grundkategorien des Seienden, Sein, Stillstand, Bewegung, Identität und Differenz (V 1 [10],4,30–43; VI 2 [43],7– 8; Plat. soph. 254e–255a; s. Abschn. 28.3). Sie sind zugleich die Genera, in die sich das Seiende als solches einteilen lässt, und die Prinzipien, nach denen es sich nach Gattungen und Arten ausdifferenziert und zu Ursache und Vorbild der sinnlich wahrnehmbaren Welt wird (VI 2 [43],2,10–14; VI 2 [43],19–22). Man kann diese Strukturierung des geistigen Seins als eine Explizierung von dessen häufig genannten Grundcharakteren Sein, Leben und Erkennen verstehen, die Plotin ebenfalls aus dem Sophistes gewinnt (I 6 [1],7,11; VI 7 [38],18,5– 8; Plat. soph. 248e–249a). Die Erkenntnisweise des Geistes ist zugleich das feste, unerschütterliche Wissen um diese Strukturen und Beziehungen und deren unausgesetzter dynamischer Nachvollzug, ihr denkerisches „Durchgehen“ oder „Durchlaufen“ (III 8 [30],9,32–37; VI 7 [38],13). Freilich ist dieses Denken des Geistes kein in der Zeit ablaufender Prozess. Wäre dem so, so würde es sich um einen Übergang vom Nichtwissen zum Wissen handeln, der im Widerspruch zu dem Axiom der Konstanz, Totalität und Irrtumsfreiheit der geistigen Erkenntnis stünde. Das geistige „Durchgehen“ ist richtiger ein „Immer-schon-durchgegangen-Sein“ (III 8 [30],9,34–35); es ist eine zeitenthobene, ewige Erkenntnisform, die ihr Wissen nicht nach und nach zusammensetzen muss, weil sie immer schon „alles auf einmal“ intuitiv erfasst hat – die Gegenstände ihres Erkennens ebenso wie deren Beziehungen (VI 4 [22],14,4 und 6 nach Anaxag. fr. B 1 DK). Dieses intuitive geistige Er-

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kennen (noêsis, noein) unterscheidet sich prinzipiell von der uns aus unserer täglichen Erfahrung vertrauten Form des Denkens, das in der Zeit abläuft und ein diskursiver und sprachlich strukturierter Prozess in der rationalen Seele ist (dianoia, logismos; s. Abschn. 43.5). Die Unterscheidung zwischen der Ewigkeit als der Lebens- und Erkenntnisform des Geistes und der Zeit als dem Leben und Denken der Seele ist der Grundzug von Plotins Interpretation der Darstellung der Zeit als „Abbild“ der Ewigkeit in Platons Timaios (V 1 [10],4,16–25; VI 5 [23],14–31; IV 4 [28],15; III 7 [45],11–13; Plat. Tim. 37c–e; Beierwaltes 2010, 35–74; s. Kap. 50). Das diskursive Denken erwirbt seine Kenntnisse, indem es Prädikate von Subjekten aussagt, die so gewonnenen Aussagen in logische Beziehung zueinander setzt und dadurch zu neuen Aussagen gelangt. Das Kriterium der Wahrheit dieser Aussagen ist der Geist. Dass mit den Mitteln des diskursiven Denkens eine wahre Aussage wie „Das Gerechte ist schön“ erreicht werden kann, ist zum einen dadurch begründet, dass die Termini ‚gerecht‘ und ‚schön‘ in der Realität des intelligiblen Seins in einer Beziehung der Identität zueinander stehen: Die Prädizierung der Schönheit von der Gerechtigkeit gewinnt eine Einheit wieder, die auf der Ebene der intelligiblen Realität immer schon gegeben, im Bereich des Denkens und der Sprache aber wegen des reduzierten Einheitsgrades der rationalen Seele zunächst nicht evident ist. Zum anderen ist die Fähigkeit des diskursiven Denkens, Beziehungen in der Realität wahrheitsgemäß zu erkennen, dadurch fundiert, dass der Geist die betreffenden Beziehungen immer schon erkannt hat. Wenn Wahrheit die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ist, dann ist sie in letzter Instanz die Übereinstimmung des erkennenden Geistes mit sich selbst (V 5 [32],2,18–20). Jede Form wahrer Erkenntnis ist letztlich von der Selbsterkenntnis als der primären Form des Erkennens abgeleitet (V 6 [24],1). Wenn das diskursive Denken „mittels des Geistes“ (dia nou) zu Erkenntnis und Wahrheit gelangt, dann imitiert es die geistige Einheit des Erkennenden mit seinem Gegenstand und ist in gewissem Sinne selbst Geist (III

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8 [30],6,14–21; V 3 [49],6,19–22). Die Voraussetzung hierfür ist die Präsenz des Geistes in der Seele (I 1 [53],8,1–8). Als zeitloses, immer schon vollkommenes und totales Erkennen ist der Geist der Seele transzendent; als Bedingung der Möglichkeit ihres Erkennens und als die disparaten Elemente ihres zeitlich und sprachlich strukturierten Denkens einigende Instanz ist er ihr immanent. Damit dem Menschen Erkenntnis überhaupt möglich ist, muss Kontinuität zwischen Geist und Seele, zwischen diskursivem Denken (dianoia) und geistiger Einsicht (noêsis) bestehen. Dieser Anforderung trägt auf exegetischer Ebene Plotins Auslegung des Wagenlenker-Mythos in Platons Phaidros Rechnung, nach der der oberste Teil der Seele immer im Geist verbleibt (IV 8 [6],8,1–6; V 1 [10],10,21– 24; VI 4 [22],14,14–22; IV 3 [27],12,1–4; Plat. Phaidr. 248a; Chiaradonna 2009, 102–110).

6.3.2 Der Geist als Ursache der sinnlich wahrnehmbaren Welt Bei Platon stellen die Formen (Ideen) nicht nur die Erkennbarkeit, sondern auch das Sein der Dinge sicher: Jedes Einzelding hat sein spezifisches Sein durch die Teilhabe an einer Form (methexis, metalêpsis; s. Abschn. 44.2). Die Funktionsweise dieser Teilhabe wird in Platons für den kaiserzeitlichen Platonismus besonders wichtigem kosmologischen Dialog Timaios lediglich mythisch-metaphorisch beschrieben: Ein göttlicher Handwerksmeister („Demiurg“) schafft die sinnlich wahrnehmbare Welt, indem er auf das Vorbild (paradeigma) der platonischen Ideen „hinblickt“ (Plat. Tim. 28a). Plotin hat durch seine Ineinssetzung des Geistes und der Ideen den Demiurgen als selbständige, zwischen geistigem Vorbild und sinnlichem Abbild vermittelnde Instanz eliminiert (vgl. z. B. III 2 [47],1,15–26; zur Kritik eines anthropomorphistischen Verständnisses des Demiurgen vgl. V 8 [31],7; VI 7 [38],1). Er ist daher genötigt, das kausale Verhältnis der intelligiblen zur sinnlich wahrnehmbaren Welt neu zu überdenken. Dabei wendet er im Wesentlichen die vier folgenden, eng miteinander verwandten Denkmodelle an:

6  Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick

1. Natürliche Abbildung: Plotin präzisiert die von der Tradition vorgegebene Metaphysik von Vorbild und Abbild durch die Unterscheidung von natürlicher und künstlicher Abbildung. Künstliche Abbildung liegt vor, wenn ein Künstler oder Handwerker zwischen Vorbild und Abbild vermittelt, etwa bei einem gemalten Porträt; in diesem Fall existiert (und vergeht) das Abbild unabhängig vom Modell. Bei natürlicher Abbildung, z. B. bei Schatten- oder Spiegelbildern, entsteht das Bild ohne Vermittlung eines Künstlers direkt aus dem Vorbild; die Existenz des Abbildes ist eine unmittelbare Folge der Existenz des Vorbildes und von dieser abhängig. Den von Platon im Timaios beschriebenen Abbildungsvorgang interpretiert Plotin gegen den Wortlaut des Textes als einen natürlichen: Die Sinnenwelt entsteht unmittelbar aus der Geisteswelt allein aufgrund von deren Existenz; sie bleibt in ihrem Bestehen stets an die Geisteswelt gebunden und existiert exakt so lange wie diese, d. h. unbegrenzt (VI 4 [22],10,22–30; V 8 [31],12,19– 25). 2. Theorie der zweifachen Aktivität: Eine genauere Beschreibung des natürlichen Abbildungsvorgangs bietet die sogenannte Theorie der zweifachen Aktivität (energeia; s. auch Abschn. 26.2 und 29.4). Plotin beschreibt sie so: „Es gibt bei jedem Einzelnen einerseits die Aktivität des Seins, andererseits die Aktivität aufgrund des Seins. Die Aktivität des Seins ist jeweils das Betreffende selbst; die von ihm ausgehende ist dagegen diejenige, die allem notwendigerweise und zwangsläufig folgt, aber von ihm selbst verschieden ist. Zum Beispiel gibt es beim Feuer zum einen eine Wärme, die sein Sein vervollständigt, und zum anderen eine, die von dieser aus entsteht, wenn das Feuer die von seinem Sein untrennbare Aktivität ausübt, indem es Feuer bleibt“ (V 4 [7],2,27–33). Neben dem Feuer nennt Plotin häufig das Beispiel der Sonne und ihres Lichtes (vgl. z. B. V 1 [10],6,30–34; IV 5 [29],7,13–23). Sachlich sind die innere oder Seinsaktivität und die äußere oder Wirkaktivität nicht voneinander geschieden: Das kausale (erleuchtende oder wärmende) Wirken der Sonne ist mit ihrem Sonne-Sein unmittelbar gegeben. Plotin zieht die Theorie der zweifachen

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energeia meistens zur Erklärung der Entstehung des Seienden aus dem Einen heran, und sie wird in der Forschung in der Regel in diesem Kontext behandelt (vgl. z. B. Emilsson 2017, 90– 99). Die Beispiele des Feuers und der Sonne und Plotins universale Formulierung der Theorie zeigen jedoch, dass es sich ursprünglich um eine Theorie der kausalen Derivation innerhalb des Seienden handelt, die lediglich im analogen Sinne auf das Eine übertragen wird (vgl. IV 5 [29],7,17–19; direkter Bezug auf die Relation von sinnlicher und intelligibler Welt: II 9 [33],8,18–26). 3. Ungeteilte Allgegenwart der Seele beim Körper: Dies ist weiter konkretisierbar durch die Lehre der Schrift VI 4–5 [22–23] von der unmittelbaren Präsenz des Geistigen beim Körperlichen. Im Kapitel VI 4 [22],7 unterscheidet Plotin zunächst zwischen der Sonne (innere Seinsaktivität) und ihrem Licht (äußere Wirkaktivität) und fordert uns dann auf, uns den Körper der Sonne wegzudenken. Tut man dies, so werden Sonne und Licht räumlich ungetrennt und ununterscheidbar, und die Sonne ist jedem Gegenstand, den das Licht trifft, ganz und unmittelbar präsent. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen dem geistigen und dem körperlichen Seienden: Überall, wo etwas ist, ist das geistig Seiende als seine Ursache direkt präsent. Körperliches Sein ist somit nichts anderes als geistiges Sein, insofern es einer materiellen Grundlage sichtbar wird – oder anders formuliert: Alles, was am Körperlichen seiend oder real ist, entstammt der Präsenz des Geistigen und ist selbst geistig. Die konkrete Form dieser Präsenz ist die ungeteilte Allgegenwart der Seele beim Körper; dies gilt sowohl für lebende und denkende Wesen als auch für lediglich geformte Gegenstände, die für Plotin nur scheinbar unbelebt sind (VI 7 [38],11). 4. Schau: Die gestaltende Seele vermittelt also die im Geist enthaltenen Formen in die Körperwelt und lässt sie dort ursächlich wirksam werden. Das heißt jedoch nicht, dass die Seele bei Plotin die Funktion des Demiurgen des Timaios übernimmt; die Vermittlungsleistung der Seele ist keine Alternative zu der unmittelbar mit dessen Sein gegebenen kausalen Wirk-

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samkeit des Geistes. Das kausal-produktive Wirken der Seele vollzieht sich ebenso wenig wie das des Geistes nach dem Modell der handwerklichen Fertigung. Plotin beschreibt es in der Schrift III 8 [30] vielmehr als eine Form der theoretischen Betrachtung oder ‚Schau‘ (theôria; s. Kap. 30). Dass das Schauen produktiv ist, zeigt sich beispielsweise bei wissenschaftlicher Tätigkeit: Ein Mathematiker, der einen Beweis durchführt, stellt dabei eine Zeichnung her, die Teil seiner theoretisch-schauenden Aktivität ist, aber nur nebenbei entsteht und nicht das Thema und Ziel der wissenschaftlichen Betrachtung ist, die auf die immateriellen mathematischen Sachverhalte gerichtet ist (III 8 [30],4,7–8). Dies verallgemeinert Plotin auf die Seele als ganze einschließlich der scheinbar unbelebten Natur. Die Seele enthält rationale Strukturen oder Formen (logoi), die durch ihre Hinwendung zu ihrem Ursprung und Vorbild, dem Geist, entstehen und die in diesem enthaltenen intelligiblen Formen abbilden. Schaut die Seele diese rationalen Strukturen in sich selbst an, so gestaltet sie ‚nebenbei‘ und gleichsam von selbst mit ihnen die Materie, und es entsteht die sinnlich wahrnehmbare Welt. Die Seele betrachtet die logoi jedoch nicht wie der Demiurg des Timaios mit dem Ziel, eine körperliche Welt zu schaffen. Mit ihrer schauenden Aktivität imitiert die Seele die Denkaktivität des Geistes, der durch seine Hinwendung zum Einen und den – notwendig scheiternden – Versuch, es zu erkennen, die Vielheit der intelligiblen Formen in sich entstehen lässt (III 8 [30],8–9). Plotins Auffassung von der Entstehung der körperlichen Welt wirkt sich auch auf seine Bewertung dieser Welt aus. Es liegt im Wesen des Platonismus, dass die Bewertung des Bildes immer ambivalent ist. Ein Bild ist nicht das Original und daher defizitär und falsch (vgl. V 8 [31],8,23; V 5 [32],1,50–58); es kann aber durch seine Relation zum Original einen hohen relativen Wert erhalten (s. Kap. 17). Die körperliche Welt ist für Plotin der natürliche Ausdruck der geistigen und bildet diese auf die bestmögliche Weise ab (V 8 [31],8,21–22; II 9 [33],4,22–32). Dennoch wird dem Philosophen die „Flucht“ aus dieser Welt empfoh-

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len, weil sie nicht die wahre und eigentliche ist (I 6 [1],8,16–27 nach Plat. Tht. 176a–b). Undenkbar ist für Plotin freilich, dass die Körperwelt ohne jede Verbindung und Relation zur geistigen Welt und damit per se schlecht ist – die gnostische Vorstellung von einem bösen oder törichten Weltschöpfer, der aus dem geistigen Bereich ausgeschieden ist und seine Schöpfung aus Stolz und ohne Kenntnis der intelligiblen Welt durchführt, wird in der Schrift II 9 [33] bekämpft (vgl. insbesondere II 9 [33],3–4). Ohne Kontakt zum Intelligiblen und zum Guten ist allein die ungeformte Materie. Sie existiert zwar wie die aristotelische prima materia niemals in isolierter Form (V 8 [31],7,18–22), geht aber anders als im aristotelischen Hylemorphismus auch keine echte Verbindung mit den Formen ein. Die Stoff-Form-Komposita der sinnlichen Welt sind wie Spiegelbilder etwas Instabiles und Scheinhaftes; aufgrund der Anwesenheit der Materie besitzt das körperliche Seiende stets einen Zug der Formlosigkeit und Negativität (III 6 [26],7,23–43; I 8 [51],4,1–5; s. Kap. 34).

6.4 Das Eine und das Gute 6.4.1 Das Eine als Prinzip und die negative Theologie Plotin ist mit großen Teilen der philosophischen Tradition davon überzeugt, dass Vielheit Einheit voraussetzt. Eine empirisch gegebene organisierte Vielheit ist stets auf ihr einheitliches und einigendes Prinzip zu befragen, das sie zu einer in sich differenzierten Einheit macht und verhindert, dass sie in eine unzusammenhängende, unendliche Vielheit zerfällt (III 8 [30],9,42– 43; V 3 [49],16,1–16; vgl. Procl. inst. theol. 1; O’Meara 1993, 44–49). Das Neuartige an Plotins Denken ist, dass er diesen Grundsatz auf das Seiende als Ganzes verallgemeinert. Jedes einzelne Seiende ist eines; es ist aber zugleich vieles, weil es eine Vielzahl von Teilen, Elementen und Aspekten hat (VI 9 [9],1,1–17; 2,24–47; VI 7 [38],3,9–22; 13,51–57). Ebenso ist das Seiende insgesamt eine Einheit, die in

6  Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick

sich differenziert ist und sich nach Gattungen, Arten und Individuen gliedern lässt. Selbst dort, wo das Sein seinen höchsten Einheitsgrad erreicht, im Erkenntnisakt des sich selbst denkenden Geistes, ist zugleich mit der Einheit auch die Zweiheit von Erkennendem und Erkanntem gegeben (V 6 [24],1,1–14). Auch beim Seienden als ganzen ist also noch nach einer es begründenden transzendenten Einheit zu fragen, die keinerlei Komplexität – weder Vielheit noch Zweiheit – mehr kennt, sondern absolut einfach ist. Dieses höchste und erste Prinzip des Seins ist das plotinische Eine (hen; s. Kap. 18). Gemäß dem Axiom, dass das Prinzip nicht dasselbe ist wie dasjenige, dessen Prinzip es ist (VI 9 [9],6,54–55; III 8 [30],9,39–43), ist es als Prinzip alles Seienden selbst nichts Seiendes; es liegt, wie Plotin in Anlehnung an Platons Charakterisierung der Idee des Guten in der Politeia formuliert, „jenseits“ (epekeina) des Seienden als ganzen (z. B. V 4 [7],1,10 nach Plat. rep. 6, 509b: „Es ist nicht Sein, sondern noch jenseits des Seins an Würde und Kraft“). Aus der bis zur letzten Konsequenz durchgeführten ‚henologischen Reduktion‘ ergibt sich also der paradoxe, aber im Rahmen von Plotins Einheitsmetaphysik folgerichtige Gedanke, dass die Gesamtheit des Seienden, die alles enthält, was ist, und außerhalb derer es nichts mehr geben kann, auf ein jenseits von ihr liegendes, nicht mehr seiendes, aber dennoch reales Prinzip verweist (vgl. Rist 1967, 21–37). Die drei plotinischen Hypostasen dürfen daher nicht als drei homogene, grundsätzlich kommensurable Stufen innerhalb der Realität aufgefasst werden. Vielmehr sind Geist und Seele trotz der zwischen ihnen liegenden Transzendenzstufe letztlich Ausprägungen des einen Seins, während das Eine dem Sein überhaupt transzendent und damit etwas prinzipiell Anderes ist. Die geistige Annäherung an das Eine kann daher etwas Beängstigendes und Schmerzhaftes haben, weil sie als ein Verlust des festen Halts in der Realität empfunden wird (VI 9 [9],3,1–10; 51–54; 7,1; V 5 [32],6,24–25). Auf der anderen Seite empfindet die Seele einen unaufhebbaren Drang über die Realität hinaus und in Richtung des Einen (V 3 [49],17,15–20; Plotin nimmt hier

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die Geburtswehen-Metapher der sokratischen Maieutik auf, vgl. Plat. Tht. 148e; 149d). Wie gesehen, entzieht sich bereits die Einheit-Vielheit des Geistes der sprachlichen Erfassung; sprachliche Aussagen über den Geist sind Transpositionen seiner Gehalte auf die Ebene des diskursiven Denkens und gelten nur im analogen Sinne. Beim Einen ist dagegen nicht einmal analoges Sprechen möglich. Eine aus Subjekt und Prädikat bestehende Aussage beschreibt stets die Relation zwischen mindestens zwei Aspekten ihres Gegenstandes; ein absolut einfacher Gegenstand ist durch sie nicht zu erfassen (s. Abschn. 43.6). Selbst die übersprachliche Erkenntnisform des Geistes enthält noch die Unterscheidung zwischen Erkennendem und Erkanntem, auch wenn die zwischen beiden bestehende Relation die Identität ist. Das absolut Einfache wird daher auch vom geistigen Erkennen notwendig verfehlt (VI 7 [38],38,10–25; III 8 [30],9,29–32). Der bei Plotin häufigste Versuch einer begrifflichen Annäherung an das Eine ist daher die sogenannte negative Theologie, bei der die das Sein auszeichnenden Eigenschaften für das erste Prinzip systematisch negiert werden. Plotin beruft sich hierfür auf die Erste Hypothese des Parmenides, wo die Voraussetzung, „dass Eines ist“, dazu führt, dass dem Einen alle möglichen Prädikate und zuletzt sogar das Sein und das Einssein abgesprochen werden (Plat. Parm. 137c–142a; V 1 [10],8,23–27). Als Ursache von allem ist das Eine selbst nichts von allem (III 8 [30],10,28– 31; V 1 [10],7,18–22); es ist ohne Identität, Differenz, Bewegung und Stillstand, es ist unaussprechlich, undenkbar, unerkennbar, formlos und ohne Sein (VI 9 [9],6; V 5 [32],10). Auch der Titel ‚das Eine‘ schreibt ihm nicht im positiven Sinne Einheit zu, sondern ist nur eine Art Kurzformel für die Negation jedes möglichen Prädikats (V 5 [32],6,26–28); in letzter Konsequenz ist auch er dem Einen noch mit Platon abzusprechen (V 2 [11],1,1 nach Plat. Parm. 160b3). Freilich trifft auch die negative Theologie als eine sprachliche Ausdrucksform das ‚Wesen‘ des Einen nicht. Wie die beiden anderen aus dem Mittelplatonismus ererbten Formen des theologischen Sprechens – die Analogie (via

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analogiae) und die Übersteigerung (via eminentiae; vgl. Alcin. Didasc. 10, p. 165,5–34 Whittaker/Louis) – ist auch sie nur der Versuch, sich dem Einen vom Seienden her anzunähern (V 3 [49],14,1–8). Plotin privilegiert sie gegenüber den anderen viae lediglich deswegen, weil sie weniger als diese gefährdet ist, Inhalte und Strukturen des Seienden in das erste Prinzip zu importieren. Die negative Theologie birgt freilich das Risiko, dass die Negationen als Privationen missverstanden werden und das Eine als ‚leer‘ oder gar nichtexistent aufgefasst wird. Insbesondere in der Schrift VI 8 [39] Über die Freiwilligkeit und das Wollen des Einen schreibt Plotin dem Einen daher in experimenteller Weise positive Prädikate wie Freiheit, Selbstbestimmung und sogar eine Art „Über-Denken“ (VI 8 [39],16,32: hypernoêsis) zu, die zwar nicht im Wortsinne zutreffen, aber sachgerechter und für die Annäherung an das Unsagbare förderlicher sind als ihre privativen Gegenstücke (‚unfrei‘, ‚fremdbestimmt‘, ‚denkunfähig‘). Plotins Standardposition ist freilich, dass das Eine nicht Geist ist und nicht denkt oder erkennt – weder sich selbst noch irgendetwas anderes. Für dieses Paradoxon argumentiert Plotin mit einiger Ausführlichkeit (VI 9 [9],6,42–55; V 6 [24]; VI 7 [38],36–41; V 3 [49],10–17). Zwar ergibt es sich logisch zwingend aus der Seinstranszendenz des Einen und aus der Tatsache, dass Erkenntnis – selbst in ihrer höchsten und einheitlichsten Form, der Selbsterkenntnis des Geistes – stets die Zweiheit von Erkennendem und Erkanntem impliziert. Problematisch ist es aus antiker philosophischer und religiöser Perspektive jedoch insofern, als das Eine nicht nur das erste Prinzip, sondern auch der höchste Wert und der höchste Gott ist (s. Abschn. 24.3). Plotins negative Theologie spricht also in einer in der griechischen Kultur und Philosophie bis dahin ungekannten Weise Gott Vernunft und Erkenntnis ab. Aristoteles identifiziert bekanntlich Gott mit dem sich selbst denkenden Geist; die Mittelplatoniker halten auch dann, wenn sie mit der Politeia die Seinstranszendenz des Ersten behaupten, in der Regel an dessen Geist-Charakter fest (Alcin. Didasc. 10, p. 164,18–31 Whittaker/Louis; Numen. fr. 19 des Places). Plotin da-

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gegen begründet seine These mit dem Argument der Selbstgenügsamkeit: Jede Zuschreibung von Eigenschaften, auch hochwertigen wie Denken oder Vernunft, würde das Eine nicht bereichern, sondern in seiner Autarkie beschränken. Besäße es Selbsterkenntnis, so wäre es, wie der Geist, auf seine Kenntnis von sich selbst angewiesen. Das Eine ist aber auf nichts angewiesen, nicht einmal auf sich selbst; es besitzt kein Wissen, weil es keines braucht (VI 9 [9],6,16–50; VI 7 [38],41,1–32; V 3 [49],13). Diese scheinbare Negativität des Einen steht in einer gewissen Spannung zu seiner Rolle als universaler Ursache. Plotin charakterisiert es als „alles ermöglichende Wirkkraft“ (III 8 [30],10,1: dynamis tôn pantôn; vgl. V 4 [7],2,38; V 1 [10],7,9–10; VI 7 [38],17,33; V 3 [49],15,32–33) oder als reine, seinslose Aktivität (VI 8 [39],20,9–15) und schreibt ihm Vollkommenheit, überströmende Kraft und neidlose Güte zu (V 2 [11],1,7–9; V 4 [7],1,34–36). Aufgrund solcher Aussagen und einiger Stellen, die ein Quasi-Selbstbewusstsein und eine Selbstunterscheidung des Einen zu suggerieren scheinen (V 4 [7],2,15–19; VI 8 [39],16,32), haben manche Forscher von einem – um die pluralen Züge des Selbstdenkens reduzierten – „mentalen Leben“ des Einen gesprochen (Emilsson 2017, 82–89) oder davon, dass es das von ihm verursachte Seiende zwar nicht in eminenter, aber in „virtueller“ Weise enthält (Gerson 1994, 32– 33). Man stößt hier an dieselben Grenzen des sprachlich Aussagbaren, mit denen schon Plotin selbst konfrontiert ist. Zu bedenken ist jedenfalls, dass positive Aussagen über die Wirksamkeit des Einen als Prinzip, nicht zuletzt das Prädikat ‚Ursächlichkeit‘ selbst, sich für Plotin lediglich auf die Relation des Seienden zu seinem Prinzip, nicht aber auf dieses selbst und sein Wesen beziehen (VI 9 [9],3,49–54).

6.4.2 Das Gute als Ziel Plotins vor dem Hintergrund der negativen Theologie zunächst überraschend wirkende Gleichsetzung des Einen mit dem Guten (to agathon) ist unter exegetischem Aspekt eine

6  Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick

Identifikation des Einen der Ersten Hypothese des Parmenides mit der ‚Idee des Guten‘ der Politeia. Das Eine und das Gute sind zwar gleichberechtigte Bezeichnungen des ersten Prinzips (II 9 [33],1,1–6), aber keineswegs austauschbare Synonyme. Auch wenn Plotin nicht mit terminologischer Strenge verfährt, lassen sie sich weitgehend zwei Perspektiven auf die kausale Wirksamkeit des Ersten zuordnen: Das Eine beschreibt es als Ursprung, das Gute als Ziel. Das Gute, verstanden als Ziel, ist der zentrale Begriff der antiken Ethik, deren entscheidende Frage die nach dem höchsten Gut und Ziel (telos) allen menschlichen Handelns war, dessen Erreichen Glückseligkeit garantierte. Im Gegensatz zu den hellenistischen Schulen und zum Mittelplatonismus verzichtet Plotin auf eine ‚Telosformel‘ oder inhaltliche Bestimmung des höchsten Guts: Könnte man angeben, was es ist, so wäre es nicht mehr „jenseits des Seins“, sondern Teil des Seienden. Stattdessen legt er das Augenmerk auf die schon für Platon und Aristoteles grundlegende formale Definition, nach der das Gute dasjenige ist, wonach alles strebt (I 6 [1],7,1–2; V 5 [32],12,7–8; 23–24; VI 5 [23],1,11–12; Plat. rep. 6, 505d–e; Aristot. Eth. Nic. 1,1, 1094a1–3). Der Begriff des Strebens hat seinen angestammten Platz in der Ethik, weil er Bewusstsein vorauszusetzen und damit auf Menschen (allenfalls Tiere) beschränkt zu sein scheint. Plotin gibt ihm aber eine metaphysische Erweiterung: Streben ist etwas, das das Sein jedes Seienden mit ausmacht. Alles, was ist, definiert sich durch den Bezug zu etwas ihm Übergeordnetem, das es niemals vollkommen erreicht, zu dem es aber zugleich durch sein ewiges Streben in einem Näheverhältnis steht. Das Sein jedes Seienden ist in diesem Sinne eine ständige Balance zwischen dem Erreichen und Nichterreichen des Ziels, zwischen dem Überschreiten seiner selbst und dem totalen Zerfall (vgl. VI 4 [22],2,34–39; 8,37–45; III 8 [30],11,23–25 über die Relation des Geistes zum Guten: „es unausgesetzt erstrebend und unausgesetzt erreichend“). Betrachtet man das transzendente Objekt dieses Strebens jeweils als das Gut des Strebenden, so gelangt man zu einer Analogieformel, die verschiedene Stufen

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des Guten benennbar macht: Für die Materie ist das Gute die Form, für die Seele die Tugend und damit der Geist. Für den Geist selbst als die Totalität des Seienden ist freilich nur eine Tautologie möglich: Das Gute für ihn ist das Gute (VI 7 [38],25,16–28; vgl. III 8 [30],10,23–28). Das universale Streben nach dem Guten ist das Phänomen, durch welches das Seiende über sich selbst hinausweist; dies entspricht strukturell und sachlich der Art und Weise, wie das Seiende durch seine Vielheit auf eine es begründende transzendente Einheit verweist. Der Begriff des Guten sagt dabei ebenso wenig wie der des Einen etwas über das Wesen des Ersten an sich aus: Das Gute ist nicht für sich selbst, sondern nur für anderes gut (VI 7 [38],41,28–31; VI 9 [9],6,39–42); sogar eine negative Theologie des Guten ist möglich (V 5 [32],13).

6.4.3 Warum ist überhaupt etwas außer dem Einen? Das Sein selbst verweist also durch seine Struktur auf eine seinstranszendente Ursache, ein absolut einfaches und sich selbst genügendes Prinzip. Damit erhebt sich die Frage: Warum ist überhaupt etwas außer dem Einen? (vgl. Beierwaltes 2010, 11). Die an dieser Stelle auftretende, unter neuplatonischen Denkvoraussetzungen unvermeidliche Aporie wird von Plotin selbst mit aller wünschenswerten Deutlichkeit formuliert (vgl. V 1 [10],6,2–8): Dass Vielheit Einheit voraussetzt, ist logisch zwingend – die ‚henologische Reduktion‘ führt mit logischer Notwendigkeit auf ein absolut einheitliches Prinzip. Umgekehrt ist es jedoch unmöglich, aus einer sich selbst genügenden Einfachheit und Einheit logisch Vielheit abzuleiten. Plotin durchdenkt dieses Problem an zahlreichen Stellen des Gesamtwerks immer wieder von neuem (V 4 [7],2; V 1 [10],7; VI 7 [38],16–17; V 3 [49],11). Dabei geht es ihm nicht darum, mit den Mitteln des diskursiven Denkens eine logisch stringente, abschließende Lösung zu formulieren. Vielmehr handelt es sich um den stets wiederholten Versuch, das eigentlich Undenkbare zu denken – um eine geistige Übung, mit

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der das Denken durch Reflexion auf sich selbst und seine Grenzen über sich hinaus zu gelangen sucht und die prinzipiell unabgeschlossen ist. Die durchgängig wiederkehrende Grundfigur dieser Überlegungen ist, dass sich das Seiende, indem es sich dem Einen zuwendet, selbst konstituiert. Denn für das Eine ist es ohne Belang, ob außer ihm noch etwas existiert oder nicht (V 5 [32],12,40–45); ein intentionaler Schöpfungsakt widerspräche seiner Selbstgenügsamkeit und Einfachheit. Diese Selbstkonstitution des Seienden ist kein in der Zeit ablaufender Prozess, da zeitliche Prozesshaftigkeit erst auf der Ebene der Seele existiert (V 1 [10],6,19–22; vgl. VI 7 [38],35,27–33; III 7 [45],11); es geht nicht um eine Entstehungsgeschichte, sondern um eine besondere, inkommensurable Form von Kausalität. Im Einzelnen lassen sich drei Aspekte des Problems unterscheiden: 1) Warum existiert überhaupt etwas außer dem Einen? 2) Warum ist das, was außer dem Einen existiert, Geist, d. h. eine Zweiheit von Erkennendem und Erkanntem? 3) Warum ist es Sein, d. h. ein geordnetes System vieler Formen? Den eigentlich kritischen Punkt enthält die erste dieser drei Fragen. Plotin beantwortet sie mit dem Hinweis auf die „überströmende Fülle“ (V 2 [11],1,8–9) oder „neidlose Güte“ des Einen (V 4 [7],1,34– 36) und auf seinen Charakter als „alles ermöglichende Wirkkraft“ (III 8 [30],10,1: dynamis tôn pantôn; vgl. V 1 [10],7,9–10 etc.). Um diese im Grunde nur den Prinzipienrang des Einen benennenden Qualifizierungen zu einer Kausalitätstheorie auszuarbeiten, greift er auf die Theorie der zweifachen Aktivität (energeia) zurück. Alles, was ist, besitzt die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwirken; es besitzt eine nach außen gerichtete Aktivität. Was keine solche Aktivität hat und wie ein lebloser Stein ganz auf seine Grenzen beschränkt bleibt, ist defizitär (vgl. VI 5 [23],11,7–11). Das Eine ist aber nicht defizitär, sondern das Vollkommenste überhaupt. Folglich setzt es durch seine bloße Existenz eine nach außen gerichtete Aktivität frei (V 1 [10],6,27–39). Diese Aktivität ist ‚zunächst‘ völlig unbestimmt und undifferenziert, da das Eine selbst allen Bestimmungen trans-

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zendent und im positiven Sinne unendlich ist (s. Abschn. 47.2). Plotin gibt ihr lediglich die Bezeichnung ‚Leben‘, weil jede Aktivität Leben ist (VI 7 [38],17,12–16), oder er charakterisiert sie wegen ihrer Formbarkeit als intelligible Materie (II 4 [12],5; s. Abschn. 34.2). Um die Bestimmung dieses unbestimmten Lebens bzw. dieser intelligiblen Quasi-Materie zu Sein und Geist zu erklären, verwendet Plotin ein Denkmodell aus der Psychologie des Aristoteles. Hiernach sind kognitive Vermögen wie das Sehvermögen (opsis) und das geistige Erkenntnisvermögen (nous) als solche sowohl unbestimmt als auch intentional, d. h. sie verlangen nach einem sichtbaren bzw. denkbaren Gegenstand, auf den sie sich richten können und durch den sie zu einem tatsächlichen Akt des Sehens bzw. geistigen Erkennens bestimmt werden (vgl. Aristot. an. 3,2, 426a13–14; 3,3, 428a6–7; 3,4, 429a13–18, aufgenommen insbesondere in V 1 [10],5,17–19; III 8 [30],11,1–8; VI 7 [38],17,14– 21; V 3 [49],11,4–5). In analoger Weise wendet sich, so Plotin, die äußere oder Lebensaktivität des Einen „sehnsüchtig“ auf das Eine als seinen Ursprung und als den einzigen und zugleich besten ihr zur Verfügung stehenden Gegenstand zurück (V 1 [10],6,50–53). Durch diese Rückwendung definiert und konstituiert sie sich gemäß dem aristotelischen Muster als Erkenntnisakt, d. h. als Geist. Freilich setzt diese Selbstdefinition als Geist eigentlich einen der Kapazität eines geistigen Vermögens entsprechenden, d.  h. geistig erkennbaren Gegenstand voraus. Das Eine ist jedoch weder geistig erkennbar noch ein Gegenstand. An dieser Stelle wird die Ausdrucksweise Plotins notgedrungen metaphorisch: Der Geist „sieht das Eine nicht als Eines“, sondern als etwas geistig Erkennbares; er vermag die Einfachheit des Einen nicht zu erfassen und „zerschlägt“ sie in die Vielheit des Seins, die dann zum Gegenstand seines Erkennens wird (V 1 [10],7,1–26; III 8 [30],8,30– 34; VI 7 [38],15,13–22; 17,1–27; V 3 [49],11,1– 16). Er bestimmt sich also zur Erkenntnis seiner selbst als der Totalität des Seienden und damit zum vollgültigen Geist, weil sein Versuch, das Eine zu erkennen, scheitert. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich derartige Metaphern nicht

6  Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick

in eine begriffliche Sprache übersetzen lassen (vgl. Emilsson 2017, 93). Aussagekräftig sind sie dennoch: So zeigt die Metapher des Scheiterns an, dass für die Selbst- und Seinserkenntnis des Geistes ungeachtet ihrer Vollkommenheit ein Moment der Unbestimmtheit und ein intentionaler Bezug auf etwas nicht mehr Seiendes konstitutiv bleiben.

6.5 Die Einswerdung und das Selbst Der Weg zur Erkenntnis der plotinischen Prinzipien ist generell die Wendung nach innen (V 1 [10],10,1–31; V 8 [31],11,9–10; VI 5 [23],7,11– 12; neben die Metaphorik des stufenweisen Aufstiegs tritt daher häufig das Bild des Kreises und der Wendung zum Mittelpunkt, vgl. VI 5 [23],5; VI 8 [39],18,1–32; VI 9 [9],8,3–16). Um den Geist zu erkennen, muss man selbst Geist werden und als Geist die Totalität des Seienden und sich selbst erkennen (IV 8 [6],1,1–11; VI 5 [23],12). Das Eine-Gute liegt noch jenseits des Geistes und ist sogar für die geistige Erkenntnis nicht fassbar; der Geist ist im Gegenteil gerade deswegen Geist, weil er an der Erkenntnis des Einen scheitert. Plotin glaubt dennoch, dass eine „Über-Erkenntnis“ (VI 8 [39],16,32: hypernoêsis) des Einen möglich ist, die indes von den für die geistige Erkenntnis (noêsis) konstitutiven Momenten der Zweiheit und Pluralität frei und insofern strenggenommen überhaupt keine Erkenntnis ist (VI 7 [38],39,18–20). Sie ist nicht Selbst-Erkenntnis, weil das Erkennende in diesem Moment nicht einmal mehr ein Selbst ist (VI 9 [9],10,20–21; 11,11–12; VI 7 [38],34,12–14), sondern eine Art ‚Einswerdung‘, die gänzlich differenzlos und daher unbenennbar ist. Plotin beschreibt sie experimentell mit einer Fülle von Metaphern, die er dem haptischen, optischen und auch dem erotischen Bereich entnimmt; besonders einprägsam ist das freilich nur einmal belegte Bild des „Aus-sichHeraustretens“ (VI 9 [9],11,23: ekstasis). Diese der paradoxen Realität des Guten entsprechende paradoxe Erkenntnisform ist die Mystik Plotins (s. Kap. 36). Auch wenn die sprachlich-

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argumentativen Mittel der Philosophie hier versagen, sind sie doch nicht überflüssig: Das Bemühen um zutreffende Aussagen über den Geist, das Gute und das Eine und die nachträgliche Reflexion der Erfahrung der Einheit sind die notwendige Vorbereitung und Begleitung des Weges zum Ziel der Philosophie, das in der Einswerdung mit dem Höchsten besteht. Eben dies ist der Sinn und Stellenwert von Plotins mündlichem und schriftlichem Lehren und der uns in der Form der Enneaden vorliegenden philosophischen Texte (VI 7 [38],36,1–10; V 8 [31],11,13–19; V 5 [32],6,21; VI 9 [9],4,11–16). Der Begriff des Selbst ist in Plotins Philosophie prominenter und auch differenzierter als in der älteren griechischen Philosophie. In der neueren philosophischen Forschung hat er großes Interesse gefunden, auch weil er zum Vergleich mit der neuzeitlichen Subjektphilosophie einlädt (s. Kap. 42). Terminologisch gebraucht Plotin in erster Linie das Pronomen der ersten Person Plural hêmeis (‚wir‘) und seltener das Pronomen der dritten Person autos (‚selbst‘). Hierin kommt eine philosophische Innen- oder Ich-Perspektive zum Ausdruck, die durch die übliche Übersetzung mit ‚Selbst‘ und auch durch den in den modernen Sprachen meist notwendigen Zusatz des bestimmten Artikels (‚das Wir‘, ‚the We‘) verdunkelt wird, aber von Bedeutung ist. Man darf das plotinische Selbst oder ‚Wir‘ nicht verdinglichen, indem man es als ein mit der Seele oder dem Geist vergleichbares Prinzip behandelt. Das Selbst ist zunächst in der Anthropologie wichtig. Hier nimmt Plotin eine Differenzierung des platonischen Grundsatzes vor, dass „der Mensch nichts anderes ist als seine Seele“ (Ps.-Plat. Alc. 1 130c; s. Abschn. 35.1). Der empirische Mensch ist ein Kompositum aus Körper und Seele. Diese beiden Elemente stehen nicht dualistisch nebeneinander. Die Seele ist vom Körper unabhängig und bleibt ihm innerhalb des Kompositums transzendent; durch ihre Nähe verleiht sie ihm jedoch eine immanente Form, eine ‚Spur‘ von Leben, die ihn für die Seele aufnahmefähig macht und ihn in den Stand setzt, mit ihr ein einheitliches Lebewesen zu bilden (I 1 [53],7,1–7; VI 4 [22],15,8–16;

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IV 4 [28],20,14–16; Plotin gebraucht die Metapher vom erleuchteten oder erwärmten Luftraum, vgl. IV 3 [27],22,1–7; IV 4 [28],18,1–10). Unser Selbst ist zunächst das Selbst- oder IchBewusstsein des körperlich-seelischen Mischwesens. Es ist nicht das Bewusstsein der reinen Seele, insofern sie außerhalb des Körpers steht und von ihm unbeeinflusst ist, sondern schließt den Körper mit ein (I 1 [53],7,6–9; VI 4 [22],15,17–18; V 1 [10],12,5–7; IV 8 [6],8,1– 13). Dies entspricht der phänomenalen Realität unseres Daseins als psychophysische Lebewesen: Obwohl unsere Seele als immaterielle und körpertranszendente Realität von Affekten und Übeln unbetroffen ist, machen ‚wir‘ (unser Selbst) die Erfahrung, dass wir körperlichen Empfindungen ausgesetzt und dem physischen und moralischen Übel unterworfen sind (I 1 [53],9,1–4; VI 4 [22],16,1; zur Affektfreiheit der Seele ausführlich III 6 [26],1–5). Angesichts dieser Situation ist das uns von Natur aus innewohnende Streben nach dem Guten, das uns zum inneren Aufstieg drängt, auch ein Streben nach Erlösung. Es ist charakteristisch für das Denken Plotins, dass dieses Erlösungsbedürfnis von niemandem erfüllt werden kann als von uns selbst. Trotz gelegentlicher Gebetsmotivik gibt es bei ihm keine ‚Theologie‘ des Aufstiegs in dem Sinne, dass dieser durch göttliche Hilfe unterstützt werden müsste, wie es im späteren Neuplatonismus und erst recht in der christlichen Gnadenlehre der Fall ist. Der defizitäre ‚Normalzustand‘ unseres Selbst ist in Plotins Augen keine deterministische Festlegung; es ist für das plotinische Selbst vielmehr wesentlich, dass es gerade keine festen Grenzen hat. Wie wir unser Selbst bestimmen, ist unsere eigene freie Entscheidung, und es ist die Aufgabe der Philosophie, diese Entscheidung so zu unterstützen, dass sie zu einem guten, gelingenden Leben und zur Realisierung der höchsten Möglichkeit des Menschen führt. Wir können unseren Körper ins Zentrum unserer Tätigkeit stellen und ‚uns‘ (unser Selbst) gänzlich mit dem psychophysischen Lebewesen identifizieren oder, wie man aus Plotins Sicht sagen müsste, es auf dieses reduzieren. Wir können unsere Aktivität

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aber auch auf das rationale Denken zentrieren, das schon im Normalzustand das bewusste Zen­ trum unseres Daseins ist (I 1 [53],7,16–17; V 3 [49],3,28). Insofern das Denken eine vom Körper unabhängige, rein seelische Aktivität ist, erlaubt es uns, uns über unser psychophysisches Dasein zu erheben und unser Selbst als die reine Seele zu bestimmen. Plotin spricht daher von einem „doppelten Selbst“, je nachdem, ob wir uns an den Körper und seine Leidenschaften binden oder von ihm frei machen (I 1 [53],7,16– 24; 10,5–10). Der inneren Lösung vom Körper dienen die Tugenden, etwa die Selbstbeherrschung als Befreiung von den Begierden oder die Tapferkeit als Befreiung von Furcht. Plotin nennt diese Tugenden in Anlehnung an Platon reinigende (‚kathartische‘) Tugenden (I 6 [1],6,1–16; I 2 [19],3–6; Plat. Phaid. 82e– 83a; s. Kap. 45). Plotin vertritt zwar keine radikal körperfeindliche Askese; da der lebende Körper Teil unseres Selbst ist, hat er Anspruch auf unsere Fürsorge (V 1 [10],12,18–19; VI 4 [22],15,37–38). Doch darf diese von der Seele keine übertriebene Aufmerksamkeit fordern (Vorbild ist die gelassene, unangestrengte Lenkung des Weltkörpers durch die Weltseele, vgl. II 9 [33],2,10–15). Nach Plotins Idealvorstellung hat sich der neuplatonische Weise so weit von seinem Körper dissoziiert, dass dieser für ihn ein „anderer Mensch“ ist, dem er das Notwendige gibt, dessen Empfinden und Leiden ihn aber letztlich nicht berührt (VI 4 [22],14,22–26; I 2 [19],6,7–11; I 4 [46],4,25–36). Für den Weisen gilt wieder der alte platonische Grundsatz, dass Mensch und reine Seele identisch sind. Die Seele und das diskursive Denken sind indessen noch nicht die höchste uns erreichbare Tätigkeitsstufe und daher auch nicht die Grenze unseres Selbst. Da zwischen Seele und Geist Kontinuität besteht und der oberste Seelenteil für Plotin immer auf der Geist-Ebene verbleibt, gehört auch der Geist zu ‚uns‘, auch wenn wir ihn nicht immer „gebrauchen“ (V 3 [49],3,21– 45). Auch das geistige Erkennen ist folglich eine Möglichkeit, die dem Selbst offensteht; man kann sogar sagen, dass es erst auf dieser Ebene ganz zu sich selbst kommt, weil nur der Geist Selbsterkenntnis im eigentlichen Sinne besitzt

6  Plotins Philosophie: ein systematischer Überblick

(V 3 [49],2–4; 6,18–43). Plotin spricht sogar davon, dass die Daseinsform im Geist unser ursprüngliches und wahres Selbst und Menschsein ist, das lediglich durch die körperlichen Zusätze auf das Selbst der Erfahrungswelt reduziert wird (VI 4 [22],14,16–26). Die Wiedergewinnung dieses wahren Selbst ist insofern nicht eigentlich ein ‚Aufstieg‘ und auch keine Wiedererinnerung im platonischen Sinne, sondern die Aktualisierung und das Bewusstmachen von etwas, das wir immer schon haben, das aber wegen der Bindung an die Erfahrungswelt und der Prägung unseres Selbst durch die sinnliche Wahrnehmung und das auf ihr fußende diskursive Denken in der Regel inaktiv und uns unbewusst ist (IV 3 [27],25,25–34). Man kann darüber diskutieren, ob der höchste, stets im Geist verbleibende Seelenteil selbst Geist und damit letztlich eine platonische Idee ist oder ob der Unterschied zwischen Geist und Seele auch auf dieser höchsten Ebene trennscharf bleibt. Fest steht jedoch, dass der Imperativ der Aktivierung des wahren Selbst zugleich eine Forderung der Entgrenzung ist. Der Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den wir im empirischen Normalzustand als ‚uns selbst‘ wahrnehmen, ist sehr klein – er ist beschränkt auf das Selbstbewusstsein unserer psychophysischen Existenz. Die Einswerdung mit der Seins- und Erkenntnisform des Geistes bedeutet nichts Geringeres als die Erweiterung dieses Selbst auf die Totalität des Seienden (VI 5 [23],12). Als Methode zum Erreichen dieses Ziels empfiehlt Plotin eine geistige Übung, die er aphairesis nennt (‚Wegnahme‘, auch ‚Negation‘; s. Abschn. 38.1). Jede Begrenzung und jede Definition ist die Abgrenzung vom Anderen (vgl. V 5 [32],6,5–8) – ein individueller Mensch definiert sich dadurch, dass er kein anderer Mensch ist usw. Im körperlichen Bereich sind diese Abgrenzungen räumlicher Art – ein Körper, der von einem anderen nicht räumlich getrennt ist, ist von ihm auch nicht verschieden. Diese Regel gilt jedoch nur für das materielle Sein, nicht für das Sein überhaupt. Bei der aphairesis führt man sich das vor Augen, indem man die räumliche und zeitliche Trennung der Gegenstände nach und nach aufhebt, ohne ihre Differenz aufzuheben, sodass man schließlich

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eine Vorstellung vom Seienden gewinnt, in der alles eins und dennoch unterscheidbar ist. Gelingt es schließlich, auch die Grenze zwischen diesem Seienden und sich selbst aufzuheben, so gelangt man zu einer perspektivierten Einheit mit dem geistigen Seienden als ganzen, in der man zugleich man selbst und die Totalität aller anderen Seienden ist (VI 5 [23],7,9–17; 12,7–19; V 8 [31],9,1–14; V 8 [31],11). Plotin setzt diese Entgrenzung des Selbst, die man mystisch nennen kann, nirgends mit einem Aufgehen im Ganzen unter Verlust des individuellen Selbst gleich. Man könnte also von einer Einswerdung mit dem Geist-Ganzen unter Bewahrung der Individualität sprechen – einer Individualität freilich, für die historische, soziale und Umwelteinflüsse und sogar die persönliche Erinnerung keine Rolle spielen (IV 4 [28],1–2). Vom empirisch-menschlichen Standpunkt aus ist dies ohne Frage befremdlich, aber die Bedeutung dieser Dinge schwindet angesichts der Bereicherung durch die Diversität des geistigen Seins. Die Einswerdung mit dem Geist bedeutet Einheit mit dem Sein, Wiedergewinnung unseres wahren Selbst und echte Selbsterkenntnis. Doch die Erkenntnis des Einen oder Guten ist das noch nicht. Das Eine liegt jenseits des Seins, und die Forderung der aphairesis ist hier entsprechend radikaler: „Verzichte auf alles“ (V 3 [49],17,38: aphele panta; vgl. VI 8 [39],21,26; I 6 [1],8,25). Dies meint nicht nur die Ablösung vom körpergebundenen Dasein und den körperlichen Bedürfnissen im geläufigen Sinne platonischer Askese, sondern das Hinausgehen über das Sein überhaupt, über die geistige Erkenntnis, das Bewusstsein und das Selbst (VI 9 [9],11,11– 12). Das Eine ist nichts von allem; man muss also selbst nichts werden, wenn man das Eine sein will (vgl. VI 9 [9],7,12–16). Diese Art der aphairesis ist offenkundig mit der negativen Theologie verwandt. Aber die negative Theologie ist eine Methode, mit sprachlich-rationalen Mitteln zu einem Quasi-Begriff vom Einen zu gelangen, und hat vorbereitenden Charakter, während aphairesis auf unsere existentielle Vereinigung mit dem Einen zielt. Es liegt auf der Hand, dass dieses Zurücklassen von allem, was

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uns als seiende und geistige Wesen auszeichnet, etwas Beängstigendes hat – Plotin bemerkt, dass die Angst vor der ‚Vernichtung‘ zum Scheitern des Aufstiegs und zum Rückfall ins Sinnliche führen kann (VI 9 [9],3,4–9). Andererseits hat der Aufstieg neben der kognitiven auch eine affektiv-erotische Seite. In diesem Sinne bedeutet das ‚Außerhalb-unserer-selbst-Sein‘ (die plotinische ekstasis, vgl. VI 9 [9],11,23) gerade die Erfüllung unseres tiefsten inneren Bedürfnisses. Plotin spricht wiederholt davon, dass etwas in uns dem Einen-Guten „ähnlich“ und mit ihm „verwandt“ ist (VI 9 [9],4,27–28; 8,28– 29; III 8 [30],9,22–23). Wäre dies nicht so, hätten wir keinerlei Beziehung zum Guten; es wäre für uns unerreichbar, und wir würden nicht einmal von seiner Existenz wissen. Diese Gegenwart des Guten in uns drückt sich durch unser angeborenes Streben nach ihm aus, genauer gesagt: durch die intensivste Form dieses Strebens – die unmittelbar spürbare, evidente Attraktion, die der Anblick des Schönen auf uns ausübt. In diesem erotischen Kontext erhält das Gute den Charakter des absoluten Schönen (vgl. I 6 [1],7–9; VI 7 [38],32–33; s. Abschn. 39.2). Plotins Grundtext hierfür ist die Diotima-Rede in Platons Symposion, wo der stufenweise Aufstieg des Liebenden von der körperlichen zur geistigen Schönheit und schließlich zu einem transzendenten „Meer des Schönen“ führt (Plat. symp. 210a–211b). Folgt man diesem von Platon vorgegebenen Weg, so gelangt man zunächst wieder zum Geist, d. h. der intelligiblen Schönheit, die das Höchste ist, was man lieben kann (V 8 [31],9,36–47). Fragt man jedoch, was man am Geist eigentlich liebt, so kommt man zu einem erstaunlichen Ergebnis. Wäre der Geist – wie Plotin in einem kühnen Gedankenexperiment formuliert – nichts als reines Sein und Erkennen, so besäße er für die Seele keine Anziehungskraft. Sie würde zwar seine Vollkommenheit anerkennen, aber von ihr letztlich unberührt bleiben. Dass die Seele die geistige Schönheit liebt, kommt nicht von dem, was der Geist wesensmäßig ist, sondern von einer Lebendigkeit, einem Zauber, Charme (charis) oder Licht, das aus dem Sein des Geistes nicht

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erklärbar oder auf dieses reduzierbar ist, sondern auf und über ihm liegt (VI 7 [38],22; vgl. V 3 [49],16,16–42). Eben dies ist die Anwesenheit des seinstranszendenten Guten und der Auslöser der erotischen Attraktion. Liebe will über jedes begrenzte, bestimmte Sein hinaus, und sie findet ihre Erfüllung erst im Heraustreten aus sich selbst und der Einswerdung mit dem Unbegrenzten. Für Plotin ist die Seinsordnung wesentlich bestimmt durch den Bezug alles Seienden zur Transzendenz, die es wesensmäßig und unausgesetzt erstrebt, aber nie erreicht. In der Erfüllung des Liebesbegehrens durch die unio mystica mit dem Einen-Guten wird diese Ordnung für einen Moment außer Kraft gesetzt. Streben und Erstrebtes werden eins (vgl. VI 9 [9],9,38–41; VI 7 [38],34,13– 16), und der Unterschied zwischen Liebendem und Geliebtem existiert nicht mehr. Dies scheint Plotin zu meinen, wenn er in der experimentellen Schrift VI 8 [39] über das Eine sagt: „Es ist Liebe und Geliebtes zugleich – es ist Liebe zu sich selbst“ (VI 8 [39],15,1; s. auch Abschn. 33.4).

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Teil III

Traditionen und Kontexte

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Plotin als Exeget Filip Karfík

7.1 Plotins Selbstverständnis als Exeget Platons Plotin will selbst als Philosoph verstanden werden, der nicht Neues sagt, sondern zum richtigen Verständnis dessen verhilft, was schon längst eingesehen und zum Ausdruck gebracht wurde. In der programmatischen Frühschrift V 1 [10], in der er die Theorie vom Hervorgang des Geistes aus dem transzendenten Einen-Guten sowie der Seele aus dem Geist als eine Lehre präsentiert, die man bei Platon vorfindet (V 1,8,1–10 mit Bezug auf Plat. epist. 2, 312e1–4), schreibt er: „Diese Gedanken (logoi) sind nicht neu und nicht erst jetzt, sondern längst (palai) ausgesprochen worden, jedoch nicht offenkundig (mê anapeptamenôs). Die jetzigen Darlegungen sind Interpreten (exêgêtai) jener alten. In der Überzeugung, dass es sich um alte Lehrmeinungen (doxai […] palaiai) handelt, stützen sie sich auf das Zeugnis der Schriften (grammata) von Platon selbst“ (V 1,8,10–14). Platon ist also für Plotin der Kronzeuge einer philosophischen Lehre, die auch anderweitig in den Schriften alter Philosophen zum Ausdruck kam. Plotin weist namentlich auf Parmenides, Anaxagoras, Heraklit, Empedokles und Aristoteles hin (s. Kap. 8 und 11). Diese alle sollen die F. Karfík (*)  Université de Fribourg, Fribourg, Schweiz E-Mail: [email protected]

noetische, unkörperliche Natur des Seins, des Geistes und des Einen gelehrt haben, allerdings in einer undifferenzierten (die Alten vor Platon) oder verfehlten Weise (Aristoteles). Auch Pythagoras mit seinen Nachfolgern sowie Pherekydes sollen die noetische Natur erkannt haben. Nur einige von ihnen gaben sich jedoch die Mühe, diese Erkenntnis in eigenen Schriften auszuarbeiten, andere begnügten sich mit mündlichen Lehren und wieder andere verzichteten darauf gänzlich. Allein bei Platon unterscheide der Parmenides des gleichnamigen Dialogs „präziser“ (akribesteron) zwischen dem ersten, zweiten und dritten Einen (Parm. 137c–157b) und sei auf diese Weise im Einklang mit der Lehre von den drei Naturen: dem Einen, dem Geist und der Seele (V 1,8,14–9,32; Szlezák 1979, 28–45; Guidara 2020, 71–84). An dieser Stellungnahme Plotins zu seinen Vorgängern fallen folgende Aspekte auf. Erstens tritt hier Plotins Anliegen in den Vordergrund, seine eigene Lehre als übereinstimmend mit der Lehre Platons darzustellen (ähnlich VI 3 [44],1,1–2). Darin kommt Plotins Anspruch zum Ausdruck, legitimer Interpret von Platons Gedankengut zu sein, anscheinend aber auch seine Verteidigung gegen den Vorwurf, er sei es nicht (Baltes 2005, 179–185). Zweitens macht Plotin klar, dass Platon nicht der einzige Philosoph der Vergangenheit war, der Zugang zur Wahrheit hatte (vgl. III 7 [45],1,13–14). Was Platon von seinen eigenen Vorgängern und Nachfolgern

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_7

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j­edoch unterscheide, sei die Präzision, mit der er die Beschaffenheit der noetischen Welt darlegte (V 1,8,24: akribesteron; V 1,9,3: to akribes; vgl. Szlezák 1979, 36). Dies macht Platon zur Richtschnur für die Beurteilung der Aussagen sowohl seiner Vorgänger als auch seiner Nachfolger. Drittens fällt der Nachdruck auf, den Plotin auf die schriftliche Ausarbeitung der Lehre legt. Es sind Platons Schriften (V 1,8,14: grammata), in denen der beste Ausdruck des richtig Erkannten vorliegt und an deren Aussagen die ebenfalls schriftlich vorliegenden Gedanken (V 1,8,22: syngrammata) anderer Philosophen auf ihre Übereinstimmung mit Platons Lehre zu prüfen sind. Den ungeschriebenen Lehrgesprächen (agraphoi synousiai) der Alten misst Plotin dagegen keinen Vorzug bei (V 1,9,30–32).

7.2 Die Kriterien der Exegese Liefern nach Plotins eigener Aussage Platons Schriften den Schlüssel zur Interpretation der Lehrmeinungen seiner Vorgänger und Nachfolger, so stellt sich die Frage, woran sich Plotins Interpretation des Corpus Platonicum selbst orientiert. Plotin verfügt über eine umfangreiche Kenntnis der Platonischen Schriften (Verzeichnis der zitierten Stellen bei HS2, Bd. 3, 348–364; kommentierter Überblick bei Schwyzer 1951, 550–553; Schwyzer 1978, 323–324; D’Ancona 2012, 943–953). Er wählt aus ihnen jedoch gezielt nur Passagen und Formulierungen aus, die in seiner Deutung Platons Lehre zum Ausdruck bringen. Nie kommentiert er einen Dialog im Ganzen. Nie bespricht er die thematische Klassifikation der Dialoge oder die Reihenfolge, in der sie gelesen werden sollen. Nur einige Dialoge zitiert er hunderte bzw. mehrere dutzende Male (Timaios, Politeia, Phaidros, Phaidon, Symposion, Parmenides, Philebos, Sophistes; vgl. Charrue 1987), andere erwähnt er dagegen nie (so die aporetischen Frühdialoge), und wieder andere bemüht er nur selten. Aus den Dialogen, auf die er sich häufig bezieht, wählt er wiederum vorzugsweise nur bestimmte Teile (so die Bücher 6–7 und 10 der Politeia, die Diotima-Rede des Symposions, den letzten Teil des ­Sophistes,

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248a–266e) oder einzelne Formeln aus, bisweilen ohne Rücksicht auf ihren unmittelbaren Kontext oder auch im Widerspruch zu ihm (vgl. Schwyzer 1970 am Beispiel des Philebos; Chiaradonna 2010 am Beispiel von Timaios und Sophistes). Am häufigsten aber kommt er immer wieder auf dieselben wenigen Stellen zu sprechen, in denen er die Grundgedanken von Platons Philosophie bündig ausgedrückt findet (Schwyzer 1951, 552). Dies alles zeigt, dass Plotins Umgang mit den Schriften Platons einem vorgefassten Leitfaden folgt. Wenn nämlich Plotin in seinen eigenen Schriften die PlatonStellen als Wegweiser zur Erkenntnis der Wahrheit aufstellt, so setzt die Auswahl wie auch die Deutung dieser Stellen eine Kenntnis des Zieles voraus, auf das sie hinführen sollen. Dieses Ziel liegt in der Einsicht in die Sachverhalte selbst, die sich dem eigenen Denken darbieten. Den Schlüssel zur Interpretation der Schriften Platons findet Plotin also in der geistigen Schau des unkörperlichen Seins in seinem inneren Aufbau und des dieses Sein selbst transzendierenden Einen, zu der er auch seine LeserInnen führen will (vgl. VI 9 [9],4,11–16 und andernorts, hier mit Bezug auf Plat. epist. 7, 341c). Diese Schau ist aufgrund der bleibenden Verwurzelung der menschlichen Seele im noetischen Bereich (vgl. IV 8 [6],8; VI 4 [22],14 und andernorts; s. Abschn. 6.2) prinzipiell für jeden Menschen erreichbar, der sich dank angeborener musischer, erotischer oder philosophischer Veranlagung mithilfe einer entsprechenden Anleitung und nach der Einübung ins philosophische Denken zur Erkenntnis des unkörperlichen Seins zu erheben weiß (I 3 [20],1–4). Deswegen finden die aus dieser Schau geschöpften Einsichten nicht ausschließlich in Platons Schriften ihren Ausdruck, wenngleich hier am klarsten. Auch Platons Schriften sind allerdings im Lichte der Einsicht in die Beschaffenheit des noetischen Seins selbst zu deuten. Plotins Umgang mit ihnen vollzieht sich infolgedessen in einer Art hermeneutischem Zirkel: Sie werden als Wegweiser zur Erkenntnis der Wahrheit gedeutet, die den eigentlichen Sinn dieser Schriften selbst erst erschließt. Die Grundsätze der Exegese von Platons Schriften fallen also mit den Grundprinzipien

7  Plotin als Exeget

von Plotins eigener Philosophie in eins (s. Kap. 9). Neben der genuin Platonischen Unterscheidung zwischen sinnlich Wahrnehmbarem (aisthêton) und Intelligiblem (noêton), die Plotin auf Parmenides, Pythagoras und Pherekydes zurückführt, sind es die charakteristisch plotinischen Lehren, die in der Sicht der heutigen Forschung nicht nur über das durch die Schriften Platons Intendierte (so sehr dies im Einzelnen auch umstritten sein mag), sondern in ihrer systematischen Geschlossenheit und argumentativen Ausarbeitung auch über das im Umkreis der Alten Akademie (s. Kap. 10) und des Mittelplatonismus (s. Kap. 13) Vorhandene weit hinausgehen. Die wichtigsten Punkte, an denen sich Plotin in seiner Platon-Lektüre sowie in seinem Umgang mit vor- und nachplatonischen Philosophen (zumal mit Aristoteles) orientiert, sind die Transzendenz des Einen-Guten gegenüber dem Sein/Geist/Ideen, die Auffassung der Seele als rein noetischer Wesenheit, die dem eigenständigen Bereich der unkörperlichen Prinzipien angehört, die Auffassung des Geistes sowie der Seele als eines Ganzen, das in jedem seiner Teile enthalten ist, und der „durchgehende strenge Monismus“ (Baltes 2005, 199), der neben dem ersten kein entgegengesetztes Prinzip gelten und das Ganze der noetischen sowie der phänomenalen Welt stufenweise bis einschließlich der Materie aus dem ersten Prinzip hervorgehen lässt. Da das Kriterium der Wahrheit in der unmittelbaren Einsicht in die intelligible Welt liegt, sind selbst die Aussagen Platons an diesem Kriterium zu messen.

7.3 Die exegetische Praxis Die meisten von Plotins Schriften gehen in einer oder anderer Weise auf die Exegese der Platon-Stellen ein. Diese wird jedoch stets in einen übergreifenden Zusammenhang eingebettet, je nach dem Charakter der jeweiligen Abhandlung (s. auch Abschn. 4.1). Oft wirft Plotin am Anfang einer Schrift ein philosophisches Problem auf, das es zu lösen gilt. Im Laufe der Untersuchung werden die systematischen Fragen früher oder später mit den exegetischen Fragen zu

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Platons Schriften verbunden. So stellt Plotin z. B. in der kurzen Frühschrift IV 2 [4] die Frage nach der Wesensbestimmung der Seele, legt zuerst seine Auffassung der Seele als „unteilbares“ noetisches Wesen dar, das lediglich in seinen Einwirkungen auf die „teilbare“ Natur der Körper „teilbar wird“, und schließt dann die Schrift mit dem Zitat aus Plat. Tim. 35a1–4, das er als einen „göttlich rätselhaften Ausdruck“ (to theiôs ênigmenon) eben dieses Sachverhaltes präsentiert (IV 2 [4],2,49–52; vgl. IV 1 [21]; IV 3 [27],4 und andernorts; Schwyzer 1935; Emilsson 2005; Dufour 2006, 221–224; Karfík 2014, 108–109). In der ebenfalls frühen Schrift Über den Abstieg der Seele in die Körper (IV 8 [6]) dagegen geht Plotin bei der Beantwortung der Frage nach dem Grund des Abstiegs der Seele in den Körper direkt auf diesbezügliche Lehrmeinungen der Alten (Heraklit, Empedokles, Pythagoras) und des „göttlichen Platon“ ein. Bei Platon stellt er die Aussagen, die die Verbindung der Seele mit dem Körper negativ werten (Textstellen aus Phaidon, Phaidros und Politeia), denjenigen gegenüber, in denen sie positiv gewertet wird (Textstellen aus dem Timaios). Dieser scheinbare Widerspruch gibt Anlass zu einer Untersuchung über die Gemeinschaft der Seele – der menschlichen wie auch der kosmischen – mit dem Körper, in der Plotin bemüht ist zu zeigen, dass die betreffenden Aussagen einander nicht widersprechen (IV 8 [6],5,1: ou […] diaphônei). Darin folgt er dem exegetischen Grundsatz, nach dem Platon zwar „mehrstimmig“ (polyphônos) ist, nicht aber „mehrere Lehrmeinungen“ vertritt (polydoxos; vgl. Eudoros, fr. 30,1–2 Mazzarelli = Stob. 2,55,5–6 Wachsmuth/Hense). Auch hier jedoch liegt Plotins Absicht weniger darin, Platon gegen den Vorwurf der Widersprüchlichkeit (diaphônia) zu verteidigen, als vielmehr darin, zum eigenen Verständnis eines komplexen Sachverhaltes zu finden, der bei Platon auf diese Weise angedeutet wird (s. auch Abschn. 9.5). In der späten Schrift III 5 [50] geben Platons unterschiedliche Aussagen über den Eros Anlass zu einer Untersuchung, die weitgehend exegetisch angelegt ist (s. auch Kap. 33). Sie eröffnet mit der Frage, ob Eros ein Gott, ein

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Daimon oder ein Affekt der Seele sei. Zu untersuchen sind neben den Auffassungen (epinoiai) sonstiger Menschen insbesondere diejenige der Philosophen und unter diesen letzteren vor allem (malista) die Meinung Platons, der über den Eros „vielerorts vielerlei“ (III 5 [50],5,6: polla pollachê) geschrieben hat. Auch hier entwickelt Plotin auf Grund unterschiedlicher Platon-Stellen (Symposion, Phaidros) seine eigene Eros-Lehre, die zwischen Liebe als einem in der Seele aufkommenden Affekt, Liebe als göttlichem Wesen innerhalb der noetischen Welt und Liebe als einer der Weltseele entspringenden und in der körperlichen Welt vielfach wirkenden daimonischen Macht unterscheidet. Dabei geht Plotin auf eine detaillierte allegorische Auslegung des Diotima-Mythos von der Geburt des Eros ein (vgl. Hadot 1990) und bringt den folgenden Grundsatz für die Deutung der Mythen zum Ausdruck: „Die Mythen, sollen sie Mythen sein, müssen das, was sie sagen, in unterschiedliche Zeitabschnitte zerlegen und Vieles von dem Seienden, das zwar zusammen, dem Rang oder der Macht nach jedoch unterschiedlich ist, voneinander trennen, denn auch die rationalen Darlegungen (logoi) lassen das NichtEntstandene entstehen und nehmen das Zusammen-Seiende auseinander. Wenn sie dann, soweit es möglich ist, ihr didaktisches Ziel erreichen (didaxantes), erlauben sie bereits demjenigen, der es eingesehen hat (noêsanti), das Auseinandergenommene wieder zusammenzubringen“ (III 5 [50] 9,24–29). Damit steht Plotin in der Tradition des seit der Alten Akademie auf den Weltentstehungsmythos von Platons Timaios angewandten hermeneutischen Grundsatzes, wonach an sich entstehungslose (mathematische bzw. kausale) Zusammenhänge „aus didaktischen Gründen“ (didaskalias charin) als entstehend dargelegt werden (vgl. Aristot. cael. 1,10, 282a1; Dörrie/Baltes 1998, 122–129; 426–436; s. Abschn. 10.1). Ähnlich sieht Plotin auch in der hesiodeischen Genealogie von Uranos, Kronos und Zeus das Verhältnis zwischen dem Einen, dem Geist und der Seele angedeutet (V 1[10],7; V 8 [31],12–13 und andernorts; vgl. Hadot 1981; Oliveira 2008/2009; Jurazs 2016; Soares Santoprete 2017; Lo Casto 2018; zu Plo-

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tins allegorischer Mythendeutung vgl. Pépin 1976, 190–209). Der Bedarf, zeitlose Sachverhalte in zeitlicher Abfolge darzulegen, trifft jedoch nach Plotin nicht nur auf Mythen (mythoi), sondern auch auf rationale Darlegungen (logoi) zu. Während nämlich die Erzählform der ersteren den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse widerspiegelt, geben die letzteren den zeitlichen Fortgang des diskursiven Denkens wieder. Allein der über jede zeitliche Abfolge erhobene Geist (nous) ist der synoptischen Erfassung (III 5 [50],9,29: synhairesis) fähig, die vieles ‚zusammen‘ sieht, wie es der geeinten Vielheit des noetischen Seins entspricht (s. Kap. 41). Sowohl die Mythen als auch die rationalen Darlegungen, wie überhaupt jede auf Sprache, Einbildungskraft und diskursives Denken angewiesene Darstellungsform, kann lediglich als vorläufige Hinführung zur Einsicht dienen, die dem zeitenthobenen Geist vorbehalten bleibt. Öfters stellt Plotin seine Platon-Interpretation anderen philosophischen Theorien gegenüber, die er ablehnt (z. B. IV 7 [2] in Bezug auf die Unsterblichkeit der Seele, vgl. Baltes/D’Ancona 2005; Kalligas 2005; Linguiti 2005; Chiaradonna 2005a; Tornau 2005; II 4 [12],8–16 und III 6 [26],6–19 in Bezug auf die Materie, vgl. Dufour 2006, 231–234; Karfík 2022). Diese komplexe exegetische Strategie wählt er z. B. in der dreiteiligen Abhandlung Über die Gattungen des Seins (VI 1–3 [42–44]; s. Kap. 28). Der erste Teil ist einer kritischen Diskussion der These gewidmet, nach der die Kategorien des Aristoteles bzw. der Stoa als Gattungen bzw. Spezies des Seins aufzufassen wären (VI 1). Der zweite Teil bietet Plotins Interpretation der Lehre Platons von den Gattungen des Seins (VI 2). Der dritte Teil geht der Frage der Gattungen im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren nach (VI 3). Die Ansichten der „ältesten Philosophen“ (VI 1,1,1–2: hoi pany palaioi) über das Seiende lässt Plotin in dieser Abhandlung beiseite, da sie durch ihre Nachfolger bereits genügend untersucht geworden seien, und will allein die Lehren dieser letzteren über die Gattungen des Seins unter die Lupe nehmen (VI 1,1,1–7). Dies tut er auch, indem er eine jede der zehn aristotelischen und der vier stoischen Kategorien eingehend

7  Plotin als Exeget

auf die Frage hin untersucht, ob sie ein Genos des Seins bzw. eine Spezies eines solchen bildet. An den Kriterien, die er dafür aufstellt und zu denen der für ihn grundlegende Unterschied zwischen Noetischem/Unkörperlichem und Ais­ thetischem/Körperlichem sowie die Synonymie eines Genos gehören, scheitern alle diese Kandidaten. Der pars destruens (VI 1) folgt dann die pars construens: „Folglich sollten wir sagen, was denn uns selber unsere Meinung darüber zu sein scheint, indem wir versuchen, diese auf die Meinung Platons zurückzuführen“ (VI 2,1,3–5). Dies tut Plotin, indem er von zwei Thesen Platons ausgeht: der Ablehnung des Monismus des Seins (VI 2,1,13–14, ohne Zitate, aber wohl mit Bezug auf Sophistes und Parmenides) und der Unterscheidung zwischen Sein und Werden (VI 2,1,17–30, belegt durch Zitate aus Plat. Tim. 27d–28a). Beide Thesen zusammen stecken den Rahmen des positiven Teiles der Darlegung ab: Zuerst wird das Sein als Nicht-Eines untersucht (VI 2), dann das Werden (VI 3). Aus der Untersuchung des Seins als noetischer Natur schließt Plotin jedes körperliche Werden, alles sinnlich Wahrnehmbare und räumlich Ausgedehnte aus und führt als Beispiel eines noetischen Seienden, welches zugleich eines und vieles ist, die Seele ein, da sie für uns das Nächste aus dem noetischen Bereich ist (VI 2,4; immer wieder in den Abhandlungen Plotins ist die Seele der Funke, an dem die Flamme der Erkenntnis der noetischen Welt zu entzünden ist, vgl. Ps.-Plat. Alc. 1 129e–133c und dazu Pépin 1971, 95– 100). An der Seele hebt dann Plotin neben der geeinten Pluralität der in ihr enthaltenen Logoi (VI 2,5) die Konsubstantialität von Sein (ousia) und Leben (zôê) hervor (VI 2,6). Von da aus geht er zur Betrachtung des Geistes über, der wie die Seele ungeteilt Sein und Leben ist (VI 2,7). Hier findet Plotin den Anschluss an Platons Sophistes (248e–249a). Er legt das Leben des Geistes als dessen Bewegung (kinêsis) aus, die zugleich Ruhe (stasis) ist (VI 2,7 mit Bezug auf soph. 254a–255a). Die Konsubstantialität von Sein, Bewegung und Ruhe im Geist weitet er dann auch auf Differenz (heterotês) und Identität (tautotês) aus (VI 2,8 mit Bezug auf Plat. soph. 255b–256d). Diese fünf – nicht weniger

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und nicht mehr – seien die ersten Genera. Damit ist die Frage nach Plotins eigener Meinung in Übereinstimmung mit Platon beantwortet und ihre Zurückführung auf Platon geleistet (vgl. VI 3,1,1–2). Plotin macht jedoch dabei nicht Halt, sondern führt den Leser/die Leserin weiter zur Einsicht des Unterschiedes zwischen der geeinten Vielheit des noetischen Seins und der absoluten Einheit des ersten Prinzips (VI 2,9–12). Von da aus kehrt er zurück zur Erörterung der Struktur des noetischen Seins und der Seele (VI 2,13,22), bevor er in dem letzten Teil der Abhandlung ausführlich auf die Frage der kategorialen Unterschiede im Bereich des Werdens eingeht (VI 3). Zwei charakteristische Züge von Plotins Umgang mit dem Gedankengut seiner Vorgänger treten hier exemplarisch hervor: die argumentative Umdeutung der herangezogenen Schriften (grammata) und Lehrmeinungen (doxai) im Sinne von Plotins eigener Theorie (vgl. Chiaradonna 2010, 110–114) und ihre Einbeziehung in die anagogische Bewegung, die den meisten Schriften Plotins eigen ist und die LeserInnen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt durch die Rückwendung der Seele auf sich selbst zur Einsicht in die Natur des Geistes und zur Erfahrung des Einen hinführt (vgl. I 6 [1] und VI 9 [9] u. a. in Anlehnung an Plat. symp. 210a–212a). Exegese, Argument und geistige Übung stehen bei Plotin nicht, wie gelegentlich unterstellt wird, in einem Konkurrenzverhältnis, sondern unterstützen und ergänzen einander (zur Diskussion vgl. Hadot 1997; Hadot 1993; Hadot 2010; Chiaradonna 2010; D’Ancona 2020).

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Die Vorsokratiker Giulia Guidara

8.1 Vorplatoniker in  den Enneaden: da Elemente fehlen, anhand derer festgestellt werden könnte, ob es tatsächlich Plotins Absicht Ein Überblick Plotin nimmt bei zahlreichen Gelegenheiten auf die Philosophen Bezug, die im Allgemeinen als ‚Vorsokratiker‘ bezeichnet werden. In seinem Fall wäre es aber angemessener von ‚Vorplatonikern‘ zu sprechen, da für Plotin der Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Philosophie Platon ist: Sokrates erscheint nur, insofern er im Mittelpunkt von Beispielen steht, aber niemals als Philosoph (Gelzer 1982, 101). Plotin rekurriert aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise auf die Vorplatoniker. Der Kürze wegen verzichten wir auf ein vollständiges Verzeichnis und die detaillierte Analyse aller Passagen, in denen dies geschieht, und beschränken uns darauf, die drei Arten von Verweisen zu erläutern, die in den Enneaden vorkommen, und für jede einige Beispiele zu zitieren. Eine erste Art besteht aus allgemeinen Bezugnahmen auf Theorien oder Bilder, die von Vorplatonikern ausgearbeitet wurden, später jedoch Gegenstand von weiteren wirkmächtigen Überarbeitungen waren (die Plotin sicher kannte) oder sich zu Ideen entwickelten, die in philosophischen Kreisen weithin geteilt wurden. Es handelt sich hier um zweifelhafte Verweise, G. Guidara (*)  Università di Pisa, Pisa, Italien E-Mail: [email protected]

war, auf den Vorplatoniker zu verweisen, der die von ihm erwähnte Idee entwickelt hatte. Bezugnahmen dieser Art finden sich zum Beispiel in IV 3 [27],24,6–19 und IV 4 [28],45,47–52, wo es nicht sicher ist, ob die Beschreibungen der Strafen, die den schuldigen Seelen zugedacht sind, ein Widerhall von Fragment B 115,1– 11 DK des Empedokles oder von Plat. leg. 10, 904b6–e3 sind, wo sich Platon auf Empedokles’ Theorie bezieht. Eine zweite Gruppe von Verweisen hat im Wesentlichen eine ornamentale Funktion: Es handelt sich um Bilder oder Metaphern, die einen Begriff erläutern, ohne jedoch seine Gültigkeit zu belegen (s. auch Abschn. 4.5). In diese Kategorie fallen das Zitat von Heraklits Fragment B 92 DK in II 9 [33],18,17–20, mit dem Plotin den Gnostikern vorhält, dass sie den Himmelskörpern keine Seele zugestehen, und das Zitat von Heraklits Fragment B 96 DK in V 1 [10],2,40–42 („Leichen soll man eher wegwerfen als Dreck“), das daran erinnert, wie bar jeglichen Wertes alles Unbeseelte ist. Eine dritte Art von Verweis sind wortgetreue Zitate und präzise Bezugnahmen, derer sich Plotin bedient, um seine eigenen Thesen zu begründen und eine Vorstellung des status quaestionis zu einem bestimmten Gegenstand zu vermitteln (O’Meara 2013, 57). Diese Verweise fließen auf zwei Arten in die Argumentation ein: in einigen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_8

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Fällen in Form falscher Hypothesen, die widerlegt werden müssen, damit die Wahrheit über das untersuchte Thema ans Licht kommen kann; in anderen als Beweis dafür, dass die von Plotin vertretene Theorie nicht nur richtig, sondern auch alt ist. Die Verweise der dritten Typologie eignen sich am besten, um Plotins Beziehung zur Tradition zu rekonstruieren, denn sie veranschaulichen, welche Aspekte er in sein Denken integriert und welche er zurückweist. Zu den Vorplatonikern, die Plotin bisweilen angreift, gehören die Pythagoreer, die Atomisten, Anaxagoras und Empedokles. Die vorgebrachte Kritik findet sich in unterschiedlichen Abhandlungen und berührt unterschiedliche Themen, hat aber insgesamt das gleiche Ziel: die Widerlegung der materialistischen Auffassung, die Plotin, in Übereinstimmung mit Aristoteles’ Einschätzung, diesen Philosophen zuschreibt. Nach Plotin ergibt sich nämlich aus den Theorien dieser Denker über die Materie (vgl. II 4 [12],7), dem Begriff der Seele der Pythagoreer (vgl. IV 7 [2],84) und Atomisten (vgl. III 1 [3],2–3) und der Art, wie die Pythagoreer vom Himmelsgewölbe und dem Verhältnis von sinnlich wahrnehmbaren Wesen und Zahlen sprechen (vgl. III 7 [45],2,1–4; 7,23–25; VI 6 [34],5,4–15), gerade der Vorrang des Körperlichen gegenüber dem Unkörperlichen. Die Tatsache, dass Plotin die Pythagoreer bisweilen kritisiert, zeigt, dass diese philosophische Strömung für ihn nicht die Bedeutung hat, die ihr der spätere Neuplatonismus zuerkennen wird. Jedoch sind die positiven Rekurse auf die Vorplatoniker in den Enneaden zahlreicher als die Kritik an ihnen, und die Alten werden als Autoritäten vorgestellt, deren Verdienst darin besteht, einige grundlegende metaphysische Wahrheiten in die griechische Tradition eingeführt zu haben, die dann von Platon auf eine klarere und vollständigere Weise ausgeführt und begründet wurden. Diese Wahrheiten betreffen die Existenz von zwei Wirklichkeitsebenen, die Eigenschaften des Geistes und die göttliche Natur der Seele. Gemäß Plotin findet sich die Unterscheidung zwischen sinnlich wahrnehmbarem und intelligiblem Sein in den Theorien von Parmenides, Anaxagoras, Heraklit, Empedokles und

G. Guidara

des frühen Pythagoreismus (vgl. V 1 [10],8–9); die Fähigkeit der Seele, sich von der einen zur anderen Wirklichkeitsebene zu bewegen, wurde von Heraklit, Empedokles und den Pythagoreern erwähnt (vgl. IV 8 [6],1,11–26; 5,1–10); schließlich erschien die These, dass der Geist ein ungeteiltes Eines sei, das dem wahren Sein entspreche, das erste Mal bei Parmenides (Guérard 1987, 297; vgl. V 1 [10],8,14–27; V 9 [5],5,29–34; III 7 [45],11,1–4; VI 4 [22],4,18– 26). Diese Wahrheiten wurden von den Vorplatonikern indes nicht deutlich in Worte gefasst; Plotin gelingt es jedoch, sie durch Exegese herauszuschälen, wie er selbst einräumt (vgl. V 1 [10],8,10–14; s. auch Abschn. 7.1). Diese Exegese besteht aber nicht in der Analyse von Wortschatz und Inhalt einer Passage: Tatsächlich finden sich in den Enneaden keine Elemente, die eine sorgfältige Arbeit am Text der vorplatonischen Werke durch Plotin vermuten lassen, nicht einmal der Werke des Heraklit und Parmenides, von denen Plotin vielleicht direkte Kenntnis hatte. Bei der Exegese der Vorplatoniker handelt es sich eher um ein argumentatives Vorgehen, bei dem die Ausdrücke und Theorien der Alten durch später ausgearbeitete Begriffe und Schemata paraphrasiert werden, die Plotins Auffassung des Platonismus entsprechen. Dies erklärt, warum Plotin den Worten der Alten eine doch recht andere Bedeutung als die ursprüngliche zuschreibt, und auch, warum die Vorplatoniker in den Enneaden erscheinen; eine getreue und objektive Darstellung ihres Denkens fehlt hingegen und wird von Plotin auch nicht intendiert (Schwyzer 1951, 527; Calogero 1974, 56). Das von Plotin gezeichnete Bild der griechischen Philosophie nimmt eine Reihe von traditionellen Elementen auf, hat aber auch innovative Züge. Die Vorstellung, dass die Pythagoreer, Empedokles und Heraklit die Vorläufer von Platons Theorien zur Seele sind (Burkert 1975; Mansfeld 1985, 136; Mansfeld 1992, 300– 302), und die Unterscheidung zwischen sinnlich Wahrnehmbarem und Intelligiblem (Mansfeld 1992, 300) ist vielen Autoren gemein (Philon, Quaestiones in Genesim 1,70–76; 4,152; Clem. Al. strom. 3,14,1–2; 5,9,1–7; 5,103,6–

8  Die Vorsokratiker

105,2; Plut. Is. 45–48; Plut. de an. procr. 27– 28; Hippolytos, Refutationes 6,21; 7,29; 9,8; Burkert 1975, 138–142; Mansfeld 1985; Mansfeld 1992, 278–295; 307–315). Allerdings verändert Plotin diese gängige Praxis, indem er Elemente einführt, die zuvor nicht bezeugt sind: die Aufnahme von Anaxagoras und Parmenides in den Kreis der Vorläufer der Theorie der drei Naturen (V 1 [10],8–9; Mansfeld 1992, 306), die Vereinigung und Interpretation unter psychologischen Gesichtspunkten von Heraklits Fragmenten B 90, B 60 und B 84a–b DK (IV 8 [6],1,12–15; D’Ancona 2003, 140) und den Rückgriff bei zahlreichen Gelegenheiten auf Parmenides, um das Einssein von Sein und Denken zum Ausdruck zu bringen, das sich im Geist verwirklicht (Parm. fr. B 3 DK; Cilento 1973; Atkinson 1983, 193–195; s. Abschn. 22.2). Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei diesen Elementen um von Plotin eingeführte Innovationen handelt.

8.2 Quellen und Quellenbenutzung Die Informationen über die Vorplatoniker stammen aus unterschiedlichen Quellen. Plotin scheint Kenntnisse aus zweiter Hand von Empedokles, Anaxagoras, den Atomisten und den Pythagoreern zu haben: In der Tat lassen die Verweise auf diese Autoren Diskussionen anklingen, die auch anderswo bezeugt sind und aus den philosophischen Werken stammen dürften, die Plotin während seiner Vorlesungen kommentierte (Porph. VP 14,10–16; Gelzer 1982, 114–115; Barbanti 1999, 224; Baltes/D’Ancona 2005; s. auch Abschn. 2.3). Darunter sind auch die Schriften des Aristoteles und Alexander von Aphrodisias, die eine zentrale Rolle in der Übermittlung des vorplatonischen Denkens spielten. Folglich ist die Hypothese, dass Plotin Informationen aus zur aristotelischen Tradition gehörenden Lehrbüchern wiedergibt (Rist 1967, 177–178), sehr zweifelhaft; die Quelle derjenigen Verweise, die aristotelischen Interpretationen und Schemata folgen, sind wahrscheinlich Aristoteles selbst oder Alexander.

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Auch die Hypothese, dass Plotin auf Doxographien zurückgreift, ist fragwürdig, da sie nicht durch solide Textbelege gestützt wird: Die in den Enneaden wiedergegebenen Zitate sind weder in Aetios’ Placita noch in den Sammlungen bezeugt, die zu dieser Tradition gehören (Guidara 2016). Parmenides scheint er dagegen aus erster Hand gekannt zu haben. Dessen Lehrgedicht ist der einzige Text eines Vorplatonikers, auf den sich Plotin ausdrücklich bezieht (Stamatellos 2007, 20); darüber hinaus sind die Parmenides-Zitate, die wir in den Enneaden finden, nicht immer anderweitig bezeugt (vgl. die Ausgabe von O’Brien 1987) und lassen gute Kenntnisse ihres ursprünglichen Kontextes erkennen (Cilento 1973, 126; Atkinson 1983, 193–195). Was Heraklit angeht, ist die Situation dagegen komplexer. Die Häufigkeit, mit der dieser Denker in den Enneaden erscheint, und die Tatsache, dass einige Zitate nicht bei anderen bezeugt sind (Roussos 1968; Bergamo 2017, 92; Vassallo 2017), lassen darauf schließen, dass Plotin direkte Kenntnisse seines Textes hatte. Jedoch gibt Plotin, anders als es bei Parmenides der Fall ist, den Zitaten Heraklits eine Bedeutung, die sich so deutlich von der unterscheidet, welche als die ursprüngliche anzunehmen ist (z. B. in IV 8 [6],1,12–15), dass Zweifel aufkommen, ob er ihren ursprünglichen Kontext kannte. Paradoxerweise sind die Vorplatoniker in den Enneaden gleichzeitig eine Randerscheinung und von Bedeutung. Sie erscheinen nur am Rande, insofern sie nicht in allen Abhandlungen erwähnt werden. Dennoch kommt den Vorplatonikern eine wichtige Aufgabe zu, denn Plotin bedient sich ihrer, um seine eigenen Theorien zu erläutern und oft sogar zu begründen, und dank ihnen ist es möglich, zu rekonstruieren, welche Meinung Plotin von der philosophischen Tradition Griechenlands hatte. Diese stellt sich bei ihm als ein Forschungsweg dar, auf dem alle Annahmen durch rationale Untersuchungen und Exegese begründet sind und göttliche Offenbarungen so gut wie keine Rolle spielen (im Gegensatz zum späteren Neoplatonismus). Da die ältere Philosophie keine Gabe eines Gottes ist, sondern ein menschliches Produkt, sind nicht alle ihre Er-

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gebnisse vollkommen, sondern zeichnen sich durch unterschiedliche Abstufungen von Wahrheit und Genauigkeit aus; dies ist der Grund, warum Plotin nicht einfach das gesamte Erbe der Vorplatoniker kritiklos aufgreift, sondern in sein Denken nur das aufnimmt, was seiner Meinung nach den Weg für Platons Philosophie geebnet hat (Guidara 2020).

Literatur Atkinson, Michael: Plotinus. Ennead V.1: On the Three Principal Hypostases. Oxford 1983. Baltes, Matthias (†)/D’Ancona, Cristina: Plotino. L’immortalità dell’anima. IV 7 [2],84. In: Riccardo Chiaradonna (Hg.): Studi sull’anima in Plotino. Napoli 2005, 21–58. Barbanti, Maria: Empedocle in Plotino e in Porfirio. In: Giornale di Metafisica 21 (1999), 217–233. Bergamo, Max: Eraclito in Plotino. In: Rheinisches Museum für Philologie 160 (2017), 58–96. Bergamo, Max: Ancora su Eraclito in Plotino: le testimonianze indirette. In: Rivista di filologia e di istruzione classica 146 (2018), 48–70. Burkert, Walter: Plotin, Plutarch und die platonisierende Interpretation von Heraklit und Empedokles. In: Jaap Mansfeld/Lambertus Marie de Rijk (Hg.): Kephalaion. Studies in Greek philosophy and its continuation offered to Professor C.J. de Vogel. Assen 1975, 137–146. Calogero, Guido: Plotino, Parmenide e il „Parmenide“. In: Atti del Convegno internazionale sul tema: Plotino e il Neoplatonismo in Oriente e in Occidente (Roma 1970). Rom 1974, 49–59. Cilento, Vincenzo: Parmenide in Plotino. In: Vincenzo Cilento: Saggi su Plotino. Milano 1973, 123–134. D’Ancona, Cristina: Plotino. La discesa dell’anima nei corpi (Enn. IV 8 [6]). Plotiniana Arabica (Pseudo-

G. Guidara Teologia di Aristotele, capitoli 1 e 7; „Detti del sapiente greco“). Padova 2003. Gelzer, Thomas: Plotins Interesse an den Vorsokratikern. In: Museum Helveticum 39 (1982), 101–131. Guérard, Christian: Parménide d’Élée chez les néoplatoniciens. In: Pierre Aubenque (Hg.): Études sur Parménide 2: Problèmes d’interprétation. Paris 1987, 294–313. Guidara, Giulia: Le citazioni dei presocratici nelle Enneadi: una nuova via di ricerca nello studio delle fonti di Plotino. In: Studia graeco-arabica 6 (2016), 59–82. Guidara, Giulia: Prima di Platone. Plotino e gli inizi della filosofia greca. Pisa 2020. Mansfeld, Jaap: Heraclitus, Empedocles and Others in a Middle Platonist Cento in Philo of Alexandria. In: Vigiliae Christianae 38 (1985), 131–156. Mansfeld, Jaap: Heresiography in Context. Hippolytus’ Elenchos as a Source for Greek Philosophy. Leiden/ New York 1992. O’Brien, Denis: Le poème de Parménide. Texte, traduction, essai critique. In: Pierre Aubenque (Hg.): Études sur Parménide 1. Paris 1987. O’Meara, Dominic: Plotin historien de la philosophie (Enn. IV 8 et V 1). In: Dominic O’Meara: Sur les traces de l’Absolu. Études de philosophie antique. Fribourg 2013, 49–61. Rist, John M.: Plotinus. The Road to Reality. Cambridge 1967. Roussos, Evangelos N.: Ὁ Ἡράκλειτος στὶς Ἐννεάδες τοῦ Πλωτίνου. Athen 1968. Schwyzer, Hans-Rudolf: Plotinos. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 21/1 (1951), 471–592. Stamatellos, Giannis: Plotinus and the Presocratics. A Philosophical Study of Presocratic Influences in Plotinus’ Enneads. Albany 2007. Vassallo, Christian: The Legacy of Heraclitean Logos in Plotinus’ Ontology. In: Christian Vassallo (Hg.): Physiologia. Topics in Presocratic Philosophy and its Reception in Antiquity. Trier 2017, 41–60.

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Platon Alexandra Michalewski

9.1 Einleitung: Die exegetische Konstruktion eines Platonbildes Platon ist der Autor, den Plotin am häufigsten zitiert. Er wird 56-mal mit Namen und ca. 50mal in indirekter Form erwähnt. In den Enneaden finden sich ca. 1400 Bezugnahmen auf die platonischen Dialoge in Form von Paraphrasen, Zusammenfassungen, Anspielungen und Zitaten einer zusammenhängenden Passage, einer Wendung oder sogar eines einzelnen Wortes. Dabei bleiben die sokratischen oder Frühdialoge weitgehend unberücksichtigt; insgesamt finden die Sokratesgestalt und die sokratische Maieutik keine Erwähnung. Bezugnahmen auf die politischen Dialoge sind selten: Der Politikos spielt kaum eine Rolle (nur acht Belege), und von der Politeia zieht Plotin im Wesentlichen die metaphysisch ausgerichteten Überlegungen der Bücher 6 und 10 heran. Mehrere Aspekte von Platons Denken, wie die Politik oder die Mathematik, rücken so in den Hintergrund. Plotin benutzt demnach ein reduziertes platonisches Corpus, das auf die Metaphysik zentriert ist und

Aus dem Französischen übersetzt von Christian Tornau. A. Michalewski (*)  CNRS, Paris, Frankreich E-Mail: [email protected]

Schlüsselpassagen aus bestimmten Texten privilegiert (Koch 2013): den Parmenides, den ersten Teil des Timaios über die Entstehung des Kosmos und der Seele, den Seelenmythos aus der Palinodie des Phaidros und die Diotima-Rede aus dem Symposion. Abgesehen von der Bedeutung der direkten oder indirekten Zitationen lässt sich der Einfluss Platons auf Plotin jedoch wesentlich an der Art der philosophischen Problemstellung ablesen: Was ist die Natur des Guten? In welchem Verhältnis stehen die Seele und die Formen, etc.? Die ältere Diskussion über die Originalität Plotins gegenüber Platon konzentrierte sich auf die Frage, ob Plotin sich lediglich der Autorität Platons bediente, um seine eigenen philosophischen Entwürfe zu stützen (Dodds 1960), oder ob er im Gegenteil seine Philosophie als eine Art Kommentar zu Platon ausgearbeitet hat (Szlezák 1979, 9–51). Diese Alternative verengt die Perspektive jedoch zu sehr, insofern für Plotin die Lektüre und Exegese der Texte Platons die Möglichkeit eröffnet, die Seele mit echten philosophischen Fragen zu konfrontieren, die für sie den Ausgangspunkt für die eigenständige Entdeckung eines Weges zur Wahrheit bilden (s. Abschn. 4.7). In der Tat begründet Plotin eine neuartige Gesamtinterpretation der Philosophie Platons, wenn er die ‚Hypothesen‘ aus dem zweiten Teil des Parmenides als Prinzipien interpretiert, die aus dem Einen hervorgehen, dem höchsten Prinzip jenseits des Seins und des Geistes und ersten

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_9

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Ursprung alles Seienden. Hieraus gewinnt er die Grundlage einer Metaphysik, die die Gesamtheit ihrer Prinzipien aus einer ersten Einheit ableitet und Geist und Seele als Einheiten geringeren Grades betrachtet, deren Einheit mit Vielheit einhergeht. Die Annahme dieser Struktur ist gleichsam die Gründungsurkunde des Neuplatonismus (Dodds 1928; Trouillard 1973). Während Plotin dem Parmenides die allgemeine Struktur seiner Prinzipienlehre entnimmt, gewinnt er aus dem Timaios und dem Sophistes Einsichten über die Natur bzw. die kausale Wirksamkeit der obersten Prinzipien (s. Kap. 29). Diese Veränderungen entwickeln sich aus der Tatsache, dass Plotin nicht lediglich erklären will, was Platon in seinen Dialogen geschrieben oder was er in seiner von seinen Schülern im Kreis der Alten Akademie bewahrten mündlichen Lehre gesagt hat. Sein Ziel ist es vielmehr, hiervon die als wesentlich anzusehenden Elemente auszuwählen, um daraus ein philosophisches System zu errichten. Die Vertreter der Tübinger Platon-Forschung haben dazu tendiert, die Bedeutung der – von ihnen als linear und ununterbrochen angesehenen – Kontinuität zwischen den Lehren der Alten Akademie und dem Neuplatonismus zu betonen (Krämer 1967; Halfwassen 1992; s. Kap. 10). Zwar ist die philosophische Verwandtschaft Plotins mit den ersten Schulhäuptern der Akademie unbestreitbar; Differenzierungen sind jedoch angebracht (vgl. Szlezák 1979). Denn Plotins Platonismus ist auch das Ergebnis von Debatten innerhalb anderer Schulen sowie interner Diskussion im Platonismus seiner Zeit. Plotins exegetische Konstruktion eines platonischen Systems zielt auf eine Darstellung Platons, die gegen die von anderen philosophischen Schulen und Traditionen vorgebrachten Kritikpunkte immun ist – in erster Linie die Kritik des Aristoteles und der peripatetischen Schule, aber auch, wenngleich in geringerem Maße, der Stoa; die Auseinandersetzung mit epikureischen Thesen bleibt demgegenüber marginal (s. Kap. 11 und 12). Von Platon übernimmt Plotin nicht nur die architektonischen Grundlinien einer Metaphysik, die auf einem System der Derivation

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aller Wesen von dem Einen-Guten beruht, sondern auch einen bestimmten Schreibstil, insofern seine Traktate keine fortlaufenden Textkommentare sind, sondern Untersuchungen zur Klärung spezifischer philosophischer Fragen (Tornau 2017, 422–423). Entsprechend vielfältig ist seine Art, Platon zu zitieren: Wenngleich Plotin in den Texten Platons einen privilegierten Zugang zur Erkenntnis der Wahrheit sieht, sind sie in seinen Augen doch häufig dunkel oder „änigmatisch“ (vgl. VI 2,22,13; VI 8,19,14). Sie verlangen also aufgrund ihrer Eigenart nach Exegese. Diese besteht in der Entfaltung dessen, was in ihnen komprimiert ausgedrückt ist (V 1,8,10–14; III 7,5,29), oder in der Aufhellung des in ihnen dunkel Angedeuteten (IV 4,22,10– 13; s. Abschn. 7.1). Diese Perspektive erlaubt es zu verstehen, in welchem Sinne Plotin Platon als Autorität, ja als „göttlich“ (theios) betrachtet (III 5,1,6; IV 8,1,23): Unter den alten Denkern und „Philosophen“ (III 7,1,14; IV 8,1,27) ist er derjenige, der sich der Wahrheit im höchsten Maße angenähert hat und dessen Hinweise in seinen Schriften es der Seele ermöglichen, sich auf den Weg zu ihr zu begeben. Die Lektüre der Schriften Platons entbindet nicht von der eigenen Suche, aber sie stellt die beste Anleitung dar, um zu begreifen, was wir in unserem eigenen Innersten besitzen. Plotin folgt dementsprechend keinem Lektürekanon der platonischen Dialoge, wie er im Mittelplatonismus üblich war und später wieder von Iamblichos aufgestellt wurde (vgl. Tornau 2017, 415–416), und er interessiert sich nicht für Echtheitsfragen. Er grenzt sich daher bewusst von einer „philologischen“ Linie der Platoninterpretation ab, d. h. von Interpreten wie Longinos, die es bei der grammatischen oder literarischen Interpretation des Textes bewenden ließen (VP 14,18–20; vgl. Männlein-Robert 2001, 77– 86; Menn 2001; s. Abschn. 4.7). Ein besonders bezeichnender Fall dieser Verschmelzung von platonischer Textexegese und eigenständiger philosophischer Untersuchung ist die Enneade III 7 [45]. Platon zu interpretieren, bedeutet für Plotin nicht bloß die Erklärung des Wortlauts der Dialoge, da sich der Sinn niemals nur an der Oberfläche des Textes findet. Es er-

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fordert vielmehr, zu dem Geist vorzudringen, der ihn fundiert und belebt, und den einheitlichen Gedanken zu erfassen, der das ganze System durchdringt: die Unveränderlichkeit der göttlichen Ursachen, deren Produktivität sich allein aus der Vollkommenheit ihres Seins ergibt, worin das System der Derivationskausalität seine Grundlage hat.

9.2 Platon und die metaphysische Struktur der Wirklichkeit 9.2.1 Die drei Prinzipien Plotin entnimmt der zweiten Hälfte des Parmenides die Existenz eines henologischen Systems, an dessen Spitze das absolut transzendente Eine steht (Plat. Parm. 137c4). Dieses Eine, ein absolut einfaches Prinzip, das sich jeder Aussagbarkeit entzieht, entspricht zugleich dem Guten der Politeia (Plat. rep. 6, 509b9), das für Plotin die ousia absolut und nicht lediglich, wie Platon es ausdrückt, „an Würde und Macht“ überragt (vgl. Brisson 2000, 83–87; s. Abschn. 44.1). Diese Interpretation hat die Konsequenz, dass das erste plotinische Prinzip das Sein (ousia) transzendiert, während bei Platon das Gute die ousia im primären Sinne und Ursache aller anderen Wesenheiten (ousiai) ist (vgl. Baltes 1997). Von dem Einen-Guten ist zunächst der Geist abgeleitet, der dem „Einen-Vielen“ entspricht (Plat. Parm. 144e5: hen polla), und sodann die Seele, die „Eines und Vieles“ ist (Parm. 155e5: hen kai polla). Diese drei Entitäten sind zugleich Wesenheiten, die in einer Hierarchie angeordnet sind, und Prinzipien für die Erklärung der Welt. Dass Plotin für das Verständnis des ersten Prinzips parallel auf Parmenides und Politeia rekurriert, ist die Wurzel von zwei konkurrierenden Darstellungen der Natur und Kausalität des Einen in den Enneaden. Die eine spricht dem Prinzip in der Tradition der mittelplatonischen via negativa jede positive Qualifikation ab und macht sie zu etwas gegenüber allem von ihm Abgeleiteten absolut Differenten; die andere

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hebt unter Heranziehung der Analogie mit der Sonne und ihrem Licht die ontologische Abhängigkeit der abgeleiteten Wesenheiten von dem Prinzip hervor und illustriert so einen Typus von Kausalität, die sogenannte „Theorie der zwei Akte“ (energeia, Wirksamkeit, Aktivität; vgl. V 3,7,24–25; V 4,2,19–38; Rutten 1956; Emilsson 2007, 22–68; s. Abschn. 6.3 und 11.2). Der Parmenides ist der platonische Text, der die Natur der drei kosmischen Prinzipien Eines, Geist und Seele und ihre Wechselbeziehung am „genauesten“ erörtert (V 1,8,23–26, hier kon­ trastierend mit dem historischen Parmenides; s. Abschn. 8.1). Das Eine der Ersten Hypothese ist das Eine „jenseits des Seins“, das sich nur durch die Negation der Vielheit erfassen lässt. Um diese Negation zu illustrieren, haben die Pythagoreer, wie Plotin in Erinnerung ruft, dem Einen den Namen ‚Apollon‘ (a-pollôn, „Un-Vieles“) gegeben (V 5,6,25–28; s. Abschn. 18.2). Um das Verhältnis des von allem anderen radikal differenten Einen zu der aus ihm hervorgehenden Vielheit denken zu können, greift Plotin auf das Motiv der Einheit und Unbestimmten Zweiheit (ahoristos dyas) aus der Ungeschriebenen Lehre Platons zurück (V 1,5,14; V 4,2,7–8; Aristot. metaph. M 7, 1081a13–15; Alex. Aphr. in metaph., CAG 1, 87,17 Hayduck; Plotin spricht auch von „unbestimmtem Leben“, VI 7,17,10–15; 18,18; Szlezák 1979, 54–72; Bussanich 1988, 10–17). Die plotinische Zweiheit ist eine primäre Unbestimmtheit, die aus dem Einen hervorgeht und das Bedürfnis in sich trägt, ihr Prinzip anzuschauen. Indem sie sich ihrem Ursprung zuwendet, formt und begrenzt sie sich selbst und wird dadurch zum Geist. Ebenso erzeugt der Geist allein durch die Vollkommenheit seiner Existenz eine unbestimmte Realität, die zur Seele wird, indem sie sich dem Geist zuwendet (V 1,7,38–41). Im Gegensatz zu Speusipp bezeichnet Plotin diese Zweiheit, die zusammen mit der seinshaften Zahl die Basis der intelligiblen Vielheit bildet, nicht als ‚Vielheit‘ (vgl. Aristot. metaph. M 9, 1085b4–27; s. Abschn. 10.2). Die geistige Vielheit ist nichts Unbestimmtes, sondern entsteht durch die Bestimmung der Zweiheit zur seinshaften Zahl (V 1,5,6–9).

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Nach dem Muster der unveränderlichen Kausalität des Prinzips, dessen innere Perfektion eine zunächst unbestimmte ‚Kraft‘ (dynamis; vgl. VI 7,17,32) oder ein ‚Leben‘ erzeugt, das sich durch die Rückwendung zu seinem Prinzip bestimmt, lässt sich die Entstehung des Geistes aus dem Einen und die Entstehung der Seele aus dem Geist denken. Die untergeordneten Stufen, Körper und Materie, sind nicht mehr Prinzipien, denn sie sind aus sich selbst heraus nicht fähig, sich durch die Rückwendung zu ihren Ursachen zu formen und zu begrenzen. Das Leben der Körper kommt ihnen „von außen“ zu (IV 7,9,9– 10); sie erhalten es von der Seele, die ihnen die Teilhabe am Intelligiblen vermittelt. An der untersten Grenze des Derivationsprozesses ist die Materie als solche ohne jede ontologische Realität; als nichtaffizierbares Substrat der sich an ihr zeigenden Formen ist sie unfähig zur Aufnahme von Bestimmung oder Qualifikation. Um die Irrealität der Materie zu denken, greift Plotin auf eine bestimmte, mit der aristotelischen Privationslehre assoziierte Auslegung des Sophistes zurück. Als ‚Nichtseiendes‘ ist die Materie nicht nur „der dem Seienden entgegengesetzte Teil des Anderen“ (Plat. soph. 258e2), sondern sie ist allen Formen entgegengesetzt; sie ist die absolute Negation von allem, stets verschieden von jedem Prädikat, das man ihr zuschreiben könnte, und radikale Privation (II 4,16; O’Brien 1999). Dieser allgemeine Rahmen wird in der Enneade V 1 [10] im Detail erläutert. Die Schrift beginnt mit einer ethischen Fragestellung und einer psychagogischen Mahnung: Wie kommt es, dass die Seelen ihren Ursprung vergessen haben? Warum haben sie ihren Vater (den Geist) vergessen, um das zu bewundern, was ihnen gegenüber niederrangig ist, die Dinge der sinnlich wahrnehmbaren Welt? Um die Größe und Göttlichkeit der Seele einsichtig zu machen, fordert Plotin seinen Leser auf, sich auf sich selbst zurückzuwenden (V 1,1). Durch die Rückkehr zu sich selbst – die Plotin mit der platonischen Wiedererinnerung gleichsetzt (vgl. I 2,4,15– 25; V 1,1,27) – erkennt die Seele das Wesen der drei Prinzipien und ihrer Wechselbeziehung (V 1,10). Die Beschreibung der Entstehung

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der Seele aus dem Geist und ihrer Rückkehr zu ihrem Ursprung bildet den Fixpunkt einer Reflexion, in der Kosmologie und Metaphysik, Epistemologie und Ethik untrennbar miteinander verbunden sind (Stern-Gillet 2014).

9.2.2 Ethik und Dialektik In der Tat sind die Anordnung der drei grundlegenden Prinzipien und das sie verbindende Kausalitätsgesetz der Schlüssel, der die Behandlung kosmologischer ebenso wie epistemologischer und ethischer Fragen erlaubt. Die Fähigkeit, unabhängig von niederen Wesenheiten in sich und seiner eigenen Vollkommenheit zu verharren, ist zugleich die Erklärung für die zeitenthobene Entstehung der Prinzipien und das Modell des tugendhaften Handelns – und sie begründet sogar die Klassifikation der Künste, je nachdem, ob sie die Hinwendung der Seele zu sich selbst oder zur sinnlich wahrnehmbaren Welt befördern (VI 3,16,13–32; s. Abschn. 39.2). Für Plotin ist es das Ziel der Tugend, uns die „Flucht von hier“ zu ermöglichen und uns „Gott ähnlich zu machen“ (I 2,1,1–5 nach Plat. Tht. 176a), indem sie die Seele in den intelligiblen Bereich aufsteigen lässt, den sie in Wirklichkeit niemals verlassen hat (vgl. IV 8,8). In der Enneaden-Ordnung des Porphyrios folgt die Schrift I 2 [19] auf die Schrift I 1 [53], die gezeigt hatte, dass man zur Beantwortung der Frage des Dialogs Alkibiades – „Was ist der Mensch?“ (Ps.-Plat. Alc. 1 129e) – zunächst bestimmen muss, was das Lebewesen (zôon) ist, d. h. das aus dem Körper und einer ‚Spur‘ der Seele konstituierte Mischwesen (s. Kap. 35). Die Lehre dieser Schrift ist, dass wir, um unsere wahre Menschlichkeit zu finden, die Stufe des empirischen Ich überschreiten müssen (vgl. I 1,10). Das wahre Selbst erreicht man am Ende eines langen Bemühens um die Ablösung von den Leidenschaften und exzessiven Bedürfnissen des körpergebundenen Daseins, ein Bemühen, durch welches sich die Seele von der Fixierung auf das Sinnliche löst, um sich zu sich selbst und zu ihrem Prinzip zu wenden. Durch die hierarchische Ordnung der Tugendgrade –

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„bürgerliche“ (politische, soziale) Tugenden als Mäßigung der durch das körpergebundene Dasein bewirkten Emotionen und „reinigende“ (kathartische) Tugenden als Akte der Kontemplation der intelligiblen Welt – verknüpft Plotin Platons unterschiedliche Definitionen der Tugenden in der Politeia, wo sie die Aufgabe haben, die unteren, begehrenden Seelenteile zum Gehorsam gegenüber dem höchsten Seelenteil zu bringen, und im Phaidon, wo sie als Reinigungen der Seele definiert werden (Plat. rep. 4, 431e; Phaid. 67c–69d; s. Kap. 45). Die vier Kardinaltugenden der Politeia können auf der niederen ebenso wie auf der höheren Stufe der Seele ausgeübt werden, aber in unterschiedlicher Form. So besteht die Tapferkeit als karthartische Tugend nicht in der Ausführung einer tapferen Handlung, sondern in einer die geistigen Formen nachahmenden Freiheit von Affektion (I 2,6,25–27). Die Transformation der bürgerlichen zu kathartischen Tugenden vollzieht sich mithilfe der Dialektik, die Plotin als sukzessiven Aufstieg zum Guten definiert (I 3,1). Mit dieser Bestimmung entfernt sich Plotin von den Definitionen der Mittelplatoniker, für die die Dialektik synonym mit der Logik und der Untersuchung des Kriteriums der Wahrheit, der Syllogismen, der Analyse und der Induktion gewidmet war (vgl. Alcin. Didasc. 3, p. 153,29–38 Whittaker/Louis). Zur Herausarbeitung seiner Definition der Dialektik stützt sich Plotin mehr auf den Mythos des Phaidros (248c–d) als auf die Politeia, weil für ihn die Dialektik nicht mehr die Krönung der mathematischen Wissenschaft ist. Insofern sie ein Weg der Seele zu den Formen und zu ihrem Ursprung ist, ist die plotinische Dialektik identisch mit der Wiedererinnerung (Anamnesis). Hierunter versteht Plotin die geistige Tätigkeit, durch die die Seele erkennt, was sie von Natur aus in sich hat (IV 3,25,25–35), und die Spuren der Formen, die latent in ihr vorhanden sind, „beleuchtet“, indem sie sie mit ihren intelligiblen Vorbildern verbindet (I 2,4,20–25; s. Abschn. 26.3). Mit seiner Theorie, dass die Seele nicht nur „dem Geistigen verwandt“ ist (Plat. Phaid. 79d), sondern selbst der intelligiblen Welt angehört (die ‚Lehre von

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der nicht herabgestiegenen Seele‘, die im späteren Neuplatonismus seit Iamblichos auf Kritik stößt; s. Abschn. 51.5), distanziert sich Plotin von den Mittelplatonikern. Für die letzteren besteht die Wiedererinnerung in der Betrachtung der „natürlichen Begriffe“ (physikai ennoiai), Spuren des Intelligiblen, die die Seele aufgrund ihrer pränatalen Schau der Formen in sich bewahrt hat (Alcin. Didasc. 4, p. 155,24–28 Whittaker/Louis); die Formen selbst sind ihr während ihres körpergebundenen Daseins dagegen unzugänglich.

9.2.3 Kosmologie Für das Verständnis der Beziehung der göttlichen Prinzipien zur Welt ist in erster Linie der Dialog Timaios mit seiner Erzählung von der Erschaffung der Welt durch den Demiurgen von Bedeutung. Dabei stellt sich für Plotin jedoch die Schwierigkeit, Timaios’ Schöpfungsgeschichte, die Gott nach handwerklichem Modell zum Baumeister der Welt macht, mit dem System der Derivationskausalität in Übereinstimmung zu bringen. Wie die Mehrzahl der antiken Platoniker vertritt Plotin eine nichtzeitliche Interpretation des Timaios (vgl. Baltes 1976; Dörrie/Baltes 1998, 84–180; 373–535). Für ihn liegt der Aktivität des Demiurgen nichts voraus, weder die chôra noch die Spuren der Elemente. Eine Deutung, nach der der Demiurg plant oder überlegt, lehnt Plotin ab und schlägt stattdessen eine Lesart des Timaios vor, die dem Demiurgen all die anthropomorphen Züge nimmt, die die mythische Darstellung ihm verliehen hatte. Der göttliche Geist überlegt nicht, er hat weder Absichten noch Gefühle, wie es im Timaios der Fall war (IV 4,10; V 8, 8,1–16; 12,15–27; II 9,2,14–15; VI 7,1; III 2,2,12–15). Er muss nur existieren und in sich selbst verharren, um eine Wirkung zu erzeugen. Bei keiner der göttlichen Wesenheiten gibt es Überlegung, weil diese stets das Zeichen eines Mangels und der Unfähigkeit, sich selbst zu genügen, ist. Eine und dieselbe Kraft (dynamis), die des Einen, verbreitet sich auf unterschiedliche Weise auf allen Stufen der Wirklichkeit bis hinab zur Materie. Der

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Geist, der mit der intelligiblen Welt identisch ist, ist unveränderlich und auf sich selbst zentriert; seine Aktivität ist rein kontemplativ (s. Kap. 30). Er trägt die Bezeichnung ‚Demiurg‘, weil seine innere Aktivität der Kontemplation eine von ihr abgeleitete äußere Aktivität hervorbringt, nämlich die Seele. Insofern die Seele ein Bild des Geistes ist und die intelligiblen Gehalte anschaut, die sie von ihm erhält, ist auch sie in der Lage, demiurgische Aktivität zu entfalten (Michalewski 2014, 185–190). In dieser Hinsicht nimmt Plotin eine wichtige Modifikation der platonischen Konzeption der Weltseele vor, deren Aufgabe im Timaios nicht die Erschaffung, sondern lediglich die regelhafte Lenkung der Welt ist. Die Seele, die die unterste Stufe des Intelligiblen darstellt, bringt die Welt allein durch Kontemplation hervor, wie Plotin unter Rückgriff auf die Aussage des Phaidros betont, dass „alles, was Seele ist, Sorge trägt für alles Unbeseelte“ (IV 3,7,12–20; V 1,2,1–9; Plat. Phaidr. 246b). Sie übt auf verschiedenen Ebenen kosmologische Funktionen aus – auf ihrer geistigen Ebene die providentielle Organisation und in ihrem unteren, naturhaften Bereich, dessen Kontemplation ohne bewusstes Erkennen ist, die Produktion der sinnlich wahrnehmbaren Körper (vgl. III 8,4; s. Kap. 37). Plotin vertritt so eine ‚entmathematisierte‘ Leseweise des Timaios (Chiaradonna 2014, 190), die auf eine Analyse der mathematischen Struktur der Weltseele verzichtet (vgl. zu Plotins Interpretation von Plat. Tim. 35a etwa IV 2,1; VI 4,1; Tornau 1998, 18–21). Plotin wendet sich also gegen die am Handwerkermodell orientierten Interpretationen der Kausalität des Demiurgen, die im Mittelplatonismus mit einer wörtlichen Interpretation der Weltentstehung einhergingen, wie bei Plutarch und Attikos (Procl. in Tim. 1,276,30– 277,7 Diehl; s. Abschn.  13.3). Diese neue Leseweise des Timaios, die sich in die aus der zweiten Hälfte des Parmenides gewonnene metaphysische Gesamtstruktur einfügt, ermöglicht Plotin die Konstruktion einer Platondeutung, die den Irrtum und die Blasphemie jener Gnostiker herausstellt, die – so jedenfalls Plotin – aus dem Timaios die Existenz eines bösen De-

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miurgen ableiten wollten (II 9,4–6). Auf dem Gebiet der philosophischen Polemik erlaubt sie es ihm außerdem, die Einwände des Aristoteles bezüglich des anthropomorphen Charakters der Aktivität des Demiurgen und der Unmöglichkeit einer kausalen Wirkung der Formen auf den Bereich des Werdens zurückzuweisen (vgl. Aristot. metaph. A 9, 991a8–b9; eth. Nic. 10,8, 1178b20–23; s. auch Kap. 11).

9.3 Platon-Exegese zur Abwehr der Kritik des Aristoteles 9.3.1 Der Sophistes und die Struktur des Geistes Für Plotin gibt es eine produktive Kraft der intelligiblen Welt, die eins mit dem göttlichen Geist ist (III 2,1,26–45). Dieser ist seinem Wesen nach Leben (III 8,9,33). Die Vorstellung vom Leben des Intelligiblen ist gleichermaßen von Platon wie von Aristoteles inspiriert (Plat. soph. 248d–256e; Tim. 39e; Aristot. metaph. Λ 7, 1072b28). Diese Interpretation der Ideenlehre im Sinne der Identität der Formen mit dem Geist (vgl. VI 9,5,14; V 9,5–6; V 5,1–2; s. Kap. 22 und 26) stellt innerhalb der platonischen Tradition eine Innovation dar, die über den bloßen Einschluss der Formen in den Geist, wie er bereits in der früheren Kaiserzeit belegt ist (Alcin. Didasc. 10, p. 164,30 Whittaker/Louis), hinausgeht. Um diese Definition des Geistes als einer mit der Gesamtheit der die intelligible Welt ausmachenden Formen identischen lebenden Totalität zu entfalten, führt Plotin in der Schrift VI 2 [43] eine Exegese des Sophistes durch, in der er die fünf platonischen Genera des Seienden als die für das Leben des Geistes konstitutiven Prinzipien interpretiert (Plat. soph. 248e– 256d; Wurm 1973, 221–239; Santa Cruz 1997). Das Sein ist der Ausgangspunkt und das Ziel der Aktivität des Geistes. In ihm vereinigen sich Bewegung (kinêsis) und Ruhe (stasis), die im Intelligiblen immer miteinander einhergehen; das Selbe (tauton) ist das Identitätsprinzip, aufgrund dessen jedes Element das ist, was es ist, während das Andere (heteron) das Prinzip ist,

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v­ ermöge dessen sich jedes Genus von den anderen unterscheidet (VI 2,7–8). Für den Geist ist das Sein gleichbedeutend mit dem kontemplativen Leben; Sein, Leben und Denken sind in ihm in vollkommener Weise eins. Im Gegensatz zur sinnlich wahrnehmbaren Bewegung ist die unkörperliche Bewegung weder Veränderung noch Werden und Vergehen, sondern das unausgesetzte Verbleiben des Seins im Akt der Kontemplation. In der intelligiblen Welt besitzt die Bewegung volle ontologische Dignität, sie ist nicht mehr, wie Aristoteles sie definiert hatte, „ein unvollendeter Akt“ (energeia atelês; vgl. Aristot. phys. 3,2, 201b31–33; metaph. Θ 6, 1048b18– 34 und Plotins Kritik an dieser Definition, VI 1,16), sondern das Fortbestehen eines Aktes, der ewig in sich selbst verharrt (VI 2,7,24–27). Die fünf Genera schaffen durch ihre Verbindung die lebendige Einheit der Formen. Diese Sichweise veranlasst Plotin zu einer leicht modifizierten Lesart des Sophistes. Während Platon davon spricht, dass jedes Genus von den anderen verschieden und mit sich selbst identisch ist (soph. 254d), treten für Plotin das Selbe und das Andere jeweils gemäß der Perspektive in Erscheinung, die man auf das Intelligible einnimmt: Die Genera sind, jeweils für sich genommen, voneinander verschieden, aber als Gesamtheit genommen sind sie identisch, insofern sie eine einheitliche Natur bilden (VI 2,8,34–38). Diese Einheit ist gleichbedeutend mit der Ewigkeit. Der allgemeine Rahmen der durch die Exegese des Sophistes gewonnenen plotinischen Geistlehre führt somit zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Ewigkeitsbegriff des Timaios (37d): Die der Bestimmung des Wesens von Zeit und Ewigkeit gewidmete Enneade III 7 [45], die chronologisch auf die Schriften über die Genera des Seienden (VI 1–3 [42–44]) folgt, definiert die Ewigkeit als die für die intelligible Welt spezifische Form des Lebens (III 7,2–3; s. Abschn. 50.3). Platons „größte Gattungen“ (megista genê, vgl. soph. 254c–d) werden in den Enneaden zu „Prinzipien“ (archai, VI 2,2,10–14; vgl. Aristot. metaph. Β 3, 998a20–999a23), weil sie das Gerüst der lebendigen Einheit des Geistes und der

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Formen darstellen. Bei der Lektüre der Mittelpartie des Sophistes geht es Plotin also nicht so sehr darum, festzustellen, wie die Formen miteinander in Gemeinschaft stehen, als um eine Erklärung der allgemeinen Struktur des Geistes. Diese ist in eine henologische Gesamtperspektive eingeordnet, insofern den Genera ein Prinzip vorausgeht, das ihnen ihre Einheit verleiht (VI 2,3,1–10). Plotins anhand des Sophistes entfaltete Geistmetaphysik ermöglicht es ihm, das Sein und die Substanz (ousia) als Tätigkeit oder Aktivität (energeia) zu definieren. Der Rückgriff auf die aristotelische Identifikation von ousia und energeia (z. B. V 3,5,41– 44 nach Aristot. metaph. Λ 7, 1071b20), die ursprünglich gegen die platonische Ideenlehre gerichtet war, hat in den Enneaden jedoch das Ziel, gegen Aristoteles zu zeigen, dass die einzigen wirklichen Ursachen die Formen sind. Wenn es daher heißt, dass etwa die Form des Pferdes oder des Baums „ein Geist (nous) ist“ (vgl. VI 7,9,23–25; 11,6), dann ist damit gemeint, dass diese Form die Perspektive ausdrückt, unter der der Geist das Intelligible während seines „Wanderns im Gefilde der Wahrheit“ jeweils erkennt (VI 7,13,34 mit Zitat von Plat. Phaidr. 248c). Diese dynamische Verbindung des intelligiblen „Ganzen“ und seiner „Teile“ denkt Plotin mithilfe einer spezifischen Anwendung der Begrifflichkeit von Potenz (dynamei) und Akt (energeia(i); s. Abschn. 10.2). Indem er einen einzelnen seiner Aspekte aktualisiert, partikularisiert sich der Geist zwar in gewisser Weise; doch hört er dadurch nicht auf, der gesamte Geist zu sein, weil er sämtliche übrigen intelligiblen Wesenheiten nach wie vor „potentiell“ in sich enthält (VI 2,20,16–23; Emilsson 2007, 199–207). Diese Theorie von der Konstitution der intelligiblen Welt durch die Bewegung des Geistes wirft das vieldiskutierte Problem auf, ob Plotin abweichend von Platon nicht nur Formen von Gattungen und Arten, sondern auch von Individuen angenommen hat (s. Kap. 27). Diese aus der mittelplatonischen Schuldiskussion hervorgegangene und vor allem in der Schrift V 7 [18] behandelte Problematik betrifft – über das traditionelle Thema der Ausdehnung der Ideenwelt

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hinaus – die Frage nach der intelligiblen Fundierung der menschlichen Existenz sowie allgemein die nach dem Verhältnis von Individualität und Universalität (vgl. Tornau 2009). Für Plotin muss in der intelligiblen Grundlage des Menschen die Möglichkeit seiner Inkarnation enthalten sein. Die Seele als Prinzip des Lebens ist jedoch ein zu allgemeines Prinzip, um den Menschen als spezifisches Lebewesen zu bestimmen. Plotins Analyse in den Kapiteln VI 7,6–7 ist der Versuch einer Antwort auf die Frage des Alkibiades (129e): Ein Mensch ist eine Seele, die den Logos ‚Mensch‘ zu sich hinzufügt, um ein menschliches Individuum zur Existenz zu bringen und zu beleben. Die Konstitution eines menschlichen Wesens resultiert aus der Verbindung von Aktivitäten verschiedener intelligibler Instanzen (Michalewski 2014, 166–172). Es existiert eine universale Form, die vom Geist der individuellen Seele kontemplativ betrachtet wird. Durch diese Kontemplation entwickelt die Seele ein formgebendes rationales Prinzip (logos) für den sinnlichen Bereich. Dieser Logos aktualisiert alle Potenzen, die er in sich enthält, sobald er in Kontakt tritt mit einem „in bestimmter Weise beschaffenen Körper“ (I 1,7,3), der durch die ‚Beleuchtung‘ der Materie durch die Weltseele in ihrer vegetativen Funktion entsteht und für intelligible Bestimmungen aufnahmefähig ist (VI 4,15,8–16).

9.3.2  Parmenides, Timaios und die Kausalität der Formen Indem er die intelligible Welt zur lebenden Einheit des Geistes mit seinem Objekt macht, stellt sich Plotin gegen eine bestimmte mittelplatonische Interpretationslinie bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Geist und den intelligiblen Gegenständen. Diese Debatte, in der sich Plotin und – vermittelt durch Porphyrios – Longinos als Erbe der Exegese des Attikos gegenüberstanden und in der die ‚Bekehrung‘ des Porphyrios symbolisch für den Übergang von Mittel- zum Neuplatonismus steht (vgl. VP 18,14–19; s. Abschn. 2.3), ist von einiger Bedeutung. Sie bringt die Lebendigkeit der Formen

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ins Spiel, die für die Frage nach ihrer kausalen Wirksamkeit entscheidend ist, und führt zu einer neuartigen Definition der Rolle der intelligiblen Welt als ‚Vorbild‘ (paradeigma; vgl. Plat. Tim. 28c–31a). Für Platon ist es wesentlich für das Intelligible, dass es in immer gleicher Weise aus sich selbst heraus existiert (Tim. 28a6–7; 29a1– 6; Phaid. 78d5–6; 100c6). Plotins Anliegen ist die Rechtfertigung dieser platonischen Aussage durch den Nachweis, dass die innere Perfektion der Formen aus ihrer wesensmäßigen Identität mit dem Geist erwächst. Ursache zu sein, bedeutet für Plotin, das Warum seines Daseins in sich selbst zu tragen (vgl. VI 7,1,55–57; 2,10– 11). Die Theorie, dass es bei immateriellen Entitäten keinen Unterschied zwischen dem, was eine Sache ist (ihrem Wesen), und der Sache selbst gibt, stammt aus der aristotelischen Metaphysik (Η 3, 1043b2–4), aber in der Enneade VI 7 [38],1–2 wird der aristotelische Gedanke sogleich in eine andere Richtung gelenkt, insofern er evoziert wird, um die Vollkommenheit der intelligiblen Formen zu untermauern. Denn es geht Plotin um den Nachweis, dass die Identität zwischen einer Wesenheit und ihrem ‚Warum‘ charakteristisch für die intelligiblen Formen ist, die demgemäß die wahren Substanzen (ousiai) sind. Die Definition des Timaios, nach der das Intelligible das Vorbild der sinnlich wahrnehmbaren Welt ist, impliziert somit, dass es eine aktuale und aktive Realität ist, die allein aufgrund ihrer Vollkommenheit eine abgeleitete Realität hervorzubringen vermag. Damit ist das mittelplatonische Schema einer Kausalität nach handwerklichem Modell verworfen (vgl. Michalewski 2014); stattdessen schreibt Plotin dem Intelligiblen in seiner Gesamtheit eine produktive Kraft zu, die das Sinnliche als seinen Reflex aus ihm hervorgehen lässt. Plotin arbeitet die notwendigen Bedingungen dafür heraus, dass die Formen kausale Funktion übernehmen können (Emilsson 2007, 67), und zeigt, dass die intelligiblen Wesenheiten produktive Ursachen der sinnlichen Welt sind, weil sie lebende und sich selbst konstituierende Substanzen sind. Der autarke Charakter der Formen folgt aus ihrer gemeinsamen Herkunft aus dem Einen,

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das der intelligiblen Welt und jeder einzelnen in ihr enthaltenen Wesenheit die Eigenschaft der Selbstbestimmung und Selbstgenügsamkeit vermittelt. Wenn man jedoch annimmt, dass die Formen in nichtaffizierbarer, von den an ihnen teilhabenden Entitäten separater Weise existieren, wie lässt es sich dann verstehen, dass die letzteren ihr Sein und ihre Bestimmtheit von den Formen erhalten? Nimmt man andererseits an, dass die Form in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen anwesend ist, so besteht die Gefahr, dass sie durch die Vielheit der an ihr teilhabenden Wesen fragmentiert wird (vgl. Plat. Parm. 131a– 132b). Dieses Dilemma aus der ersten Hälfte des Parmenides ist Gegenstand der Schrift VI 4–5 [22–23] (vgl. Tornau 1998). Plotin stellt hier klar, dass die Wurzel der Teilhabe-Aporien die Übertragung der für die Sinnendinge charakteristischen räumlichen Teilung auf den intelligiblen Bereich ist (VI 4,2,25–34). Es ist die nicht gerechtfertigte Anwendung von lediglich auf das dem Werden Unterworfene anwendbaren Kategorien, die zu dem Irrtum führt, dass die Form geteilt oder von sich selbst getrennt sein könnte. Unter Rückgriff auf die aristotelische Regel, dass eine Argumentation von den dem Gegenstand der jeweiligen Wissenschaft angemessenen Prinzipien auszugehen hat (VI 5,2,1–9 nach Aristot. an. post. 1,2, 71b9–23; 72a5–7; Chiaradonna 2011), zeigt Plotin, dass die Aporien des Parmenides bezüglich der Teilhabe und der Kausalität der Formen deshalb aufkommen, weil die Frage falsch gestellt ist: Dass das Intelligible vom Sinnlichen „separat“ (chôris) ist, bedeutet nicht, dass es von ihm räumlich getrennt ist, sondern dass es stets unaffiziert und unverändert bleibt. Aus diesem Grund kann Plotin die scheinbar paradoxe Auffassung vertreten, dass die intelligiblen Wesenheiten von den sinnlichen zugleich separat (transzendent) und ihnen gegenwärtig (immanent) sind – dass sie „überall und nirgends“ sind (vgl. V 2,2,20– 21; III 9,4,1–8; s. Abschn. 44.2). Um die Teilhabe richtig zu denken, darf man also nicht fragen, wie sich das Intelligible auf das Sinnliche verteilt, sondern inwiefern es das einheitliche Prinzip ist, auf das sich die Zerstreuung der Körper zurückführen lässt.

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9.4 Die Seele: Innere Struktur und Selbstbewegung Teilhabe ist nicht gleichbedeutend mit einer Fragmentierung der Formen durch den sinnlich wahrnehmbaren Bereich. Dieser strebt im Gegenteil nach den Formen, um an ihnen teilzuhaben. Die Fähigkeit der Körper, nach einer Bestimmung durch das Intelligible zu streben, ist ihnen durch die Seele vermittelt (VI 4,15,1– 18). Für Plotin nimmt die Seele daher, wie von Platon in der ‚Psychogonie‘ des Timaios dargelegt, eine Zwischenposition zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen ein (Plat. Tim. 35a). Diese Stelle ist der Schlüssel zu dem Verständnis, wie die Seele, als eine vermittelnde Wesenheit, „eines und vieles“ ist (IV 2,2,45– 52; vgl. V 1,8,26). Plotin ersetzt das Modell der vom Demiurgen zur Herstellung der Seele vorgenommenen Mischung aus einer „unteilbaren“ und einer „an den Körpern teilbaren Substanz“ durch das Modell der Derivation. Aus der „unteilbaren Substanz“ emaniert eine andere: die Seele. Vom Intelligiblen übernimmt sie die Unteilbarkeit, aber ihre Unteilbarkeit ist nicht die des Intelligiblen, weil sie dazu tendiert, sich zu teilen, um einen Körper zu beseelen. Doch ist ihre Teilbarkeit auch nicht mit der Teilbarkeit der Körper zu verwechseln, weil die Seele immer ganz und sie selbst bleibt (IV 2,1,11– 76). Plotin liest Timaios 35a also unter der allgemeineren Perspektive der Verknüpfung der drei grundlegenden ontologischen Ebenen (Geist, Seele, Körper; s. Abschn. 6.1); er transformiert die Frage nach der Zwischenstellung der Seele und ihrer Zusammensetzung aus dem Unteilbaren und dem Teilbaren zu der Frage nach der Vermittlung zwischen dem Einen und dem Vielen. Durch ihr Einheitsmoment regiert die Seele die sinnlich wahrnehmbare Welt; durch ihr Vielheitsmoment verbreitet sie das Leben. Dieselbe Platon-Stelle dient Plotin als Ausgangspunkt für die Frage nach dem Verhältnis der Einheit aller Seelen zu ihrer Verschiedenheit: Die hierarchische Differenzierung der Seelen resultiert daraus, dass das „Unteilbare“ – die vernünftige Seele – ungeteilt bleibt, während

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das „an den Körpern Teilbare“ diesen „überall die Wahrnehmungsfähigkeit zukommen lässt“ (IV 9,3,10–14). Die Seele ist zwar keine platonische Form, aber nichtsdestoweniger eine intelligible Wesenheit, d. h. sie ist einfach und nicht zusammengesetzt. Diese Festlegung erlaubt es Plotin, die Einwände des Aristoteles gegen Platons These von der Selbstbewegung der Seele zurückzuweisen (Aristot. an. 1,3, 405b31–406a2 gegen Plat. Phaidr. 245c–246a): Da Aristoteles die Selbstbewegung als Wirkung einer Substanz auf sich selbst auffasst, träfen seine Argumente lediglich auf eine zusammengesetzte Wesenheit zu; eine einfache, unteilbare Wesenheit kann dagegen nicht auf sich selbst wirken. Die Aussage, dass die Seele von Natur aus selbstbewegt ist, hat für Plotin den Sinn, dass sie dank ihrer unausgesetzten und affektionsfreien inneren Aktivität die Ursache der räumlichen und messbaren Bewegung der Körper zu sein vermag. Aus der Exegese der ‚Palinodie‘ des Phaidros entwickelt Plotin den Gedanken, dass das Leben der Seele wesentlich Bewegung ist, aber eine Bewegung ohne Ausdehnung (I 1,13,4–5). Aufgrund der Dissoziation der unkörperlichen Ursache der Bewegung von den von ihr abgeleiteten körperlichen Bewegungen kann Plotin sagen, dass die Bewegung der Seele kein Heraustreten aus sich selbst bedeutet (III 6,3,22–26). Diese Fähigkeit, zugleich in sich selbst zu verharren und in Bewegung zu sein, besitzt die Seele in dem Maße, in dem sie – wie der Geist/das Intelligible, dem sie entspringt – eine unkörperliche Substanz ist (IV 7,85,43–9,16). Die Frage der Selbstbewegung der Seele ordnet sich bei Plotin demnach in die Überlegungen ein, die dem Sinn von ‚Bewegung‘ im Geist und der intelligiblen Welt gewidmet sind. Die Bemerkung Platons, dass die sich selbst bewegende Seele „sich selbst niemals verlässt“ (Plat. Phaidr. 245c7), erklärt sich daraus, dass sie ihrer Natur nach geistig ist und daher in sich selbst verbleibt (O’Meara 1976, 121–124). Das, was sich im primären Sinne niemals selbst verlässt, ist das im vollen Sinne Unveränderliche und keiner Affektion Ausgesetzte, d. h. der Geist (VI 4,2,14–15).

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Wie jede wahre Substanz hat die Seele ihr Sein und ihr Leben aus sich selbst. Wenn Platon die Seele als selbstbewegt bezeichnet, dann will er für Plotin damit sagen, dass sie das Leben nicht als etwas ihr Äußerliches, Hinzuerworbenes besitzt (IV 7,9,10). Aber das Leben ist auch nicht lediglich eine wesentliche Eigenschaft von ihr; es ist vielmehr eins mit ihrem Sein selbst, sie ist per se lebendig. Diese Gleichsetzung ermöglicht Plotin eine Verteidigung der Argumentation des Phaidon, nach der die Seele ebenso ihrem Wesen nach lebendig ist wie das Feuer seinem Wesen nach heiß ist (Plat. Phaid. 106a–d; der hellenistische Peripatos wies die Schwäche dieses Arguments nach, vgl. Straton von Lampsakos, fr. 123 Wehrli; Boethos von Sidon, fr. 47 Rashed). Plotin begründet demgegenüber die Unvergänglichkeit der Seele mit der Tatsache, dass ihr Wesen identisch ist mit dem Leben selbst; da sie im Vollsinne ‚Sein‘ ist, kann sie weder vernichtet werden noch sterben. In der Schrift IV 7 [2] verknüpft Plotin die Interpretation des Phaidros mit der des Phaidon, um zu zeigen, dass das Argument des Phaidros von der Selbstbewegung der Seele die im Phaidon behauptete, aber nicht eigentlich gerechtfertigte Gleichsetzung von ‚Nicht-tot-Sein‘ und Unsterblichkeit legitimiert (IV 7,9–11; Chiaradonna 2015).

9.5 Die Konstruktion einer platonischen Identität Plotins exegetische Arbeit am Platontext hat das Ziel, die Dialoge in einer Weise zu lesen und zu interpretieren, die eine Zurückweisung gegnerischer Einwände erlaubt, und zugleich die Seele auf den Weg zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen. Wie Porphyrios berichtet, ließ sich Plotin am Anfang seiner Unterrichtsstunden Auszüge aus platonischen – Severos, Attikos –, aber auch peripatetischen Kommentaren vorlesen (VP 14,15–17). Ein ähnliches Programm findet sich in dem Eröffnungskapitel der Enneade III 7 [45], aus dem sich folgende drei Hauptschritte der philosophischen Unter-

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suchung ableiten lassen: 1) die Wahl eines Gegenstandes oder Problems, von dem die Seele möglicherweise einen intuitiven Begriff (ennoia) hat, und das Stellen von Fragen; 2) das Studium der Stellungnahmen früherer Philosophen und die Gewichtung und Hierarchisierung der Lehrmeinungen. 3) Dieser Schritt genügt jedoch noch nicht; vielmehr muss die Seele aus sich selbst zu einer echten Erkenntnis des gesuchten Gegenstandes gelangen (III 7,1,14–16; Armstrong 1974, 177). Die Texte Platons verdienen aus zwei Gründen eine besonders sorgfältige Kommentierung: Sie bieten der Seele eine Anleitung auf dem Weg zur Wahrheit; und sie sind häufig „änigmatisch“ formuliert (IV 2,2,49; VI 2,22,1; 13; VI 8,19,14), da Platon – hierin Orakeln und Mythen vergleichbar – häufig in andeutender Weise spricht (VI 9,9,31; III 4,5,4). Gelegentlich scheinen sich die Aussagen verschiedener Dialoge sogar zu widersprechen (IV 8,1,23–50 über die unterschiedliche Erklärung des Abstiegs der Seele in die Körperwelt in Phaidros und Timaios). Änigmatische Formulierungen müssen im Rahmen einer Gesamthermeneutik gelesen werden, die ihre Kohärenz aufweist; das Rätsel zu lösen, bedeutet, die fundamentale Übereinstimmung Platons mit sich selbst zu erweisen (III 4,5,24–25; IV 8,5,1) und zu zeigen, dass alle diese Texte, die jeweils einen Aspekt der Wahrheit zum Ausdruck bringen, miteinander harmonieren, insofern sie das Problem jeweils auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen betrachten (vgl. I 1,12 zu den Jenseitsstrafen der Seele; VI 6,4 zur Entstehung der Zahlen). Der Begriff der ‚Harmonie‘ (symphônia) ist das Herzstück der plotinischen Platon-Exegese, und er ist auf zwei Ebenen relevant: Plotin möchte erstens zeigen, dass Platon ein Autor ist, der mit sich selbst übereinstimmt, und zweitens seine eigenen Lehren mit denen Platons in Übereinstimmung bringen (VI 4,16,4–7; VI 3,1,1–2; s. auch Abschn. 7.3). Denn Platon ist der Autor, der am besten geeignet ist, um die Seele zur Wahrheit zu führen (vgl. IV 8,1,23–26).

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9.6 Ein Zeugnis für Plotins mündliche Platonerklärung? Eine jüngst von Yury Arzhanov erstmals herausgegebene, auf Syrisch erhaltene prinzipientheoretische Schrift, die höchstwahrscheinlich auf einen verlorenen Text des Porphyrios zurückgeht und von ihrem Editor mit dem Titel Über die Prinzipien und die Materie versehen worden ist (Arzhanov 2021), enthält vielleicht einen Hinweis auf die Platon-Exegese Plotins im mündlichen Unterricht. In der abschließenden Doxographie bemerkt der Autor, dass sich „sein Lehrer Plotin“ bei der Interpretation der laut dem Timaios der Erschaffung der Welt vorausgehenden ungeordneten Bewegung der Elemente (Plat. Tim. 30a) der Erklärung des Mittelplatonikers Severos angeschlossen habe, wonach die Passage sich nicht auf die ungeformte Materie, sondern auf bereits qualitativ gestaltete Elementarkörper beziehe (Porphyrios, Über die Prinzipien §§ 94–95). In Plotins schriftlichem Werk hat die Timaios-Stelle, von wenigen Anspielungen abgesehen (I 8,4,2–4) kaum Spuren hinterlassen (vgl. Chiaradonna 2021). Die Vermutung liegt daher nahe, dass eine Reminiszenz des Porphyrios an Plotins mündlichen Unterricht und an eine synousia zu Timaios 30a vorliegt: Plotin hätte dann nach der in der Vita Plotini beschriebenen Vorgehensweise (VP 14,10–16; s. Abschn. 2.3) den Platon-Text sowie die Kommentare des Severos und wohl auch der anderen in dem syrischen Traktat genannten Vorgänger – Attikos, Boethos, Longinos – verlesen lassen und anschließend selbst Stellung genommen. Die syrische Doxographie stellt Exegeten, die in der Passage den Hinweis auf eine reale Ungeordnetheit der Materie vor der Weltschöpfung durch den Demiurgen sehen (Attikos, Boe­ thos, Longinos), solchen gegenüber, die die Ungeordnetheit als Eigenschaft der elementaren Körper sehen und die Existenz einer chaotischen Urbewegung der Materie bestreiten (Severos, Plotin; Interpreten dieses Typs gelangen, wie es scheint, zu ihrer Timaios-Interpretation, indem sie

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in ihre Analyse der körperlichen Bewegung aristotelische Gedanken zum Sinn von Privation integrieren; vgl. Aristot. metaph. Δ 22, 1022b30–36). Bedenkt man Plotins bekannte Qualifizierung der Platoninterpretation des Longinos als „philologisch, aber nicht philosophisch“ (VP 14,18–20), so kann man hier eine Korrelation zwischen den Arten der metaphysisch-kosmologischen Deutung des Timaios und den Methoden der Platonlektüre sehen: Vertretern der dem Wortlaut folgenden zeitlichen Interpretation wird eine ein reines Bildungsinteresse verfolgende ‚philologische‘ Leseweise attestiert, während Interpreten wie Severos und Plotin – u. a. durch die Integration aristotelischer Elemente – über den Wortlaut des Textes hinaus zu dessen philosophischer Bedeutung vorzudringen suchen (Michalewski 2020, 227– 232). So gelesen, ermöglicht das bisher unbekannte porphyrische Zeugnis eine Konkretisierung von Plotins Verständnis seiner Identität als Platoniker, wie es sich auch in der Vita Plotini abzeichnet. Platoniker zu sein, bedeutet nicht, sich auf einen rein literarischen Ansatz der Textlektüre zu beschränken, sondern es verlangt von dem Interpreten, die Ebene der mythischen Darstellung zu überschreiten und das ewige Abhängigkeitsverhältnis der Welt zu ihrer intelligiblen Ursache zu erfassen. Plotins Auffassung von einer platonischen Identität ist demnach untrennbar verbunden mit dem Gedanken, dass die Texte Fragestellungen transportieren, die der Exeget aufgreifen und neu formulieren muss, um in eigenständiger Weise zur Erkenntnis der Wahrheit vordringen zu können.

Literatur Armstrong, Arthur Hilary: Tradition, Reason and Experience in the Thought of Plotinus. In: Atti del Convegno internazionale sul tema: Plotino e il Neoplatonismo in Oriente e in Occidente (Roma 1970). Rom 1974, 171–194 [Nachdruck in: Arthur Hilary Armstrong: Plotinian and Christian Studies. London 1979, Nr. XVII]. Arzhanov, Yury: Porphyry on Principles and Matter. A Syriac Version of a Lost Greek Text with an English Translation, Introduction, and Glossaries. Berlin 2021.

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Der Ausdruck ‚Alte Akademie‘ (griech. archaia Akadêmeia, lat. vetus Academia) war bereits in der Antike als Bezeichnung einer philosophischen Schule (hairesis) gebräuchlich (vgl. z. B. Cic. fin. 5,7 oder Diog. Laert. 1,19); ihr wurden diejenigen Philosophen – und Philosophinnen (vgl. Gaiser 1988, 358–364) – zugerechnet, die in der platonischen Akademie vor ihrer unter Arkesilaos in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. vollzogenen skeptischen Wende tätig waren, darunter Platon selber als Gründer der Akademie, sodann Speusipp, Xenokrates, Polemon, Krantor und Krates (Diog. Laert. 1,14 und Buch 5 insgesamt). Heute wird der Ausdruck ‚Alte Akademie‘ oft gebraucht, um – die Zentralfiguren Platon und Aristoteles ausnehmend – alle übrigen Denker, die in der Akademie bis zu Arkesilaosʼ Scholarchat wirkten, mit einem Sammelbegriff zu erfassen (vgl. die Gesamtdarstellungen von Krämer 1983, Dillon 2003 und Ricken 2017). Wenn von diesen Denkern die Rede ist, sind freilich Platon und Aristoteles stets präsent: Platon, da seine Dialoge sowie vermutlich auch einige seiner mündlichen Einlassungen das Denken seiner Schüler und ihrer Nachfolger grundlegend prägten; Aristoteles, da er unser wichtigster Zeuge für die philosophischen B. Strobel (*)  Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected]

­ heorien ist, welche die nach Platon und AristoT teles bedeutendsten Mitglieder der Alten Akademie entwickelten: Speusipp, Platons Neffe und unmittelbarer Nachfolger als Leiter der Akademie in den Jahren 347 bis 339, sowie Xenokrates, seinerseits Speusipps Nachfolger in dieser Funktion von 339 bis 314. Eben diese beiden Philosophen stehen auch zentral im Blick, wenn von einem Einfluss der Alten Akademie auf Plotin die Rede ist. Im Unterschied zu Platon und Aristoteles sind von Speusipp und Xenokrates keine Schriften in direkter handschriftlicher Überlieferung auf uns gekommen; was wir über die beiden Denker erfahren, erfahren wir aus zweiter, dritter oder noch weiter entfernter Hand. Dies erschwert die Rekonstruktion ihrer philosophischen Entwürfe (ausführliche Darstellungen der betreffenden Forschungsdebatten bieten Metry 2002 zu Speusipp sowie Thiel 2006 zu Xenokrates; prägnante Hinführungen Dancy 2021a zu Speusipp und Dancy 2021b zu Xenokrates), zumal der Hauptzeuge, Aristoteles, in seiner Berichterstattung bekanntlich stets seine eigene philosophische Agenda verfolgt; es setzt aber auch allen Versuchen, den Einfluss von Speusipp und Xenokrates auf den weiteren Verlauf der antiken Philosophiegeschichte abzuschätzen, Grenzen, da es nicht möglich ist, anhand ihrer Originaltexte zu verfolgen, inwieweit diese auch jenseits ausdrücklicher Bezugnahmen von späteren Autoren rezipiert worden

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_10

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sind. Diese methodischen Probleme gilt es im Bewusstsein zu halten, wenn man zu bestimmen sucht, ob und, wenn ja, auf welchen Überlieferungswegen Plotins Denken von Speusipp oder Xenokrates beeinflusst ist. Einen direkten Einfluss lassen Plotins Abhandlungen weder in namentlichen Bezugnahmen auf Speusipp oder Xenokrates noch in signifikanten Echos anderer Form erkennen. Was genau Plotin mit den Namen ‚Speusipp‘ und ‚Xenokrates‘ auf der Grundlage seiner Bekanntschaft mit Aristoteles oder auch anderen Quellen verband oder verbinden konnte, ist unklar; weder der Umstand, dass der von Plotin rezipierte Numenios (vgl. Porph. VP 14,12) sie in seiner Schrift Über die Abweichung der Akademiker von Platon (Numen. fr. 24 des Places) erwähnt, noch der, dass zumal Speusipp von den nach-plotinischen antiken Neuplatonikern, z. B. Porphyrios und Proklos, zitiert und vielleicht auch in längeren Exzerpten ausgeschrieben wird (wie für Iamblich vermutet worden ist; s. unten Abschn. 10.3), belegen, dass sich Plotin mit ihnen eingehender befasste. Gleichwohl sind Speusipp und Xenokrates und ihr Einfluss auf den späteren Platonismus, insbesondere auf Plotin, im vergangenen Jahrhundert ins Zentrum der Quellenforschung zum antiken Platonismus gerückt, scheinen sie doch die für den Platonismus als Schulrichtung charakteristische Systematisierung platonischen Denkens maßgeblich befördert zu haben (vgl. dazu Baltes 1993, 219–223) – und zwar, wie die aristotelischen Zeugnisse nahelegen, nicht nur als Interpreten der platonischen Dialoge, sondern auch in Weiter- und Umformung von Gedanken Platons, die ihrerseits nicht (oder jedenfalls nicht explizit) in den platonischen Dialogen zu finden sind.

10.1 Aristoteles über Speusipps und Xenokratesʼ Metaphysik Aristoteles erwähnt in seinen überlieferten Werken Speusipp und Xenokrates namentlich an nur jeweils vier Stellen (Speusipp an zwei Stellen der Nikomachischen Ethik und zwei der Meta-

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physik, Xenokrates ausschließlich in der Topik). Gleichwohl bilden die Theorien beider Denker wichtige Bezugspunkte für sein eigenes Philosophieren. Dies gilt im Besonderen für den Gedankengang der Metaphysik, in der Aristoteles – zumeist ohne Nennung von Namen – auf Speusipp und Xenokrates an der Seite von Platon zu sprechen kommt, wenn er die Fragen aufwirft, ob es „über die wahrnehmbaren Dinge hinaus“ (Aristot. metaph. Z 2, 1028b18: para ta ais­ thêta) Substanzen (ousiai) gebe und ob es eine Art von Substanz gebe, die von den wahrnehmbaren Dingen abgetrennt (chôristê) existiere (1028b18; 28–30). Bei der Formulierung dieser Fragen stehen ihm offenbar altakademische Theorien vor Augen, die die Zahlen (arithmoi) als abgetrennte Substanzen (M 6, 1080a13–14) bzw. als eine Art von unbewegter und ewiger Substanz (M 1, 1076a11) postulieren und somit beide Fragen mit ‚Ja‘ beantworten. Im siebten Buch der Metaphysik (Ζ 2, 1028b18–27) nennt Aristoteles näherhin drei Vertreter der Annahme, es gebe neben den wahrnehmbaren Substanzen (ousiai) weitere Arten von Substanzen: erstens Platon, der die Ideen und die mathematischen Gegenstände als zwei Arten von ousia und die sinnlich wahrnehmbaren Dinge als eine dritte Art annehme; zweitens Speusipp, der mit dem Einen beginnend noch mehr als nur drei Arten von ousia und für jede Art – Aristoteles nennt die Zahlen, die (geometrischen) Größen und die Seele – eigene Prinzipien (archai) ansetze (was Speusipp anderenorts den Vorwurf des Aristoteles einträgt, seine Ontologie sei „episodisch“ wie eine „schlechte Tragödie“, vgl. metaph. Λ 10, 1076a1; Ν 3, 1090b19–20); drittens „einige“ (womit Xenokrates gemeint sein dürfte, vgl. bereits Asklepios, In metaphysicorum libros Α–Ζ, CAG 6.2, 379,17 Hayduck), die die Ideen und die (im engeren Sinne mathematischen) Zahlen gleichsetzen und daran das Übrige anschließen, Linien und Flächen, bis hin zur ousia des Himmels und zu den wahrnehmbaren Dingen (zur Deutung der Stelle in Verbindung mit den weiteren einschlägigen Zeugnissen Theophr. metaph. 6b7–9 und S. Emp. adv. math. 7,147–149: Krämer 1967, 33–34).

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Bereits diesen skizzenhaften Ausführungen des Aristoteles lässt sich entnehmen, dass Speusipp wie auch Xenokrates das Ganze der Wirklichkeit in ontologisch ‚frühere‘ und ‚spätere‘ Stufen einzuteilen versucht haben; die entsprechenden Reihenfolgen, die vom ‚Früheren‘ zum ‚Späteren‘ führen, zeichnen sich zumindest ausschnittweise und im Umriss ab: Bei Speusipp führt der Weg vom Einen über die Zahlen und die Größen zur Seele, bei Xenokrates von den mit Zahlen identifizierten Ideen über die Linien und Flächen zum Himmel und den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen – in beiden Fällen also offenbar vom jeweils Einfacheren zum jeweils Komplexeren. Der Bericht zeigt, dass die beiden Denker insoweit eine „mathematisierende Ontologie“ (Krämer 1983, 30) vertraten, als sie den Zahlen und den geometrischen Größen ein gegenüber der Seele und den sinnlich wahrnehmbaren Dingen vorgängiges und separates Sein zuwiesen. Zudem scheint mindestens Speusipp die Zahlen ihrerseits auf das Eine als ihr Prinzip zurückgeführt zu haben. Weitere wertvolle Hinweise zu den von Speusipp und Xenokrates vertretenen metaphysischen Theorien finden sich in den Büchern 13 und 14 der Metaphysik (vgl. dazu Annas 1976), in denen Aristoteles mit Vehemenz und erheblichem argumentativen Aufwand gegen seine akademischen „Freunde“ (vgl. Aristot. eth. Nic. 1,6, 1096a13–17) plausibel zu machen sucht, dass weder die Annahme abgetrennter mathematischer Entitäten noch die abgetrennter Ideen haltbar ist (vgl. z. B. Aristot. metaph. M 8, 1083a37–b1; 1083b21–23; M 9, 1085b35–36; 1086a31–b13; N 3, 1090a29; N 6, 1093b25–29). Zu Beginn des 13. Buchs berichtet er – und lässt auch im weiteren Gedankengang der beiden Bücher immer wieder anklingen –, dass in der Akademie zwei Arten „unbewegter und ewiger“ Substanzen postuliert worden seien: die mathematischen Gegenstände (ta mathêmatika) – wie Zahlen und geometrische Gebilde (Linien, Flächen, Körper) – einerseits, die Ideen andererseits (M 1, 1076a16–22). Eine Gruppe von Denkern habe zwischen den mathematischen Entitäten und den Ideen derart unterschieden, dass es von ersteren mehrere Exemplare desselben

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Typs gibt, während jede Idee singulär ist (vgl. A 6, 987b16–18) – so gibt es z. B. mehrere mathematische Exemplare namens ‚Drei‘ (und auf zwei von ihnen wird Bezug genommen, wenn man sagt, dass 3  +  3  =  6), dagegen nur eine Idee der Drei. Platon, dessen Theorie hier angesprochen ist, habe überdies die Ideen als Zahlen konzipiert, jedoch eben nicht als Zahlen, die mathematischen Operationen unterworfen werden können, sondern als sogenannte Ideenzahlen (vgl. u. a. A 6, 987b22; M 6, 1080b11–14; M 8, 1083a31–35; M 9, 1086a11–13; N 3, 1090a16– 17; 1090b32–33). Andere Denker hätten nur die mathematischen Gegenstände, jedoch keine Ideen angesetzt – gemeint ist Speusipp (vgl. zu seiner Ablehnung der Ideenannahme auch M 6, 1080b27–28; M 8, 1083a21–22; N 2, 1090a8) –, wieder andere die mathematischen Entitäten und die Ideen gleichgesetzt (und damit der Sache nach die mathematischen Entitäten aufgehoben, vgl. M 9, 1086a9–11), womit Xenokrates gemeint sein dürfte. Darüber hinaus hätten die genannten Denker versucht, die Zahlen aus einem Paar einander entgegengesetzter Prinzipien abzuleiten (vgl. N 1–2, 1087a29–1090a2), die sich Aristotelesʼ Darstellung zufolge wie Form (morphê) und Materie (hylê) zueinander verhalten. In der platonischen und vermutlich auch xenokratischen Theorie sind die Ideenzahlen durch das Eine (to hen) als ‚Form‘ sowie durch ‚das Große und das Kleine‘ (to mega kai to mikron) bzw. die unbestimmte Zwei (ahoristos dyas) als ‚Materie‘ konstituiert (vgl. A 6, 987b20–22; 29–35 mit explizitem Bezug auf Platon; ohne Nennung von Namen z. B. M 7, 1081a14; M 9, 1085b7; N 2, 1088b28–30), während Speusipp die mathematischen Zahlen aus dem Einen (to hen) als ‚Form‘ und der Vielheit (to plêthos) als ‚Materie‘ hervorgehen lässt (vgl. M 9, 1085b4–27). Die geometrischen Größen (Linie, Fläche, Körper) werden ebenfalls jeweils auf ein Einheitsprinzip sowie ein Prinzip unbestimmter Quantität zurückgeführt. Damit verknüpft ist die innerakademische Diskussion der Frage, ob in allen Fällen (Zahl, Linie, Fläche, Körper) ein und dasselbe Einheitsprinzip bzw. ein und dasselbe Prinzip unbestimmter Quantität am Werk

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ist oder je verschiedene Prinzipien (vgl. Z 2, 1028b3–4; M9, 1085a32–b4; Annas 1976, 55– 62). Wenn man sich fragt, woher Speusipp und Xenokrates die Inspiration für die Entwicklung ihrer ‚mathematisierenden Ontologien‘ empfangen haben, ist an mindestens drei ‚Quellen‘ zu denken, die allesamt bereits in Aristoteles’ Berichten aufscheinen, freilich schwer voneinander abzugrenzen sind: a) die pythagoreische Tradition, in die Aristoteles bereits Platon selber einrückt (vgl. metaph. A 6) und die für Speusipp und Xenokrates noch wichtiger gewesen zu sein scheint (Speusipp bei Ps.-Iamblich, Theologumena Arithmeticae 82,10–85,23 de Falco = fr. 4 Lang = fr. 122 Isnardi Parente = fr. 28 Tarán, mit zahlreichen pythagoreisierenden Argumenten für die Vollkommenheit der Zahl Zehn; vgl. Dancy 1991, 106–107; Metry 2002, 14–25); b) die späteren platonischen Dialoge, insbesondere der Timaios und der Philebos, und c) mündliche Ausführungen Platons. Mit Bezug auf b) verdient die traditionsbildende Rolle des Xenokrates für die antike Timaios-Rezeption Erwähnung, dessen Ontologie stärker auf die Kosmologie ausgerichtet gewesen zu sein scheint (vgl. Theophr. metaph. 6b7–9 und zu dem von Xenokrates begründeten „Kosmozentrismus“ Baltes 1993, 221). Xenokrates steht am Anfang der nichtwörtlichen Interpretation der Weltentstehungsgeschichte des Timaios (vgl. Aristot. cael. 1,9, 279b32–280a8 = Dörrie/Baltes 1998, 86–89; 377–387; Simpl. in cael., CAG 7, 303,33–304,6 Heiberg; grundlegend Baltes 1976); die in diesem Zusammenhang bei Aristoteles überlieferte, berühmte Wendung „aus didaktischen Gründen“ (didaskalias charin: Aristot. cael. 1,9, 280a1) greift Plotin in IV 3 [27],9,14–15 auf (s. auch Abschn. 7.3). Einflussreich war auch Xenokratesʼ Deutung der ‚Entstehung‘ der Weltseele im Timaios (vgl. bes. Plut. de an. procr. 1012D2–F1 mit Verweis auf Xenokratesʼ Bestimmung der Seele als von sich selbst bewegte Zahl, die – allerdings um die Selbstbewegung verkürzt – auch

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bei Plotin anklingt: III 6 [26],1,31; V 1 [10],5,9; VI 5 [23],9,14; VI 6 [34],16,45; Tornau 1998, 98–99; 430–431). Für c) wiederum lässt sich darauf verweisen, dass Aristoteles Platon eine ähnliche Zahlen-Metaphysik wie Speusipp und Xenokrates zuschreibt, diese sich jedoch allenfalls andeutungsweise in den platonischen Dialogen greifen lässt: Weder ist in ihnen ausdrücklich von den mathematischen Gegenständen im Unterschied zu den Ideen die Rede noch von der Gleichsetzung der Ideen mit (Ideen-)Zahlen; auch eine ‚Erzeugung‘ der Ideenzahlen aus dem Einen und dem Großen und dem Kleinen (der unbestimmten Zwei) bezeugen sie nicht. Die von Harold Cherniss vertretene Annahme, dass Aristoteles diese Lehrstücke Platon auf der Grundlage einer polemisch verzerrten Interpretation der platonischen Dialoge zuschreibe, verdient weiterhin Beachtung (vgl. Steel 2012, bes. 186– 191; Cherniss 1962); es unterliegt jedoch erheblichen Zweifeln, dass die teils sehr spezifischen und technischen Angaben, die Aristoteles in den Büchern 13 und 14 der Metaphysik zu den akademischen Zahltheorien und darunter derjenigen Platons macht, auf diese Weise erklärt werden können. Daher verwundert es nicht, dass die gegenteilige Annahme, Aristoteles nehme hier auf Lehren Bezug, die von Platon – aus welchen Gründen auch immer – nur mündlich vertreten worden sind, bereits in der Antike ihre Anhänger fand (und heute weiterhin Anhänger findet). Simplikios, einer der spätantiken Platon- und Aristoteles-Kommentatoren (6. Jh. n. Chr.), berichtet, Aristoteles, Speusipp und Xenokrates hätten Platons Lehre „in seiner Vorlesung über das Gute“ kennengelernt und aufgeschrieben, und verweist hierfür im Anschluss an Alexander von Aphrodisias (in metaph., CAG 1, 56,35 Hayduck) auf Aristotelesʼ Abhandlung Über das Gute (Simpl. in phys., CAG 9, 151,8–11 Diels; nicht speziell von einer „Vorlesung“, akroasis, sondern allgemeiner von „Gesprächen“ – logoi, synousiai – ist die Rede in Simpl. in phys., CAG 9, 453,28; 454,18–20; 503,12; 545,25).

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10.2 Speusipp und Xenokrates als Mittler in einem vermuteten Traditionszusammenhang von Platon bis Plotin Wie auch immer man zur Annahme einer mündlichen Lehre Platon steht, Speusipps und Xenokratesʼ Ontologien weisen in der aristotelischen Darstellung jedenfalls starke Ähnlichkeiten mit Lehrstücken auf, die Aristoteles Platon zuschreibt und die in den Dialogen nicht explizit ausgeführt werden; und manche dieser Lehrstücke wiederum scheinen – genauso wie manche der ihnen verwandten Theorien Speusipps und Xenokratesʼ – in der neuplatonischen, von Plotin grundgelegten Metaphysik fortzuwirken, wie vor allem die Annahme des Einen als erstes Prinzip nahelegt. Beide Beobachtungen zusammengenommen haben es als verlockend erscheinen lassen, Speusipp und Xenokrates eine wesentliche Mittlerfunktion in einem vermuteten Traditionszusammenhang zuzuschreiben, der von Platon bis hin zu Plotin und dem nachplotinischen Neuplatonismus reiche und sich nicht nur aus der Rezeption der platonischen Dialoge und der aristotelischen Schriften, sondern auch aus einer von Aristoteles unabhängigen Kenntnis der sogenannten Ungeschriebenen Lehre Platons sowie verwandter metaphysischer Theorien der Alten Akademie speise. Und eben diese Kenntnis – so lautet die entsprechende, besonders von dem Tübinger Philosophen und Philosophiehistoriker Hans Joachim Krämer (1929–2015) ebenso entschieden wie kenntnisreich verfochtene These – verdanke sich letztlich der direkten oder indirekten Rezeption der Schriften von Speusipp und Xenokrates. Eine zentrale Rolle innerhalb von Krämers monumentaler Rekonstruktion – aber auch der Vorarbeiten, an die er anknüpft (Dodds 1928; De Vogel 1953; Merlan 1975) – nimmt der Begriff des ‚Derivationssystems‘ ein: Krämer argumentiert, dass sowohl die Alte Akademie (Platon, Speusipp und Xenokrates) als auch spätere Platoniker, darunter Plotin, jeweils ein ‚Derivationssystem‘ mit ontologisch ‚früheren‘ und

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‚späteren‘ Gegenstandsbereichen entwickelt hätten und die Ähnlichkeiten im ontologischen Stufenbau der ‚Derivationssysteme‘ von Speusipp und Xenokrates einerseits, Plotin andererseits erste Hinweise auf einen ‚untergründigen‘ Traditionszusammenhang zwischen der Alten Akademie und Plotin lieferten. Das folgende Schema, das die Ähnlichkeiten vor Augen führen soll, lehnt sich an Krämers Aufrisse der drei – letztlich, so Krämer, auf Platon selber zurückgehenden – ‚Derivationssysteme‘ (Krämer 1967, 31–32; 209–210; 295; 325) an: Speusipp

Xenokrates

Das Eine Mathematische Gegenstände (Zahlen, geometrische Größen)

Das Eine Das Eine (verstanden als ‚Nous- Geist Monas‘), enthält in sich: Ideenzahlen, ideale geometrische Größen

Plotin

(Welt-)Seele

(Welt-)Seele

(Welt-)Seele

Wahrnehmbare Körper

Wahrnehmbare Körper

Materie

Krämer belässt es indessen nicht bei der Beobachtung einer auf den ersten Blick eher oberflächlich und auch nicht ganz passgenau anmutenden Übereinstimmung des ontologischen Stufenbaus der ‚Derivationssysteme‘; er versucht vielmehr, konkret aufzuweisen, wie altakademisches Gedankengut Plotins Verständnis jeder der vier Stufen, zumal der ersten beiden, sowie ihres Verhältnisses zueinander zumindest mittelbar beeinflusst hat. Krämer unternimmt diesen Versuch vor dem Horizont einer umfassenden Theorie des Fortwirkens der Alten Akademie in der Geschichte des antiken Platonismus: Zum einen habe Xenokrates mit seiner Beschreibung der Ideen(-Zahlen) als vom göttlichen Geist gedachte Gehalte alle späteren platonischen Systeme der Antike und so auch dasjenige Plotins mitgeprägt; zum anderen hätten seine und Speusipps Auffassungen über das erste Prinzip jeweils unterschiedliche Strömungen des Platonismus angebahnt, Xenokratesʼ Identifikation des ersten Prinzips mit der ‚NousMonas‘ (‚Geist-Einheit‘) insbesondere den mittleren Platonismus (s. Kap. 13), Speusipps (und

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schon Platons) Annahme eines transzendenten Einen jenseits des göttlichen Denkens und der Pluralität seiner Gehalte den Neuplatonismus. Krämer steht in seiner Würdigung der Wirkmacht der beiden Denker keineswegs allein (vgl. etwa Dillon 2003, v–vi). Die weitere Darstellung konzentriert sich auf die durch Krämer und seine Vorgänger wie Nachfolger angestoßenen Fragen, welcher Einfluss auf Plotins Denken altakademischen Theorien bezüglich der ersten beiden Stufen der ‚Derivationssysteme‘ – also mit Bezug auf die Henologie, die Lehre vom Einen, und die Noologie, die Lehre vom Geist – zukommt, und will hierzu das philosophiehistorische Problemfeld und zentrale Argumentationslinien desselben umreißen. Dabei sind nicht nur Krämers eigene Arbeiten kritisch berücksichtigt, sondern auch die Beiträge anderer Forscher (insbesondere Russell M. Dancy, John Dillon, Lloyd Gerson, Andreas Graeser, Jens Halfwassen, Thomas A. Szlezák und Leonardo Tarán), die sich – u. a. auch in Reaktion auf Krämers Thesen – teils sehr unterschiedlich positioniert haben.

10.3 Henologie Wenn es um den Einfluss der Alten Akademie auf Plotins Theorie des transzendenten Einen geht, so steht Speusipp im Zentrum des Interesses. Dies erklärt sich daraus, dass angenommen wird, (1a) Speusipps Konzeption des Einen nehme in wichtigen Aspekten Plotins Konzeption des ersten Einen vorweg und (1b) habe sie unmittelbar oder mittelbar beeinflusst. Gern werden diese beiden Annahmen mit den beiden weiteren verbunden, dass (2a) Speusipp seine Konzeption des Einen aus einer bestimmten Deutung von Platons Parmenides gewonnen und (2b) eben diese Interpretation, vermittelt durch spätere Autoren, schließlich sowohl Plotins eigene Parmenides-Interpretation als auch seine Konzeption des (ersten) Einen beeinflusst hat. (Auch wenn die auf Platons Parmenides verweisenden Thesen (2a) und (2b) häufig zu (1a) und (1b) hinzugenommen werden, sind letztere mit ersteren nicht zwingend verbunden.)

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Es war Eric Robertson Dodds, der die vier Thesen 1928 als erster vermutungsweise äußerte und die generelle Beobachtung anschloss: „It seems to me that with Speusippus we are already well started on the road to Neoplatonism“ (Dodds 1928, 140). Dodds wandte sich mit dem Rekurs auf Speusipp nicht nur gegen das seinerzeit weitverbreitete Vorurteil, Plotins Philosophie und zumal seine Konzeption des Einen seien ‚orientalisch‘ und nicht ‚echt griechisch‘ (Dodds 1928, 129–131; 141–142), sondern auch gegen die insbesondere von Werner Jaeger vertretene Auffassung eines starken Einflusses des Poseidonios auf Plotin (Dodds 1928, 131). Für seine Hypothese machte Dodds die folgenden, seines Erachtens auf Plotin vorausweisenden Thesen Speusipps geltend (Dodds 1928, 140): (i) Das erste Prinzip ist das Eine; (ii) das Eine ist überseiend (hyperousion) oder zumindest nicht-seiend (anousion); (iii) das Eine ist vergleichbar mit einem Samen; (iv) das Eine ist das erste in einer Reihe von Prinzipien, die für Zahlen, für geometrische Größen sowie für die Seele angesetzt werden. Mit (i) und (ii) ist, so insinuiert Dodds, auch eine Interpretation der ersten Hypothese des Parmenides (137c4–142a8) verbunden; dieser Deutung zufolge handelt die Hypothese vom ersten Prinzip alles Seienden, dem nicht- bzw. überseienden Einen. Für die These (iv) – und das heißt vor allem die Ableitung einer Vielheit von Zahlen aus dem Einen – stütze sich Speusipp auf eine entsprechende Deutung der zweiten Hypothese (Plat. Parm. 142b1–155e3; vgl. dazu ausführlicher sowie mit Ausblick auf Plotin Dillon 2010). Bevor Dodds die Parmenides-Interpretation letztlich auf Speusipp zurückführt, verweist er auf neupythagoreische Texte vorplotinischer Zeit (u. a. Eudoros bei Simpl. in phys., CAG 9, 181,10–30 Diels; Moderatos bei Simpl. in phys., CAG 9, 230,36–231,5 Diels), die eine ähnliche Interpretation (und entsprechende philosophische Theorie) erkennen ließen und insofern als Zwischenglieder der Tradition zwischen Speusipp und Plotin zu betrachten seien. Doddsʼ Vermutung ist von zahlreichen späteren Forschern aufgegriffen und weiterentwickelt worden, ebenfalls mit Rekurs auf

10  Die Alte Akademie

die als Zwischenscharnier fungierenden neupythagoreischen Zeugnisse, doch darüber hinaus auf der Grundlage weiterer, von Dodds noch nicht berücksichtigter Quellen. Insbesondere zwei Texte wurden und werden vielfach als Belege dafür angeführt, dass Speusipp vor allem in der Konzeption des Einen, darüber hinaus aber auch – mit gewissen Einschränkungen – in der ‚Derivation‘ der abgeleiteten Entitäten ein Neuplatoniker avant la lettre sei. Der eine Text (im Folgenden: I), ein Abschnitt aus Iamblichs De communi mathematica scientia ohne namentlichen Bezug auf Speusipp, wurde erstmals von Philip Merlan 1953 für Speusipp in Anspruch genommen (vgl. Merlan 1975, 96–140) und später als Speusipp-Testimonium von John Dillon gegen die Einwände von Leonardo Tarán verteidigt (Dillon 1984; Tarán 1981, 104–107; vgl. auch Metry 2002, 148–152; dt. Übersetzung des Textes: Metry 2002, 168–175); der andere (im Folgenden: P) findet sich in einer 1927 von Raymond Klibansky entdeckten mittelalterlichen lateinischen Übersetzung des siebten Buches von Proklosʼ Parmenides-Kommentar und zitiert Speusipp namentlich. Zu I (Iambl. DCMS 4, p. 15,6–18,12 Festa = Speusipp, fr. 72 und 88 Isnardi Parente): Selbst ein Interpret, der die speusippische Provenienz dieses Textes skeptisch beurteilt, muss einräumen, dass die in I skizzierte Theorie auffällige Ähnlichkeiten mit Thesen aufweist, die Aristoteles Speusipp zuschreibt (vgl. Tarán 1981, 104 mit Hinweis darauf, dass das Eine und die Vielheit als Prinzipien der mathematischen Zahlen fungieren; dass der Punkt, der dem Einen ähnlich ist, und ein Materialprinzip, das von der Vielheit verschieden, jedoch ihr ähnlich ist, als Prinzipien der geometrischen Gebilde angenommen werden; dass eine Vielheit von Materialprinzipien eingeführt wird; dass das Eine als weder schön noch gut gilt und das Materialprinzip nicht als Übel). Andererseits zeigt der Text auch auffällige Abweichungen von Aristotelesʼ Zuschreibungen. So liegt I zwar darin mit der aristotelischen Speusipp-Darstellung auf einer Linie, dass dem Einen Sein (vgl. Iambl. DCMS 4, p. 15,6–10 mit Aristot. metaph. N 5, 1092a14–15) sowie Schön- und Gutsein

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(vgl. Iambl. DCMS 4, p. 16,10–14 mit Aristot. metaph. Λ 7, 1072b30–34; N 4, 1091a33–36; 1091b32–35) abgesprochen werden, wobei die Übereinstimmung bis hin zur Wortwahl reicht (vgl. Iambl. DCMS 4, p. 16,12–13 mit Aristot. metaph. N 4, 1091a35–36). Es zeigt sich jedoch ein bemerkenswerter Unterschied in der Art und Weise, wie die Negationen formuliert werden: Während Aristoteles das Eine Speusipps als nicht-schön bzw. nicht-gut eher im Sinne von ‚noch nicht schön‘ bzw. ‚noch nicht gut‘ versteht (vgl. die Begründung in metaph. Λ 7, 1072b32–34 und dazu De Cesaris 2023), erscheint es in I als nicht-schön bzw. nicht gut im Sinne von ‚über-schön‘ bzw. ‚über-gut‘ (Iambl. DCMS 4, p. 16,11). Wer in diesem Punkte der tatsächlichen Position Speusipps näherkommt, ob Aristoteles oder Iamblich (falls letzterer denn hier direkt oder indirekt auf Speusipp zurückgreift), und ob die verschiedenen Ausdrucksweisen überhaupt einen Unterschied in der Sache machen (verneint von Krämer 1967, 356; Dancy 1991, 94), mag hier offenbleiben. Falls I Speusipps Theorie wiedergibt, weist das Zeugnis sie tatsächlich in einer bedeutsamen Hinsicht als Vorläufer von Plotins Konzeption des (ersten) Einen aus und spricht insoweit für These (1a) oben (und vielleicht auch – wiewohl keineswegs zwingend – für These (1b)): Der Gedanke, dass das Eine nicht ist, wird nämlich in I damit gerechtfertigt (DCMS 4, p. 15,8– 10), dass (i) das Eine einfach ist und dass (ii) es das Prinzip der seienden Dinge ist und das Prinzip von X nicht so ist wie X (eine ähnliche Rechtfertigung scheint der These zugrundezuliegen, dass das Eine weder schön noch gut ist); eben die Annahme, dass das Prinzip von X nicht so ist wie X („the principle of Alien Causality“, Dancy 1991, 98–111), prägt nun auch Plotins Henologie (z. B. III 8 [30],9,39–43, V 2 [11],1,5–7) und führt ihn dazu, das Eine nicht nur als jenseits des Seins, sondern auch als „über-gut“ (VI 9 [9],6,40: hyperagathon) und „über-schön“ (VI 7 [38],33,19–20: hyperkalon) zu qualifizieren, sodass in seinen Schriften ähnliche Negationen wie in I mit ähnlicher Begründung anzutreffen sind. Für Plotin ist es offenbar auch nicht schwierig, die Kenn-

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zeichnung des Einen als „über-gut“ (hyperaga­ thon) mit derjenigen als „das Gute selbst“ (to agathon auto; vgl. Plat. rep. 6, 506d; 7, 534c etc.) zu vereinbaren; entsprechend dürfte er, von Aristotelesʼ Andeutungen abweichend, keinen wirklichen Gegensatz zwischen Speusipps negativer Konzeption des Einen und der Konzeption derjenigen, die das Eine mit dem Guten selbst identifiziert haben (vgl. Aristot. metaph. N 4, 1091b13–15), also Platon und Xenokrates, festgestellt haben (s. auch Kap. 25). Was ferner den Bezug zur ersten Hypothese des Parmenides betrifft (Thesen (2a) und (2b)), so ist dieser zwar im Falle von Plotins Konzeption des (ersten) Einen deutlich (vgl. bes. V 1 [10],8,23–26) – wenn auch vielleicht in der Forschung überbetont (so Gerson 2016) –, liegt hingegen im Falle von I weniger auf der Hand: im Parmenides findet sich zwar die Negation von Sein (141e9–10), nicht aber die in I (und laut Aristoteles von Speusipp) betonte Negation von Gut- und Schönsein. Zu P (Procl. in Parm. 7, p. 501,62–67 Steel = Speusipp, fr. 62 Isnardi Parente = fr. 48 Tarán): Dieser Text lässt Speusipp eine noch radikalere negative Bestimmung des Einen referieren oder vielleicht sogar selbst vertreten. Proklos zitiert gegen Ende seines Kommentars zur ersten Hypothese von Platons Parmenides Speusipp als Berichterstatter über „die Alten“ (palaioi), denen Speusipp Folgendes zuschreibe: „In der Annahme, dass das Eine höherrangig als das Seiende sei und dasjenige, von dem das Seiende herrühre, befreiten sie es von der Relation als Prinzip. Da sie weiter annahmen, dass nichts von den anderen Dingen entstehen würde, wenn man das Eine selbst, unabhängig und nur für sich betrachtet, ohne die anderen Dinge an sich selbst ansetze, ohne ihm ein anderes Element hinzuzufügen, führten sie die unbestimmte Zweiheit als Prinzip der seienden Dinge ein.“ Der Text wirft eine Reihe von Fragen auf (vgl. den Forschungsbericht von Luna 2021): Wer sind „die Alten“? (Die meisten Forscher denken im Anschluss an Burkert 1962, 56, es seien ältere Pythagoreer gemeint.) Beruft sich Speusipp auf die Alten affirmativ (so die opinio communis), oder zitiert er sie vielmehr in der Absicht, ihre Auffassungen

B. Strobel

zu problematisieren (so Dancy 1991, 92–94; Metry 2002, 146–147)? Falls er sich auf sie beruft, stellen sich weitere Fragen: Warum spricht er von ‚der unbestimmten Zwei‘, nicht von ‚der Vielheit‘ (dies laut Aristoteles sein eigener Terminus für das Gegenprinzip zum Einen)? Inwieweit ist das, was wir in P hören, mit dem vereinbar, was Aristoteles über Speusipp bezeugt? Und falls man I als Speusipp-Testimonium akzeptiert: Inwieweit ist P damit vereinbar, was I besagt? Wie auch immer man diese Fragen beantwortet, klar ist zumindest so viel, dass die zu Beginn von P formulierten Thesen, das Eine sei „höherrangig“ (melius = κρεῖττον) als das Seiende und „dasjenige, von dem das Seiende herrühre“ (a quo le ens = ἀϕ οὗ τὸ ὄν), Speusipps Konzeption des Einen als Vorläufer der plotinischen Konzeption ausweisen (siehe These (1a) oben) – falls P denn wirklich auf Speusipp zurückgeht und die Lehre der Alten von ihm befürwortend zitiert wird. Unter diesen beiden Voraussetzungen gilt Ähnliches auch für den in P formulierten Gedanken, dass das Eine an sich selbst nicht Prinzip ist, sondern vom Seienden aus betrachtet – auch dieser Gedanke ist Plotin durchaus geläufig (VI 8 [39],8,9; VI 9 [9],3,49– 54), wenngleich P mit der Hinzufügung (vgl. apponens = προστιθείς) der unbestimmten Zwei als „Prinzip des Seienden“ (entium principium = τῶν ὄντων ἀρχή) einen dualistischen Zug erkennen lässt, der Plotins Denken fremd ist und für die altakademische Herkunft des Zeugnisses sprechen könnte. Die Erwähnung der unbestimmten Zwei in P hat zwar insoweit eine Parallele bei Plotin, als er die unbestimmte Zwei ebenfalls verwendet, um die erste Vielheit auf der Stufe des Geistes hervorgehen zu lassen (V 1 [10],5,6–9; V 4 [7],2,7–8); gerade in Plotins Bemerkungen zum Verhältnis des Einen zur unbestimmten Zwei zeigt sich jedoch eher der Einfluss von Aristotelesʼ Platon-Referaten (vgl. die Bezugnahme auf Aristot. metaph. A 6, 987b21– 22 in V 4 [7] 2,7–8; dazu Szlezák 1979, 57–65) als der von Speusipp, was zumindest an diesem Punkte die These (1b) als zweifelhaft erscheinen lässt. Und auch bezüglich der anderen Punkte führt selbstverständlich kein logisch zwingender Weg von (1a) nach (1b).

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Manche Interpreten sind der Auffassung, dass der erste Satz von P auf die Weise anspiele, wie das (reine) Eine in der ersten Hypothese des Parmenides betrachtet werde, der zweite Satz darauf, wie das (seiende) Eine in der zweiten Hypothese des Parmenides betrachtet werde. Diese Deutung soll die Thesen (2a) und (2b) stützen und wird tatsächlich durch den Kontext nahegelegt, in dem Proklos Speusipp zitiert, findet jedoch in dem zitierten Text selbst keine explizite Stütze (vgl. Szlezák 1997, 590–591; Metry 2002, 142–145). Insbesondere die Negation des Prädikats ‚ist ein Prinzip‘ hat in der ersten Hypothese keine Parallele und kommt allenfalls implizit dadurch zum Ausdruck, dass die Negation jedes Prädikats in der Konsequenz der Ableitungen der ersten Hypothese liegt und eine Vielheit von Seiendem erst in der zweiten Hypothese generiert wird. Zusammenfassend lässt sich zu den beiden Zeugnissen I und P sagen, dass sie, falls sie ein getreues Bild von Speusipps Konzeption des Einen geben, diese in zentralen Hinsichten als Vorläufer der plotinischen ausweisen und insoweit einen zumindest indirekten – und möglicherweise mit einer bestimmten Deutung des Parmenides verbundenen – Einfluss der Alten Akademie auf Plotins Denken nahelegen. Freilich scheint P einen ganz anderen Gebrauch von der unbestimmten Zwei zu machen als Plotin und insbesondere einen Plotin fremden Prinzipiendualismus anzunehmen. Betrachtet man diesen Unterschied als Indiz gerade für die speusippische Provenienz des Zeugnisses, so stellt sich umso mehr die Frage: War Speusipp wirklich ein Neuplatoniker avant la lettre? Das Eine Plotins ist Urgrund von allem anderen (mit der bereits genannten Einschränkung, dass diese Zuschreibung von seinen Prinzipiaten aus erfolgt); gilt dies auch für das Eine Speusipps? Bei Aristoteles erscheint es als – mit dem Materialprinzip Vielheit (plê­ thos) zusammenwirkendes – Prinzip eines bestimmten Teilbereichs des Seienden, der Zahlen (arithmoi), während z. B. für den Bereich der geometrischen Größen nicht das Eine, sondern etwas „wie das Eine“ (hoion to hen), nämlich der Punkt (stigmê), als – mit wiederum einem

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anderen Materialprinzip zusammenwirkendes – Prinzip genannt wird (Aristot. metaph. M 9, 1085a32–34). Dagegen wird I von manchen Interpreten als Beleg dafür gedeutet, dass Speusipp das Eine als ein bereichsübergreifendes Prinzip angesetzt habe, das seine bereichsspezifischen Analoga (die Eins – monas – im Bereich der Zahlen, den Punkt – stigmê – im Bereich der geometrischen Größen etc.) allererst konstituiere oder sich in ihnen realisiere (vorsichtig vermutet von Krämer 1983, 30–31 mit Verweis auf Iambl. DCMS 4, p. 17,5 Festa, weniger vorsichtig Dancy 1991, 107–108; Metry 2002, 156; Dillon 2003, 44–45; Halfwassen 2015, 203; anders Tarán 1981, 99–100 Anm. 443); diese Interpretation verfehlt jedoch vermutlich gerade die Pointe von Speusipps Annahme bereichsspezifischer Prinzipien (vgl. Graeser 2003, 43–51; De Cesaris 2023). Manche Interpreten gehen sogar so weit, I als Beleg dafür zu nehmen, dass Speusipp aus dem Einen auch noch sämtliche bereichsspezifischen Materialprinzipien hervorgehen lasse (Halfwassen 2015, 146–147), um Speusipp so nah wie möglich an Plotin heranzurücken. Jedoch finden sich weder in I noch in P, geschweige denn bei Aristoteles Anhaltspunkte für diese Hypothese; Speusipp kann somit nicht als Vorläufer der von Plotin vertretenen These, dass schlechthin alles (andere) aus dem Einen hervorgeht, angesehen werden, vielmehr ist die Übergipfelung eines Paars gegensätzlicher Prinzipien durch das erste Eine als Urgrund von allem erst in neupythagoreischen Texten (vgl. bes. Eudoros bei Simpl. in phys., CAG 9, 181,10–30 Diels) greifbar (vgl. zur Frage, inwieweit ein Monismus im Sinne Plotins auf die Alte Akademie zurückgeführt werden kann, die umsichtigen Überlegungen bei Krämer 1967, 329–334).

10.4 Noologie Die Frage nach dem Einfluss der Alten Akademie auf Plotins Noologie kann in einem weiteren und einem engeren Sinne verstanden werden. In dem weiteren Sinne lässt sich (a) fragen, ob Lehrstücke, die als ‚gemeine Münze‘ des an-

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tiken Platonismus angesehen werden können und auch, aber eben nicht nur für Plotins Noologie charakteristisch sind, auf die Alte Akademie zurückgeführt werden können; im engeren Sinne stellt sich (b) die Frage, ob gewisse Propria der plotinischen Noologie, insbesondere seine Theorie der Konstitution des Nous, einen altakademischen Ursprung haben. Zu (a). Ein Lehrstück, das Plotins Noologie und große Teile des antiken Platonismus gemein haben, ist ohne Zweifel das von den Ideen oder Zahlen im transzendenten Geist. Im Zusammenhang mit diesem Lehrstück fällt öfter der Name Xenokrates, zumindest seit Hans Joachim Krämer den Nachweis zu führen versucht hat, dass dieses Lehrstück ursprünglich von Xenokrates entwickelt worden sei und sich von ihm ausgehend im Platonismus verbreitet habe. Krämer entfaltet seine These zunächst ohne Bezug auf Plotin, nämlich auf der Grundlage der theologischen Fragmente des Xenokrates (insbesondere Stob. 1,36,6–1,37,7 Wachsmuth = fr. 15 Heinze = fr. 213 Isnardi Parente; Favonius Eulogius, De somnio Scipionis 3,25– 31 Holder = fr. 16 Heinze = fr. 214 Isnardi Parente) sowie der Spuren, die Krämer zufolge die xenokratische Theorie im neupythagoreischen Schrifttum, bei Numenios und weiteren Autoren des Mittelplatonismus hinterlassen hat. Für Krämers Deutung zentral ist die Annahme, dass der erste Gott aus fr. 15 Heinze – die Eins (monas) – Geist (Nous) und zugleich Inbegriff der Ideen- und Zahlenwelt ist, und zwar so, dass er die Ideen bzw. Zahlen denkend in sich enthält (Krämer 1967, 42). Krämer sieht diese Annahme bereits durch fr. 16 Heinze hinreichend bestätigt; doch um sie weiter zu untermauern, zieht Krämer insbesondere Numeniosʼ Unterscheidung zwischen drei Intellekten heran, die er als drei Aspekte des ersten Gottes versteht; Numenios sei in seiner Theorie offenkundig von Xenokrates beeinflusst, sodass man Details, die sich bei Numenios finden, wiederum für Xenokrates in Anspruch nehmen könne. Bereits an dieser Stelle von Krämers Rekonstruktion kommt Plotin ins Spiel, schließe sich doch dieser (III 9 [13],1) Numenios darin an, dass er innerhalb der Plat. Tim. 39e7–9 entnommenen

B. Strobel

Trias ho esti zôon – nous – dianooumenon die beiden Momente ho esti zôon und nous ebenfalls auf den transzendenten Geist bezieht (Krämer 1967, 88). Die von Krämer hier vorausgesetzte Numenios-Deutung ist allerdings ebenso umstritten geblieben wie die Verbindung, die Krämer zwischen Numenios und Xenokrates herstellt, und die Rolle, die er Xenokrates generell für die Verbreitung des Lehrstücks von den Ideen im göttlichen Geist zuschreibt. Zu (b). Ein gewichtiger Teil von Krämers Buch zielt darauf, auch spezifische Charakteristika von Plotins Noologie auf die Alte Akademie zurückzuführen, insbesondere seine Theorie der Konstitution des Geistes. Zwar räumt Krämer ein, dass Plotin als ‚erste Phase‘ der Konstitution das Hervorgehen der unbestimmten Zwei aus dem Einen konzipiert und damit eine klar monistische Position vertritt, die nicht zu dem „sonst durchweg bezeugten akademischen Dualismus der Prinzipien“ (Krämer 1967, 329) passt; doch ist er überzeugt: „Nähme man den Monismus einmal hypothetisch für die Ältere Akademie an, so erschiene die Differenz zwischen altakademischer und plotinischer Geistmetaphysik und der Konstruktion ihres Grundaktes auf ein äußerstes Minimum reduziert. Das Schema ἕν → δυάς → νοῦς = ἀριθμὸς wäre hier wie dort das gleiche“ (Krämer 1967, 334). Für den Monismus verweist Krämer auf die neupythagoreische Aneignung des altakademischen Materials, schließt aber auch seine altakademische Herkunft nicht aus (Krämer 1967, 329–334). Nicht nur in seiner Theorie der Konstitution des Nous, auch in seiner Theorie der intelligiblen Zahlen (vgl. die Abhandlung VI 6 [34] Über Zahlen und dazu Krämer 1967, 292– 311) stelle Plotin seine Reflexionen nicht, wie üblicherweise angenommen, auf der Grundlage von Platons Dialogen sowie Aristotelesʼ Berichten über Platon an, sondern sei vielmehr dem „unterirdisch verlaufenden Überlieferungsstrom des Platonismus“ (Krämer 1967, 309) verpflichtet. Die Argumentation, mit der Krämer diese These zu begründen sucht, kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden; es muss der Hinweis genügen, dass sich die These in der

10  Die Alte Akademie

­ orschung nicht durchsetzen konnte und tatsächF lich mehr für die von Krämer angegriffene Interpretation als für seine eigene spricht (vgl. Szlezák 1979, 115–119). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch, den Plotin von der Unbestimmten Zwei in seiner ‚Erzeugung‘ der Nous-Hypostase macht und der – überhaupt nur an zwei Stellen vorkommend (V 1 [10],5,6– 19; V 4 [7],2,7–8; Bussanich 1988, 14–17) – mit ihrer ursprünglichen Funktion im Rahmen der ‚Erzeugung‘ von Idealzahlen nichts mehr zu tun hat (vgl. Szlezák 1979, 64–65). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Falle von Plotins Noologie der Einfluss der Alten Akademie noch weniger deutlich und jedenfalls schwächer ist als im Falle seiner Henologie, die tatsächlich – zumindest indirekt – durch Speusipps negative Konzeption des Einen beeinflusst gewesen sein mag.

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Aristoteles und der Aristotelismus

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Riccardo Chiaradonna

11.1 Texte und Lehrtätigkeit Porphyrios bezeugt die Bedeutung des Aristoteles und der Aristoteleskommentare für die Lehrtätigkeit Plotins. Er liefert die folgenden Informationen: 1) In den Schriften Plotins sind stoische und peripatetische Theorien präsent; 2) seine Werke enthalten eine Fülle von Anspielungen auf die Metaphysik; 3) im schulischen Unterricht ließ Plotin u. a. die Aristoteleskommentare des Aspasios, Alexander von Aphrodisias und Adrastos lesen (Porph. VP 14,4–14; s. Abschn. 1.2 und 2.3). Die Lektüre und Kommentierung der Schriften des Aristoteles war somit neben der Lektüre und Kommentierung der platonischen Dialoge ein integraler Bestandteil der philosophischen Vorlesungen Plotins. Auf der Grundlage der Angaben des Porphyrios (VP 13–14) und Plotins selbst (III 7 [45],1) hat H. Gregory Snyder die Struktur der plotinischen Lehrtätigkeit aufgehellt und drei Momente unterschieden: (i) Lektüre und Erklärung der Texte der Alten einschließlich der Interpretationsvorschläge der Kommentatoren; (ii) durch diese Lektüren angeregte allgemeine

Aus dem Italienischen übersetzt von Christian Tornau. R. Chiaradonna (*)  Università Roma Tre, Rom, Italien E-Mail: [email protected]

Überlegungen des Lehrers; (iii) Diskussion von Fragen aus dem Schülerkreis (Snyder 2000, 116–118). Aristoteles ist sowohl durch seine Lehren (dogmata) als auch durch seine Texte (Porphyrios nennt die Metaphysik) und deren Kommentare präsent. Die Angaben des Porphyrios werden durch den Befund der Enneaden bestätigt. Aristoteles wird viermal namentlich genannt (II 1 [40],2,12; 4,11; II 5 [25],3,18; V 1 [10],9,7); an anderen Stellen bezieht Plotin sich mit Formulierungen im Plural wahrscheinlich auf Aristoteles und seine Kommentatoren (IV 7 [2],85,2; 15–16; VI 1 [42],1,15–19; 29–30; VI 7 [38],2,14–15; 4,26–27). In zahllosen weiteren Fällen ist die Benutzung des Aristoteles aufgrund der von Plotin diskutierten und in seine Texte integrierten Theorien und der Terminologie erkennbar. Ebenso zentral ist die Bezugnahme auf die Kommentatoren, in erster Linie auf Alexander von Aphrodisias (2.–3.  Jahrhundert n. Chr.). Plotin nennt ihn nirgends beim Namen (was er bei zeitgenössischen Philosophen generell nicht tut), entwickelt aber mehrere wichtige Theorien im kritischen Dialog mit ihm, z. B. die Lehre vom Geist. Es ist umstritten, ob die Präsenz des Aristoteles und seiner Kommentatoren ein gemeinsames Merkmal der philosophischen Produktion in der Epoche Plotins oder ein für sein Werk spezifisches Element ist; außerdem wird diskutiert, ob Plotins Haltung zu Aristoteles eher entgegenkommend oder eher kritisch ist. Nach Karl

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_11

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­ raechter lassen sich innerhalb des kaiserzeitP lichen Platonismus vor Plotin (des sogenannten Mittelplatonismus; s. Kap. 13) zwei Strömungen unterscheiden: eine aristotelesfreundliche, die u. a. vom Autor des Didaskalikos repräsentiert werde, und eine aristoteleskritische, zu der etwa Attikos und Nikostratos zu zählen seien. Plotin sei der letzte Vertreter der aristoteleskritischen Strömung vor der Versöhnung von Platonismus und Aristotelismus durch Porphyrios (Praech­ ter 1922). Neuere Forschungen haben Praechters Rekonstruktion vertieft und korrigiert. Ein vieldiskutierter Gesichtspunkt ist die Kenntnis der Schriften des Aristoteles bei den Platonikern vor Plotin. Auch wenn die Quellen lückenhaft sind, scheint es, dass die Mittelplatoniker sich nicht auf eine gründliche Kenntnis der akroamatischen Schriften (der heute einzig erhaltenen Pragmatien) stützten. Es gibt Ausnahmen – die Kategorien werden z. B. seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. von Platonikern, Aristotelikern und Stoikern gelesen und interpretiert –, aber die Kenntnis der aristotelischen Pragmatien scheint bis zu Plotin das nahezu exklusive Vorrecht der Peripatetiker zu sein (die einzige bedeutende Ausnahme ist, soweit wir sehen können, der Arzt und Platoniker Galen). Texte wie die Physik und die Metaphysik sind in der platonischen Diskussion zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. nur begrenzt präsent, und Entsprechendes gilt für die charakteristische Terminologie dieser Schriften. Zweifellos gibt es Ausnahmen – insbesondere ist für das theologische Kapitel von Alkinoos’ Didaskalikos die Benutzung der 12. Buches der Metaphysik gesichert (Alcin. Didasc. 10, p. 164,18–165,34 Whittaker/Louis mit Anklängen an Aristot. metaph. Λ 7 und 9). Es handelt sich hier jedoch um einen isolierten und möglicherweise späten, zeitlich bereits in die Nähe Plotins gehörenden Fall (vgl. Chiaradonna 2017; Chiaradonna 2021). Mit Bezug auf diese Aspekte setzt Plotin möglicherweise nicht die Strömungen des vorausgehenden Platonismus fort, sondern repräsentiert einen Wendepunkt (vgl. aber Karamanolis 2006 mit einer anderen Rekonstruktion). Die Theorien, Argumente und termini

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technici der aristotelischen Schriften sind in den Enneaden in einem solchen Ausmaß präsent, dass sie als wesentlicher Bestandteil von Plotins philosophischem Projekt gelten müssen. Plotins Kritik an Aristoteles unterscheidet sich daher von derjenigen des Attikos im 2. Jahrhundert n. Chr.: Plotins Interesse ist nicht der pauschale Angriff auf Aristoteles wegen der Leugnung der göttlichen Vorsehung (vgl. Attic. fr. 3 des Places = Eus. Pr. Ev. 15,5,1–14 = BoysStones 2018, 334–336 [Text 11 A]), sondern die auf der Interpretation der Schriften fußende kritische Diskussion seiner Lehren und die Herausarbeitung von deren Inkohärenzen und ungelösten Problemen. Außerdem sind – auch wenn Plotin zentrale Thesen der aristotelischen Philosophie nicht teilt und sich kritisch gegen sie wendet –aristotelische Argumente und die aristotelische Fachterminologie für sein Werk von essentieller Bedeutung. Oft setzt Plotin Aristoteles gegen Aristoteles ein, d. h. er benutzt aristotelische Begriffe und Gedanken zur Verteidigung von Aussagen, die dem Denken des Aristoteles zuwiderlaufen. Aufgrund dieser Sachlage sind einige Interpreten der Auffassung, dass Plotins Intention die Integration der Thesen des Aristoteles in den Platonismus und ihre Adaptation an einen platonischen philosophischen Rahmen ist (Horn 1995; De Haas 2001). Andere Interpreten akzentuieren demgegenüber die kritische Intention Plotins, betonen aber auch die Differenz gegenüber der antiaristotelischen Polemik der Mittelplatoniker (Wurm 1973; Chiaradonna 2002). Der direkte Hintergrund von Plotins Aristoteles-Rezeption bleibt weitgehend dunkel. Der Neuplatoniker Hierokles (5. Jahrhundert n. Chr.) bezeugt in seiner durch Photios auszugsweise erhaltenen Schrift Über Vorsehung und Schicksal (Photios, Bibliothek, cod. 214, 172a2– 9; 173a18–21; 173a32–40; cod. 251, 461a24– 39 = Schwyzer 1983, test. 12–15), dass Plotins Lehrer Ammonios Sakkas in seinem Unterricht die Frage der Übereinstimmung von Platon und Aristoteles aufgeworfen hatte. Laut Hierokles – dessen Quelle vielleicht Porphyrios ist – beendete Ammonios den Konflikt der philosophischen Schulen, indem er die Philo-

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sophie Platons reinigte und nachwies, dass sie in den wichtigsten Lehrmeinungen mit Aristoteles harmonierte (Photios, Bibliothek, cod. 214, 172a2–9 = Schwyzer 1983, test. 12). Das Zeugnis ist schwierig zu bewerten (vgl. Karamanolis 2006, 191–215; Chiaradonna 2016). Hierokles schreibt Ammonios zwar die These der Harmonie von Platon und Aristoteles in den wichtigsten Punkten zu, doch geht aus seinem Zeugnis nicht hervor, ob die Schlussfolgerungen des Ammonios auf dem Studium der Schriften und Kommentare beruhten. Diese Informationen sind zu ergänzen durch die Forschungen von Marwan Rashed zu Ptolemaios ‚al-Gharīb‘, dem Autor des auf Arabisch überlieferten Briefs an Gallos über Leben, Testament und Schriften des Aristoteles, der einen berühmten Katalog der aristotelischen Schriften enthält. Rashed identifiziert den Autor dieses Textes mit überzeugenden Argumenten mit dem von Longinos erwähnten peripatetischen Philosophen Ptolemaios (Longinos, fr. 11 Männlein-Robert = Porph. VP 20,49) und situiert dessen Aktivität in Alexandria in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts (Rashed 2021, CCXCVIII– CCCII). Ptolemaios sei der Vertreter eines Bildungsaristotelismus in hellenistischer Tradition gewesen, der sich von dem auf der Textkommentierung basierenden philosophischen Aristotelismus unterschieden habe, wie ihn zeitgleich Alexander von Aphrodisias in Athen repräsentierte. Ähnliches könnte für Ammonios gelten; dieser hätte dann eine philologisch und späthellenistisch geprägte Aristoteles-Rezeption vertreten, die für das kulturelle Umfeld in Alexandria typisch war, sich aber vom philosophischen Aristotelismus der Kommentatoren unterschied (vgl. Rashed 2021, CCXCVI– CCXCVII). Diese Informationen legen bei aller Unsicherheit die Vermutung nahe, dass die Beschäftigung mit Aristoteles in Alexandria in den Jahren der Ausbildung Plotins durchaus lebendig war, dass es sich aber um eine andere Spielart des Aristotelismus handelte als diejenige, die den Hintergrund der Enneaden bildet und deren typische Form die Kommentierung der Pragmatien insbesondere durch Alexander ist. Das bedeutet nicht, dass der Aristotelismus der

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Kommentatoren in Alexandria unbekannt gewesen wäre (vgl. Limone 2018 zu Origenes). Es scheint jedoch unwahrscheinlich, dass Plotin sich aufgrund des Einflusses des Ammonios für Aristoteles und seine Kommentatoren als bevorzugten – wenngleich polemischen – Bezugspunkt seiner Lehrtätigkeit entschieden hat. Wenn das richtig ist, dann markiert Plotin möglicherweise einen Neuanfang gegenüber der vorhergehenden platonischen Tradition. Wahrscheinlich spielte das Werk Alexanders für Plotins Rezeption des Aristoteles eine Schlüsselrolle. Durch seine Kommentare eröffnete Alexander den Zugang zu den aristotelischen Schriften und ermöglichte die Aneignung nicht nur der Thesen, sondern auch der Begriffe, der Terminologie und der Argumentationsformen. Obgleich Plotin keine Aristoteleskommentare geschrieben hat, diskutieren die spätantiken Kommentatoren seine Thesen bisweilen so, als handelte es sich um regelrechte Aristotelesauslegungen (s. u. Abschn. 11.3).

11.2 Potenz und Akt (dynamis/energeia) Grundlage der Metaphysik Plotins ist der Gedanke, dass die Prinzipien die ihnen untergeordneten Entitäten durch Derivation aufgrund ihrer je eigenen Natur hervorbringen; dies ist die ‚emanative Kausalität‘ der neuplatonischen Tradition. Die Quellen dieser Theorie sind unklar; fest steht jedoch, dass Plotin sich einer charakteristisch aristotelischen Terminologie bedient, um sie zu formulieren. Vor allem die Schrift II 5 [25] Über Potentialität und Aktualität zeigt, wie Plotin sich die aristotelischen Begriffe Potenz und Akt – mit einigen entscheidenden Modifikationen – aneignet (vgl. Arruzza 2011). Ausgehend von der Darstellung bei Aristoteles, unterscheidet Plotin die vier Konzepte ‚Potenz‘ (dynamis), ‚potentiell‘ (dynamei), ‚Akt‘ (energeia) und ‚aktual‘ (energeia(i)) und wendet sie auf seine eigene Theorie der Kausalität an. Seine beiden Hauptthesen sind, dass 1) die passive Potentialität (to dynamei) auf die Sinnenwelt beschränkt ist und in der intelligiblen Welt nicht

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existiert und dass 2) bei den intelligiblen Prinzipien die Aktualität (to energeia(i)) – die vollständige Verwirklichung ihres Wesens – den Akt (energeia) impliziert, d. h. dass sie im Gegensatz zu den körperlichen Entitäten wesensmäßig Aktivität und Leben sind (II 5,3). Auf das Eine wendet Plotin den Begriff der energeia in der Regel nicht an, da er die Vervollkommnung oder Vollkommenheit einer Form impliziert (vgl. allerdings VI 8 [39],20,9–15); er bevorzugt den Begriff dynamis im Sinne der aktiven Potenz (im Unterschied zur passiven Potentialität oder bloßen Möglichkeit). Das Eine ist „alles ermöglichende Wirkkraft“ (z. B. III 8 [30],10,1–3; V 1 [10],7,9: dynamis pantôn), aber es ist nichts von dem von ihm Hervorgebrachten. Der Begriff der energeia spielt eine entscheidende Rolle in der metaphysischen Hierarchie, weil Plotin von diesem aristotelischen Konzept her seine ‚Theorie der doppelten energeia‘ entwickelt, nach der die Prinzipien gemäß ihrem jeweiligen Wesen aktiv sind (die ‚erste Aktivität‘, die gleichbedeutend mit ihrer Natur ist); aus dieser Wesensaktivität entsteht automatisch und ohne Überlegung oder Absicht als eine Art Beiprodukt eine ‚zweite Aktivität‘, die das Abbild der ersten ist und deren Entstehung keinerlei Veränderung oder Minderung der Ursache bewirkt (V 4 [7],2,27–33; V 1 [10],6,30–34; s. Abschn. 6.2 und 29.4). Die Quellen der plotinischen Theorie der zwei Akte sind in der Forschung umstritten (vgl. Emilsson 2007, 52–68), aber es ist unbestreitbar, dass jedenfalls die benutzte Terminologie von Aristoteles stammt; und es ist ebenso unbestreitbar, dass Plotin das von Aristoteles übernommene Begriffspaar dynamis – energeia modifiziert, um damit eine These zum Ausdruck zu bringen – die These der Derivationskausalität –, die dem ursprünglichen Anwendungsbereich desselben nicht entspricht. Die Bedeutung des energeia-Begriffs für das Denken Plotins und die Häufigkeit, mit der sich Plotin auf ihn beruft, stellt einen wichtigen Unterschied zur vorplotinischen Tradition des Platonismus dar, wo das Vorkommen dieses Terminus – mit der Ausnahme des Didaskalikos des Alkinoos – begrenzt ist. Bei Attikos bezeichnet energeia z. B. das Handeln der Gottheit gegen-

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über den übrigen Wesen (Attic. fr. 3,13 des Places = Eus. Pr. Ev. 15,5,13 = Boys-Stones 2018, 335 [Text 11 A]); von dem terminologischen Gebrauch bei Aristoteles findet sich keine Spur. Die Analogie des Lichts, mit der Plotin seine Auffassung der emanativen Kausalität erläutert, integriert ebenfalls Elemente der peripatetischen Tradition in einen theoretischen Rahmen, der zentrale Aspekte von ihnen modifiziert. Frederic M. Schroeder hat auf die Parallelen zwischen den Erklärungen für die Ausbreitung des Lichts bei Plotin und bei Alexander von Aphrodisias hingewiesen (Schroeder 2014). Beide sind sich einig, dass das Licht unkörperlich ist, auch wenn es eine körperliche Quelle hat (vgl. Alex. Aphr. an., CAG Suppl. 2.1, 42,4–43,11 Bruns; Plot. IV 5 [29],7; s. auch Kap. 32). Trotz der Parallelen in Terminologie und Argumentation sind jedoch auch die Differenzen nicht zu verkennen. Alexander definiert das Licht als „die Vollendung (teleiotês) des Transparenten als solchen“ (an., CAG Suppl. 2.1, 43,7–8 Bruns nach Aristot. an. 2,7, 418b9–10); Plotin fasst das Licht dagegen als die ‚zweite Aktivität‘ auf, die von der ersten (Seins-)Aktivität des leuchtenden Körpers abgeleitet ist, entfaltet diese These aber in der Weise, dass das Licht im Gegensatz zu seiner Quelle – dem leuchtenden Körper – unkörperlich ist.

11.3 Geist In seinem Rückblick auf die Stellungnahmen der älteren griechischen Philosophie zur Frage des ersten Prinzips erwähnt Plotin Aristoteles ausdrücklich: „Aristoteles setzt später das Erste als ‚separat‘ und ‚geistig erkennbar‘ an, sagt dann aber, dass es ‚sich selbst erkennt‘, und bewirkt damit wiederum, dass es nicht das Erste ist“ (V 1 [10],9,7–9; vgl. Aristot. an. 3,5, 430a17; metaph. Λ 7, 1072a26; 1072b20). Diese Anmerkung ist eine kritische: Für Aristoteles denkt das erste Prinzip sich selbst; und eben aus diesem Grund kann es sich bei dem aristotelischen Prinzip nicht um das wahrhaft Erste handeln, weil das Selbstdenken immer eine Vielheit impliziert, die es beim Einen nicht geben

11  Aristoteles und der Aristotelismus

kann. Aristoteles hat also etwas als das Erste angesetzt, das nicht das Erste sein kann. Es handelt sich hier um eine wiederkehrende Struktur in der anti-aristotelischen Polemik Plotins: Die Lehren des Aristoteles erfüllen nicht die Anforderungen, die sie nach Aristoteles’ eigener Aussage erfüllen sollen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, über die Schlussfolgerungen des Aristoteles hinauszugehen und sich an den Theoriehorizont des Platonismus zu halten. Nichtsdestoweniger ist Aristoteles eine der wichtigsten Quellen für Plotins Lehre vom Geist. Die Wesenszüge, die Aristoteles dem Ersten Beweger im 12. Buch der Metaphysik zuschreibt – Denken des Denkens, Aktivität (energeia) und Leben (Aristot. metaph. Λ 7, 1072b26–28; Λ 9, 1074b34–35) – sind für die Charakterisierung des plotinischen Nous von entscheidender Bedeutung. Eine weitere zentrale Quelle ist Aristoteles’ Schrift Über die Seele, wo es heißt, dass bei immateriellen Dingen das Wissen mit seinem Gegenstand identisch ist (Aristot. an. 3,4, 430a2–5). Plotin nimmt diese Aussage für sich in Anspruch und bezieht sie auf die Erkenntnis der Formen durch den göttlichen Geist (V 9 [5],5,29–31; V 4 [7],2,45– 48). Die Aufnahme der aristotelischen Formulierung geht mit einer wichtigen Differenz in ihrer Interpretation einher, weil die von Plotin für den göttlichen Geist postulierte Identität des Erkennens mit seinem Objekt enger ist als die, die Aristoteles für den menschlichen Geist annimmt: Für Plotin fallen im göttlichen Geist Erkennen und Erkanntes in dem Sinne zusammen, dass das Erkenntnisobjekt selbst, d. h. jede einzelne Idee, seinerseits Geist ist (V 9 [5],8; VI 6 [34],6,25–26; vgl. auch die Identifikation von Denken, Gedachtem und Denkakt in V 3 [49],5). Folglich denkt der plotinische Geist eine Vielheit von Denkinhalten – die Formen –, ohne dabei zu etwas ihm Äußerlichen in ein Verhältnis zu treten (vgl. Emilsson 2007, 144–157; s. Abschn. 26.3). Darüber hinaus ist Alexander von Aphrodisias eine wesentliche Inspiration für Plotins Geistlehre gewesen (Alex. Aphr. an., CAG Suppl. 2.1, 80,16–91,6 Bruns; an. mant., CAG Suppl. 2.1, 106,19–113,24 Bruns). Nach Auf-

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fassung einiger Interpreten ist der Einfluss von Alexanders Gleichsetzung des ‚Denkens des Denkens‘ der Metaphysik mit dem aktiven Intellekt aus De anima 3,5 auf Plotin an zwei Punkten feststellbar: der Theorie, dass die intelligiblen Formen dem Denken des göttlichen Geistes vollkommen innerlich sind, und dem Gedanken, dass der oberste Teil der individuellen Seele die intelligible Welt nicht verlässt (die sogenannte ‚Lehre vom nicht herabgestiegenen Seelenteil‘; vgl. bes. IV 8 [6],8). Bemerkenswerterweise stellen bereits die antiken Kommentare zu De anima eine Verbindung zwischen Plotins Konzeption vom höchsten Seelenteil und der aristotelischen Theorie des aktiven Intellekts her, betrachten Plotins Lehre also als eine Exegese des Aristoteles (vgl. ‚Philoponos‘ [Stephanos?], In de anima, CAG 15, 535, 4–539, 12 Hayduck; ‚Simplikios‘ [Priskian?], In de anima, CAG 11, 6,8–15; 220,12–17 Hayduck; Sorabji 2004, 99; 111–115 [Texte 3(e)14–16; 3(g)18]; Tornau 2007). Philip Merlan vertrat einst die Hypothese, dass Plotins Theorie des obersten Seelenteils als Lösung von Schwierigkeiten intendiert war, die mit Alexanders Interpretation der Lehre vom aktiven Intellekt verbunden waren (Merlan 1969, 10–16; 47–52). Heute scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass Alexander von Aphrodisias unter Vorwegnahme charakteristisch neuplatonischer Themen eine ‚mystische‘ Lesart der aristotelischen Geistlehre bietet; Merlans Vorschlag findet daher kaum mehr Anhänger, auch wenn viele seiner Analysen erhellend bleiben. Thomas A. Szlezák hat gegen Merlan den entscheidenden Ausgangspunkt von Plotins Seelenlehre in der Auslegung von Texten Platons und der Lösung der durch diese aufgeworfenen exegetischen Probleme sehen wollen (die mythische Schilderung der überhimmlischen Schau in Plat. Phaidr. 247a–249d, die Aussagen zur „ursprünglichen Natur“ der Seele in rep. 10, 611a–612, außerdem einige Stellen aus dem Phaidon und dem Timaios; vgl. Szlezák 1979, 167–205). Das Problem ist ausführlich und mit divergierenden Ergebnissen diskutiert worden (einen status quaestionis zur Frage nach Alexander als Quelle Plotins bieten Sharples 1987, 1220–1223 und neuerdings

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Stanbury 2014). Plotins Eigenart, die Thesen seiner Vorgänger eher frei und ohne ausdrücklichen Hinweis in sein Werk zu integrieren, erschwert die Beurteilung möglicher Parallelen. Zwar ist Platon zweifellos die entscheidende Inspirationsquelle für Plotin. Dennoch ist es aussagekräftig, dass die Verbindung zwischen dem plotinischen höchsten Seelenteil und dem aristotelischen aktiven Intellekt schon von den antiken Kommentatoren gezogen wurde. Auch wenn Vorsicht geboten ist, sind die Bezüge zu Aristoteles und zu Alexander von Aphrodisias doch von zentraler Bedeutung für das Verständnis der plotinischen Lehre vom Geist.

11.4 Seele Die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Seelenlehre ist seit der Frühschrift IV 7 [2] Über die Unsterblichkeit der Seele ein konstantes Element von Plotins Schreiben. Dort kritisiert Plotin die Deutung der Seele als ‚Entelechie‘ des lebenden Körpers bzw. als Form im Verhältnis zu einer Materie (IV 7,85,1–5; vgl. Aristot. an. 2,1, 412a27–b1; Tornau 2005). Er bietet eine Reihe polemischer Argumente, die möglicherweise zumindest zum Teil auf ältere Debatten zurückgehen und nicht nur auf die Thesen von Aristoteles selbst reagieren, sondern auch auf die von frühen Peripatetikern wie Aristoxenos und Dikaiarch, die den aristotelischen Hylemorphismus im Licht der – ursprünglich wohl pythagoreischen – Gleichsetzung der Seele mit der Harmonie des Körpers deuteten (vgl. Michalewski 2020). Für Plotin reduziert die Theorie von der Seele als Entelechie ebenso wie die von der Seele als Harmonie die Seele letztendlich zu einem bloßen Attribut oder einer Affektion (pathos) des Körpers (vgl. IV 7,84,2; IV 7,85,44). In der Konsequenz dieser eigentümlichen Lesart behauptet Plotin, die Entelechie-Seele sei dem Körper so assimiliert, als ob sie eine diesem äußerlich zukommende Gestalt (morphê) wäre: Wenn daher ein Teil des Körpers abgetrennt wird, so wird damit auch ein Teil der Seele abgetrennt, weil die Teile der Seele den Teilen des Körpers direkt zugeordnet

R. Chiaradonna

sind und zu ihnen gehören (IV 7,85,2–9). Diese Leseweise vernachlässigt mehrere wesentliche Aspekte der peripatetischen Lehre von der Seele als Form (die Form ist dem Körper als ganze gegenwärtig; die Seele ist Ursache, und ihr Status ist mit dem der Harmonie nicht vergleichbar; vgl. Aristot. an. 1,5, 411b19–27; 1,4, 407b32– 408a2). Es ist schwer zu sagen, ob dies an Plotins Quellen oder an seiner eigenen Ungenauigkeit liegt; möglicherweise ist es dadurch zu erklären, dass er keine getreue Wiedergabe der aristotelischen Position beabsichtigt, sondern die unhaltbaren Konsequenzen darstellen möchte, die sich aus ihr – unabhängig davon, ob sie von den Peripatetikern tatsächlich vertreten werden oder nicht – unvermeidlicherweise ergeben. Die peripatetische Lehre von der Seele als Form im hylemorphistischen Sinne bleibt für Plotin Gegenstand der Auseinandersetzung. Eine für ihn charakteristische, offensichtlich von Platon inspirierte These ist, dass das Leben der Seele zukommt, insofern sie eine unkörperliche und vom Körper unabhängige Substanz ist (vgl. IV 7 [2],85,43–46). Als solche sind die Körper daher ohne Leben. Andererseits kommt dem lebenden Körper ein Leben zu, das ihm von der Seele vermittelt wird. In der späteren psychologischen Schrift IV 4 [28] vergleicht Plotin den Zustand des lebenden Körpers mit dem von erwärmter Luft (IV 4,18,1–9): Der Körper empfängt eine Art „Spur“ (ichnos) der Seele (das ihm von dieser vermittelte Leben) in der Weise, wie die Luft eine Spur der dem Feuer inhärenten Wärme empfängt, wenn sie durch dessen Anwesenheit erwärmt wird. Man hat diese Theorie als eine Wiederaufnahme der hylemorphistischen Seelenlehre der peripatetischen Tradition in einem platonischen Rahmen betrachtet: Plotin nehme als immanente Ursache des Lebens der Körper die Anwesenheit einer quasi-psychischen Form an. Hierdurch integriere er die aristotelische These, wonach die Körper lebendig sind, weil sie eine bestimmte formale Komponente besitzen, in seine Psychologie, ohne dabei die platonische Überzeugung aufzugeben, dass die Seele im eigentlichen Sinne (die Ursache der ‚Seelenspur‘) nicht Teil der körperlichen Struk-

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tur ist (vgl. I 1 [53],1–7 und zur Rekonstruktion Noble 2013a). Plotin integriert zweifellos Begriffe und Argumente peripatetischer Herkunft in seine Psychologie. Ein Beispiel bieten die Kapitel IV 3 [27],20–21, wo Plotin sich dem Problem zuwendet, ob die Seele und ihre „sogenannten Teile“ (IV 3,20,2) „im“ Körper sind. Seine Diskussion fußt auf der Schrift De anima des Alexander von Aphrodisias, wo die Klassifikation der Bedeutungen von ‚In-etwas-Sein‘ aus der aristotelischen Physik aufgegriffen und adaptiert wird, um zu erklären, in welchem Sinne die Seele ‚im‘ Körper ist (vgl. Alex. Aphr. an., CAG Suppl. 2.1, 13,9–15,29 Bruns; Aristot. phys. 4,3, 210a15–34; Blumenthal 1968). Im Gegensatz zu Alexander bestreitet Plotin jedoch, dass die Seele im Körper ist wie die Form in der Materie: Die Seele ist eine selbständige Substanz, die die Form im Körper hervorbringt, ohne mit dieser zu verschmelzen (IV 3,20,38–39). Für Plotin gibt es letztlich keinen Sinn von ‚In-etwas-Sein‘, in dem man sagen kann, dass die Seele ‚im‘ Körper ist. Deswegen habe Platon im Timaios nicht die Seele im Körper, sondern den Körper in der Seele angesetzt (IV 3,22,7–9 nach Plat. Tim. 36d–e). Plotin übernimmt auch die aristotelische Terminologie bezüglich der Funktionen der Seele (Ernährung, Wachstum, Wahrnehmung, Denken). Andererseits erklärt er, dass sämtliche Lebensfunktionen in Wirklichkeit Stufen oder Ebenen des Denkens oder der geistigen Aktivität (noêsis) sind (III 8 [30],8,17–21). Demzufolge umfasst das Leben nicht nur eine hierarchisch geordnete Reihe von Funktionen, sondern auch eine Abfolge von Stufen des Denkens: Die niederen Funktionen sind „dunkle“ oder „verworrene“ Denkakte; die höheren Funktionen sind „klare“ Erkenntnisakte (womit wohl gemeint ist, dass die niederen Funktionen als Denkakte den Inhalt der intelligiblen Formen in verworrener Weise reflektieren, während die höheren Funktionen ihn adäquater wiedergeben). Deswegen versichert Plotin, dass „Sinneswahrnehmungen dunkle Erkenntnisakte und Erkenntnisakte klare Sinneswahrnehmungen sind“ (VI 7 [38],7,30–31).

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Schließlich folgt Plotin der aristotelischen Begrifflichkeit, nach der die Seele die „Aktualität“ oder „Vollendung“ (entelecheia) eines „in bestimmter Weise beschaffenen“ Körpers ist (toionde: Aristot. an. 2,1, 412a16; toiouto: 412a21), d. h. eines „mit Organen ausgestatteten“, „potentiell lebenden“ Körpers (412a27–28; b5–6). An mehreren Stellen identifiziert Plotin den „in bestimmter Weise beschaffenen“ Körper mit dem von der Seelenspur belebten Körper (vgl. I 1 [53],4,24; IV 4 [28],18,9; 20,21–26). An anderer Stelle präzisiert er diese These jedoch, indem er erläutert, dass das, was sich mit der Seele zum Menschenwesen vereinigt, nicht der Körper ist, sondern „ein in bestimmter Weise beschaffener logos“, der seinerseits eine Aktivität der Seele ist (VI 7 [38],5,3–4). Demzufolge ist der Mensch als körperliches Wesen das Bild eines Kompositums rein formaler Elemente (Seele und logos; vgl. VI 7,5,1–15; s. Abschn. 35.1). Damit transponiert Plotin die hylemorphistische Seelenlehre des Aristoteles in einen gedanklichen Rahmen, in dem die menschliche Natur sich in ihrer Gesamtheit auf der intelligiblen, unkörperlichen Ebene konstituiert.

11.5 Kategorien Die ausführlichste Aristoteles-Diskussion der Enneaden findet sich in dem dreiteiligen Traktat Über die Gattungen des Seienden (VI 1–3 [42–44]; s. auch Kap. 28). Genauer gesagt, widmet Plotin Aristoteles den Abschnitt VI 1 [42],1–24, wo er die Einteilung der zehn Kategorien kritisch diskutiert (cf. Wurm 1973; Horn 1995; De Haas 2001; Chiaradonna 2002). In der Schrift VI 3 [44] erarbeitet Plotin dann unter Rückgriff auf die Diskussion von VI 1 [42] eine eigene Einteilung von fünf Gattungen der sinnlich wahrnehmbaren Welt (Substanz, Quantität, Qualität, Bewegung, Relation). Plotin fasst seine Darlegung als eine Untersuchung „über die Seienden“ auf (VI 1,1,1: peri tôn ontôn); die Kategorien haben daher ontologischen Sinn und sind eine Klassifikation der allgemeinsten Arten von Realität. Die Peripatetiker sind diejenigen

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Philosophen, die „das Seiende in zehn Gattungen einteilen“ (VI 1,1,15). Das Thema der aristotelischen Kategorien war in der älteren Tradition Gegenstand breiter Diskussionen gewesen. Peripatetische Kommentatoren wie Boethos von Sidon (1. Jahrhundert v. Chr.) und Alexander von Aphrodisias vertraten die Auffassung, dass der Gegenstand der Kategorien sprachliche Ausdrücke seien, „insofern sie die seienden Dinge bezeichnen“ (Simpl. in cat., CAG 8, 13,13–14 Kalbfleisch: katho sêmantikoi tôn ontôn eisin; vgl. Chiaradonna 2020). Freilich waren Semantik und Ontologie eng verknüpft: Alexander von Aphrodisias selbst verwendet im Metaphysik-Kommentar den Terminus „Gattungen des Seienden“ als Bezeichnung für die Kategorien (Alex. Aphr. in metaph., CAG 1, 245,33– 35 Hayduck). Plotin nennt in der Schrift VI 1 [42] wie auch sonst öfters Aristoteles nicht beim Namen, sondern bezeichnet seine Gegner (Aristoteles und seine Kommentatoren) mit einem kollektiven Plural. Nach Angabe Plotins waren die Peripatetiker zu Recht der Meinung, dass das Sein in seinen Einteilungen nicht synonym gebraucht wird (VI 1,1,18–19); es ist daher nicht möglich, es als ein in synonymer Weise von den Kategorien ausgesagtes Genus zu betrachten. Wie üblich interpretiert Plotin diese Aussage, indem er ihre ursprüngliche Bedeutung modifiziert: Die wichtigste und von den Peripatetikern nicht thematisierte Frage ist, ob die Einteilungen sich in derselben Weise auf das intelligible und das sinnlich wahrnehmbare Seiende anwenden lassen oder nicht. Die peripatetische Unterscheidung mehrfacher Bedeutungen von ‚sein‘ muss daher im Licht der Differenz von sinnlicher und intelligibler Realität bewertet werden (VI 1,1,22–25; s. auch Abschn. 41.3). Hieraus ergibt sich Plotins grundsätzliche Kritik an den Peripatetikern: Bei ihrer Einteilung des Seienden haben sie den intelligiblen Bereich nicht behandelt, sondern „das im höchsten Maße Seiende beiseitegelassen“ (VI 1,1,28–30: ta malista onta paraleloipasi). Simplikios zitiert diese Einschätzung Plotins zusammen mit zwei früheren Exegeten, die denselben Einwand bezüglich der Vollständigkeit der aristotelischen Liste vorgebracht

R. Chiaradonna

hatten: Lukios, eine schattenhafte Figur, deren Identität und chronologische Einordnung umstritten ist, und Nikostratos, den Karl Praechter mit einem in einer delphischen Inschrift des 2. Jahrhunderts erwähnten Platoniker identifiziert hat (Simpl. in cat., CAG 8, 73,15–28; 76,13–17 Kalbfleisch; Praechter 1922). Wie Simplikios berichtet, können laut Lukios, Nikostratos und Plotin die intelligiblen und sensiblen Entitäten nicht dieselbe ousia besitzen, weil sie eine hierarchisch geordnete Serie bilden, in der das Intelligible das Vorbild und das sinnlich Wahrnehmbare dessen Abbild ist (Simpl. in cat., CAG 8, 73,19–21 Kalbfleisch). Die Argumentation von VI 1–3 [42–44] ist zweifellos dieser älteren Debatte verpflichtet, und es lassen sich Parallelen sowohl zu der platonisch grundierten Kritik des Lukios und Nikostratos als auch zu Argumenten der peripatetischen Kommentartradition aufweisen (vgl. Chiaradonna 2002). Die allgemeine Stoßrichtung von Plotins Darlegung verweist jedoch auf die Grundfragen seiner Philosophie. Plotin wirft Aristoteles nicht nur vor, bei seiner Einteilung das intelligible Sein unberücksichtigt gelassen zu haben, sondern auch, dass er eben aus diesem Grund nicht in der Lage war, eine hinreichend fundierte Einteilung selbst des sinnlichen Seienden auszuarbeiten. Diese Position wird deutlich in den Kapiteln über die Substanz, wo die von Aristoteles und seinen Exegeten vorgenommenen Binneneinteilungen der ousia kritisch untersucht werden (VI 1,2–3). Plotin zeigt, dass sie einer hinreichenden Fundierung ermangeln: So erwähnt er die Unterscheidung zwischen Materie, Form und Kompositum und fragt, was das diesen drei Elementen Gemeinsame ist (VI 1,2,8–10; vgl. Aristot. metaph. Η 2, 1043a27–28). Nach peripatetischer Auffassung gehören Materie, Form und Kompositum sämtlich in die Kategorie der Substanz, aber die Form trägt die Bezeichnung ‚Substanz‘ mit größerem Recht als die Materie. Plotin ist damit einverstanden, fügt aber hinzu, dass man auch die Auffassung vertreten könne, dass die Materie eher Substanz sei als die Form (VI 1,2,12, vielleicht eine Anspielung auf die Stoa, möglicherweise aber auch auf die Thesen des Aristoteleskommentators Boethos von Sidon zu beziehen,

11  Aristoteles und der Aristotelismus

der die Form außerhalb der Substanz angesetzt hatte; vgl. Simpl. in cat., CAG 8, 78,4–20 Kalbfleisch). Die Implikation dieser Beobachtungen ist, dass die Priorität der Form im Rahmen der peripatetischen Ontologie nicht adäquat zu begründen ist. Eine analoge Argumentation findet sich im Kapitel VI 1,3, wo Plotin die typischen peripatetischen Merkmale der Substanz auflistet (VI 1,3,12–16: sie ist ein „Dieses“, tode ti, sie ist nicht in etwas anderem wie in einem Zugrundeliegenden). Sodann paraphrasiert Plotin das Argument, wonach Akzidentien wie ‚weiß‘ von einem Subjekt ausgesagt werden und ihm inhärieren, das von ihnen unabhängig ist, wohingegen die Teile von Substanzen selbst Sub­ stanzen sind (VI 1,3,16–19; vgl. VI 3,5,8–25). Alexander von Aphrodisias benutzt dieselbe Unterscheidung, um zu begründen, dass die Form nicht in derselben Weise der Materie inhärent ist wie das Akzidens der Substanz (Alex. Aphr. quaest. 1,8, CAG Suppl. 2.2, 17,17–22 Bruns; vgl. quaest. 1,7, CAG Suppl. 2.2, 30,10– 16 Bruns; an. mant., CAG Suppl. 2.1, 122,4– 12 Bruns). Erneut erhellt Plotins Paraphrase der peripatetischen Argumentation deren Unzureichendheit: Derartige Charakterisierungen stellen, so Plotin, lediglich Eigenschaften der ousia zusammen, durch die sie sich von anderen Dingen abgrenzen lässt (VI 1,3,20: pros ta alla); sie genügen jedoch nicht, um den Begriff und das Wesen der Substanz an sich zu erklären (VI 1,3,21–22). Ein wichtiger Abschnitt ist den Kategorien ‚Tun‘ und ‚Leiden‘ gewidmet, die sich laut Plotin dem Genus ‚Bewegung‘ unterordnen lassen (VI 1,15–16). Im Zuge der Entfaltung dieser These (anscheinend auf Basis einer vorhergehenden stoischen Diskussion, vgl. Simpl. in cat., CAG 8, 307,1–6 Kalbfleisch) stellt Plotin die aristotelische Definition der Bewegung als „unvollendeter Akt“ (atelês energeia; Aristot. phys. 3,2, 201b31–32) in Frage und argumentiert dafür, dass die Bewegung der Körper als solche während des gesamten Bewegungsvorgangs – und somit unabhängig von der Zeit, in der die Bewegung abläuft – ein vollendeter Akt (energeia pantôs) sei (VI 1,16,6).

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Plotins Kategorien-Diskussion ist ohne Zweifel der Ausgangspunkt für die Integration der aristotelischen Kategorien in den Platonismus, die mit Porphyrios beginnt. Einige exegetische Entscheidungen des Porphyrios – etwa die metaphysisch ‚schlanke‘ Interpretation der Kategorien durch Loslösung ihres Gegenstandes von der Erforschung des Seienden als solchen – haben offenbar die Aufgabe, die Kritikpunkte Plotins zu neutralisieren (Chiaradonna 2016).

11.6 Körper und Materie Plotin macht ausgedehnten Gebrauch von der Terminologie und den Argumenten der aristotelischen Physik (vgl. Chiaradonna 2021). Wie gewöhnlich wird dabei der ursprüngliche Sinn des aristotelischen Gedankenguts durch den veränderten theoretischen Rahmen modifiziert. Plotin behandelt wiederholt die Bewegung der Gestirne (II 1 [40]; II 2 [14]) und weist dabei die These des Aristoteles zurück, dass die Kreisbewegung der Gestirne mit einem besonderen Körper in Verbindung zu bringen sei, aus dem sie bestehen: dem ‚Äther‘ oder ‚fünften Element‘ (Aristot. cael. 1,3, 270b21–22; s. auch Abschn. 56.3 und 56.4). Für Plotin ist die Natur der Sterne feurig; es besteht kein Anlass, zur Erklärung ihrer Bewegung ein eigenes Element zu postulieren (II 1,6–7). Simplikios parallelisiert diese These Plotins mit denen des Ptolemaios und des Peripatetikers Xenarchos (1. Jahrhundert v. Chr.), der die Existenz eines ätherischen Körpers bestritten und die aristotelische Lehre von den natürlichen Bewegungen entsprechend modifiziert hatte (vgl. Simpl. in cael., CAG 7, 20,10–25 Heiberg). Es ist wahrscheinlich, dass Plotin auf vorhergehenden Diskussionen aufbaut; wie üblich trägt seine Position jedoch eigenständige Züge, weil er – anders als Xenarchos – die Kreisbewegung der Gestirne mit der kausalen Aktivität der Weltseele erklärt (II 2 [14],1,37–39; vgl. Rashed 2009; Wilberding 2020). Besonders eingehend diskutiert Plotin die Schlüsselbegriffe der aristotelischen Physik in den Traktaten VI 1–3 und III 7 (d. h. den Schrif-

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ten 42 bis 45 der chronologischen Reihenfolge, es handelt sich also um eine zusammenhängende, homogene Überlegung). In VI 1–3 prüft Plotin die Konzepte der Substanz und der Bewegung (s. o. Abschn. 11.5). Mit Blick auf die Substanz stellt Plotin die Grenzen des peripatetischen Hylemorphismus heraus. Er räumt zwar ein, dass die körperlichen Gegenstände Eigenschaften besitzen und dass diese Eigenschaften ihre Form ausmachen. Dennoch ist die Form der Körper nicht mehr als das Ensemble ihrer sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, die nicht hinreichend sind, um die eigentliche Natur des Gegenstandes zu erklären (d. h. die Körper haben das Prinzip ihrer wesenhaften Identität nicht in sich selbst). Tatsächlich resultiert das von allen Qualitäten zusammen gebildete Ensemble aus der Wirkung des logos (des intelligiblen Formprinzips) auf die Materie. Hieraus ergibt sich die Aussage, dass die sinnliche Substanz (ousia) als solche nur ein „Konglomerat aus Qualitäten und Materie“ ist (VI 3,8,20: symphorêsis […] poiotêtôn kai hylês; s. auch Abschn. 44.2), während das eigentliche Wesen im logos anzusetzen ist, d. h. in einem unkörperlichen und außerhalb der körperlichen Struktur stehenden Prinzip (vgl. VI 3,8,12–37; 10,12–17; 15,24–38). Nur eine solche Logoslehre vermag für Plotin die Priorität der Substanz vor den Akzidentien zu sichern, die die Aristoteliker zwar behauptet hatten, aber nicht hinreichend begründen konnten. An anderer Stelle stellt Plotin den als bloße Definition eines bereits existierenden Körpers verstandenen Logos dem Logos im eigentlichen Sinne gegenüber, der als auf die Materie wirkendes Formprinzip den Körper erst entstehen lässt (II 7 [37],3; VI 7 [38],4). Der erstere wird, mit klarer Anspielung auf Aristoteles, als „Definition (horismos), die aufzeigt, was eine Sache ist (ti esti)“ bezeichnet, der letztere dagegen als „die Sache bewirkendes Formprinzip (logos poiôn)“ (II 7,3,8–10). Im Gegensatz zu der Definition, die das ti esti eines existierenden Dings erhellt, enthält der logos, der den Körper zur Vollendung bringt, keinen Bezug auf die Materie (II 7,3,10). Auch hinsichtlich der Bewegung modifiziert Plotin die aristotelische Theorie in mehre-

R. Chiaradonna

ren wichtigen Punkten. In der Schrift VI 1 versichert er, dass die Bewegung unabhängig von der Zeit, in der sie stattfindet, eine „vollendete Aktivität (energeia)“ ist; die Bewegung als solche muss somit unterschieden werden vom Umfang der Bewegung eines bestimmten Gegenstandes, z. B. der von dem bewegten Gegenstand durchmessenen Strecke von einem Stadion Länge (vgl. VI 1,16,1–14). Im Traktat VI 3 erläutert Plotin darüber hinaus, dass diese Aktivität von einer aktiven Fähigkeit (dynamis) der Bewegung abhängt (VI 3,23,21), eine Fähigkeit, die an das Wirken der unkörperlichen Prinzipien erinnert (der Seele kommen ja Bewegung und Leben per se zu). Die Bewegung und ihre Ursachen sind somit von den Körpern und ihren Einteilungen zu unterscheiden; deswegen distanziert sich Plotin von der peripatetischen These, dass die Bewegung sich nach den Kategorien klassifizieren lässt (VI 3,23,20–34; vgl. Aristot. phys. 3,1, 200b32–201a3). Mit ähnlichen Argumenten wendet Plotin sich gegen die aristotelische Zeittheorie (III 7 [45],9; 13). Laut Plotin erklärt die Definition der Zeit als „Maß der Bewegung“ (Aristot. phys. 4,12, 222b32–221a1) nicht, was die Zeit als solche ist (III 7,9,10–12), sondern gründet das Verständnis von Zeit irrig auf die Bewegung der ausgedehnten Körper. Aristoteles beschränkt sich insofern auf die Angabe, wovon die Zeit das Maß ist (nämlich von Bewegungen). Wieder lässt sich Plotins Kritik an Aristoteles zu der vorhergehenden Tradition in Beziehung setzen (z. B. den Einwänden gegen die aristotelische Zeitdefinition in Galens verlorener Schrift De demonstratione; vgl. Chiaradonna 2009). Nichtsdestoweniger ordnet sie sich in einen typisch plotinischen Theoriekontext ein: Es ist nicht möglich, die Zeit als Maß der Bewegung von Körpern zu definieren, weil die Natur der Zeit in Bezug zu den intelligiblen Prinzipien erklärt werden muss. Die Zeit ist vielmehr das Leben oder die Seinsweise, die der Seele eigentümlich ist und deren Merkmal die sukzessive Folge verschiedener Zustände ist – eine Folge, die als solche nicht mit in der Körperwelt angesiedelten Prozessen verbunden ist (III 7,11; s. Abschn. 50.4).

11  Aristoteles und der Aristotelismus

Wie in den übrigen behandelten Fällen ist die Position Plotins für unterschiedliche Deutungen offen. Man kann sie so verstehen, dass (a) Plotin die Theorien des Aristoteles in einem veränderten theoretischen Rahmen zu bewahren sucht, indem er sie auf die wahren, intelligiblen Prinzipien bezieht; oder dass (b) für Plotin der Bezug auf die intelligiblen Prinzipien letztlich zur Zurückweisung der aristotelischen Theorien und ihrer Ersetzung durch andere Lehren führt. Die breite Verwendung von Terminologie und Argumenten aus der Physik kann zugunsten der Option (a) angeführt werden, während die gegen Aristoteles erhobenen Einwände als Argument für die Option (b) betrachtet werden können. Ein weiterer Gesichtspunkt, der für (b) spricht, lässt sich in Plotins Materielehre finden (s. auch Kap. 34). Wollte Plotin den aristotelischen Hylemorphismus bewahren – selbst in einem veränderten gedanklichen Kontext –, so müsste er zumindest anerkennen, dass die Materie das der Form zugrunde liegende Substrat ist. In der Schrift II 4 [12] Über die Materie weist Plotin diese Auffassung jedoch zurück. Wie Denis O’Brien gezeigt hat, arbeitet Plotin hier auf der Grundlage der Physik (1,9), nimmt aber wesentliche Korrekturen an der aristotelischen Quelle vor (O’Brien 1996). Während Aristoteles die Materie als das der Veränderung Zugrundeliegende von der Privation unterscheidet (Aristot. phys. 1,7), sind für Plotin Materie und Privation miteinander zu identifizieren (II 4,14; 16). Während also für Aristoteles Veränderung die Ersetzung der Privation durch die Form in einem fortbestehenden Subjekt bedeutet, wird bei Plotin die Existenz eines fortbestehenden Subjekts der physischen Veränderung überhaupt problematisch (man kann von einem ‚Pseudo-Hylemorphismus‘ sprechen, vgl. Linguiti 2007). Die von Aristoteles gebrauchte Analogie zwischen der Materie und dem Weiblichen (phys. 1,9, 192a22–25) modifiziert Plotin mit dem Ziel, gegen Aristoteles Materie und Privation gleichzusetzen: Statt den privativen Mangel zu füllen, verfestigt das Hinzutreten der Form die Privation in ihrer Existenz (II 4,16,11–12). Tatsächlich ist es für Plotin unkorrekt zu behaupten, dass die Materie die sinnlichen For-

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men aufnimmt, weil die Materie kein zu deren Aufnahme geeignetes Subjekt ist. Cinzia Arruzza und Christopher Noble haben auf eine Stelle bei Simplikios hingewiesen, wo die These des Alexander von Aphrodisias, dass die Materie die Form aufnimmt und sich dadurch verändert, derjenigen „der Platoniker“ gegenübergestellt wird, dass die Materie ohne Veränderung ist und daher auch durch das Hinzutreten der Form keine Veränderung erfährt (Arruzza 2011, 33; Noble 2013b, 238–240; Simpl. in phys., CAG 9, 320,20–32 Diels). Möglicherweise sind die Platoniker, auf die Simplikios Bezug nimmt, mit Plotin zu identifizieren, nach dessen Überzeugung die Materie keiner Veränderung unterliegt und in keiner Weise durch Aufnahme einer Form von der Potentialität zur Aktualität gelangen kann (II 5 [25],5,12; zur „Nichtaffizierbarkeit“ der Materie vgl. III 6 [26],6–10).

11.7 Ethik Die Forschung hat wichtige Berührungen zwischen Plotins ethischen Traktaten (insbesondere der Schrift I 4 [46] Über die Glückseligkeit) und der aristotelischen Ethik herausgestellt (vgl. Bonazzi 2016). Plotin entwickelt die im 10. Buch der Nikomachischen Ethik formulierte These weiter: Die vollkommene Glückseligkeit (Eudaimonie) ist verbunden mit der „schauenden“ (theoretischen) Aktivität (theôria); durch geistige Kontemplation verwirklichen wir unsere beste und eigentlichste Natur und gelangen zu einer gottähnlichen Lebensweise, da der Gott keine praktische Aktivität, sondern ausschließlich theoretische Kontemplation kennt (vgl. Aristot. eth. Nic. 10,7–8; Linguiti 2000). Doch ist der philosophische Rahmen bei Plotin ein ganz anderer: Plotin zieht in Zweifel, dass es überhaupt einen eigenen Bereich des praktischen Handelns gibt, der von der theoretischen Kontemplation abgegrenzt werden kann. Nach den Ausführungen der Schrift III 8 [30] entsteht das praktische Handeln (praxis) aus dem Bedürfnis nach Kontemplation (theôria) und der Unfähigkeit, diese zu realisieren (III 8,1,15–18; 4,29–47; 6,1–11; s. auch Abschn. 30.2). Praktische Handlungen sind

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demzufolge unvollkommene Akte der Kontemplation. Darüber hinaus verwendet Plotin den Ausdruck poiêsis („Machen, Herstellen“) nicht, wie Aristoteles es häufig tut, für die technische Produktion, sondern für die Form produktiver Aktivität, die für die intelligiblen Prinzipien charakteristisch ist und sich gleichsam automatisch, ohne forschendes Suchen, Planen oder Überlegen, aus der Kontemplation ergibt (vgl. Wilberding 2008). Die aristotelische Dreiteilung (vgl. Aristot. metaph. Ε 1) von praktischem Handeln (praxis), technischem Herstellen (poiêsis) und theoretischem Schauen (theôria) ist also gänzlich transformiert: Weder praxis noch poiêsis besitzen einen autonomen Status, sondern die erstere ist eine defektive Form der theôria und die letztere ein Nebenprodukt von ihr. Der Ausdruck logismos („Überlegung, Planung“), den Aristoteles für die rationale Deliberation zum Zweck zielgerichteten Handelns gebraucht (Aristot. eth. Nic. 6,2, 1139a12–13), erscheint bei Plotin gelegentlich in ähnlicher Bedeutung, aber mit einem abwertenden Akzent: Er charakterisiert das diskursive Denken als eine defiziente, von der wahren Weisheit oder Erkenntnis des Geistes verschiedene Form von Rationalität (z. B. IV 4 [28],12,3–13). Kurz: Plotin übernimmt die aristotelische Assoziation von wahrer Glückseligkeit und Kontemplation, aber die Grundlage seiner Aneignung der aristotelischen Konzepte ist eine charakteristisch plotinische Anthropologie: Die wahre Natur des Menschen liegt in seiner höheren, zur geistigen Erkenntnis befähigten Seele, die nicht aus der intelligiblen Welt herabgestiegen ist und deren Erkenntnistätigkeit von der gleichen Art wie die des göttlichen Geistes ist (s. Abschn. 35.1 und 40.1).

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Hellenistische Philosophie: Stoa, Epikureismus, Skeptizismus

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László Bene

12.1 Plotin und die hellenistischen philosophischen Schulen In der frühhellenistischen Zeit wurden in Athen neue philosophische Schulen gegründet: die epikureische Schule und die Stoa. In Platons Akademie etablierte Arkesilaos (Scholarch 272– 242 v. Chr.) eine skeptische Richtung, die bis zur Auflösung der Akademie am Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. bestand. Die philosophische Szene wurde im hellenistischen Zeitalter von diesen drei Schulen beherrscht, obwohl neben ihnen auch andere wie der aristotelische Peripatos oder der Kreis des Skeptikers Pyr­ rhon von Elis existierten. Von den letzten Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts an änderten sich die geographischen, politischen, sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen der Philosophie und damit auch die Denkgewohnheiten und Praxis der Philosophen, selbst wenn die posthellenistischen philosophischen Richtungen ihre Kontinuität mit den athenischen Schulen bewahrt haben (zur Abgrenzung der hellenistischen Philosophie im engeren Sinne von der späteren Phase vgl. Frede 1999, bes. 772; 790; Bénatouïl 2006, 417–418). Kennzeichnend für

L. Bene (*)  Eötvös-Loránd-Universität, Budapest, Ungarn E-Mail: [email protected]

die dogmatischen Richtungen der letztgenannten Epoche sind u. a. die Kommentierung autoritativer Texte, die Anreicherung der eigenen Schullehre mit fremden Elementen und die Prominenz ethisch-spiritueller und theologischer Fragen. Die späteren Entwicklungen sind insbesondere beim Stoizismus und Skeptizismus zu berücksichtigen. Epiktetos legte eine interessante und einflussreiche Variante der stoischen Lehre vor. Im 1. Jahrhundert v. Chr. wurde der Pyrrhonismus wiederbelebt, der auch die akademische skeptische Tradition in sich aufnahm. Plotin muss die hellenistischen Lehren auch in ihren jüngeren Formen gekannt haben. Seine Kenntnisse der hellenistischen Philosophie scheinen über die doxographischen Quellen hinauszugehen, aber er stützte sich wahrscheinlich nicht nur auf ‚klassische‘ und zeitgenössische Primärtexte, sondern auch auf die frühere platonische und peripatetische Rezeption und Kritik hellenistischer Lehren – ein komplexes Problemfeld, das weiterer Untersuchungen bedarf (vgl. D’Ancona 2012, 958; 961–963; Dufour 2006, 177–178; Longo/Taormina 2016a, 2–8; 13). Plotin wollte seine Philosophie als Neuformulierung von Platons Lehre verstanden wissen (V 1,8; s. Abschn. 7.1). Sein Wirklichkeitsmodell beruht zwar in der Tat auf platonischen Prinzipien, doch in seinen Schriften verbergen sich, wie Porphyrios anmerkt, stoische und peripatetische Lehren sowie die Meta-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_12

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physik des Aristoteles (VP 14,4–7). Plotins mittelplatonische Vorgänger nahmen gegenüber der skeptischen Akademie, dem Aristotelismus und der Stoa unterschiedliche Haltungen ein (s. Kap. 13). Er selbst kann zu den Platonikern gezählt werden, die Aristoteles und die Stoa nicht von vornherein ablehnten. Sein Verhältnis zu den hellenistischen Richtungen – das uns hier interessiert – ist vielschichtig. Einerseits kritisiert er heftig die korporealistische Ontologie und die empiristische Erkenntnislehre der Epikureer und der Stoiker, die seinen platonischen Grundüberzeugungen diametral entgegenstehen; ebenso weit ist er vom Skeptizismus entfernt, weil er das platonische Prinzip der Möglichkeit des Wissens aufrechterhalten will (Plat. soph. 248e–249d; Plot. V 3,10,14– 29; V 5,2,1–12; s. Abschn. 26.3). Andererseits ist er bereit, Begriffe, Argumente und Lehren der hellenistischen Richtungen in abgewandelter Form in seine konstruktiven Erörterungen einzubeziehen. Schließlich sind seine Fragestellungen und die Art und Weise seines Philosophierens durch die hellenistischen Richtungen stark geprägt. Die hellenistischen Schulen boten über die Lehren hinaus auch Lebensgrundsätze – die Philosophie galt als „Lebenskunst“ (Epikur, fr. 221 Usener = 25 C Long/Sedley; Sen. epist. 95,10–12 = 66 J Long/Sedley; Skeptiker bei Diog. Laert. 9,107 = 71 A Long/Sedley). Bei Plotin erhalten sogar die theoretischen Untersuchungen selbst ein ethisches und existenzielles Gewicht (Bene 2013, 150–152; s. auch Abschn. 2.2), was als Fortsetzung des Ethikzentrismus der hellenistischen Schulen und als Folge der theologisch-religiösen Wende in der posthellenistischen Philosophie angesehen werden kann.

12.2 Stoizismus Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben mehrere namhafte Gelehrte dem mittleren Stoiker Poseidonios entscheidende Bedeutung für die Entstehung des Neuplatonismus zugeschrieben (vgl. z. B. Theiler 1930). Diese Ansicht ist mit der Veränderung des Poseidonios-Bildes und

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mit dem Fortschritt der ins Detail gehenden Plotin-Studien unhaltbar geworden (D’Ancona 2012, 959–960). Dennoch haben die stärkste Inspiration für Plotins Philosophie – abgesehen von Platon und, an zweiter Stelle, Aristoteles – die Stoiker geliefert.

12.2.1 Logik und Erkenntnistheorie Plotin spielt nur flüchtig auf die stoische Logik an, und nur, um sich von ihr zu distanzieren (V 5,1,38–39; V 8,5,20; 6,3–5; vgl. I 3,4,18– 20). Von größerer Relevanz ist die Erkenntnislehre, die in der Stoa ebenfalls zur Dialektik gehörte (Gerson 2016, 47–49). Ihr Grundbegriff ist phantasia (‚Vorstellung‘): eine Einprägung oder, besser gesagt, Modifizierung in der Seele, die von einem Körper erzeugt wird und sich selbst und ihre Ursache enthüllt (SVF 2, 55 = 39 A Long/Sedley; SVF 2, 54 = 39 B  Long/Sedley). Das Kriterium der Wahrheit ist die kataleptische (‚ergreifende‘) Vorstellung, die von einem real Existierenden herrührt, diesem genau entspricht und so beschaffen ist, dass sie nicht von einem nicht (so) Existierendem hätte zustande gebracht werden können (SVF 2, 65 = 40  E Long/ Sedley). Die Stoiker bestehen auf der Sinneswahrnehmung als Quelle aller Erkenntnis. Plotin kritisiert den Korporealismus und Sensualismus der stoischen Wahrnehmungstheorie und verwirft repräsentationale Erklärungen des Wissens zugunsten einer Theorie, die Wissen als ein Privileg des Geistes ansieht, der die intelligiblen Ideen selbst in sich hat (s. Abschn. 12.4 und 20.1).

12.2.2 Physik (einschließlich ontologischer Fragen) Die Stoiker erkennen nur die Körper als existierend an. Nur Körper sind zu kausaler Wechselwirkung fähig (SVF 1, 90 = 45 A Long/Sedley). Körper aber setzen Ort, Leere und Zeit voraus, die nicht als „existierend“, sondern nur als „subsistierend“ bezeichnet werden können. Auch der Sinn einer Aussage oder eines Prädi-

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kats – das „Sagbare“ (lekton) – existiert nicht, er „subsistiert“ nur (SVF 2, 331 = 27  D Long/Sedley). Die Körper und die unkörperlichen Dinge fallen gemeinsam unter die Gattung des „Etwas“ (ti; SVF 2, 329 = 27 B Long/Sedley). Die Gattungen des Seienden – Zugrundeliegendes (hypokeimenon), Irgendwie-Beschaffenes (poion), Sich-irgendwie-Verhaltendes (pôs echon), Sichim-Bezug-auf-etwas-irgendwie-Verhaltendes (pros ti pôs echon) - bilden eine hierarchisch geordnete Reihe. Plotin greift den stoischen Korporealismus in verschiedenen Zusammenhängen an. Im ersten Buch der Schrift Über die Gattungen des Seienden kritisiert er die stoische Lehre der vier Gattungen, die er als Alternative zur aristotelischen Kategorienlehre ansieht (VI 1,25–30; vgl. Graeser 1972, 87–100; Dufour 2006, 28–34; Gerson 2016, 45–47). Er zeigt, dass die vier stoischen Gattungen die logischen Anforderungen, denen ‚erste Gattungen‘ (im Sinne der aristotelischen Theorie) entsprechen müssen, nicht erfüllen. Zum Beispiel ist es absurd, die vier Gattungen einem obersten Genus, dem „Etwas“, unterzuordnen, denn von den Gliedern einer hierarchisch geordneten Reihe kann keine Gattung in synonymer Weise ausgesagt werden (VI 1,25,12–23). Plotin argumentiert auch gegen die Ansetzung der Materie (des „Zugrundeliegenden“) als erster Gattung: Wäre die ungeformte, der Möglichkeit nach existierende Materie das Erste, dann gäbe es nichts, das sie in Aktualität überführen könnte, denn das Wirkende muss in Aktualität sein (VI 1,26,1–7; vgl. IV 7,83,1–23; Aristot. metaph. Θ 8, 1049b24–27). Er weist auch darauf hin, dass sich die Theologie der Stoiker – der zufolge Gott erstes Prinzip ist – mit ihrer materialistischen Ontologie nicht verträgt (VI 1,27,1–18; vgl. Aristot. metaph. Λ 6, 1072a3– 9; 7, 1072a19–20; 1072b30–1073a5). Andernorts kritisiert er die stoische Auffassung der Materie, nach der sie qualitätslos ist und dennoch – angesichts ihrer körperlichen Natur – formale Bestimmungen wie Größe, Ausdehnung und Widerstand besitzt (II 4,1,6–14; vgl. VI 1,26,20– 26; SVF 2, 300 = 44 B Long/Sedley; SVF 2, 381 =  45 F Long/Sedley). Nach Plotins Diagnose in der Schrift VI 1 [42] rührt der onto-

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logische Irrtum der Stoiker daher, dass sie sich auf die Sinneswahrnehmung stützen. Sie gehen von den Körpern aus, die sich in ständiger Veränderung befinden, und gelangen zur Materie, die ihrer Ansicht nach das einzig Beständige in ihnen – und somit das eigentlich Seiende – ist (VI 1,28,5–10). Wer eine solche metaphysische Lehre vertritt, steht für Plotin unter dem Einfluss der Materie, und seiner Seele fehlt die Selbsterkenntnis (VI 1,29,32–36). Die stoische Physik beruht auf der Unterscheidung zwischen einem aktiven und einem passiven Prinzip (SVF 2, 299–300 = 44 B Long/ Sedley). Das letztere ist die qualitätslose Materie, das erstere ist die sich in der Materie betätigende Vernunft oder Gott. Beide Prinzipien sind körperlich, und sie bilden eine „vollständige Mischung“ (di’ holou krasis; SVF 2, 310 = 45 H Long/Sedley). In der vollständigen Mischung durchdringen sich die Komponenten gegenseitig, aber sie behalten ihre ursprünglichen Eigenschaften (SVF 2, 471  = 48  D Long/Sedley). Diese stoische Theorie ist sowohl in kosmologisch-theologischem wie auch in psychologischem Zusammenhang grundlegend und wurde dementsprechend von platonischen und peripatetischen Gegnern wie Alexander von Aphrodisias heftig angegriffen. Auch Plotin stellte die Möglichkeit einer vollständigen Mischung von körperlichen Bestandteilen in der Erörterung seiner Seelenlehre infrage (s. u. Abschn. 12.2.3). Aber er widmete dem Problem auch eine gesonderte Schrift, wo er die Möglichkeit der vollständigen Mischung in bestimmten Fällen zulässt (II 7 [37], bes. 1,50–52). Nach seiner platonischen Erklärung ist die vollständige Mischung nur möglich, weil sowohl die Materie als auch die Qualitäten unkörperlich sind (II 7,2,4–43; vgl. Lacrosse 2007). Nach der stoischen Kosmologie erzeugt Gott als das aktive Prinzip alle Form, Struktur und Bewegung in der Welt – in dieser Funktion kann er als ‚Ursache‘ bezeichnet werden (SVF 2, 311  =  44 C Long/Sedley; SVF 2, 303 = 55 E Long/Sedley). Die Stoiker vertreten den Determinismus. Alle Dinge geschehen gemäß dem Schicksal: Die kausale Ordnung des Alls ist durch ein einziges Prinzip be-

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stimmt, und sie erstreckt sich auf alle – auch auf die kleinsten – Ereignisse (55 J–N Long/ Sedley). Das Schicksal ist aber keine blinde Macht, sondern ein vernünftiges Prinzip, dessen zweckmäßige Wirkung die beste Ordnung schafft; daher kann es mit der Vorsehung gleichgesetzt werden (SVF 2, 933 = 54 U Long/Sedley). Gott ist Vernunft (logos) und trägt die „Vernunftkeime“ (logoi spermatikoi) in sich, gemäß denen sich alle im Schicksal enthaltenen Dinge von der Weltentstehung bis zum letzten Weltbrand entwickeln (SVF 2, 1027 = 46 A Long/ Sedley; SVF 1, 102 = 46 B Long/Sedley) Das Leben des Alls ist periodisch, der Vorgang des Entstehens und Vergehens der Weltordnung spielt sich immer wieder auf genau dieselbe Weise ab (SVF 2, 625 = 52 C Long/Sedley). Die Welt bildet auch synchron ein einziges Kausalsystem dank des göttlichen Pneumas, das dem Kosmos organische Einheit – sympatheia, „Zusammen-Affiziert-Sein“ der Teile – verleiht (SVF 2, 441 = 47 L Long/Sedley; SVF 2, 475; 534; Schramm 2022, 461–465). Poseidonios erklärte ein breites Spektrum von Phänomenen der kausalen Fernwirkung mit der kosmischen Sympathie (fr. 106 Edelstein/Kidd). Das den Kosmos durchwaltende göttliche Prinzip wird auch als Weltseele begriffen (SVF 2, 604 = 46  E Long/ Sedley; SVF 2, 605 = 46 F Long/Sedley); die menschliche Seele ist ein verselbständigter Teil der Weltseele (SVF 2, 633 = 53 X Long/Sedley). Plotin setzt sich mit diesen kosmologischen Gedanken ausführlich und differenziert auseinander. Sein Haupteinwand gegen die stoische Schicksalslehre ist, dass nach dieser Theorie, die alle Ereignisse in der Welt auf ein einziges Prinzip zurückführt, der Mensch nichts weiter als bloßes Instrument des Schicksals sein kann (III 1,7,12–24; Dufour 2006, 18– 20; s. Abschn. 48.2). Plotin deutet – ähnlich wie der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias – das Schicksal als eine Art Gewebe natürlicher Ursachen (vgl. III 1,8,10; 10,8–10; vgl. II 3,9,28; IV 4,40,5–9; 43,21–24; Alex. Aphr. fat., CAG Suppl. 2.2, 169,18–171,17 Bruns). Die Natur (physis) ist jedoch keine allumfassende und unentrinnbare Kraft, schon allein deshalb nicht, weil sie auf die Ebene der Sinneswelt be-

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schränkt ist. Im Gegensatz zu Alexander sieht Plotin die Grundlage der menschlichen Autonomie indes nicht in der Fähigkeit, unbestimmt zwischen entgegengesetzten Alternativen zu wählen, sondern im metaphysischen Status der unkörperlichen Seele, die als „primär wirkende Ursache“ (III 1,8,8: prôtourgos aitia; vgl. Plat. leg. 897a4: prôtourgoi kinêseis) betrachtet werden kann. Dies gilt auch für die höhere Seele des Menschen (s. Abschn. 35.3). Plotins Ansicht nach sind die Einzelseelen nicht Teile oder Produkte der Weltseele, sondern „von der gleichen Art“ wie sie: Menschliche Seelen und Weltseele hängen von einer gemeinsamen Quelle, der universalen Seele, ab wie die Arten von der Gattung (IV 3,8; IV 9,5; s. Abschn. 40.1). Die Unabhängigkeit der rationalen menschlichen Seele von der Weltseele ermöglicht es, dass der Mensch vom Schicksal – vom „Zauber der Natur“ – frei werden kann (II 3,9,14–39; vgl. IV 4,40,23–24; 43,1–11; zu Plotins Behandlung der Beziehung zwischen Schicksal und menschlicher Autonomie vgl. Eliasson 2009; Coope 2020, 66–67; Noble 2022, 400–403; s. auch Abschn. 21.2). Plotin erarbeitet eine platonische Variante der Lehre der Sympathie (Graeser 1972, 68– 72; Emilsson 2015; Schramm 2022, 467–469; s. Kap. 31 und Abschn. 37.1). Diese Theorie versucht, Phänomene wie astrale Einflüsse oder die Wirksamkeit von Magie und Gebet zu erklären (IV 4,30–45). Plotin betrachtet diese als natürliche Erscheinungen, und er weist der Sympathie auch in seiner Erklärung des Sehens und des Hörens eine wichtige Rolle zu (IV 5,3; 8). Die Sympathie dient grundsätzlich zur Erklärung der kausalen Beziehung zwischen physischen Objekten, die sich nicht berühren. Bei Plotin wie bei den Stoikern gewährleistet die Weltseele die Einheit des Kosmos und den kausalen Zusammenhang seiner Teile; bei ihm ist sie freilich ein unkörperliches Prinzip. Plotin übernimmt auch den facettenreichen Logos-Begriff der Stoiker (logos = ‚Rede‘, ‚Aussage‘, ‚Gedanke‘, ‚Vernunft‘, ‚gestaltendes Prinzip‘ etc.), wenn auch in einer vom Korporealismus gereinigten Form (Graeser 1972, 43; einen knappen Überblick zu Plotins Logoslehre

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bietet Brisson 1999). In seinem Verständnis gehören die Logoi primär zur Ebene der Seele und der Natur, der untersten Phase der Seele, die sich mit der physischen Welt unmittelbar ‚berührt‘. Die Logoi in der Seele sind entfaltete, komplexere Abbilder der Ideen im Geist (II 3,17,1–21; vgl. VI 7,11,1–44; s. Abschn. 26.2). Die „Vernunftkeime“ (logoi spermatikoi), die auf der Ebene der Natur wirken, haben ihren Ursprung in der Seele (II 3,17,15–21; IV 4,39,5– 17). Sie regeln die Entwicklung der Lebewesen und strukturieren die Materie im Allgemeinen. Der Logos ist ein unkörperliches Prinzip, das die räumlich-physikalischen Eigenschaften und den Verlauf des Lebenszyklus des aus ihm sich entwickelnden Wesens in zeitlich und räumlich ungeschiedener Weise in sich selbst enthält (II 6,1,10–12; III 7,11,24–27; V 9,6,10– 24). Die Seele als Ganzes kann auch als logos des Geistes bezeichnet werden (V 1,3,7–8; VI 7,17,39–42; vgl. Karfík 2011/2012). Dieses Modell lässt sich auch auf die Beziehung zwischen dem Geist und dem Einen ausdehnen (V 1,6,45– 46). Trotz seiner andersartigen zugrunde liegenden Ontologie behält Plotin von der stoischen Theorie des Logos vieles bei. Ausschlaggebend für seine Variante scheint die stoische Unterscheidung zwischen dem Logos als Gedanke in der Seele und dem Logos als geäußerte Rede zu sein (I 2,3,27–31; V 1,3,7; vgl. SVF 2, 135). Der plotinische Logos ist ein dynamischer Begriff, dessen Funktion darin besteht, zwischen den vertikal geordneten Ebenen des metaphysischen Modells, zwischen verschiedenen Formen von Einheit und Vielheit, zu vermitteln. Über diese allgemeine metaphysische Rolle hinaus kann der Begriff des Logos in vielen spezifischeren Zusammenhängen verwendet werden – etwa in der Lehre der Vorsehung (vgl. bes. III 2,2; 16; III 3,4; Noble 2022, 388–389; s. Abschn. 48.1) oder bei der Untersuchung der Grundlagen der Individualität (V 7 [18]; s. Kap. 27). Plotin lässt sich nicht auf die Debatte um die stoische These der ewigen Wiederkehr ein. Im Gegenteil, auch er selbst experimentiert mit dem Gedanken eines kosmischen Zyklus (V 7,1,12–14; 23–26; 2,21–23) – was in der platonischen Tradition keineswegs unüblich ist (vgl.

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Plat. Tim. 39d; Ps.-Plut. De fato 3, 569 A–C; Orig. Contra Celsum 5,21). Er unterzieht jedoch die stoische Zeittheorie einer ausführlichen Kritik, wobei sein Interesse ausschließlich der Definition der Zeit gilt (III 7,8,23–69; Hoffmann 2005). Die vielversprechendste Version der stoischen Definition wurde von Chrysipp formuliert: Die Zeit sei eine „die Bewegung des Alls begleitende Ausdehnung“ (SVF 2, 509 = 51  B Long/Sedley). Hierzu stellt Plotin ein Dilemma auf. Wenn diese Ausdehnung die innere Struktur der Bewegung ist, dann ist sie etwas, das in der Zeit ist – folglich kann sie nicht die Zeit selbst sein. Wenn sie aber außerhalb der Bewegung liegt und mit ihr mitläuft, dann ist die Definition nicht aufschlussreich, denn sie sagt nichts darüber, was die Natur dieser Ausdehnung ist, die mit der Bewegung mitläuft. Nach der stoischen Theorie ist die Zeit zwar unkörperlich, aber sie ist kausal unwirksam und an physische Bewegungen gebunden. Plotin hingegen versteht die Zeit als die innere Struktur der seelischen Tätigkeit, die die physische Welt schafft und bewegt (III 7,12,1–22; s. Abschn. 50.4).

12.2.3 Seelenlehre Die Seelenlehre gehört in der stoischen Einteilung der Philosophie zur Physik (Diog. Laert. 7,133). Die Stoiker beschreiben die Seele als Körper – genauer gesagt, als „kunstvolles Feuer“ (SVF 1, 120 = 46  D Long/Sedley) oder als „Pneuma“, d. h. ein Gemisch aus Feuer und Luft (SVF 2, 879 = 53  G Long/Sedley). Die Seele durchdringt den gesamten Körper, aber ihr Zentrum ist der im Herzen befindliche „führende Teil“ (hêgemonikon), von dem die fünf Sinne, die Zeugungskraft und die Lautäußerung ausgehen wie die Tentakel eines Kraken. Die Affektionen treten in den betroffenen Körperteilen auf, die Wahrnehmungen hingegen in dem führenden Seelenteil (SVF 2, 836 = 53 H Long/Sedley; SVF 2, 854 = 53  M Long/Sedley). Das hêgemonikon ist für alle wichtigen zentralen Funktionen zuständig: Vorstellungskraft, Antrieb, Denkfähigkeit und Zustimmung (SVF 2, 826 = 53  K Long/Sedley).

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Plotin legt das platonisch-aristotelische mehrteilige handlungspsychologische Modell zugrunde, ohne die monistische Psychologie der Stoiker eigens zu diskutieren. Im Brennpunkt seiner Kritik an der stoischen Seelenlehre steht die These der Körperlichkeit der Seele (IV 7,4– 83). Er argumentiert u. a., dass sich die kausalen und die mereologischen Eigenschaften der Seele von denjenigen des Körpers wesentlich unterscheiden (IV 7,4,21–34; 5,24–52, vgl. IV 2,1,41–76) und dass sie als aktual (energeia(i)) Seiendes dem Körper ontologisch vorausgehen muss (IV 7,83,1–25). Er stellt auch infrage, dass Seele und Körper eine „vollständige Mischung“ bilden könnten (di’ holou krasis; IV 7,82,7–22; D’Ancona 2015, 167–184). Seine spezifisch psychologischen Argumente zeigen, dass eine körperliche Seele nicht in der Lage wäre, die Funktionen des Wachstums, der Sinneswahrnehmung, des Denkens und der Entscheidung zu erfüllen (IV 7,6–8). Besonders aufschlussreich ist die Kritik an der stoischen Wahrnehmungstheorie. Wäre die Seele körperlich, dann müsste z. B. der Schmerz von anderen Körperregionen auf den führenden Teil übertragen werden. Die körperliche Übertragung (diadosis) impliziert aber, dass in den dazwischen liegenden Teilen immer weitere Impulse entstehen und dass das hêgemonikon alle diese Impulse und überdies auch seinen eigenen wahrnehmen muss, ohne den ursprünglichen Impuls lokalisieren zu können (IV 7,7,1–22). Plotins eigene Lösung beruht auf der Theorie der Allgegenwart des intelligiblen Seienden. Der lebendige Körper erleidet die Affektion, aber diese braucht nicht auf die Seele übertragen zu werden, denn die Seele – die im ganzen Körper als Ganzes gegenwärtig ist – erkennt sie, ohne selbst affiziert zu werden (IV 4,19; s. auch Kap. 49).

12.2.4 Ethik Plotin setzt sich weniger ausführlich mit der stoischen Ethik auseinander, doch einige Aspekte sind für ihn von Bedeutung. Nach Chry-

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sipps Lehre von der „Zueignung“ (oikeiôsis) strebt das Lebewesen von seiner Geburt an nach dem „Eigenen“ oder dem „ersten Naturgemäßen“, d. h. nach dem, was seiner Selbsterhaltung bzw. Selbstentfaltung dient. Sobald der Mensch sich als vernunftbegabtes Wesen voll entwickelt hat, ist seine Zueignung auf das moralisch Gute gerichtet (SVF 3, 178 = 57 A Long/Sedley). Die ersten naturgemäßen Dinge haben lediglich den Status des „bevorzugten Indifferenten“, weil allein die Tugend als gut und das Laster als böse gilt (SVF 3, 117 = 58 A Long/Sedley). Das Endziel (telos) wird definiert als ein Leben, das im Einklang mit der Natur gelebt wird – mit der vernünftigen Natur des Menschen und mit der Natur des Alls (SVF 3, 4 = 63 C Long/Sedley). Das Glück (eudaimonia) besteht in der Vollkommenheit der Vernunft, d. h. in der Tugend; daher können nichtrationale Lebewesen nicht glücklich genannt werden (SVF 3, 39 = 61 A Long/Sedley; SVF 3, 200a = 63 D Long/Sedley). Die Tugend wird als Wissen verstanden. Der ideale Weise der Stoiker hat umfassendes und unerschütterliches Wissen und besitzt die Fülle der Tugenden, weil das Wissen als solches systematisch sein muss und die Tugenden sich gegenseitig bedingen (SVF 3, 548 = 41 G Long/Sedley; SVF 3, 112 = 41  H Long/Sedley; SVF 3, 299 und 243 = 61  F Long/ Sedley). Nach Antipatros von Tarsos besteht das Endziel – das glückliche Leben – im „Auswählen“ (eklogê) der ersten naturgemäßen Dinge. Unser Glück hängt jedoch ausschließlich davon ab, ob das Auswählen auf der Grundlage der Tugend stattfindet, nicht aber davon, ob wir die naturgemäßen Dinge (die ja indifferent sind) tatsächlich erhalten – so wie die Handlung des Bogenschützen danach beurteilt wird, ob er alles getan hat, um das Ziel zu treffen (SVF 3 Antipater 57 = 58 K Long/Sedley; vgl. 64 A–D Long/Sedley). Die stoische Ethik zielt darauf ab, den Weisen von allen äußeren Umständen unabhängig zu machen: Das höchste Gut, das im Einklang mit der Natur gelebte Leben, das Glück liegt in seiner Macht (Cic. Tusc. 5,81– 82 = 63 M Long/Sedley). Der Besitz der Tugend reicht für das Glück an sich aus, ohne die

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körperlichen und äußeren ‚Güter‘. Das Glück des Weisen wird auch durch extreme Widrigkeiten nicht beeinträchtigt (63 L Long/Sedley; SVF 3, 585; 586). Plotin beschreibt die Stoiker als Denker, die dank des besseren Teils ihrer Seele den Weg des Aufstiegs eingeschlagen haben. Da sie aber unfähig sind, sich zur Betrachtung des Intelligiblen zu erheben, fallen sie auf das praktische Handeln und auf die Auswahl der niederen Dinge zurück (V 9,1,10–16; zur Überlegenheit der Kontemplation gegenüber der Praxis vgl. III 8,4,31– 47; IV 4,43,18–44,37; VI 3,16,27–31; VI 8,5– 6; s. Abschn. 30.2). Wenn die Stoiker das Glück im vernünftigen Leben sehen und der Vernunft (logos) einen Eigenwert zuschreiben (statt sie nur als geeignetes Instrument zur Auswahl der ersten naturgemäßen Dinge zu betrachten), dann sollten sie das Wesen der Vernunft und der Tugend als der Vollkommenheit der Vernunft metaphysisch zu klären versuchen; sie sind aber nicht in der Lage, zur höheren, intelligiblen Wirklichkeit zu gelangen (I 4,2,31–55). Plotin kritisiert die stoische Analyse des Glücks, weil sie Rationalität und Glück zu äußerlichen Bestimmungen des Lebens macht (I 4,3,9–16; 28–33). Nach seiner eigenen Theorie liegt das Glück dagegen wesentlich im Leben des Geistes, das ontologisch allen anderen Formen des Lebens – als erstes Glied in einer geordneten Reihe – vorausgeht und aufgrund seiner Fülle vollkommen ist, sodass das Glück ihm nicht von außen zukommt (I 4,3,16– 40). Der Mensch kann an dem vollkommenen Leben des Geistes teilhaben; mehr noch, der Glückliche oder Weise (spoudaios) identifiziert sich selbst mit diesem Leben und distanziert sich von den unteren Schichten seiner menschlichen Natur (I 4,4; s. Abschn. 23.1). Plotins Meinungsverschiedenheiten mit den Stoikern betreffen zumeist nicht die ethischen Fragen selbst. Im Gegenteil, er macht sich ihre rigorosen ethischen Grundsätze in höherem Maße zu eigen als es in der mittelplatonischen Schultradition üblich war (vgl. I 4,4,20–8,30; s. Abschn. 13.4). Aber er hält die korporealistische Ontologie der Stoiker offensichtlich für unzureichend, um ihre Ethik zu begründen, und integriert daher die von

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ihm übernommenen ethischen Thesen der Stoa in seine eigene platonische Metaphysik (vgl. Gerson 2016, 51–53). Das plotinische Ideal des Weisen (sophos, spoudaios) folgt in vielerlei Hinsicht dem stoischen Modell. Die Unantastbarkeit des Weisen gegenüber Schmerz, Krankheit und Heimsuchungen wird jedoch nicht durch die Disposition des körperlichen hêgemonikon, sondern durch die Dominanz der höheren Seele sowie durch die Identifikation mit dem Leben des Geistes gewährleistet (Schniewind 2003, 45–47; 152– 160). Ebenso wird die stoische These, wonach das Glück nicht mit der Zeit zunimmt, durch das metaphysische Argument untermauert, dass das Leben des Seienden, an dem der Glückliche teilhat, an der zeitlich unausgedehnten Ewigkeit und nicht an der Zeit gemessen wird (I 5,7,20–30; s. Abschn. 23.2). Epiktet, der wichtigste Vertreter der kaiserzeitlichen Stoa, setzte in seiner Ethik charakteristische Akzente. Plotin war anscheinend mit seiner Lehre vertraut (Graeser 1972, 82–84) und ließ sich von einigen seiner zentralen Gedanken inspirieren. 1) Der wichtigste Wert in Epiktets Ethik ist die Freiheit (eleutheria), verstanden als die vollkommene Unabhängigkeit von allem ‚Äußerlichen‘, d. h. von dem, was nicht unter unserer alleinigen Kontrolle steht (vgl. bes. Epict. diss. 4,1). In Plotins Schrift VI 8 [39] Der freie Wille und das Wollen des Einen werden „Freiheit“ (to eleutheron) und „das in unserer Macht Stehende“ (to eph’ hêmin) einander angenähert und in einer begrifflichen Struktur erörtert, die mit der epiktetischen verwandt ist (vgl. Bene 2013, 142–144; Gerson 2016, 49– 51; Coope 2020, 43–44; 47–57). 2) Bei Epiktet taucht zum ersten Mal die Vorstellung eines freien Willens auf (prohairesis, boulêsis), freilich nicht im indeterministischen Sinne. Für ihn ist der Wille des Weisen frei, weil er in seinen Entscheidungen, durch die er das gute Leben verwirklicht, weder gezwungen noch gehindert werden kann. Plotins Behandlung des freien Willens (boulêsis) bewegt sich auf ähnlichen Bahnen (Epict. diss.  1,4,18; 1,12,9; 2,14,7; 3,5,7; 4,1,1; Plot. VI 8,3; VI 8,6,26–45; Frede 2011, 76–77; 125–152).

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12.3 Epikureismus Die Epikureer sind bei Plotin als Denker beschrieben, die – obwohl sie auf rationales Argumentieren Wert legen – bei dem sinnlich Wahrnehmbaren steckengeblieben sind und wegen ihres Hedonismus wie „schwere Vögel“ nicht imstande sind aufzufliegen (V 9,1,7–10). Andernorts führt er den Hedonismus der Epikureer auf ihre Abweisung der Vorsehung zurück; letzteres wird mit der gnostischen Verachtung der Vorsehung und ihres Herrn verglichen (II 9,15,4–21; Cornea 2013; zur polemischen Topik vgl. Longo 2016). Auch in Bezug auf Einzelprobleme hat Plotin nicht mehr Geduld mit den Epikureern: In seiner Kritik der physischen Zeittheorien verweist er auf die epikureische Definition der Zeit (III 7,10,1: „was die Bewegung begleitet“, vgl. Epikur, fr. 294 Usener = Aet. 1,22,5), um sie dann ohne ernsthafte Prüfung abzuweisen (III 7,10,9: „wir suchen nicht, was die Zeit nicht ist, sondern was sie ist“). Dennoch setzt er sich in mehreren Zusammenhängen mit epikureischen Ansichten auseinander und übernimmt gelegentlich epikureische Begriffe.

12.3.1 Erkenntnistheorie Die epikureische Erkenntnistheorie ist sensualistisch. Alle Sinneswahrnehmungen gelten als wahr, weil die Sinne die Abbilder (eidôla), die von der Oberfläche fester Körper ausgehen und ihre Struktur bewahren, getreu registrieren; Irrtum ist nur in den Urteilen möglich (16 B Long/ Sedley). Aus der Sinneswahrnehmung stammen auch die „Vorbegriffe“ (prolêpseis), auf die sich die Wörter beziehen und die als Ausgangspunkte philosophischer Untersuchungen und als Kriterium der Wahrheit dienen (17 A; 17 E Long/Sedley; Epikur, Brief an Herodotos 37–38). Diese Lehre von den naturgegebenen Begriffen wurde von Epikur eingeführt, aber auch die Stoiker entwickelten eine eigene Version von ihr (SVF 2, 105 = 40 A Long/Sedley). Ein weiterer wichtiger epistemologischer Begriff ­ epikureischen

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Ursprungs ist epibolê, die Erfassung eines mentalen Objekts durch Konzentration; sie wurde von späteren Epikureern in die Liste der Wahrheitskriterien aufgenommen (17  A Long/ Sedley). Mit athroa epibolê („konzentrierter Zugriff“) meint Epikur in didaktischem Zusammenhang die ganzheitliche Übersicht über einen Gegenstandsbereich, der auch in detaillierter Form erörtert werden kann (Brief an Herodotos 35). Plotin hat seine Vorbehalte gegenüber der Sinneswahrnehmung, und er bringt skeptische Argumente gegen Repräsentationstheorien vor, die versuchen, Wissen mithilfe von Abbildern zu erklären (V 5,1,12–14; s. unten Abschn. 12.4; laut Taormina 2016 und Morel 2016 argumentiert Plotin in diesem Kapitel vor allem gegen die epikureische Erkenntnistheorie). In der kaiserzeitlichen epistemologischen Diskussion ist die Berufung auf „Vorbegriffe“ (prolêpseis) und „natürliche“ oder „gemeinsame Begriffe“ (physikai ennoiai, koinai ennoiai) weit verbreitet (vgl. Alex. Aphr. fat., CAG Suppl. 2.2, 196,13–22 Bruns; Alcin. Didasc. 4, p. 155,20– 34 Whittaker/Louis). Dieses Erbe der hellenistischen Philosophie, das sich inzwischen weitgehend von spezifischen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen gelöst hat, ist auch bei Plotin von einiger methodologischer Bedeutung (Remes 2016). Plotin verwendet athroa epibolê für das rudimentäre Verständnis eines noch zu artikulierenden Begriffs (III 7,1,4) oder für den nichtdiskursiven Erkenntnisakt des Geistes oder der höheren Seele (III 8,9,21–22; IV 4,1,20; s. Abschn. 20.1). Die ursprüngliche Konnotation des Ausdrucks – ein Maximum an Inhalt auf minimalem Raum konzentriert – wird beibehalten (Cornea 2016, 185; Zweifel am epikureischen Ursprung des Begriffs bei Chiaradonna 2022).

12.3.2 Physik Die epikureische Physik entwickelte sich aus Demokrits Atomtheorie. Eine epikureische Neuerung ist die „Bahnabweichung“ (parenklisis), die ein indeterministisches Element in die atomare Bewegung einführt: Die Atome kön-

12  Hellenistische Philosophie: Stoa, Epikureismus …

nen an einem unbestimmten Ort und zu einer unbestimmten Zeit von ihrer Bahn minimal abweichen. Die Bahnabweichung spielt sowohl in der Erklärung der Entstehung von komplexen Gebilden (Lucr. 2,216–250 = 11  H Long/Sedley) als auch in der Begründung der menschlichen Verantwortung (Cic. fat. 22–23 = 20 E 2–3 Long/Sedley; Lucr. 2,251–293  = 20  F Long/ Sedley) eine Rolle. In der Kosmologie lehnten die Epikureer die teleologische Naturauffassung ab (Lucr. 4,823–857 = 13  E Long/Sedley); besonders vehement stellten sie die platonisch-stoische Lehre der göttlichen Schöpfung infrage. Gegen eine göttliche Schöpfung sprechen die Unhaltbarkeit der anthropomorphistischen Vorstellung von einem göttlichen Handwerker und das Argument, dass Schöpfung und Vorsehung mit dem ungetrübten, glückseligen Leben der Götter unvereinbar sind (Cic. nat. deor. 1,18–23; 52–53 = 13 G; 13 H Long/Sedley). Plotin setzt sich mit der Atomtheorie am eingehendsten in der Erörterung der Ursachen in der physischen Welt auseinander. Die Lehre der atomaren Abweichung lehnt er mit traditionellen Argumenten ab: Es ist nicht annehmbar, Bewegungen ohne Ursache einzuführen, und wenn unsere Handlungen auf zufällige Atombewegungen zurückgeführt werden könnten, würden wir als Handelnde umso größerem Zwang unterliegen (III 1,1,13–24; für Argumente gegen eine Atomtheorie ohne die Bahnabweichung vgl. III 1,2,9–17; 3,1–29; Eliasson 2016; s. auch Abschn. 21.2.2). An anderer Stelle setzt er der Atomtheorie die unendliche Teilbarkeit der Materie und die Irreduzibilität von Geist und Seele auf die Materie entgegen (II 4,7,20– 28). Teleologische Kosmologie, göttliche Schöpfung und Vorsehung gehören zu Plotins platonischen Grundüberzeugungen. Nach Plotin kann die Hypothese der Zufälligkeit und Unordnung im Kosmos weder durch Vernunft noch durch sinnliche Erfahrung bestätigt werden (III 2,1,1– 10; 4,26–33), und die Leugnung eines göttlichen ordnenden Prinzips und der Vorsehung führt zu sittlich inakzeptablen Folgen (II 9,15,4–21). Überraschenderweise kommt Plotin in einigen Punkten der epikureischen Kosmologie und der Theologie nahe (Charrue 2006, 292–296), bei

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denen es sich freilich eher um unbeabsichtigte, sich aus der Eigenart von Plotins Platon-Exegese ergebende Berührungen handelt (s. Abschn. 9.3). Er lehnt die wörtliche Interpretation der Schöpfung und der göttlichen Vorsehung in Platons Timaios ab, und er schließt vom Leben der Götter – des Geistes, der Weltseele und der himmlischen Seelen – Überlegung, Planung und zielgerichtetes Handeln aus, die Elemente also, die sich aus dem Modell des Handwerkers ergeben. Aber Plotins Götter behalten – anders als die des Epikur – ihre kosmologische Funktion, selbst wenn ihre weltordnende Tätigkeit keine gesonderte Anstrengung oder Aufmerksamkeit erfordert (IV 4,12; VI 7,1). Die Götter genießen ein ungestörtes, glückliches, selbstgenügsames Leben (III 2,1,40–45; 9,12–13); ihre äußeren Wirkungen begleiten automatisch die kontemplative Tätigkeit, die ihr Wesen ausmacht (s. Abschn. 24.2). Die Epikureer betrachten auch die menschliche Seele als ein Gebilde aus Atomen. Sie argumentieren für die Sterblichkeit der Seele mit der Begründung, dass sie nur im Leib, zusammen mit ihm, funktionsfähig ist (Epikur, Brief an Herodotos 63–67  = 14 A Long/Sedley). Plotin hingegen weist darauf hin, dass die Natur der Seele nicht aus der Kombination von Atomen abgeleitet werden kann, weil das bloße Nebeneinanderstellen körperlicher Elemente die für die Seele charakteristische Einheit und ‚Sympathie‘ (sympatheia, „Zusammen-AffiziertSein“) nicht bewirken könne (IV 7,3,1–6). Außerdem sind die ungeordneten Bewegungen der Atome nicht in der Lage, Ordnung, Vernunft und komplexe psychische Aktivitäten wie Überlegung, Begehren oder die Wahl einer geistigen Beschäftigung zu erklären (III 1,3,1–5; 19–27). Aus Epikurs großer naturphilosophischer Schrift (peri physeôs) ist eine ausgefeilte Theorie erhalten, der zufolge die Eigenschaften der Seele sich nicht ohne weiteres auf diejenigen ihrer atomaren Bestandsteile zurückführen lassen (Epikur, De natura 34,21–22 = 20  B Long/Sedley). Plotin hat diese Einschränkungen offenbar nicht berücksichtigt, wohl weil er als Platoniker prinzipielle Vorbehalte gegen die Annahme emergierender Eigenschaften hatte.

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12.3.3 Ethik Die epikureische Ethik beruht auf der Identifizierung des Guten mit der Lust: Alle Lebewesen streben von Geburt an nach Lust und vermeiden Schmerz (Epikur, Brief an Menoikeus 127–132 = 21 B Long/Sedley). Die Lust wird nicht ausschließlich als „kinetisch“, d. h. als aktive sinnliche Stimulation verstanden; vielmehr zählt schon die Abwesenheit von Schmerz als („katastematische“) Lust, weil es keinen dritten, neutralen Zustand zwischen beiden gibt (Cic. fin. 1,37–38 = 21 A 6–7 Long/Sedley). Das Endziel des Menschen kann daher auch als ‚Unerschütterlichkeit‘ oder ‚Seelenfrieden‘ (ataraxia) bezeichnet werden. Wie bereits erwähnt, stuft Plotin hedonistische Philosophen in seiner Typologie niedrig ein (V 9,1; II 9,15). In seiner Schrift I 4 [46] Über das Glück setzt er sich mit dem epikureischen Hedonismus auseinander. Da Lust und ataraxia nicht auf den Menschen beschränkt werden können, müssten wir nach der Theorie der Hedonisten auch nichtrationale Geschöpfe als glücklich bezeichnen (I 4,1,26–30). Außerdem müsste sich der Glückliche seiner Lust bewusst sein, mehr noch, er müsste wissen, dass das Gute in der Lust besteht – eine Leistung, zu der nur die Vernunft fähig ist, die also eine irrationale Affektion und damit ihr eigenes Gegenteil als das höchste Gut anerkennen müsste (I 4,2,15–31). Nach Plotins eigener Theorie ist das Glück im Leben des Geistes zu finden, und der Glücklicke hat an diesem Leben teil (I 4,3–4; s. Abschn. 23.1). Er kritisiert das epikureische Paradoxon, wonach der Weise Lust empfindet, während er im Stier des Phalaris geröstet wird (Epikur, fr. 601 Usener). Die Unbetroffenheit des Weisen von körperlichem Schmerz kann, so Plotin, nur unter der platonischen Prämisse einer prinzipiellen Differenz zwischen dem leidenden Leib und der in glückseliger Kontemplation befindlichen Seele aufrechterhalten werden (I 4,13,5–12). Plotin schließt sich der von Epikureern und Stoikern vertretenen Ansicht an, wonach das Glück nicht mit der Zeit zunimmt (Epikur, Kyriai doxai 19; Cic. fin. 2,87–88); er argumen-

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tiert aber gegen die epikureische Behauptung, dass die Erinnerung an vergangene angenehme Erfahrungen das Glück steigert (I 5,8,6–11; vgl. Epikur, fr. 436; 439 Usener). In seiner Erörterung der Beziehung zwischen Lust und Glück stützt sich Plotin auf eine Unterscheidung Epikurs: Das Leben des Weisen (spoudaios) umfasse zwar kein körperliches Vergnügen, aber er genieße im Bereich der seelischen Freuden eine Lust, die nicht in Bewegung, sondern in einem ruhigen, unbewegten Zustand besteht (I 4,12,1– 10). Plotin stuft diese Art von Lust nicht als ein Gut, sondern als etwas, das die Güter begleitet, ein. Ungeachtet dieser Einschränkung zeigt sich er hier bereit, sich ein Lehrstück der epikureischen Philosophie – die Unterscheidung zwischen kinetischer und statischer („katastematischer“) Lust – anzueignen (O’Meara 1999; für einen Überblick über Plotins Behandlung der epikureischen Ethik vgl. Linguiti 2016).

12.4 Skeptizismus Der Mittelplatonismus verdankte der Auseinandersetzung mit dem akademischen Skeptizismus viele Impulse. Numenios wollte die Vertreter dieser Strömung aus der platonischen Tradition ausschließen (fr. 24–28 des Places), während andere Mittelplatoniker wie Plutarch der Skepsis gegenüber aufgeschlossener waren (Opsomer 1998). Plotin zeigt wenig Interesse an der Debatte über die Bewertung der skeptischen Akademie, und auf den ersten Blick ist ihm jede Form des Skeptizismus fremd. Dennoch finden wir bei ihm – manchmal an entscheidenden Stellen – interessante Parallelen zu skeptischen Argumenten. Wir kennen die letzteren meistens in der Formulierung des Sextus Empiricus, eines Vertreters des jüngeren Pyrrhonismus, was aber einen akademischen Ursprung keineswegs ausschließt. Die Skeptiker konzentrierten ihre Angriffe auf die erkenntnistheoretischen Lehren der konkurrierenden Schulen. Sie legten großen Wert darauf zu zeigen, dass die Wahrheitskriterien der Dogmatiker nicht haltbar waren – auf diese Weise konnten sie das Fundament des gesamten

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Lehrgebäudes ihrer Gegner infrage stellen. Die Stoiker und die Epikureer leiteten alles Wissen aus der sinnlichen Wahrnehmung der Außenwelt ab. Die Skeptiker brachten eine ganze Reihe von Argumenten gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis der Außenwelt vor. Ein wichtiger skeptischer Einwand war, dass wir bei der Sinneswahrnehmung nur die Affektion (pathos) unseres Sinnesorgans erfassen, ohne das äußere zugrunde liegende Objekt (to ektos hypokeimenon) erreichen zu können (S. Emp. P.H. 2,72–73; adv. math. 7,357–8). Es ist fraglich, ob die wahrgenommenen Eigenschaften im Objekt oder im erkennenden Subjekt liegen (P.H. 1,94; 2,51). Auf jeden Fall sind das Objekt und die Affektion bzw. die Vorstellung verschieden, u. a. weil das äußere Objekt die Ursache der Affektion ist, die in uns entsteht (adv. math. 7,383). Man kann freilich versuchen, die Möglichkeit der Erkenntnis mit dem Argument zu retten, dass die Affektion dem sie hervorbringenden Objekt ähnlich ist. Aber das löst das Problem nicht. Die Ähnlichkeit der Affektion selbst impliziert, dass sie vom äußeren Objekt verschieden ist; mehr noch, wir können uns ihrer Ähnlichkeit mit dem Objekt nicht sicher sein, zu dem wir ja keinen direkten Zugang haben (P.H. 2,74–75; adv. math. 7,357–358; 384–386). Da unsere Wahrnehmung auf die eigenen Affektionen beschränkt bleibt, ist auch die Vernunft nicht in der Lage, zur Außenwelt vorzudringen und die Dinge selbst zu erfassen (P.H. 2,72–73). Auf diese Unterscheidung stützt Sextus nicht nur die Widerlegung der empiristischen Erkenntnistheorien, sondern auch seine Darlegung des skeptischen Phänomenalismus. Der Skeptiker nimmt die Erscheinungen hin und folgt in seiner Lebenspraxis seinen passiven Eindrücken. Er stellt nur die auf die Erscheinungen bezogenen Aussagen infrage (P.H. 1,19–20; vgl. adv. math. 7,191). Die dogmatischen Wahrheitskriterien werden u. a. dadurch entkräftet, dass das Erkennende, d. h. der Mensch, nicht einmal fähig ist, sich selbst zu erkennen: Weder der Mensch als Ganzes noch ein Teil von ihm kann Subjekt dieser Erkenntnis sein (adv. math. 7,284– 286). Selbsterkenntnis ist – aus ähnlichen Gründen – auch spezifisch für die Vernunft unmög-

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lich. Wenn die Vernunft als Ganzes sich selbst erkennen würde, dann gäbe es kein Objekt mehr, das sie erkennen könnte; wenn aber die Vernunft als Ganzes das Objekt der Selbsterkenntnis wäre, dann gäbe es kein erkennendes Subjekt. Würde andererseits ein Teil der Vernunft die anderen Teile erkennen, dann stellt sich die Frage, wie dieser Teil sich selbst erkennt, und wir landen in einem unendlichen Regress (adv. math. 7,310–312). Plotin ließ sich von diesen skeptischen Gedankengängen in mehreren Darstellungen seiner Theorie des Geistes inspirieren (Wallis 1987, 913–925). In der Schrift V 5 [32] stützt er sich auf skeptische Argumente gegenüber den sensualistischen Erkenntnistheorien. Die durch die Sinneswahrnehmung wahrgenommenen Qualitäten existieren vielleicht nur in unseren Affektionen, nicht aber in den zugrunde liegenden Dingen selbst; und selbst wenn wir ihre objektive Existenz anerkennen, müssen wir feststellen, dass wir statt der zugrunde liegenden Dinge selbst nur ihre Abbilder erkennen (V 5,1,15–19). Plotin wendet diese Argumente jedoch gegen die Skeptiker selbst und benutzt sie zur Begründung eines intellektualistischen Dogmatismus (O’Meara 2000; vgl. Magrin 2010; eine andere Interpretation bei Morel 2016; Taormina 2016). Die intelligiblen Objekte, die platonischen Ideen, sind dem Geist nicht äußerlich, sondern mit ihm identisch, wodurch sichergestellt wird, dass der Geist unfehlbar ist und mit der Wahrheit zusammenfällt (V 5,1–2; s. Abschn. 26.3). Bei der Erläuterung der NousLehre im Traktat V 3 [49] geht Plotin von einer Version des skeptischen Dilemmas von Teil und Ganzem aus und argumentiert, dass der Geist sich selbst als Ganzes erkennt und dass sich in seinem Denken das Erkennende, das Erkannte und der Akt der Erkenntnis vollständig decken (V 3,1; 5; eine detaillierte Rekonstruktion bietet Kühn 2009). Die plotinische Theorie des Geistes basiert weitgehend auf aristotelischen Lehren (s. Abschn. 11.3), stellt aber auch einen originellen Beitrag zu den hellenistischen Debatten über das Kriterium der Wahrheit dar (vgl. Blumenthal 1989, 266–267).

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Plotin könnte auf die Herausforderungen der Skeptiker auch im Zusammenhang mit anderen – vorwiegend theologischen – Themen geantwortet haben. Sextus bezweifelt, dass den Göttern sinnvollerweise Tugenden zugeschrieben werden können (vgl. auch Aristot. eth. Nic. 10,8, 1178b10–22; Alcin. Didasc. 28, p. 181,43–45 Whittaker/Louis; s. Abschn. 13.4). Die Stoiker hatten Gott zum Inbegriff der Tugenden gemacht (SVF 1, 529). Wenn der Gott Tugend besäße, so Sextus’ Gegenargument – das nicht frei von Schwachstellen ist –, dann käme sie ihm von außen zu und wäre seinem Wesen überlegen; auf diese Weise wäre Gott in sich selbst unvollkommen und als solcher vergänglich (adv. math. 9,176–177). Plotin bezweifelt, dass der Gott, dem der Mensch „ähnlich werden“ soll (Plat. Tht. 176b), Tugenden hat; andererseits besteht er darauf, dass auch die ethischen Tugenden für den Prozess der Angleichung an Gott eine Rolle spielen. Seine Lösung ist, dass wir uns mittels der Tugenden an den Geist angleichen, der das transzendente Vorbild aller Tugenden ist (I 2,1; vgl. Wallis 1987, 925–931; 944–945; s. Kap. 45). Die Skeptiker haben sich auch geweigert, Gott Überlegung (bouleusis, logismos) zu unterstellen. Die Überlegung geht vom Offensichtlichen aus, um das Unklare zu erhellen; für Gott gibt es aber nichts Unklares; also benötigt er keine Überlegung (Cic. nat. deor. 3,38; das Argument geht wahrscheinlich auf Karneades zurück). Auch Sextus betrachtet Überlegung als Zeichen unvollkommener Erkenntnis, weil sie Suche ist und Unklarheit voraussetzt, und schließt sie von Gott aus (S. Emp. adv. math. 9,167–170; für die Unvollkommenheit der Überlegung vgl. Aristot. eth. Nic. 3,3, 1112a34–b11; 10,7, 1177a26–27). Platon und seine Nachfolger hingegen stellten die teleologische Ordnung der Welt häufig als Ergebnis einer planenden Überlegung Gottes dar (Plat. Tim. 30b4; 33a6; 34a8; Attic. fr. 3 des Places). Auch der Stoiker Marc Aurel schreibt Gott explizit Überlegung zu (M. Aur. Med. 6,44,1). Die Platoniker unterscheiden zwischen noetischem und dianoetischem Denken und beschreiben Gott als Geist (nous), aber wir wissen nicht, ob die Vertreter der nichtzeitlichen Interpretation des

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Timaios vor Plotin Platons Rede von den Überlegungen Gottes thematisiert und umgedeutet haben. Plotins Behandlung des Problems der göttlichen Überlegung kommt jedenfalls den Skeptikern nahe (Wallis 1987, 931–936; 945– 952). Er argumentiert, dass weder der göttliche Geist noch die höheren Seelen sich der Überlegung bedienen, unter anderem deshalb, weil sich die atemporale Seins- und Operationsweise des Göttlichen mit der wesentlich an die Zeit gebundenen Struktur der Überlegung nicht verträgt (VI 7,1; IV 4,10–12; vgl. V 1,4,16). Eine interessante Berührung mit skeptischen Ideen findet sich in Plotins Charakterisierung des paradoxen Sprechens über das unerkennbare und unsagbare Eine (s. Abschn. 18.2 und 43.6). Der pyrrhonische Skeptiker verzichtet nicht völlig auf Aussagen bezüglich der äußeren Objekte, aber er beschränkt die Gültigkeit solcher Aussagen auf seine eigenen Affektionen (pathos) und trifft keine dogmatische Behauptung über die äußeren Objekte selbst (S. Emp. P.H. 1,15). Plotin verteidigt zwar entschieden die Möglichkeit des Wissens, macht in Bezug auf das Eine aber ähnliche Einschränkungen: Wenn wir über das Eine sprechen, drücken wir eigentlich unsere eigenen Affektionen aus, die jedoch über sich selbst hinaus auf das erste Prinzip der Wirklichkeit weisen, das aufgrund seiner Einfachheit über der Möglichkeit der geistigen Erfassung und des sprachlichen Ausdrucks steht (VI 9,3,49–54; O’Meara 2000).

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Der Mittelplatonismus

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Franco Ferrari

13.1 Plotin und die mittelplatonische Tradition Als ‚Mittelplatonismus‘ bezeichnet man üblicherweise den Abschnitt der Geschichte des antiken Platonismus zwischen der Schließung der Athener Akademie (88 v. Chr.), die während der beiden vorausgegangenen Jahrhunderte von einer skeptischen Interpretation der Philosophie Platons beherrscht worden war (Glucker 1978), und der Abfassung der Enneaden Plotins (Donini 1982, 9–30; Catana 2013). Viele in den mittelplatonischen Autoren und Texten erscheinende Elemente können als „Vorbereitung des Neuplatonismus“ (Theiler 1930) betrachtet werden, weil sie Tendenzen vorwegzunehmen scheinen, die sich nach Plotin verfestigen sollten. Es handelt sich insbesondere um a) die Wiederaufnahme der platonischen ‚Zweiweltenlehre‘ mit der Gegenüberstellung von sinnlich wahrnehmbarem und intelligiblem Sein (vgl. Plat. Tim. 27d–28a); b) die Zuschreibung von Kausalität an den transzendenten Bereich, der die Rolle eines die sinnliche Welt bewirkenden Prinzips übernimmt; c) den Vorrang der theologischen Komponente (Gott) gegenüber der Aus dem Italienischen übersetzt von Christian Tornau. F. Ferrari (*)  Università degli Studi di Pavia, Pavia, Italien E-Mail: [email protected]

ontologischen (Ideen); d) die hierarchische Ordnung der Realität (Gott – transzendente Ideen – immanente Formen – Weltseele – Sinnendinge); e) die Identifikation des höchsten Prinzips des Seienden mit einem überkosmischen Geist (nous); f) die Lehre von der „Angleichung an Gott“ (Plat. Tht. 176b) als der höchsten Tugend und des Endziels allen menschlichen Handelns (Ferrari 2015, 321–323). Die mittelplatonischen Autoren entwickelten kein homogenes philosophisches System. Ihre Epoche weist verschiedenartige Tendenzen und Orientierungen auf: Neben einem aristotelisierenden Platonismus (Plutarch; Alkinoos; Apuleius) entstanden eine pythagoreisierende (Eudoros von Alexandria; Moderatos von Gades; Theon von Smyrna; Numenios) und eine stoisierende Richtung (Antiochos von Askalon; Attikos; vgl. Donini 1982; Karamanolis 2006, 1–190; Bonazzi 2015). Dennoch teilten nahezu alle diese Autoren die Vorstellung, dass das platonische Denken ein einheitliches Lehrsystem darstelle und Platon ein ‚dogmatischer‘ Philosoph in dem Sinne sei, dass ihm eine Reihe positiver Lehrmeinungen zuzuweisen seien. Sie gaben – mit der partiellen Ausnahme von Plutarch und Favorinos von Arelate (Opsomer 1998; Bonazzi 2003, 110–170) – die skeptische Haltung der vorhergehenden Periode auf und setzten sich das Ziel, die platonische Philosophie in ein organisches System von Lehren zu überführen. Dieses Ziel wurde großenteils durch das Instrument der Textexegese verwirk-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_13

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licht, die zur verbreitetsten, wenngleich nicht einzigen Methode des Philosophierens wurde (Donini 1994; Ferrari 2012, 77–88). Plotin kannte die Schriften vieler mittelplatonischer Autoren und benutzte sie während seiner Vorlesungen. Dies geht aus dem Zeugnis des Porphyrios hervor, der berichtet, dass sein Lehrer sich die Platon-Kommentare des Severos, Kronios, Numenios, Gaios, Attikos und anderer habe vorlesen lassen (Porph. VP 14,10– 12; s. auch Abschn. 9.6). Außerdem diskutierte und kritisierte er die Auffassungen des Longinos, der in seinen Augen ein guter Philologe, aber kein echter Philosoph war (VP 14,18–20; Männlein-Robert 2001, 139–150; s. Abschn. 4.7 und 9.1). Es besteht daher kein Zweifel, dass das philosophische Denken Plotins sich trotz seines hohen Grades an Originalität aus dem Gang der bisherigen – platonischen, pythagoreischen, aristotelischen und stoischen – Tradition entwickelt, die er sehr gut kannte.

13.2 Mittelplatonische Prinzipienlehre und Theologie Ein typischer Zug des Mittelplatonismus ist die Tendenz, die platonische Dichotomie zwischen Sein (to on) und Werden (to gignomenon) zu personalisieren, die bisweilen im Sinne einer Opposition von Gott und den Menschen verstanden wird (Sen. epist. 58,22–24; Plut. de E 392B–D). Dies bedeutet zum einen, dass die Gottheit zur wichtigsten Wesenheit des transzendenten Bereichs wird, und zum anderen, dass die Charakteristika des platonischen Seins auf Gott (theos) übertragen werden, der somit als unkörperlich, ungezeugt, unvergänglich, ewig, selbstidentisch usw. gilt (Plut. de E 392E–393B; Numen. fr. 5 des Places; De Vogel 1983, 283– 286; Ferrari 2005, 14–16). In der Tat trägt die mittelplatonische Ontologie einen theologischen Grundzug, wenn sie einerseits die Identität zwischen dem wahren Sein und Gott (bzw. dem ersten Gott) anzunehmen scheint und andererseits Gott den Vorrang gegenüber den platonischen Ideen zuweist, die bisweilen als „Gedanken Gottes“ (noêmata tou theou) aufgefasst

F. Ferrari

werden (Aet. 1,3,21 = Dörrie/Baltes 1996, Baustein 113.2). Ein Teil der mittelplatonischen Philosophen identifizierte die Idee des Guten der Politeia, das ontologische Prinzip der Ideen, mit dem Demiurgen des Timaios, der kosmologischen Ursache der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Der expliziteste Beleg für diese Identifikation findet sich bei Attikos (fr. 12 des Places; dazu Baltes 1999, 83–84; Opsomer 2005, 73–79). Aber auch Plutarch tendiert, wenngleich mit einigem Schwanken (Plut. de facie 942A–944F), dazu, den welterschaffenden Gott mit dem Guten zu einer einzigen Entität zu verschmelzen; hierdurch gelangt er oft zu einer Auffassung des transzendenten Bereichs der Realität als eines einheitlichen Prinzips, in dem Demiurg, Geist, Idee des Guten und Ideenwelt koinzidieren (Plut. Is. 372E–F; 373E–F; de sera 550D; de def. orac. 435E–436E). In der Tat findet sich bei ihm eine Art Fusion von Wirkursache (Demiurg), Finalursache (Idee des Guten) und paradigmatischer Ursache (Ideen; vgl. Ferrari 2005, 16–18; Opsomer 2005, 87–96; Michalewski 2014, 60–63). Dieser von Plutarch, Attikos, Apuleius und Tauros vertretenen, den Demiurgen mit der Idee des Guten (und ggf. auch mit dem eidetischen Vorbild) identifizierenden Position steht eine differenziertere und komplexere Lehre gegenüber, die Lösungen vorwegnimmt, die sich im Neuplatonismus verfestigen sollten. Es handelt sich um die Auffassung, dass die göttliche Sphäre eine hierarchische innere Struktur aufweist, in der ein oberster Gott – gleichgesetzt mit der Idee des Guten und verstanden als absolut transzendentes ontologisches Prinzip – von einem zweiten Gott unterschieden ist, dessen Aufgabe die demiurgische Erschaffung oder Ordnung des Kosmos ist. Das Erfordernis, das höchste Prinzip der Wirklichkeit von jeder Berührung mit dem sinnlichen Bereich und von jeder demiurgischen Tätigkeit freizuhalten, veranlasst Autoren wie Alkinoos und Numenios (2. Jh. n. Chr.) und vielleicht schon vor ihnen Eudoros von Alexandria (1. Jh. v. Chr.), über dem Demiurgen ein absolutes, wesenhaft mit dem Guten der Politeia identisches Prinzip anzu-

13  Der Mittelplatonismus

setzen. Auf diese Weise entfaltet sich eine metaphysische Hierarchie, die am unteren Ende die Weltseele und an der Spitze einen überkosmischen Gott postuliert und den Demiurgen die mittlere Position einnehmen lässt. Eine derartige hierarchische Anordnung ist im Didaskalikos des Alkinoos bezeugt, einem handbuchartigen Kompendium, das eine systematische Kurzfassung der platonischen Philosophie bietet. Alkinoos präsentiert eine Folge metaphysischer Entitäten, die ihren Gipfel beim höchsten Gott hat, in dem die Grundzüge der platonischen Idee des Guten und des ersten unbewegten Bewegers des Aristoteles (Aristot. metaph. Λ 7–9) zusammenzufließen scheinen: „Da die Vernunft (nous) besser ist als die Seele, die aktuale Vernunft aber, die alles zugleich und auch immer denkt, besser als die potentielle und noch besser als diese deren Ursache, so ist diese wohl der Erste Gott, der für die Vernunft des gesamten Kosmos die Ursache ihres immerwährenden Wirkens ist. Er wirkt auf sie, obschon er selbst unbewegt ist, so wie die Sonne auf den Gesichtssinn, wenn er auf sie blickt, und so, wie das Objekt des Verlangens das Verlangen in Bewegung setzt, obschon es selbst unbewegt bleibt. Genauso also soll auch diese erste Vernunft die Vernunft des gesamten Kosmos bewegen“ (Alcin. Didasc. 10, p. 164,18–27 Whittaker/Louis; dazu Dörrie/Baltes/Pietsch 2008, 323–329). Das hierarchische Schema des Alkinoos kennt drei göttliche Prinzipien: a) die Weltseele, b) den demiurgischen Geist, der b1) als potentieller und b2) als aktualer Geist auftreten kann (vgl. Aristot. an. 3,5), und c) das den Übergang des himmlischen Geistes (des Demiurgen) von der Potentialität in die Aktualität bestimmende kausale Prinzip. Das letztgenannte Prinzip (c) ist der erste Gott, der den demiurgischen Geist so bewegt „wie das Objekt des Verlangens das Verlangen“, d. h. auf ähnliche Art wie der aristotelische ‚unbewegte Beweger‘ den obersten Himmel bewegt (Aristot. metaph. Λ 7, 1072a23–b4; Alt 1996, 15). Alkinoos unterscheidet also einen ersten Geist, der mit der Idee des Guten Platons und dem ‚unbewegten Beweger‘ des Aristoteles identisch ist, von dem demiurgischen Geist, der unter Ver-

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mittlung der Weltseele die Bewegung des Himmels ordnet und lenkt. Dieser erste, dem Demiurgen übergeordnete Geist ist „ewig, unsagbar, aus sich vollkommen, unbedürftig, immer vollkommen“ und gleichzusetzen mit der „Göttlichkeit“ (theiotês), der „Substantialität“ (ousiotês), der Wahrheit, der „Ausgewogenheit“ (symmetria) und dem Guten (Didasc. 10, p. 164,31– 34 Whittaker/Louis). Eine der Prinzipienhierarchie des Alkinoos analoge Unterscheidung zwischen dem ersten Gott (dem ersten Geist) und dem Demiurgen findet sich auch bei Numenios von Apameia. Er wendet diese Unterscheidung auf die Aussage des Timaios an, dass es „schwierig“ sei, „den Schöpfer (poiêtês) und Vater (patêr) dieses Alls zu finden“ (Plat. Tim. 28c). Laut Numenios meint Platon mit dem Begriff „Vater“ (patêr) den ersten und mit „Schöpfer“ (poiêtês) den zweiten Gott, d. h. den Demiurgen, während der Kosmos das durch den demiurgischen Akt hervorgebrachte „Geschöpf“ (poiêma) sei (Numen. fr. 21 des Places; dazu Frede 1987, 1061; Zambon 2002, 222–239; Dörrie/Baltes/ Pietsch 2008, 472–482; O’Brien 2015, 139– 158). Der erste Gott ist identisch mit der Idee des Guten und stellt somit das Prinzip der Ideen dar: „Wenn das Sein und die Idee das Intelligible sind und wenn […] die Vernunft (nous) früher als diese und ihre Ursache ist, dann ist damit erwiesen, dass diese allein das Gute ist. Denn wenn der Schöpfergott (dêmiourgos) Ursprung des Werdens ist, dann reicht das Gute, um Ursprung des Seins zu sein“ (Numen. fr. 16,1–4 des Places  = Dörrie/Baltes 1998, Baustein 128.1). Numenios etabliert daraufhin eine Analogie zwischen dem Guten und dem Demiurgen einerseits und dem Sein und dem Werden andererseits, indem er behauptet, dass der Demiurg sich zum Guten so verhält wie das Werden zum Sein, da der Demiurg das Gute ebenso imitiert wie das Werden ein Abbild des Seins ist (Dörrie/Baltes 1998, 265–269). Daraus ergibt sich, dass der erste Gott des Numenios hinsichtlich der Entstehung der sinnlich wahrnehmbaren Welt inaktiv (argos) ist (fr. 11,13–15 des Places). Er ist jedoch in einem gewissen Sinne aktiv mit Blick auf die Entstehung

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der Ideen, da er einen Geist (nous) darstellt, der die geistig erkennbaren Gegenstände denkt. Numenios erklärt nicht, wie die Hervorbringung der Ideen durch den ersten Geist erfolgt; sie dürfte jedoch mit der Aktivität des reinen Denkens (to phronein) in Verbindung stehen, die allein dem ersten Gott angehört (fr. 19,4–5 des Places). In jedem Fall scheint Numenios das absolute Prinzip als eine dynamische, lebendige Sphäre aufzufassen (fr. 15,8–9; fr. 22 des Places), die um das Denken des ersten Geistes zentriert ist, welcher den Kosmos nicht direkt gestaltet, sondern dem zweiten Gott (dem Demiurgen) das Modell für dessen Erschaffung zur Verfügung stellt (Opsomer 2005, 66–73). Die Unterscheidung zwischen dem ersten Gott (dem Guten) und dem zweiten Gott (dem Demiurgen) findet ihren bekanntesten Ausdruck in einem Fragment, wo sie direkt Platon zugewiesen wird: „Da Platon wusste, dass bei den Menschen der Demiurg allein bekannt ist, die erste Vernunft hingegen, die als das Seiende an sich (autoon) bezeichnet wird, bei ihnen vollkommen unbekannt, deswegen äußerte er sich in der Weise, wie man folgendermaßen sagen könnte: ‚Ihr Menschen, der, den ihr vermutungsweise für die Vernunft haltet, ist nicht die Erste Vernunft, sondern die Erste ist eine andere Vernunft noch vor dieser, früher und göttlicher‘“ (Numen. fr. 17 des Places = Dörrie/Baltes/Pietsch 2008, Baustein 189.4). Qua Prinzip des Seins ist der erste Gott auch „das Seiende an sich“ (autoon), d. h. das Wesen des Seienden: Für Numenios sind die Ideen das, was sie sind – d. h. das wahrhaft Seiende – dadurch, dass sie an der Idee des Guten teilhaben, weswegen diese im platonischen Sinne das ‚Wesen‘ des Seienden darstellt (fr. 20 des Places; dazu Frede 1987, 1062–1063). Obgleich Numenios die Einfachheit, Unteilbarkeit (fr. 11,11–14 des Places) und absolute Transzendenz des ersten Gottes sowie seine Unberührtheit von der Erscheinungswelt betont, sagt er nirgends explizit, dass er „jenseits des Seins“ (epekeina tês ousias) sei. Nur an einer Stelle heißt es – freilich in einem metaphorisch-andeutenden Zusammenhang –, dass das Gute einzeln und „auf dem Seienden aufsitzend (epochoumenon)“ sei

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(fr. 2,16–17 des Places). In den uns zur Verfügung stehenden Zeugnissen kommt Numenios nicht mehr auf dieses Thema zurück, und alles deutet darauf hin, dass das Prinzip für ihn mit dem höchsten Geist und dem Seienden an sich zu identifizieren und nicht eindeutig „jenseits des Seins und des Geistes“ (epekeina ousias kai nou) anzusetzen ist wie das Eine Plotins (vgl. VI 8,16,34; s. Abschn. 44.1). Im Übrigen scheint die Nähe mancher Auffassungen des Numenios zu denen Plotins bestätigt zu werden durch das Zeugnis des Porphyrios, wonach Plotin von einigen Griechen bezichtigt wurde, Numenios zu plagiieren (Porph. VP 17,1–6; dazu Frede 1987, 1035–1036; s. auch Abschn. 1.2).

13.3 Mittelplatonische Ontologie und Kosmologie Ein Problem, dem die mittelplatonischen Autoren große Aufmerksamkeit widmeten, ist die Frage nach dem Ort der Ideen, d. h. die Frage, ob sie sich inner- oder außerhalb des göttlichen Geistes befinden und ob sie diesem (dem ersten Gott) ontologisch übergeordnet, gleichrangig oder untergeordnet sind (Baltes 1999, 83–88). Dieses Thema interessierte auch Plotin, der es während seiner Vorlesungen – auch in polemischer Auseinandersetzung mit Porphyrios (VP 18,8–23) – eingehend behandelte und ihm eine seiner wichtigsten Schriften widmete (V 5 [32],1–2: „Dass die geistig erkennbaren Gegenstände nicht außerhalb des Geistes sind“). Dort formuliert er die Lehre, dass die Ideen sich nicht außerhalb des Geistes, sondern innerhalb von ihm befinden und mit ihm identisch sind, sodass die Ideenerkenntnis des Geistes Selbsterkenntnis ist (s. Abschn. 22.3 und 26.3). Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem göttlichen Geist und dem Ideenkosmos wird von den mittelplatonischen Philosophen bisweilen mithilfe der bekannten Lehre beantwortet, dass die Ideen „Gedanken Gottes“ (noêmata tou theou) sind, die bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. Bei Attikos sind die Ideen beispielsweise der Gegenstand des Denkens des Demiurgen, befinden sich aber

13  Der Mittelplatonismus

zweifelsohne außerhalb von dessen Geist (exô tou nou) und besitzen eine selbstständige, von der des Geistes getrennte Existenz (Attic. fr. 28 des Places; dazu Michalewski 2014, 75–78). Dagegen vertritt Alkinoos die These, dass der göttliche Geist (der erste Gott) dadurch, dass er sich selbst denkt, die Ideen hervorbringt, die in diesem Sinne seine Gedanken sind: „Da aber die erste Vernunft die schönste ist, muss ihr auch der schönste Gegenstand der Vernunft zur Verfügung stehen. Es gibt aber nichts Schöneres als sie selbst. Sich selbst also und ihre eigenen Gedanken dürfte sie immer denken. Und dieses ihr Wirken (energeia autou) ist die Idee“ (Didasc. 10, p. 164,27–30 Whittaker/Louis; dazu Dörrie/Baltes/Pietsch 2008, 329–330; Dillon 2011, 39–42). In jedem Fall ist im Mittelplatonismus die Tendenz, die Ideen als dem überkosmischen Geist (dem ersten Gott) nachrangig zu betrachten, am weitesten verbreitet (Frede 1987, 1059–1062). Dagegen ist bei Plotin die Identität der Ideen mit dem Geist als Gleichursprünglichkeit verstanden, die auf das Eine als beiden übergeordnetes Prinzip verweist (V 1,4,27–30). Unter den mittelplatonischen Autoren, die die Lehre von den Ideen als Gedanken Gottes vertraten, ging Alkinoos mit seiner These der ontologischen Abhängigkeit der Ideen vom göttlichen Geist am weitesten (Michalewski 2014, 69–93). Vor ihm vertrat der jüdische Philosoph Philon von Alexandria (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.) eine noch radikalere Position. In seiner Auslegung des biblischen Schöpfungsberichts behauptete er, dass Gott vor der Schöpfung der sinnlich wahrnehmbaren Welt die intelligible Welt erschuf, um sich ihrer als Vorbild für die Erschaffung der Körperwelt zu bedienen. Laut Philon wird dieses Vorbild in der gleichen Weise von Gott gedacht und hat seinen Ort in dessen Geist wie der Plan einer Stadt vom Geist eines Architekten hervorgebracht wird und sich in demselben befindet (Philon, De opificio mundi 16–19; dazu Dillon 1996, 158–161; Runia 1999, 154–158; s. auch Abschn. 14.1). Eine andere wichtige mittelplatonische Konzeption, die von Plotin aufgenommen und radikalisiert wurde, ist die von den Wegen, die zur Erkenntnis des höchsten Prinzips der Reali-

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tät führen (vgl. Krämer 2020). Der aussagekräftigste einschlägige Text findet sich erneut bei Alkinoos, der drei Wege zur Erkenntnis des ersten Gottes nennt. Der erste Weg „durch Wegnahme“ (kata aphairesin) besteht in der sukzessiven Eliminierung sämtlicher Bestimmungen, so wie man in der Geometrie durch Wegnahme des Körpers, der Fläche und der Linie zum Punkt gelangt (sog. via negationis). Der zweite ist der Weg „gemäß der Analogie“ (kata analogian), der auf das Sonnengleichnis im 6. Buch der Politeia verweist (Plat. rep. 6, 507a–509c): Das Verhältnis der Sonne zum Sehvermögen und zu den sichtbaren Gegenständen ist analog zu demjenigen zwischen dem ersten Geist, der Seele und den intelligiblen Objekten (via analogiae). Die dritte Methode, eine Art via eminentiae, basiert auf den Schönheitsstufen des Symposions: Man steigt von der Schönheit der Körper und den menschlichen Tätigkeiten, Sitten und Gesetzen zu einer Form der absoluten Schönheit auf, die dem Guten und dem ersten Gott entspricht (Alcin. Didasc. 10, p. 165,16– 34 W./L. = Dörrie/Baltes/Pietsch 2008, Baustein 190.3; vgl. Plat. symp. 210a–212a). Plotin kennt und verwendet alle diese Wege, betrachtet sie aber lediglich als didaktische Vorbereitung für den eigentlichen, praktischen Aufstieg zum Einen, dessen Ziel die Einswerdung mit diesem (unio mystica) ist (VI 7,36,1–10; s. Abschn. 36.3). Die unter den Mittelplatonikern umstrittenste Frage war zweifellos die nach der richtigen Exegese der Weltentstehungslehre des Timaios. Gerade in dieser Epoche etablierte sich, vor allem dank Eudoros (1. Jh. v. Chr.) und Tauros (2. Jh. n. Chr.), eine metaphorisch-didaktische Interpretation der platonischen Erzählung, die im Neuplatonismus die vorherrschende werden sollte und der auch Plotin folgt (vgl. besonders III 2,1; V 8,7; s. Abschn. 31.1 sowie 10.1 zur Vorgeschichte dieser Deutung in der Alten Akademie). Nach dieser Auslegung hatte Platon die Entstehung der Welt „aus didaktischen Gründen“ (didaskalias charin) als zeitliche Abfolge dargestellt, d. h. mit dem Ziel, nichtzeitliche (logische und ontologische) Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den verschiedenen Bestandteilen

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des Kosmos einsichtig zu machen. In Wirklichkeit ist der Kosmos ewig (unerzeugt) und wird lediglich so dargestellt, als ob er erzeugt (genêtos) sei, damit das Verständnis seiner Struktur erleichtert wird (Petrucci 2018). Dieser exegetischen Strömung stellten sich Plutarch und Attikos entgegen, die eine wörtliche Interpretation der platonischen Kosmogonie vertraten, nach der das Universum von dem Demiurgen tatsächlich in einem einzigen schöpferischen Akt erzeugt worden ist, mit dem dieser das präkosmische Chaos in eine rationale Ordnung überführte (Baltes 1976, 38–45).

13.4 Mittelplatonische Ethik Auch auf dem Gebiet der Ethik entwickelten die mittelplatonischen Philosophen keine einheitliche Theorie, weil die einzelnen Autoren platonische Lehren mit Elementen aus anderen Traditionen, etwa der stoischen, peripatetischen und pythagoreischen, verknüpften. Nichtsdestoweniger lassen sich einige gemeinsame Positionen nachzeichnen. Insgesamt distanziert sich die mittelplatonische Ethik grundsätzlich von dem psychologischen Monismus der Stoa und von dem Naturalismus der hellenistischen Ethiken. Das bedeutet zum einen, dass der Mittelplatonismus das ethische Ideal der „Empfindungslosigkeit“ (apatheia) zurückweist, das nicht nur als vernunftwidrig, sondern geradezu als schädlich gilt (Plut. virt. mor. 442A–444D; Alcin. Didasc. 30, p. 183,17–184,36 Whittaker/Louis  = Dörrie/Baltes/Pietsch 2020, Baustein 232.2): Da die menschliche Seele zwei nichtrationale Elemente –  den „mutartigen“ und den „begehrenden“ Teil (thymoeides und epithymêtikon) – als konstitutive Bestandteile enthält, ist es nicht möglich, die Leidenschaften gänzlich zu eliminieren (Dillon 1996, 193–198). Diese müssen kontrolliert und auf ein moralisch akzeptables Ziel ausgerichtet werden. Die Mittelplatoniker setzten also an die Stelle der stoischen apatheia das – hellenistisch-peripatetische – Ideal der Mäßigung und Kontrolle der Leidenschaften (metriopatheia). Zum anderen wiesen die Mittelplatoniker das stoische Ideal des „Le-

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bens gemäß der Natur“ zurück und gaben dem platonischen (und in gewisser Weise auch aristotelischen) Ideal der „Angleichung an Gott“ (homoiôsis theô) den Vorzug. Im Gegensatz zu den hellenistischen Philosophen waren die Mittelplatoniker der Ansicht, dass die Grundlagen der Tugend und der Glückseligkeit (eudaimonia) und letzten Endes der Sinn des menschlichen Lebens insgesamt nicht in der menschlichen Sphäre und der Welt der Erscheinungen liegen, sondern in der göttlichen und transzendenten Dimension zu suchen sind. Indem sie Themen, die in den platonischen Dialogen präsent sind (Plat. Tht. 176a–b; Tim. 90d; leg. 4, 715e–716d etc.), weiterdachten und radikalisierten, gelangten die mittelplatonischen Autoren zur Überzeugung, dass das Erreichen eines gottgleichen Zustandes das höchste Ziel des menschlichen Lebens sei. Da der Mensch in seiner Seele einen geistartigen Bestandteil hat, vermag man durch dessen Pflege und Förderung in eine Verfassung zu gelangen, die – „soweit dies“ dem Menschen „möglich ist“ (kata to dynaton) – derjenigen der Gottheit gleicht. Unter den Mittelplatonikern scheint keine Einigkeit darüber bestanden zu haben, welcher Gott – der erste oder der zweite – das Ziel dieser Angleichung war. Die kohärenteste Lösung war vermutlich die des Alkinoos: „dem Ursprung entsprechend dürfte das Endziel also sein, sich Gott ganz anzugleichen, freilich dem himmlischen Gott, nicht, bei Zeus, dem überhimmlichen Gott, der keine Tugend besitzt, sondern besser als diese ist“ (Didasc. 28, p. 181,43–45 W./L.  = Dörrie/Baltes/Pietsch 2020, Baustein 234.6; 239.5; dazu Zambon 2002, 304–305). Die Angleichung zielt demnach auf den zweiten Gott (den Demiurgen), da der erste Gott keinerlei Tugend besitzt, sondern dieser transzendent ist. Auch für Plutarch, der nur einen Gott annimmt, impliziert der Begriff der homoiôsis, dass das Ziel des Menschen darin besteht, sich der Tugend des Gottes anzugleichen, der den Kosmos erschafft: „Bedenkt aber zuerst, dass Platon zufolge der Gott, indem er sich selbst von allem Schönen als Modell in die Mitte stellt, die menschliche Tugend, die in gewisser Weise eine Angleichung an ihn selbst ist, denjenigen eingibt, die imstande sind, Gott

13  Der Mittelplatonismus

zu folgen“ (Plut. de sera 550D = Dörrie/Baltes/Pietsch 2020, Baustein 239.3; 251.1a; vgl. Helmig 2005). Die Ethik Plotins trägt gegenüber dem Mittelplatonismus stärker stoische Züge, die freilich eine platonische metaphysische Begründung erhalten (I 4 [46],4; I 5 [36],7; VI 8 [39],1–6). Die in der Schrift I 2 [19] entwickelte Lehre von den Tugendgraden integriert das stoische apatheia-Ideal und erlaubt es, die Angleichung als Aufstieg zu dem höchsten Gott innerhalb des Seienden, dem Geist, zu begreifen (s. Abschn. 45.3).

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Platonisierende Strömungen außerhalb der Schulen

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George Karamanolis

In Kaiserzeit und Spätantike reicht der Einfluss der platonischen Philosophie weit über die Schulen der Platoniker hinaus. Er macht sich in so heterogenen intellektuellen Strömungen wie der Hermetik, der Gnosis und der jüdischen Bibelexegese gleichermaßen bemerkbar und prägt spätestens seit dem 3. Jahrhundert n. Chr., etwa bei Plotins älterem Zeitgenossen Origenes (ca. 185–254 n. Chr.), auch die frühe christliche Theologie. Umgekehrt finden einige dieser Strömungen auch das Interesse der professionellen Platoniker. Bereits Numenios scheint sich für die jüdische Bibel und die Moses-Gestalt interessiert zu haben (Numen. fr. 8; fr. 9 des Places); die vermeintliche altägyptische Weisheit der hermetischen Schriften gewinnt bei Iamblichos autoritativen Rang; und die sogenannten Chaldäischen Orakel, ein mittelplatonisch beeinflusster, fragmentarisch erhaltener Offenbarungstext aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., werden im späten Neuplatonismus zum Grundtext der Theurgie. Plotins Schriften nehmen – abgesehen von der Polemik gegen die dualistische Gnosis in der Enneade II 9 [33] – nirgends explizit auf diese Traditionen Bezug (vgl. allerdings VI 7 [38],15,29–30 mit einem möglichen Zitat von Oracula Chaldaica, fr. 39,7 des Places). Dass er im multikulturellen

G. Karamanolis (*)  Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

Alexandria oder auch in Rom mit ihnen in Berührung gekommen ist, ist von vornherein wahrscheinlich; und dass er wie viele seiner philosophischen Zeitgenossen Interesse für die nichtgriechische Weisheit aufbrachte, bezeugt die Angabe des Porphyrios, dass er sich dem Perserfeldzug Kaiser Gordians III. anschloss, um die persische und indische Philosophie kennenzulernen (Porph. VP 3,15–17; vgl. zur Sache Baltes 1999, Erler 2001; s. Abschn. 1.2). Auf jeden Fall bilden platonisierende Strömungen wie die genannten ein wesentliches Element von Plotins kulturellem und philosophiegeschichtlichem Hintergrund. Trotz ihrer Heterogenität haben diese Strömungen eine Reihe von Merkmalen gemeinsam, die sie mit dem spätantiken Platonismus teilen: a) Wie die Platoniker unterscheiden sie einen intelligiblen und sensiblen Bereich der Seinsordnung; b) sie betonen das menschliche Streben nach Vergöttlichung, d. h. nach der Erkenntnis Gottes und der Nachahmung seiner Weisheit; c) sie alle zielen auf die Erlösung oder „Rettung“ (sôtêria) des Menschen bzw. der Seele. Nicht selten ist es deswegen schwierig oder gar unmöglich, hermetische, gnostische und christliche Positionen eindeutig voneinander zu unterscheiden (Fowden 1986, 193–194). Porphyrios sieht z. B. kaum einen Unterschied zwischen Christen und Gnostikern und bezeichnet die Gnostiker als „christliche Häretiker“ (VP 16,2; Puech 1960, 163; Tardieu 1992).

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14.1 Philon von Alexandria Der jüdische Philosoph und Exeget Philon (ca. 20 v. Chr. bis ca. 45 n. Chr.) wirkt im 1. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria, einem Zentrum des hellenistischen Judentums ebenso wie des beginnenden Mittelplatonismus. Sein Werk umfasst eine Vielzahl von Schriften zur philosophisch-allegorischen Auslegung der Tora, deren metaphysische Grundidee die platonische Unterscheidung von sensiblem und intelligiblem Sein und deren praktisch-ethisches Anliegen die Förderung der Hinwendung der Seele zum Geistigen und ihres Aufstiegs zu Gott ist (vgl. überblicksweise Winston/Wyrwa 2018). Trotz der Integration von Elementen der stoischen Ethik, wie sie auch bei Plotin zu beobachten ist (s. Abschn. 12.2.4), ist Philons philosophische Prägung eindeutig mittelplatonisch. Er kennt die Hierarchie von Seele, Geist und Gott oder dem Einen als dem höchsten Prinzip; letzteres fasst er freilich auf der Grundlage von Ex 3,14 LXX („Ich bin der Seiende“) und in Übereinstimmung mit den meisten Mittelplatonikern als das höchste Seiende und als Geist auf (Legum allegoriae 2,1–3). Viele Grundgedanken der mittelplatonischen Philosophie sind bei ihm erstmals belegt (vgl. Bonazzi 2008). So ist er der erste Zeuge für den Gedanken, dass der welterschaffende göttliche Geist die intelligiblen Formen und Vorbilder des Geschaffenen in sich enthält (De opificio mundi 17–20; vgl. Plot. V 5 [32],1–2; s. Abschn. 13.3). Ob Philon als eigenständiger Philosoph gelten kann, der die weitere Entwicklung des kaiserzeitlichen Platonismus bis hin zu Plotin beeinflusst hat (so Radice 1991), ist umstritten (vgl. zusammenfassend Runia 1991). Ob Plotin Kenntnis von seinem Werk hatte und ob es auf ihn gewirkt hat, ist ebenfalls eine offene Frage (Runia 1993, 10– 11). Parallelen wie die genannte stellen hierfür keinen sicheren Beweis dar, da sie Themen betreffen, die zu Plotins Zeit verbreitet waren und sich ebenfalls bei Gnostikern, christlichen Theologen und anderen Platonikern finden. Es ist jedoch mit guten Gründen dafür plädiert worden, dass Plotins Allegorese der Heimkehr des Odys-

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seus als Bild für den Aufstieg der Seele zu Gott von Philons analoger Auslegung der Wanderung Abrahams von Chaldäa ins Heilige Land inspiriert ist (De confusione linguarum 77– 81; vgl. Plot. I 6 [1],8,16–20; Alekniene 2007). Spezifische Berührungen finden sich auch zwischen Philons Darstellung der prophetischen Begeisterung, bei der das von der Sehnsucht nach Gott getriebene Denken sich selbst übersteigt, und Plotins Beschreibung der Einswerdung mit dem Einen als ekstasis (Philon, Quis rerum divinarum heres sit 68–70; Plotin VI 9 [9],11; Alekniene 2010; s. Abschn. 15.2 und 36.3).

14.2 Der Hermetismus Die im sogenannten Corpus Hermeticum gesammelten pseudepigraphen Schriften geben vor, von Gestalten der altägyptischen Mythologie und Religion – insbesondere Hermes Trismegistos/Thoth – verfasst zu sein und älteste ägyptische Weisheit zu transportieren. Tatsächlich sind sie zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. in der gräkoägyptischen Kultur des Hellenismus entstanden und versuchen eine Synthese von ägyptischer Weisheitstradition und mittelplatonischer Philosophie (Fowden 1986; Bull 2018). Stellenweise berührt sich ihre Gedankenwelt mit derjenigen der Gnosis. In Plotins Werk finden wir weder direkte Aussagen zur Hermetik noch klare Hinweise auf die hermetischen Schriften, die schon im 2. Jahrhundert den christlichen Denkern bekannt waren (Athenag. Leg. 28,6; Fowden 1986, 216). Jedoch finden wir in den Enneaden Stellen, die auffällige Ähnlichkeiten mit Passagen aus den hermetischen Schriften aufweisen. Wie die Hermetiker spricht Plotin über die Fähigkeit einiger geistig begabter Menschen, das Göttliche zu erkennen (IV 8 [6],1,1–11; Corpus Hermeticum 10,24; Fowden 1986, 110–112) sowie über die Bedeutung der Tugend für die Vergöttlichung des Menschen (II 9 [33],15,32–40; Corpus Hermeticum 13,22). Der mittelplatonische und plotinische Gedanke der Seinstranszendenz des ersten Prinzips oder höchsten Gottes begegnet regelmäßig

14  Platonisierende Strömungen außerhalb der Schulen

in den hermetischen Schriften (Corpus Hermeticum 2,14; 12,2; anders dagegen 9,9). Einmal erweitert ein hermetischer Autor in auf Plotin vorausdeutender Weise die Seinstranszendenz des Höchsten zur Geisttranszendenz, wobei er gleichzeitig die Fähigkeit Gottes zur Selbsterkenntnis betont; es ist möglich, dass Plotins Argumentationen zum Selbstdenken des Geistes und zum Nicht-Denken des Einen auf derartige Modelle reagieren (Corpus Hermeticum 2,5– 6; Plot. V 6 [24],2,1–10; V 4 [7],2,10–19; Tornau 2017; s. Abschn. 18.3 und 22.1). Der lediglich in lateinischer Übersetzung unter den Werken des Apuleius überlieferte Asclepius enthält eine Überlegung zum Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, die den Vergleich mit Plotins Enneade III 7 [45] lohnt (Asclepius 30–31; Tornau 2021, 188–195). Ob sich Plotin in solchen Fällen direkt mit den hermetischen Schriften oder vielmehr mit deren mittelplatonischer Quelle auseinandersetzt, lässt sich, wenn überhaupt, nur im Einzelfall entscheiden.

14.3 Das Christentum Das Christentum fand zur Zeit Plotins eine zunehmende Verbreitung. Porphyrios berichtet, dass während seines Aufenthalts in Rom viele Christen tätig waren (Porph. VP 16,1–2). Er selbst hat ein Werk gegen die Christen verfasst, von dem nur Fragmente überliefert sind. Einer der größeren christlichen Denker der Zeit, Origenes, war wie Plotin wahrscheinlich ein Schüler von Ammonios Sakkas (Eus. HE 6,19,10– 13; zur Diskussion um seine Identität mit dem in Porph. VP 3,29 und 14,20 genannten Philosophen Origenes vgl. Bäbler/Nesselrath 2018). Trotzdem fehlen in den Enneaden direkte Aussagen über das Christentum und über christliche Positionen. Jedoch sind einige Stellen als Angriffe auf christliche Lehren gewertet worden. In Enneade III 6 [26] z. B. argumentiert Plotin, dass das wahre Aufwachen der Seele nicht im Bereich des Körperlichen verwirklicht werden kann und es deshalb zu keiner neuen Verkörperung (metastasis) kommen könne, wie im Falle der Auferstehung (anastasis) der Seele

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zusammen mit dem Körper (III 6 [26],6,72– 77). Die Stelle wurde sowohl als Hinweis auf die christliche Auferstehungslehre interpretiert (Dodds 1965, 130; Karamanolis 2021, 194; dagegen Kalligas 2014, 555) als auch als Kritik von Korpuskulartheorien wie derjenigen der Stoiker gewertet (Gertz 2022, 42). Ferner kritisiert Plotin in seiner Schrift gegen die Gnostiker die Tendenz, das Göttliche auf eine strikte Einheit zu begrenzen und jede Pluralität des Göttlichen abzulehnen (II 9 [33],9,32–35). Dies ist als eine mögliche Kritik am christlichen Monotheismus interpretiert worden (Armstrong 1973; Gertz 2022, 41–42), könnte aber ebenso gut gegen auch gegen die Gnostiker gerichtet sein.

14.4 Die Gnosis Die sogenannte Gnosis (‚Erkenntnis‘) ist eine vor allem im zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert greifbare heterodoxe christliche Strömung, deren Protagonisten ihre Interpretation der christlichen Botschaft in eine eigentümliche Mischung aus mythischen Bildern und philosophischer Reflexion zu kleiden pflegten. Der Handschriftenfund von Nag Hammadi (1945) hat eine Reihe gnostischer Originaltexte in koptischer Übersetzung wieder zugänglich gemacht, die inzwischen auch in modernsprachlichen Übersetzungen vorliegen (englisch: Robinson 1984; deutsch: Schenke/ Bethge/Kaiser 2001/2003). Die Gedankenwelt der Gnosis ist ausgesprochen vielgestaltig. Der Gedanke einer Erlösung aus dieser Welt durch Erkenntnis der göttlichen Natur der Seele ist allgegenwärtig; früher als allgemein-gnostisch betrachtete Züge wie die Abwertung der Schöpfung als Werk eines bösen Gottes oder der ethische Libertinismus, die auch in Plotins Gnosis-Kritik eine Rolle spielen, sind in den Texten jedoch sehr verschieden akzentuiert oder treten ganz zurück (Gertz 2022, 43–45; Aland 2014; Burns 2014; O’Meara 1980, 369–374). In seiner Plotin-Biographie berichtet Porphyrios über die Auseinandersetzung Plotins mit den Gnostikern und über eine Schrift, die Porphyrios „Gegen die Gnostiker“ nennt (VP 16; vgl. II 9

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[33],10,3–5; Tardieu 1992; Gertz 2022). Zwar trägt Plotins Enneade II 9 [33] diesen Titel, doch ist seit langem erwiesen, dass diese Schrift Teil eines längeren Werkes ist (Harder 1936; kritisch zuletzt Narbonne 2021). Es handelt sich um die sogenannte Großschrift, die aus den Enneaden III 8 [30], V 8 [31], V 5 [32] und II 9 [33] besteht (vgl. Cilento 1971; O’Meara 1980; Kalligas 2000; Ham 2021, 8–10). Die Schrift II 9 [33] schlägt gegenüber den Gnostikern einen deutlich polemischeren Ton an als die drei anderen Teile der Großschrift (Alt 1990). Wir finden aber auch in den ersten drei Schriften klare Hinweise auf eine Kritik Plotins an den Gnostikern (Ham 2021, 8–19 gegen Dufour 2006). Ein Grund, warum Plotin sich mit den Gnostikern auseinandersetzt, ist seine Ansicht, dass die Gnostiker von der Philosophie Platons beeinflusst sind, sie aber umdeuten, um eigene philosophische Positionen zu vertreten. Diese gnostischen Neuerungen befinden sich laut Plotin „abseits der Wahrheit‟ (exô tês alêtheias; vgl. II 9 [33],6,6–12; 56–57). Eine analoge Kritik finden wir auch bei Irenäus, der den Gnostikern Neuerungen und falsche Interpretation der Bibel vorwirft (Iren. Adversus haereses 1,8,1). Plotin zufolge trifft dies auch auf die gnostische Verwandlung der Figur des Demiurgen aus dem Timaios zu: die Gnostiker sehen den Demiurgen als einen „Handwerker“ (III 8 [30],2,6: kêroplastês) und bösen Gott (II 9 [33],6,22–35), eine gnostische Ansicht, die auch von christlichen Denkern kritisiert wird (Karamanolis 2021, 67–71). Eine zentrale These der Großschrift Plotins ist, dass die sinnlich wahrnehmbare Welt von einer Hierarchie von intelligiblen Prinzipien – den plotinischen ‚Hypostasen‘ Eines-Gutes, Geist und Seele –abhängig ist. Besonders in den Enneaden V 8 [31] und V 5 [32] legt Plotin dar, in welcher Weise diese für die Gutheit und Schönheit der Welt verantwortlich sind. Diese ontologische Abhängigkeit erklärt, warum Platon die Welt als einen geschaffenen Gott bezeichnet (Tim. 33a7), d. h. als ein gutes Abbild der intelligiblen Prinzipien. Die gnostische These von der Schlechtigkeit der Welt lehnt Plotin vor diesem Hintergrund entschieden ab (z. B. II 9 [33],16,49–56). Das Übel (kakon)

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ist Plotin zufolge nichts Anderes als die Privation des Guten (II 9 [33],13,27–31; vgl. I 8 [51]; s. Kap. 46). Plotin wirft den Gnostikern Mangel an Weisheit und Tugend vor, weshalb sie nicht in der Lage seien, die Rolle des Demiurgen – nach Plotins Exegese: des göttlichen Geistes selbst (vgl. V 8 [31],7; s. Abschn. 9.2) – in der Welt richtig zu begreifen (II 9 [33],15,26– 40). Das Anliegen der Großschrift erschöpft sich somit nicht in der antignostischen Polemik. Vielmehr bietet die Herausforderung durch die gnostische Weltanschauung Plotin einen Anlass, Platons Prinzipienlehre ‚richtig‘ darzustellen, d. h. in einer dem Geist der Philosophie Platons und der griechischen Tradition insgesamt getreuen Form (vgl. II 9 [33],6,6–12). So hat Plotins Großschrift über ihren polemischen Charakter hinaus eine wichtige pädagogisch-protreptische und philosophische Funktion. Schwierig zu beantworten ist die Frage, gegen welche gnostische Richtung Plotins Großschrift gerichtet war und welche gnostischen Schriften er kannte. Porphyrios nennt u. a. Offenbarungsschriften mit den Verfassernamen „Zostrianos“ und „Allogenes“ (VP 16,6), von denen die im Corpus von Nag Hammadi erhaltenen gleichnamigen koptischen Schriften mutmaßlich Übersetzungen oder Überarbeitungen sind (Zostrianos: NHC VIII 1; Allogenes: NHC XI 3; vgl. Puech 1960; Burns 2014; Gertz 2022, 45–50). Der Verfasser des Zostrianos vertritt die sethianische Gnosis (Burns 2014; vgl. Turner 2001; s. auch Abschn. 53.1). Einige Hinweise Plotins deuten aber auch auf die valentinianische Gnosis, wie z. B. die Gestalt der gefallenen Sophia als Mutter des gnostischen Demiurgen (II 9 [33],10,30–31; Gertz 2022, 44; Ham 2021, 14–15). Kaum zu entscheiden ist auch, wie bestimmend die Auseinandersetzung mit der Gnosis für Plotins Denken außerhalb der Großschrift einschließlich der Enneade II 9 [33] ist (vgl. z. B. III 2 [47],1,8–9 mit einer erneuten Wendung gegen die These vom schlechten Weltschöpfer; hohe Gewichtung der antignostischen Thematik z. B. bei Narbonne 2011). In jedem Fall hat Plotin trotz der überbordenden Bilderwelt der gnostischen Texte deren philosophischen Zug klar erkannt und die Gno-

14  Platonisierende Strömungen außerhalb der Schulen

sis zielsicher als konkurrierendes Sinnangebot identifiziert.

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Teil IV

Themen

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Aufstieg Euree Song

‚Aufstieg‘ (anabasis, anodos) kennzeichnet die grundlegende Ausrichtung der Philosophie Plotins, die mit einem über Stufen verlaufenden Bildungsprozess verknüpft ist. Plotins Philosophie zielt darauf ab, die bestmögliche Lebensform für den Menschen zu verwirklichen, indem sie den Menschen zu seinem immer höheren Selbst hinaufzuführen sucht. Bei dieser philosophischen Hinaufführung (anagôgê) geht es eigentlich um die Rückkehr der menschlichen Seele zu ihrem göttlichen Ursprung. Plotin entwickelt eine umfassende Konzeption des Aufstiegs, indem er auf Platons Ansätze zurückgreift und sie zusammenführt. So spricht er in der Nachfolge Platons vom Aufstieg der Seele zum Geistigen, der in der Schau des Guten selbst gipfelt (Plat. rep. 517b). Diesen Gedanken bringt er ferner mit dem Bild der Leiter (anabasmoi) zum Schönen in Verbindung (Plat. symp. 211c) und verknüpft beides weiterhin mit der Aufforderung zur Angleichung an Gott (Plat. Tht. 176b). Der Aufstieg der menschlichen Seele zu ihrem göttlichen Ursprung ist das Plotins Schriften durchziehende Leitmotiv. Dieses Motiv suchte Porphyrios offenbar mit seiner Enneaden-Ausgabe zur Geltung zu bringen, indem er die Schriften Plotins thematisch so anordnete,

E. Song (*)  Kyung Hee University, Seoul, Republik Korea E-Mail: [email protected]

dass sie die Leser von der sinnlichen Welt über die Seele zum Geist und schließlich zum Guten emporführen (s. Abschn. 3.3).

15.1 Der Aufstieg vom Sinnlichen zum Geistigen Im Rückgriff auf Platons Höhlengleichnis (Plat. rep. 514a–517b) spricht Plotin von einem Aufstieg aus der „Höhle“, wobei die Höhle für die sinnliche Welt steht, aus welcher der Mensch sich hinausbegeben muss, um zur Schau des wahrhaft Seienden zu gelangen. Er stellt diesen Aufstieg wiederum als Reise zur geistigen Welt dar, wo das wahrhaft Seiende zu finden ist (IV 8,1,35–36; 3,4). Hierbei legt er die sogenannte Zwei-Welten-Lehre zugrunde, wonach die gesamte Wirklichkeit bzw. Natur (physis) gemäß den zwei verschiedenen Erkenntnisformen in einen sinnlichen und einen geistigen Bereich zerfällt (IV 8,6,1–2). Die Metapher des Aufstiegs von der sinnlichen zur geistigen Welt scheint nahezulegen, dass die geistige Welt im räumlichen Sinne höher stünde als die sinnliche. Plotin ist jedoch der Ansicht, dass die geistige Welt weder räumliche Ausdehnung noch einen Standort hat (V 9,5,42–45). Er scheint daher eher zu meinen, dass die geistige Welt höher auf der Wertskala steht als die sinnliche. Bei der metaphorischen Sprechweise vom Aufstieg geht es also um die

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Aufwertung der Geistigkeit gegenüber der Sinnlichkeit. In der wahren Erkenntnis des wahrhaften Seienden kommt die philosophische Suche zur Erfüllung, die für Plotin auch als das Ziel des menschlichen Lebens, nämlich das Glück, gilt. Ihm zufolge hat der glückliche Mensch „das vollkommene, wahre und wirkliche Leben“, welches „in jener geistigen Natur“ besteht, wobei die übrigen Arten von Leben, wie z. B. das wahrnehmende Leben, nur dessen unvollkommene Abbilder sind (I 4,3,33–37). Er vertritt die These, dass jeder Mensch das vollkommene Leben entweder potentiell oder aktual besitzt, wobei der Glückliche derjenige ist, der es aktual besitzt (I 4,4,1–11; s. Abschn. 23.1). In diesem Zusammenhang ist auf Plotins Umschreibung des Aufstiegs als Höhenflug hinzuweisen (V 9,1–2; vgl. Plat. Phaidr. 249c). Plotin unterteilt die Menschen in drei Arten und vergleicht diese mit drei Arten von Vögeln, wobei er auf drei Typen von Philosophen anspielt: Obwohl alle Menschen von Natur aus mit dem Geist ausgestattet sind, wie alle Vögel mit Flügeln, gelingt der Höhenflug des Geistes weder dem epikureischen noch dem stoischen Typ. Der erstere begnügt sich mit den Sinnen, indem er dem Angenehmen nachjagt. Der letztere strebt zwar nach dem Schönen, doch ist er nicht imstande, „das Obere“ (to anô) zu erblicken, sodass er sich nicht über die praktische Tugend erheben kann. Allein der wirkliche Philosoph kann, wie ein starker Vogel mit einem scharfen Auge, zur Schau des oberen Glanzes gelangen. In der geistigen Erkenntnis, d. h. in der theoretischen Tugend, genießt er das Angenehme, das allerdings kein Epikureer kennt, und auch das Schöne, das kein Stoiker ahnt. Plotin rühmt diesen dritten Typ als göttlichen Menschen und vergleicht ihn mit einem Menschen, der nach langer Irrfahrt in seine von guten Gesetzen regierte Heimat zurückkehrt. Hier stellt sich der Aufstieg zur geistigen Welt für den Menschen als eine Heimkehr dar (O’Meara 2000, 167–169). „Fliehen wir also in die liebe Heimat“ (Hom. Il. 2,140). Mit diesem Homerzitat mahnt Plotin uns zur Rückkehr zu dem Ursprung, von dem

E. Song

wir herkommen (I 6,8,16–19). Worin besteht nun diese Flucht? Welches ist der Weg, der uns aus der Odyssee heimführt? Plotin sagt, dass wir die Heimkehr nicht mit Füßen oder Fahrzeugen vollbringen können, und fordert dazu auf, gleichsam die Augen zu schließen und ein anderes Gesicht in uns zu erwecken, „das zwar jeder besitzt, von dem aber nur wenige Gebrauch machen“ (I 6,8,25–27). Plotin ist allerdings der Auffassung, dass das innere Gesicht nicht sogleich das Schöne des geistig Erkennbaren sehen kann, weshalb es eine gewisse Gewöhnung benötigt. So müsse sich das Gesicht der Seele an die nichtsinnliche Schönheit gewöhnen, die in den Tätigkeiten und Werken von guten Menschen zum Ausdruck kommt. Danach gilt es, der Schönheit der guten Seele, d. h. der Tugend, ansichtig zu werden. Den Weg weist Plotin wie folgt: „Führe dich auf dich selbst zurück (anage epi sauton) und sieh hin; und wenn das, was du erblickst – du selbst – noch nicht schön ist, dann verhalte dich wie ein Bildhauer, der von einer Statue, die schön werden soll, immer wieder etwas wegnimmt und abschabt, der hier etwas glättet und da etwas reinigt, bis er an seiner Statue ein schönes Gesicht dargestellt hat“ (I 6,9,7–11). Auf diesem Weg legt der Mensch alles seinem Innern Fremde ab. Ist er völlig rein geworden, so sieht er mit einem reinen Sehvermögen die geistige Schönheit oder ist vielmehr selbst reines Sehen geworden. In diesem Zusammenhang behauptet Plotin, das Sehende müsse dem Gesehenen ähnlich gemacht werden, um zur Schau zu gelangen: „Das Auge hätte ja nie die Sonne gesehen, wenn es nicht von der Art und Form der Sonne wäre; und die Seele kann das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selber schön geworden ist“ (I 6,9,30– 32). Die Heimkehr des Menschen vollzieht sich also durch den Gebrauch des inneren, geistigen Auges, durch die Einkehr in sich selbst. Der Aufstieg endet aber nicht mit der Ankunft im Geistigen. Das Ziel der Reise ist der Gipfel des Geistigen, der als Quelle und Ursprung des Schönen gilt, nämlich das Gute (I 3,1,13; I 6,9,40–43; VI 9,11,45; Plat. rep. 532e; O’Meara 2013). Die Schau des Guten ist allerdings keine Schau mehr, sofern das Se-

15 Aufstieg

hende vom Gesehenen nicht zu unterscheiden ist. Sie ist vielmehr eine liebende Vereinigung, wie eine ruhevolle Gottbesessenheit, welche über die geistige Erkenntnis hinausgeht (VI 9,11; VI 7,35; Halfwassen 2006, 173–182; s. Abschn. 36.3).

15.2 Der Aufstieg der Seele zu sich selbst Plotin identifiziert das Selbst des Menschen nicht mit dem Körper, sondern mit der Seele. Ihm zufolge ist es die Seele, die den Aufstieg zum Geistigen vollzieht (vgl. Plat. rep. 507b). Der Körper hingegen stellt eher ein Hindernis für die geistige Erkenntnis dar, insofern er wegen seiner bedürftigen Natur auf die Fürsorge der Seele angewiesen ist, was zu Geschäftigkeit und Ablenkung der Seele führt. Zudem kann er die Seele mit Begierden und Affekten „erfüllen“, welche in ihr Unruhe und Verwirrung verursachen (IV 8,2,11–14; 42–45; vgl. Plat. Phaid. 66c). In dieser Hinsicht bezeichnet er den Körper als „Fessel und Grab“ der Seele. Die Menschenseele wird ihm zufolge durch die Hinwendung zur geistigen Erkenntnis „aus den Fesseln gelöst und steigt hinauf“ (IV 8,3,4; 4,29–30). Plotin stellt den Aufstieg der Menschenseele zur geistigen Welt als ein „Aufwachen aus dem Körper in sich selbst“ dar (IV 8,1,1–2). Damit deutet er an, dass unsere Seele eigentlich der geistigen Welt angehört. In der Tat ist er der Auffassung, dass die geistige Welt im weiteren Sinne aus drei metaphysischen Prinzipien besteht (V 1,8; II 9,1,1–16; s. Abschn. 6.1). Das oberste Prinzip ist das Eine bzw. das Gute. Danach kommt der Geist, der mit dem wahren Sein identisch ist. Er macht die geistige Welt im engeren Sinne aus, die als Vorbild für die sinnliche Welt fungiert. Schließlich kommt die Seele als die letzte Wesenheit der hierarchisch gestuften geistigen Welt. So steht sie am untersten Rande der geistigen Welt als „Grenznachbar“ der sinnlichen Welt (IV 8,7,7). Daraus ergibt sich für die Seele eine doppelte Funktion, nämlich einerseits die geistige Erkenntnis, andererseits die

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Fürsorge (epimeleia, pronoia) für die sinnliche Welt. Letztere besteht darin, die sinnliche Welt nach dem intelligiblen Vorbild zu schaffen, zu ordnen, zu verwalten und zu beherrschen (IV 8,3,25–30; IV 7,13,1–8; vgl. Song 2009a, 30– 33; s. Abschn. 40.2). Während die Weltseele die Welt als ganze souverän lenkt, ohne dabei das geistige Vorbild aus der Sicht zu verlieren, lassen sich die einzelnen Seelen, die in einen Teil der Welt, d. h. in einen unvollkommenen Körper, eingetreten sind, vom Körper fangen und beherrschen, sodass sie sich selbst und ihren Ursprung vergessen (vgl. V 1,1,1–3). Dennoch haben sie in sich ein geistiges Streben (noera orexis), vermöge dessen sie sich zu ihrem Ursprung hinwenden können (IV 8,4,1–2). Diese Hinwendung zum Ursprung führt sie zur Selbsterkenntnis und Wiederherstellung ihres „alten Zustandes“ (IV 7,9,28: archaia katastasis; vgl. Plat. rep. 547b). Daher stellt Plotin den Aufstieg der menschlichen Seele zu ihrem Ursprung als Aufstieg zu sich selbst dar (IV 7,10,14; Song 2009a, 52–60). Angesichts der hierarchischen Struktur der geistigen Welt bietet sich die Weltseele als Modell an, an dem sich die Menschenseele zur Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Natur orientieren soll. Damit ist die Suche der Menschenseele nach sich selbst allerdings noch nicht abgeschlossen. Plotin weist darauf hin, dass die Weltseele ebenso wie unsere Seele nach dem Geistigen strebt (I 2,1,13–15). Die Erfüllung dieses Strebens besteht für die Menschenseele wie für die Weltseele in der Erkenntnis des Geistigen. Daher fordert er die Menschenseele dazu auf, sich dem göttlichen Geist anzugleichen, der das geistig Erkennbare als Ganzes erkennt oder vielmehr ist. In der Angleichung an den göttlichen Geist erreicht die Menschenseele das gute Leben, welches dem Göttlichen und Ewigen zukommt. In diesem Zusammenhang spricht Plotin von einem „Aufstieg zum Göttlichen“ (IV 7,10,39). Damit endet der Aufstieg der Seele jedoch noch nicht. Plotin ruft weiter dazu auf, über den Geist hinaus zum Guten aufzusteigen. Denn das Gute selbst ist das letzte Ziel des Strebens (I 6,7,1–

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2; VI 7,25,16–21; s. Abschn. 25.4). Bei dem Guten selbst, nämlich dem höchsten Gott, findet die Seele endlich Ruhe. Dort schaut die Seele das wahre Geliebte, wobei Schauendes und Geschautes nicht mehr zweierlei, sondern eins sind (VI 9,9,44; 10,11–18). Plotin beschreibt diese Einswerdung mit Gott als „Außer-sich-Geraten“ bzw. „Sichaufgeben“ (VI 9,11,23: ekstasis, epidosis hautou; Alekniene 2010). Allerdings behauptet er auch, die Seele gelange durch den Aufstieg zum Guten nicht zu etwas anderem, sondern zu sich selbst. Durch die Rückkehr zum Ursprung aller Dinge wird sie das, was sie ursprünglich war und was sie durch den ‚Sturz‘ in die sinnlich wahrnehmbare Welt verloren hat (VI 9,9,22–24; 11,38–40).

15.3 Die Methode des Aufstiegs Der Aufstieg zum Guten erfolgt in zwei Stufen: dem Aufstieg von der sinnlichen zur geistigen Welt und dem Aufstieg innerhalb der geistigen Welt zu deren Gipfel (I 3,1,12–18). Plotin deutet an, dass es kein einfaches Mittel, keine Abkürzung zum Ziel gibt, wenn er sagt, dass man im Aufstieg aus der Höhle allmählich weiter und weiter zu einer immer wahrhafteren Schau fortschreitet (II 9,6,8). Damit verweist er eher auf einen langwierigen, progressiven Gang der seelischen Bildung, den man zu durchlaufen hat bis zum „größten Lehrstück“ (Plat. rep. 505a: megiston mathêma). Zu beachten ist, dass Plotin „das größte Lehrstück“ von der Schau des Guten unterscheidet. Ihm zufolge ist es etwas, was man zuvor über das Gute lernen soll; zur Schau des Guten muss man jedoch jegliches Lehrstück beiseitelassen (VI 7,36,4–6; 15; vgl. VI 9,10,1–7). Was uns über das Gute belehrt, sind nach Plotin Methoden wie Analogie, Negation und die Kenntnis „desjenigen, was aus Ihm kommt“ und die sogenannte Leiter (anabasmoi) des Schönen, die in Platons Symposion (210b– 211c) geschildet wird. Das sinnlich-körperliche Schöne stellt die erste Stufe der Leiter dar, die über das nichtsinnliche Schöne, wie z. B. das der Gesetze und Tugend, zum geistigen Schönen

E. Song

hinaufführt und letzten Endes bis zu dem „Quell und Ursprung“ alles Schönen, nämlich dem Guten (I 6,9,41–42 nach Plat. Phaidr. 245c). Allerdings führt die Belehrung über jene Leiter nicht sogleich zum aktualen Aufstieg zum Guten. Was uns wirklich zum Guten selbst bringt, sind nach Plotin „Reinigungen, Tugenden, das Schmücken der Seele, das Eintreten ins geistig Erkennbare, das Sichfestsetzen in ihm und das festliche Genießen des Dortigen“ (VI 7,36,7–10; Plat. Phaid. 67c–d; 114e; rep. 612a; vgl. Hadot 1988, 348–349). Hier geht es um den persönlichen Vollzug des Aufstiegs, der sich von dem sachlichen Verständnis des hierarchischen Aufbaus der Realität unterscheidet (Tornau 2011, 421). Was den aktualen Aufstieg motiviert, ist die Liebe (erôs) zum Schönen, wobei diese Liebe durch philosophische Lehre (logos) gleichsam pädagogisch geleitet werden muss (V 9,2,10–12; vgl. Beierwaltes 2013, 12–17; s. Abschn. 33.2). Nach Porphyrios soll Plotin sich auf diesen Wegen mehrmals zum ersten und jenseitigen Gott erhoben haben (Porph. VP 23,7– 12). Plotin verknüpft die Frage nach der Methode der Hinaufführung (anagôgê) mit der Frage nach dem Typus Mensch, der hinaufgeführt werden soll (I 3,1–3; Gourinat 2016, 83–104). Ihm zufolge soll hinaufgeführt werden, wer durch das Schöne, sei es sinnlich oder übersinnlich, leicht bewegt und erschüttert werden kann. Hierfür kommen drei Arten von Menschen in Frage, nämlich der Musiker, der Erotiker und derjenige, der von seiner natürlichen Anlage her ein Philosoph ist. Während die ersteren erst vom Sinnlichen zum Geistigen hinaufgeführt werden müssen, braucht der letztere, der, gleichsam „beflügelt“ (vgl. Plat. Phaidr. 246c), bereits im Geistigen ist, keine solche Hinaufführung, sondern nur gelegentliche Anweisungen. Man soll den künftigen Philosophen vielmehr in der Mathematik unterrichten, um ihn daran zu gewöhnen, das Unkörperliche zu begreifen und an es zu glauben. Danach soll er zum Dialektiker ausgebildet werden. Die Dialektik befähigt ihn dazu, das Wesen der Dinge zu erklären und alles auf das letzte Prinzip zurückzuführen. Zur geistigen Welt gelangt, wendet er die Dialektik auf

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das geistige Erkennbare an, bis er zu dem alles begründenden Prinzip, d. h. dem Guten selbst, aufsteigt (I 3,4–6; Beierwaltes 1985, 14–20; Schiaparelli 2009, 254–255; 285). Plotin identifiziert das Gute selbst mit dem Einen selbst, welches allem die Einheit gewährt (s. Abschn. 25.1). Die Zurückführung bzw. Hinaufführung der Vielheit auf die Einheit, d. h. die „henologische Reduktion“, bringt uns schließlich zur Erkenntnis des Einen (Halfwassen 2006, 53–61). Diese Erkenntnis ist jedoch, streng genommen, keine Erkenntnis mehr, weil sie über die Zweiheit von Erkennendem und Erkanntem hinaus liegt. Erkenntnis des Einen bedeutet für Plotin Einswerdung mit ihm. In dieser unio mystica übersteigt das Denken sich selbst und hebt sich im Ursprung des Denkens auf, der jenseits des Denkens und Seins liegt (VI 9,11; VI 7,35; V 3,17; vgl. Plat. rep. 509b; Rist 1967, 213–230; Halfwassen 2006, 12–17; Beierwaltes 2001, 85–86). Bei der philosophischen Bildung geht es Plotin nicht nur um die Vermittlung von Lehrmeinungen, sondern vielmehr um die Transformation der Denk- und Lebensweise. Bezeichnend hierfür ist seine Theorie der Tugendgrade, welche die zum Ziel der Angleichung an Gott führende Tugend nach Stufen unterteilt (vgl. O’Meara 2019, 75–88; s. Kap. 45). Plotin unterscheidet zwei Stufen von Tugenden: Die erste, niedere Stufe stellen die sogenannten bürgerlichen Tugenden dar, insofern sie dem geistigen Maß entsprechen und die Spur des höchsten Gutes in sich tragen. Die höhere Stufe besteht in der geistigen Schau (I 2,3,1–5). Tugend als Reinigung der Seele von den körperlichen Einflüssen führt zur Hinwendung (epistrophê) zum Geistigen; für die Abhebung der sogenannten kathartischen Tugenden von den bürgerlichen Tugenden beruft sich Plotin auf Platon (I 2,3,6–11; vgl. Plat. Phaid. 69c; 82a). Die platonischen kathartischen Tugenden werden so in die Tugendleiter integriert, und zwar als Zwischenstufe zwischen bürgerlicher und höherer Tugend. Die Weisheit (sophia), die in der geistigen Schau besteht, setzt die niederen Tugenden voraus, welche ihrerseits erst durch jene höhere Tugend zur Vollendung kommen (I

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3,6,14–15). Beim Aufstieg zum höchsten Gott wird das letzte Ziel des philosophischen Strebens erreicht. Allerdings kann der plotinische Philosoph, der zur geistigen Welt aufgestiegen ist, nicht für immer oben bleiben. Er steigt vielmehr von der geistigen Erkenntnis (nous) wieder zum diskursiven Denken (logismos) ab (IV 8,1,7–8), kehrt also in die ‚Höhle‘ zurück. Denn die Aufgabe der Seele besteht nicht nur in der geistigen Erkenntnis, sondern auch in der Fürsorge für die sinnlich-körperliche Welt. Diesbezüglich sagt Plotin, dass die einzelnen Seelen als „Amphibien“ bald dort oben, bald hienieden leben müssen (IV 8,4,31–32; Schniewind 2005). Ihm zufolge ist es für die Seele zwar besser, in der geistigen Welt zu weilen. Es liegt jedoch in ihrer Natur, an der sinnlichen Welt teilzunehmen. So darf sie nicht mit sich selbst hadern, dass sie eine Mittelstellung einnimmt und der sinnlichen Welt etwas von sich selbst gibt, sofern sie nicht in übermäßigem Eifer in die Tiefe hinabsinkt (IV 8,7,1–11). Der Abstieg der Seele ist allerdings nicht umsonst. Denn er trägt zur Vervollkommnung der sinnlichen Welt bei (IV 8,5,1–2). Die Seele kommt dem Körper zur Hilfe, der mannigfacher Fürsorge bedarf (IV 8,2,11–14; IV 3,4,21–25). Dabei bringt der Abstieg die seelischen Vermögen zutage, die in der geistigen Welt unverwirklicht und somit unnütz blieben (IV 8,5,29– 33). Hier ist eine teleologische Perspektive am Werk, gemäß welcher der Abstieg der Seele der Verwirklichung ihrer eigenen fürsorglichen Natur dient. Die Natur der Seele ist darüber hinaus in die providentielle Ordnung der Gesamtnatur integriert. Zu beachten ist, dass Plotin mythische, anthropomorphe Vorstellungen von der göttlichen Vorsehung zurückweist. Der Abstieg der Seele erfolgt aufgrund eines natürlichen Vorgangs „gleichsam automatisch“ (hoion automatôs), wie der Bartwuchs bei jungen Männern (IV 3,13,5–17). Plotin spricht in diesem Zusammenhang vom „Herabschicken durch ein Gesetz“ (IV 3,13,24) und deutet damit auf die Wohlgeordnetheit dieser Welt hin. Alles Geschehen steht nach Plotin in der Ordnung eines einheitlichen Prinzips. So bewegt sich auch die

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Seele im Einklang mit der Gesamtordnung dieser Welt, beim Absteigen wie beim Aufsteigen (IV 3,12,17–19; vgl. Song 2009a, 95–102; Song 2009b, 32–38).

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Bewusstsein Alexandrine Schniewind

In der zeitgenössischen Philosophie des Geistes spielt Bewusstsein (consciousness) eine große Rolle. David Chalmers setzte hierzu mit The Conscious Mind (1996) einen Meilenstein. Allgemein ist man lange davon ausgegangen, dass Bewusstseinsphilosophie ein rein modernes Anliegen sei und die antiken Philosophen so gut wie kein Verständnis für Bewusstsein (consciousness) gehabt hätten (Wilkes 1988, 17–19). Diese Auffassung ist zuletzt jedoch zunehmend infrage gestellt worden. Gerade die Forschung zu Plotin hat zeigen können, dass das Thema des Bewusstseins in der antiken Philosophie durchaus von Bedeutung ist. Ein richtungsweisender Beitrag wurde von Hans-Rudolf Schwyzer geleistet, der Plotin in den Vordergrund der antiken Bewusstseinsdiskussion rückte (Schwyzer 1960). Diese Studie wurde durch mehrere andere diskutiert und ergänzt (insbesondere Warren 1964; Smith 1978; Schibli 1989; Violette 1994). Es fügten sich weitere Beiträge hinzu, insbesondere in der Absicht, das Thema des ‚Selbst‘ mit dem des Bewusstseins und Selbstbewusstseins zu verbinden (Stern-Gillet 2007; Remes 2007; Aubry 2007; Aubry 2008; Tornau 2009; Roux 2011; s. Kap. 42). Unlängst ist eine eigene Studie zum Bewusstsein bei Plotin erschienen (Hutchinson 2018). A. Schniewind (*)  Université de Lausanne, Lausanne, Schweiz E-Mail: [email protected]

16.1 Die vier verschiedenen Bewusstseinsbegriffe Bewusstsein ist ein komplexer Begriff bei Plotin. Dies wird schon dadurch deutlich, dass mehrere Wörter Aspekte des Bewusstseins ausdrücken: parakolouthêsis, antilêpsis, synais­ thêsis, synesis. Diese Wörter wurden bereits vor Plotin als Bewusstseinsbegriffe verwendet: Parakolouthêsis wird schon von Platon, Aristoteles und Epikur in einem philosophischen Sinn gebraucht. Die ursprüngliche und häufigste Bedeutung des Verbes parakoloutheô ist ‚etwas begleiten‘. Das Verb nimmt aber auch kognitive Bedeutung an: ‚etwas nachvollziehen, verstehen‘ (Hutchinson 2018, 182– 185). In diesem kognitiven Sinne wird es häufig von Epiktet und Marc Aurel benutzt (Epict. diss. 1,6,12–23; M. Aur. Med. 5,9,18–19). Epiktet baut die Bedeutung des Verbs aus, indem er das Reflexivpronomen heautô hinzufügt, wodurch das Verb die Bedeutung ‚sich seiner selbst bewusst sein/werden‘ erhält (Schwyzer 1960, 369). Eine Introspektion wird erst durch dieses Selbstbewusstsein möglich. Plotin übernimmt diese spätstoische Bedeutung des Wortes, insbesondere in seiner Schrift Über das Glück (I 4 [46], 9–10; insgesamt fast 10 Belege in dieser Schrift). Antilêpsis/antilambanô bedeutet ‚etwas ergreifen und begreifen‘. Bei Alexander von Aphrodisias, der einen starken Einfluss auf

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_16

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Plotin hat, bezeichnet antilêpsis das Erfassen von Wahrnehmungsobjekten durch die Seele (Alex Aphr. in metaph., CAG 1, 312,1–3 Hayduck). Hierbei ist die kognitive Komponente ausschlaggebend (Hutchinson 2018, 179–182). Synaisthêsis/synaisthanomai bezeichnet bei Aristoteles die Fähigkeit, etwas zugleich mit Bezug auf die eigene und auf eine andere Person wahrzunehmen (eth. Nic. 1170b3–9); es bezieht sich sowohl auf die innere subjektive als auch auf die äußere objektive Wahrnehmung. Aus dem subjektiven oder reflexiven Gebrauch entwickelt sich die Bedeutung ‚sich bewusst werden/sein‘. Synesis/syniêmi: Das Verb hat seit Homer u. a. die kognitive Bedeutung ‚verstehen‘. Das abstrakte Nomen kommt ebenfalls bereits bei Homer in derselben Bedeutung vor. Schon früh erhält synesis die Bedeutung von ‚Bewusstsein‘ und wird häufig zusammen mit epistêmê (‚Wissen‘) genannt. Besonders bei Aristoteles dient synesis als Terminus technicus für Wissen, das dem kritischen Urteil entspringt (eth. Nic. 1143a13–15; an. 410b3). Plotin unterscheidet sich von seinen Vorgängern wesentlich dadurch, dass er alle vier Begriffe verwendet. Diese Polysemie deutet darauf hin, dass Bewusstsein für Plotin ein komplexes Phänomen ist, das eine Vielzahl von Aspekten hat. Für Plotin tritt Bewusstsein auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung (ohne dass sich die vier von ihm verwendeten Begriffe diesen Ebenen exakt zuordnen ließen): (1) in der menschlichen Seele (wo es wiederum nach verschiedenen Ebenen ausdifferenziert ist), (2) in der Weltseele und in der Natur, (3) in der zweiten Hypostase, dem Geist (nous). Schließlich fragt Plotin, ob (4) dem Einen ebenfalls Bewusstsein zugeschrieben werden kann. Bewusstsein manifestiert sich also auf verschiedenen metaphysischen Niveaus und in unterschiedlichen Formen. Die von Plotin verwendeten Bewusstseinsbegriffe bezeichnen einen Mittelbereich zwischen Wahrnehmung (aisthêsis) und Denken (noêsis), wobei die genaue Funktion des Bewusstseins kontextabhängig recht unterschiedlich dargestellt wird. So werden die Formen des Bewusstseins teils als Begleiterscheinungen eines Wahrnehmungsprozesses dargestellt, teils

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aber auch als Begleiterscheinung eines höheren kognitiven Akts (des diskursiven Denkens oder des geistigen Erkennens; s. Abschn. 20.2). Fest steht jedenfalls, dass Bewusstsein nicht isoliert vorkommt; es tritt nur in Begleitung von Wahrnehmung oder Denken auf.

16.2 Bewusstsein in der menschlichen Seele Bewusstsein ist beim Menschen vom Denken zu unterscheiden: es geht hierbei nicht um Denkprozesse, sondern um Bewusstseinsvorgänge. Das bedeutet, dass es sich hier nicht um einen kognitiven Vorgang handelt, sondern um einen psychologisch-epistemischen Prozess. Es geht darum zu ergründen, wann und wie etwas zu Bewusstsein kommt. Dieses Etwas ist also schon vorhanden, ist dem Subjekt aber nicht unbedingt bewusst. Es geht somit in erster Linie darum darzustellen, wie und was einer Person bewusst wird. Bewusstsein ist in der Seele verankert, wird aber zum Teil durch den Körper vermittelt. In einer Passage erwähnt Plotin gleich drei der oben erwähnten Bewusstseinsbegriffe: „Also muss man sagen, alles was durch die Vermittlung des Leibes geht, endet in der Seele; das übrige aber gehört der Seele allein, wenn denn die Seele ein Etwas sein und ein eigenes Wesen und ein eigenes Geschäft haben soll […]. Denn geben wir ihr dies nicht, so fehlt ihr auch ein Ihrer-selbst-Gewahrwerden (synaisthêsis), ein Sich-selber-Verstehen (parakolouthêsis), jede Art von Verknüpfung (synthesis) und quasi Ihrer-selbst-Innewerden (synesis)“ (IV 3 [27],26,42–47). Besonders zentral für den Menschen ist das parakolouthêsis-Bewusstsein, das man als reflexives Begleitbewusstsein bezeichnen kann, im Sinne eines Sich-selbst-Wissens oder Sich-bewusst-Seins, das nicht mit der Selbsterkenntnis verwechselt werden darf (Horn 2003). Diese Bewusstseinsform trifft man zwar auf fast allen ontologischen Ebenen an, doch ist sie besonders als menschliche Tätigkeit aufgefasst. Auf den Menschen bezogen, kann das reflexive Bewusstsein sowohl positiv als auch nega-

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tiv gewertet werden. Die Kapitel 9 und 10 der Enneade I 4 [46] Über das Glück besprechen einen wichtigen Aspekt des parakolouthêsis-Bewusstseins. Dabei wird zentral zwischen dem menschlichen noetischen Denken und dem Denken des Geistes (nous) unterschieden (vgl. Schibli 1989). Wie so oft bei Plotin, besteht auch hier ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Weisen (spoudaios) und den gewöhnlichen Menschen. Beide Menschentypen unterscheiden sich in der Tat ganz wesentlich darin, welchen Umgang sie mit ihrem reflexiven Bewusstsein pflegen und was für einen Zugang sie darüber hinaus zum noetischen Denken haben. In der Schrift I 4 [46] hat Bewusstsein zunächst einen positiven Status, insofern es als Zeichen der Klarheit des Denkens gewertet wird (Schwyzer 1960, 370). Hierin ist der Weise beispielhaft: er geht besonders gut mit seinen Bewusstseinsschwankungen um. So fragt Plotin, was mit dem Weisen geschieht, der in Folge von Krankheit oder Medikamenten ein eingeschränktes Bewusstsein hat: „Und wie steht es mit Schmerzen und Krankheiten und was ihn überhaupt in der Betätigung des vollkommenen Lebens hemmt? Und wenn er gar seiner selbst sich nicht mehr bewusst wird (parakolouthoi), denn das kann infolge von Narkotika und gewissen Krankheiten eintreten?“ (I 4,5,1–2; vgl. I 4,8,5–7; 9,1–2). Das parakolouthêsis-Bewusstsein wird also durch Krankheitszustände affiziert. Das heißt, dass körperliche Schmerzen den Menschen daran hindern können, sein reflexives Bewusstsein auszuüben. Ähnlich verhält es sich während des Schlafes: Auch dann wird das Bewusstsein beeinträchtigt, ein Problem, das schon bei Aristoteles (eth. Nic. 1176a33–35) und den Stoikern (Epict. diss. 1,18,23; 2,17,33) debattiert worden war und das Plotin in besonderem Maße interessiert (I 4,9,4–11). Ihm geht es darum, gegen seine Vorgänger zu zeigen, dass der spoudaios stets weise bleibt, dass er somit vollkommen immun gegen Bewusstseinsschwankungen ist und sein wahres Selbst von ihnen nicht tangiert wird. In diesem Argumentationskontext ist der Begriff der Tätigkeit oder Aktivität (energeia) bedeutsam. Die Weisheit (sophia) des Weisen ist

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stets aktiv in ihm; nichts kann sie vermindern, auch nicht schwankende Bewusstseinszustände (I 4,9,21–23). Das heißt, dass auch dann, wenn der Weise schläft oder vor Schmerz bewusstlos wird, ein Teil von ihm aktiv und wach bleibt. Hier sind also die zwei Seelenteile des Weisen direkt angesprochen (vgl. II 9 [33],2,4–10; s. Abschn. 40.1). Auf den unteren Teil, der mit dem Körper verbunden ist, werden die Bewusstseinszustände zweifellos Auswirkungen haben, zum Beispiel beim Schlafen oder beim Erdulden starker Schmerzen. Der höhere Seelenteil aber ist von ihnen unabhängig und wird durch sie in seiner steten geistigen Aktivität nicht behindert oder beschränkt. An dieser Stelle kommt die negative Bedeutung des Bewusstseins ins Spiel. Das noetische Denken des Weisen ist reiner und intensiver, wenn es nicht von Bewusstsein begleitet wird. Diese Auffassung verteidigt Plotin folgendermaßen: „Danach scheint das Bewusstsein (parakolouthêsis) die Tätigkeiten, deren es gewahr wird, geradezu zu trüben, während sie nur dann, wenn sie allein stattfinden, rein sind und in höherem Grade wirksam und lebendig; und so wird denn, scheint’s, auch wenn der Weise in das oben geschilderte Schicksal gerät, das Leben in ihm gesteigert, indem es nicht ausgeschüttet wird ins Bewusstsein (aisthêsin), sondern in sich selbst in einem Punkt versammelt bleibt“ (I 4,10,28–33; vgl. IV 8 [6],8,3–11; V 1 [10],12,5–7). Bewusstsein wird in diesem Kontext nicht positiv gewertet: es behindert die Ausführung einer reinen Tätigkeit, insbesondere das reine Denken. Der spoudaios bringt es fertig, dieses intensive, vor-bewusste Denken zu aktivieren, während die anderen Menschen dazu nicht imstande sind. Somit ist seine wahre Aktivität unabhängig von den Bewusstseinszuständen. Dies zeigt, dass der Weise stets auf einer Ebene aktiv ist, die oberhalb des Bewusstseins liegt und ihm vorausgeht. Parakolouthêsis wird somit von Plotin als reflexives Begleitbewusstsein charakterisiert, im Sinne eines begleitenden Wissens seiner selbst, das nicht wirklich nötig ist und zum Teil sogar hinderlich sein kann (vgl. Horn 2003, 83). Plotin veranschaulicht dies am Beispiel des Lesens:

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„So braucht zum Beispiel der Lesende keineswegs dessen gewahr zu werden (parakolouthein), dass er liest, und am wenigsten dann, wenn er mit voller Anspannung liest“ (I 4,10,24– 26). Der Gesunde braucht kein Bewusstsein seiner Gesundheit, um gesund zu sein (vgl. V 8 [31],11,24–30); der Schöne braucht kein Bewusstsein seiner Schönheit, um schön zu sein; ebenso wenig braucht der Weise ein Bewusstsein seiner Weisheit, um weise zu sein (Schwyzer 1960, 370). Das Bewusstsein einer Tätigkeit wirkt somit unter Umständen hemmend auf die Tätigkeit selbst. Bewusstsein trübt die Tätigkeiten, die es begleitet. Damit signalisiert Plotin deutlich, dass die reine Tätigkeit des Denkens im höheren Seelenteil verankert ist und nicht auf die Verbindung mit dem unteren Seelenteil angewiesen ist (vgl. auch V 8 [31],11,21–40). In diesem Kontext verwendet Plotin einen zweiten Bewusstseinsbegriff: das ‚Erfassen‘ (antilêpsis), das eine Art technisches Hilfswort für das reflexive Bewusstsein ist und gelegentlich im selben Sinne wie parakolouthêsis gebraucht wird. Antilêpsis ist ein Sammelbegriff für sinnliches und geistiges Erfassen, wobei der Bezug zur sinnlichen Wahrnehmung (aisthêsis) im Vordergrund steht: Das Erfassen ist auf sie angewiesen, um überhaupt in Kraft treten zu können. Es tritt oftmals als Nebeneffekt der Vorstellung (phantasia) auf und benötigt somit Vorstellungsbilder, denn es kann ohne ein Medium dieser Art nicht wirken (s. auch Abschn. 19.2). Die antilepsis ermöglicht es dem Menschen, in seinem ganzen Körper-Seele Komplex die Vorstellungsbilder zu erfassen, und ist somit eine Bewusstseinsform, die an den unteren Seelenteil gebunden ist. Der Unterschied zwischen dem Weisen und dem gewöhnlichen Menschen zeigt sich in diesem Kontext erneut: Beide erfassen das, was in ihrem höheren Seelenteil vor sich geht, auf unterschiedliche Art. Eine höhere Aktivität kann stattfinden, ohne dass dies dem Subjekt bewusst ist; d. h. der untere Seelenteil, dessen Bewusstseinsform die antilêpsis ist, bekommt nicht notwendigerweise mit, was im höheren Seelenteil vor sich geht. Damit der untere Seelenteil dies gewahr wird, muss die Aktivität des höheren Seelenteils sich ausbreiten in die Mannigfaltigkeit und sich im dem unteren ­ Seelenteil

A. Schniewind

zugeordneten Vorstellungsvermögen (phantasia) gleichsam spiegeln (I 4,10,6–21; IV 3 [27],30; Roux 2011). Der untere Seelenteil kann die ununterbrochene Denkaktivität des höheren Seelenteils mit der antilêpsis nicht begreifen. Aber die Tatsache, dass diese Aktivität dem Subjekt nicht bewusst ist, bedeutet nicht, dass sie nicht stattfindet. Antilêpsis und parakolouthêsis wirken insbesondere im Traktat I 4 [46] gemeinsam und ergänzen sich als inneres und äußeres Bewusstsein (Violette 1994, 232). Plotin benutzt die Metapher des Spiegels, um darzustellen, dass je nach Menschentyp das Bewusstsein verschieden ist: „Es scheint, das Gewahren (antilêpsis) besteht darin und kommt dadurch zustande, dass der Denkakt sich reflektiert und das tätige Denken an dem Lebensorgan der Seele gleichsam zurückgeworfen wird, so wie in einem Spiegel von der glatten und glänzenden Fläche, wenn sie im Ruhezustand ist“ (I 4,10,6– 10). Das Bewusstsein, von dem hier die Rede ist, wird insofern abgewertet, als es nur als ein sekundärer Denkakt, eine Spiegelreflexion des wahren Denkens ist. Allerdings unterscheidet Plotin auch hier zwei Formen der Reflexion: Beim Weisen ist die Spiegelfläche besonders glatt und rein, während dieselbe Fläche beim gewöhnlichen Menschen getrübt und zum Teil sogar gesprengt ist (I 4,10,10–21). Die Metapher des Spiegels stellt das Medium in den Vordergrund: Es bedarf eines Mediums, damit die höhere Seelentätigkeit dem ganzen Menschen bewusst wird. Der Ruhezustand des Weisen, auf den Plotin hinweist, deutet auf das harmonische Zusammenwirken beider Seelenteile, während beim gewöhnlichen Menschen der Einfluss des Körperlichen dazu führt, dass kein klares Erfassen möglich ist. Die antilêpsis ist bei Plotin jedoch noch komplexer. Sie hat nicht nur den erwähnten Bezug zur Wahrnehmung, sondern spielt auch eine Rolle beim Erfassen von nichtsinnlichen Objekten, d. h. sie ist am Begreifen intelligibler Objekte beteiligt. In diesem Fall aber hat die antilêpsis keinen Bezug mehr zur phantasia (Roux 2011, 82). Dies scheint mit der Spiegelmetapher im Kapitel I 4,10 angedeutet zu sein. Eine weitere Form des Bewusstseins auf der menschlichen Ebene ist die synaisthêsis (etwa:

16 Bewusstsein

‚Selbstwahrnehmung‘). Sie erscheint auf allen Niveaus des Selbst: sie ist eng verbunden mit den körperlichen Wahrnehmungen, aber auch mit dem dianoetischen und noetischen Denken. Synaisthêsis hat eine Brückenfunktion: Wahrnehmen und Denken werden durch sie miteinander verbunden. Auf der menschlichen Ebene hat die synaisthêsis eine vereinheitlichende Funktion, die es dem Subjekt erlaubt, sich als ein kohärentes Ganzes wahrzunehmen (IV 4 [28],24,21–24; vgl. Hutchinson 2018, 41). Die Seele besitzt außerdem ein ‚Gewahrwerden‘ (synesis). Synesis bezieht sich auf ein ‚Gewahrwerden‘ sowohl innerhalb der menschlichen Seele als auch im Geist und wird von Plotin zumeist in einem gehobenen Sinne gebraucht (Hutchinson 2018, 44), z. B. wenn die Seele der Schönheit „gewahr wird“ (I 6 [1],2,2–5). Das Erkennen der wahren Schönheit, des Urschönen, nimmt seinen Anfang in einem nicht-diskursiven, vor-rationalen Gewahrwerden der Verwandtschaft unseres Selbst mit dem Schönen (III 5 [50],1,16–19; vgl. I 6,2,2–4; s. Abschn. 39.2).

16.3 Bewusstsein und Weltseele Die Weltseele besitzt Wahrnehmung (aisthêsis) und auch eine reduzierte Form von synaisthêsis, die einem natürlichen „Ruhen“ in sich selbst gleichkommt (III 4 [15],4,7–11). Im All gibt es eine Art „Miteinanderfühlen“: alles fühlt mit allem (IV 4 [28],45,8: hoion synaisthêsis pantos pros pan). Dieses Miteinanderfühlen ist jedoch kein wirkliches Bewusstsein mehr, sondern entspricht der Empfindungsgemeinschaft (sympatheia), die alle Teile des Weltkörpers miteinander vereint und die Welt zu einem lebenden Wesen macht (vgl. Schroeder 1987; s. Abschn. 31.2 und 37.2). Die Weltseele hat die Fähigkeit der synesis, die in ihrem Fall eine denkende Selbstwahrnehmung ist, die der Erkenntnis der trans­ zendenten Formen durch den Geist analog ist: Die Weltseele nimmt sich selbst wahr (synesis), indem sie die Formen „denkt“ (noousês). Dabei handelt es sich anscheinend um ein unmittelbares Bewusstsein, das keiner Vorstellung

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(phantasia) bedarf, so wie das geistige Erkennen generell der Vorstellung überlegen ist (IV 4 [28],13,11–19; Roux 2011). Plotin untersucht auch das Bewusstsein der Natur, die der Weltseele entsprungen ist. Die Natur wird als „lautlos“ betrachtende Seele beschrieben, die „eine Art Wahrnehmung von sich selbst“ hat. Diese synaisthêsis ist jedoch auf diesem Niveau nur noch ein dunkles Gefühl (III 8 [30],4,19). Es besteht also ein großer Unterschied zum bewusst handelnden wachen Menschen (vgl. Schwyzer 1960, 371); die synesis und synaisthêsis der Natur ähnelt vielmehr der eines Schlafenden (III 8,4,24–25).

16.4 Bewusstsein und Geist Der Geist besitzt Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein. Er hat Selbsterkenntnis, weil er sich selbst denkt und weiß, dass er sich selbst denkt (vgl. II 9 [33],1,34–38). Das bewusste Einsichtnehmen (synesis) in sich selbst ist somit Teil des Wesens des Geistes selbst, das ja eben in der Identität von Sein und Erkennen besteht (VI 7 [38],41,18–21; vgl. V 3 [49],6,31–35; Schwyzer 1960, 365; s. Abschn. 22.3). Zugleich ist das Bewusstsein Ausdruck der Spaltung von Subjekt und Objekt, die den Geist als solchen auszeichnet und ihn von der absoluten Einfachheit des Einen unterscheidet (vgl. III 9 [13],9,18–20); V 3 [49],13,6–12). Synaisthêsis (‚Selbstwahrnehmung‘) kann mit Bezug auf die Vielheit gebraucht werden, die mit dem Selbstdenken des Geistes immer schon verbunden ist: „Es scheint ja das Denken ganz allgemein ein Bewusstsein (synaisthêsis) des Ganzen zu sein, wenn Vieles in das Selbe zusammenkommt – wenn etwas sich selbst denkt, was ja Denken im eigentlichen Sinne ist; jedes Einzelne ist ein Selbes und sucht nichts weiter“ (V 3 [49],13,12–15).

16.5 Hat das Eine ein Bewusstsein? Plotin diskutiert mehrmals das Problem, ob dem Einen oder Guten ein Bewusstsein seiner selbst zukommen kann (III 9 [13],9; V 6 [24],3–6;

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VI 7 [38],37–41; V 3 [49],10–17), und gibt stets eine negative Antwort: „Indessen kann das Gute ja kein Selbstbewusstsein (parakolouthêsis) haben“ (III 9 [13],9,12–13; s. auch Abschn. 18.3). Bewusstsein ist immer schon mit der SubjektObjekt-Spaltung verbunden, die dem Geist innewohnt. Das Eine steht jenseits von Sein und Denken, sodass ihm weder Wahrnehmung noch Denken zugesprochen werden kann (VI 7 [38],38,10). Bewusstsein setzt in allen seinen Formen – als Begleiterscheinung des Denkens und Wahrnehmens, als Selbstwahrnehmung und als Selbsterkenntnis – Vielheit voraus. Folglich muss dem Einen das Selbstbewusstsein abgesprochen werden, freilich nicht in dem Sinne, dass das Eine des Selbstbewusstseins ermangeln würde, sondern weil umgekehrt im Selbstbewusstsein des Geistes ein Mangel an Einfachheit zum Ausdruck kommt (VI 7 [38],37,16–31; V 3 [49],16,30–38). An einer schwierigen und vieldiskutierten Stelle scheint Plotin dem Einen dennoch so etwas wie synaisthêsis zuzuschreiben, die jedoch kein diskursives oder noetisches Selbstwissen, sondern „höher“ als das Denken des Geistes ist (V 4 [7],2,15–19; vgl. Horn 2003, 81–82; Krämer 2020, 243–255). Damit erhebt sich die Frage, wie wir selbst ein Bewusstsein von dem alles Wahrnehmen und Denken transzendierenden Einen haben können. Plotin antwortet, dass wir die Anwesenheit des Einen in Form einer synesis gewahr werden, die jenseits der üblichen Formen des Wissens einschließlich der geistigen Erkenntnis (noêsis) liegt (VI 9 [9],4,1–4). An anderer Stelle vergleicht Plotin dieses Gewahrwerden mit dem Zustand der Gottbesessenheit (enthousiasmos) und fügt hinzu, dass es kein Wissen, sondern ein „Haben“ (echein) ist (V 3 [49],8–17).

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A. Schniewind Aubry, Gwenaëlle: Individuation, particularisation et détermination selon Plotin. In: Phronesis 53 (2008), 271–289. Chalmers, David: The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory. Oxford 1996. Horn, Christoph: Plotins Philosophie des Geistes. Ideenwissen, Selbstbewusstsein, Subjektivität. In: Uwe Meixner/Albert Newen (Hg.): Seele, Denken, Bewusstsein. Berlin/New York 2003, 57–89. Hutchinson, D.M.: Plotinus on Consciousness. Cambridge 2018. Kalligas, Pavlos: Living Body, Soul, and Virtue in the Philosophy of Plotinus. In: Dionysius 18 (2000), 25– 38. Krämer, Benedikt: Über das Unsagbare sprechen. Formen der Theologie in Plotins Enneaden. Münster 2020. Remes, Pauliina: Plotinus on Self. The Philosophy of the ‘We’. Cambridge 2007. Remes, Pauliina: Self-Knowledge and Self-Reflexivity. In: Lloyd P. Gerson/James Wilberding (Hg.): The New Cambridge Companion to Plotinus. Cambridge 2022, 241–264. Roux, Sylvain: Conscience et image: Plotin et le rôle de la phantasia. In: Chôra. Revue d’études anciennes et médiévales 9–10 (2011), 81–102. Schibli, Hermann S.: Apprehending our Happiness. Antilepsis and the Middle Soul in Plotinus, Ennead I 4.10. In: Phronesis 34 (1989), 205–219. Schwyzer, Hans-Rudolf: „Bewusst“ und „unbewusst“ bei Plotin. In : Les sources de Plotin (Entretiens sur l’antiquité classique 5). Vandœuvres-Genève 1960, 341– 378. Schroeder, Frederic: Synousia, Synaisthesis and Synesis. Presence and Dependence in the Plotinian Philosophy of Consciousness. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II.36.1 (1987), 677–699. Smith, Andrew: Unconsciousness and Quasiconsciousness in Plotinus. In: Phronesis 23 (1978), 292–301. Stern-Gillet, Suzanne: Consciousness and Introspection in Plotinus and Augustine. Proceedings of the Boston Area Colloquium of Ancient Philosophy 22 (2007), 145–174. Tornau, Christian: Qu’est-ce qu’un individu? Unité, individualité et conscience de soi dans la métaphysique plotinienne de l’âme. In: Les Études philosophiques 90 (2009), 333–360. Violette, René: Les formes de la conscience chez Plotin. In: Revue des Études Grecques 107 (1994), 222–237. Warren, Edward W.: Consciousness in Plotinus. In: Phronesis 9 (1964), 83–97. Wilkes, Kathleen V.: Yishi, Duh, Um, and Consciousnesss. In: Anthony J. Marcel/Edoardo Bisiach (Hg.): Consciousness in Contemporary Science. Oxford 1988, 16–41.

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Bild, Abbild Sui Han

17.1 Grundlagen Ein Kennzeichen der Philosophie Plotins ist es, dass die Ganzheit der Realität als eine abgestufte Struktur dargestellt wird, in der eine untere Realitätsebene als (Ab)Bild der höheren betrachtet werden kann. So ist der Nous das Abbild des Einen (V 1,7,1), die intellektive Seele bzw. dianoia das Abbild des Nous (V 3,6,24–30; 8,23–28), die Wahrnehmung und die vegetative Seele sind Bilder der höheren seelischen Funktion (V 2,1,21; IV 4,19,3), und das Sinnliche insgesamt ist Abbild des Geistigen (II 9,4,22– 26). Diese Konzeption Plotins fußt zwar sachlich und terminologisch auf Grundgedanken Platons, weist diesen gegenüber jedoch wichtige Erweiterungen, Umstrukturierungen und Innovationen auf. Ursprünglich werden die Begriffe ‚Original‘ (paradeigma) und ‚Abbild‘ (eidôlon, eikôn, mimêma, homoiôma) von Platon eingeführt, um das Verhältnis zwischen den Ideen und den daran teilhabenden Sinnendingen zu erläutern (Plat. Tim. 29b; 48e–49a; 52c2–5; rep. 509e; 532b; 533a3; Parm. 132c 12–133a4; zum Abbild-Begriff bei Platon vgl. Tornau 2007; s. auch Abschn. 26.2). Dieser Gedanke bleibt ein

S. Han (*)  Zhejiang University, Hangzhou, China E-Mail: [email protected]

Grundzug der Lehre der Enneaden; ­darüber ­hinaus bietet er ein Modell an, nach dem das asymmetrische Verhältnis zwischen einem Prinzip und dem daraus Entstandenen so expliziert werden kann, dass die Ähnlichkeit des Prinzipiierten mit dem Prinzip und seine Differenz ihm gegenüber gleichermaßen berücksichtigt werden. Schon der Mittelplatoniker Numenios hatte die Terminologie des Abbildes und die damit assoziierte Teilhabelehre auf den geistigen Bereich angewandt: Das zweite Prinzip, der Demiurg, sei Abbild des ersten, des Guten, und habe daran teil (Numen. fr. 16; fr. 19; fr. 20 des Places). Das weist voraus auf Plotin, dessen Leistung es war, die bei Platon einzig auf das Verhältnis des Sinnlichen zur Idee bezogenen Begriffe ‚Abbild‘ und ‚Teilhabe‘ zu einem allgemeinen Denkmittel auszugestalten, mit dem sich die Existenz sämtlicher in der Kausalitätskette von einem Prinzip abhängigen und von diesem hervorgebrachten Realitäten – der sinnlichen ebenso wie der geistigen – beschreiben und interpretieren ließ.

17.2 Das Vokabular der Abbildung Eine Analyse aller im Lexicon Plotinianum (Sleeman/Pollet 1980) verzeichneten relevanten Belegstellen zeigt, dass Plotins Benutzung der Terminologie für Abbilder trotz ihrer Flexibilität nicht willkürlich ist. Die bei Platon auf das

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_17

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Sinnliche angewandten Wörter eikôn, eidôlon, mimêma können sich zwar bei Plotin ­allgemein auf die abgeleitete Realität in der Hierarchie beziehen (eikôn: III 8,1,6–7; VI 4,10,1–17; eidôlon: I 4,3,23–24; I 7,2,5–6; III 3,7,8–13; IV 5,7,13–17; mimêma: I 2,3,27–28; III 8,7,6– 11). Aber die Anknüpfung an Platon ist evident. In den meisten Fällen erscheinen diese Begriffe in Kontexten, wo es wie in den Dialogen Platons darum geht, das Sinnliche als Abbild des Geistigen und analog dazu die Zeit als Abbild der Ewigkeit (nach Plat. Tim. 37d; s. Abschn. 50.4) zu betrachten (eikôn als das Sinnliche: I 6,8,6–8; I 8,3,7–9 und noch 14 Belege; eikôn als die Zeit: I 5,7,14–17; III 7,1,18–20; eidôlon: I 8,15,28; II 4,5,18–19 und noch 10 Belege; mimêma: II 4,4,8; II 9,8,21 und noch 9 Belege). Im Vergleich dazu sind Belege für die Anwendung dieser Wörter auf das Geistige selten. Der Nous wird nur an einer Stelle als eikôn des Einen bezeichnet (V 1,7,1–4), an zwei Stellen als eidôlon des Einen (V 4,2,26; VI 8,18,35–37) und an zwei Stellen als mimêma des Guten bzw. des Einen (V 3,16,40–41; V 4,2,25–26). Das bedeutet nicht, dass Plotin von dem Abbildmodell in der Geisteswelt selten spricht, sondern nur, dass er eine neue Terminologie dafür schafft. Wenn von der Ableitung des Nous und der Seele die Rede ist, tritt häufiger das Wort ichnos („Spur“) auf. Der Nous ist ichnos des Guten bzw. des Einen (III 8,11,19–23; V 5,5,12–13; VI 7,17,13–16 und noch 4 Belege); die höhere Funktion der Seele, d. h. die intellektive Seele bzw. dianoia, ist ichnos des Nous (V 1,7,42–44; V 3,3,11–12; VI 7,17,36–39 und noch 3 Belege). Ichnos ist zwar auch in den Werken Platons belegt, aber nicht in demselben metaphysischen Sinne wie hier bei Plotin. Deswegen kann der Schluss gezogen werden, dass Plotin im Fall des Sinnlichen vorzugsweise die von Platon vorgegebene Terminologie eikôn, eidôlon und mimêma benutzt, während er ichnos als einen neuen Terminus einführt, der für die abgeleitete Realität in der Geisteswelt geeignet ist. Nur in Verbindung mit eikôn und eidôlon kann ichnos auch in einem Zusammenhang auftauchen, wo es um das Sinnliche bzw. die Sinnenwelt

S. Han

geht (I 6,8,6–8; II 3,18,14–22; V 5,2,7). Der Grund dafür besteht vermutlich darin, dass ichnos etwas Leichteres als eikôn und eidôlon ist, so wie das Geistige ‚leicht‘ ist und das Sinnliche ‚schwer‘ (vgl. III 6,6,43). Ein Gegenbeispiel ist das Wort skia („Schatten“). Der Schatten steht bei Platon für das Scheinhafte, Irreale (Plat. rep. 510a1) und wird bei Plotin ausschließlich dem Sinnlichen, der sinnlichen Materie und der mit dem Materiellen eng verbundenen unteren Seele zugeordnet, aber nie der geistigen Realität. Zu nennen ist schließlich noch der Terminus indalma („Abglanz“). Er ist bei Platon nicht belegt und kann sich in den Enneaden allgemein auf die hervorgebrachte Realität beziehen (I 4,3,33– 37; I 8,4,27–32; VI 4,9,37–42), an zwei Stellen auf den Nous (VI 7,40,18–20; VI 8,18,26–30), vor allem aber auf die vegetative Seele (II 1,5,5– 8; II 3,18,8–13; IV 4,13,3–5 und noch 3 Belege). Diese kann zwar auch durch die anderen Termini bezeichnet werden (eidôlon: I 1,12,29; III 8,4,28), doch überwiegt indalma. Für die Bildung der Abbilder verwendet Plotin Wörter wie „hervorbringen“ (poiein: V 3,15,35), „erzeugen“ (gennan: V 4,1,27), „Licht darbieten“ (V 6,4,19) für die Seite des Prinzips und „teilhaben“ (metechein: IV 8,6,26– 28), „Nachahmung“ (mimeisthai: V 4,1,32–33), „Rückwendung“ (epistrephein: VI 7,31,6) für die Seite des Prinzipiierten. Angesichts der Tatsache, dass das Eine durch die Ableitung der späteren Realitäten weder bewegt noch vermindert wird, können derartige Ausdrücke die Kausalität des Einen nur approximativ, nicht aber adäquat beschreiben (Pradeau 2003, 58– 69). Alles, was ist, hat an dem Guten teil (I 7,2,4–5) und ahmt es nach (VI 2,11,9–10). Die Abstufung der Realitäten ist eine Entfernung vom Einen (VI 2,11,10–11) und eine Steigerung der negativen Unbegrenztheit (II 4,15,23–25; s. Abschn. 47.1). Was an Plotins Teilhabelehre auffällt, ist die Formulierung, dass der Grund für den Unterschied der Teilhabegrade in der „entsprechenden Eignung des Aufnehmenden“ (VI 4,11,4) liegt. Diese Behauptung zielt in der Schrift VI 4–5 [22–23] zunächst darauf zu erklären, warum die geistige Anwesenheit, die

17  Bild, Abbild

an sich überall eine identische Totalität ist, in der Sinnenwelt verschieden erscheint. Die Degradation ist nicht auf das Prinzip zurückzuführen, sondern auf das Prinzipiierte: Dieses rezipiert nur das, was es imstande ist aufzunehmen (vgl. Emilsson/Strange 2015, 26–28). Diese Lehre gilt jedoch nicht nur für die sinnliche Teilhabe an dem Geistigen, sondern allgemein für die Teilhabe auf jeder Stufe der Wirklichkeit, d. h. auch für die geistige Teilhabe am Geistigen. Die Einschränkung „soweit es ihm möglich ist“ wird daher nicht nur für die sinnliche Teilhabe (IV 8,6,28), sondern auch für die Nachahmung des Einen durch den Nous verwendet (II 9,2,2–4). In IV 8,6,26–28 unterscheidet Plotin zwei Arten des Zustandekommens der Realitäten: Die geistigen Wesen existieren von sich selbst aus (par’ hautôn), während die Sinnendinge durch Teilhabe an dem Geistigen und Nachahmung desselben existieren. Die Bildung der geistigen und der sinnlichen Abbilder ist demnach auf verschiedene Weise konzipiert. Dies bestätigt die statistische Verteilung der Terminologie: Wie ‚Bild‘ (eikôn) und ‚Scheinbild‘ (eidôlon) zwar allgemein Abbilder bezeichnen können, aber vorzugsweise wie bei Platon auf das Sinnliche bzw. die Sinnenwelt angewendet werden, so sind die Belegstellen für die ‚Nachahmung‘ (mimeisthai) des Geistigen durch das Sinnliche (II 2,1,1; II 9,8,16–18; III 6,17,4–7 und noch 11 Belege) weit zahlreicher als diejenigen für eine ‚Nachahmung‘ (mimeisthai) des Einen durch den Nous (nur zwei Stellen: II 9,2,2–4; V 5,5,22–25). Und so wie Plotin mit dem neuen Terminus ichnos vor allem die in Platons Schriften nicht erwähnten geistigen Abbilder bezeichnet, dominiert das Wort epistrephein (‚sich zurückwenden‘) im Kontext der Bildung des Nous (V 1,6,17–18; V 3,13,12–24; VI 7,16,13– 22 und noch 6 Belege; zur Begriffsgeschichte von epistrophê vgl. Hadot 1971; Hadot 1999, 37–42; schon Aubin 1953, 369 beobachtet, dass die Bildung der sinnlichen Abbilder von der Bildung der geistigen deswegen verschieden ist, weil es der ersteren an epistrophê mangelt).

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17.3 Der Geist als Abbild des Einen Die Erklärung der Bildung des Nous qua Abbild des Einen zählt zu den schwierigsten Punkten in der Philosophie Plotins (vgl. Bussanich 1988). Scheinbar klare Aussagen darüber stellen sich als irreführend heraus. Die lange Zeit gängige Kennzeichnung der Philosophie Plotins als Emanationslehre wurde deswegen bestritten, weil Emanation die Depotenzierung der Quelle suggeriere, während Plotin wiederholt betone, dass das Eine immer in sich selbst bleibe und nie vermindert oder erschöpft werde (Müller 1913; Dörrie 1965; Beierwaltes 2010, 18). Die Beschreibungen mit Wörtern wie „überfließen“ (V 2,1,8: hoion hypererrhyê), „Fließen gleichsam aus einer einzigen Quelle“ (VI 7,12,24: hoion rhoê ek mias pêgês) seien also nur als bildliche Ausdrücke zu verstehen, die die Erscheinungen unserer Erfahrungswelt ungenau auf den geistigen Bereich übertragen. Deswegen muss bei der Erklärung der Entstehung des Nous stets der Grundsatz beachtet werden, dass die volle Wirkkraft des Einen etwas Anderes aus diesem hervorgehen lässt, das Eine dabei aber unverändert und unbewegt bleibt (V 1,6,25–30). Plotin rekurriert auf eine ZweiAktivitäten-Theorie: „Im Fall jeder Existenz gibt es eine Aktivität der Substanz und eine Aktivität, die aus der Substanz kommt; die Aktivität der Substanz ist jede Existenz selbst, die zweite Aktivität kommt aus der ersten und muss als eine von ihr verschiedene in jeder Hinsicht die notwendige Folge von ihr sein“ (V 4,2,27– 30; s. Abschn. 6.3 und 29.4). Demnach ist das Eine die innere Aktivität (energeia), aus derer Vollkommenheit und mächtiger Wirkkraft (dynamis) die umkreisende äußere Aktivität, der Nous, von selbst entsteht, ohne dass das Eine „wirkt“ (energei), so wie der Kreismittelpunkt gänzlich still bleibt. An zwei einander sehr ähnlichen Stellen (V 1,6,18 und V 1,7,5) sagt Plotin, dass die Entstehung des Nous aufgrund einer „Rückwendung“ erfolgt. Hier bestand lange Zeit ein interpretativer Dissens, ob das Subjekt der Rückwendung das Eine ist oder der Nous (vgl.

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Atkinson 1983, 135–140; 157–160). Die Durchsicht aller Belegstellen von epistrephein in den Enneaden macht jedoch deutlich, dass dieses Wort außerhalb dieser zwei umstrittenen Stellen nirgends das Eine zum Subjekt hat und sich im Zusammenhang mit der Nous-Entstehung immer auf den Nous bezieht. Bevor sich das aus dem Einen Hervorgehende auf dieses zurückwendet, ist es etwas Unbegrenztes wie das Sehvermögen, das noch nicht durch den Gegenstand aktualisiert worden ist (V 4,2,6–7 nach Aristot. an. 3,2, 426a13–14; 3,3, 428a6–7). Durch die Rückwendung zum Prinzip gelangt der Nous indes nicht zum Einen selbst, d. h. er hat nicht das Eine als aktuell gesehenen Gegenstand. Was er aktuell sieht, ist seine eigene Prägung durch das Eine (V 3,11,1–8), d. h. die mit dem geistigen Sehen ontologisch identischen Ideen im Nous (VI 7,15,9–13). Er wird ein Selbstdenken, das sich von sich selbst zu sich selbst zurückwendet (V 3,6,3–5). So realisiert sich die Rückwendung zum Prinzip als Rückwendung zum Selbst und als Selbstkonstitution des Nous (vgl. Pradeau 2003, 83–84; s. Abschn. 22.1). Plotins Darstellung der Entstehung des Nous berücksichtigt sorgfältig die zwei in Spannung stehenden und sich zugleich gegenseitig ergänzenden Charaktere des Abbildes: Der Nous ist „gut-gestaltig“ (agathoeidês) und in dieser Hinsicht dem Guten ähnlich, weil er aus dem Guten stammt (VI 7,18), unterscheidet sich aber zugleich von ihm (V 1,6,53); er hängt von dem Einen ab, bewegt sich aber trotzdem als äußere Aktivität nach außen (V 1,6,30–34).

17.4 Die Seele als Abbild des Geistes Diese Zwei-Aktivitäten-Theorie wird in Verbindung mit der Logos-Metapher auch auf das Verhältnis zwischen dem Nous und der Seele angewandt: „So wie das im Vortrag sprachlich Ausgedrückte ein Abbild der sprachlichrationalen Struktur in der Seele ist – in diesem Sinne also ist die Seele selber der sprachlichrationale Ausdruck des Geistes und die gesamte Aktivität und das Leben, das er aus sich hervorgehen lässt, sodass etwas anderes zur Exis-

S. Han

tenz gelangt“ (V 1,3,7–9). Die stoische Unterscheidung zwischen dem ausgesprochenen Wort und dem Gedanken in der Seele (SVF 2, 223) dient als Metapher des Verhältnisses zwischen der Seele und dem Nous. Demgemäß ist die Seele als Ausdruck (logos) des Nous anzusehen, der das in entfalteter Weise darstellt, was im Nous in all-einheitlicher Weise existiert (vgl. Brisson 1999). In denselben Zeilen wird auch erwähnt, dass die Seele die äußere Aktivität des Nous ist, der in sich bleibend ein Anderes zur Existenz bringt. Genauer gesagt ist die unmittelbar nach dem Nous hervortretende Seele die intellektive Seele, deren Aktivität in rationalen Denkvorgängen besteht (zur Diskussion darüber, was die intellektive Seele ist, vgl. Szlezák 1979, 178–183). Die Beziehung zwischen dem Nous und dieser intellektiven Seele wird außer als Original-Abbild-Verhältnis auch als Vater-Kind- und als Form-Materie-Verhältnis bezeichnet (V 1,3,14–15; 22–23). Der Gedanke, dass sich der Nous zur intellektiven Seele wie die Form zur Materie verhält, entstammt Aristoteles (De anima 3,4–5; s. Abschn. 11.4): Der aktive Nous wirkt auf den potentiellen Nous in der Seele; dadurch wird das diskursive Denken zur Verwirklichung gebracht. Das im Kontext der Abbildung des Nous durch die intellektive Seele erscheinende Wort ‚Licht‘ ist außer durch das Sonnengleichnis der Politeia möglicherweise auch durch Aristoteles angeregt (V 1,7,42–44; V 3,3,11–12; 8,23–28; VI 7,17,36– 39; Aristot. an. 3,5, 430a16). Wie Beierwaltes 1961 gezeigt hat, ist das Licht bei Plotin nicht nur eine Metapher, sondern hat metaphysische Bedeutung. Der Nous als Licht dient sowohl als Denkprinzip der Seele als auch als ihr Existenzprinzip, sodass Denken und Sein eine Erhellung sind und eine gemeinsame Evidenzquelle haben. Das Verb epistrephein kann zwar auch die Seele zum Agens haben (IV 4,2,27; IV 8,4,28–29; V 3,2,23; VI 9,8,40–44), aber nicht im Zusammenhang mit der Bildung der Seele, was in Kon­ trast zur Bildung des Nous steht. Wenn es um die Entstehung der intellektiven Seele aus dem Nous geht, ist entweder der Nous Subjekt von epistrephein – er wendet die Seele auf sie selbst zurück (V 3,8,30) – oder es werden andere Aus-

17  Bild, Abbild

drücke verwendet, die die Seele zum Subjekt haben: Sie „sieht“ den Nous oder „blickt auf ihn hin“ (V 1,3,16–17). Das bedeutet eine wichtige Akzentverschiebung: Während das Bildungsmodell des Nous eine Selbstkonstitution ist, die auf der selbstmotivierten Rückwendung des Nous zum Einen und zugleich zu sich selbst beruht, ist die Rückwendung der Seele in ihrer Bildung nicht mehr selbstmotiviert. Sie kann zwar auf ihr Prinzip hinblicken, aber was entscheidet, ob sie sich zu ihm und zu sich selbst zurückwenden kann, ist nicht mehr sie selbst, sondern ihr Prinzip. Unterhalb der intellektiven Seele werden die wahrnehmende Seele (I 1,8,18; 11,12; 11,13; V 2,1,18–21) und die vegetative Seele (I 1,12,29; III 8,4,28) als eidôlon der höheren Seelenfunktion bezeichnet. Das bevorzugte Wort für die vegetative Seele ist, wie gesagt, indalma. Deutlich feststellbar ist, dass die den Körper lebendig machende Seelenspur (ichnos tês psychês) das Abbild der vegetativen Seele ist (Noble 2013). Es ist jedoch an vielen Stellen schwer, diese Seelenspur von der vegetativen Seele zu unterscheiden (vgl. Tornau 2016).

17.5 Geistige und sinnliche Welt Die These, dass das Sinnliche als Abbild des Geistigen zu betrachten ist, entspringt zwar dem Timaios Platons. Aber die Kosmologie Plotins und diejenige Platons differieren in mehreren Punkten. Bei Platon entstehen die Zeit und diese Welt zusammen (Plat. Tim. 37c–e). Für Plotin besteht dieses Weltall immer und ist niemals nicht gewesen (II 9,7,1–4; III 2,1,20–21; IV 3,9,15–17). Im Timaios wird das Wort ‚Kosmos‘ nicht dem Geistbereich zugeschrieben; die deutliche Erwähnung der zwei Welten erscheint erst bei den Mittelplatonikern (Philon, De opificio mundi 15–25) und Plotin (III 2,2,1–2). Das Zustandekommen der Sinnenwelt ist nach Platon eine Folge der planenden Überlegung des Demiurgen (Plat. Tim. 30b). Diese Ansicht wird von Plotin nicht übernommen. Denn diese Welt ist nach Plotin nicht ein technisches Erzeugnis, sondern ein natürliches (II 9,8,10–26; s. auch

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Abschn. 9.2 und 12.4). Eine technische Herstellung beruht auf drei Prinzipien: der Bewegursache, der Formursache und der Materialursache. Wenn die Weltentstehung nach diesem Modell ausgelegt wird, wie es bei dem Mittelplatoniker Alkinoos der Fall ist (Didasc. 12, p. 167,1–2 Whittaker/Louis), dann geht es um Gott als Bewegursache, die Ideen als Formursache und die Materie als Materialursache. Zwei Folgerungen aus dieser Interpretation decken sich nicht mit Plotins Metaphysik: (1) In der technischen Herstellung, wie in der Produktion eines Abbildes durch einen Maler, hängt das Abbild existentiell nicht direkt von dem Vorbild ab. Das widerspricht der ontologischen Kontinuität und der direkten Abhängigkeit der unteren Realität von der höheren in Plotins Konzeption (VI 4,10,1–15). (2) Die Schöpfung der Welt durch die Überlegung des Demiurgen setzt einen zeitlichen Anfang voraus (III 2,1,15–20), was mit der Überzeugung von der Ewigkeit der Welt nicht übereinstimmt (V 8,12,17–20). Durch die Auffassung der Weltentstehung als einer natürlichen Erzeugung beabsichtigt Plotin, diese zwei Folgerungen zu vermeiden und die direkte Abhängigkeit der Sinnenwelt von der Geisteswelt sowie die Ewigkeit der Sinnenwelt sicherzustellen (vgl. Beierwaltes 1985, 73–113; Schroeder 1992, 40–65; Tornau 1998, 207–212). Der Demiurg in der Kosmologie Plotins ist zwar wie im Timaios der Nous, aber er engagiert sich nicht direkt in der Erschaffung der Sinnenwelt. Die Weltseele übernimmt die Funktion des direkten Erzeugers des Körperlichen, und zwar durch Einführung des Logos in die Materie (II 3,17). Nach IV 8,6,26–28 existieren die Sinnendinge durch Teilhabe und Nachahmung, was im Kontrast zur Selbstkonstitution des Nous steht. Mit der Lehre der Teilhabe aufgrund der entsprechenden Eignung des Aufnehmenden gibt Plotin eine Antwort auf die Infragestellung der Teilhabelehre im Parmenides (Plat. Parm. 130e– 131e). Plotins Interpretation des Nachahmungsbegriffs kann außerdem als Lösungsversuch für die Aporie des Dritten Menschen im Parmenides angesehen werden (Plat. Parm. 132c– 133a; Schroeder 1978). Plotin unterscheidet

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zwei Arten der Ähnlichkeit (I 2,2,1–10). Die eine ist ein Wechselverhältnis zwischen zwei gleichen Dingen. Die andere ist asymmetrisch: Das Abbild wird durch Nachahmung dem Urbild ähnlich, aber nicht umgekehrt. Das Verhältnis zwischen der intelligiblen Form und dem sinnlich Einzelnen ist nach dem zweiten Modell der Ähnlichkeit zu verstehen: Nur das letztere wird durch Nachahmung der ersteren ähnlich, nicht aber die erstere dem letzteren, sodass kein dritter Term erforderlich ist, der den Grund zur Ähnlichkeit der beiden legt. Zur Frage, was das Abbild nachahmt und worin die Ähnlichkeit besteht, bieten verschiedene Kontexte unterschiedliche Informationen. In I 8,3,7–9 wird gesagt, dass das Sinnliche qua Abbild des Seienden Nichtsein ist (s. Abschn. 38.3). So wird eher betont, dass das sinnliche Abbild das Wesen des intelligiblen Urbildes nicht erreicht und zu ihm heterogen ist. Dagegen wird das Abbild qua Sinnenwelt in V 8,12 anders bewertet: „Und natürlich imitiert es sein Original in allen Punkten: Es hat Leben, es hat Sein (als Imitation des Originals), und es hat die Eigenschaft, Schönheit zu sein, weil es von dort herstammt. Und es hat auch seine Ewigkeit, weil es sein Abbild ist“ (V 8,12,15–17). Die positive Bewertung des sinnlichen Abbildes erfolgt hauptsächlich in den Schriften, in denen es um die antignostische Polemik oder um die Rechtfertigung der Vorsehung geht.

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S. Han Beierwaltes, Werner: Plotin über Ewigkeit und Zeit (Enneade III,7) [1967]. Frankfurt a. M. 52010. Brisson, Luc: Logos et logoi chez Plotin: leur nature et leur rôle. In: Les Cahiers philosophiques de Strasbourg 8 (1999), 87–108. Bussanich, John: The One and its Relation to Intellect in Plotinus. A Commentary on Selected Texts. Leiden 1988. Clark, Stephen: Plotinus. Myth, metaphor, and philosophical practice. Chicago/London 2018. Dörrie, Heinrich: Emanation. Ein unphilosophisches Wort im spätantiken Denken. In: Kurt Flasch (Hg.): Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. Festgabe für Johannes Hirschberger. Frankfurt a. M. 1965, 119–141 [wieder abgedruckt in: Heinrich Dörrie, Platonica minora. München 1976, 70–88]. Emilsson, Eyjólfur Kjalar/Strange, Steven K.: Plotinus. Ennead VI.4 and VI.5. On the Presence of Being, One and the Same, Everywhere as a Whole. Las Vegas/Zurich/Athens 2015. Hadot, Pierre: Conversio, Umkehr. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971), 1033–1036. Hadot, Pierre: Plotin, Porphyre. Études néoplatoniciennes. Paris 1999. Müller, Hermann Friedrich: Plotinische Studien I.1. Ist die Metaphysik des Plotinos ein Emanationssystem? In: Hermes 48 (1913), 408–425. Noble, Christopher Isaac: How Plotinus’ Soul Animates his Body: The Argument for the Soul-Trace at Ennead 4.4.18.1–9. In: Phronesis 58 (2013), 249–279. Pradeau, Jean-François: L’imitation du principe. Plotin et la participation. Paris 2003. Schroeder, Frederic M.: The Platonic Parmenides and Imitation in Plotinus. In: Dionysius 2 (1978), 51–73. Schroeder, Frederic M.: Form and Transformation. A Study in the Philosophy of Plotinus. Montreal/Kingston 1992. Sleeman, John Herbert/Pollet, Gilbert: Lexicon Plotinianum. Leiden/Leuven 1980. Szlezák, Thomas Alexander: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. Basel/Stuttgart 1979. Tornau, Christian: Plotin. Enneaden VI 4–5 [22–23]: Ein Kommentar. Stuttgart/Leipzig 1998. Tornau, Christian: (Ab)Bild. In: Christian Schäfer (Hg.): Platon-Lexikon. Darmstadt 2007, 29–34. Tornau, Christian: Seelenspur und Aufnahmefähigkeit: eine plotinischer Zirkel? In: Jens Halfwassen/Tobias Dangel/Carl O’Brien (Hg.): Seele und Materie im Neuplatonismus. Heidelberg 2016, 135–159. Tornau, Christian: Der Geist als Bild des Einen. Bildmetaphysik und Transzendenz bei Plotin. In: The International Journal of the Platonic Tradition 16 (2022), 163–189.

Einheit und Vielheit

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Christoph Horn

18.1 Die Grundzüge von Plotins Henologie Man kann Plotins philosophischen Standpunkt ohne Übertreibung insgesamt als ‚Einheitsmetaphysik‘ (Henologie) bezeichnen. ‚Eines‘ oder ‚Einheit‘ bildet den Schlüsselbegriff zum Verständnis der plotinischen Auffassung einer stufenförmigen Wirklichkeit: Vom ersten Prinzip bis zur untersten Entität, der Materie, beschreibt Plotin die Realität als derivative Folge von abnehmender Einheitlichkeit. Er verwendet dabei nicht nur den Ausdruck ‚das Eine‘ (to hen) zur Benennung seines absoluten oder höchsten Prinzips, sondern beschreibt auch die beiden weiteren intelligiblen Entitäten, den Geist (nous) und die Seele (psychê), als Einheiten. Nach plotinischer Auffassung gibt uns Platon im Parmenides den Schlüssel zum vollen Verständnis der Realität, indem er dort eine Unterscheidung treffe zwischen einem strikt verstandenen ersten Einen (to prôton hen, to kyriôteron hen), dem zweiten Einen, das ein „Eines-Vieles“ sein soll (hen polla), und dem dritten Einen, dem „Einen und Vielen“ (hen kai polla: V 1 [10],8,25–26; vgl. Plat. Parm. 137c–142a; 144e5; 155e5). Die plotinische Schrift V 1 [10] zeigt insgesamt eine enge Anlehnung an den Parmenides, welcher C. Horn (*)  Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]

Platons Auseinandersetzung mit dem eleatischen Einheitsbegriff enthält (vgl. die Liste der Parallelen bei Schwyzer 1978, 553–554). Während Plotin das erste Eine mit einem Platon-Zitat („über das Sein hinaus“ – epekeina tês ousias: rep. 6, 509b9) für transzendent gegenüber dem Sein erklärt, weisen alle weiteren, aus dem Ersten hervorgegangenen Einheiten für ihn mindere Formen von Einheitlichkeit auf. Das Eine bildet „auf reine Weise eine Einheit“ (katharôs hen), während alles andere lediglich an der Einheit „teilhat“ (metochê(i) hen: V 5 [32],4,3; III 8 [30],10,20; s. auch Abschn. 44.2). Das absolute Eine ist, wie bei Platon, dadurch charakterisiert, dass es „keine Teile“ aufweist (amerês, ameriston): Ein Eines, das teilbar wäre, entspräche der begrifflichen Idee von Einheit nur ungenügend. Alle abgeleiteten Einheiten sind dagegen teilbar, ebenso wie sie durch Teilung auch eine Einbuße an Sein erleiden. Die Materie (hylê) schließlich wird als vollkommen einheitslos und rein vielheitlich beschrieben, wobei zumindest gilt, dass sie der Einheit bedarf und vorübergehend zu wechselnden Einheiten geformt werden kann. Die in sich konturlose Materie gleicht im Zustand der temporären Formung, wie Plotin bildhaft sagt, einem „Gefangenen in goldenen Ketten“ (I 8 [51],15,24–26) oder einem „geschmückten Leichnam“ (II 4 [12],5,18; s. Kap. 34). Jede Entität, die aus dem Einen hervorgegangen ist, besitzt ‚Einheit‘ als ihr grundlegendes Merkmal. Ihr Einssein konstituiert ihr

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_18

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Sein. Dabei bestehen verschiedene Stufen von Einheitlichkeit: Nach dem Vorbild von Aristoteles’ Metaphysik (Ι 1, 1052a15–1053b8; vgl. auch Δ 6, 1015b16–1017a6) unterscheidet Plotin zwischen unterschiedlichen Einheitsgraden, nämlich etwa der (niedrigen) Einheitsform eines Heeres oder Chores im Unterschied zur einheitlicheren Seinsweise eines Hauses oder Schiffes; noch höhere Einheitsgrade erreichen Pflanzen- und Tierkörper, Gesundheit, Schönheit oder Tugend, und zwar nach dem Maß ihrer jeweiligen Partizipation am Einen (VI 9 [9],1; vgl. VI 2 [43],11,3–16). Es ist nicht ganz klar, ob Plotin ebenso wie Aristoteles behaupten will, dass zwischen Einheits- und Seinsgraden eine ‚Kongradualität‘ besteht oder nicht (Horn 1995, 316). Klar ist hingegen, dass er sich gegen die Ansicht wendet, die Einheit bzw. die zählbare Menge sei jeweils ein bloßer „seelischer Affekt“ (VI 6 [34],12,2–3: pathêma tês psychês). Plotin richtet folgende sechs Argumente gegen eine solche Position: (a) Argument aus der deskriptiven Nicht-Spezifität von Einheit: Wenn man zwei verschiedenen Entitäten jeweils ‚Einheit‘ zuspricht, bezeichnet man damit keinen Sachgehalt, obwohl man sie exakt durch dieses Zusprechen voneinander unterscheidet. Sogar auf ein kontradiktorisches Paar wie (in Plotins Beispiel gesprochen) einen Menschen und einen Nicht-Menschen (etwa einen Stein) lässt sich jeweils ‚Einheit‘ anwenden. Also muss Einheit vor aller inhaltlichen Bestimmtheit liegen (VI 6 [34],13,1–6). (b) Argument aus der Basalität und dem unvermeidlichen Gebrauch des Einheitskonzepts: Wer glaubt, der Einheitsbegriff lasse sich als nachträglich aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen beschreiben, verkennt nach Plotin, dass er zur Beschreibung der Realität (und des Erkennenden in ihr) von vornherein den Einheitsbegriff benötigt. Der Einheitsbegriff ist basal; ohne ihn kann es keine Erfassung oder Beschreibung distinkter Entitäten geben (VI 6 [34],13,6–26; 43–51). (c) Argument aus den Einheitsgraden: Wenn es Einheit in verschiedenen Graden und Stufen gibt, wenn also Dinge mehr oder minder einheitlich sein können, muss es nach Plotin auch reine Einheit geben, anhand derer wir die diversen Einheits-

C. Horn

grade überhaupt voneinander unterscheiden können. (d) Argument aus der Irrelevanz der Masse für die Genese einer zählbaren Vielfalt: Wie Platon argumentiert Plotin, dass die Masse (onkos) bei der Teilung einer materiellen Entität nicht ausschlaggebend sein kann, weil sie nicht präformiert, wie viele und welche Teile aus der Entität entstehen sollen (VI 6 [34],14,5–10; vgl. Plat. Phaid. 96e–97a). (e) Argument aus der Unmöglichkeit, Zahlen auseinander hervorgehen zu lassen: Ebenfalls wie im Phaidon will Plotin zeigen, dass eine Zwei nicht als Summe von zwei Einheiten verstanden werden kann, weil dann die Einheiten ihre Identität preisgeben müssten (VI 6 [34],14,13–19; Plat. Phaid. 101b– c). (f) Argument aus der Unmöglichkeit, Zahlen durch Addition und Teilung zu generieren: Erneut nach dem Vorbild des Phaidon weist Plotin auf die Unmöglichkeit hin, die Zahl Zwei aus Addition (synhodos) oder Teilung (schisis) entstehen zu lassen; denn wäre dies möglich, so würden gegensätzliche Operationen zum selben Resultat führen, was ausgeschlossen ist (VI 6 [34],14,19–27).

18.2 Negative Theologie: Sprechen über das Eine Für das erste, absolute Prinzip gebraucht Plotin neben dem Ausdruck ‚das Eine‘ etwa auch die Bezeichnungen ‚das Gute‘ (II 9 [33],1,1; s. Abschn. 25.1), ‚das Erste‘ (V 1 [10],1,24– 25) oder das personalisierende Maskulinum ‚Jener‘ (VI 9 [9],8,33–35). Er charakterisiert es durch eine ganze Reihe von Vollkommenheitsprädikaten (vgl. Krämer 2020, 225–241): Das Eine ist das Höchste (hypertatos: VI 8 [39],16,9), das Einfachste (haploustaton: II 9 [33],1,8), autark (autarkes: II 9 [39],1,9), das Vollkommenste (teleôtaton: V 4 [7],1,24), das Mächtigste (dynatôtaton: III 8 [30],10,25–26), das Ursächlichste (aitiôtaton: VI 8 [39],18,38– 39), das Beste (ariston: VI 7 [38],8,21), das Übergute (hyperagathon: VI 9 [9],6,40) und das Überschöne (hyperkalon: VI 7 [38],33,20). In aristotelischer Terminologie ist das Eine für ihn einerseits „das Vermögen zu allem“ (dy-

18  Einheit und Vielheit

namis tôn pantôn: III 8 [30],10,1), andererseits aber auch die „erste Wirklichkeit“ (prôtê energeia: V 6 [24],6,6; vgl. VI 8 [39],20,9–19). Es ist „unendlich“ dem Vermögen nach (apeiros: VI 7 [38],32,15; s. Abschn. 47.2), dabei aber ohne Ausdehnung. Es ist nicht-räumlich und nicht-zeitlich; Plotin bezeichnet es als „formlose Form“ (VI 7 [38],17,35–36: eidos […] aneideon; vgl. VI 7 [38],17,18; Regen 1988) und als jenseits der Form (V 5 [32],6,1–11). Das EineGute wird zudem ausdrücklich als ‚Gott‘ (theos) gekennzeichnet (VI 8 [39],21,9). Und es wird als strikt selbstidentisch, nämlich als „ununterschieden von sich selbst“ charakterisiert (adiaphoron on hautou: VI 2 [43],9,9). Plotin folgt mit seiner Henologie dem Programm eines explanatorischen Monismus. Sein philosophisches Modell ergibt sich aus dem Versuch, Komplexität auf Elementares zurückzuführen. Das Eine ist das Elementarste, weswegen in ihm der explanatorische Regress zum Stillstand kommt. Das Eine gilt dabei als Prinzip von allem, ist selbst jedoch nicht alles (V 2 [11],1,1: archê gar pantôn, ou panta); Plotin vertritt somit keinen Pantheismus. Vielmehr schafft es alles aus seiner Überfülle (V 2 [11],1,1–9; vgl. III 8 [30],9,38). Die Kausalität des ersten Prinzips lässt sich hierbei weder als Wirkursächlichkeit noch als paradigmatische Kausalität kennzeichnen; denn das Eine ist relationslos in Bezug auf alles nach ihm. Am ehesten passt noch die Beschreibung der Finalursächlichkeit: Denn die derivierten Entitäten verlangen nach dem Einen als ihrem telos (V 6 [24],3,2) und verändern sich durch das Streben nach ihm. In der Beschreibung der top downDerivation aller Entitäten setzt Plotin den Akzent stark so, dass die Selbstkonstitution eines Seienden erst durch seine Rückwendung zur nächsthöheren, einheitlicheren Stufe vollendet wird, wodurch sich die betreffende Entität als Einheit stabilisiert (s. Abschn. 17.3 und 22.1). Dass sich das Eine gegenüber dem Sein trans­ zendent verhält (vgl. z. B. VI 9 [9],5,30), hat zur Konsequenz, dass es unbenennbar oder unprädizierbar wird: Das Eine ist unsagbar oder ‚ineffabel‘ (V 5 [32],6,24). Es bildet keinen möglichen Gegenstand von Wissen, Meinung oder

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Wahrnehmung. Der Ausdruck ‚das Eine‘ bleibt für Plotin daher vorläufig und uneigentlich. Um das erste Prinzip der Wirklichkeit zu bezeichnen, verwendet er häufig indirekte Strategien der Darstellung, die man als seine ‚Negative Theologie‘ bezeichnen kann. Plotin stellt dazu fest, jede mögliche Benennung oder Bezeichnung und jede Prädikation sei in Bezug auf das Eine unangemessen: Sogar Ausdrücke wie ‚Eines‘, ‚Gutes‘, ‚Erstes‘ oder ‚Prinzip‘ sollen es nur uneigentlich charakterisieren; strikt gesprochen sind sie inadäquat, da wir im Grunde nur unsere Relation zu ihm ausdrücken (VI 9 [9],5,30–33; V 3 [49],13,1–6). Laut II 9 [33],1,1–8 sagen die Ausdrücke Eines und Gutes sogar in Wahrheit gar nichts aus. Diese negative oder apophatische Strategie ist aber keineswegs destruktiv gemeint: Die Bezeichnung ‚Eines‘ drückt immerhin die „Aufhebung der Vielheit“ aus; auch wenn es insgesamt vorteilhaft wäre, dem Einen überhaupt keine Bezeichnung beizulegen, benötigen „wir“ aus unserer (beschränkten menschlichen) Perspektive doch irgendwelche Methoden des uneigentlichen Bezeichnens (V 5 [32],6,26–37). Wie vor ihm Plutarch interpretiert Plotin den Götternamen Apollon in diesem Sinne: Angeblich hätten die Pythagoreer damit – nämlich durch das privative a- vor pollôn (= ‚Vieles‘) – einander symbolisch die Negation aller Vielheit angezeigt (V 5 [32],6,27–28: Ἀπόλλωνα οἱ Πυθαγορικοὶ συμβολικῶς πρὸς ἀλλήλους ἐσήμαινον ἀποϕάσει τῶν πολλῶν; vgl. Plut. Is. 381F; de E 393B; s. Abschn. 9.2.1). Plotin gelangt auf diese Weise gewissermaßen zu einem Bezeichnen ohne Bezeichnung, bei dem nur die Suchrichtung für einen Suchenden markiert wird. Doch auch wenn sich das Eine weder begrifflich noch prädikativ abbilden lässt, heißt dies nicht, dass es etwas vollkommen anderes ist als alles, was aus ihm hervorgeht. Plotin betont vielmehr den Nutzen indirekter Aussagemittel, nämlich der Metapher, der Paradoxie, der Analogie und die Negation. Mitunter stellt er zwar fest, gegenüber dem Einen bleibe einem nur übrig, „stillschweigend wegzugehen“ (VI 8 [39],11,1–2). In der Schrift III 8 [30] heißt es: Je deutlicher die Erkenntnis, umso ruhiger die Betrachtung; je adäquater sie etwas er-

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kennt, umso mehr werden Erkennendes und Erkanntes eines (III 8 [30],6,12–21): „Solange sie zwei sind, bleiben sie voneinander verschieden“ (III 8 [30],6,17: Εἰ γὰρ δύο, τὸ μὲν ἄλλο, τὸ δὲ ἄλλο ἔσται). Häufig sagt Plotin auch, man könne „zu ihm hinleiten“, „dazu aufwecken“ oder „darauf hinweisen“ (VI 9 [9],4,12–13; vgl. V 3 [49],13,5–6). Die Sprache erweist sich nur als relativ, nicht als absolut ungeeignet zur Darstellung des Einen (wichtige Studien zur Negativen Henologie Plotins sind etwa Mortley 1986; Krämer 2020). Eine weitere plotinische Strategie besteht darin, ein herausragendes Merkmal einer unteren Entität heranzuziehen (etwa Denken oder Willensfreiheit), um darauf hinzuweisen, dass das Eine dieses Merkmal auf eine höhere Weise ebenso besitzt (modo eminentiori). Nach dem Prinzip, dass das Ursächliche stets in höherem Maß im Besitz wertvoller Eigenschaften sein muss als das Verursachte, schreibt Plotin dem Einen eine Art Denken zu, genauer „etwas Höheres als Denken“ (hypernoêsis: VI 8 [39],16,32). Diese Bewusstseinsform ist kein Denken im eigentlichen Sinne, das eine Dualität von Erkennendem und Erkanntem voraussetzen würde und dem Einen daher nicht zukommen kann (vgl. z. B. VI 7 [38],36–41; s. Abschn. 16.5); doch ist eine solche Zuschreibung ungleich angemessener als die Behauptung, das Eine sei ohne Bewusstsein wie etwas Totes (vgl. V 4 [7],2,15). In der Schrift VI 8 [39] wird dem Einen im selben Sinn die Willensfreiheit zuerkannt (VI 8 [39],12,30–37; 13,50–59; 20,17–19). Da das Eine die Ursache von Entitäten sei, die diese ausgezeichnete Eigenschaft besäßen, wäre es, so Plotin, abwegig, ihm selbst die Freiheit abzusprechen und es dem Zufall zu unterwerfen (s. Abschn. 21.2.4). Im selben Kontext behauptet Plotin auch, vom Einen müsse angenommen werden, es konstituiere sich selbst durch einen bewusst überlegten Wahlakt. Innerhalb eines Textabschnitts, den Plotin explizit als „Abweichung vom korrekten Denken“ kennzeichnet (VI 8 [39],13,1–5), trifft er solche ungewöhnlichen Feststellungen wie ‚Das Eine macht sich selbst‘, ‚Es will sich selbst‘, ‚Es realisiert seine

C. Horn

besten Möglichkeiten‘ oder ‚Es existiert durch sich selbst und für sich selbst‘ (VI 8 [39],13– 21). Nach Werner Beierwaltes antizipiert Plotin Spinozas Idee einer causa sui: Das Eine konstituiert sich demnach selbst (Beierwaltes 2001 zu VI 8 [39],18,36–44; VI 8,20). Man muss sich aber verdeutlichen, dass er diese Aussagen streng genommen für falsch hält; sie gelten nur „gleichsam“ (hoion), also in einem uneigentlichen Sinn (VI 8 [39],13,47–50; vgl. bereits VI 8 [39],7,46–54; zum hoion-Vorbehalt vgl. Beierwaltes 2001, 126). Ein wichtiger Punkt ist auch, dass nach Plotins Meinung alle Aussagesätze für das Eine ungeeignet sind, da bereits die bloße prädikative Struktur (‚P ist Q‘) eine Zweiheit unterstellt. Sogar eine tautologische Selbstaussage des Typs ‚Ich bin ich‘ soll daher unzutreffend sein: „Sollte nämlich das schlechthin Teillose (to ameres pantê) sich selbst aussagen, dann müsste es zuvor sagen, was es nicht ist. Und so wäre es auch auf diese Weise vieles, um eines sein zu können. Weiterhin, wenn es sagte ‚Ich bin dieses‘, so würde es unwahr reden, sofern es das ‚dieses‘ als ein von sich Verschiedenes aussagte. Wenn es aber ein ihm zufällig Zukommendes von sich aussagte, so würde es wieder vieles aussagen, oder es spräche ‚Bin bin‘ oder ‚Ich ich‘. […] Auch dann wäre es notwendig schon vieles“ (V 3 [49],10,33–39). Dies kontrastiert deutlich mit dem biblischen Satz „Ich bin der Seiende“ (Ex 3,14 LXX), der in der antiken christlichen Theologie als Selbstaussage Gottes als des höchsten Seienden interpretiert wurde (z. B. Eus. Pr. Ev. 11,11; s. Abschn. 52.13). Es wäre aber falsch anzunehmen, dass Plotin generelle Zweifel an der sprachlichen Darstellbarkeit der sensiblen und intelligiblen Realität, so wie er sie annimmt, hege; er vertritt vielmehr eine Abbildtheorie der Sprache, genauer gesagt eine doppelte Isomorphiethese: Die gesprochene Sprache bildet das Denken „in der Seele“ ab, dieses wiederum ist Abbild der geistigen Realität (vgl. I 2 [19],3,27–30; V 1 [10],3,6–10; s. Abschn. 43.4). Freilich geht mit der Abbildung immer ein Verlust an Einheit einher, weswegen sie nie ganz adäquat sein kann. Zwei Entitäten entziehen sich für Plotin gänzlich der sprach-

18  Einheit und Vielheit

lich adäquaten Darstellung: Neben dem Einen gilt dies auch für die ‚untere‘ Materie, da sie der totale Mangel an Einheit, Sein und Gutsein ist (für an die Negative Theologie erinnernde Beschreibungen der Materie vgl. etwa VI 6 [34],3; I 8 [51],3–4; zu Plotins sprachphilosophischer Diskussion der Prädikation vgl. Horn 2002).

18.3 Denken des Einen? Weiß das Eine von sich selbst? Kommt ihm eine Form von Selbsterkenntnis zu? Theoriegemäß behauptet Plotin einerseits, dass das Eine nicht denkt und über keine Selbsterkenntnis verfügt (VI 7 [38],41,9; V 3 [49],13,35 und häufig). Andererseits sympathisiert Plotin aber dennoch damit, dem Einen ein Selbstbewusstsein zuzuschreiben. Er betont dazu nachdrücklich, dass man dem Einen lediglich kein Sichselbst-Denken unterstellen dürfe, das auf einer Subjekt-Objekt-Konzeption beruht: Das Selbstdenken des Einen darf nicht nach Erkennendem und Erkanntem analysierbar sein, auch nicht in dem Sinne, dass beide identisch sind (VI 9 [9],6,49; III 9 [13],9,14; VI 7 [38],38,10; 41; V 3 [49],12,47; 13,35). Das hen transzendiert das Selbstbewusstsein (synaisthêsis) aber nicht, weil es ohne Selbstbesitz wäre, sondern weil es durch reinen, unmittelbaren Selbstbesitz charakterisiert ist (V 3 [49],13). Deshalb spricht Plotin erneut von einem nur „gleichsam“ (hoion) bestehenden Selbstbewusstsein des Einen. Plotin erläutert das Selbstwissen des ersten Prinzips in affirmativer Weise, wenn er schreibt: „es [das Eine] ist nicht gleichsam ohne Bewusstsein (hoion anaisthêton), vielmehr […] bildet es selbst das Denken seiner selbst (katanoêsis autou auto), vergleichbar einem Bewusstsein (hoionei synaisthêsei), welches in einem ewigen Stillstand begriffen ist und sich darin anders als das Denken des Geistes verhält (heterôs ê kata tên nou noêsin)“ (V 4 [7],2,15–19). Wie die Passage belegt, kann Plotin den Ausdruck synaisthêsis (hier: ‚Selbstbewusstsein‘) für das Eine verwenden, auch wenn er einen Unterschied in der Denkform zwischen dem Einen und dem Geist konstatiert:

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Während das Eine ein statisch-unmittelbares Selbstwissen besitzt, soll dem Geist ein dynamisch-prozessuales Selbstdenken zukommen. Offenbar ist die Zuschreibung von synaisthêsis unabhängig von der Frage der jeweiligen Denkform. Als das Ziel des Aufstiegs benennt Plotin neben der individuellen „Geistwerdung“ (VI 8 [39],5,35: noôthênai) ausdrücklich auch die Vereinigung mit dem Einen (s. Abschn. 15.3). Er formuliert geradezu die ethische Forderung nach einer „Flucht des Einzelnen zum Einzelnen“ (VI 9 [9],11,51: phygê monou pros monon), also nach der Einung des Individuums mit dem Einen. Zwar kommt der vielzitierte Begriff ‚Henosis‘ in Plotins Schriften in diesem Zusammenhang nicht explizit vor. Aber es ist davon die Rede, dass im Akt der Verbindung mit dem Einen „nicht zwei waren, sondern er selbst, der Schauende, mit dem Geschauten eins war – es ist also nicht Geschautes, sondern sozusagen Geeintes“ (hênômenon: VI 9 [9],11,6); und Porphyrios berichtet, es sei Plotins Ziel gewesen, sich „mit dem Gott zu vereinen (henôthênai), der über allem ist“ (Porph. VP 23,15–16). Der entscheidende Punkt dieser ‚philosophischen Mystik‘ bei Plotin ist die Aufhebung jeder Andersheit (heterotês) im Aufsteigenden: „Wenn also keine Andersheit da ist, so ist dies NichtAndere miteinander beisammen; jenes Obere nun, da es keine Andersheit kennt, ist immer bei uns, wir aber sind bei ihm nur, wenn wir keine Andersheit in uns haben“ (VI 9 [9],8,32–35). Plotin betont dabei, dass die Einung mit dem Einen keine Selbstvernichtung bedeutet, sondern die Seele kommt „nicht zu einem Anderen, sondern zu sich selbst, und so ist sie, da sie nicht in einem Anderen ist, nicht im Nichts, sondern in sich selbst. Und wenn sie allein in sich selbst und nicht einmal im Sein ist, so ist sie in Jenem: denn dadurch, dass man mit Jenem umgeht, ist man nicht mehr Sein, sondern jenseits des Seins“ (VI 9 [9],11,38–42; zum Motiv der ‚Henosis‘ vgl. Beierwaltes 1985, 123–154; s. auch Kap. 36).

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18.4 Quellen und Probleme Die Frage nach den Quellen der plotinischen Theorie des transzendenten ersten Einen war in der älteren Forschung äußerst kontrovers: Das Meinungsspektrum reichte von der Annahme, Plotin expliziere die authentische Einheitsmetaphysik Platons (Halfwassen 1992; Halfwassen 2003), und der These, Platon und Aristoteles würden von Plotin auf eine gänzlich originelle Weise rekonstruiert (Szlezák 1979), bis zu der Ansicht, es gebe einen kontinuierlichen Überlieferungsstrom von der Älteren Akademie über den Mittelplatonismus bis Plotin (Krämer 1967; s. Abschn. 9.1 und 10.2). Die ersten beiden Annahmen werden heute weitgehend in ihrem relativen Wert akzeptiert; es werden aber weitere Quellen, etwa aus dem Mittelplatonismus, ins Spiel gebracht. Die Schwierigkeit ist hier, dass Plotin zwar in vielen seiner Grundüberzeugungen Mittelplatoniker ist; in der Frage nach dem transzendenten Einen scheint er aber nicht mittelplatonisch geprägt zu sein, sodass der zu seinen Lebzeiten erhobene Vorwurf, er habe Numenios plagiiert (Porph. VP 17; s. Abschn. 1.2 und 13.2), zweifellos unberechtigt ist. Von der dreigliedrigen Prinzipientheorie des Numenios unterscheidet sich Plotins Modell darin, dass es sich bei den drei Stufen nicht um Qualifikationen des Geistes handeln soll (Numen. fr. 16; fr. 22 des Places): Das plotinische Eine ist absolut einfach und transzendiert mithin den Geist, während die Seele unterhalb des Geistes rangiert. In diesem Punkt ist er vielleicht von neupythagoreischen Einflüssen bestimmt (Whittaker 1969). So gesehen würde gelten: „Plotin ist nicht der Entdecker des hen, er hat es nur viel stärker vom nous und von allem Nicht-Einen abgehoben“ (Schwyzer 1978, 560). Grundlegende philosophische Schwierigkeiten mit der plotinischen Lehre vom Einen sind (a) das Paradox der Inkommensurabilität von Prinzip und Derivat: Wenn das Eine völlig anders ist als alles aus ihm Hervorgegangene, wie kann es dann dennoch dessen Ursache und Prinzip sein? Dazu gehört (b) das Paradox der Unbestimmtheit: Wie kann das Eine, wenn es

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inhaltlich unbestimmt ist, zur Ursache von sachlich so-und-so Bestimmtem werden? Müsste das Eine nicht eine inhaltliche Präformation des Hervorgegangenen aufweisen? Plotin artikuliert sowohl diese Paradoxien als auch ihre Unlösbarkeit (vgl. etwa seine Diskussion des Satzes ‚Das Eine gibt, was es nicht hat‘: V 3 [49],15,1–44; VI 7 [38],15,13–20; 17,3–6). (c) Das Paradox der Relationslosigkeit: Wenn das Eine nicht eine Einheit unter mehreren ist, weist es keine Grenzen auf und ist folglich relationslos. Wie kann dann das Eine allem Hervorgegangenen gegenüberstehen, wenn es doch relationslos ist? Wie kann es dann kausal wirksam sein, da Kausalität doch eine Relation ist? Und (d) in welchen Raum hinein stellt das Eine das Andere seiner selbst? Bedarf es nicht eines zweiten Prinzips, das der platonischen chôra aus dem Timaios oder der Materie des Aristoteles gleicht? Einige dieser Schwierigkeiten mögen mit plotinischen Mitteln diskutierbar sein; letzten Endes ergeben sie sich aber aus der von Plotin selbst formulierten Antinomie, dass das Fragen nach den Ursachen des Seienden notwendig auf ein einheitliches Prinzip führt, umgekehrt aber die Ableitung des Vielen aus dem Einen das Denken vor unüberwindliche Probleme stellt (V 1 [10],6,2–6).

Literatur Beierwaltes, Werner: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1985. Beierwaltes, Werner: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Frankfurt a. M. 1991. Beierwaltes, Werner: Causa sui. Plotins Begriff des Einen als Ursprung des Gedankens der Selbstursächlichkeit. In: Werner Beierwaltes: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen. Frankfurt a. M. 2001, 123–159. Bussanich, John: Plotinus’s Metaphysics of the One. In: Lloyd P. Gerson (Hg.): The Cambridge Companion to Plotinus. Cambridge 1996, 38–65. Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart/Leipzig 1992. Halfwassen, Jens: Henologie bei Platon und Plotin. In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 8 (2003), 21–41.

18  Einheit und Vielheit Horn, Christoph: Plotin über Sein, Zahl und Einheit. Eine Studie zu den systematischen Grundlagen der Enneaden. Stuttgart/Leipzig 1995. Horn, Christoph: L’auto-déclaration de l’Un dans l’Ennéade V,3 [49] et son arrière-plan dans la théorie plotinienne de la prédication. In: Monique Dixsaut (Hg.): La connaissance de soi. Études sur le traité 49 de Plotin. Paris 2002, 41–71. Krämer, Benedikt: Über das Unsagbare sprechen. Formen der Theologie in Plotins Enneaden. Münster 2020. Krämer, Hans Joachim: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin [1964]. Amsterdam 21967. Linguiti, Alessandro: Due argomenti per l’unicità del primo: Plotino, „Enneadi“ V 4 [7],1. In: Maria Barbanti/Giovanna Rita Giardina/Paolo Manganaro (Hg.): Ἕνωσις καὶ ϕιλία. Unione e amicizia. Omaggio a Francesco Romano. Catania 2002, 389–398. Mortley, Raoul: From Word to Silence. Bd. 1: The Rise and Fall of logos. Bd. 2: The Way of Negation: Christian and Greek. Bonn 1986.

195 Nikulin, Dmitri: The One and the Many in Plotinus. In: Hermes 126 (1998), 326–340 [wieder abgedruckt in: Dmitri Nikulin: Neoplatonism in Late Antiquity. Oxford 2019, 3–13]. Noble, Christopher Isaac: Leaving Nothing to Chance. An Argument for Principle Monism in Plotinus. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 55 (2018), 185–226. Regen, Frank: Formlose Formen. Plotins Philosophie als Versuch, die Regreßprobleme des Platonischen Parmenides zu lösen. Göttingen 1988. Schwyzer, Hans-Rudolf: Plotinos. München 1978 [Sonderausgabe von: Hans-Rudolf Schwyzer: Plotinos. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 21/1 (1951), 471–592; Suppl. 15 (1978), 310–328]. Szlezák, Thomas Alexander: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. Basel/Stuttgart 1979. Whittaker, John: Neopythagoreanism and Negative Theology. In: Symbolae Osloenses 44 (1969), 109– 125 [Nachdruck in: John Whittaker: Studies in Platonism and Patristic Thought. Aldershot 1984, Nr. IX].

Erinnerung und Vorstellung

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19.1 Erinnerung und Vorstellung als Seelenvermögen Erinnerung ist das Seelenvermögen, das Vorstellungen in sich bewahrt: „Für den, der sich erinnert, ist der Gegenstand der Wahrnehmung (aisthêma) eine Vorstellung (phantasma) und die Erinnerung und ihr Festhalten (katochê) kommt dem Vorstellungsvermögen (phantastikon) zu, das anders [als die Wahrnehmung] ist; denn dies ist es, worin die Wahrnehmung (aisthêsis) endigt, und wenn diese bereits abwesend ist, ist das Gesehene in diesem noch anwesend. Wenn nun bei ihm die Vorstellung des schon nicht mehr Vorhandenen noch da ist, dann erinnert sie es bereits. […] Die Erinnerung gehört also zum Vorstellungsvermögen, und das Erinnern bezieht sich auf Vorstellungen“ (IV 3,29,22–27; 31–32). Die Erinnerung hält nicht ein aktuelles Bild oder den materiellen Abdruck (typos) eines anwesenden Gegenstands in der Seele fest, sondern ein immaterielles Vorstellungsbild des einst wahrgenommenen Gegenstands. Im ersteren Fall würden die Erinnerung und allgemein die Seele als etwas Passives und vom Körper Abhängiges verstanden; im letzteren Fall wird dagegen die Eigendynamik der Seele und der Erinnerung im Besonderen betont. M. Schramm (*)  Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

Mit dieser Annahme grenzt sich Plotin sowohl von Aristoteles als auch von den Stoikern ab, von denen er wesentliche Elemente der Theorie der Erinnerung übernommen hat. Das ist insbesondere die These, dass Erinnerung der „Besitz“ oder das „Aufbewahren von Vorstellungen“ ist (Aristot. mem. 451a13–16; Zenon, SVF 1, 64; Chrysipp, SVF 2, 56; Taormina 2011, 142–149), dass sie auf die Vergangenheit bzw. deren Vorstellung bezogen ist (Aristot. mem. 449b24–28; 451a17; 29–31; Stoiker laut Plut. De sollertia animalium 3, 961C) und dass die Vorstellung auf die aktuelle, gegenwärtige Wahrnehmung von etwas zurückgeht (Aristot. mem. 450a10–14; 451a16–17; an. 3,3, 428b10–429a2; Plut. De sollertia animalium 3, 961C). Jedoch betont Plotin im Gegensatz zu diesen, dass Erinnerung, Vorstellungsvermögen und sogar die Wahrnehmung keine Abhängigkeit vom Körper und damit keine materielle Basis haben (IV 3,23,29–34; I 1,7,9–12; Remes 2007, 112; Emilsson 1988, 114–116; Emilsson 2017, 252–253; 271). Er widerspricht dem aristotelischen wie auch stoischen Bild der Seele als einer tabula rasa (Aristot. mem. 450a25–32; an. 2,12, 424a17–24; Chrysipp, SVF 2, 56; SVF 2, 83), einer zunächst unbeschriebenen Wachstafel oder einem Papier, das durch äußere Sinneseindrücke (typoi) beschrieben wird (IV 6,1,1– 11; 3,71–77; zu Plotins Auseinandersetzung mit der aristotelischen Erinnerungslehre King 2009, 127–138). Zur Begründung verweist er auf all-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_19

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tägliche Beobachtungen, die der These, dass das Erinnern das Bewahren von solchen Eindrücken ist, widersprechen: nämlich dass das Gedächtnis durch die Fülle der zu erinnernden Gegenstände geschwächt wird, dass man, um sich zu erinnern, nachdenken muss oder dass es auch Erinnerung an zuvor Vergessenes gibt, was alles nicht der Fall sein dürfte, wenn in der Erinnerung lediglich äußere Sinneseindrücke andauerten (IV 6,3,25–29). Diese Annahme würde weiter von der sich erinnernden Seele eher Schwäche und Passivität als „Stärke“ (ischys) verlangen (IV 6,3,45–55). Das Gedächtnis sei vielmehr eine „Kraft“ (dynamis) der Seele, die sich bereit mache, ihre Inhalte sofort oder später, wenn sie sich gesammelt hat, erinnernd zu vergegenwärtigen (IV 6,3,58–63). Es stellt sich nun die Frage, wie die Erinnerung von Plotin in die Reihe der Seelenvermögen zwischen Wahrnehmung, Vorstellung und Denken eingeordnet wird. Plotin bestimmt die Seele als „Inbegriff (logos) von allem“, und zwar einerseits als „untersten Logos“ der Dinge im noetischen Bereich und andererseits als „obersten Logos“ der Dinge im wahrnehmbaren Bereich, weshalb sie die Fähigkeit hat, Dinge zu erfassen, die sie nicht in sich aufgenommen hat (ΙV 6,3,4–7; vgl. III 4,3,22–27; V 3,3,35–40; s. auch Abschn. 35.1). Sie ist in der Mitte und nimmt beide Gegenstandsbereiche wahr: Die geistigen Dinge denkt sie, indem sie zur Erinnerung an sie kommt und sie schaut, da sie selbst diese „irgendwie“ ist, nur „getrübter“, und diese sie, „aus dem Trüben gleichsam erwacht“, aus der Potenz zur Aktualität bringen (IV 6,3,10–16; vgl. V 1,3,7–12; V 3,4,20– 22). Analog zu dieser Erinnerung, der Wiedererinnerung im eigentlich platonischen Sinne an geistige Inhalte, verfährt die Seele auch bei der Wahrnehmung sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, indem sie die potentiell in ihr liegenden Dinge durch sich selbst „gleichsam aufstrahlen und sich vor Augen führen lässt“ (IV 6,3,16–19; zur Bedeutungsvielfalt von ‚Wiedererinnerung‘ in diesem Sinne bei Plotin vgl. Michalewski 2021; s. auch Abschn. 6.5). Wahrnehmung und Denken werden offenbar analog gedacht, und in beidem hat die Erinnerung eine fundamentale

M. Schramm

Mittlerrolle (vgl. auch V 3,2,7–14; Remes 2007, 143–148).

19.2 Erinnerung und Vorstellung zwischen Wahrnehmung und Denken Die Analogie zwischen Wahrnehmung und Denken gründet in ihrer kausalen Bezogenheit: Wahrnehmung wird gedacht als eine niedrige, ‚trübe‘ Form des Denkens, das übertragen auch als ‚klare‘ Wahrnehmung der ‚oberen‘, geistigen Dinge verstanden wird (VI 7,5,19–21; 6,1–2; 7,28–31). Die Gegenstände des geistigen Denkens, die Ideen, die im Geist „alle zusammen“ (homou ta panta) sind, werden im diskursiven Denken der Seele „gleichsam entfaltet und voneinander abgesondert“ (I 1,8,6–8), nämlich als Begriffe (logoi) „in Form von Abbildern“ (en mimêsei) der jeweiligen Idee (VI 7,6,10–11; s. Abschn. 20.2). Der Begriff oder Logos im diskursiven Denken entfaltet den im Geist ungeteilten Gedankeninhalt der Idee und „bringt ihn aus dem Gedanken zum Vorstellungsvermögen hin und zeigt ihn wie in einem Spiegel“ (IV 3,30,7–10). Das Vorstellungsvermögen besitzt also die immateriellen Bilder der im diskursiven Denken gedachten Formen. Die Wahrnehmung wiederum prägt in sich die körperlichen Qualitäten und Formen der äußeren Gegenstände ab (IV 4,23,1–4). Ebenso wie die Erinnerung ist das Vorstellungsvermögen (phantastikon) in der Mitte zwischen Wahrnehmung und rationalen Denken (vgl. IV 4,13,13). Von beiden erhält es Bilder (phantasia, phantasma): Die Wahrnehmung „endigt“ in ihm, und ihm ist das Wahrgenommene noch präsent, auch wenn dieses nicht mehr gegenwärtig ist (IV 3,29,24–27); Vorstellung ist hier gleichsam synonym mit Erinnerung, die bestimmt wird als „Festhalten“ (katochê) der vergangenen Wahrnehmung als gegenwärtige Vorstellung (IV 3,29,23–24; Emilsson 1988, 110– 111; Emilsson 2017, 274). Und jeder Akt des diskursiven Denkens (dianoia) ist begleitet von einer Vorstellung (IV 3,30,2–3; vgl. Aristot. mem. 449b31–32; an. 3,8, 432a8–10), wobei

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diese – gemäß der oben geschilderten Theorie des immateriellen „Eindrucks“ (typos) – das „Bild“ (eikôn) von jenem ist (IV 3,30,3–4), ihnen also eine eidetische Ähnlichkeit zukommt und Erinnerung ein „Verharren“ (monê) des gedachten Bildes im Denken meint (IV 3,30,4–5; 10–11). Dabei ist fraglich, ob die Vorstellungen als mentale Bilder oder als sprachliche Repräsentationen von Begriffsinhalten zu verstehen sind (IV 3,30,5–10; vgl. Emilsson 2017, 271– 272; Caluori 2015, 165–166). Die Vorstellungen, die von der Wahrnehmung bzw. vom diskursiven Denken stammen, sind im Grunde genommen gleich, insofern als der Wahrnehmungsgegenstand nach seiner Form (eidos) und dem ihr entsprechenden mentalen Eindruck (typos) auf die intelligible Form zurückgeht, die vom diskursiven Denken gedacht wird und im Geist unentfaltet als Idee angelegt ist. Tatsächlich gibt es aber zwei Vorstellungsvermögen und zwei Arten von Vorstellungsbildern, solche aus dem diskursiven Denken und solche aus der Wahrnehmung, wobei diese gelegentlich das bewusste Erfassen des Denkens behindern (IV 3,30,13–31,5). Im irdischen Menschenleben sind beide miteinander verschmolzen, wobei das Vorstellungsbild, wenn die höhere und die niedrigere Seele in Harmonie miteinander stehen, die höhere also die Herrschaft über die niedrigere hat, eine Einheit bildet; wenn die beiden Seelen jedoch in Disharmonie zueinander sind, drängt sich die niedrigere in den Vordergrund und verdeckt die Vorstellungen der höheren Seele (IV 3,31,9–14). Beim Austritt der herabgestiegenen Seele aus der Verbindung mit dem Körper wie auch bereits beim Aufstieg der inkorporierten Seele zum oberen Bereich lässt die höhere Seele die Vorstellungen, die die niedrigere Seele während des gemeinsamen Lebens hatte, fahren und vergisst sie (IV 3,31,16–20; 32,9–24; s. u. Abschn. 19.3). Plotin erklärt das Zusammenspiel von diskursivem Denken, Vorstellung und Wahrnehmung im irdischen Leben folgendermaßen: Die Wahrnehmung sieht einen Menschen und gibt den Eindruck (typos) an das diskursive Denken, welches ihn erkennt; wenn es ihn zuvor

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schon einmal gesehen hat, identifiziert sie ihn, gestützt auf ihre Erinnerung („Sokrates“; V 3,3,1–5). Nicht genannt wird hier das Vorstellungsvermögen, worin die Wahrnehmung „endigt“ (IV 3,29,24–25), d. h. wo die wahrgenommene intelligible Form des Gegenstands als Eindruck in der Vorstellung festgehalten wird. Aber es sieht so aus, dass es hier – wie in ähnlichen Kontexten – als mit dem diskursiven Denken verbundenes Vermögen mitgemeint ist (Emilsson 1988, 110–111; Emilsson 2017, 272; Remes 2007, 93 unterscheidet daher phantasia als „non-conceptual experiences“ von der phantasia als „faculty of inferential and propositional thoughts, dianoia“). Man könnte daher sagen, dass das diskursive Denken einen ihm innewohnenden Begriff vom Menschen auf einen aktuellen aus der Wahrnehmung stammenden Vorstellungseindruck anwendet und, gestützt auf diese Vorstellung oder bei bereits abwesenden Wahrnehmungsgegenständen gestützt auf die Erinnerung an früher wahrgenommene Menschen, einen Wahrnehmungsgegenstand als von derselben Art wie die zuvor wahrgenommenen Menschen erkennt (King 2009, 164; Emilsson 2017, 281–283). Dies könnte man auch beschreiben als Urteil des diskursiven Denkens über die aus der Wahrnehmung stammenden Vorstellungen, also gewissermaßen als ein Urteil ‚zweiter Instanz‘ (epikrisis) über das sinnliche Urteil, mithilfe des Vergleichs aktueller mit früheren Vorstellungen in der Erinnerung (V 3,2,7– 14; vgl. I 1,7,14–17; zum sinnlichen Urteil vgl. III 6,1,1–4; zu Problemen der Abgrenzung beider Urteilsarten vgl. Chiaradonna 2012, 200– 204; s. auch Abschn. 49.1). Das tut das diskursive Denken, wie in dem Kapitel V 3 [49],2 betont wird, sowohl mit den aus der Wahrnehmung als auch mit den aus dem Geist stammenden Vorstellungen und Eindrücken (typoi), und es verbindet mit dieser Tätigkeit Bewusstsein (synesis; s. Abschn. 16.2). Genauso hat auch die Vorstellung Bewusstsein (synesis) von dem, „was an es [von außen] herangebracht worden ist“: „Sie gibt demjenigen, der die Vorstellung hat, ein Wissen von dem, was ihn affiziert hat (eidenai ha ­epathen)“

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(IV 4,13,14–16; gemeint sind die Affektionen des Körpers, die zunächst die Wahrnehmung, dann das Vorstellungsvermögen initiieren). D. h. in der Vorstellung wird sich die rationale Seele ihrer Wahrnehmungen eigentlich erst bewusst (vgl. Chiaradonna 2012, 201–202; Emilsson 2017, 273). So wird nicht alles Wahrgenommene bewusst wahrgenommen, z. B. nicht das, was für uns ohne Bedeutung ist, oder wenn unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet ist oder wenn es sich bei dem Wahrgenommenen lediglich um akzidentelle Begleitumstände handelt (IV 4,8,1–21). Erst in der Vorstellung, in der einige Wahrnehmungen bewahrt werden, bzw. in der Erinnerung, in der vergangene Wahrnehmungseindrücke wiederaufgerufen werden, erscheint eine vor-rationale Form des Bewusstseins bzw. die mit dem begrifflichen, diskursiven Denken verbundene anschauliche Dimension des Bewusstseins. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen das Denken sich ohne Vorstellung vollzieht, etwa wenn die Harmonie im Körper des beseelten Lebewesens gestört ist (vgl. I 4,10,17–21; Caluori 2015, 163–171 sieht im Vorstellungsvermögen daher das Zentrum des Bewusstseins sowohl der Wahrnehmungen als auch des Denkens; im Anschluss daran auch Hutchinson 2018, 68–75). Bewusstsein in diesem Sinne impliziert Selbstbewusstsein, ähnlich der „Selbstwahrnehmung“ (synaisthêsis), die bereits die Wahrnehmung äußerer Wahrnehmungsgegenstände begleitet (V 3,2,2–6; vgl. III 4,4,10; IV 8,8,10; Brisson 2006, 22). Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommen der Seele genauso wie Erinnerung deshalb zu, weil sie ihrem Wesen nach nicht zum „Fließenden“ der körperlichen Welt gehört, die sogar hinderlich für psychische Prozesse wie etwa die Erinnerung ist (IV 3,26,43– 46; 50–54; 29,32–36; Remes 2007, 112). Insofern im Vorstellungsvermögen sowohl Gedanken des Geistes als auch die intelligiblen Formen der Wahrnehmungseindrücke in dauerhafte Vorstellungen umgewandelt werden, ist hier das empirische ‚Wir‘ oder ‚Selbst‘ des Menschen bzw. der individuellen inkorporierten menschlichen Seele angesiedelt (Taormina 2011, 139; Emilsson 2017, 270; s. Abschn. 35.1; Kap. 42).

M. Schramm

19.3 Erinnerung, Zeitlichkeit und Erinnerung nach dem Tod Erinnerung und Vorstellung ist aber nicht nur im irdischen Menschen zu finden, sondern auch nach dem Austritt der herabgestiegenen Seele aus der Verbindung mit dem Körper. Grundsätzlich haben Dinge, die keine Affektion oder Veränderung an sich haben und nicht in der Zeit sind, sondern nur ewige Gegenwart haben, wie dies für Gott und den Geist zutrifft, keine Erinnerung (IV 3,25,10–20; IV 4,1,11–16). Das trifft auch auf die individuelle Seele zu, die ganz im Intelligiblen weilt (IV 4,1,6–11; 2,22–25; 30–31), aber auch auf den Demiurgen des Kosmos (IV 4,9,13–18; 10,4–6), die Weltseele (IV 4,10,4; 6–20; 12,13–18) und die göttlichen Seelen überhaupt, z. B. die Gestirnseelen (IV 4,6,4– 16). So haben die Gestirne keine Erinnerung an ihre eigenen vergangenen Umläufe, weil diese für sie eine einzige, einheitliche, ewige und vollkommene Bewegung sind (IV 4,7,4–12; 8,33– 52). Anders verhält es sich mit der inkorporierten Einzelseele, die an sich ebenfalls nicht in der Zeit ist, bei deren Erfahrungen und Affektionen dies allerdings der Fall ist (IV 4,15,15–18; 16,1–7; s. Abschn. 50.4). Auch die Gedanken der menschlichen Seele, d. h. ihr diskursives Denken in Begriffen (logoi), sind in der Zeit und durch die zeitliche Abfolge verschiedener Momente charakterisiert (IV 4,17,1–3), welche durch die Erinnerung zur Einheit und Ganzheit des Bewusstseins vereinigt werden (Remes 2007, 117–119; Halfwassen 2004, 107–108). Mit dem ursprünglichen Austritt der Seele aus ihrer ungetrennten Einheit mit dem Geist, der dadurch motiviert ist, dass sie „Lust auf sich selbst hatte und ein Anderes [als der Geist] sein wollte“, entstehen nicht nur Zeit und Zeitlichkeit, sondern auch das Selbst der Seele, SelbstBewusstsein und Erinnerung, insbesondere an sich selbst (IV 4,3,1–3; 5,11–13). Bei dieser Abtrennung vom Geist trennt sich die Seele gewissermaßen in zwei Seelen, eine höhere, die das Geistige noch in sich hat und sie oben beim Geistigen hält, und eine niedere, die die hier in der sinnlichen Welt erlebten Dinge

19  Erinnerung und Vorstellung

erinnert und die Seele hierher nach unten zieht (IV 4,3,4–5). Die Einzelseele besitzt nun Erinnerungen und Vorstellungen der höheren und der niederen Seele, die im hiesigen Leben zu einer harmonischen Einheit verschmolzen sein können, aber nicht müssen (IV 3,31,9–14; s. o. Abschn. 19.2). Mit starken Affekten verbundene Erinnerungen, z.  B. an Freunde, Familienmitglieder oder an das Vaterland, die ihren eigentlichen Sitz in der niederen Seele haben, können sogar bis in die höhere Seele reichen (IV 3,32,1–6). Idealerweise hat im hiesigen Leben die Erinnerung bzw. Vorstellung der höheren Seele die Oberhand über die der niederen Seele und diese das Bestreben, mit jener in Einklang zu stehen (IV 3,31,9–13; 32,6–9). Nach ihrer Trennung vom Körper durch den Tod erinnert sich die höhere Seele, solange sie noch etwas vom Körperlichen an sich hat, aller ihrer irdischen Taten und Leiden, und beide Seelen behalten ihre eigenen Erinnerungen für längere Zeit, die Erinnerung der jeweils anderen Seele aber nur für kurze Zeit (IV 3,27,5– 16). Bereits mit der Nähe des Todes können in der Seele Erinnerungen an frühere Leben auftreten, sodass sie einige Erinnerungen aus dem jetzigen Leben zu verachten lernt und fahren lässt (IV 3,27,14–20). So lässt dann auch die höhere Seele nach dem Tod die Vorstellungen, die die niedere Seele während des gemeinsamen Lebens hatte, los und vergisst sie (IV 3,31,16– 20; 32,9–24). Wenn sie aber im Geist angelangt ist, gibt es keine Erinnerung mehr an ihr früheres Leben, selbst dann, wenn sie im Hiesigen bereits das obere, geistige Leben geschaut hat, und es gibt auch keine Erinnerung an sich selbst (IV 4,1,4–11; 2,1–3; 22–25). Lediglich die niedere Seele behält die Erinnerung an Ereignisse während ihrer verschiedenen Inkorporationen (IV 3,27,20–23; IV 4,5,13–16), und aufgrund dieser früheren Leben treffen die individuellen Seelen bei einer erneuten Inkorporation auch ihre Wahl für einen bestimmten Körper (III 4,2,16–30; IV 3,8,9–10). Erinnerungen sind daher individuell und formen den Charakter der jeweiligen individuellen Seele, denn diese „ist und wird das,

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woran sie sich erinnert“ (IV 4,3,6), und sowohl die niedere als auch die höhere Seele, die beide Teil der individuellen Seele sind, haben eigentümliche wie auch gemeinsame Erinnerungen (IV 3,27,1–6), wobei nicht ganz klar ist, wie Individualität und Gemeinsamkeit der Erinnerung jeweils konstituiert sind (Remes 2007, 118).

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Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Denken

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Péter Lautner

20.1 Erkenntnis Erkenntnis beginnt mit dem Geist, der ersten Hypostase, die mit einem Erkenntnisvermögen besonderer Art ausgestattet ist. Das Erkennen des Geistes kann sich freilich nicht auf Sinnendinge beziehen. Der Grund dafür ist, dass Erkenntnis sich auf das Wesen richtet, aber Sinnendinge nicht von solcher Natur sind. Auf diese Weise ist Erkenntnis den Sinneswahrnehmungen entgegengesetzt, die die wahrnehmbaren Qualitäten erfassen, die ihrerseits materielle Ausdrücke (logoi) der nicht sinnlich wahrnehmbaren Natur sind. Denn die physische Natur ist geformt und angeordnet als Abbild des eigentlich Seienden (s. Abschn. 17.5 und 26.2). Daher ist der Status der Sinnesgegenstände und dementsprechend der Status der Erkenntnisse von den Sinnesgegenständen sekundär: „Er denkt sie ja nicht in der sinnlich wahrnehmbaren Welt […]. Denn das jeweils Erste ist nicht das sinnlich Wahrnehmbare. Was nämlich in der sinnlich wahrnehmbaren Welt ist, ist Form auf Materie, ein Abbild des Seienden, und jede Form, die in dem einen

Aus dem Englischen übersetzt von Björn Freter. P. Lautner (*)  Katholische Péter-Pázmány-Universität, Budapest, Ungarn E-Mail: [email protected]

ist, kommt von einem anderen in jenes und ist ein Bild von ihm“ (V 9,5,16–20). Das bedeutet, dass Erkenntnis von Sinnendingen allenfalls sekundär sein kann. Der Geist denkt und weiß, was wahrhaftig und nicht nur als Abbild existiert (V 9,5,13: ta onta). Diese Form der Erkenntnis hat zur Folge, dass Erkennendes und Erkanntes in gewisser Weise identisch sind. Die Identität des Geistes mit seinen Gegenständen, den Formen, ist notwendig, da wir andernfalls zuzugeben hätten, dass der Geist in irgendeiner Weise mit Gegenständen zusammentrifft, die außerhalb seiner selbst liegen. Träfe dies zu, wäre es möglich, dass der Geist von diesen Gegenständen keine Erkenntnis hätte oder dass er diese Erkenntnis erst erlangte, nachdem er ihnen begegnet wäre. Dies wiederum würde bedeuten, dass der Geist nicht immer Erkenntnisse hat (V 5,1,19–23; vgl. Menn 2001, 237–238). Und mehr noch: der Geist würde, sollte sein Gegenstand äußerlich sein, von diesem abhängen, um ihn zu erkennen. Dies würde die wesentlich aktive Natur des Geistes in Frage stellen, denn ein Mangel äußerer Reize würde ihn erlahmen lassen (V 5,1,29–32; s. auch Abschn. 22.3). Die Seele, auch die individuelle, enthält in sich selbst die Welt der intelligiblen Gegenstände (I 1,8,6–8). Neben den intelligiblen Gegenständen ist die Seele freilich auch mit anderen Arten von Erkenntnisinhalten ausgestattet, wie etwa Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen und Meinungen. Ganz wie die

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_20

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Sinneswahrnehmungen sind Erinnerungen Urteilspraxis (IV 3,23,31; 26,8; IV 6,2,16–17). Wären sie beharrende Eindrücke, zeigte dies eher eine Schwäche als eine Stärke der Seele an (IV 6,3,47–50). Vorstellung (phantasia) stammt aus der Sinneswahrnehmung. Sie ist allerdings kein Abbild oder die verbliebene Spur einer Sinneswahrnehmung. Ähnlich der Sinneswahrnehmung gehört die Vorstellung der wahrnehmenden Seele an (IV 3,23,24) und ist mithin wie die Sinneswahrnehmung – und noch mehr als diese – eine Art von Urteil (s. Abschn. 19.2 und 49.1). Sie fungiert auch als eine Art innere Wahrnehmung, die für die Bewusstheit des Wahrnehmens sorgt (IV 4,8,9–20). Plotin betont ihre komplexe Rolle, indem er sagt, dass Vorstellungen „quasi intellektuell“, d. h. eine Erkenntnis, seien (IV 3,23,32). Andererseits ist die Vorstellung deutlich vom diskursiven Denken unterschieden (I 1,9,8). Auf der Ebene des Geistes ist Wahrheit gegeben durch den unmittelbaren Zugriff auf seine Gegenstände. Der Geist ist mithin auf keine vermittelnde Instanz angewiesen, die zugleich auch eine Quelle von Fehlern sein könnte. Der unmittelbare Charakter des geistigen Erfassens bürgt für die Wahrheitstreue des Erfassens. Damit sehen wir Plotins Antwort auf die skeptische Herausforderung, die besagt, dass, sollte das Erkennen einer Vermittlung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt bedürfen, eben diese Tatsache das Erkennen fehlbar machte (Kühn 2009; s. Abschn. 12.4). Darüber hinaus bedeutete dies, dass, wenn die Erkenntniskraft nicht mit ihrem Objekt identisch wäre, sie im besten Falle nur ein Abbild eines Objekts erfassen könnte (V 5,1,17–19; Emilsson 2007, 125). Der Begriff der Wahrheit von Erkenntnis dient auch zur Unterscheidung von Erkenntnis und Meinung (doxa). Wahrheit ist begrenzt auf die Erkenntnis der Formen, die sich im Geist befinden. Anders als in der Seele, in welcher Wahrheit in der Entsprechung von Subjekt und äußerem Objekt besteht, bedeutet die Wahrheit für den Geist, in Übereinstimmung mit sich selbst zu sein. Daher kann Plotin behaupten, dass im Geist die Wahrheit mit sich

P. Lautner

selbst übereinstimmt (V 5,2,18–20). Da auf dieser Ebene erkenntnistheoretische und metaphysische Überlegungen einander entsprechen, können wir weiterhin begreifen, dass, von dieser Warte aus, Wahrheit nicht nur der Gehalt einer Proposition ist, sondern auch das notwendige Merkmal geistiger Entitäten. Dieser Wahrheitsbegriff betont zudem die Authentizität des wahrhaft Seienden, im Gegensatz zu seinem innerseelischen Abbild, das keine echte Einheit bedeutet, sondern lediglich Entsprechung. Diese Unterscheidung erklärt die Entstehung von Meinung in der Seele: „Das ist, meine ich, auch der Grund, weshalb es in den sinnlichen Wahrnehmungen keine Wahrheit, sondern nur Meinung gibt: Wenn sie etwas übernimmt (und darum eben nur Meinung ist), dann ist das, was sie übernimmt, etwas anderes als dasjenige, von dem sie das hat, was sie übernimmt. Also: Wenn es im Geist keine Wahrheit gibt, dann kann die betreffende Art von Geist weder Wahrheit noch in Wahrheit Geist noch überhaupt Geist sein. Aber es gäbe dann auch keinen anderen Ort, wo die Wahrheit wäre“ (V 5,1,61– 68). Im Anschluss an Platon beharrt Plotin darauf, dass Meinung sich nur auf die Sinnenwelt bezieht, in welcher Gegenstände dem Werden und Vergehen unterworfen sind. Denn nur echte Erkenntnis enthält Wahrheit, während Meinung als bloßes Derivat der echten Erkenntnis keinen Anspruch auf Wahrheit im vollen Sinne erheben kann, obgleich nicht ausgeschlossen ist, dass sie gelegentlich wahr ist. Alle Erkenntnisaktivitäten sind rein seelisch und in bestimmter Weise angeordnet, ähnlich dem platonischen Liniengleichnis (Plat. rep. 6, 510–511). Aus diesem Grund werden Meinungen mithilfe von Begriffen und Propositionen geformt, die echtes Wissen darstellen, auch wenn sich der Gegenstand der Meinung vom Gegenstand des echten Wissens unterscheidet. Die Unterscheidung von Erkenntnis und wahrer Meinung zeigt sich auch in der Erklärung des Erwerbs von Meinungen: Meinungen entstehen, wenn sich die Seele mit dem Körper vermischt und seine Affektionen teilt. Daher sind sie mit der Sinneswahrnehmung engstens verbunden (I 1,2,25–27).

20  Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Denken

20.2 Denken Denken hat zwei Hauptformen, abhängig davon, ob es sich im Geist oder in der Seele vollzieht. Während der Geist in unmittelbarer, intuitiver Weise denkt, bewegt sich die Seele von einer Prämisse zur Konklusion. Da die Seele im Geist entstanden ist, muss auch ihr Denken vom Denken des Geistes abgeleitet sein: „Das Erzeugnis aber des Geistes ist irgendwie eine sprachlich-rationale Äußerung und Existenz, nämlich das, was auf diskursive Weise denkt“ (V 1,7, 41–42). Der Ursprung des Denkens im Geist ist Verschiedenheit und Identität: „Ursache des Erkennens ist aber noch etwas anderes, das auch Ursache für das Sein ist; beiden ist also noch eine andere Ursache gemeinsam. Denn sie sind zwar zugleich da, existieren gemeinsam und verlassen einander nicht; aber nur dadurch, dass sie zwei sind, sind sie dieses Eine, das Geist und Sein und Erkennendes und Erkanntes auf einmal ist – der Geist entspricht dem Erkennen, das Sein dem Erkannten. Es könnte ja kein Erkennen geben, wenn nicht Verschiedenheit da wäre und zugleich Identität“ (V 1,4,28–34). Verschiedenheit hat zwei Formen, einerseits die des Unterschieds zwischen dem erkennenden Subjekt und den Objekten des Erkennens, anderseits die des Unterschieds der verschiedenen Erkenntnisgegenstände untereinander (V 1,4,30–38; V 3,8,38; V 3,10,44–48; VI 7,39,5–6). Vielheit entsteht mit dem Denken zugleich, da das Denken die Unterscheidung zwischen dem denkenden Subjekt und seinem Objekt beinhaltet. Wenn es nichts gibt als reine Einfachheit, gäbe es nichts, das gedacht werden könnte (V 3,10,44–46). Auf der anderen Seite ist es die Aufgabe der Identität, die Einheit des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts zu gewährleisten. Identität bürgt dafür, dass hier nur eine Entität im Spiel ist, die innerlich differenziert ist. Das Denken des Geistes ist nicht nur unmittelbar und umfassend; es ist Denken von innerlichen Objekten. Diese Objekte sind konstitutiv für das Denken des Geistes selbst, da eine teilweise Identität zwischen dem Geist und jeder Form besteht (VI 2,21,27–34; Gerson 1994, 50–51).

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An ein Objekt zu denken, bedeutet, auch an alle anderen Objekte zu denken. Es bedeutet indes nicht, dass dieses eine Objekt dasselbe wie ein anderes ist (Emilsson 2007, 199–201), und demzufolge bedeutet es auch nicht, dass der Geist mit jedem dieser definitorisch getrennten Objekte vollständig identisch ist. Überdies lässt die strikte Einheit des Geistes keinen Raum für andere Anordnungen, was bedeutet, dass der Geist in keiner anderen Weise vorgehen kann, als er es tatsächlich tut, und dass die Wahrheiten über die Welt und ihre Objekte, die Formen, daher notwendige Gedanken sind (Caluori 2015, 56–57). Wegen dieser strikten Einheit ist das Denken des Geistes nicht-diskursiv, d. h. es kann nicht in verschiedene Phasen unterteilt werden, wie die des Erfassens von Prämissen und die des Ziehens von Konklusionen. In diesem Falle kann allerdings gefragt werden, ob ein solches unmittelbares und umfassendes Denken mit Propositionen operiert oder nicht (s. auch Abschn. 43.5). Einerseits scheint seine Einheitlichkeit so stark, dass eine Unterscheidung von Subjekt und Prädikat, die wesentliche Voraussetzung propositionalen Denkens ist, nicht möglich ist. Anderseits gibt es eine Vielzahl von Stellen, an denen Plotin behauptet, dass der Geist „spricht“ (V 3,5,24–25; V 5,2,19–20), was auf Propositionengebrauch hindeutet; das mag allerdings eine Metapher sein. Die visuelle Bildsprache, die gebraucht wird, um die Funktionsweise des Geistes zu beschreiben, legt nahe, dass das geistige Sehen viele Gegenstände, die Formen, erfassen kann, ohne über diese Erfahrung notwendigerweise auch unterschiedliche Propositionen aufzustellen (Szlezák 1979, 60–61 mit Hinweis auf die Vorform dieses Gedankens bei Platon). Sie schließt indes nicht aus, dass das geistige Sehen der intelligiblen Objekte wahrheitsfähig ist. Genau wie das sinnliche Sehen kann es wahr oder falsch sein, abhängig davon, ob das Objekt vorhanden ist oder nicht. Oder – um eine andere, an Aristoteles anklingende Metapher zu verwenden – der Geist kann seine Gegenstände ‚berühren‘ oder nicht (I 1,9,12–13; vgl. Aristot. metaph. Λ 7, 1072b20– 21). Gewiss, der Geist trifft immer die Wahrheit,

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wohingegen das menschliche Denken irrtumsfähig ist. Es ist daher sinnvoll zu behaupten, dass das geistige Sehen der intelligiblen Objekte wahrheitsfähig ist unter der Voraussetzung, dass dieses seinen Gegenstand in jeder Hinsicht so widerspiegelt, wie er ist (Emilsson 2007, 185– 198). Diese Art von geistigem Sehen ist auch in der Seele gegenwärtig, weil der Geist der Seele innewohnt oder, um es anders zu sagen, ein Teil der Seele immer in der intelligiblen Welt verbleibt (IV 8,8,2–6; VI 5,7; Beierwaltes 1991, 105; s. Abschn. 35.1). Bildliche Metaphern finden sich auch in der Beschreibung der seelischen Vernunfttätigkeit. Auf die Vernunft (logos) zu hören ist wie ein Sehen, das nicht im Erkenntnisverlauf geformt wird, sondern durchgehend aktiv ist (III 6,2,32– 35; Noble 2016, 239–241). Doch hat das Denken in der Seele zwei weitere spezifische Ausprägungen: die theoretische und die praktische. Das theoretische Denken schreitet Schritt um Schritt fort, von der Prämisse zur Konklusion. Daher ist es sowohl schlussfolgernd als auch zeitlich. Das für die Seele charakteristische theoretische Denken ist diskursiv und steht zwischen Sinneswahrnehmung und Geist (V 3,3,35–40). Aufgrund dieser Stellung muss ein Unterschied zwischen Sinnesurteilen und diskursivem Denken zu finden sein. Es scheint, dass die diskursive Vernunft über Vorstellungen urteilt, die von der Sinneswahrnehmung abgeleitet sind (V 3,2,7–9; s. Abschn. 19.2). Fragen sind aufgekommen bezüglich des Anteils der diskursiven Vernunft an den Sinnesurteilen: Trifft die Vernunft echte Wahrnehmungsurteile (Lavaud 2006, 40–43; Remes 2007, 145– 146), oder geschieht dies nur durch die Wahrnehmungskraft selbst (Emilsson 2007, 127)? Das diskursive Denken kommt jedoch insofern nach der Sinneswahrnehmung, als es auf die Identifikation des Objekts durch die Sinneskraft folgt (V 3,3,2–6; V 3,2,7–8). Seine Rolle besteht darin, das Objekt als materiale Instanz der dazugehörigen Form zu erkennen. Dies vollzieht sich in drei Schritten. Erstens: Die diskursive Vernunft ist nur auf das Objekt gerichtet, ohne irgendein Urteil zu fällen. Zweitens: Sie identifiziert das Objekt, indem sie mit

P. Lautner

sich selbst ins Gespräch tritt, unter Zuhilfenahme von Erinnerungen. Drittens: Sie entfaltet die wahrgenommene Form insofern, als sie die Komplexität der Form in ihre Bestandteile zerlegt, was bedeutet, dass sie mit der Fähigkeit, zu zerlegen und zu verbinden, ausgestattet ist (Remes 2007, 145; Chiaradonna 2012, 201– 202). Sie übermittelt die Information, die sie von der Sinneskraft empfängt, umgehend, was bedeutet, dass sie diese nicht wesentlich verändert. Das praktische Denken herrscht in der providentiell eingerichteten Welt vor. Plotin sagt, dass diese durch eine „strategische“, generalstabsmäßige Providenz angeordnet ist (III 3,2,6–7: stratêgikê), was bedeutet, dass diese Anordnung der praktischen Weisheit seitens des Göttlichen bedarf. Er verwendet mit Bezug auf diese göttliche praktische Weisheit den Terminus phronêsis (IV 2,2,44–48; IV 4,10,10–12; IV 4,11,12; 23–28; IV 4,12,2; 14; 45–47). Der Grund für die Beteiligung des praktischen Denkens an der Verwaltung der sinnlichen Welt mag darin liegen, dass die elementare Struktur der physischen Welt sich deutlich von der Funktionsweise der intelligiblen Welt unterscheidet. Die Struktur der letzteren ist durch die Beziehung zwischen Arten und Gattungen gekennzeichnet, was sie der theoretischen Kontemplation zugänglich macht. Im Gegensatz dazu ist die Sinnenwelt gekennzeichnet durch die Beziehung von Raum und Zeit (III 7,11,35–40). Obgleich sie an sich unveränderlich ist (IV 4,11,26), berücksichtigt die praktische Weisheit derlei Beziehungen, da sie mit Ereignissen befasst ist, die nacheinander geschehen (Caluori 2015, 59–60). Bei der Verwaltung der Sinnenwelt macht das Vorhandensein der praktischen Weisheit Deliberation überflüssig, denn ihr holistisches Wesen schließt sequentielles Denken aus; sie erfasst ihren Gegenstand auf einmal zur Gänze (IV 4,11,27– 28). Erfasste sie nicht alle Teile zugleich, so wäre es nicht diese Art von Weisheit, sondern das Wissen von aufeinanderfolgenden Dingen und den Teilen eines Ganzen. Daher unterscheidet sich diese Weisheit vom planend-abwägenden Denken (logismos), da es sich bei ihr um einen festen Zustand handelt, während Pla-

20  Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Denken

nung Unsicherheit beinhaltet. Es folgt, dass die göttliche phronêsis, die providentiell ist, nicht diskursiv sein kann, denn sie fungiert auf der Ebene des Geistes (IV 2,2,47). Dagegen ist in der individuellen Seele die praktische Weisheit mit der diskursiven Vernunft verbunden; hier hat sie die Aufgabe, unser Handeln im Hinblick auf die intelligiblen Muster zu lenken (I 2,4–5). Plotin trifft mit Blick auf die höchste, noetische Erkenntnisform der Seele zudem eine Unterscheidung zwischen Denken und dem Erfassen des Denkens: „Denn ein anderes ist das Denken (noêsis), ein anderes das Erfassen des Denkens; wir denken zwar immer, erfassen es aber nicht immer. Dies kommt daher, dass die aufnehmende Fähigkeit nicht bloß die Gedanken aufnimmt, sondern auch die entsprechenden sinnlichen Wahrnehmungen“ (IV 3,30,13–16; vgl. I 4,10,6–19). Das Erfassen des Denkens ist getrennt vom eigentlichen Denkprozess, denn Plotin nimmt an, dass wir immer denken, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind (IV 8,8,6–9). Dies kommt der Aussage nahe, dass die Seele ein angeborenes Wissen besitze, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sei (Helmig 2012, 202). Es bedeutet darüber hinaus, dass bewusstes Denken eine gewisse Abgetrenntheit von der Sinnenwelt erfordert. Andernfalls würde unsere Seele von der Sinnenwelt verschlungen und in ihrer eigenen Tätigkeit so stark beeinträchtigt, dass sie ihr eigenes Denken und ihre Verbindung mit dem Geist aus dem Blick verlöre.

20.3 Selbsterkenntnis Interessanterweise ist Plotins Begriff der Selbsterkenntnis von der Skepsis beeinflusst und kann als ein Versuch verstanden werden, die Wahrheitsverlässlichkeit wenigstens einer Art des Wissens zu sichern (Kühn 2009). Aufgrund der engen Bindung von Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein hat die Selbsterkenntnis im weiteren Sinne viele Schichten, was sich auch in der Terminologie ausdrückt (Schwyzer 1960; Schroeder 1987; Hutchinson 2018, 41–44; s. Abschn. 16.1). Es ließe sich sogar vermuten,

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dass es gar keine einheitliche Erklärung für sie gibt, da der Begriff viele verschiedene Tätigkeiten umfasst. Es gibt vier Arten, die den drei Schichten des Selbst entsprechen: Da ist zunächst das sinnliche Erfassen des körperlichen Zustands (synaisthêsis), das allen lebendigen Wesen gemein ist; zwei weitere Arten sind beteiligt an den Vorstellungen und am diskursiven Denken; und die vierte Art zeigt sich im abgetrennten Geist (Hutchinson 2018, 6–44). In ihrer höchsten Form ist Erkenntnis Selbsterkenntnis. Der Geist erkennt seinen Gehalt, die Formen, und deren Identität mit ihm selbst; dies impliziert, dass er von Natur aus Bewusstsein seiner selbst besitzt. Der Geist teilt sich seinen Inhalt, die Formen, und seine Identität selbst mit, was bedeutet, dass er sich seiner selbst von Natur aus bewusst ist. Allerdings resultiert Selbsterkenntnis, und damit reflexives Selbstbewusstsein, nicht notwendigerweise daraus, dass etwas sich selbst als Objekt des Wissens hat. Dies liegt daran, dass das Denken von etwas nicht notwendigerweise ein Erfassen dieses Denkens einschließt. In der aristotelischen Tradition, gestützt auf Metaphysik Λ 7, kann sogar der göttliche Geist sich selbst als seinen einzigen Denkgegenstand denken, ohne zu begreifen, dass es er selbst ist, der denkt. Überdies impliziert die Bewusstheit des Denkens noch keine Selbsterkenntnis. Plotins Annahme, dass der Geist sich selbst denkt (II 9,2,49; V 3,5,29; V 6,5,18; VI 2,8,11), macht eine bewusste Reflexivität daher nicht notwendig. Um es genauer auszudrücken: Der Geist denkt Sein, aber weil das fragliche Sein dasselbe ist wie der Geist, denkt dieser sich selbst. Es trifft nicht zu, dass der Geist im allgemeinen Sinne über sich selbst nachdenkt. Plotin betont, dass der Geist und seine Tätigkeit ein und dasselbe sind (V 3,5,42–43), was bedeutet, dass die Tätigkeit, die den Geist als denkendes Subjekt konstituiert, und der Geist selbst ein und dasselbe sind. Weil auch das Intelligible eins ist mit der Tätigkeit (V 9,7), sind der Geist, sein Denken und die intelligiblen Gegenstände ebenfalls eins. Im Vollzug der Erkenntnis erkennt der Geist sich unmittelbar als erkennendes Subjekt (V 3,5,11; Kühn 2002, 263–264). Das Schlüssel-

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element der Identifikation ist die Tätigkeit (energeia); diese ist identisch mit dem Geist und mit dem Gegenstand des Denkens (V 3,5,28; Emilsson 2007, 147). Das bedeutet, dass das intelligible Objekt mit kognitiver Tätigkeit ausgestattet ist (V 3,5,33; Kühn 2009, 212–215). Es gibt kein eigentliches denkendes Subjekt vor dem Denkakt, und auch das Sein ist dasselbe wie die Tätigkeit des Denkens, denn es gibt kein Sein vor dem Denken. Das Sich-selbst-Denken des Geistes impliziert das Bewusstsein, dass das Subjekt des Denkens etwas ist, und es bedeutet außerdem, dass es sich selbst nicht denken kann, ohne das Objekt seines Denkens als sich selbst zu erkennen (V 3,13,21–27). Diese Art der Einheit garantiert das Sich-selbst-Denken des Geistes. Es gilt selbst dann, wenn wir an die Erkenntnis des Einen durch den Geist denken, die die Erkenntnis eines Bildes ist (z. B. V 3,11,8; V 6,5,12–16; Emilsson 2007, 90–101; s. Abschn. 17.3). Diese Art von Selbsterkenntnis bringt indes keinerlei persönlichen oder individualistischen Charakter mit sich. Was sie über die Objekte des Wissens hinaus offenbart, ist Subjektivität. Den durch den Geist verwirklichten Objekten ist eine personale ‚Gegebenheit‘ eigen, denn ihnen wohnt eine eingebaute Selbstbezüglichkeit inne (Remes 2007, 170). Die Einheit des Geistes mit seinen Gegenständen im Selbstbewusstsein liefert daher eine weitere Stütze für die Annahme, dass die Vereinigung mit dem Geist eine Steigerung des Selbst bewirkt, nicht seine Vernichtung (O’Daly 1973, 61–62). Selbsterkenntnis der Seele gründet sich auf die Vorstellungskraft (phantasia), die zwischen Sinneswahrnehmung und Vernunft vermittelt. Diese spielt eine zentrale Rolle in der Bildung von mentalen Bildern, die mit einem begrifflichen Verständnis ihrer Inhalte einhergehen können. Dadurch werden wir auch unserer Wahrnehmungen gewahr, die uns sonst möglicherweise nicht bewusst wären (IV 4,8,1–16). Dies steht in Verbindung mit der Aufmerksamkeit, denn wenn wir uns nicht auf ein bestimmtes Objekt in unserem Sichtfeld fokussieren, dann kann unsere Sinneswahrnehmung die Fähigkeit der Vorstellung nicht erreichen.

P. Lautner

Daher hängt die Kenntnis von Wahrnehmungsinhalten von der Vorstellung ab; sie hat Anteil an den Urteilen der Sinneskraft, was bedeutet, dass sie an den Wahrnehmungsurteilen beteiligt ist (IV 3,29,22–26). Die Vorstellungen, die aus sinnlichen Eindrücken stammen, werden von der diskursiven Vernunft benutzt, um die Formen in der Seele aufzurufen (I 1,7,9–18). Diese Formen existieren entfaltet und abgetrennt in der Seele, aber sie entstammen dem Geist, wo sie allesamt beieinander sind (I 1,8,6–8). Es handelt sich bei diesem Vorgang jedoch nicht um Introspektion in dem Sinne, dass die Seele sich allein auf sich selbst richtet. Denn die Selbsterkenntnis der Seele ist die Erkenntnis, dass sie vom Geist herstammt, dessen Prägungen sie in sich trägt (Stern-Gillet 2007, 177–178). Daher setzt echte Selbsterkenntnis der Seele ihre Rückkehr (epistrophê) zu ihrem Ursprung voraus, dem Geist.

Literatur Beierwaltes, Werner: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit: Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen. Frankfurt a. M. 1991. Caluori, Damian: Plotinus on the Soul. Oxford 2015. Chiaradonna, Riccardo: La dottrina dell’anima non discesa in Plotino e la conoscenza degli intelligibili. In: Eugenio Canone (Hg.): Per una storia del concetto di mente 1. Firenze 2005, 27–49. Chiaradonna, Richardo: Plotinus’ account of the cognitive process of the soul: Sense-perception and discursive thought. In: Topoi 31/2 (2012), 191–207. Emilsson, Eyjólfur Kjalar: Plotinus on Intellect. Oxford 2007. Gerson, Lloyd P.: Plotinus. London/New York 1994. Gerson, Lloyd P.: The Role of διάνοια in Plotinus’ Philosophy. In: The International Journal of the Platonic Tradition 17/2 (2023), 190–207 [online bereits 2022 zugänglich: https://brill.com/view/journals/jpt/aop/article-10.1163-18725473-bja10020/article-10.116318725473-bja10020.xml (21.2.2023)]. Helmig, Christoph: Forms and Concepts. Concept Formation in the Platonic Tradition. Berlin/New York 2012. Hutchinson, D.M.: Plotinus on Consciousness. Cambridge 2018. Lavaud, Laurent: La diánoia médiatrice entre la sensible et l’intelligible. In: Études platoniciennes 3 (2006), 29–55. Kühn, Wilfried: Comment il ne faut pas expliquer la connaissance de soi-même (Ennéade V, 3 [49], 5.1– 17). In: Monique Dixsaut/Pierre-Marie Morel/Karine

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Freiheit Benedikt Krämer

Ein aussagekräftiger Eindruck von Plotins Freiheitsbegriff lässt sich am besten gewinnen, indem man neben der systematischen Relevanz des Begriffs ‚Freiheit‘ in den Enneaden auch die historische Seite der Begriffsbildung berücksichtigt. Denn Plotin entwickelt seine eigenen Überlegungen stets in intensiver Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Der Darstellung von Plotins eigenen Überlegungen geht daher ein Blick auf den Diskussionstand und einige zentrale Begriffe des Freiheitsdiskurses voran, die sich im 3. Jh. n. Chr. herausgebildet hatten (ausführlich dazu Pietsch 2013, 193–209).

21.1 ‚Freiheit‘ vor Plotin Eine literarische Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Freiheitsthematik findet zwar bereits in den homerischen Epen und später in der attischen Tragödie statt. Zu einer differenzierten philosophischen Behandlung kommt es aber erst im 4. Jahrhundert v. Chr. durch Platon. Trägerin der Freiheit ist Platon zufolge das menschliche Denk-, Strebens- und Bewegungsprinzip – die Seele (s. Abschn. 9.4). Platon betont auf der einen

B. Krämer (*)  Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

Seite die Verantwortung der Seele für ihre eigene Biographie: Im Rahmen des Er-Mythos, des großen Schlussmythos der Politeia, lässt er einen Propheten mahnend darauf hinweisen, dass alle Seelen selbst ein bestimmtes Lebenslos – und die daraus resultierenden Konsequenzen – wählen. Dies bedeutet umgekehrt, dass die Annahme eines theonomen Determinismus menschlichen Entscheidens und Handelns abzulehnen ist: „Schuld ist, wer gewählt hat, Gott ist schuldlos“ (Plat. rep. 617e: aitia helomenou, theos anaitios; vgl. auch Plat. Tim. 41d– 42e). Die Freiheit der Seele bleibt nach Platons Überzeugung auf der anderen Seite immer eine relative Freiheit: Sie wird zum einen im Rahmen einer Fülle restringierender Faktoren entfaltet (das selbstgewählte Lebenslos, politische Rahmenumstände, individuelle Qualität der Seele, göttliche Providenz, Kontingenz usw.; vgl. Pietsch 2013, 193–197). Zum anderen ist das strebende Vermögen – der Wille – nach platonischem Verständnis in seiner Freiwilligkeit stets an das Gute gebunden. Freiwilliges Handeln ist immer gut und gerecht und umgekehrt tut dem bekannten sokratischen Paradoxon zufolge niemand freiwillig Unrecht (Plat. apol. 37a). Die Freiheit der Seele ist also wesentlich mit der Realisierung des (auch für sie) Guten verbunden. Angesichts der Pluralität limitierender Faktoren, die das freie Handeln der Seele nach Platons Ansicht begrenzen, ist es nicht verwunder-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_21

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lich, dass Aristoteles das Konzept des ‚in unserer Macht Stehenden‘ oder ‚bei uns Liegenden‘ (eph’ hêmin) in die Behandlung der Freiheitsthematik einführt (Aristot. eth. Nic. 1110a15–18). Es dient dazu, den Bereich und den Grad menschlicher Freiheit auszuloten, und wird im Anschluss an Aristoteles zu einem verbreiteten terminus technicus (Eliasson 2008). Aristoteles selbst verbindet mit dem Konzept im Kontext der zitierten Passage eine Graduierung von Freiwilligkeit (hekousion). Sein Beispiel des Seemanns, der während eines Sturmes aus eigenem Entschluss, aber auch aufgrund des äußeren Drucks seine Ladung über Bord wirft (Aristot. eth. Nic. 1100a8–12), zeigt exemplarisch, dass menschliches Handeln in vielen Situationen und mit unterschiedlichen Nuancierungen aus einer Mischung von Freiwilligkeit und Zwang resultiert. In hellenistischer Zeit kommt es insbesondere angesichts der Immanentisierung Gottes durch die Stoa zu einer Neuausrichtung der Freiheitsdiskussion. Anders als der transzendente Gott Platons, der eine Grundstruktur der sinnlichen Welt gewährleistet, ohne diese (geschweige denn das menschliche Handeln) vollständig zu bestimmen, wirkt die stoische logosGottheit determinierend (SVF 2, 975; 1000). Zenon identifiziert die göttliche Vorsehung (pronoia) mit einer geschlossenen Naturkausalität, dem Schicksal (heimarmenê; SVF 1, 176). In Anbetracht des umfassenden Determinismus, der auch den Bereich der menschlichen Praxis betrifft, wird in der stoischen Philosophie eine Verinnerlichung des eph’ hêmin vollzogen: Die Freiheit des Menschen liegt wesentlich in der Wahl einer angemessenen inneren Haltung gegenüber den äußeren Umständen (Epict. diss. 4,1,68–75). Der tugendhafte Mensch fügt sich dem Schicksal willig, der schlechte unwillig (SVF 1, 527; Sen. epist. 107,11; vgl. zum Problemkomplex Forschner 2018, 122–136).

21.2 ‚Freiheit‘ in Plotins Schriften Die Popularität der Stoa führt in der kaiserzeitlichen Philosophie zu einer intensiven kritischen Auseinandersetzung mit den stoischen Lehr-

B. Krämer

inhalten von platonischer und peripatetischer Seite aus (zum Thema Freiheit: Alcin. Didasc. 26; Plut. de Stoic. rep. 46–47; Alexander von Aphrodisias, De fato). Die wiedererstarkende platonisch-aristotelische Philosophie beschränkt ihr Interesse dabei zumeist nicht auf den Nachweis stoischer Aporien, sondern bemüht sich, zentrale Begriffe und gewinnbringende Differenzierungen der stoischen Philosophie an gegebener Stelle in die eigenen Lehren zu integrieren. Plotins Schriften bieten zahlreiche Beispiele für diese Praxis (s. Abschn. 12.2). Die ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Freiheit‘ nimmt Plotin in Enneade VI 8 [39] vor. Darüber hinaus finden sich auch in den thematisch angrenzenden Abhandlungen, die nachfolgend vorgestellt werden, konzentrierte Überlegungen zu dem vielschichtigen Problemkomplex ‚Freiheit‘.

21.2.1 IV 8 [6]; V 1 [10]: Der Abstieg der Seele Die Frage nach der Freiheit der menschlichen Seele hat in den Enneaden zwei Geltungsbereiche. Plotin bemüht sich zum einen zu ergründen, was Freiheit für die inkarnierte Seele bedeutet. Zum anderen behandelt er die vorgängige Frage, warum die Seele den Abstieg in die Körperwelt vollzieht, der für sie ein Übel ist (V 1,1,1–25). Ein in der Diskussion des Problems besonders häufig herangezogener Passus ist V 1,1,3–5, da Plotin dort gleich mehrere Gründe (oder mehrere Aspekte eines Grundes) für den Abstieg nennt. Er spricht unter anderem von der „Kühnheit“ (tolma) der Seele und ihrem „Willen, sich selbst zu gehören“ (V 1,1,5: boulêthênai […] heautôn einai). Diese Charakterisierung kann zu der Annahme führen, der Abstieg der Seele sei per se falsch und resultiere aus einer verfehlten, ‚narzisstischen‘ Ausrichtung der Seele auf sich selbst. Allerdings ist nicht leicht einzusehen, warum die körperunabhängige Seele sich freiwillig zu ihrem Nachteil von ihrem Prinzip, dem Geist, abkehren sollte. Es empfiehlt sich daher, die ausführlichere und ausgewogenere Darstellung des

21 Freiheit

Abstiegs der Seele in der Enneade IV 8 [6] zu Rate zu ziehen: Die Seele lebt, wie Plotin dort ausführt, ihrem Wesen nach grundsätzlich „gewissermaßen amphibisch“ (IV 8,4,31–32) zwischen intelligibler und sinnlicher Welt. Ihr Abstieg geschieht freiwillig (hekousion) und unfreiwillig (akousion) zugleich (IV 8,5,1–14): Die Seele geht nicht freiwillig in etwas Schlechteres ein, strebt aber sowohl quasi-naturgesetzlich (physeôs nomô) als auch aus eigenem Entschluss (autexousiô) danach, ihre Kraft weiterzugeben und gestaltend tätig zu sein (IV 8,5,8; 10–14; 24–27; 6,6–18). Die Schrift IV 8 zeigt, dass der Abstieg der Seele sich in einem komplexen Zusammenspiel von Freiwilligkeit, Unfreiwilligkeit und metaphysischer Notwendigkeit vollzieht (vgl. IV 8,5,1–5; vgl. auch Song 2009, 95–102). Da die Seelen sich abhängig von ihrer individuellen Natur stärker oder schwächer in die Materie verstricken können (IV 8,4,31– 35), ist der Abstieg in die Sinnenwelt in der Tat eine Kühnheit – aber eine Kühnheit, die dem Wesen der Seele entspricht.

21.2.2 III 1 [3]: Schicksal Das Titelwort „Schicksal“ (heimarmenê) ist zweifellos ein zentraler Begriff der Schrift III 1 [3]. Wie zuvor angedeutet, schließt eine schicksalsbestimmte Welt aus der Perspektive der Stoa keineswegs alle Formen menschlicher Freiheit aus. Nach Plotins Überzeugung schränkt die stoische Schicksalslehre den Wirkbereich der Seele aber deutlich zu stark ein und führt zudem, wie nachfolgend deutlich wird, zu theologischen Problemen. In der Schrift III 1 nimmt Plotin eine weit über die heimarmenêProblematik hinausreichende, grundlegende Behandlung verschiedener Ursachen sowie Formen und Ebenen von Ursächlichkeit vor (s. auch Abschn. 48.2). Die Schrift zielt darauf ab, die Stellung der Seele und das Ausmaß seelischer Freiheit innerhalb eines Geflechts von weiteren Ursachen zu bestimmen (III 1,8–10). Dies geschieht in Abgrenzung gegen Positionen, deren Vertreter nicht immer eindeutig zu identifizieren sind (III 1,3: Epikur; III 1,4: Stoa/Mittelplatonis-

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mus (?); III 1,5–6: Astrologie; III 1,7: Stoa; zum Aufbau der Schrift: Kalligas 2014, 413). Eine nachdrückliche Ablehnung erfährt in den freiheitstheoretischen Überlegungen Plotins der (epikureische) Atomismus. Im Einklang mit der Stoa kritisiert Plotin das epikureische Postulat spontaner Atombewegungen, das im Rahmen des materialistischen Monismus Freiheit ermöglichen soll, als Verstoß gegen die Grundeinsicht, dass im Bereich des Werdens nichts ohne Ursache geschehe (III 1,1,15; SVF 2, 912: anaitiôs). Neben der Kritik am Spontaneitätspostulat bezieht Plotin in diesem Zusammenhang gegen jede Form des materialistischen Reduktionismus bzw. Emergentismus Position: die handlungsleitende Funktion der Seele, Ordnung (taxis) und Denken können nicht auf der ungeordneten Bewegung der Atome (ataktôs phora) basieren; gleiches gilt nach Plotins Ansicht für komplexe menschliche Charaktereigenschaften (III 1,3,1–4; 3,25–27). Ordnung basiert Plotin zufolge immer auf einer Organisationsleistung höherer Prinzipien. Die Ablehnung des Konzepts unbegründeter Spontaneität bedeutet umgekehrt keinesfalls Plotins Zustimmung zu der Annahme, alle Ereignisse im Bereich des Werdens geschähen im stoischen Sinne mit unumstößlicher Notwendigkeit. Denn der stoische Determinismus macht nach Plotins Ansicht nicht nur das eph’ hêmin zu einem leeren Begriff (III 1,7,15), indem er die Handlungsfreiheit aufhebt, sondern führt zudem zu einem Theodizeeproblem, da er moralisch schlechte Handlungen zu einem Bestandteil des göttlichen Planes werden lässt (III 1,4,24–28). Mit der ‚astrologischen‘ Position befasst sich Plotin ausführlicher in der späten Schrift II 3 [52]. Die Vertreter dieser Weltanschauung gehen davon aus, dass die Sterne sowohl äußerliche als auch innerliche Umstände des menschlichen Lebens wie Armut und Reichtum, charakterliche Disposition etc. „bewirken“ (poiein). Plotin macht geltend, dass andere Ursachen in diesen Zusammenhängen entscheidend sind – der Charakter eines Kindes etwa wird eher durch die Eltern als durch die Sterne beeinflusst (III 1,5,27– 28). Die Relevanz der Sterne wird aber nicht vollständig bestritten: Das Weltall ist nach Plo-

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tins Überzeugung ein Organismus, dessen Teile durch die Weltseele alle miteinander verknüpft sind (s. Abschn. 31.2 und 37.1). Die Sterne haben in dieser Konstellation allerdings keine ‚poietische‘ Funktion, sondern fungieren als Zeichen (grammata), mit deren Hilfe per Analogieschluss Vorgänge im sublunaren Bereich prognostiziert werden können (II 3,7,3–28; III 1,6,20–24). Dem „Wirken“ der Sterne stellt Plotin in den zitierten Passagen folglich das „Andeuten“ (sêmainein) entgegen. Für seine eigene Sichtweise argumentiert Plotin zum Abschluss (III 1,8–10). Grundsätzlich ist ihm ebenso wie schon den Mittelplatonikern daran gelegen, eine nach außen wirksame Kausalität der Seele zu sichern: Durch ihr deliberatives Vermögen (logos) gewinnt die Seele Distanz zur Außenwelt. Eine solche Distanzierung, die den Persönlichkeitskern des Menschen „allein“ (monos) sein lässt, stellt eine Grundvoraussetzung für selbstbestimmtes Handeln dar (III 1,10,10–15). Als „erstwirkende Ursache“ (III 1,8,8: prôtourgos aitia), die Macht über sich selbst besitzt und auch Anderes bestimmen kann, ist die Seele in der Lage, selbstständig Kausalketten zu initiieren (III 1,8). Plotin resümiert dementsprechend, dass im Bereich des Werdens zumindest ein Teil der Ereignisse gemäß dem seelischen logos geschehe. Die übrigen, jeweils von einer äußeren Ursachenkette ausgelösten Vorkommnisse könne man „schicksalsbestimmt“ nennen (III 1,10,3–10). Dies entspricht der Sache nach einem mittelplatonischen Lösungsansatz, demzufolge sich die seelische Aktivität „im Bereich des Schicksals“ (en heimarmenê) entfaltet, ohne „durch das Schicksal bestimmt“ (kath’ heimarmenên) zu sein (Alcin. Didasc. 26, p. 179,1–19 Whittaker/ Louis).

21.2.3 III 2–3 [47–48]: Vorsehung Platon verwendet den Begriff „Vorsehung“ (pronoia; daneben auch epimeleia und phrontizein) an verschiedenen Stellen, wenn er die Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass sowohl der Kosmos als auch die Menschen Objekte

B. Krämer

g­ öttlicher Fürsorge seien (Plat. Phaid. 62b1–9; Tim. 30b6–c1; leg. 888b4–c7). Wie angedeutet, waren die Art und der Bereich der Vorsehung im Anschluss an Platon Gegenstand intensiver philosophischer Diskussion (s. o. Abschn. 21.1). Die Stoa war angesichts ihrer monistischen Grundausrichtung dazu gedrängt, Schicksal und Vorsehung zu identifizieren. Ein gestufter Wirklichkeitsaufbau platonischer Prägung bietet in dieser Hinsicht Differenzierungsmöglichkeiten. Wenn Schicksal und Vorsehung auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen lokalisiert werden und die Vorsehung nicht deterministisch wirkt, verliert einerseits das Theodizeeproblem an Dringlichkeit, andererseits lässt sich sinnvoll für eine nach außen wirksame Ursächlichkeit der Seele argumentieren. Die Vorsehung wirkt gemäß Plotin im intelligiblen Bereich, während die heimarmenê (neben anderen Ursachen) im Bereich des Werdens zu verorten ist (III 3,5,15–18; s. Kap. 48). Die pronoia wird so insbesondere von Zufälligkeit (tychê) fern- und freigehalten (III 2,1,1–5). Vorsehung bedeutet nach Plotins Ansicht nun keine göttliche Einflussnahme auf die individuelle menschliche Biographie – eine Position, die Platon mancherorts (bevorzugt in mythologischen Kontexten) zu vertreten scheint (Schubert 1968, 27–29). Eine solche „Vorsehung für das Einzelne“ (pronoia eph’ hekastô) grenzt Plotin von der göttlichen „Vorsehung für das All“ (pronoia tou pantos) ab (III 2,1,10–15). Vorsehung im letztgenannten Sinn bedeutet, dass der Kosmos (mittelbar) durch den Geist hervorgebracht wird und makrostrukturell ein dem Geist gemäßes (kata noun) Abbild ist (III 2,1,21–26; s. Abschn. 17.5). Dass die Vorsehung des Geistes den Bereich des Werdens nicht determiniert, obwohl sie dafür sorgt, dass im intelligiblen Bereich „alles rationale Gestalt“ ist (III 3,5,16–18), begründet Plotin mit dem Einheitsverlust, den die Wirkung der Vorsehung beim vermittelnden Abstieg in die sinnlich wahrnehmbare Welt erfährt. Die pronoia ist dort nicht selbst wirksam, sondern sie ‚artikuliert‘ ein differenziertes, rationales Prinzip (merizomenos […] logos), das sich mit der indeterminierten

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Materie der sinnlich wahrnehmbaren Welt „vermischt“ und ihr eine (niemals vollkommen beständige) Grundstruktur verleiht (III 3,5,20; 6,11–13). Einerseits behält auf diese Weise die göttliche Vorsehung in dem ihr eigentümlichen Bereich uneingeschränkte Geltung. Andererseits besitzen rationale Prinzipien wie die menschliche Seele in einem niederen Wirklichkeitsbereich – dem Einflussbereich des logos der Vorsehung – Raum für freies, selbstbestimmtes Handeln. Für das Verhältnis von Vorsehung und menschlichem Handeln ergibt sich, dass schlechte Handlungen weder von der Vorsehung verursacht werden (hypo pronoias) noch gemäß der Vorsehung (kata pronoian) geschehen, während gute Handlungen ebenfalls nicht von der Vorsehung verursacht werden, dafür aber gemäß der Vorsehung und „im Einklang mit ihrem logos“ geschehen (III 3,5,46–54). Das Handeln der Seele ist demnach genau dann gut (und frei), wenn sie rational – das heißt gemäß der Vorsehung und im Einklang mit deren logos – handelt.

21.2.4 VI 8 [39]: Göttliche und menschliche Freiheit Einen innovativen und komplexen Beitrag zur antiken Freiheitsdiskussion liefert Plotin in Enneade VI 8 [39] (vgl. grundlegend Nölker 2016 und neuerdings Coope 2020, 73–106). Den Ausgangspunkt der Schrift bildet die Frage, was „in unserer Macht“ (eph’ hêmin) stehe. Gleich zu Beginn des Traktats stellt Plotin die Überlegung an, ob es möglich sei, nicht nur Menschen, sondern auch den Göttern und dem Einen Freiheit zuzuschreiben (VI 8,1,1–8). Göttliche und menschliche Freiheit sind, wie sich zeigt, keine sachlich getrennten Themen, sondern Plotin versucht zu demonstrieren, wie menschliche Freiheit in der Freiheit der höheren Prinzipien gründet (Mesch 2007, 77). Auf der Folie einer kurzen Auseinandersetzung mit der menschlichen Freiheit wendet sich Plotin in VI 8,5 der Freiheit des Geistes zu. Ab VI 8,7 ist die Freiheit des Einen das

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bestimmende Thema. Plotin leitet in diesem Abschnitt eine ausführliche Verteidigung der Freiheit des Einen gegen die „kühne Behauptung“ (tolmêros logos) ein, es sei durch Zufall oder Notwendigkeit entstanden bzw. geformt (VI 8,7,11–15). Plotin entwickelt in der Schrift VI 8 eine Art Stufentheorie der Freiheit, indem er zeigt, wie Freiheit ausgehend von der sehr stark restringierten menschlichen Handlungsfreiheit über die Freiheit des Geistes bis hin zur absoluten Freiheit des Einen in immer stärkerem Maße realisiert wird. Hans Krämer hat überzeugend vertreten, dass Plotin zwei Aspekte des Freiheitsbegriffs im Blick hat: zum einen die ‚negative‘ Freiheit von äußerem Zwang, zum anderen die ‚positive‘ Freiheit, ein eigenes Selbst zu realisieren und zu bewahren. Diese beiden Aspekte lassen sich als Implikate des griechischen Autarkiebegriffs verstehen (Krämer 1977, 262), der freilich in VI 8 selten explizit auftaucht. Die gleichwohl zentrale Bedeutung des Autarkiebegriffs wird nachfolgend noch deutlich werden. Vor dem Hintergrund der skizzierten Stufentheorie der Freiheit verwundert es nicht, dass Plotin den Bereich der menschlichen Praxis zunächst vor allem mit Blick auf die Einschränkungen betrachtet, denen er unterliegt: Menschliches Überlegen ist irrtumsanfällig, die Seele wird von körperlichen Leidenschaften beeinflusst und viele Strebungen des Menschen sind Ausdruck seiner Bedürftigkeit, mithin zwanghaft (VI 8,2,12–21; 3,10–17; 12,3– 11). Nicht einmal tugendhaftes Handeln steht (völlig) in unserer Macht, da tugendhafte Handlungen bestimmte äußere Voraussetzungen erfordern (VI 8,5,3–13). Wenn der gesamte Bereich der Praxis durch Zwang bestimmt oder bestenfalls – sofern er durch das Denken bestimmt wird – „gemischt“ ist (VI 8,2,35–37), dann stellt sich die Frage nach dem Ort wahrer Freiheit. Diese Frage leitet die Vermittlung der Themen von menschlicher und göttlicher Freiheit ein. Plotin hatte zunächst zu bedenken gegeben, dass tugendhafte Handlungen immer nur Reaktionen auf den Zwang bestimmter äußerer Anlässe seien. Eine tugendhafte Seele ist allerdings, wie Plotin nun sagt, nicht S ­ klavin d­ ieser

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äußeren Geschicke, sondern die Tugend moderiert die Affekte und Strebungen der Seele, die im Zusammenspiel mit äußeren Einflüssen entstehen, und verleiht ihr so das eph’ hêmin (VI 8,5,27–35). Plotins Verweis auf die Äußerlichkeit des eigenen Handelns (VI 8,4,9) und die damit einhergehende Verinnerlichung des „in unserer Macht Stehenden“ zeigen deutlich die grundlegenden Konvergenzen von stoischem und plotinischem Innerlichkeitsdenken (ColletteDučić 2014, 425–427). Die Tugend vermag das eph’ hêmin gemäß Plotin zu verleihen, indem sie die Seele intellektualisiert und gleichsam zu einem zweiten Geist macht (VI 8,5,34–35: noôthênai; nous tis allos). Erst der Geist ist aber vollständig frei von materiellen Einflüssen und ist unabhängig, ungehindert und unbedürftig tätig (VI 8,6,26–36). Plotin stellt daher pointiert fest: „Das Materieunabhängige ist das Freie“ (VI 8, 6,26–27: to ahylon esti to eleutheron). Im materieunabhängigen Wirklichkeitsbereich gründet die menschliche Freiheit bzw. auf diesen lässt sie sich zurückführen (VI 8,6,26–31). Plotin argumentiert folglich, dass die Seele durch den Geist (dia nou) und der Geist aus sich selbst heraus (di’ hauton) frei sei (VI 8,7,1–3). Der Beweisgang hat an dieser Stelle nur scheinbar einen natürlichen Abschluss erreicht. Denn auch die Freiheit des Geistes ist zuletzt eine relative Freiheit, die auf das Eine-Gute bezogen ist und von ihm abhängt (VI 8,6,39–7,7). Die Fundierung der niederen Stufen von Freiheit steht an dieser Stelle vor einem Problem. Denn wie ist es wiederum um die Freiheit des Einen bestellt? Kann einem unverursachten Prinzip wie dem Einen Freiheit zugeschrieben werden, oder ist es nicht vielmehr durch Zufall oder Notwendigkeit so, wie es ist? Aus moderner Perspektive betrachtet entwickelt Plotin eine kritische Auseinandersetzung mit dem bisweilen so genannten ‚Principle of alternative possibilities‘ – er argumentiert für die Freiheit des Einen, obwohl dieses nicht anders sein kann, als es ist (VI 8,9,9–15). Plotins nachfolgend skizzierte Überlegungen sind innerhalb der Enneaden methodisch singulär. Sie zielen darauf ab, mithilfe einer (vorläufigen) positiven Theologie des Einen (s. Abschn. 24.3) die Freiheit des höchs-

B. Krämer

ten Prinzips als eine noch über die Freiheit der dauerhaften, unbehinderten Aktualität des Geistes erhabene Form von Freiheit zu erweisen. Zu diesem Zweck denkt Plotin das Eine als selbstursächlich: Die Unabhängigkeit von allen vorgängigen Ursachen bedeutet, dass sich das Eine „selbst erzeugt“ bzw. seine „quasi-Substanz“ (hoion ousia) nach seinem Willen selbst „hypostasiert“ (VI 8,13,27; 13,50–59; 17,24–27). Die zahlreichen positiven Aussagen, die Plotin in der Enneade VI 8 über das Eine macht, sind insofern problematisch, als sie sich nicht ohne Weiteres mit seiner strikten Henologie und der Seinstranszendenz des Einen vereinbaren lassen. Auch die Rede von der Selbstursächlichkeit erfordert eine genaue Betrachtung, da das Verhältnis des schaffenden und des geschaffenen Momentes einsichtig gemacht werden muss. Was die Selbstursächlichkeit betrifft, so führt Plotin aus, dass die Quasi-Substanz und der Wille des Einen sich wechselseitig bestimmen oder sich – mit Werner Beierwaltes gesagt – in einem Verhältnis der „intensive[n] gegenseitige[n] Verschränkung“ befinden (VI 8,13,29–31; Beierwaltes 1999, 204 mit Anm. 54). Plotin weist allerdings nachdrücklich auf die Uneigentlichkeit der paradoxen Rede von der Selbstursächlichkeit hin (vgl. zudem die axiomatische Zurückweisung des causa suiPhilosophems in VI 8,7,25–26): Die wechselseitige Bestimmung der einzelnen Momente des Einen kann nicht im eigentlichen Sinne behauptet werden, da überhaupt nichts, das passiv erzeugt oder beherrscht wird, ‚in‘ dem Einen existiert (VI 8,20,4–5; 20,24–30). Die dem Einen zeitweilig zugesprochenen positiven Bestimmungen wie Selbstliebe, Selbstbetrachtung, Neigung zu sich selbst (VI 8,15,1; 16,18–24), die einen höchst intensivierten Selbstbezug des ersten Prinzips suggerieren, werden so ebenfalls wieder zurückgenommen. Sie werden gewissermaßen bis zur Aufhebung gesteigert. Denn die Pointe von Plotins Argumentation ist, dass nur das vollkommen einheitliche Eine im vollsten Sinne frei ist, da es nicht einmal auf sich selbst bezogen ist und von sich selbst „beherrscht“ wird. In seiner völligen Unabhängigkeit und Übermächtigkeit darf es nicht mehr „selbstbeherrscht“, sondern nur noch „herrschend“ (ar-

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chôn) genannt werden (VI 8 20,28–33; 21,30– 33; Halfwassen 2015, 364–368). Die absolute Freiheit des Einen ist die Form von Freiheit, die seiner strikten Transzendenz und Einheit entspricht – eine Freiheit, die das Eine jenseits des Seins und „auf überseiende Weise es selbst“ sein lässt (VI 8,14,42: hyperontôs autos; VI 8,19,13). Da das Eine sich selbst nicht bestimmt und sich nicht bewahrend auf sich selbst bezieht, liegt es „jenseits der Autarkie“ (V 3,17,13–14: epekeina autarkeias). Als Prinzip des Geistes gewährt es diesem die höchste Form relativer Autarkie, was bedeutet, dass der Geist unabhängig von allem anderen Seienden sein kann, was er ist (VI 8,15,23–28). Vermöge der durch den Geist vermittelten Einheit und der Teilhabe am Geist als dem substantiellen Seienden gewinnt auch die Seele eine (noch etwas eingeschränktere) Form von Autarkie (V 3,17,6–13; VI 8,12,3–16). In diesem Zusammenhang macht Plotin den Fundierungscharakter seiner freiheitstheoretischen Argumentation in Enneade VI 8 explizit: Als Prinzip, das aus seiner absoluten Freiheit heraus den Geist und, vermittelt durch den Geist, die menschliche Seele frei macht, liegt es geradezu im Wesen des Einen, das ihm Nachgeordnete frei zu machen. Für Plotin ist es daher auch „das Befreiende“ (VI 8,12,17–19: eleutheropoion; Mesch 2007, 84–85).

Literatur Beierwaltes, Werner: Causa sui. Plotins Begriff des Einen als Ursprung des Gedankens der Selbstursächlichkeit. In: John J. Cleary (Hg.): Traditions of Platonism. Essays in Honour of John Dillon. ­Aldershot

217 1999, 191–226 [wieder abgedruckt in: Beierwaltes, Werner: Das wahre Selbst. Frankfurt a. M. 2001, 123–159]. Collette-Dučić, Bernard: Plotinus on founding freedom in Ennead VI 8 [39]. In: Pauliina Remes/Svetla Slaveva-Griffin (Hg.): The Routledge Handbook of Neoplatonism. New York 2014, 421–436. Coope, Ursula: Freedom and Responsibility in Neoplatonist Thought. Oxford 2020. Eliasson, Erik: The Notion of That Which Depends On Us in Plotinus and Its Background. Leiden/Boston 2008. Forschner, Maximilian: Die Philosophie der Stoa. Darmstadt 2018. Halfwassen, Jens: Auf den Spuren des Einen. Tübingen 2015. Kalligas, Paul: The Enneads of Plotinus. A Commentary. Bd. 1. Princeton 2014. Krämer, Hans: Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike. In: Josef Simon (Hg.): Freiheit: theoretische und praktische Aspekte des Problems. Freiburg/ München 1977, 239–270. Leroux, Georges: Plotin. Traité sur la liberté et la volonté de l’Un [Ennéade VI,8 (39)]. Paris 1990. Mesch, Walter: Plotin: Metaphysik gestufter Freiheit. In: Uwe an der Heiden/Helmut Schneider (Hg.): Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen. Stuttgart 2007, 74–86. Nölker, Philipp: Freiheit Gottes und Freiheit des Menschen bei Plotin (Enneade VI 8). Münster 2016. Pietsch, Christian: αἰτία ἑλομένου – Menschliches Entscheiden und Handeln zwischen Freiheit und Determination im Platonismus der Kaiserzeit. In: Christian Pietsch (Hg.): Ethik des antiken Platonismus. Der platonische Weg zum Glück in Systematik, Entstehung und historischem Kontext. Stuttgart 2013, 191–218. Schubert, Venanz: Pronoia und Logos. Die Rechtfertigung der Weltordnung bei Plotin. München 1968. Smith, Andrew: Plotinus on Fate and Free Will. In: Andrew Smith: Plotinus, Porphyry and Iamblichus. Farnham 2011, Nr. VII. Song, Euree: Aufstieg und Abstieg der Seele. Diesseitigkeit und Jenseitigkeit in Plotins Ethik der Sorge. Göttingen 2009.

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Geist Thomas Leinkauf

22.1 Die Abkunft des Geistes vom Einen-Guten und der Geist als ‚Gott‘ Das Denken und der Geist ist „nichts Erstes, weder dem Sein noch dem Rang nach, sondern Zweites und Gewordenes“ (V 6,5,5–6: οὐ πρῶτον οὔτε τῷ εἶναι οὔτε τῷ τίμιον εἶναι, ἀλλὰ δεύτερον καὶ γενόμενον). Er ist nach dem Guten (agathon) bzw. dem Einen (hen), das schon „existierte“ oder „da war“ (V 6,5,6: ­hypestê – in einem vor dem Sein liegenden Sinn von ‚zugrunde liegen‘; vgl. VI 7,18,6; Dörrie 1955, 68–69; Beierwaltes 2010, 12: „auf dem gegebenen Grund selbst stehende Gestalt“) und das den Geist und sein Denken „auf sich hin orientierte“ (V 6,5,7: ekinêse pros hauto). Als in seinen Ursprung denkend zurückgewendetes Sein ist der Geist ein „Bild“ des Einen (V 1,7,1: eikona ekeinou; V 4,2,25–26: mimêma kai eidôlon ekeinou; s. Abschn. 17.3), das durch die Bewegung des Denkens und Strebens (ephesis) nach dem Guten (dem Ersten, dem Schönen) entsteht (V 5,5,9; zur Verbindung von Denken und Überlegen mit ‚Streben‘ vgl. auch IV 4,12,5–7). Kann aber, wie Plotin immer wieder eindringlich herausstellt, vom Einen nichts

T. Leinkauf (*)  Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

g­esagt werden, was es nicht wieder zu einem Vielen machte (V 3,11,3–4: das Eine-Jenseitige „vervielfältigt“ sich durch sein GedachtWerden; s. Abschn. 43.6), so kann es stricto sensu auch kein Ur-Bild sein, von dem es ein Bild, eben den Geist, geben könnte. Die Ausdrücke, die den Geist zum „Bild“ des Einen erklären, müssen mit Vorsicht zur Kenntnis genommen und mit den vielen anderen, systematisch schlüssigeren Passagen verglichen werden, in denen der Geist das „Ur-Bild“ ist, dessen „Bild“ die Seele ist (V 3,6,16–18; 7,31–34; 8,9– 10 mit Bezug auf Plat. Tim. 52c; Beierwaltes 1991, 122–123; Beierwaltes 2001, 101–102 zum „Geist-Werden“, noôthênai, der Seele; s. u. Abschn. 22.5). Da außer oder neben dem Ersten (dem Einen-Guten) schlechthin nichts oder nur das Nichts sein kann, kann Sein, sofern es selbst (selbständig) ‚ist‘, nur aus diesem irgendwie kommen. Plotin versucht dieses Herkommen, Entstehen, Zustande-Kommen in vielfältiger Weise als Zum-Sein-Kommen des Geistes zu denken (vgl. Leinkauf 2018a). Neben der Strebe-Bewegung (zum Guten), die vom Zweiten ausgehen muss, gibt es an einer Stelle vielleicht auch eine Erklärung aus einer Zurückwendung des Einen in sich, in welcher und durch welche als durch ein „Sehen“ der Geist als dieses Sehen entsteht: „dadurch, dass es sich zu sich selbst/zu ihm hinwendet und sieht; dieses Sehen aber ist der Geist“ (V 1,7,5–6: ὅτι τῇ ἐπιστροϕῇ πρὸς αὑτὸ [HS2]/αὐτὸ [HS1] ἑώρα·

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_22

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ἡ δὲ ὅρασις αὕτη νοῦς; vgl. V 1,6,18: ἐπιστραϕέντος ἀεὶ ἐκείνου πρὸς αὑτὸ [HS2]/ αὐτὸ [HS1]). Das heißt aber doch: es ist nicht das Eine, das sich (reflexiv) erblickt, sondern der Geist, dessen erster Selbst-konstitutiver Akt durch die schauend-blickende Wendung zum Einen bedingt wird (vgl. II 4,5,33–34: ὁρίζεται δέ, ὅταν πρὸς αὐτὸ ἐπιστραϕῇ; V 2,1,10–11: ἐγένετο πρὸς αὐτὸ βλέπον; Beierwaltes 2010, 14–16; O’Brien 1997, 71–72; 96–97). Es ist eine crux interpretationis, ob man hier, vor allem in V 1,6,18 und V 1,7,6, (reflexiv) hauto oder (nichtreflexiv) auto lesen soll (ich selbst würde mit Werner Beierwaltes und anderen dafür plädieren, nicht reflexiv zu lesen; vgl. Beierwaltes 2001, 22; Halfwassen 2006, 134–138; Tornau 2011, 351–352; s. auch Abschn. 24.3.2). Es bleibt jedoch eine grundsätzliche und auch systematische Irritation: Selbst wenn der Geist durch sein eigenes ‚Sehen‘ oder ‚Denken‘ sich als den das Eine Sehenden-Denkenden selbst konstituiert, woher legitimiert sich die Rede davon, dass er dennoch vom Einen herkommt, ein Zweites/Zweiter in Bezug auf dieses ist? Plotin sagt jedenfalls mit großer Klarheit, dass „sich das völlig [oder: ganz und gar] Einfache nicht auf sich selbst zurückzuwenden vermag und auf das denkende Erfassen seines selbst“ (V 3,1,3–4: ὡς τοῦ ἁπλοῦ παντάπασιν ὄντος οὐ δυναμένου εἰς ἑαυτὸ ἐπιστρέϕειν καὶ τὴν αὑτοῦ κατανόησιν) – selbst wenn das Hauptaugenmerk hier in der Folge auf die in sich differenzierte Einheit des Geistes gerichtet ist, so gilt doch vom „schlechthin“ oder „ganz und gar“ Einfachen (oder Einen), dass es keinen vielfältigen/-fachen/-heitlichen Selbstbezug in ihm, für es und auf es selbst geben kann (s. Abschn. 18.1). So wie das Eine Nicht-Sein und Nicht-Denken ist, so ist der Geist Sein und Denken im Sinne ‚klarer‘, durchsichtiger Reflexivität (V 5,2,15: der Geist „ist sich selbst evident“, enargês autos hautô; V 8,4,4: „es ist ja alles transparent“, diaphanê gar panta), er ‚steht‘ oder ‚ruht‘ sozusagen ohne jedes Streben, ohne jeden Mangel und ohne jedes „Umlaufen“ (V 5,1,45; 2,10: peritheîn, perieltheîn) in der absoluten Gewissheit und in dem absoluten Wissen. Andererseits ist das Eine-Gute, als Erstes,

T. Leinkauf

auch „Quelle des Geistes“ (VI 9,9,1: pêgê nou; neben „Quelle“ verwendet Plotin auch „Wurzel“ (rhiza, III 8,10,13–14). Der Geist ist Vieles aus einem Nicht-Vielen, er ist nicht Vieles aus Vielem (V 3,16,12–14). Er ist Fülle aus der ÜberFülle (V 2,1,8–9: hyperplêres), d. h. die Vielheit in ihm ist nicht Produkt additiver oder kumulativer Prozesse und Akte (III 8,8,48: synthesis […] ek moriôn), sondern Resultat der Selbst-Mitteilung eines schlechthin transzendenten Grundes, der Nichts von Allem ist (III 8,9,53–54; V 5,13,28: ouden tôn pantôn). Das Eine bleibt das Nicht-Sein des Geistes (des Ein-Vielen), der Geist hingegen das (erste) Sein des Einen, der strikten Nicht-Einheit, in der Form höchstmöglicher Ein-Vielheit (hen polla im Sinne aktualer Allheit; das Eine ist hingegen Allheit im Sinne der „Fähigkeit zu allem“, dynamis pantôn; vgl. V 4,2,38–39). Dieser Geist als erstes Sein und höchstmögliche, in sich vollendete, abgeschlossene Ein-Vielheit wird von Plotin auch mehrfach als „Gott“ (theos) bezeichnet („Gott“ im Sinne eines Prädikatterms; vgl. V 1,2,42–43; V 8,3,23–24; V 8,9,8–9; III 4,2,15; V 3,7,1–7; s. Abschn. 24.1). Der Geist ist der „All-Gott“ oder „ganze Gott“ (V 5,3,1–4: pas theos), der „alle Götter“, die mit den Ideen in ihm identisch sind, umfasst und in eine absolute selbstidentische Einheit fügt (V 8,9,15–18). Als solcher All(es)Gott ist er ein „großer Gott“, der allerdings gegenüber dem Einen als „zweiter“ Gott zu denken ist, der „sich selbst zeigt, bevor man Jenen sieht“ (V 5,3,1–4; dazu Dörrie 1970, 227–230). Anstelle der Denomination ‚Gott‘ verwendet Plotin auch manchmal die politische Metapher „König“ (basileus, z. B. V 3,3,45), die allgemein ein normatives Durchwirken und Beherrschen anzeigt (V 3,3,8; 4,17: „Richtschnur“; V 3,4,1– 3: „Gesetze“) und ansonsten dem Einen zukommt (V 3,12,41–42), das als der „große König“ (megas basileus) vom Geist abgesetzt wird (V 5,3,9–10; II 9,9,34–35; vgl. VI 7,42,9– 10 nach Ps.-Plat. epist. 2, 312c; Dörrie 1970, 224–235). In einer anderen Wendung, jetzt aus der Perspektive der aufsteigenden, sich selbst auf ihren Grund hin befragenden Seele, ist der Geist das der Seele von Gott oder dem König (dem Geist selbst) „Gegebene“ oder genauer „all

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das Gegebene“ (V 3,7,6–7: panta ta dothenta autos). So stellt Plotin einen dynamischen, vom Einen bis zur Geistseele reichenden Spannungsbogen des Sich-Mitteilens des Einen in verschieden gestuften Modi des Vielheitlichen dar, dessen jeweilige Aktivität durch das ‚Sich-Geben‘, ‚Sich-Mitteilen‘ oder ‚Sich-Gewähren‘ des je Höheren bestimmt ist (didonai, parechein, parachôrein; hierzu Beierwaltes 2001, 94–97). Diese philosophischen Metaphern kennzeichnen einen Kausalitätsbegriff des Gründens (hyphistanai, ‚Setzen‘), Erzeugens (gennan) und Hervorbringens (poiein), der zum einen in der allumfassenden Mächtigkeit des Einen wurzelt (III 8,10,1: dynamis pantôn; neben seinen platonischen Wurzeln weist dieser Gedanke mit dem Motiv des Übergangs von Möglich-Seiendem zu Wirklich-Seiendem deutliche aristotelische Implikationen auf), zum anderen jedoch in der unvorgreiflichen ‚Freiheit‘ des Sich-Gewährens, des neidlosen Überfließens (aphthonôs: V 2,1,8; V 4,1,34–36 nach Plat. Tim. 29e), Sich-Darreichens (chorêgein) und „freien Gebens“ (IV 8,6,23: hoion en chariti dontos; VI 7,22,7; s. Abschn. 21.2). Da der Geist im oben angedeuteten Sinne in der ‚Kette‘ dieser Kausalität steht, ist auch sein Sich-Mitteilen an die Seele durch dieselben Formen von Kausalität geprägt (vgl. zur Kausalität bei Plotin: D’Ancona Costa 1996; zur späteren Theorie des diffusivum sui: Kremer 1987; s. auch Kap. 29).

22.2 Der Geist als Einfachheit und Vielheit Der Geist ist für Plotin also erste Vielheit in einem radikalen Sinne: keine andere Vielheit ist so wie die des Geistes absolut abgeschlossen und vollendet, d. h. so verfasst, dass man zu ihr nichts hinzufügen oder hinwegnehmen kann, ohne ihr wesentliches Sein, ihr Geist-Sein, aufzulösen. Jede andere Form der Vielheit, sei sie ontologisch, epistemologisch, psychologisch oder physisch geprägt, kann daher in einem radikalen Sinne nicht Geist sein. Der Geist ist also als Vielheit absolut (teleiôs) abgeschlossene Vielheit oder Allheit (Totalität), abgeschlossen

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im Sinne der Vollkommenheit (teleiotês), erfüllte Vielheit (V 2,1,9–13; VI 7,16,31–35), „bunt und einfach“ zugleich (VI 4,11,15–16: to poikilon haploun). Der Geist ist aber für Plotin auch zugleich erstes Sein in der Weise, dass er die Allheit seiner Momente so ‚ist‘, dass dieses Sein in Eins auch ein oder sein (eigenes) ‚Gedacht‘-Sein ist (s. Abschn. 41.2). Das Sein des Geistes ist sein Denken, und zwar als actus exercitus, in welchem Gedachtes, Denkendes und Denkvollzug, im Aufgriff von Aristoteles’ Metaphysik (Λ 7 und 9), eine untrennbare Einheit bilden (V 3,5). In diesem Sinne hat Plotin auch durchgehend das Fragment des Parmenides über die Identität des Seienden und des Denkbaren verstanden (fr. B 3 DK: to gar auto noein estin te kai einai, zusammen zu sehen mit Parm. fr. B 8 DK, inbesondere B 8,3–6; 25; 43), das nach seiner Interpretation besagt: „Dasselbe ist Denken und Sein“ (vgl. V 1,8,17–18; V 9,5,29– 30; VI 7,41,18: to einai autô tauton; Beierwaltes 1980, 14–16). Plotin macht indes klar, dass Platon hier „genauer“ differenziere, wenn er seinen Parmenides drei abgestufte Eine („Eines“, „Eines-Vieles“, „Eines und Vieles“) einführen lasse (V 1,8,23–27). Plotin skizziert hier das Grundmuster aller neuplatonischen Parmenides-Interpretation (sowohl des historischen Parmenides von Peri physeôs als auch des Platonischen Dialogs Parmenides; so verknüpft Plotin etwa in V 1,8 die Interpretation der Prädikate des einen Seienden aus Parm. fr. B 8,5–6 DK mit derjenigen der zweiten Hypothesis des Parmenides, wo dem ‚zweiten Einen‘ alle Prädikate zugesprochen werden; vgl. Beierwaltes 2001, 42–43). Das absolute, reine Eine ist, weil ihm als Ursprung von Allem nichts mangeln kann, ebenfalls Alles oder Allheit, jedoch so, dass diese jedes Sein und jedes Denken und Erfassen schlechthin transzendiert (nach Plat. rep. 6, 509b: epekeina tês ousias; Beierwaltes 1985, 38–72) und sich somit außerhalb des Bereichs der ‚Sagbarkeit‘ oder Logos-Konformität befindet (VI 9,6,11–12; V 3,11,28; V 3,12,47– 48: es ist „jenseits des Geistes“; V 3,16,40: der Geist ist nur „Nachahmung“, mimêma, dieser unendlichen Kraft). Dagegen ist der Geist als absolute Vielheit eine Ein-Vielheit, die zwar

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die direkt anzeigende, definitorische Kraft des Logos übersteigt, dennoch aber im komplexen dialektischen, auf der Grenze des Logos befindlichen Horizont des Propositionalen noch sinnvoll abgebildet oder zumindest angezeigt werden kann (s. Abschn. 43.5). Plotin hat dies vor allem in der fünften Enneade, die die ganze (in sich kurze) Zeit seiner Produktivität begleitet hat, aber auch an mehreren Stellen der dritten in vielen Anläufen dargestellt. Ein Gipfelpunkt ist hierbei sicherlich der Text V 8,3–4. Als erste Vielheit ist der Geist in gewisser Weise ‚nach‘ dem Einen, das jenseits jeder Vielheit und als radikal erster Ursprung von Allem zu denken ist, anzusetzen. Dieses ‚nach‘ allerdings ist nicht temporal zu verstehen, sondern kausal, im Sinne eines Sach-logischen Her-Kommens-von, das grundsätzlich das Verhältnis der Hypostasen untereinander, also auch dasjenige von Geist und Seele, kennzeichnet. Zeit ‚beginnt‘ (in gewisser Weise anfangslos) erst im Horizont des Seelischen und im entfaltungslogischen Übergang zur Physis (III 7,11–13; s. Abschn. 50.4). Dass der Geist eher ‚sagbar‘ ist als das Eine und dass ihm eine gewisse Dichte der propositionalen Applikation zukommt, die den Logos nicht in der gleichen Weise scheitern sieht wie es ihm hinsichtlich des absolut unsagbaren Einen begegnet, liegt daran, dass das immediate Explikat des Geistes, die Seele als nächste Hypostasis, selbst Logos ist: die Seele ist logos nou (V 1,3,7–9; Volkmann-Schluck 1966, 46–59; Beierwaltes 2010, 50–61). Insofern das erste genuine Explikat des Geistes der Logos ist, kann der Geist selbst als vorgreifende Einfaltung des Logos begriffen werden, die auch in dessen Entfaltung (III 7,11,24: exelittein; vgl. IV 3,5,9–10) noch als ko-präsente Einheit gegenwärtig bleibt, die jeweils den Sinn dessen vorgreifend konstituiert, was die diskursive Semantik aus ihren einzelnen Momenten erst noch herzustellen hat. So ist die dialektische Allheit des Geistes der Horizont der diskursiven Vielheit des seelischen Logos, so wie das Eine selbst der Horizont des Nous und der noetischen Operationen ist; und gerade aus dem definitorischen Umkreisen des Seins und Wesens des Geistes sind die größten Herausforderungen

T. Leinkauf

der sprachlichen Leistungsfähigkeit und zugleich die schönsten Exempel von Plotins Metaphorik erwachsen. Das dialektische Grundwesen des Geistes führt Plotin zu begrifflichen Formulierungen, die von uns aus gesehen als entschiedene Vorgriffe auf die spekulative Dialektik Schellings und Hegels erscheinen (die sich erwiesenermaßen im Rückbezug auf Plotin und Proklos selbst konstituiert hat, vgl. Beierwaltes 1972; Beierwaltes 1985, 64–72; 193–225; Halfwassen 1999; Leinkauf 2019; s. Kap. 60 und 61). So findet im Geist das Denken (oder die Relation von Denken, Erkennen und Wahrheit) die Wahrheit seines ‚Gegenstandes‘ (nämlich seiner selbst als des Seins) „nicht außerhalb“ seiner selbst, sondern „im Nus als das Andere ihrer [d. h. der Denkbewegung] selbst“ (Beierwaltes 2001, 35). Der Geist ist „Sitz des Seins“ (hedra […] tois ousi) und zugleich dessen verlebendigendes Prinzip (V 5,2,11), er ist die „wahrhafte Wahrheit“ (V 5,2,18: hê ontôs alêtheia), die „ist, was sie sagt und sagt, was sie ist“ (V 5,2,20: ἀλλ’ ὃ λέγει, καὶ ἔστι, καὶ ὅ ἐστι, τοῦτο καὶ λέγει; zur Interpretation vgl. Beierwaltes 2001, 35; vgl. auch VI 8,17,13–14). Der Geist ist das erste Sein und Erstes ist dieses Sein als substantielles Denken. Er ist nichts Anderes als gedachtes Sein und seiendes Denken in Einheit (VI 7,16–18; Leinkauf 2018a). Er ist ‚immer schon‘ radikale Vielheit und damit nicht-temporal ‚nach‘ dem Einen, auch wenn er diese wurzelhafte Vielheit selbst wiederum als noetische Einheit, d. h. als vermittelte, im höchsten Sinne dialektische Einheit ist. Er ist das zum Sein und ‚zum Stande‘ (hestia, hestôs: V 5,5,18– 19; III 7,3,35) gekommene oder ‚gewordene‘ Eine; oder er ist das Sein des Einen, das nur als Einheit von Sein und Denken sein kann. Der Geist wird und ist er selbst durch (zeitfreie) kreishafte Rückwendung in seinen Ursprung (V 1,7,5–10). Der Geist ist als in den Kreis entfaltetes Eines immer konstitutiv auf das Eine als sein ‚Zentrum‘ (als Ursprung-Grund) bezogen (VI 8,18): vom Zentrum (Einen) her hat er sein Geist-Sein, im Zentrum ist er als in seinem Ursprung (als „Quasi-Geist“, so Beierwaltes 2010, 17 zu VI 8,18,21–22: τὸν οἷον ἐν ἑνὶ νοῦν οὐ νοῦν ὄντα). Das Sein des Einen ist nicht mehr

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das reine, absolute Eine, welches daher als vorseiend oder ‚jenseits‘ des Seins zu denken ist. Es hat, um es so zu sagen, dessen über-seiende Einheit verlassen in einem – aus Plotins henologischer Sicht – descensus (Abstieg) zu einer ersten Vielheit, die als „seiendes Eines“ (VI 2,7,22; 9,8: hen on) im Sinne eines „Ein-Vielen“ zu denken ist (hen polla: V 1,8,25–26; VI 7,14,11–12; vgl. V 3,11). Der direkt an die zweite Hypothesis des Parmenides (Plat. Parm. 142b–143a: „wenn das Eine ist“) anknüpfende Gedanke des seienden Einen wird in vielfältiger Weise den ganzen späteren Neuplatonismus von Porphyrios bis zu Damaskios bestimmen (s. Abschn. 51.1); hier bei Plotin ist aber seine Grundgestalt schon präzise gegeben. Das Erste ‚nach‘ dem Einen ist Sein als seiendes Eines (als „wahrhaft Seiendes“ und nicht als nur seiendes Sein: vgl. V 9,3,2; VI 8,9,29–30, vielleicht mit Blick auf Plat. Phaidr. 247c), das sein Sein durch sein Denken absolut mit sich vermittelt hat. ‚Absolut‘ heißt: das Sein des Geistes ist unvorgreiflich schon sein Gedacht-Sein. Der nous ist immer schon Sein der noêta, die Wirklichkeit (energeia) des selbstreflexiven Vollzuges (V 9,5,1–4: ton energeia(i) kai aei noun onta). Es gibt kein noch so minimales Sein, das nicht schon immer zugleich auch denkbar und gedacht ist. Plotin hat den Prozess des Zustande-Kommens des Geistes durch den Hervorgang des Einen ins Sein (genesis eis ousian: Plat. Phil. 26d) in einem faszinierenden, hochkomplexen Text skizziert (VI 7,16– 18; vgl. auch V 3,11; Leinkauf 2018a; Emilsson 2007, 69–123; Bussanich 1988, 149–171; 221– 236): vom ersten Anfang, in welchem das Denken „noch nicht einmal Denken“ ist (oupô nous), bis hin zur völlig erfüllten, vollkommenen, einer transparenten lebenden Kugel ähnlichen AllEinheit (V 1,8,14–15: sphaira; auch hier Anklang an Parm. fr. B 8,43 DK; vgl. VI 7,15,25; V 8,9,6–7), in der Sein und Denken ohne Mangel vermittelt sind (V 3,11,12–15). Die Seele als Logos des Geistes kann ja allererst aus der vollkommen in sich stehenden Einheit des Geistes als deren wiederum stabil in sich stehende, zugleich aber diskursive Einheit hervorgehen. Philosophisch musste Plotin in Bezug auf den Geist gerade diejenige komplexe Form von Sein

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begrifflich ausformulieren, die zwischen einer reinen Einheit und einer Vielheit steht, die in sich diskursiv vermittelt ist. Sofern dieses Sein als Geist gedacht werden sollte, musste es eine Struktur aufweisen, die sowohl Einheit als auch Vielheit in einer vor-diskursiven, d. h. dialektisch-spekulativen Synthesis vollständig zusammenbindet (V 3,12). In radikal jedem einzelnen Moment des Seins des Geistes ist dieses mit allen anderen zusammen zu denken als eine lebendige Einheit, die Plotin und später auch Proklos immer wieder an Platons lebendes und denkendes „Sein im vollkommenen Sinne“ zurückbindet (Plat. soph. 248e: pantelôs on; vgl. Procl. theol. Plat. 2,4, p. 36,17–22 Saffrey/Westerink; Krämer 1967, 194–207; zu Plotin Hadot 1960). Diese systematisch bedingte Eigenschaft des Geistes, seine substantielle, jedem ReflexionsAkt vorgreifende und dennoch – gegenüber dem absoluten Einen – prozesslos-resultative Einheit aus Einheit und Vielheit, Sein und Denken, Identität und Differenz ist nur aus der permanent wach zu haltenden Position eines sich selbst an seine Grenzen bringenden Denkens zu erfassen. Der Geist ist so allumfassende Alleswirklichkeit, jedes einzelne Moment ist in ihm „zugleich“ (im Sinne eines „Alles zugleich“, homou panta; vgl. V 9,6,8–9 mit Zitat von Anaxag. fr. B 1 DK; V 9,7,31; VI 7,16,32; III 7,3,37; Beierwaltes 2010, 177–178) auch die Allheit aller anderen Momente und die Einheit des Geistes selbst (III 8,8,40–45: jedes einzelne Element ist der ganze Geist und dieser ist Geist des Ganzen; V 1,4,26–27: Ἕκαστον δὲ αὐτῶν νοῦς καὶ ὄν ἐστι καὶ τὸ σύμπαν πᾶς νοῦς καὶ πᾶν ὄν). Eine Formulierung mit großer Wirkung in der Rezeptionsgeschichte bietet V 8,4,4–10: „Durchscheinend nämlich ist Alles und es gibt nichts Dunkles und nichts Widerständiges dort, sondern Jeder und Jedes ist Jedem ins Innere offenbar; Licht ist nämlich für das Licht Licht. Denn Jeder hat auch Alles in sich und sieht im Anderen Alles, sodass überall Alles ist und Alles Alles und Jedes Alles und unermesslich der Glanz“ (Übersetzung: Beierwaltes 1985, 57–58; zur Wirkungsgeschichte bei Marsilio Ficino oder Francesco Patrizi vgl. Leinkauf 2017, 601–604; s. Kap. 58; Abschn. 59.1). Aber er ist eben nicht

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in der Weise des Einen „überall und nirgends“ (III 9,4,1–9; V 2,2,20–21) oder das „Andere zu Allem“ (V 3,11,18: heteron hapantôn), sondern er ist in sich selbst uneingeschränkte, niemals konfuse Komplexität, die Allheit von Allem ohne das Aufheben des Einzelnen. Deswegen ist er „zugleich Alles und wiederum nicht Alles, da jedes Einzelne eine eigene Mächtigkeit ist“ (V 9,6,8–9).

22.3 Identität von Denken und Sein Denken ist diejenige Modalität, in der das ‚Sein‘ des Geistes zu seiner wesentlichen, nur ihm eigenen Vollzugsform oder Akthaftigkeit kommt (V 9,6,9: dynamis idia; zwar von den einzelnen Ideen und Denkgehalten des Geistes gesagt, aber sicherlich auch auf seine spezifische SelbstVollzugsform, nämlich das absolute, nicht-konfuse Ineinander von Einheit und Vielheit, übertragbar), aber in der auch überhaupt dasjenige, was über das Sein ausgemacht werden kann, sich begrifflich und Satz-logisch zum Ausdruck bringt (s. Abschn. 41.4). Aus der Sicht des Aristoteles gesagt: im Denken zeigt sich das Ergon oder die genuine Funktion des Geistes als sein Sein. Das Sein des Geistes ist sein Denken als absoluter, zeitfreier, vollkommener – also alles Denkbare tatsächlich actu als Gedachtes in sich behaltender – Akt (V 8,3–4; V 3,5; V 9,8,13– 15; VI 8,4,24–32). Obgleich Plotin (mit Aristoteles: an. 3,5, 430a23–24) davon ausgeht, dass Denken bei menschlichen, endlichen Akten der Rationalität sich seines Denkens nicht immer als dieses jeweiligen Denkaktes bewusst sein muss – ja dass ein solches Begleitbewusstsein die Konzentration auf die Sache selbst eher einschränken kann (I 4,10,21–33; IV 4,2 und 4; Schwyzer 1960; Schmitt 1994; s. Abschn. 16.2) –, ist doch der absolute Denk-Akt des Geistes (mit klarem Bezug auf Aristot. metaph. Λ 7–9, vgl. z. B. V 3,5,30–34) reines Selbst-Erfassen oder Selbst-Denken oder Selbst-Reflexion, das als vollkommene Einheit von Sein und Denken und als höchste Intensität der ihm ursprünglich eigenen Modalität des Denkens auch nur den höchsten möglichen und „besten“ Gegenstand

T. Leinkauf

(ariston, nach Aristot. metaph. Λ 7, 1072b18), nämlich sich selbst als absolut vollkommene Einheit von Sein und Denken oder als All-Einheit, zum Denk-Objekt haben kann (zur All-Einheit vgl. Beierwaltes 1985, 38–72). Indem der Geist denkt, also sein Wesen absolut verwirklicht und in Wirklichkeit setzt, denkt er das zuhöchst „Denkbare“ (noêton), das nichts Anderes ist als das Eine selbst (V 4,2,11–13) – aber so, wie es sich zuerst und ursprünglich ‚zeigt‘ oder ‚manifestiert‘, nämlich als erstes ins Sein oder als Sein Hervorgegangenes; und dies ‚ist‘ der Geist selbst. Entscheidend ist der Unterschied in der Verwendung des Begriffs ‚bester/ bestes‘ (aristos/ariston): Für Aristoteles ist der göttliche Intellekt sich selbst auch der höchste und „beste“ Gegenstand, für Plotin ist zwar „der Beste“ (aristos) durchaus Epitheton des EinenGuten (VI 7,33,14), aber der Geist kann es nur so denken, wie es in ihm und für ihn das Beste ist. Die (Selbst-)Reflexivität verstellt hier gleichsam den direkten Zugriff auf das an sich Beste. Insbesondere in der Schrift VI 7 [38] versucht Plotin zu zeigen, dass das Ins-Sein-Hervortreten, die genesis eis ousian, ineins und untrennbar zugleich auch ein Gedacht-Werden eben dieses Seins ist (Leinkauf 2018a). Das Eine ‚zeigt‘ sich daher primär eben als Geist, der das aktuale, vollständige, denkende Erfassen seines Seins ist. Denken als beständige Tätigkeit des Geistes ist exklusiv ein Denken eines Gegenstandes (des höchsten Seins, das der Geist ist) und nicht auch zusätzlich noch ein Bewusstsein oder Bewusst-Werden des Denkens selbst: er denkt ‚sich‘, aber als schon ‚sich denkend‘ – es tritt kein zusätzlicher psychologischer Selbstvergegenwärtigungsakt hinzu (IV 4,1; II 9,1,46– 51; Schwyzer 1960; Volkmann-Schluck 1966, 55–59 zu V 3,5; Halfwassen 1994; Aubry 2020). Plotin schließt es etwa für den Denk-Akt der Seele aus, dass so etwas wie das Cartesische oder idealistische ‚ich denke‘ im Akt des Denkens von Etwas aktual mit-gedacht werde oder präsent sein könne (IV 4,1,7–8: ἐν τῇ νοήσει οὐκ ἔστιν ἐμπεριεχόμενον τὸ ἐνενοήκειν). Vielmehr ist das Bewusstsein des Denk-Aktes „später“ (hysteron) und an die Propositionalität des Logos, an dessen „Durchgang“ (diexo-

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dos) und Diskursivität, gebunden (IV 4,1,8– 9; 15). Ist die Seele ‚im Geist‘ oder ‚als Geist‘ aktiv, so kann sie weder Erinnerung noch Diskursivität aufweisen, sondern partizipiert unmittelbar an der Selbstvollzugsform des Geistes (IV 4,1; s. Abschn. 19.3 und 35.2). Im Nous und auch im seelischen Logos ist das Gedachte (noêma) selbst „ungeteilt“ im Denken selbst einbegriffen, geht nicht „heraus“ und ist im Innern (im Denken, im Geist) „verborgen“ (IV 3,30,7– 8; II 9,1,37–40); erst in der begrifflichen Äußerung, im logos als Wort oder Begriff, tritt das Denken aus der intelligiblen Ungeteiltheit heraus in die Vielheit der Vorstellungswelt (eis to phantastikon) wie in einem Spiegelbild (IV 3,30,9–10). Der Geist als Geist steht also ‚jenseits‘ dieser Entäußerungsmodi, sein Denken fällt völlig mit dem Denkgegenstand im Akt des Denkens zusammen. Die Definitionsgrenze der Sache, die diese zur stabilen intelligiblen Einheit, zu einer ‚Idee‘, macht, ist immediates Produkt der Bewegung des Nous, in der diese sich selbst begrenzt und zu ständiger Ruhe bringt (II 9,1,30: energeia(i) […] hestosê, vgl. Procl. in Tim. 2,251,5 Diehl: kinêsis akinêtos; Gersh 1973). So denkt Plotin die „obersten Gattungen“ (megista genê) Platons in seiner GeistLehre dialektisch in Eins (VI 2,8,23–24; VI 7,13,1–25: der Geist ist alles „Andere“ und alles „Selbe“; V 2,1,9–13; II 2,3,20–21: hestêke gar kai kineitai; V 1,4,33–41; vgl. Plat. soph. 254e– 255a; Beierwaltes 2010, 30; s. Abschn. 28.3). Als diese jeder zeitlich-diskursiven, resultativen Einheit vorgreifende, lebendige Einheit aller Ideen und der sie sachlich konstituierenden kategorialen Strukturen ist der Geist – auf Basis der Auslegung Platons (soph. 248e–249a) – das „Lebewesen selbst“ (autozôon) oder „vollkommene Lebewesen“ (panteles zôon), das sich selbst vollständig lichthaft „durchsichtig“ (intelligibel) ist (VI 2,21,56–58; VI 6,17,39–42; V 9,9,7; VI 7,12,3 mit Bezug zu Plat. Tim. 39e– 40a; V 5,2,15: enargês autos hautô). Der Geist als ‚ständige‘ Bewegung ist „Ruhe“ (hêsychia), insofern diese selbst reine Wirksamkeit und Aktivität ist und in dieser Aktivität auf ewigstabile Weise das All und die Fülle des Seiend-­

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Intelligiblen in sich hervorbringt (V 3,7,13–18; V 9,8,7–8; III 2,1,30–31; III 7,11,15).

22.4 Der Geist als intelligible Welt Die intensive Verbindung des Gedankens der All-Einheit mit demjenigen des lebendigen Selbstvollzuges im Begriff des Geistes ermöglicht es Plotin, den Gedanken Platons von dem „intelligiblen Ort“ (Plat. rep. 6, 508c) und dem „überhimmlischen Bereich“ (Plat Phaidr. 248a; symp. 210a–c) einerseits direkt zu übernehmen (noêtos topos: V 9,10,9; IV 8,5,26; V 8,10,4) und andererseits, da dessen strukturelle Verfasstheit nur in Anlehnung an die komplexe Einheit der Welt (des Kosmos) angemessen zu begreifen schien, als „intelligible Welt“ (kosmos noêtos) zu bezeichnen (III 5,2; III 7,2,9–10; IV 8,3,7–11). Schon bei Platon ist das vollkommene Lebewesen der ‚Ort‘ der Ideen (Plat. Tim. 39e; Halfwassen 2000). Plotin intensiviert diesen Gedanken vor dem Hintergrund seines differenziert entfalteten Nous-Begriffs einerseits zu der Einsicht, dass der Geist in den Ideen „sich selbst“ oder sein eigenes Selbst denkt (Beierwaltes 2001, 24–25; s. Abschn.  26.3), und andererseits zu dem höchst einflussreichen Konzept der „geistigen, intelligiblen Welt“, die in sich Einheit von Einheit und Vielheit, Einheit von Geist und Ewigkeit, Einheit der Ideen in ihrer individuellen Bestimmtheit und Eigenheit ist. Diese geistige Welt wird so zum „Urbild“ (archetypon: V 8,12,15; 19) oder „Paradeigma“ (V 8,8,10; vgl. Plat. Tim. 31a) der sinnlichen, durch die Zeit und durch Werden und Vergehen bestimmten Welt. Der Geist ist also auch das Prinzip der sinnlich-erscheinenden Welt, und er scheint in ihr durch als der Goldgrund, auf dem ihr ephemeres Sein aufgetragen ist, als, wie Plotin sagt „wahre und erste Welt“ (III 2,1,26–27: kosmos […] ho alêthinos kai prôtos). Diesem mangelt nichts, in diesem ist nichts zertrennt, nichts vom Ganzen als Teil abständig, sondern in ihm vollzieht sich lebendig das ganze Leben und der ganze Geist in einem beständigen, alles durchdringenden Denkakt.

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Die aristotelische absolute Selbstreflexion der göttlichen Substanz wird hier transformiert in eine in sich mangellos abgeschlossene geistige Welt; der durch das lebendige Band (desmos) der All-Seele zusammengehaltene Kosmos Platons (Tim. 34b–36d) wird transformiert in die rein intelligible, selbst lichthafte noetische Selbstdurchdringung und Selbstpräsenz (V 8,4). Platons Kosmos selbst wird so zur Entfaltung des kosmos noêtos in die Relationsbedingungen der Seele-Physis; dem selbstgenügsamen stoischen Kosmos mit dem ihm gestaltend innewohnenden Logos wird ein absolutes Maß ontologisch und entstehungslogisch vorangestellt, das diese Welt „hier“ (entautha) notwendig aus seiner noetischen Überfülle aus sich entlässt (III 2,2,8–18), so wie der Geist selbst aus der Überfülle und Neidlosigkeit des Einen entstanden ist (s. o. Abschn. 22.1). Der geistige Kosmos ist „ausschließlich Rationalität“ (monon logos), der sinnliche ist ein aus Rationalform (logos) und Materie (hylê) „Gemischtes“ (mikton), das mit der Seele „beginnt“ (III 2,2,36–42), sofern diese die Mischung – wie im Timaios Platons (36e) – beherrscht und regiert. Erst so kann klarwerden, dass der Geist und die mit ihm, sofern er Allheit, Ein-Vielheit, Ein-Vieles ist, gesetzte geistige Welt eine wirkliche philosophische Neuerung ist, die aus dem parmenideischen Grundsatz „Das Selbe ist Denken und Sein“ (Parm. fr. B 3 DK; s. o. Abschn. 22.2), dem Potential der noêseôs noêsis des Aristoteles (metaph. Λ 9, 1074b34–35), dem Ideen-Ort Platons und dem mittelplatonischen Gedanken, dass die Ideen Denkinhalte Gottes (des Geistes) sind, erarbeitet worden ist – und zwar mit Blick auf die systematische Notwendigkeit, von einem Ersten nach dem Einen sprechen zu können (vgl. V 1,4,30– 41; I 4,3,39). In dieser Einheit von Einheit und Vielheit, von Identität und Differenz, von Unterschied und Nicht-Unterschied, von Selbigkeit und Andersheit ist der Geist (von uns) als „ungeschiedene Vielheit“ zu denken, „die zugleich in sich unterschieden ist“ (VI 9,5,16: plêthos adiakriton kai […] diakekrimenon). Alle Ideen und alle geistigen Gehalte sind in der Einheit des Geistes selbst jeweils sie selbst (als individuelle, einzelne Idee) und alles andere (alle an-

T. Leinkauf

deren Ideen) zugleich (V 9,6,3; III 7,3,16–19; IV 4,1,12); sie machen eine ‚geistige Sphäre‘ aus, deren wechselseitige vollständige lichthafte Durchdringung im schon erwähnten vierten Kapitel der Schrift V 8 [31] auf eindrucksvolle, fast poetische Weise vor das geistige Auge unserer Seele gestellt wird.

22.5 Der Geist als das ‚wahre Selbst‘ Als Einheit von Einheit und Vielheit, als Einheit von Sein und Denken, als Einheit von Sein, Leben und Denken ist der Geist aus der Sicht Plotins auch die Instanz, die letztgültig dasjenige ausprägt, was aus ‚unserer‘ Sicht oder der Perspektive des Seelischen als Selbst, Ich, Individuum bezeichnet wird (III 9,6; V 3,3–4; VI 4,14,16–31; O’Daly 1973; Beierwaltes 2001, 84–122; Remes 2007; s. Kap. 27 und 42). „Wir“ (hêmeis) sind zwar zunächst und in einem unausweichlichen ersten Zugriff nichts anderes als die Denk-Seele im Sinne des kategorial-propositionalen Logos (V 3,3,23–36), aber dies nur in einer ebenso unvermeidlich vorläufigen Annahme. Substantiell oder wesentlich ist unser wahres ‚Ich‘ oder ‚Selbst‘, das hinter oder nach diesem ersten, scheinbaren, vorläufigen Selbst erscheint, der Geist, wie er sich dem denkenden, selbst-reflexiven Zugriff als unser eigentliches Sein erweist (V 3,6,1–3: Im Geist denkt das, was sich selbst denkt, in eigentlicherer oder intensiverer Weise sich selbst als auf der Stufe der Seele). Wir sind uns selbst „gegenwärtig“ (pareinai; vgl. V 3,9,22), wenn wir das Denken in uns selbst „rein“ (katharôs) aktiviert haben und uns in einer konzentrierenden, abstrahierenden, das Viele immer intensiver hinter uns lassenden Denk-Bewegung in unser Inneres, d. h. unseren Geist, transformieren (vgl. V 3,3,24: hêmeteros nous, „unser Geist“, der nicht mehr diskursives Denken, aber auch noch nicht reiner, hypostatischer Geist ist). Plotin bezeichnet diese Bewegung sprachlich eindringlich als ein „Geist-Werden“ oder „Zu-Geist-Werden“ (VI 8,5,35: noôthênai; vgl. VI 7,35,5; V 3,8,35: Erhebung zum „geistigen Leben“, zôê noera; s. Abschn. 18.3). Diese Bewegung setzt Kontinui-

22 Geist

tät oder Homologie voraus, eben die grundsätzliche Zugehörigkeit des Inneren der Seele oder ihres Zentrums zum Geistigen (s. Abschn. 40.1). Indem wir uns selbst denken, denken wir uns nicht als reduziertes, kontingentes, durch ‚Ich‘ oder ‚Individualität‘ bestimmtes Selbst, sondern als reflexive Einheit des Geistes. Hier beginnt jenes Hinausgehen über uns selbst in uns selbst, das noch über die Geist-Werdung hinaus auf die Einung (henôsis) mit dem letzten Prinzip verweist (s. Kap. 36). Im Geist ist unvorgreiflich die Einheit des Seelischen insgesamt und der Einzelseele aufbewahrt, er ist dieser sachlogisch und ontologisch vorgeordnet. Anders gewendet: Unser ‚wahres Selbst‘ ist ewig im Geist geblieben und nicht mit dem Seelischen hinabgestiegen oder -gefallen (III 4,3,24–27: „und wir bleiben (menomen) mit unserem geistigen Sein (tô noêtô) ganz in der oberen [d. h. geistigen] Welt“; vgl. IV 8,8). Insofern ist Denken und Geist-Werden für Plotin eine Rückkehr in die geistige Welt als „Heimat“ (der Heimkehr des Odysseus vergleichbar) und, darüber hinaus, zum Einen-Guten als „Vater“ (I 6,8,16–21; zur Vater-Metapher vgl. noch V 1,2,37–38; VI 8,14,38–39; VI 9,9,33–38).

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Glück (Eudaimonie)

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Alexandrine Schniewind

Glück ist für Plotin ein zentrales Thema, das sowohl eine starke metaphysische Verankerung als auch eine evidente ethische Komponente hat. Plotins diesbezügliche Äußerungen ordnen sich in die Tradition der antiken ‚eudaimonistischen‘ Ethik ein (vgl. Annas 1993) und nehmen explizit oder implizit Stellung zu Aristoteles’ Definition der Glückseligkeit als Aktivität gemäß der Tugend (Aristot. eth. Nic. 1102a5– 6) oder der stoischen Gleichsetzung von Tugend und Glück; insbesondere entwickeln sie die mittelplatonische Auffassung weiter, wonach das Glück oder Ziel des menschlichen Lebens die „Angleichung an Gott“ ist (Plat. Tht. 176a– b; Alcin. Didasc. 28, p. 181,19–182,2 Whittaker/ Louis; Plot. I 4,16,12, vgl. I 2,1,1–5; I 6,6,18– 21; s. Abschn. 13.4).

23.1 Das Glück des Weisen: die Angleichung an den Geist Plotin hat einen eigenen Traktat zum Thema Glück geschrieben: Enneade I 4 [46] Über Glückseligkeit (Peri eudaimonias). Es ist eine Spätschrift Plotins, die, wie die anderen letzten Schriften, ethischen Themen den Vorrang gibt. Auch wenn

A. Schniewind (*)  Université de Lausanne, Lausanne, Schweiz E-Mail: [email protected]

es sich um die ausgiebigste Schrift zum Thema Glück bei Plotin handelt, so fällt der theoretische Teil dennoch mager aus: nur die ersten drei Kapitel der Schrift beschäftigen sich mit der Definition von Glück und mit dem Versuch einer Abgrenzung zu Glückstheorien von Vorgängern. Die restlichen dreizehn Kapitel der Schrift geben eine detaillierte Beschreibung des Weisen (spoudaios) und präsentieren ihn als den vollendet glücklichen Menschen, der ein vollkommenes Leben führt. Plotin verfährt wie folgt: Zunächst stellt er in den beiden ersten Kapiteln der Schrift I 4 die Ansätze und Glücksdefinitionen seiner Vorgänger vor, insbesondere jene, mit denen er nicht übereinstimmt. Es handelt sich hierbei vornehmlich um die Ansätze der Peripatetiker, Epikureer und Stoiker und ebenfalls der Skeptiker. In einem ersten Schritt zeigt Plotin die Elemente in den Glücksdefinitionen seiner Vorgänger auf, die seines Erachtens problematisch, absurd oder gar falsch sind. Die polemische Komponente ist hierbei nicht zu übersehen. In einem zweiten Schritt stellt Plotin dann seine eigene Glücksdefinition vor (I 4,3). Man kann davon ausgehen, dass diese Vorgehensweise eine Strategie Plotins ist, um seiner eigenen Glücksdefinition mehr Gewicht zu verleihen. Dieser Aspekt zu Beginn der Glücksschrift ist in der Forschungsliteratur nur bedingt erwähnt worden (vgl. Schniewind 2015, 213–214). Die plotinische Glücksdefinition setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: das Leben (zôê) und das Gute (to eu, to agathon). Laut Plotin

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_23

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haben seine Vorgänger diese zwei Begriffe nicht mit hinreichender Umsicht behandelt: to eu zên kann mit to eudaimonein synonym verwendet werden, dies muss aber mit Bedacht gehandhabt werden und bedarf einer sauberen Definition dessen, was to eu zên bedeutet. Das „gute Leben“ muss dem „vollendeten Leben“ (telei­ ­ôs zên) gleichgesetzt werden: das Wort „Leben“ (zôê) muss demnach also sehr eng gefasst werden. Hierbei lehnt sich Plotin an Aristoteles an und unterstreicht, dass „Leben“ homonym benutzt wird (pollachôs legomenon), je nach dem ontologischen Niveau, auf dem es angesetzt wird (I 4,3,1–20; vgl. Aristot. an. 413a22–25). Für seine eigene Definition von Glück darf nur das höchste ontologische Niveau von Leben angesetzt werden, das schon erwähnte „vollendete Leben“, das Plotin auch „erstes Leben“ nennt (I 4,3,33–34). Das heißt aber, mit anderen Worten, dass für Plotin nur der Mensch im wahren Sinne des Wortes glücklich (eudaimôn) sein kann, weil nur er Zugang zum wahren Leben hat. Glück besteht aus einem erfüllten und vollendeten Leben, das identisch mit dem Leben des Geistes (nous) ist. Das heißt, dass der Mensch erst dann wahrhaft glücklich genannt werden kann, wenn er sich dem vollendeten Leben des Geistes angeglichen hat (vgl. I 2,1; Plat. Tht. 176a– b). Aber was bedeutet das konkret? Plotin erklärt es mit Bezugnahme auf die Intensität des Lebens: „Wenn aber nur demjenigen, welches das Leben in höchster Intensität besitzt (und das heißt: welches in keiner Hinsicht des Lebens ermangelt), die Lebenserfüllung zuteil wird, so käme also nur diesem mit höchster Intensität Lebenden die Glückseligkeit zu“ (I 4,3,24–26). Plotin geht hier von einer Hierarchie der Lebenserfüllung aus: Pflanzen, Tiere und Menschen haben unterschiedliche Lebenserfüllungsgrade, die mit Graden an „Helligkeit“ (tranotês) oder „Trübung“ (amydrotês) verglichen werden können (I 4,3,21). Aber kann ein Mensch überhaupt diese höchste Intensität des Lebens erreichen? Ja, der Weise (spoudaios) kann es, und deswegen sind ihm die restlichen Kapitel der Schrift I 4 gewidmet. Hierbei wird eine starke anthropologische Unterscheidung sichtbar, die Aspekte der dynamisLehre von Aristoteles übernimmt: alle Menschen

A. Schniewind

haben potentiell Zugang zum wahren Leben, da alle Menschen vernunftbegabt sind, aber nur der Weise weiß dieses aktuell umzusetzen (s. auch Abschn. 11.7). Mehr noch, alle Menschen haben eine „amphibische“ Seele (IV 8 [6],4,31–35; vgl. Schniewind 2005), aber die wenigsten haben davon Kenntnis. Der Weise hat ein Bewusstsein dafür, dass ein Teil seiner Seele immer noch in der intelligiblen Welt verankert ist, während dies den restlichen Menschen unbewusst bleibt (I 4,10; s. auch Abschn. 15.3). Um zu verstehen, was Glück bedeutet, muss man schauen, wie ein glücklicher Mensch lebt und denkt. Genau das ist Plotins Ansatz: er bevorzugt eine konkrete, pragmatische Beschreibung des Verhaltens des Weisen in den verschiedenen Lebenssituationen, denen er begegnet. Aus diesem Grund zeichnet Plotin in der Schrift I 4, wie vor ihm die Stoiker, ein sehr ausführliches Bild des Weisen (s. auch Abschn. 12.2.4). Er beschreibt hierbei, wie sich der Weise verhält, gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. Dabei wird von einem wichtigen anthropologischen Grundsatz Gebrauch gemacht, den Plotin von Platon übernimmt: Der Weise weiß besonders gut seine Seele von seinem Körper zu unterscheiden; den größten Teil seiner Fürsorge (epimeleia) lässt er seiner Seele zukommen. Dem Körper hingegen gibt er gerade nur das Notwendigste (vgl. Ps.-Plat. Alc. 1 127e–130e; der Dialog Alkibiades galt in der Antike generell als von Platon geschrieben). Der Weise definiert sich hauptsächlich über seine Seele und konzentriert sich dementsprechend auf ihr Wohlergehen. Aus was besteht diese Pflege? Sie besteht aus der ständigen Ausrichtung auf das höherstehende Prinzip, den Geist, und aus einer damit einhergehenden Selbsttranszendierung, da die Seele ihr eigenes Prinzip übersteigt und zum Geist wird. Der Weise ist dadurch autark. Er ist sich selbst genug und ist nicht mehr von einer ständigen Unruhe getrieben. Diese Autarkie ist ein Zeichen dafür, dass er alles Gute nun besitzt und nicht mehr auf der Suche danach sein muss (I 4,4). Aber worin besteht diese Autarkie? Sie besteht darin, dass der Weise seine Seele auf den Geist ausgerichtet hat und alles darangesetzt hat, mit dem

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Leben des Geistes identisch zu werden. Da der Geist wesentlich Erkenntnis und mit den Gegenständen seines Erkennens identisch ist, „hat“ er immer schon alles, was er haben kann, und ist in diesem Sinne autark (V 3,16,24–32). Es handelt sich bei der Ausrichtung des Weisen auf den Geist vornehmlich um eine epistemische Kehrtwende (epistrophê), die aber eine starke ethische Auswirkung hat (vgl. Schniewind 2003). Die seelische und intellektuelle Autarkie des Weisen ist eine starke Glückskomponente. In anderer Hinsicht ist der Weise jedoch nicht autark: Sein Körper verlangt Pflege und Aufmerksamkeit, und diese verleiht er ihm in gebührendem Maße. Denn wie der platonische Sokrates vermag der Weise das, was ihm gehört (seine Seele), von dem, was nur mit ihm verknüpft ist (sein Körper), zu unterscheiden. Er gibt somit dem Körper, was er braucht, aber nicht mehr, ohne dass dies ihn von seiner Konzentration auf das Wesentliche abbringt (vgl. I 4,4,25–28; Plat. Phaid. 65c–67b). Auch gegen physische Schmerzen ist der Weise nicht immun, aber sie werden sein Glück nicht beeinträchtigen (I 4,4,35–36). Die Parallelen zum stoischen Weisen sind hierin sehr stark, auch wenn bei Plotin der Grund für die innere Stärke des Weisen stark metaphysisch angelegt ist. Der Weise wird also Schmerzen ertragen, solange er kann; wenn sie seine Kräfte übersteigen, wird er sich dem nicht widersetzten, aber auch das wird sein Glück nicht beeinträchtigen, so wie Sokrates in der Stunde seines Sterbens seine innere Fröhlichkeit und sein Vertrauen behält (Plat. Phaid. 115b–118a). Der plotinische Weise behält stets seine innere Ruhe und Freude, gleich dem Licht einer Laterne, das in einem Boot auf hoher und unruhiger See seelenruhig weiterleuchtet (I 4,8,4–5). Auch psychische Schmerzen werden keinen Einfluss auf das Glück des Weisen nehmen. Schicksalsschlägen wird er mit Ruhe entgegenblicken, selbst wenn er den Verlust eines Kindes erleiden sollte (I 4,7). Dies erinnert insbesondere an Epiktets Handbüchlein der Moral (vgl. z. B. Epict. ench. 14a). So wie der Weise mit sich selbst umgeht, so geht er auch mit seinen Mitmenschen um. Er

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wird nicht mit anderen über deren Schicksalsschläge weinen; er wird, im Gegenteil, versuchen ihnen aufzuzeigen, worin das wahre Glück besteht (I 4,15). Er wird also nie aus dem Blick verlieren, dass er für seine Mitmenschen eine Vorbildfunktion hat und ihnen deutlich machen muss, dass er sein Glück von einem höheren Prinzip herleitet. Im Gegensatz zu den meisten Menschen braucht der Weise nicht mehr nach dem Glück zu streben, weil er es bereits besitzt. Dieser Unterschied zwischen ‚suchen‘ (zêtein) und ‚besitzen‘ (echein) ist in diesem Kontext sehr wichtig, denn letzteres ist Zeichen für die Autarkie des Weisen. Halten wir also fest: Das erste Leben ist das vollkommene Leben des Geistes und ist als solches das Gute für den Menschen (s. Abschn. 25.5). Nur insofern ein Mensch in diesem Zustand ist, kann er als glücklich betrachtet werden. Der Weise ist der Mensch, der den Zugang zu diesem Glück dauerhaft gefunden hat.

23.2 Glück und Zeit Eine andere Schrift, Enneade I 5 [36], spricht das Thema Glück ebenfalls an, allerdings nur zu einem spezifischen Aspekt: „Ob die Glückseligkeit sich in der Zeit erstreckt“. Hierbei geht es um die Frage, wie Glück mit der Zeit verbunden ist, eine Frage, die bereits von zahlreichen Philosophen vor Plotin, insbesondere von Aristoteles und den Stoikern, angesprochen wurde: Wächst oder vermindert sich Glück mit der Zeit oder ist Glück ein zeitloser Begriff? Der Begriff der Zeit ist für Plotin sehr wichtig und wird von ihm ausgiebig in anderen Schriften behandelt (insbesondere Enneade III 7 [45] Über Ewigkeit und Zeit; s. Kap. 50). Erneut verbindet Plotin die Frage mit dem Geist-Prinzip: In der intelligiblen Welt herrscht Zeitlosigkeit, da alles dort in Ewigkeit (aiôn) besteht. Diese Ewigkeit ist eng mit dem Lebensbegriff verknüpft und bedeutet uneingeschränkte Fülle des Seins (Halfwassen 2004, 102). Da der Weise sich dem Geist angleicht und sogar mit ihm identisch wird, so hat dies auch auf sein Zeitempfinden eine Auswirkung:

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er setzt sich sozusagen aus der Zeit heraus, und sein Glück ist daher unabhängig von der Zeitlichkeit (I 5,7). Diese Unabhängigkeit von der Zeit ist ausschlaggebend und setzt sich deutlich von Aristoteles ab, demzufolge Glück nur dann tatsächlich vorhanden sein kann, wenn es sich über eine sehr lange Zeitspanne erstreckt (Aristot. eth. Nic. 1098a15–20; Linguiti 2007, 29–35); sie klingt eher an die stoische Überzeugung von der Irrelevanz der Zeit für das Glück des Weisen an (SVF 3, 54; Linguiti 2007, 38–44), ist aber bei Plotin metaphysisch anders begründet. Im Kapitel 7 der Schrift I 5 gibt Plotin seine eigene Antwort: Glück nimmt nicht mit der Zeit zu, weil es dem ewigen Sein des Geistes verbunden ist und somit dem vollkommenen Leben. Plotin unterscheidet hierbei zwischen dem ‚metaphysischen‘ oder wahrhaften Glück und dem von Zeitlichkeit umspannten subjektiven Glücksempfinden. Zusammenfassend kann man sagen, dass Glück für Plotin metaphysisch verankert ist und nur so seine wahre Bedeutung entfaltet. Jeder Mensch hat potentiell die Möglichkeit glücklich zu sein, aber nur der Weise vermag diese aktuell umzusetzen.

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Gott, Götter, Dämonen

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Benedikt Krämer

24.1 Götter und Gottesbegriff Plotins Plotins Theologie ist mithilfe von modernen Etiketten wie Mono- und Polytheismus nicht leicht zu klassifizieren. Denn sein System trägt angesichts der Annahme einer Entstehung alles Seienden aus einem einzigen, höchsten Prinzip zwar einen erkennbar monotheistischen Zug. Aus dem (über)göttlichen Einen gehen aber in stufenweiser Vermittlung und bleibender Abhängigkeit mehrere, gleichfalls als Götter bzw. göttlich konzipierte Entitäten hervor. Plotin versteht erstens die intelligiblen Hypostasen, Geist und Seele, als Götter (vgl. V 1,5,1; V 5,3,1–4 zum Geist; III 5,2,19–27; V 1,2,42–44 zur Seele). Geist und Seele werden zudem gemeinsam mit dem Einen durch den Kollektivbegriff „das Göttliche“ (V 1,7,49: to theion) bezeichnet und so als das im eigentlichen Sinne Göttliche ausgewiesen. Zweitens fasst Plotin in Übereinstimmung mit der platonischen Tradition durchaus auch materielle Gegenstände, nämlich die (Seelen der) Himmelskörper und den Kosmos in seiner

B. Krämer (*)  Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

Gesamtheit, als Götter auf (III 5,6,19–24; vgl. Plat. Tim. 34b; s. auch Abschn. 34.4). Alle genannten Entitäten unterliegen allerdings mit zunehmender Entfernung von dem Einen einer im späteren Neuplatonismus gemeinhin als „Schwächung“ (Procl. inst. theol. 29; 36: ­hyphesis) bezeichneten graduellen henologischen, ontologischen und axiologischen Verminderung. Daher kann Plotin sinnvoll in komparativischer Form von göttlicheren (theioteroi) und weniger göttlichen Entitäten sprechen. Da „Gott“ als Prädikat für recht disparate Realisierungsstufen des Göttlichen fungiert und in diesem Sinne nicht univok gebraucht wird (Beierwaltes 2011, 33– 34), fällt es schwer, zu einer allgemeinverbindlichen, intensionalen Bestimmung des Begriffs ‚Gott‘ zu gelangen. Man wird jedoch festhalten können, dass Plotin Göttlichkeit üblicherweise mit Eigenschaften wie höchster Einheitlichkeit, Gutheit, Produktivität, Beständigkeit, Lebendigkeit, Selbstgenügsamkeit, Ordnung, Schönheit, Vollständigkeit und Zielhaftigkeit verbindet (I 6,5,16–21; V 4,1,12; 23–26; 34–35; II 9,8,30– 32; III 8,11,25–33; s. u. Abschn. 24.4). Die Vielzahl von Bestimmungsmomenten, die mit niederen Realisierungen des Göttlichen verbunden ist, erklärt, warum Plotin das über alle Bestimmtheit erhabene Eine streng genommen für „mehr“ als Gott (VI 9,6,13–14), also selbst der Bestimmung ‚Gott‘ entzogen, hält.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_24

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24.2 Göttliche Kausalität Eine Gemeinsamkeit der plotinischen Götter besteht darin, dass sie in sehr ähnlicher Weise als Prinzipien wirken (die Kausalität des Einen weist freilich einige Besonderheiten auf). Ein prinzipientheoretisches Grundproblem, mit dem sich Platoniker konfrontiert sehen, ist die Frage, warum die göttlichen Ursachen angesichts ihrer Perfektion und Selbstgenügsamkeit überhaupt etwas Anderes hervorbringen (s. Abschn. 6.4). Plotin erklärt diese Produktivität im Anschluss an Platon durch die neidlose Güte der Prinzipien (V 4,1,34–36; vgl. Plat. Tim. 29e): Ein gutes Prinzip will sich mitteilen und allen späteren Gegenständen Anteil an sich geben und sie so gut wie möglich machen. Plotin verallgemeinert dieses Modell, das Platon im Timaios für das Verhältnis des Demiurgen zum Kosmos entwickelt, für die gesamte Wirklichkeit. Dies geschieht mithilfe eines Schemas, für das sich die Bezeichnung „Theorie der doppelten energeia“ etabliert hat: Plotin schreibt allen göttlichen Prinzipien (auch dem streng genommen übersubstantiellen Einen) eine sub­ stantielle Wirkkraft (energeia tês ousias) und eine entäußerte Wirkkraft (energeia ek tês ousias) zu (dazu ausführlich Emilsson 2007, 24– 68; V 4,2,21–30 mit Bussanich 1988, 27–31; Szlezák 1979, 59–60; s. auch Abschn. 29.4). Dabei vergleicht er das Wirken der göttlichen Prinzipien vielfach mit der Aktivität des Feuers (oder mit dem Seinsvollzug anderer Naturdinge wie Schnee oder Duftstoffen), das einerseits mit einer ihm eigentümlichen Wirksamkeit brennt, andererseits eine nicht mit ihm zu identifizierende, aber unmittelbar mit ihm verbundene, ontologisch eng verwandte Hitze ausstrahlt und andere Gegenstände zu entzünden vermag (V 1,6,30–34; V 4,1,30–34). Prinzip und Kausat sind nicht nur durch ein wirkursächliches Verhältnis verbunden, sondern das Prinzip ist zudem auch Form- und Zielursache des Kausates (VI 7,27,1–9; 33,14–16). Bereits in Plotins Schriften wird die Trias von „Verharren“ (monê), „Hervorgang“ (prohodos) und „Rückwendung“ (epistrophê) – ein auch für den nachplotinischen Neuplatonismus wichtiges

B. Krämer

und zunehmender Differenzierung unterzogenes Schema – gebraucht, um die einzelnen Momente der Genese und Konstituierung der intelligiblen Hypostasen zu bezeichnen (III 8,5,12–17; V 2,1,9–11): Ein göttliches Prinzip verändert und vermindert sich durch seine Produktivität nicht, sondern bleibt im Hervorgang (prohodos) des Kausates mit gleicher Kraft bestehen (monê). Das Kausat wiederum trennt sich nicht von der Ursache, sondern bleibt mit ihr verbunden und realisiert erst in der Rückwendung (epistrophê) auf sie das in ihm angelegte Einheitspotential (s. Abschn. 17.3 und 22.2). Die Wirklichkeit ist nach Plotins Verständnis ein Kontinuum von zunehmend differenzierten Wirkkräften, innerhalb dessen die Ursache dem Produkt jeweils zugleich immanent und transzendent ist (III 9,4; s. Kap. 44).

24.3 Das Eine (Gott) Plotin versteht trotz den eingangs angedeuteten Kautelen in der theologischen Rede gemeinhin das Eine als (ersten) Gott (II 9,6,39: prôtos theos; I 1,8,6–15; VI 8,19,11; VI 9,11,28) und höchstes Prinzip (V 1,7,28: prôtê archê). Die Metaphysik des Einen ist nach Plotins Einschätzung keine sachliche Neuerung, sondern eine Entfaltung platonischen Lehrgutes (V 1,8,9–14; s. Abschn. 7.1). Wenigstens die zwei wichtigsten Anknüpfungspunkte, auf die Plotin in Platons Schriften in diesem Zusammenhang (implizit) rekurriert, seien genannt: Zum einen die erste Hypothese des platonischen Parmenides, die Plotin einer prinzipientheoretischen Deutung unterzieht (Dodds 1928; Gerson 2016), zum anderen die im Sonnengleichnis der Politeia behauptete Seinstranszendenz des Guten (Plat. rep. 509b: epekeina tês ousias), das Plotin mit dem Einen des Parmenides identifiziert. Die Transzendenzaussage, die Platon in Bezug auf das Gute nur an der genannten Stelle offen ausspricht, wird von Plotin perpetuiert und (formal) deutlich erweitert. So setzt Plotin das Eine jenseits eines Selbstbewusstseins, jenseits jeglicher Art des Denkens, jenseits von Lebensaktivität (zoê), kurz gesagt: „jenseits von allem“ an (V

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3,13,2–3: epekeina pantôn; Halfwassen 2006, 34–35). Das Eine ist ein von allem Seienden verschiedenes und in seiner Transzendenz allen Bestimmungen des Seienden enthobenes Prinzip (V 3,11,18; VI 7,42,11–13). Der Rekurs auf Platon und die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der Plotin in manchen Traktaten von der Existenz des Einen ausgeht, dürfen nicht zu der Fehlannahme verleiten, das Eine bilde den axiomatischen, nicht weiter begründeten Anfang plotinischen Philosophierens, aus dem dann alles Weitere deduziert werde. Das Gegenteil ist der Fall. In platonisch-aristotelischer Manier besteht Plotins Grundanliegen darin, die aus dem alltäglichen Umgang vertrauten Phänomene (in VI 9,1: ein Heer, eine Viehherde, ein Haus, ein Schiff, unseren Körper; s. Abschn. 18.1) auf ihre Ursachen hin durchsichtig und erst so wirklich verständlich zu machen. Die Grundbewegung plotinischen Denkens ist also nicht deduktiv, sondern reduktiv. Jede Art von materieller, seelischer oder noetischer Komplexität lässt sich (in der Regel vermittelt durch andere Einheitsprinzipien) zuletzt auf das Eine als erste einheitsstiftende Ursache zurückführen. Die für eine bestimmte Ebene charakteristische Form von Vielheit wird dabei jeweils als bedingt erkannt und transzendierend zurückgelassen. In VI 9,1–2 führt Plotin diese anagogisch auf ein höchstes Prinzip zulaufende Reduktionsbewegung exemplarisch vor (zur Stelle und zur „henologischen Reduktion“: Halfwassen 2006, 41–97).

24.3.1 Negative Theologie des Einen Da das Eine in seiner strikten Transzendenz und seiner reinen Einheit nichts von dem ist, dessen Prinzip es ist (III 8,10,28–29; VI 9,6,55), ist es weder gedanklich noch sprachlich erfassbar und „wahrhaft unsagbar“ (V 3,13,1; s. Abschn. 43.6). Jede Rede über das Eine kann ihren Gegenstand nur äußerlich umkreisen. Dennoch will der Philosoph, wie Plotin erklärt, das streng genommen Unsagbare so gut wie möglich „übersetzen“ (VI 9,3,51–54: hermêneuein).

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Zu diesem Zweck gebraucht Plotin verschiedene Aussageformen, die bereits in Platons Schriften angelegt sind und die in der mittelplatonischen Theologie weiter differenziert werden (vgl. dazu Krämer 2020 sowie für eine konzise Übersicht der drei ‚Wege‘ der negativen, analogischen und eminenten Theologie Alcin. Didasc. 10, p. 165,16–34 Whittaker/Louis mit Dörrie/Baltes/ Pietsch 2008, 351–382, bes. 377–382). Der Nutzen einer Aussageform, mit deren Hilfe gesagt wird, was ein Gegenstand nicht ist, ist auf den ersten Blick schwer einzuschätzen. Um die zentrale Bedeutung der negativen Theologie in Plotins Denken zu verstehen, muss zweierlei berücksichtigt werden: (1) welche Art von Negationen die negative Theologie gebraucht und (2) wie diese Negationen zur Anwendung gebracht werden. Die termini technici, die Plotin im Rahmen der negativen Theologie für das Negieren verwendet, lauten aphairesis bzw. aphairein, also ‚wegnehmen‘, ‚abstrahieren‘ (s. auch Abschn. 6.5). Der Terminus ‚Abstraktion‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang freilich nicht die Bildung eines ontologisch nachrangigen Allgemeinbegriffs, der weniger real als die ihm zugrunde liegenden konkreten Gegenstände wäre. Vielmehr verwendet Plotin die Negationen bzw. Abstraktionen im Rahmen des oben beschriebenen Reduktionsverfahrens, um die jeweils charakteristische Form von Vielheit eines bestimmten Wirklichkeitsniveaus ‚wegzunehmen‘, das transzendierend verlassen wird. Mithilfe der negativen Theologie wird also stufenweise, in geordneter Reihenfolge ein komplexes Phänomen auf seine einfachen Ursachen zurückgeführt. Der Mittelplatoniker Alkinoos vergleicht das aphairetische Verfahren mit der Rückführung einer Fläche auf die sie konstituierenden Linien und der anschließenden Rückführung dieser Linien auf einen Punkt (Alcin. Didasc. 10, p. 165,16–19 Whittaker/Louis; s. Abschn. 13.3). Das Abstraktionsverfahren, das Plotin entwickelt, beseitigt konsequent alle Bestimmungen des Seienden. Es endet dabei nicht blind, sondern verweist auf den „über alles hinaus“ liegenden unbestimmten Grund der Bestimmungen in seiner reinen Transzendenz (III 8,10,28–32: to hyper panta autôn; Beierwaltes 1991, 250–253).

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Plotin hält den Leser seiner Schriften immer wieder an, das Gesagte selbst nachzuvollziehen; die Aufforderung, „alles“ zu abstrahieren (V 3,17,38: aphele panta; VI 8,21,26: aphelôn panta) bildet den Schluss der großen Traktate V 3 [49] und VI 8 [39]. Diese theologische Protreptik macht deutlich, dass die negative Theologie Plotins genau genommen nicht als Aussageform, sondern als gedankliche Operation zu verstehen ist. Plotins negative ‚Rede‘ über das Eine ist die pädagogische Darstellung (VI 9,4,31: paidagôgôn logos) eines Mittels, das dem Leser einen Weg zu dem Einen und die Ausrichtung seines Denkens und Handelns auf das höchste Prinzip eröffnen soll (VI 9,4,11–16). Die konsequente begriffliche Unterscheidung von apophatischer (Aussageform) und aphairetischer Negation (gedankliche Operation) lässt sich bereits in Aristoteles’ Schriften nachweisen (Whittaker 1969, 118–125).

24.3.2 ‚Positive ‘ Theologie des Einen Angesichts von Plotins strikter Henologie und seiner Präferenz der negativen Theologie können die ausdrucksstarken Bilder und (scheinbar) positiven Bestimmungen, die an mehreren Stellen in der Rede über das Eine gebraucht werden, zunächst irritierend wirken. Betrachtet man die Stellen im Kontext und differenziert die Sprechbzw. Denkweisen der plotinischen Theologie funktional, so besteht jedoch kein Grund, Plotin eine gedankliche Verwirrung und mangelhafte Bewältigung der komplexen metaphysischen Tradition vorzuwerfen, wie es in Teilen der älteren Forschung geschah (vgl. z. B. Armstrong 1940, 1). Bilder und Metaphern gebraucht Plotin vor allem, wenn er das Verhältnis des Einen und der Wirklichkeit behandelt (III 8,10: Quelle/Pflanze; V 1,6: Licht/Wärme). Prinzip (archê) zu sein bedeutet für das Eine, zumal angesichts seiner Güte und Vollkommenheit, seine alles überbietende Machtfülle nicht für sich zu behalten, sondern sie weiterzugeben, ohne selbst etwas zu verlieren (V 4,1,23–36). Die Entstehung des Seienden (bzw. von Andersheit/Anderem generell)

B. Krämer

aus dem Einen kann allerdings ‚deduzierend‘ nicht begrifflich präzise nachvollzogen werden. Als vollkommen einfaches Prinzip kann das Eine nichts Anderes in sich tragen, und die Annahme einer latenten Existenz des Seienden im Einen würde die Frage nach der Genese von Vielheit lediglich auf die Ebene des Einen verlagern. Umgekehrt folgt aus der reinen Einheit des Einen allerdings auch kein Argument gegen die Entstehung von Andersheit, da seine Einheit ebenfalls nicht durch Identität bestimmt ist (Plat. Parm. 139b). Die Einheit des Einen ist keine positive, mit anderen Formen von Einheit vergleichbare Einheit. Auch die henologische Reduktion vermag nur zu zeigen, dass alles aus dem Einen hervorgeht. Wie sich die Entstehung von Andersheit/Anderem aus dem Einen vollzieht, bleibt unbegreiflich (Halfwassen 2006, 113). Plotin selbst bringt dieses Dilemma des menschlichen Denkens bzw. der Seele, die zwar eine Rückführung des Seienden auf das Eine leisten können, aber trotzdem „sehnsüchtig“ nach einer Erklärung suchen müssen, wie etwas aus dem Einen entstehen konnte, prägnant zum Ausdruck (V 1,6,1–8). Die effiziente Kausalität des Einen ist, wie dieser Problemaufriss zeigt, von jeder anderen Form der Wirkursächlichkeit verschieden. Plotin formuliert aus diesem Grund bewusst paradoxal, wenn er über die Entstehung der Vielheit aus dem Einen spricht (vgl. V 2,1,1–9: Nichts war in ihm – daher kommt alles aus ihm; es hat nichts – es ist übervoll und fließt gleichsam über). Die Kausate des Einen sind nicht in ‚eingefalteter‘ Form in ihm präformiert, sondern aus dem Einen geht etwas hervor, das es selbst nicht „hat“, wie Plotin vielfach konstatiert (VI 7,15,19–20; 17,1–6; 42,11–13). Ein schon seit längerer Zeit kontrovers diskutiertes Problem der plotinischen Henologie besteht in der (freilich recht selten zu beobachtenden) Zuschreibung (quasi-)intellektueller Vermögen bzw. Tätigkeiten an das Eine (s. Abschn. 16.5 und 18.3). Plotin nimmt derartige Zuschreibungen vor allem in zwei Schriften vor: in der frühen Schrift V 4 [7],2,15–19 (Selbstdenken: katanoêsis autou; Selbstbewusstsein: synaisthêsis) und in der späten Schrift VI

24  Gott, Götter, Dämonen

8 [39],16 („Blicken“ auf sich selbst: blepein, „Über-Denken“: hypernoêsis, „Erwachen“: egrêgorsis). In VI 8,13–16 findet sich überhaupt eine erstaunliche Fülle von positiven Zuschreibungen, die nicht nur intellektuelle Vermögen umfasst. Das Eine wird in diesem Traktat als Substanz (ousia) mit einem Willen (boulêsis) und mit eigener Wirksamkeit (energeia; VI 8,13,5–8), an späterer Stelle zudem noch als Geliebtes und Liebe gedacht (VI 8,15,1: erasmion kai erôs). Eine bis in jüngste Zeit besonders umstrittene Passage bezüglich der Frage, welche Aktivitäten und Vermögen Plotin dem Einen zuschreibt, findet sich ferner im Kapitel V 1 [10],7. Plotin traktiert im Kontext der Stelle das Problem der Entstehung des Geistes aus dem Einen. Abhängig von der Interpretation des grammatisch-inhaltlich mehrdeutigen Satzes V 1,7,5–6 erklärt Plotin die Entstehung entweder durch eine Rückwendung (epistrophê) des Einen auf sich selbst oder durch eine Rückwendung des Geistes auf das Eine (affirmativ zur Rückwendung des Einen auf sich selbst u. a. Bussanich 1988, 37–43; Ahbel-Rappe 2014, 169– 171; ablehnend u. a. Halfwassen 2006, 130–135 mit Anm. 73; Krämer 2020, 318–325; s. auch Abschn. 22.1). Grundsätzlich sind im Umgang mit den aufgeführten positiven Zuschreibungen an das Eine zwei Deutungsstrategien möglich: Einige Interpreten halten die Zuschreibungen mit dem Vorbehalt für gültig, dass sie der Geisttranszendenz des Einen nicht widersprechen und das Eine selbst nicht zu einer Art Geist machen (Krämer 1964, 397–398; Bussanich 1988, 25). Das zur Diskussion stehende Selbstbewusstsein des Einen und verwandte Zuschreibungen sollten also hinlänglich verschieden von der noetischen Vielheit des Geistes sein. Inwiefern aber gerade die Zuschreibungen, die eine Subjekt-ObjektSpaltung des Einen bedeuten, im eigentlichen Sinne gültig sein können, ohne die von Plotin immer wieder geltend gemachte reine Einheit des Einen zu korrumpieren, ist nicht leicht einzusehen. Andere Interpreten plädieren deshalb dafür, die Zuschreibungen als didaktische Mittel zu verstehen (vgl. VI 8,13,1–5), die in bestimmten Kontexten zur Behandlung eines Pro-

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blems notwendig sind, von Plotin aber sorgfältig qualifiziert und alsbald wieder zurückgenommen werden (Halfwassen 2015, 364–368). So kennzeichnet Plotin den Argumentationsgang in Enneade VI 8, in dem er sich positiver Zuschreibungen bedient, als „widervernünftig“ (VI 8,13,4: paranoêteon; weitere Stellen, die ausdrücklich auf die Metaphorizität und Unzulänglichkeit positiver Zuschreibungen verweisen, sind VI 8,8,1–6 und VI 8,18,52–53). Gelegentlich wird die Ansicht vertreten, Plotin äußere sich im Argumentationsgang von Enneade VI 8 daraufhin doch positiv über das Eine, ohne entsprechende Aussagen unmittelbar wieder zu relativieren (Gerson 2008, 94–95). Eine solche Deutung ist allerdings mit dem Bedenken konfrontiert, dass Plotin im Vorfeld ausdrücklich einschärft, alle der verwendeten positiven Zuschreibungen kämen dem Einen nur „gleichsam“ (hoion) zu (VI 8,13,48–50). Auch in V 4,2,18 werden die positiven Zuschreibungen zumindest teilweise mit der abschwächenden Qualifizierung „gleichsam“ (hoionei) versehen. Ergänzend zu den abschwächenden Qualifizierungen, die Plotin gebraucht, kann sich die zweite Interpretationslinie auf zahlreiche Stellen berufen, an denen er eine intellektuelle Natur des Einen ausdrücklich bestreitet (vgl. etwa III 9 [13],9; V 6 [24] passim). Der Sinn der positiven Zuschreibungen dürfte unter diesen Voraussetzungen darin bestehen, die Transzendenz des Einen als ein inkommensurables Übertreffen all dessen zu kennzeichnen, was auf der Ebene des Geistes bereits in eminenter Weise realisiert ist – Freiheit, Denken, Sein, Produktivität usw. Nichts des Prinzipiierten zu sein bedeutet für das Eine also nicht nichts zu sein. Sein Nichts ist ein „Nichts der Fülle“ (Beierwaltes 1991, 161).

24.4 Der Kosmos als Gott Die sowohl in Platons Timaios als auch in stoischer Tradition vertretene Lehre, der Kosmos sei ein Gott (Plat. Tim. 34b; 92c; SVF 1, 88; 530; 2,1027; s. Abschn. 31.1), wird von Plotin nicht unreflektiert übernommen, sondern an mehreren Stellen argumentativ plausibilisiert. Die Gött-

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lichkeit des Kosmos liegt Plotin zufolge in seiner Relation zum Intelligiblen begründet: Als Bild (eikôn) der intelligiblen Welt vermag er das geistige Paradigma zwar im Kleinen nicht in jeder Hinsicht akkurat zu repräsentieren und zu bewahren. In der Makroperspektive zeigen sich jedoch seine Beständigkeit, Regelhaftigkeit (der Planetenbahnen), Symmetrie, Ordnung, Form, Vollständigkeit und Selbstgenügsamkeit (II 1,3,1–9; II 9,4,29–31; II 9,16,52–53; III 2,3,20– 40: symmetria, eutaxia, eidos, teleios, autarkês), die den Kosmos als bestmögliches Abbild der intelligiblen Welt kenntlich machen (II 9,4,26– 32; V 9,11,7–10). In anderen Passagen begründet Plotin die Göttlichkeit des Alls und der Himmelskörper mit einer leichten Akzentverschiebung mit ihrer Beseelung, also der Teilhabe an einem wahrhaft göttlichen Prinzip (V 1,2,38– 42). Der Kosmos ist in seiner Göttlichkeit insofern eingeschränkt, als sich in ihm Schlechtes findet, während die immateriellen, göttlichen Prinzipien allesamt (mit Abstufungen) nur gut sind (I 8,2,25–28).

24.5 Dämonen Ein gesteigertes philosophisches Interesse an der Stellung und Funktion von Dämonen lässt sich erstmals in der mittelplatonischen Theologie beobachten. Das sachliche Problem, auf das die Mittelplatoniker durch die Entwicklung einer Dämonologie antworten, und die Grundlinien ihrer Lösungsstrategien sind jedoch wie so oft bereits in Platons Schriften vorgezeichnet (zur Dämonologie des Platonismus vgl. besonders Timotin 2012). Grundsätzlich führt Platon einen bereits bei Hesiod (erg. 121–126) feststellbaren Trend fort – die Differenzierung des Göttlichen in höher stehende theoi (bzw. bei Platon den welttranszendenten Demiurgen und die Idee des Guten) einerseits und die dem Menschen näher stehenden, mit ihm verkehrenden Dämonen andererseits. Der berühmteste Dämon ist wohl das sokratische daimonion, das dem Philosophen immer wieder von bestimmten Handlungen abrät (Plat. apol. 31c–d). Wichtige

B. Krämer

­berlegungen zur Funktionsbestimmung der Ü Dämonen entwickelt Platon im Symposion im Rahmen von Sokrates’ Referat seiner Unterhaltung über Eros mit der Seherin Diotima (vgl. insbesondere Plat. symp. 201e–203a): Eros wird von Diotima als Dämon bestimmt und als solcher klar von den Göttern abgegrenzt (symp. 202d–e). Als Dämon nimmt Eros eine Mittelstellung zwischen göttlichem und menschlichem Bereich ein. Er „dolmetscht“ geradezu zwischen Gott und Mensch (symp. 202e: hermêneuon) und übermittelt Gebete und Opfer an die Götter und göttliche Weisungen und Belohnungen an die Menschen. Eine weitere wichtige Entwicklungsstation für die philosophische Auseinandersetzung mit den Dämonen und ihrer Funktion als Mittlerwesen ist die Alte Akademie (s. Kap. 10). Xenokrates, dessen Einfluss auf den Mittelplatonismus durch Plutarchs Schrift De defectu oraculorum gut belegt ist (vgl. u. a. Plut. de def. or. 416C–D = Xenokrates, fr. 222 Isnardi Parente), kann als Begründer einer systematischen Dämonologie gelten (vgl. Dörrie/Baltes 1993, 315–319). Ein guter Indikator für das steigende Interesse an Dämonologie im Mittelplatonismus ist die Tatsache, dass alle prominenten Mittelplatoniker dem Thema ‚Dämonen‘ eine Einzelschrift (Apuleius, De deo Socratis; Maximos von Tyros, orationes 8–9; Plutarch, De genio Socratis) oder zumindest an gegebener Stelle eine Auseinandersetzung widmen (Plut. de def. or. 415A–C; Alcin. Didasc. 15, p. 171,20–26 Whittaker/Louis). Plutarch nimmt in De defectu oraculorum in der Auseinandersetzung mit Homers und Hesiods Gebrauch des Begriffs daimôn Ergebnisse der modernen Forschung vorweg, indem er auf den synonymen Gebrauch von theos und daimôn bei Homer und die Differenzierung der Begriffe durch Hesiod hinweist. Maximos von Tyros (or. 9,2) zeigt, wie die Mittelstellung der Dämonen mithilfe philosophischer Begrifflichkeit systematisiert wurde. Plotins Dämonologie ist durch eine deutliche Neigung zur Allegorese geprägt. Passagen, in denen er das traditionelle Verständnis der Dämonen als Mittlerwesen aufgreift, sind zwar vorhanden, aber rar (z. B. IV 3,18,22–23; IV

24  Gott, Götter, Dämonen

4,43,12–16). Einen guten Eindruck von Plotins allegorischer Technik vermitteln die Traktate III 4 [15] (Über den Daimon, der uns erlost hat) und III 5 [50] (Über Eros bzw. Über die Liebe). In Enneade III 4 setzt Plotin bei der werthaften Stufung menschlicher Seelenvermögen an und erklärt denjenigen Teil zum Dämon der Seele, an dem sich das aktivste Seelenvermögen eines Individuums orientiert. ‚Dämon‘ wird in Plotins allegorischer Deutung zu einem Relationsbegriff für das Prinzip, auf das sich die Seele ausrichtet. So kann die Seele durchaus auch einen Gott – den Geist oder das Eine – als ihren Dämon ansehen (III 4,6,1–5). Warum Plotin anders als die Mittelplatoniker den Dämonen als Mittelwesen zwischen Gott und Mensch eine geringere Bedeutung beimisst, wird mit Blick auf die plotinische Psychologie verständlich. Ein Teil der menschlichen Seele bleibt Plotin zufolge immer mit dem göttlichen Intellekt verbunden (IV 8,8), sodass die über verschiedene Wirklichkeitsebenen ausdifferenzierte Seele (zumindest potentiell) immer mit dem Göttlichen in Verbindung steht und einer externen Vermittlung nicht bedarf. Jede einzelne menschliche Seele ist nach Plotins Auffassung ein intelligibler Kosmos (kosmos noêtos), der die geistige mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt verknüpft (III 4,4,21–27).

Literatur Ahbel-Rappe, Sara: Metaphysics: the origin of becoming and the resolution of ignorance. In: Pauliina Remes/ Svetla Slaveva-Griffin (Hg.): The Routledge Handbook of Neoplatonism. New York 2014, 166–181. Armstrong, Arthur H.: The Architecture of the Intelligible Universe in the Philosophy of Plotinus. Cambridge 1940.

239 Beierwaltes, Werner: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Frankfurt a. M. 1991. Beierwaltes, Werner: Plotins Theologik. In: Werner Beierwaltes: Fußnoten zu Plato. Frankfurt a. M. 2011, 27–50. Bussanich, John: The One and its Relation to Intellect in Plotinus. Leiden 1988. Bussanich, John: Plotinus’s metaphysics of the One. In: Lloyd P. Gerson (Hg.): The Cambridge Companion to Plotinus. Cambridge 1996, 38–65. Dodds, Eric R.: The Parmenides of Plato and the Origin of the Neoplatonic ‚One‘. In: The Classical Quarterly 22 (1928), 129–142. Dörrie, Heinrich/Baltes, Matthias (Hg.): Der Platonismus in der Antike 3: Der Platonismus im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus. Stuttgart 1993. Dörrie, Heinrich/Baltes, Matthias/Pietsch, Christian (Hg.): Der Platonismus in der Antike 7.1: Die philosophische Lehre des Platonismus. Theologia Platonica. Stuttgart 2008. Emilsson, Eyjólfur K.: Plotinus on Intellect. Oxford 2007. Gerson, Lloyd P.: From Plato’s Good to Platonic God. In: The International Journal of the Platonic Tradition 2 (2008), 93–112. Gerson, Lloyd P.: The ‘Neoplatonic’ Interpretation of Plato’s Parmenides. In: The International Journal of the Platonic Tradition 10 (2016), 65–94. Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin [1992]. München/ Leipzig 22006. Halfwassen, Jens: Auf den Spuren des Einen. Tübingen 2015. Krämer, Benedikt: Über das Unsagbare sprechen. Formen der Theologie in Plotins Enneaden. Münster 2020. Krämer, Hans J.: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Amsterdam 1964. Szlezák, Thomas A.: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. Stuttgart 1979. Timotin, Andrei: La démonologie platonicienne. Histoire de la notion de daimōn de Platon aux derniers néoplatoniciens. Leiden 2012. Whittaker, John: Neopythagoreanism and Negative Theology. In: Symbolae Osloenses 44 (1969), 109– 125 [Nachdruck in: John Whittaker: Studies in Platonism and Patristic Thought. Aldershot 1984, Nr. IX].

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Gut Christoph Horn

Unter der Bezeichnung ‚das Gute‘ (to agathon) thematisiert Plotin das erste Prinzip der Realität; wichtige weitere Bezeichnungen für dieses Absolute und Transzendente sind ‚das Eine‘ (to hen; s. Kap. 18), ‚das Erste‘ (to prôton), ‚das Prinzip‘ (hê archê) oder ‚Jener‘ (ekeinos). Anders als in modernen westlichen Sprachen besitzt ‚gut‘ hier keine moralische Bedeutung; es bezeichnet vielmehr das werthaft Höchste. Plotin knüpft dabei an Platons Bestimmung der ‚Idee des Guten‘ in den Büchern 6 und 7 der Politeia an, ebenso wie er für die Bezeichnung ‚das Eine‘ (to hen) auf den platonischen Parmenides zurückgreift. Die Verbindung beider impliziert somit eine „hermeneutische Interaktion zwischen diesen zwei Großtexten Platons“ (Steel 1989, 71: „une interaction herméneutique entre ces deux grands textes de Platon“). Plotin hält es für Platons genuine Auffassung, dass das Prinzip der Realität einerseits Quelle aller Wertaspekte und des ethischen Strebens ist, wie es andererseits zugleich die Quelle des Seins und des Wissens bildet. Die Idee des Guten ist für Platon „jenseits des Seins“ angesiedelt (epekeina tês ousias: rep. 6, 509b9); Plotin nimmt auf diese Formel häufig affirmativ Bezug. Zudem ­beruft

C. Horn (*)  Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]

sich Plotin auf Platons Ausdruck agathoeides („von der Art des Guten“: rep. 6, 509a3) zur Kennzeichnung des Geistes (vgl. Szlezák 1979, 151–154). Unter der Bezeichnung ‚das Gute‘ behandelt Plotin das erste Prinzip der Realität besonders in den beiden Traktaten VI 9 [9] und VI 7 [38]. Grundlegend ist seine Überzeugung, dass es in allem aus dem Guten Hervorgegangenen ein Verlangen gibt, zu diesem zurückzukehren. Gemäß seiner apophatischen Strategie in Bezug auf das erste Prinzip hält Plotin die Bezeichnung ‚das Gute‘ allerdings streng genommen für unangemessen: „Man darf es also auch nicht ‚das Gute‘ nennen, da es den anderen das Gute darbietet, sondern höchstens in einem besonderen Sinn das ‚Gute über allen Gütern‘“ (VI 9 [9],6,56–58: tagathon hyper ta alla agatha). Plotin betont ausdrücklich, es gehe eigentlich über das Gutsein noch hinaus und sei ein ‚Übergutes‘ (VI 9 [9],6,40: hyperagathon); es sei somit als „Ursache des Guten“ aufzufassen (VI 9 [9],9,2: agathou aitian). In der Schrift VI 2 [43] unterscheidet er erneut zwischen dem Guten, verstanden als erstes Prinzip, und dem Guten, verstanden als Qualität (hôs poion); für das absolute Gute gilt dann zum einen, dass „sich nichts von ihm aussagen lässt“, und zum anderen, dass es kein Genus (genos) begründet, weil die an ihm partizipierenden Entitäten nicht im selben Sinn gut sind wie es selbst (VI 2 [43],17,2–8).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_25

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25.1 Die Gleichsetzung des Guten (agathon) mit dem Einen (hen) Das Gute ist für Platon das Vollkommenste und Wertvollste überhaupt. Dies geht nicht nur aus der Politeia hervor, sondern auch aus einer Stelle im Philebos: Die „Natur des Guten“, heißt es dort, unterscheide sich darin von allem anderen, dass sie das Lebendige, das an ihr teilhabe, hinreichend und vollkommen mache (Plat. Phil. 60b10–c4). Als vollkommen erscheint aber auch das Eine im Parmenides, insofern es als teilloses Eines aller Vielheit vorhergeht. Somit liegt es für Interpreten Platons nahe, das Gute mit dem Einen gleichzusetzen. Dass sich hinter der ‚Idee des Guten‘ bereits nach Platons eigener Überzeugung das Eine verbergen könnte, ist eine Annahme, die zudem durch den doxographischen Bericht des Aristoxenos von der platonischen Vorlesung ‚Über das Gute‘ (Peri taga­thou) nahegelegt wird; Aristoxenos referiert diese Gleichsetzung ganz ausdrücklich (Elementa Harmonica 2,30–31, p. 30–32 Meibom = Aristot. fr. 84.1 Gigon). Eine zusätzliche Evidenz ergibt sich daraus, dass Speusipp sich gegen die Identifikation des Guten mit dem Einen ausspricht und sich damit gegen Platon zu wenden scheint (Speusipp, fr. 72 Isnardi Parente; s. Abschn. 10.3). Ansonsten sind aus der platonischen Tradition mehrere Traktate mit dem Titel Über das Gute bekannt, etwa von Xenokrates, Herakleides Pontikos oder Numenios, nicht jedoch vergleichbar viele mit dem Titel Über das Eine (Hadot 1994, 16–17). Zumindest für den Neuplatonismus kann die Identifikation jedoch als feste Doktrin gelten: Das Gute ist das Eine. Dass der Traktat VI 9 [9] den von Porphyrios stammenden Titel Über das Gute oder das Eine (Peri tagathou ê tou enos) trägt, impliziert somit eindeutig kein ausschließendes ‚oder‘ (als ob hier zwei verschiedene Themen behandelt würden), sondern ein einschließendes (d. h. ein einziges Thema wird unter zwei Bezeichnungen erörtert). Ohnehin scheint es naheliegend, dass die beiden superlativischen Begriffe, die jeweils für ein Absolutes stehen, nur ein und dasselbe Absolute bezeichnen können.

C. Horn

Carlos Steel hat die wichtigsten Gründe benannt, weshalb die Gleichsetzung des Guten mit dem Einen zu einer der grundlegenden Lehrmeinungen des (Neu-)Platonismus werden konnte (Steel 1989). Er arbeitet vor allem drei Punkte heraus. Zunächst erscheinen Gutsein und Einessein für Plotin (und zahlreiche weitere Philosophen) als gleichursprüngliche und gleich wichtige Prinzipien bei der Konstitution jeder Entität: Gutsein und Einessein haben denselben Effekt, nämlich die Konstitution, Stabilisierung und Vervollkommnung jeder Entität sicherzustellen; daher müssen die beiden auch ihrem Wesen nach identisch sein. Sodann streben für Plotin alle Entitäten sowohl nach dem Einen als auch nach dem Guten; wenn es aber zwei Formen letzter Finalität gibt, können diese nur der Beschreibung nach (intensional) differieren, nicht aber der Referenz nach (extensional). Und schließlich kann man die Beschreibungsdifferenz zwischen dem Absoluten qua Eines und qua Gutes plausibel machen mithilfe des Ausgang-Rückkehr-Schemas (prohodos – epistrophê): Jedes aus dem Einen Hervorgegangene strebt nach Plotin danach, zu seinem Ursprung als dem Guten zurückzukehren und damit seine „alte Natur“ (archaia physis; vgl. VI 9 [9],8,14– 15; VI 5 [23],1,16–17) wiederherzustellen.

25.2 In welchem Sinn ist das erste Prinzip gut? Die herausragende metaphysische Stellung des absoluten Guten wird in Enneade VI 9 [9] mit einer Reihe von metaphorischen und nichtmetaphorischen Begriffen umschrieben: Das Gute ist „die Quelle des Lebens, die Quelle des Geistes, das Prinzip des Seins, die Ursache des Guten und die Wurzel der Seele“ (VI 9 [9],9,1–2). Ebenso zentral ist die Darstellung der „Natur des Guten“ (tou aga­thou physis) in der Schrift I 8 [51]: Beim Guten handle es sich um dasjenige, „an das alles geknüpft ist“ (εἰς ὃ πάντα ἀνήρτηται), „wonach alles Seiende trachtet“ (οὗ πάντα τὰ ὄντα ἐϕίεται), dessen alles Seiende „bedürftig ist“

25 Gut

(κἀκείνου δεόμενα), während es selbst „unbedürftig, sich selbst genug und keines Dinges ermangelnd“ (ἀνενδεές, ἱκανὸν ἑαυτῷ, μηδενὸς δεόμενον) sein soll; es ist „Maß (metron) und Grenze (peras) aller Dinge“ und konstituiert aus sich Geist, Substanz, Seele, Leben und auf den Geist bezogene Aktivität (energeia; I 8 [51],2,1–8). Weiter heißt es: „bis zu ihm hinauf ist alles schön; er selbst ist überschön (hyperkalos) und jenseits dieser Herrlichkeiten; er ist König im intelligiblen Reich“ (I 8 [51],2,7– 9). Eine weitere Schlüsselstelle zum Verständnis der plotinischen Metaphysik des Guten findet sich in dem Kapitel V 5 [32],13, wo es sinngemäß heißt: Das Eine ist das Gute, es hat nicht nur das Gute. Das Gute ist ohne Anteil an NichtGutem; es ist nicht ein Gutes unter anderem Guten mit der gemeinsamen Eigenschaft des Gutseins. „Wenn ihm also jemand etwas hinzufügt – Substanz oder Geist oder Schönes –, so nimmt er ihm durch diese Zutat das Gutsein weg“ (V 5 [32],13,9–11). Plotin verwendet zur Illustration einen Vergleich mit jenen schlechten Rhetoren, die in ihren Lobreden den Ruhm der Redeadressaten minderten statt ihn zu steigern, „indem sie ihnen Inhalte zuschreiben, die unter ihrem Wert liegen“ (V 5 [32],13,13–17). Daran schließt Plotin die folgende Überlegung an: Wäre das erste Prinzip ein Gutes unter anderem Guten (und Nicht-Guten), dann würde es sich lediglich durch sein Proprium (idiô) und seine spezifische Differenz (diaphora), d. h. durch eine Hinzufügung (prosthêkê), von diesen anderen unterscheiden; dann aber wäre das Gute nicht mehr eines, sondern zwei: nämlich das allem Guten Gemeinsame – und dies wäre sein nicht-guter Teil – und das eigentlich Gute. Folglich müsste es dann aber auf die Teilhabe an einem absolut einfachen Guten zurückgeführt werden (s. Abschn. 44.2). Da diese Überlegung für Plotin jedoch absurd ist, lautet seine Folgerung: „So hat sich das ursprünglich Gute, das Gute, gezeigt als oberhalb von allem Seienden, als ausschließlich gut, als nichts in sich habend, als unvermischt mit allem, als über allem stehend und als Urheber von allem; denn das Schöne und das Seiende kann ja wohl nicht aus dem Schlechten stammen noch auch aus dem In-

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differenten; denn das Schaffende ist besser als das Geschaffene, weil es vollkommener ist“ (V 5 [32],13,33–38). Eine damit konvergierende Beschreibung des metaphysischen Status des Guten findet sich in der Schrift VI 7 [38]: „Und wir sagen von ihm aus, dass er das Gute ist, nennen ihn damit aber nicht selbst und prädizieren nicht etwas, was ihm anhaftet, sondern weil er es selber ist; da wir ferner nicht von ihm sagen wollen ‚Er ist Gutes‘, noch auch ihm den Artikel ‚das‘ davorsetzen wollen, andererseits ihn uns aber nicht deutlich machen können bei völliger Weglassung des ‚gut‘, so nennen wir es ‚das Gute‘, sodass wir des ‚ist‘ nicht mehr bedürfen, denn dadurch würden wir das Ausgesagte von dem Subjekt verschieden machen“ (VI 7 [38],38,4– 9). Subjekt und Prädikat werden durch das kopulative ‚Ist‘ verbunden, aber auch unterschieden. Im Text von VI 7 [38],38 schließt sich hieran die prominente Passage an, in der die angemessene Selbstprädikation des Einen thematisiert wird. Wenn das Eine, so Plotin, von sich selbst sagen würde: „Ich bin“, so wäre dies unangemessen, weil es nicht ist; die Aussage „Ich bin das Gute“ scheitert an der Subjekt-PrädikatStruktur (VI 7 [38],38,10–13). Das Gutsein des Geistes wird im Unterschied zum Gutsein des prinziphaften Guten wie folgt erläutert: „Jenes nun ist das Gute. Der Geist aber ist gut, indem er in der Schau sein Leben hat; es sind aber die Gegenstände seiner Schau auch ihrerseits gutgestaltig (agathoeidê), und er erwarb sie in dem Augenblick, als er das Wesen des Guten erschaute“ (VI 7 [38],15,10–13). Zu den Effekten des absoluten Guten gehört es, die intelligible Welt zu strukturieren. Dies findet seinen Ausdruck in einer Passage, die das ‚Licht des Guten‘ thematisiert und damit eine enge Anlehnung an Platons Sonnengleichnis aus Politeia 6 herstellt (s. auch Kap. 32). Ähnlich wie die Sonne die Gegenstände in der sensiblen Welt erst sichtbar werden lässt, bedarf es nach Plotins Überzeugung auch in der intelligiblen Welt eines zusätzlichen Lichts, um die Objekte überhaupt erfassbar zu machen: „Denn so wie es bei den Körpern, denen doch Licht eingemengt ist, dennoch weiteren Lichts bedarf, damit die

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in ihnen befindliche Farbe sichtbar wird, so bedarf es auch bei den Dingen jener Welt, obgleich sie Licht in Fülle in sich tragen, eines weiteren, höheren Lichts, damit auch sie sowohl für sich selbst als auch für jemand anderen sichtbar werden“ (VI 7 [38],21,13–17; dazu Hadot 1988, 289). Plotin vertritt in der Linie des Aristoteles das, was man in der aktuellen Metaethik eine ‚Wahrnehmungstheorie (perception theory) des Guten‘ nennen würde, nicht eine ‚Geschmackstheorie‘ (taste theory). Aristoteles konstatiert: „Wir erstreben aber etwas vielmehr, weil wir es für gut halten, als dass wir es für gut hielten, weil wir es erstreben“ (metaph. Λ 6, 1072a28–29). Mit Blick auf die Relation zwischen einem Wunsch und seinem Gegenstand kann man von einer Geschmackstheorie sprechen, wenn das Verhältnis so gedeutet wird, dass etwas als gut anzusehen sei, weil es aus beliebigen subjektiven Gründen gewünscht wird. Hingegen lässt sich eine Position als Wahrnehmungstheorie bezeichnen, für die die Bedingung rationalen Strebens darin besteht, dass das Erstrebte zuvor als gut identifiziert ist. Nach der ersten Theorie ist etwas wertvoll, weil es gewünscht wird (valuable because desired), nach der zweiten wird es gewünscht, weil es wertvoll ist (desired because valuable). Plotin plädiert klar für den zweiten Flügel der Alternative, wenn er sagt: „Erstrebenswert muss also das Gute sein, und zwar nicht durch das Erstrebtsein gut werden, sondern durch das Gutsein erstrebenswert werden“ (VI 7 [38],25,16–18; vgl. VI 7 [38],19,1–9). Doch ist das Streben der Seele nach dem Guten ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Indikator für dessen seins- und geisttranszendentes Wesen (VI 7 [38],22–23; vgl. Tornau 2006, 204–206).

25.3 Konstitution des Seins durch das Gute Für Plotin liegt der Konstitution der Realität, die er als absteigende Derivation vom Guten bis zur Materie konzipiert, keine göttliche Willensentscheidung zugrunde. Der Hervorgang eines Unteren aus dem Oberen ergibt sich nicht aus

C. Horn

einem Schöpferwillen (quia voluit), sondern aus dem überfließenden Gutsein und der Aktualität/ Aktivität jeder höheren Entität (quia bonum; zu Plotins Stufenkausalität vgl. Kremer 1987). Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zur christlichen creatio-Konzeption; innerhalb dieser denkt man sich die Schöpfung als einen einmaligen oder kontinuierlichen göttlichen Dezisionsakt. Steel fasst dies so, dass die paganen Neuplatoniker den Begriff des Einen gegenüber dem des Guten priorisiert hätte, die christlichen dagegen das Gute gegenüber dem Einen (Steel 1989, 81: „Les auteurs chrétiens n’ont aucun problème à concevoir Dieu comme un bien en lui-même et à introduire ainsi en lui un vouloir“). Ein weiterer Differenzpunkt ist, dass es im paganen Platonismus nicht die höchste Entität ist, die auf direktem Weg alles Untere generiert; vielmehr vollzieht sich der Generationsprozess von Stufe zu Stufe. Indirekt geht dennoch alles aus dem Guten oder Einen hervor; Plotin ist Monist in dem Sinn, dass er kein zweites, gegenläufiges Prinzip (etwa die ‚unbestimmte Zweiheit‘ der ‚Ungeschriebenen Lehre‘ Platons; vgl. hierzu V 4 [7],2,7–8; V 1 [10],5,14; s. Abschn. 9.2.1) annimmt, sondern alles – einschließlich der wahrnehmbaren Welt und der unteren Materie (hylê) – als aus dem ersten Einen entstanden denkt. Gegen die Sichtweise, wonach man einem plotinisch-neuplatonischen Intellektualismus in der Derivationstheorie einen christlichen Voluntarismus oder Dezisionismus in der Schöpfungskonzeption gegenüberstellen muss, gibt es aber auch Bedenken. So kann man geltend machen, dass Plotin in VI 8 [39],17 alles, was im gesamten Universum geschieht, der prohairesis des ersten Prinzips zuschreibt (vgl. vor allem VI 8 [39],17,2–3). Es wäre aber ein Missverständnis, den Begriff der prohairesis – wie es etwa bei Epiktet angemessen sein mag – als ‚freien Willen‘ aufzufassen. Worum es Plotin an dieser Stelle geht, ist nicht die Betonung eines göttlichen Dezisionsakts, sondern die Hervorhebung des göttlichen Vorwissens, der Ordnung und der Vorsehung (pronoia). Nichts geschieht im Universum, was nicht Teil der Planung des Guten wäre. Falsch ist es sicher auch, einen

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Voluntarismus oder Dezisionismus aus der tolmêros logos-Passage VI 8 [39],7–21 abzuleiten (s. Abschn. 21.2.4). Zwar trifft Plotin dort u. a. auch die ungewöhnliche Feststellung ‚Das Eine will sich selbst‘, man muss sich aber verdeutlichen, dass er diese Aussagen streng genommen für falsch hält (vgl. VI 8 [39],13,1–5). Zurückzuweisen ist deshalb die ältere These von Ernst Benz, Plotin habe das Eine oder Gute „dynamisiert“ und damit gleichsam voluntaristisch interpretiert (Benz 1932, 289–309; vgl. etwa 301: „Mit dieser Konzeption des Willens […] ist der griechische Intellektualismus durchbrochen“; zur Kritik vgl. Nölker 2016, 233–244).

25.4 Der Aufstieg zum Guten Das Gute ist für Plotin nicht nur Prinzip (archê), sondern auch Ziel (telos). Ausdrücklich sagt er über die (menschliche) Seele: „Jenes ist ihr Prinzip und Ziel; Prinzip, denn sie stammt von dort, und Ziel, denn das Gute ist dort, und weil sie, dort einmal angelangt, wieder das sein wird, was sie eigentlich war; denn das Leben hier unter diesen [irdischen] Dingen ist Verstoßung, Flucht und Entfiederung“ (VI 9 [9],9,20–24). Die Seele existiert in der sinnlichen Welt mithin in einem Zustand der Entfremdung; es ist der Eros, der der Seele den Impuls zum Aufstieg zum Guten verleiht: „Dass aber dort oben das Gute ist, das erweist auch die Liebe (erôs), welche mit der Seele unmittelbar verbunden ist (symphytos); deswegen ist ja auch auf Gemälden und in den Mythen Eros mit Psyche direkt verknüpft“ (VI 9 [9],9,24–26). In einem zentralen Textstück verlangt Plotin, dass man sich für den Aufstieg zum Guten von den sinnlichen Objekten (aisthêta) abwenden, sich von aller moralischen Schlechtigkeit (kakia) loslösen und aus der Vielheit zu einer Einheit werden müsse; damit werde man zum „Betrachter des Prinzips und des Einen“ (archês kai henos theatên): „Weil aber das, was wir suchen, Eines ist und wir das Prinzip aller Dinge ins Auge fassen wollen, nämlich das Gute und Erste, so dürfen wir uns auch nicht von der Region des Ersten entfernen und zum Allerletzten

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herabfallen, sondern es gilt, im Hinstreben nach dem Ersten sein Ich von den sinnlichen Objekten, welche das Letzte sind, hinaufzuführen, losgelöst zu sein von jeglicher Schlechtigkeit, da man ja zum Guten eilt, hinaufzusteigen zu dem Prinzip im eigenen Selbst und aus der Vielheit ein Eines zu werden, da man Betrachter des Prinzips und des Einen werden soll“ (VI 9 [9],3,14–22). Bei ihrem Aufstieg, für den eine moralische Reinigung sowie Tugenderwerb entscheidend sind, gelangt die Seele an einen „Ort ohne Übel“ (VI 9 [9],9,13–14). Umgekehrt gilt: Steigt eine Seele nach unten ab, so mindert sie zunächst nur ihren ontologischen Rang; davon zu unterscheiden ist ihr moralisches Verhalten. Nach Plotins Auffassung ist es nicht der Fall, dass die Materie die menschlichen Seelen, die mit ihr in Kontakt kommen, auf eine unvermeidliche Weise korrumpiert. Vielmehr beschreibt Plotin die moralische Korruption der Seele durch die Materie als Resultat einer frei gewählten, allzu intensiven Zuwendung einer Seele zur Materie: Die menschliche Seele wird nur dann böse, wenn sie der Materie ‚verfällt‘ (I 8 [51],4,5–32; s. Abschn. 34.3; Kap. 46).

25.5 Axiologie: Güter als Konstituentien des Glücks Fundamental für alle Glückstheorien der antiken Philosophie ist der Begriff des Guten in glückskonstitutiver Funktion. Als ein agathon zählt dabei für alle eudämonistischen Positionen dasjenige, was zu erlangen für Menschen letztlich vorteilhaft und wählenswert ist; das Glück, die eudaimonia, wird dann als der Inbegriff des Besitzes des Guten bzw. aller Güter verstanden – unabhängig davon, ob ein Philosoph Gütermonist oder Güterpluralist, Idealist oder Materialist, Hedonist oder Anti-Hedonist ist. Güter (welche auch immer) sind notwendig und hinreichend, um das letzte Ziel (telos) des Glücks zu erlangen. Auch Plotin vertritt einen solchen Eudämonismus. In seiner Abhandlung über die eudaimonia (I 4 [46]; s. Abschn. 23.1) betont er jedoch, dass das Glück nicht als eine bloße „An-

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häufung (symphorêsis) von Gütern und Notwendigkeiten oder von als nicht-notwendig angesehenen Gütern“ betrachtet werden dürfe (I 4 [46],6,7–10). Vielmehr stellt Plotin der (aristotelischen) Theorie eines inklusiven Güterpluralismus ebenso wie die Stoiker einen Gütermonismus entgegen (vgl. Strobel 2020). Dieser ist allerdings im Sinn der platonischen „Angleichung an Gott“ (Plat. Tht. 176a: homoiôsis theô) einzig am Ziel des Aufstiegs zum transzendenten Guten ausgerichtet; beim aufsteigenden Individuum führt die Fokussierung auf das einzige wirkliche Gut zu einer Haltung der Affektfreiheit (apatheia; vgl. I 2 [19],5,5–21). Über die vermeintlichen sonstigen Güter – wie Gesundheit oder Schmerzfreiheit – spricht Plotin denn auch geringschätzig: „Gewiss, wir möchten auch das Vorhandensein dieser Dinge, wie wir denn überhaupt dem Übel (ta kaka) aus dem Weg gehen […]. Das bezeugen auch diese Dinge selbst, solange sie vorhanden sind, z. B. Gesundheit und Schmerzfreiheit; denn welchen Reiz haben sie dann für uns? Gesundheit wird doch geringgeschätzt, solange sie vorhanden ist, und ebenso Schmerzfreiheit. Dinge aber, welche, wenn sie vorhanden sind, keinen Reiz für uns haben und der Glückseligkeit nichts hinzusetzen, wenn sie aber nicht vorhanden sind, nur erstrebt werden wegen der Präsenz des Betrüblichen, verdienen wohl zu Recht die Bezeichnung ‚Notwendigkeiten‘ (anankaia), nicht aber die Bezeichnung ‚Güter‘ (agatha). Sie sind also dem letzten Ziel (telos) nicht zuzurechnen, vielmehr bleibt das letzte Ziel auch dann unversehrt, wenn sie fehlen und ihr Gegenteil anwesend ist“ (I 4 [46],6,21–32). Plotins Argument gegen den Gütercharakter von Gesundheit oder Schmerzfreiheit ist also, dass diese von uns nicht aktiv gesucht würden. Wir empfänden nur ihr Fehlen als störend; Plotin deutet körperliche Güter somit als nur instrumentell wertvoll, nicht als intrinsisch wählenswert. In I 4 [46],7 findet sich eine ausführliche ‚negative Güterliste‘, d. h. eine Auflistung dessen, was Plotin alles nicht zu den Gütern rechnen will: Der Verlust eines Kindes – und andere schwere Schicksalsschläge – soll uns ebenso wenig aus der Bahn werfen wie der Verlust von

C. Horn

Eigentum; glückliches Gelingen (eutychia) sei ebenfalls nicht glückskonstitutiv, einschließlich des Königtums oder der politischen Herrschaft über Städte und Völker oder die Gründung von Tochterstädten. Die mögliche Zerstörung der eigenen Vaterstadt dürfe man ebenfalls nicht als glücksrelevanten Verlust ansehen; sonst hielte man irrtümlich Balken und Marmor sowie das Leben sterblicher Menschen für etwas Bedeutendes. Auch der eigene Tod sei nicht als Verlust zu sehen und ebenso wenig die Gefahr, dass der Leichnam ohne Bestattung und Grabstein verrottet; nichts davon sei für den neuplatonischen Weisen (spoudaios) erheblich. In I 4 [46],15 führt uns Plotin ein Gedankenexperiment vor: Man stelle sich zwei Weise (sophoi) vor, von denen einer zusätzlich im Besitz der „Naturgüter“ (kata physin) sei; dann müsse man den beiden das gleiche Maß an Glück (eudaimonein) zuerkennen, sofern sie beide gleichermaßen weise seien. Was mit den Gütern kata physin gemeint ist, wird an Plotins Beispiel deutlich: Besitzt jemand eine besondere körperliche Schönheit, so ist dies für die Erlangung von Weisheit und Tugend unerheblich und daher nicht glücksrelevant. Auch im Kapitel II 9 [33],9 erfahren wir, dass der Weise solche vermeintlichen Güter wie Wohlstand und politische Macht missachtet. Stattdessen macht Plotin geltend, dass es zwei grundlegend verschiedene Arten gibt, ein menschliches Leben zu führen (II 9 [33],9,6: dittos ho enthade bios) – nämlich das des Weisen (spoudaios) und das der gewöhnlichen Leute –, wobei der Weise strikt auf das höchste Gut und die höhere Welt ausgerichtet sei (II 9,9 [33],8: pros to akrotaton kai to anô). Aus dieser Einsicht ergebe sich, so Plotin, eine Güterperspektive, die von der üblichen völlig verschieden sei. Plotin formuliert prägnant: „Aber auch wenn einer dich ermordet, oder aus Schwäche seinen Begierden unterliegt, was ist daran unbegreiflich, und dass es [andere an dir vollzogene] Verfehlungen gibt – sie betreffen ja nicht den Geist, sondern die Seelen, und die sind unreif wie Kinder. Und geht es zu wie auf einem Sportplatz, mit Siegern und Besiegten, auch dann ist es noch recht. Und erleidest du Unrecht, wie kann das deinen unsterblichen Teil schre-

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cken? Und wirst du ermordet, so hast du, was du wünschst“ (II 9 [33],9,11–16).

Literatur Bussanich, John: The Invulnerability of Goodness: The Ethical and Psychological Theory of Plotinus. In: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 6 (1990), 151–184. Benz, Ernst: Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik. Stuttgart 1932. Chrétien, Jean-Louis: Le Bien donne ce qu’il n’a pas. In: Archives de philosophie 43 (1980), 263–277. Hadot, Pierre: Plotin. Traité 38 (VI,7). Introduction, traduction, commentaire et notes. Paris 1988. Hadot, Pierre: Plotin. Traité 9 (VI,9). Introduction, traduction, commentaire et notes. Paris 1994. Kremer, Klaus: Bonum est diffusivum sui. Ein Beitrag zum Verhältnis von Neuplatonismus und Christentum. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II.36.2 (1987), 994–1032. McGroarty, Kieran: Plotinus on Eudaimonia: A Commentary on Ennead I.4. Oxford 2006.

247 Nölker, Philipp: Freiheit Gottes und Freiheit des Menschen bei Plotin (Enneade VI 8). Münster 2016. Siegmann, Georg: Plotins Philosophie des Guten. Eine Interpretation von Enneade VI 7. Würzburg 1990. Song, Euree: Aufstieg und Abstieg der Seele. Diesseitigkeit und Jenseitigkeit in Plotins Ethik der Sorge. Göttingen 2009. Steel, Carlos: L’Un et le Bien: Les raisons d’une identification dans la tradition platonicienne. In: Revue des sciences philosophiques et théologiques 73 (1989), 69–85. Strobel, Benedikt: Zur Rolle der aristotelischen Ethik im Platonismus (Baustein 248). In: Heinrich Dörrie†/Matthias Baltes†/Christian Pietsch (Hg.): Der Platonismus in der Antike 8. Die philosophische Lehre des Platonismus: Die Ethik im antiken Platonismus der Kaiserzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2020, 494–499; 760–794. Szlezák, Thomas A.: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. Basel/Stuttgart 1979. Tornau, Christian: Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos. In: Matthias Perkams/Rosa-Maria Piccione (Hg.): Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik. Akten der Konferenz in Jena am 18.–20. September 2003. Leiden 2006, 201–229.

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Ideen László Bene

26.1 Die Bedeutung der Ideen in Plotins Philosophie Die Annahme der Existenz der Ideen als Grundlage eines umfassenden philosophischen Programms stammt von Platon. Dieser Hypothese zufolge gibt es nicht sinnlich wahrnehmbare, allein mit der Vernunft fassbare, unveränderliche und ewige Gegenstände, die gleichzeitig als Objekte des Wissens, als Prinzipien der kosmischen Ordnung und als absolute Normen des menschlichen Handelns dienen (Cherniss 1936). Die Theorie der Ideen wird nicht systematisch dargelegt: verschiedene platonische Dialoge und auch die von Aristoteles überlieferte ‚ungeschriebene Lehre‘ bieten abweichende Ansätze an. In der skeptischen Akademie der hellenistischen Epoche ist diese anspruchsvolle metaphysische These verständlicherweise in den Hintergrund getreten. Nach der Auflösung der Akademie gewann die Ideenannahme ihre Bedeutung zurück, sodass sie als einer der wichtigsten Grundsätze der mittelplatonischen Bewegung galt (Attic. fr. 9 des Places; Baltes 1996, 227–228). Verschiedene Versuche wurden gemacht, die platonische Ideenlehre systematischer auszubauen. Plotin macht sich die These

L. Bene (*)  Eötvös-Loránd-Universität, Budapest, Ungarn E-Mail: [email protected]

zu eigen, er verknüpft sogar die Identität des echten Philosophen mit der Fähigkeit, sich zum intelligiblen Sein – den Ideen – zu erheben (V 9,1,16–21; 2,1–18). Die Ideenlehre wurde in Plotins Schule und im breiteren Kreis der Platoniker heftig diskutiert, auch Longin, Porphyrios und Amelios haben sich zur Frage geäußert (Porph. VP 18,8–19; 20,86–104; Bonazzi 2015, 124–130; s. Abschn. 2.3). Die platonischen Ideen werden bei Plotin – wie schon bei Platon – meistens durch das Wort eidos, etwas seltener durch das Wort idea bezeichnet (Sleeman/Pollet 1980, 296–297; 507–508). Zu beachten ist, dass eidos auch für ‚Form‘ (im allgemeinen Sinne oder in Gegenüberstellung zur Materie) oder für ‚Art‘ (einer Gattung) stehen kann. Ferner können sich viele andere Ausdrücke – meistens nach platonischen Vorlagen – auf die Ideen beziehen, wie „die seienden [Dinge]“ (ta onta), „die wirklich Seienden“ (ta ontôs onta), „die intelligiblen Dinge“ (ta noêta), „die dortigen Dinge” (ta ekei), „Vorbilder“ (paradeigmata) und „Urbilder“ (archetypa; dieses Wort kommt bei Platon nicht vor), „jedes einzelne Ding an sich“ (V 6,6,14: auto hekaston), oder „der Mensch an sich“ (autoanthrôpos, V 9,13,2; VI 5,6,11–12). Die Gesamtheit der Ideen kann kollektiv als kosmos noêtos („intelligible Welt“; Sleeman/Pollet 1980, 576–577), als Sein (to on, ousia; vgl. Sleeman/Pollet 1980, 780–782), als Lebewesen (zôon) bzw. „was das Lebewesen ist“ (ho esti

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 C. Tornau (Hrsg.), Plotin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_26

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zôon) bezeichnet werden (III 9,1,25; V 9,9,8; VI 2,21,57–58, nach Plat. Tim. 39e). Einige Wörter wie ‚Form‘, ‚Vorbild‘ oder ‚Urbild‘ verweisen auch im Singular auf die Gesamtheit der Ideen (wie schon im mittelplatonischen Sprachgebrauch, vgl. Boys-Stones 2018, 132). Plotins wichtigste Texte zur Ideenlehre sind die Traktate der fünften Enneade, besonders die Schrift V 9 [5], die auch als Einführung in die Problematik der Ideen geeignet ist, und die vertieften Analysen des Selbst-Denkens des Geistes in den Enneaden V 3 [49] und V 5 [32]. Hinzugefügt werden kann die Erörterung des Verhältnisses zwischen den Sinnendingen und ihren intelligiblen Vorbildern bzw. zwischen den Ideen und dem ersten Prinzip in der Schrift VI 7 [38], außerdem die Schrift VI 4–5 [22–23], die die These der Allgegenwart des intelligiblen Seienden in der wahrnehmbaren Welt entwickelt. Plotin erarbeitete seine eigene Version der Ideenlehre in Anknüpfung an die Mittelplatoniker (Michalewski 2014, 47–96; Bonazzi 2015, 117–151; Bonazzi 2022, 115–120; s. Abschn. 13.3). Seine Betrachtungen gehen jedoch tiefer als die auf uns gekommenen mittelplatonischen Erörterungen der Ideenlehre. Er denkt die platonische Ideenannahme von Grund auf neu durch. Zum Beispiel hält er es für erforderlich, die Existenz der Ideen sowie ihren Unterschied zu immanenten Formen und abstrakten Begriffen zu beweisen (V 9,3–5; VI 6,6; D’Ancona 1997, 388–390). Obwohl Plotin in der platonischen Tradition steht, nehmen seine Untersuchungen über die Ideen aus zweierlei Gründen öfters eigenartige Wendungen. Erstens muss er mit nachplatonischen Entwicklungen rechnen. Nicht nur beachtet er die Einwände des Aristoteles gegen die Ideenlehre (s. Abschn. 9.3), sondern er bedient sich auch aristotelischer Denkmittel bei seinen eigenen Lösungen der Schwierigkeiten (s. Kap. 11). Seine Theorie wird außerdem durch die Herausforderungen der hellenistischen Schulen und durch die Debatten zeitgenössischer Platoniker geprägt. Zweitens und vielleicht noch wichtiger: Plotin integriert die Ideen in die strenge Logik seines metaphysischen Modells, das – selbst wenn es auf platonischen Grundlagen aufgebaut

L. Bene

ist – wesentlich über Platon hinausgeht. Plotin versetzt wie schon viele Mittelplatoniker die Ideen in den göttlichen Geist, aber er geht weiter als seine Vorgänger. Durch seine radikale Identifizierung von Geist und Ideen bewahren die letzteren ihre systematische Bedeutung angesichts der Tatsache, dass Plotin den Schlüssel zur Lösung philosophischer Grundprobleme häufig in der Geistmetaphysik findet (für eine Übersicht der Forschungsliteratur zu Geist und Ideen bei Plotin vgl. D’Ancona 2012, 1023–1038).

26.2 Die Ideen als Vorbilder der Sinnenwelt Die Analyse der kosmologischen Rolle der Ideen ist bei Plotin – wie auch bei den Mittelplatonikern – aufs engste mit theologischen Fragestellungen verknüpft. Plotin steht in der Tradition der teleologischen Kosmologie. Die physische Welt ist durch rationale Ordnung gekennzeichnet, deshalb sollen die Erklärungen der Naturphänomene in erster Linie angeben, warum es am besten ist, dass sie so sind, wie sie tatsächlich sind (Plat. Phaid. 97c–98b; vgl. z. B. III 2,1,15–26; VI 7,1; VI 8,17,1–4). Platon erarbeitete seine teleologische Kosmologie in der kosmogonischen Erzählung des Timaios, derzufolge der Demiurg die Sphäre des Werdens zweckmäßig nach einem idealen, ewigen Vorbild, dem intelligiblen Lebewesen, ordnete, das die Ideen der im sinnlichen Kosmos anzutreffenden Lebewesen (und auch der körperlichen Elemente) in sich enthält (Plat. Tim. 30a– d). Im Mittelplatonismus wurden unterschiedliche Deutungen der Beziehung zwischen dem Demiurgen – einem göttlichen Geist – und dem idealen Vorbild entwickelt (Boys-Stones 2018, 150–159; zu Plotins Verhältnis zur Auffassung von Longin und anderen Mittelplatonikern vgl. Bonazzi 2015, 124–142). Plotin geht von der mittelplatonischen Tradition aus, in der die Ideen als Gedanken des demiurgischen göttlichen Geistes verstanden werden (zur möglichen Vorwegnahme dieser Konzeption in der Alten Akademie und bei Antiochos vgl. Dillon 2011; s. auch Abschn. 10.4); der demiurgische

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Geist wird bei ihm freilich auf die zweite Stufe des Systems gestellt, wie schon bei Numenios. Aber er wendet sich gegen die Auffassung, die die Ideen als Gedanken vom göttlichen Geist abhängig macht (V 9,7,11–17; VI 6,6,1–19). Für Plotin sind die Ideen „primäre Entitäten” (prôta: III 7,4,3–6; V 3,9,34–36; V 9,5,17–23; V 9,7,8). Dies bedeutet einerseits, dass sie nicht bloß willkürliche Produkte des Geistes sind (d. h. er ist ihnen ontologisch nicht vorgeordnet), und andererseits, dass die Strukturen, die sich in der Seele und im Kosmos entfalten, zuerst auf der Ebene der zweiten Hypostase als eigenständige, komplexe Gebilde anzutreffen sind. Plotin besteht darauf, dass Geist und Seiendes sich wechselseitig implizieren oder, besser gesagt, Aspekte einer und derselben Natur sind (z. B. V 1,4,26–28; V 9,8,16–20). Die Ideen machen das Wesen des Geistes aus (V 9,5,23). Andererseits ist jede einzelne Idee Geist, oder genauer, die Ideen sind einzelne Geistwesen (V 9,8,4; s. auch Abschn. 22.2) – eine bemerkenswerte Auffassung der platonischen Ideen. Anthropomorphe Züge des platonischen Demiurgen wie Planung, Überlegung, Entscheidungen, die von manchen Mittelplatonikern beibehalten wurden (und in abgewandelter Form auch bei Gnostikern auftreten), werden bei Plotin beseitigt (O’Meara 1980a; Michalewski 2014, 198–205; Noble/Powers 2015; Chiaradonna 2015). Anstelle der Wirkungsweise des menschlichen Handwerkers erarbeitet Plotin ein neues Modell der Verursachung, demzufolge das Prinzip schafft, indem es ist, was es ist (III 2,1,43–45; 2,40–42; III 8,3,20–23; vgl. III 6,4,34–43). Dieses Modell beruht auf der Struktur der ‚doppelten energeia‘ (Emilsson 2007, 22–68; s. Abschn. 24.2 und 29.4). Die erste Tätigkeit (energeia) macht das Wesen der betreffenden Sache aus, während die zweite nach außen wirkt, vorausgesetzt, dass ein geeignetes Zugrundeliegendes gegenwärtig ist, um sie aufzunehmen. Wichtig ist, dass die zweite Energeia keinen gesonderten Aufwand seitens des Prinzips erfordert. Der Geist bringt auf diese Weise die unteren Ebenen der Wirklichkeit hervor (VI 2,22,20–32); da er die Ideen, die Prinzipien der kosmischen Ordnung, in sich enthält, kann eine

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entsprechende Wirkungsweise auch den letzteren zugeschrieben werden (II 9,8,20–26; VI 7,8,1–13; Michalewski 2014, 172–184; 205– 207). In welcher Form existieren die Vorbilder der kosmischen Ordnung im göttlichen Geist? Plotin muss sich hier die traditionelle Frage nach dem Umfang des Ideenreiches stellen, die schon von Platon aufgeworfen wurde (Parm. 130b–e): Wovon gibt es Ideen? Er scheint zweierlei Anliegen zu haben. Einerseits ist er bestrebt, alles, was im sinnenfälligen Kosmos rationale Struktur, Form, ist, auf die Ideenwelt zurückzuführen (V 9,9–10; VI 2,21,32–43; VI 7,11,3– 4). Andererseits versucht er, absurde Konsequenzen und Annahmen, die mit dem erhabenen Stand der Ideen unvereinbar sind, zu vermeiden (vgl. Wilberding 2011, 55). In Anlehnung an den späten Platon und die platonische Tradition nimmt Plotin in der Regel an, dass nicht nur moralische Werte wie Tapferkeit oder Gerechtigkeit, mathematische Strukturen und logische Begriffe wie Identität und Differenz, sondern auch Substanzen wie die Lebewesen und die körperlichen Elemente auf Ideen zurückgeführt werden müssen; er setzt auch Ideen von Quantitäten, Qualitäten und anderen akzidentellen Eigenschaften an (V 9,9–10; VI 2,21). Die Annahme von Ideen von Tierarten, Pflanzen und Elementen wird aber auch problematisiert (VI 7,8,15– 17; 11,5–7). Es wird noch schwieriger, wenn es zu den Tierkörperteilen kommt: Gibt es z. B. Ideen von Nägeln, Zähnen und Hörnern? Plotins Antwort auf diese Fragen ist komplex. Mit dem Herabsteigen des Lebens vom Geist entstehen niedere Lebensformen, die solche Organe zur Selbsterhaltung benötigen. Dies bedeutet, dass die Körperteile in der Idee einer Tierart nur implizite enthalten sind und erst auf der Ebene der Gestaltungsprinzipien (logoi) in der Seele (einschließlich ihres unteren Aspekts, der Natur; s. Abschn. 37.1) entfaltet werden (VI 7,9,34–46). Diese Strukturen – wie auch die verschiedenen Arten der Lebewesen selbst – entstammen zwar der Ideenwelt, aber sie existieren dort in einer Weise, die sich von ihrer Erscheinungsform in der sinnenfälligen Welt wesentlich unterscheidet. Diese Erklärung beleuchtet ein wei-

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teres Merkmal der plotinischen Auffassung der Ursächlickeit der Ideen: Die Idee gibt den an ihr Teihabenden, was sie selbst nicht hat (vgl. VI 6,17,25–26; VI 7,17,1–6; VI 7,32–33; D’Ancona 1992). Plotins neue Theorie der Ursächlichkeit der Ideen und der Logoi eröffnet im Vergleich zur früheren platonischen Tradition den Weg zur Erweiterung des Bereiches der Dinge, die aus der intelligiblen Welt abgeleitet werden können. Nach herkömmlicher platonischer Auffassung gibt es keine Ideen von artifiziellen Erzeugnissen. Plotin hingegen besteht darauf, dass manche Künste ihre Prinzipien aus der intelligiblen Welt schöpfen (wie die Architektur und andere Künste, die auf mathematischen Prinzipien beruhen), während andere – wie die mimetischen Künste – in der menschlichen Natur verwurzelt sind, insofern die Idee des Menschen die zugrunde liegenden Fähigkeiten irgendwie implizite enthält (V 9,11). Ferner schreibt Plotin Individualität zumindest teilweise einer einzigartigen Kombination von gestaltenden Prinzipien (logoi) zu, die letztlich die in der betreffenden Idee (z. B. der Idee des Menschen) enthaltenen Möglichkeiten entfalten (V 9,12; V 7; s. Kap. 27). Die Vielfalt der rationalen Strukturen, die sich im Kosmos entfaltet, bildet in der intelligiblen Welt ein einheitliches, harmonisches Ganzes, dessen Bestandteile erst auf den unteren Ebenen der Wirklichkeit auseinandertreten und sich zu einem heraklitischen System der widerstreitenden Gegensätze entwickeln (III 2,1–2).

26.3 Die Ideen und die Möglichkeit des Wissens Zu den zentralen Anliegen, die ursprünglich Platons Ideenannahme motivierten, gehörte der Wunsch, die Möglichkeit des Wissens zu sichern (Plat. rep. 479e1–8; Parm. 135b5–c6; soph. 249c3–d4; Aristot. metaph. Α 6, 987a32– b8). Die Ideen garantieren auch bei Plotin die Möglichkeit des Wissens, aber die Metaphysik der Ideen ist hier in die Analyse der Struktur des Geistes eingebettet. Die Existenz des ­ Geistes

L. Bene

und seine Identität mit den Ideen wird auch mit epistemologischen Argumenten untermauert. Der Geist, der die wahrhaft Seienden – die Ideen – als Objekte seines Erkennens in sich hat, stellt das Musterbeispiel von Wissen, Wahrheit und Selbsterkenntnis dar. Wenn die vollkommene, paradigmatische Form des Erkennens, die den universalen Geist kennzeichnet, nicht existierte, wäre Denken auch auf der Ebene der Seele nicht möglich (V 1,11,1–7; V 3,2,9–14; 3,6–12; V 5,1,65–69; 2,1–9). Die Identität des Geistes mit den Ideen, oder, anders gefasst, die These, dass „sich die intelligiblen Gegenstände nicht außerhalb des Geistes befinden” (Enneade V 5 [32]), ist von entscheidender Bedeutung nicht nur in kosmologischem und theologischem Zusammenhang, sondern auch in der Erkenntnistheorie. Läge das Objekt außerhalb des Geistes, so würde der Verdacht aufkommen, dass es – wie auch in der Sinneswahrnehmung – nur in den Affektionen des erkennenden Subjekts so existiert, wie es dem letzteren erscheint, und das Erkennende jedenfalls nur ein Abbild des Dinges erfasst, nicht das Ding selbst. Wenn dem so wäre, würde es kein unfehlbares Wissen und keine Wahrheit geben, weil die Vermittlung die Möglichkeit des Irrtums in sich birgt und weil die Repräsentation selbst als eine Art von Unwahrheit verstanden werden kann. Folglich müssen die intelligiblen Objekte innerhalb des Geistes situiert sein. Nur diese Hypothese garantiert die Möglichkeit, zu erkennen, was jedes einzelne Ding ist (d. h. die Möglichkeit der Erkenntnis der Idee), und nicht bloß, wie es ist (V 5,1,12–19; 50–68; V 5,2,1– 9). Das Problem der repräsentationalen, vermittelten Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis, das Plotin zu überwinden versucht, wurde schon von den Skeptikern aufgeworfen (vgl. S. Emp. P.H. 2,51; 72; s. Abschn. 12.4). Wahres, unfehlbares Wissen setzt voraus, dass das Erkennende ihm selbst innewohnende Objekte erfasst, dass sein Wissen also in einem gewissen Sinne als Selbsterkenntnis angesehen werden kann. Die Skeptiker stellten freilich auch die Möglichkeit der Selbsterkenntnis infrage: Wenn das Erkennende einen Teil seiner selbst mit einem anderen er-

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kennt, dann kann seine Selbsterkenntnis nicht vollständig sein (S. Emp. adv. math. 7,284–286; 310–312). Plotins Lösung ist, dass im Geist, der sich selbst erkennt, Erkennendes und Erkanntes identisch sind (V 3,1,5–12; 5,1–48; Menn 2001; Emilsson 2007, 124–175). Plotins Interesse an diesen Texten mag teilweise den Skeptikern und – indirekt – den von ihnen kritisierten stoischen und epikureischen Theorien gelten (O’Meara 2000; Magrin 2010). Aber er ist auch bemüht, im Kontext der platonischen Diskussion zu zeigen, dass die Trennung von Ideen und göttlichem Geist ebenso zum Skeptizismus führt wie die sensualistischen Erkenntnistheorien (Bonazzi 2015, 117–151; Bonazzi 2022, 117–118; zu möglichen gnostischen Gegnern vgl. Soares Santoprete 2018). Die Theorie der Identität von Geist und Ideen, von Erkennendem und Erkanntem, mit der Plotin auf die skeptische Herausforderung antwortet, ist von Aristoteles und den Aristotelikern inspiriert (Aristot. an. 3,4, 430a3–5; metaph. Λ 7, 1072b18–21; 9, 1074b21–1075a5; vgl. Armstrong 1960; Donini 1974; Menn 2001; s. Abschn. 11.3). Die Identitätsthese hat weitreichende Folgen für das Verständnis der Objekte der Erkenntnis, der platonischen Ideen. Die Idee kann die Möglichkeit des Wissens nur dadurch sichern, dass sie sich notwendigerweise und ewig in Aktualität befindet (vgl. V 9,5,1– 10). Ihre Aktualität ist – wie die des göttlichen Geistes von Aristoteles – Leben und Denken (vgl. Aristot. metaph. Λ 7, 1072b18–30). Plotin kann sich in dieser Hinsicht auch auf Platon berufen: Das ideale Vorbild im Timaios ist ein vollkommenes Lebewesen (Tim. 31a–b), und im Sophistes heißt es vom vollkommenen Seienden, dass es Leben und Denken mit einschließen muss (soph. 248e–249a; vgl. Hadot 1960). Nach Plotins Auffassung sind die Ideen keineswegs isolierte, in sich geschlossene Gebilde, sondern sie machen eine organische Einheit aus (s. u. Abschn. 26.5). Der Geist erfasst die Idee holistisch, zusammen mit dem Ganzen, in das sie eingebettet ist. Außerdem existieren die Ideen ewig (außerhalb der Zeit) der Wirklichkeit nach: Sie besitzen ihre Aktualität – Denken und Gedachtwerden – ohne zeitliche Aus-

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dehnung. Daraus ergibt sich, dass dem Geist das ganze System der Ideen zugleich gegenwärtig ist: er erkennt die Ideenwelt nicht Teil für Teil, durch Schlüsse und Beweise, sondern erfasst sie zugleich in ihrer Gesamtheit, in einem einzigen zeitlosen Erkenntisakt. Zeitlosigkeit, Ganzheitlichkeit, nicht-inferentielle Struktur, zusammen mit nicht-repräsentationalem Charakter und Unfehlbarkeit, grenzen noetisches Denken ab, das als die den Ideen angemessene Erkenntnisweise gilt (Emilsson 2007, 176–207). Noetisches Denken – die geistige Bewegung, die im reflexiven Akt der Selbsterkenntnis von ihnen ausgeht und auf sie gerichtet ist – konstituiert aber auch die Aktualität der Ideen. Diese Analyse des Verhältnisses zwischen Ideen und universalen Geist erlaubt es, den Ideen auch die Funktion von Prinzipien des menschlichen Erkennens zuzuweisen (Bonazzi 2015, 142–151; Emilsson 2007, 207–213). Plotin sieht diskursives Denken als die charakteristische Tätigkeit der menschlichen Seele (und auch der Seele im Allgemeinen) an (V 3,3,31– 40; V 1,7,42–43; s. Abschn. 20.2). Die Ideen ermöglichen diskursives Denken, insofern die Seele Abbilder von ihnen enthält. Diese sekundären Formen (logoi), die die Seele als ‚Eindrücke‘ oder ‚Spuren‘ von den Ideen im Geist empfängt, werden als ‚Maßstäbe‘ in der begrifflichen Gliederung der sinnlichen Erfahrung und im diskursiven Denken im Allgemeinen eingesetzt (V 3,2,7–14; 3,6–12; s. Abschn. 17.4). Außerdem wird sich die Seele in der diskursiven Erkenntis der Identität der logoi in ihr selbst mit den logoi im erkannten Gegenstand bewusst (III 8,6,10–29; Tornau 2022, 203); anders gesagt, auch die Struktur des diskursiven Erkenntnisaktes spiegelt die Identität vom Objekt (Idee) und Subjekt im Geist wider.

26.4 Die Ideen und die Bestimmung des Menschen Platon hat Ideen für die Tugenden angesetzt, die absolute, objektive Maßstäbe für menschliches Handeln bereitstellen. Plotin fasst die Tugenden als seelische Dispositionen auf, die auf Vorbilder

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auf der Ebene des Geistes zurückgeführt werden können (VI 8,5,27–28; 34–36; s. Kap. 45). Das Verhältnis zwischen den Tugenden und den idealen Vorbildern ist asymmetrisch: Die Urbilder der Tugenden existieren im Geist nicht als Tugenden, und sie sind den letzteren auch nicht ähnlich, obwohl umgekehrt die Tugenden ihren Ideen ähnlich sind (I 2,6,14–23; 7,1–8). Die Tugenden in der Seele hängen von ihren idealen Vorbildern ab: Plotin insistiert, dass der Kern, der einzig autonome Aspekt der Ausübung der Tugend, „in der inneren Betätigung, Erfassung und Betrachtung der Tugend selber“ bestehe (VI 8,6,19–22). Die Gegenstände dieser kontemplativen Tätigkeit sind offensichtlich die Ideen der Tugenden (vgl. VI 6,15,15–23). Plotin macht die metaphysische Analyse der Tugenden auch für die Handlungstheorie fruchtbar. Bemerkenswerterweise integriert er die platonische Konzeption der Betrachtung der idealen Vorbilder ins aristotelische Modell des praktischen Syllogismus. Die (oberen) Prämissen der freien Handlungen, die edlen Wünschen oder Zielsetzungen entsprechen, entstammen der kontemplativen Tätigkeit des Geistes (VI 8,3,22–23; vgl. IV 4,44,6; 25–37; Bene 2013, 156–159; s. auch Abschn. 30.3). Die Übung der Tugenden bei Plotin fügt sich in ein umfassendes Programm der Umformung des Selbst, der ethischen und religiösen Vervollkommnung ein. Dieser Prozess wird häufig als Aufstieg von der sinnlichen Welt zu den Ideen und letztlich zum ersten Prinzip, dem Einen oder Guten, beschrieben (vgl. z. B. I 6,6–9). Die plotinische Metaphorik des Aufstiegs stützt sich auf zentrale Passagen von Platons Dialogen, die die Ideenannahme erörtern, wie das Höhlengleichnis in der Politeia, die Beschreibung der Rückkehr der Seele zum „überhimmlischen Ort“ der Ideen im Phaidros oder Diotimas Lehre vom Aufstieg zum Schönen im Symposion. Der Aufstieg hat bei Plotin – wie schon bei Platon – nicht nur eine ethisch-existentielle, sondern auch eine erkenntnistheoretische Dimension (s. Kap. 15). Nachdem sich die Seele nach innen gewandt hat, erhebt sie sich zuerst von der Ebene des diskursiven Denkens zum Niveau des Geistes, bis ihre Tätigkeit mit dem reflexi-

L. Bene

ven Akt des Geistes vollkommen zur Deckung kommt. Plotin deutet das platonische Ideal der „Schau“ (theôria) um, indem er die Objekte der Betrachtung verinnerlicht. Im Erkenntnisakt des Geistes, dem sich die menschliche Seele angleicht, sind die Ideen nicht äußerliche Gegenstände, sondern innere Inhalte des erkennenden Subjekts selbst. Die Schau der Ideen ist eine Art von Erfüllung, in der der Seele Wissen, Wahrheit und Selbsterkenntnis zuteil wird. Die Betrachtung der Ideen ist aber noch nicht das Ende des Weges. Im zweiten Anlauf muss die Seele den Geist und die Ideen hinter sich lassen, um das absolut einfache Prinzip von allem, das Eine oder Gute, zu erreichen, in dem sie ihre endgültige Beruhigung finden kann (VI 7,15; VI 7,35,1–3). Das erste Prinzip kann jedoch nur „berührt“, nicht intellektuell begriffen werden, weil es keine Form, keine Gliederung und keine Struktur besitzt (VI 7,39,17–20). Im Aufstieg zu den höheren Prinzipien wandert die Seele nicht auf fremdem Boden. Die menschliche Seele gehört ihrem Wesen nach zur intelligiblen Natur, und sie hat in sich den Geist und sogar „das Prinzip und Ursache des Geistes, den Gott“ (V 1,10,5–18; 11,4–15; I 1,8,1– 6; s. Abschn. 40.1). Der Geist, der in der Seele gegenwärtig ist, gewährt dem Menschen unmittelbaren Zugriff auf die Welt der platonischen Ideen: „Wir besitzen also die Ideen auf zweierlei Weise: in der Seele gleichsam entfaltet und getrennt, im Geist alle zusammen“ (I 1,8,6– 8; vgl. die Lehre vom nicht herabgestiegenen Seelenteil, IV 8,8). Die Seele ist imstande, sich zur noetischen Schau der Ideen erheben, in der sie – wie auch der Geist – „Ähnliches mit Ähnlichem“ erkennt, d. h. ihre letztendliche Identität mit den Ideen gewahr wird (III 7,5,9–12; IV 7,10,34; V 3,8,36–44; VI 2,8,27–31).

26.5 Die Ideen im plotinischen Modell der Wirklichkeit Zusätzlich zu den kosmologischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Problemen, die die Ideenannahme lösen soll, ergeben sich weitere metaphysische Probleme aus der Ansetzung der

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Ideen selbst. Wie verhalten sich die Ideen zueinander, zur zweiten Hypostase als ganzer und zu den anderen Stufen der Wirklichkeit? Die Ideen nehmen die zweithöchste Stufe im hierarchisch geordneten Modell Plotins ein, dessen Pole absolute Einheit und uneingeschränkte Vielheit bilden (V 3,16,5–16). Die zweite Hypostase – das Seiende oder der Geist – kann im Unterschied zum ersten Prinzip, dem Einen, als „Viel-Eines“ bezeichnet werden (IV 2,2,52– 55; V 1,8,23–26; vgl. Plat. Parm. 144e5; s. Abschn. 18.1 und 22.2). Das gilt auch für die einzelnen Ideen als komplexe Einheiten (VI 2,10,1–3; 21,47–48; 22,11–13; VI 4,11,15–16; VI 7,14,11–18). Sie haben einerseits innere Differenzierung und Struktur, andererseits sind sie frei von zeitlicher und räumlicher Zerteilung, die die niederen Stufen der Wirklichkeit kennzeichnet. Die Ideen scheinen den Pol der Vielheit – freilich auf die der intelligiblen Stufe angemessene Weise – zu vertreten. Der mannigfaltige Aspekt der Ideen ist aber aufs engste mit ihrer Einheit verflochten (Beierwaltes 2010, 11–34). Die mereologischen Eigenschaften der Ideen sind grundverschieden von denen der physischen Körper oder ihrer Qualitäten, die in voneinander isolierte (d. h. nicht durch ‚Sympathie‘ verbundene) physische Teile zergliedert werden können (IV 2,1,11– 17; 29–41). Jede einzelne Idee enthält alle anderen und auch die Ideenwelt in ihrer Gesamtheit (III 8,8,40–45; V 8,4,22–24). Das wechselseitige Ineinandersein von Teil und Ganzem in der Ideenwelt wird durch die Analogie der Wissenschaft illustriert: Die Wissenschaft als ganze enthält potentiell die einzelnen Theoreme, und die letzteren enthalten das ganze System der Wissenschaft (IV 9,5; V 9,8,2–7; VI 2,20; Tornau 1998). Eine andere Analogie, die die Struktur des intelligiblen Seienden erhellt, ist die des Logos: Die unkörperlichen gestaltenden Prinzipien im Samen enthalten in einheitlicher, unentfalteter und unausgedehnter Form die Körperteile und die Lebensphasen des Lebewesens, die sich erst im Laufe seiner Entwicklung räumlich und zeitlich sondern (V 9,6,10–20; VI 7,14; III 2,2,18–31). Die zweite Hypostase ist durch diese Struktur von ‚Einheit-in-der-Viel-

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heit‘ nicht nur vom absolut einfachen ersten Prinzip, sondern auch von der Seele abgesetzt. Die Tätigkeit der Seele ist teilweise durch zeitliches Nacheinander gekennzeichnet, während das ewige Leben von Geist, Seiendem und den Ideen keine zeitliche Ausdehnung hat (III 7,3,34–36; V 1,4,16–25). Der Geist, der die Ideen in sich hat, ist zugleich Einheit und Vielheit, und er kann daher nicht die Stelle des ersten Prinzips einnehmen: Der Vielheit geht immer die Einheit voraus (III 8,9,1–6; V 3,12,9–10; 16,7–16; VI 7,17,39–43). Plotin formuliert den Vorrang des Einen gegenüber der zweiten Hypostase nicht nur mit dem statischen Begriff der ontologischen Priorität. Er erarbeitet auch dynamische Beschreibungen der ‚Entstehung‘ der zweiten Hypostase aus dem Einen (z. B. III 8,8,30–40; V 1,6–7; V 3,11; VI 7,15–17; s. Abschn. 22.1). In Plotins Entstehungsgeschichten sind die mythisch verwurzelte Sprache der Zeugung, physischpsychologische Begriffe wie Bewegung, Begehren und Sehen sowie die metaphysischen Muster von Vermögen und Tätigkeit bzw. von der doppelten Tätigkeit (energeia; s. o. Abschn. 26.2) kaum trennbar miteinander verwoben. Die ‚Entstehung‘ der zweiten Hypostase wird häufig als ein Prozess beschrieben, der sich in mehrere Phasen gliedert (vgl. Szlezák 1979, 52–119; Emilsson 2007, 69–123). Es wird aber öfters betont, dass in diesem Kontext ‚Entstehung‘ nicht wörtlich als zeitlicher Vorgang verstanden werden darf (III 5,9,24–29; V 1,6,19–22). Die Ideen sind zustande gekommen, als sich das erste Emanat des Einen – das als unbegrenztes Leben, unbestimmtes Begehren oder ungeformtes Sehen charakterisiert werden kann – seinem Ursprung zuwandte und von ihm Bestimmung erhielt. Der Inhalt des Sehaktes löst sich aber vom intendierten Objekt des Sehens ab: der Geist kann das absolut einfache Eine nur erfassen, indem er es zu einer Vielheit macht, es in die entfaltete Totalität der Ideenwelt zerlegt (VI 7,15,10–24; 16,10–22; 17,1–36; III 8,8,31–40; V 3,11; V 6,5,16–20). Die Vielheit der Ideen wird also letztendlich von dem Einen oder Guten erzeugt, denn es ist die Quelle sowohl des unbestimmten Zugrundeliegenden als auch der Be-

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stimmung, die dieses empfängt. Dennoch kann dieser Vorgang auch als Selbst-Konstitution des Geistes begriffen werden, da sich im Akt der Rückwendung zum Prinzip das ungeformte Emanat selbst betätigt (V 1,5,17–18; 7,9–18; VI 7,35,19–33; s. auch Abschn. 34.2). Die innere hierarchische Gliederung der zweiten Hypostase wird ebenfalls häufig dynamisch als eine weitere Phase in der Entstehung des Geistes – als Entfaltung des Ideenreiches in seiner Gesamtheit – begriffen. Ein besonders wichtiges Modell der Entfaltung des Geistes beruht auf der Unterscheidung zwischen Gattung, Art und Individuum. Die Funktion der „ersten Gattungen“ des intelligiblen Seienden wird den fünf „größten Gattungen” (megista genê) aus Platons Sophistes zugewiesen (Brisson 1991; s. Abschn. 28.3). Sie werden durch die Analyse des reflexiven Aktes des sich selbst denkenden Geistes eingeführt: Seiendes ist der Ausgangspunkt und zugleich das Ziel der geistigen Bewegung, die mit Ruhe (Unveränderlichkeit) durchaus vereinbar ist; Differenz ist erforderlich, um die verschiedenen Aspekte auseinanderzuhalten, während Identität sowohl als Selbstbezug der einzelnen Elemente als auch als ein dynamisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt des Denkens verstanden wird (VI 2,8; V 1,4). Die „ersten Gattungen“ sind nicht bloß klassifikatorische Begriffe, sondern selbständige platonische Ideen, Prinzipien, die die niederen Stufen der intelligiblen Welt – die spezifischen und die nicht weiter teilbaren individuellen Ideen oder Geistwesen – hervorbringen (VI 2,20–22; Horn 1995, 106–148). Sie machen die erste, grundlegende Schicht des Geistes aus, die die ganze intelligible Welt in sich einschließt. Sie konstituieren „ein einziges Leben“, das „Leben des Seienden“, mit dem die Ewigkeit (aiôn) gleichgesetzt werden kann (III 7,3; s. Abschn. 50.3). In einem anderen Modell, das die Entstehung der niederen Stufen der zweiten Hypostase dynamisch beschreibt, vermitteln die wesenhaften, idealen Zahlen (ousiôdês arithmos) zwischen „dem Seienden“ (to on), und „den Seienden“ (ta onta), der Vielheit der entfalteten Ideenwelt (VI 6,9,24–34; 15,24–35; Slaveva-Griffin 2009, 95– 111; Horn 1995, 221–256).

L. Bene

Eine Reihe von Problemen, die sich aus der Ideenannahme ergibt, betrifft die Beziehung zwischen den Ideen und den an ihnen teilhabenden Dingen. Plotins Theorie der Ursächlichkeit der Ideen wurde schon oben kurz behandelt (s. o. 26.2): Die Ideen bringen ihre Produkte hervor, indem sie sind, was sie sind, und sie geben, was sie selbst nicht haben. Letztere These ist geeignet, die berühmten RegressArgumente, die von Platon selbst und von Aristoteles formuliert wurden, zu entschärfen (Plat. Parm. 132a1–b2; 132d1–133a6; Aristoteles, Über die Ideen, fr. 118.3 Gigon = Alex. Aphr. in metaph., CAG 1, 84,21–85,3 Hayduck; Aristot. soph. el. 22, 178b36–179a10; metaph. Z 13, 1038b34–1039b3). Diese Regress-Probleme ergeben sich aus der Annahme, dass die Idee selbst über die Eigenschaft verfügt, die sie in den Teilhabenden verursacht (die Idee der Größe müsste groß sein); deshalb muss eine weitere Idee angesetzt werden, um die gemeinsame Eigenschaft zu erklären. Plotin aber verwirft die Annahme der Selbstprädikation: die Eigenschaft kann von der Idee nicht in demselben Sinne ausgesagt werden wie von den Teilhabenden (z. B. III 7,2; VI 4,13,6–18), und die Ähnlichkeit zwischen der Idee und den Teilhabenden ist keine symmetrische Relation (I 2,2,1–10; Regen 1988; D’Ancona 1992; Strange 1992). Ein weiteres Dilemma, das in Platons Parmenides aufgeworfen wurde, betrifft – auf eine andere Weise – auch die Einheit der Idee (Plat. Parm. 130e4–131e7). Wenn die Idee in den Teilhabenden als ganze gegenwärtig ist, dann muss sich die Idee von sich selbst trennen, d. h. vervielfältigt werden. Wenn aber die Teilhabenden nur einen Teil der Idee in sich haben, dann wird die Idee zerstückelt, und es kommt zu weiteren Absurditäten. Um diese Schwierigkeit zu bewältigen, entwickelt Plotin eine großangelegte Theorie der Allgegenwart des intelligiblen Seienden (Enneade VI 4–5 [22–23]). Diese Theorie erklärt sowohl die Gegenwart der Idee in den Teilhabenden als auch die Gegenwart der Seele im Körper (Emilsson 1994). Das intelligible Seiende ist – anders als die Sinnendinge – weder räumlich noch zeitlich begrenzt; es ist überall gegenwärtig, und doch bleibt es ein und

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dasselbe ungeteilte Ganze. Es hängt nur von der Tauglichkeit des Empfangenden ab, ob eine Idee (oder eine psychische Fähigkeit) sich in ihm tatsächlich verwirklicht (VI 4,11; VI 5,11). In diesem Zusammenhang weist Plotin alle Versuche ausdrücklich ab, die Kluft zwischen den transzendenten Ideen und den Sinnendingen durch vermittelnde Instanzen wie Wirkkräfte oder Emanationen zu überbrücken (VI 4,3,1–19; 4,11–18; 5,6–11; VI 4,9; VI 4,10,17–30). Das intelligible Seiende vermag überall in der physischen Welt als ungeteiltes Ganzes gerade deswegen gegenwärtig zu sein, weil seine Natur sich so radikal von der räumlich und zeitlich beschränkten Existenz der wahrnehmbaren Körper unterscheidet (VI 4,13; O’Meara 1980b). In anderen Kontexten wird jedoch der hierarchischen Stufung der intelligiblen Welt und besonders der vermittelnden Rolle der Seele zwischen den Ideen und der physischen Welt mehr Gewicht beigemessen. Die Hypostase der Seele ist ein Abbild des Geistes oder des Seienden, das in ähnlicher Weise von seinem Prinzip abhängt wie der Geist vom Einen. Die Entstehung und die innere Strukturierung der Seele wird mit denselben dynamischen Begriffen beschrieben wie die Genesis und Entfaltung des Geistes (III 9,5; V 1,7,35–44; vgl. V 1,6,45–49; V 2,1,13– 18; VI 2,22,25–32; VI 7,17,36–39). Die Seele (und auch die individuellen Seelen) enthalten in sich die Formen. Diese Formen sind aber bloß Abbilder, Abdrücke oder Spuren der Ideen, die das Wesen des Geistes ausmachen; als solche sind sie in höherem Maße vielfältig und entfaltet als ihre Urbilder: sie sind rationale gestaltende Prinzipien (logoi; vgl. V 1,7,42; VI 7,17,39– 41). Plotins Logoslehre ist sowohl in kosmologischem als auch in erkenntnistheoretischem Zusammenhang bedeutsam (Brisson 1999). Die Sphäre der Seele ist – wie auch der Geist – in sich hierarchisch gegliedert, und die Logoi sind auf mehreren psychischen Stufen anzutreffen. Der Logos, der im Kosmos waltet und ihn ordnet, gehört der unteren Stufe der Weltseele an (III 2,16,12–17). Die gestaltenden Prinzipien, die ihre Wirkungen unmittelbar in der Materie ausüben und für die wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper sowie für die Entwicklung

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von individuellen Lebewesen verantwortlich sind, werden manchmal der ‚Natur‘ – der untersten Phase der kosmischen Seele – zugeordnet. Diese Logoi entfalten den Inhalt der uni