Platons Semantik: Die Theorie sprachlicher Bedeutung im Kratylos 9783897859449, 3897859440

Platons Dialog Kratylos thematisiert eine der Grundfragen philosophischer Semantik: Wie erlangen die Ausdrücke unserer S

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Platons Semantik: Die Theorie sprachlicher Bedeutung im Kratylos
 9783897859449, 3897859440

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. Semantischer Konventionalismus im KRATYLOS (I)
2.1 Vorbemerkung
2.2 Hermogenes' konventionalistische Position
3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS
3.1 Vorbemerkung
3.2 Semantischer Externalismus
3.2.1 Vorbemerkung
3.2.2 Die Probleme individualistischer Semantik und die realistische Alternative
3.2.3 Taufakte und die kausale Theorie sprachlicher Bezugnahme
3.2.4 Natur der Gegenstände und sprachliche Bedeutungen
3.2.5 Sprachliche Arbeitsteilung
3.2.6 Metaphysische und epistemologische Voraussetzungen des semantischen Externalismus
3.3 Platons semantischer Naturalismus und seine Bezüge zum semantischen Extemalismus
3.3.1 Sokrates' semantischer Naturalismus-Überblick
3.3.2 Physei I: Moderater semantischer Naturalismus
3.3.3 Physei II: Strikter semantischer Naturalismus
3.3.4 Platons Begriff des Wissens
3.3.5 Wissensrahmen als kriteriale Rahmen für semantische Korrektheit
3.3.6 Die Etymologien in Platons KRATYLOS – Ein kurzer Rückblick
3.3.7 Ermittlung der Natur des Namensträgers – Sprachliche Arbeitsteilung bei Platon
3.3.7.1 Der Gesetzgeher (nomothetês)
3.3.7.2 Der Dialektiker (dialektikos)
3.3.7.3 Die Ontogenese sprachlicher Bedeutung bei Platon
4. Semantischer Konventionalismus im KRATYLOS (II): Platons intentionalistische Bedeutungstheorie
5. Platon als interner Realist
5.1 Überblick
5.2 lnterner Realismus-Grundlagen
5.2.1 Epistemische Einschränkungen des externalistischen Standpunkts: Der Fall der natürlichen Artprädikate
5.2.2 Der intern-realistische Begriff der Wahrheit
5.2.3 Bedeutung und Referenz im internen Realismus
5.3 Deskriptivismus in der Bedeutungstheorie
5.4 Der KRATYLOS im Licht der intern-realistischen Erkenntnisperspektive
5.4.1 Epistemische Prästrukturierung der Realität durch Ideen
5.4.2 Erkenntnis der Gegenstände durch sprachliche Ausdrücke?
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Diehl· Platons Semantik

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Christoph Diehl

Platons Sernantik Die Theorie sprachlicher Bedeutung imKRATYLOS

.

ment1s MONSTER

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Gedruckt mit Unterstiitzung des Forderungs- und Beihilfefonds WJSsenschaft der VG Wort

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meinen Eltem

Birgit Diehl Wolfgang Diehl

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EINLEITUNG

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2

SEMANTISCHER KONVENTIONALISMUS IM KRATYLOS (I) .... . Vorbemerkung ................................. . Hermogenes' konventionalistische Position .............. .

21 21 21

SEMANTISCHER NATURALISMUS IM KRATYLOS .......... . Vorbemerkung ................................. . Semantischer Extemalismus ........................ . Vorbemerkung ................................. . Die Probleme individualistischer Semantik und die realistische Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Taufakte und die kausale Theorie sprachlicher Bezugnahme ... . 3.2.4 Natur der Gegenstinde und sprachliche Bedeutungen ....... . 3.2.5 Sprachliche Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Metaphysische und epistemologische Voraussetzungen des semantischen Extemalismus ........................ . Platons semantischer Naturalismus und seine Beziige zum 3.3 semantischen Extemalismus ........................ . 3.3.1 Sokrates' semantischer Naturalismus - Uberblick .......... . 3.3.2 Physei 1: Moderater semantischer Naturalismus ........... . 3.3.3 Physei IT: Strikter semantischer Naturalismus ............ . 3.3.4 Platons Begriff des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Wissensrahmen als kriteriale Rahmen fiir semantische Korrektheit ................................... . 3.3.6 Die Etymologien in Platons KRATYLOS - Ein kurzer Riickblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7 Ermittlung der Natur des Namenstdigers- Sprachliche Arbeitsteilung bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7.1 Der Gesetzgeber (nomothetes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7.2 Der Dialektiker (dialektikos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7.3 Die Ontogenese sprachlicher Bedeutung bei Platon . . . . . . . . .

29 29 32 32

2.1

2.2 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2

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42 45 50

55 55 59 64

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5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2

Inhaltsverzeichnis

SEMANTISCHER KONVENTIONALISMUS IM KRATYLOS (II): PLATONS INTENTIONALISTISCHE BEDEUTUNGSTHEORIE PLATON ALS INTERNER REALIST . . . . . . . . . . . . . . . . Dberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intemer Realismus - Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . Epistemische Einschrankungen des extemalistischen Standpunkts: Der Fall der natiirlichen Artpradikate . . . . Der intem-realistische Begriff der Wahrheit . . . . . . . . . . Bedeutung und Referenz im intemen Realismus . . . . . . . Deskriptivismus in der Bedeutungstheorie . . . . . . . . . . Der KRATYLOS im Licht der intem-realistischen Erkenntnisperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epistemische Prastrukturierung der Realitat durch Ideen . Erkenntnis der Gegenstande durch sprachliche Ausdriicke?

105 ..... ..... .....

115 115 119

. . . .

. . . .

123 127 131 134

..... ..... ....

139 139 145

. . . .

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Vorwort Dieses Buch stellt die geringfiigig iiberarbeitete Druckfassung meiner Dissertation dar, die im Wmtersemester 2010/2011 von der Philosophischen Fakultat der Rheinischen Friedrich-Wllhelms-Universitat Bonn angenornmen wurde. Ohne die Unterstiitzung und hilfreiche Kritik zahlreicher Menschen ware dieses Buch nicht zustande gekornmen, und ich mochte diese Gelegenheit nutzen, urn sie zu erwahnen. Zunachst gilt mein Dank meinem Doktorvater Wolfram Hogrebe fiir die Betreuung dieser Arbeit sowie die groBztigige Unterstiitzung und Forderung wahrend meines Promotionsstudiums. Ebenso danke ich Joachim Bromand fiir sein Gutachten sowie fiir viele anregende Diskussionen und DenkanstoBe. Auch Guido Kreis bin ich zu groBem Dank verpflichtet fiir unzahlige inspirierende und klarende Gesprache wie auch die kritische Durchsicht des Manuskripts. Fiir die angenehme Zusarnmenarbeit bedanke ich mich bei Elke Brendel, die mir stets unterstiitzend den notigen Freiraum fiir mein Dissertationsprojekt gerade in seiner Schlussphase gegeben hat. Nicole Potenza danke ich sehr herzlich fiir ihr fachliches Urteil, ihre Geduld und stetige Ermutigung, die die Fertigstellung dieses Buches maBgeblich vorangetrieben haben. Fiir stets ertragreiche, teils nicht wenig hitzige Diskussionen tiber viele der bier behandelten Themen schulde ich Jochen Faseler, Jan Goerke, Jacob Rosenthal und Erik Stei Dank. In technischen Fragen stand mir Bjorn JanBen irnmer geduldig und kreativ zu Seite - danke dafiir. Fiir die hilfreiche und konstruktive Diskussion zentraler Punkte meiner Arbeit in ihrer friihen Entstehungsphase danke ich David Sedley von der Universiriit Cambridge, der mir im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes im Friihjahr 2006 ein gewidmeter und interessierter Ansprechpartner war. Die Finanzierung dieses Aufenthaltes ermoglichte der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD). Michael Kienecker vom mentis Verlag mochte ich fiir seine freundliche Betreuung der Publikation des vorliegenden Buches danken, ebenso der VG Wort fiir die Bezuschussung der Drucklegung. GroBer Dank gebiihrt dariiber hinaus meiner Familie: meinen Eltem, meiner Schwester Julia, Brunhilde Sattler, Jutta und Steffen Holper. AuBerdem danke ich sehr herzlich Kai Beckmann, Tamara Blume, Ingo Buchler, Jan-Nicolas Herold, Maike Konigs, Tim Lange, Gabriele Scheffler, Sylvia Schonherr, Elke Wmdrath und Sebastian Wolff. Bonn, im Februar 2012

Christoph Diehl

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In general, science attempts, by investigating basic structural traits, to find the nature, and thus the essence (in the philosophical sense) of the kind. Saul A. Kripke, Naming and Necessity, p. 138

[Es] zeigt etwa der ProzeB der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindriicke sich fur uns erst dadurch lichtet und gliedert, daB wir es >benennen< [... ] Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, p. 18

Bezeichnungen sind lnstrumente, mit deren Hilfe wie unsere Welt sachgem:ill zu differenzieren suchen. Ernst Heitsch: Sprachthearetische Uberlegungen Plawns, p. 50

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Einleitung Diese Studie versteht sich als ein Beitrag zur Interpretation der Bedeutungslehre Platons. Urn diese einer systematischen Deutung zu unterziehen, soil einer der schwerer zuganglichen platonischen Dialoge detaillierter betrachtet werden, namlich Platons KRATYLOS. Wahrend so zentrale Werkstiicke wie die friihen Dialoge, welche vor allem die Untersuchung bestimmter Tugendbegriffe thematisieren, jedoch ebenso spate Dialoge wie die PouTEIA, die Platons idealisiertes Konzept eines auf Effizienz abzielenden Staatssystems beinhaltet, eine regelrechte Interpretationsorthodoxie genieBen, so scheint der KRATYLOS, welcher Platons Gedanken zur Bedeutungstheorie von Namen enthalt, auf ungewohnte Weise sperrig und teils sogar unverstandlich. Dieser Umstand scheint mir grundsatzlich der Undurchsichtigkeit und Komplexitat des Hauptthemas geschuldet zu sein, namentlich der natiirlichen Sprache und ihrem Begriff der sprachlichen Bedeutung. Zahlreiche Intuitionen verbinden sich mit diesem Thema, und genauso viele divergierende Erklarungen sind fur besagte Intuitionen gegeben worden. Gerade das Feld der Semantik, also der Lehre von der sprachlichen Bedeutung, versorgt uns als kompetente Sprecher einer Sprache mit einer Vielzahl von intuitiv selbstverstandlichen Ansichten iiber etwa das, was die Bedeutung eines Ausdrucks ist, wie wir sie erlemen ki::innen, worin sie ihren Ursprung hat. So selbstverstandlich uns auch zunachst die Antworten auf die mit den im Vorausgehenden aufgefiihrten Punkten verkniipften Fragestellungen scheinen, so ungleich viel schwieriger erscheint ihre Beantwortung, wenn man sich aus dem Rahmen bloBer Sprachtheorie und -beschreibung heraus begibt, also nicht etwa die Bedeutungszusarnmenhange einer bestimmten Sprache in das Zentrum der Aufmerksamkeit riickt, sondem die Frage nach der Beschaffenheit des Begriffs sprachlicher Bedeutung generell stellt. Diese letztgenannte Frage ist genuin philosophischer Art, und genau sie ist der Gegenstand des hier interpretierten platonischen Textes. In seinem Dialog KRATYLOS widmet sich Platon einem der Grundprobleme der Sprachphilosophie, spezieller noch der philosophischen Semantik: er eri::irtert die Frage, wie die Bedeutungen unserer sprachlichen Ausdriicke zu begriinden sind. Die Altemativen, vor welche der Leser von Platons Diskussion gestellt wird, lauten wie folgt. Zum einen ki::innten Namen ihren Tragergegenstand aufgrund natiirlicher Wrrkung bezeichnen (was dies im Einzelnen heillt, werden wir noch klaren miissen). 1 Die semantische Relation kame demnach also nicht durch menschliche 1 Vgl. Lyons (1968: 403).

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1. Einleitung

Einflussnahme zustande, sondem beruhte, so sdiliigt Sokrates' Gespriichspartner, der Herakliteer Kratylos, vor, ausschlieBlich auf den Eigenschaften der Dinge selbst, die durch sprachliche Ausdriicke jeweils bezeichnet werden. 2 Diese auf den ersten Blick betrachtet eher kontraintuitive Auffassung zur Bedeutungslehre kann als physei-Auffassung3 bezeichnet werden. Kontraintuitiv ist sie auf den ersten Blick sicherlich deshalb, weil es mittlerweile einen Gemeinplatz darstellt, von einer arbitraren Zuweisung sprachlicher Ausdriicke auszugehen, d. h. von der Moglichkeit, beliebige sprachliche Ausdriicke beliebigen Objekten zuzuordnen, urn diese zu bezeichnen, ganz gleich, wie diese Objekte beschaffen sind. Diesem letztgenannten Gedanken, jenem der Arbitraritat von Namenszuweisungen namlich, tragt die zweite der von Platon vorgestellten Positionen Rechnung. Die thesei-Auffassung 4 sprachlicher Bedeutung umfasst dementsprechend die Ansicht, class semantische Relationen ausschlieBlich auf Gebrauchsweisen und auf der Setzung menschlicher Subjekte beruhen, class also ein Gegenstand seinen Namen deshalb triigt, weil zu irgendeinem Zeitpunkt ein Sprecherkollektiv sich auf diese Namenszuweisung >geeinigt< hat (wie voraussetzungsreich diese Annahme ist, wird ebenfalls noch zu klaren sein). Beide Thesen werden nacheinander von Platon entwickelt und kritisiert; Letzteres aus der jeweils gegnerischen Perspektive. Dabei wird deuclich, in welchem MaBe und an welchen Punkten die Reintypen beider semantischer Theorieansatze einer Erglinzung bediirfen und wie groB ihre Erklarungskraft letztendlich ist. Piaton versucht, den Umfang und den Inhalt besagter Theorien moglichst genau zu bestimmen, also auch die moglichen Spielarten bzw. Ausformungen der jeweiligen Position zu beriicksichtigen. Dabei ergibt sich, class die naheliegende, vom jeweiligen Gesprachsteilnehmer in erster lnstanz geauBerte Ansicht sich als kaum haltbar erweist und neue, revidierte Fassungen ihrer entwickelt werden miissen. Urnes vorwegzunehmen: In genau diesem Punkt liegt nach meinem Dafiirhalten die Quintessenz des KRATYLOS. Denn indem Platon Kritik an den glingigen semantischen Theorien seiner Zeit iibt, stellt er gleichzeitig heraus, inwieweit (a) ein bestimmtes Grundmoment beider Altemativtheorien erhalten bleiben muss, und (b), wo die Konnexionsstellen beider Theorieanteile zu lokalisieren sind. Auf diese Weise werden die Desiderate und gleichzeitig die verschiedenen Ebenen einer jeden moglichen Bedeutungstheorie deuclich: Jede Explikation der semantischen Relation beinhaltet sowohl physei-Anteile (die ich im Weiteren als >naturalistisch< bezeichne) als auch thesei-Anteile (die in meinen Ausfiihrungen zunachst als >konventionalistischintentionalistisch< bezeichnet werden). Es wird uns als Leser des platonischen Elenchos gezeigt, wo diese Altemativerklarungen ineinandergreifen - und wie wenig durch ihre Kombination iiber die tiefgreifenden 2

3 4

Vgl. ebd. Vgl. Prechd (1999: 5). Vgl. ebd.

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1. Einleitung

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Fragen philosophischer Semantik gesagt werden kann. Denn eines der Resultate des KRATYLOS ist ein starkes sprachkritisches Moment. Sprache kann zwar jeweils zurn Gegenstand wissenschaftlichen Forschens gemacht werden; auf diese Weise bringen wir Licht ins Dunkel ihrer inneren Systematik. Der hierdurch erlangte Klarungserfolg betrifft jedoch die jeweils gesprochene Einzelsprache und ist demnach empirischer Natur. Gleichzeitig jedoch ist die Frage, was die allgemeine Relation [Ausdruck- Referenzgegenstand- Bedeutung] zurn Inhalt hat, eine solche, die sich dem Zugriffsrahmen reiner Sprachreflexion entzieht. Vielmehr ist die Frage nach der von mir vertretenen Ansicht nur im Verbund von Semantik, Erkenntnistheorie und Ontologie erorterbar - und faJ.lt damit unmittelbar in den Bereich der Philosophie. Es wird sich gegen Ende der vorliegenden Uberlegungen herausstellen, dass die interpretativen Voraussetzungen fiir eine bestimmte Semantikauffassung auch durch eine Vielzahl metaphysischer und epistemologischer Vorannahmen und Hintergrundiiberzeugungen entscheidend gepragt sind. Sokrates macht diesen Sachverhalt ganz speziell in der Schlusspassage des Dialogs deutlich, welche eine fur Platon ganz und gar nicht untypische Aporie zwischen den heiden Positionen prasentiert. Uber den Aspekt hinaus, die jeweils >richtigeName< (onoma) zusammengefasst werden, nicht jedes Mal emeut treffen. 1m Gegenteil halte ich es auf der Ebene, auf wdcher Platon die philosophischen Aspekte semantischer Zusammenhange erlautem will, fur angemessen, die von ihm gewahlte Begrifflichkeit mit ihrer notorischen Vagheit zu iibemehmen. Wechsdweise werde ich also, vor allem aus Griinden textlicher Variation, von Namen, Wiirtem, sprachlichen Ausdriicken, Designatoren etc. sprechen und hoffen, dass der jeweilige Kontext evtl. auftretende Unklarheiten ausreichend bereinigen kann. Generell gilt: Unter Namen verstehe ich mit Platon sprachliche Ausdriicke, die entweder a1s Eigennamen oder Priidikatausdriicke fungieren (vgl. fur diesen Punkt ebf. Lorenz!MittelstraB (1967: 5), Barney (2001: 5), sowie von Kutschera (2002: 140)). In Abgrenzung hierzu kennt Platon auBerdem die grammatischen Kategorien der rhemata, die im Wesentlichen Verbalkonstruktionen bezeichnen und die Struktur von Propositionen repriisentieren, wie auch der logoi, die so etwas wie den Begriff eines durch sprachliche Ausdrucksformen zu benennenden Weltstiicks darstellen. Logoi besitzen innerhalb von Platons Sprachphilosophie die Rolle einer Definition eines Bezugsgegenstandes, d. h. sie ermoglichen sehr feinkornige Differenzierungen und infolgedessen einen priizisen (wissenschaftlichen und philosophischen) Sprachgebrauch, wohingegen onomata eine relativ ungenaue und nur reinen Komrnunikationszwecken dienende elementare Beschreibung enthalten (vgl. auch Gauss (1956: 197)).

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2.2 Hermogenes' konventionalistische Position

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irgendeines Dinges gehort ihm von Natur, sondem durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Worter zur Gewohnheit machen und gebrauchen. 16 Das vorangehende Zitat fasst Hermogenes' Position beziiglich der Begriindung von Wortbedeutungen zusammen. Demnach ist also jeder sprachliche Ausdruck (d. h. jeder Eigenname, jede Gegenstandsbezeichnung oder jeder Priidikatsausdruck) mit seinem Trager (Individuum, Objekt, Sachverhalt oder Eigenschaft) durch eine auf Gebrauch und Gewohnheit des Sprechers beruhende Relation verbunden. Diese Auffassung wird angreifbar durch zwei Schritte, die Hermogenes einigerma.Ben unvorsichtigerweise vollzieht. Zum einen erfolgt keine explizite Differenzierung von Ersteinfiihrungen von Ausdriicken in eine Sprache, wie etwa sogenannter Taufakte, sowie den damit eingefiihrten Regeln zur korrekten Anwendung eines Ausdrucks hinsichtlich bereits bestehender Sprachkonventionen. Zweitens wird die These des semantischen Konventionalismus gefahrdet durch das Zugesriindnis Hermogenes', zwischen Benennungen im Privaten und solchen des Sprecherkollektivs keinen Unterschied zu machen. Allzu leicht lasst Hermogenes sich mit dieser Auffassung in Unklarheiten verstricken. So etwa anhand des Falles, in dem ich mir als Sprecher jederzeit iiberlegen konnte, an die Stelle eines bereits bestehenden und von der Sprachgemeinschaft anerkannten Ausdrucks (fiir einen beliebigen Gegenstand) einen neuen zu setzen, also Teile der von mir gesprochenen Sprache umzuinterpretieren. So konnte ich als Sprecher bspw. beschlieBen, mich mit dem Ausdruck »Tasse« von nun an auf die in meinem Kiichenschrank befindlichen Teller zu beziehen und mich auch konsequent nach meiner neu geschaffenen Benennungsnorm zu richten. Aus der These des semantischen Konventionalismus folgte nun, class diese ganz private Namensvergabe ebenso giiltig ware wie aile sonstigen aktual bestehenden meiner Sprache. Da aile Benennungen in dieser Hinsicht gleicherma.Ben korrekt sind, besteht auch kein Unterschied unter ihnen beziiglich der durch einen Benennungsakt bereitgestellten normativen Ausrichtung. Unabhangig davon also, ob weitere Subjekte neben mir als Benennendem diese Neuzuweisung iibemehmen - und iiberhaupt von ihr wissen! - gilt sie. 17 Damit geriit Hermogenes auch schon in die Faile. Denn im Nachfolgenden wird er von Sokrates mittels eines - zugegebenerma.Ben logisch zunachst auffalligen - Arguments davon iiberzeugt, class man von der Wahr- bzw. Falschheit von ganzen Satzen auf diejenige ihrer kleinsten Einheiten, der Worter respektive Namen, schlieBen kann. Die Wahrheit einer Aussage, so Sokrates, bestehe darin, class sie »{. . .]von den Dingen aussagt, was sie sind[. . .}«. 18 Mit einer Rede >trifft< man die Realitat entweder oder man verfehlt sie, genauer: man stellt sie sprachlich 16 KRAT. 384d. 17 Vgl. KRAT. 385a.

18 KRAT. 385b.

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2. Semantischer Konventionalismus im KRATYLOS (I)

adaquat dar oder nicht. Und was fiir ganze Aussagen gilt, das gilt nach Sokrates ebenfalls fiir ihre elementaren Bestandteile, namlich die Worte, die eine Aussage konstituieren. Es ist durchaus nicht unproblematisch, von einer Wahrheitsfahigkeit subsentenzieller sprachlicher Ausdriicke zu sprechen. Sokrates' Auffassung scheint, wie etwa David Sedley hervorgehoben hat, einen mereologischen Fehlschluss zu beinhalten. 19 In der Tat mutet die Moglichkeit, einzelnen Ausdriicken Wahrheitswerte zuzuweisen, zunachst unverstandlich an und lasst sicher die These zu, Platon habe hier unsauber argumentiert. Man konnte allerdings, urn Platon hier entgegenzukommen, die Moglichkeit in Betracht ziehen, class fiir ihn Benennungsvorgange stets als emphatische Sprechakte20 zu verstehen sind, sie also immer auch ein pragmatisches Element beinhalten, das dafiir sorgt, class auch Aufierungen einzelner Ausdriicke wie komplexe Aussagen (z. B. in der Form affirmativer Aussagen) verstanden und rekonstruiert werden konnen. Damit stiinde letztlich der Sprechweise von der Wahrheit einzelner Ausdriicke nichts im Wege. Fiir diese Idee sprache, class Platons gesamte Philosophie stets die dialektische und dadurch auch dialogische Praxis des Philosophierens betont, und fiir gewohnlich den rein deskriptiven Pradikationsakt zugunsten einer performativen Art der argumentativen Priifung zuriickstellt. 21 Einen derartigen pragmatischen Ansatz als Erklarung fur den andernfalls ungewohnlich grob wirkenden logischen Schnitzer Platons zu wahlen, halte ich prima facie fiir ein legitimes Mittel zu einer nachsichtigen Interpretation. Benennen ist fiir Sokrates eine Art des Handelns. Da sich eine jede Handlung auf ihr spezifisches Ziel richten muss, urn Erfolg zu haben, stellt der (aufiersprachliche) Tragergegenstand durch seine ihm eigene Beschaffenheit die Ma.Bgabe bereit, anhand derer sich sprachliche Ausdriicke hinreichend auf die Realitat beziehen, d. h., ob Benennungsakte, in denen sie vorkommen, in diesem Sinne erfolgreich sind oder nicht. Die Korrektheit von Ausdriicken richtet sich also nach etwas Sprecherunabhangigem, nach einem objektiven Standard. Dies steht der rein konventionalistischen These der Bedeutungsgenese, wie sie Hermogenes zunachst unbedachterweise vertritt, erst einmal vollkommen entgegen. Die Moglichkeit der >privaten Konventionen< im Hinblick auf Wortbedeutungen lasst schlicht zu 19 Vgl. Sedley (2003c: 12f). Vor allem merkt Sedley an dieser Stelle an, class die im KRATYWS priisentierte Auffassung Platons in offenkundigem Gegensatz zu der im SoPHISTES vertretenen steht, nach der allein ganze Aussagen wahrheitsfahig sind. Vgl. ebf. Denyer (1991: 72). 20 Vgl. Tugendhat (1976: 517f.). In eine ahnliche Richtung scheint mir der Vorschlag Peter Strawsons zu gehen, Wahrheit als eine peiformative Priidikation auszuweisen, deren Grundlage darin besteht, AuBerungsinhalte diskursiv zu bestatigen (vgl. Strawson (1974)). 21 Platons Tendenz zu einer solchen Sichtweise resultiert aus seinem Bild von Sprache als primar kommunikativen Zwecken dienlich: »Man mufl [. . .} sehen, daft [. . .} [Platon] von allen moglichen Leistungen, die die Sprache erbringen kann, rigoros eine einzige ins Zentrum seiner Uberlegungen gestellt hat, niimlich jene, die sie als Instrument der Verstiindigung erbringt.« (Heitsch (1993: 57)).

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2.2 Hermogenes' konventionalistische Position

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viele, beinahe aile Moglichkeiten zu, weshalb er auch als Anything goes-Variante22 des Konventionalismus bezeichnet worden ist. Sokrates bringt dementsprechend die Gefahr der Unmoglichkeit des Zugriffs anderer Individuen auf rein privat getroffene Bedeutungsanderungen mit einem erkenntistheoretischen Relativismus in Zusammenhang, den er anhand der Doktrin des Protagoras ausbuchstabiert. 23 Demnach ist Wahrheit allein eine Sache des Individuums; die Beschaffenheit der Dinge ist fiir jeden Einzelnen verschieden, da abhangig von dessen individueller Wahrnehmung. Hierzu rekurriert Sokrates zunachst auf die Intuition, es gebe doch wohl gute und schlechte Menschen unter den Mitbiirgern - Hermogenes kann dies nur bestatigen. Die Zustimmung zu der These, dass zwischen guten und schlechten Menschen unterschieden werden muss, fiihrt das Gesprach dann auf die relativistische Doktrin. Pragnant konnte man sie explizieren als eine Position, nach der alles So-Sein der Dinge von den Beurteilungspriiferenzen des jeweiligen Sprechers abhangt. Die Wahrheit von Aussagen ware also allein von der epistemischen Situation des Sprechers abhangig. Der Mensch, so das bekannte Diktum, wird zum Mafl aller Dinge. 24 Eine Alternative hierzu stellte die Annahme fester Essenzen dar, die allem Seienden zugrunde liegen, und welche Sokrates auch umgehend zur Disposition stellt: (Sokrates:) Oder di.inkt dich, daB [die Dinge] in sich eine Besriindigkeit ihres Wesens haben? 25

Hermogenes konzediert, >SO ganz< habe er Protagoras beziiglich einer volligen epistemischen Relativitat der Wrrklichkeit nie glauben konnen.lnteressanterweise speist sich diese Skepsis gegeniiber dem Relativismus aus der Beobachtung normativer Zuschreibungen: evident ist fiir Hermogenes namlich, dass es gutes und schlechtes Handeln gibt. Eine Rede hiervon wiederum besaBe keine Giiltigkeit, wenn die Sprache nicht auch einen festen Bezugspunkt hatte, auf welchen hin pradizierende Aussagen konvergieren. Ansonsten namlich, so stellt Sokrates fest, konnte von unverniinftigem Handeln iiberhaupt nicht gesprochen werden:

Diese treffliche Formulierung wird u. a. von Simon Keller (2000) und Rachel Barney (1997) verwendet. Sie ist auf die These des semantischen Konventionalismus bezogen, nach der eine auf >Satzung< und >Gebrauch< beruhende Semantikauffassung, die aile Benennungen der Willkiir des Einzelnen iiberlasst, gleichzeitig alles zulasst und dadurch inflationar wird. Barney bebauptet auBerdem, dies sei aus Griinden der Vollst:andigkeit vermerkt, der entsprechende - etwas arg unbedarft anklingende - Schritt Hermogenes', sich auf eine solch unsichere Position zu verpflichten, erklare sich aus Platons Absicht, die Voraussetzungen fur die nlichste dialektische Stufe des Dialogs zu schaffen (vgl. Barney (1997: 151f.)). 23 Vgl. KRAT. 387a-387c, PRar. 152a, 166d. 24 Vgl. KRAT. 385e-386a. 25 KRAT. 386a. 22

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26

2. Semantischer Konventionalismus im KRATYLOS (I) (Sokrates:) Denn es ware ja in Wahrheit nicht einer vemiinftiger als der andere, wenn, was jedem schiene, auch fur jeden wahr ware. 26

Normative Priidikatoren korrespondieren also nach Einschatzung Sokrates' den auflersprachlichen Inhalten jeweiliger Priidikate. Anders formuliert: Die Sprache muss sich an der spezifischen Beschaffenheit dessen orientieren, was sie ausdriicken bzw. reprasentieren mochte. Wenn es eine sinnvoile Zuschreibung vemiinfti.ger bzw. unvemiinftiger Handlungen geben soil, dann muss es auch einen MaEstab fiir eine derartige Zuschreibung geben, der nicht privat ist, sondem offentliche bzw. intersubjektive Geltung besitzt. Dementsprechend einigen sich Sokrates und sein Gegeniiber schlieBlich auch auf diesen Punkt und weisen die protagoreische Relativitatsthese zuriick: (Sokrates:) [ ... ] so ist offenbar, daB die Dinge an und fur sich ihr eigenes bestehendes Wesen haben und nicht nur in Beziehung auf uns oder von uns bin und her gezogen nach unserer Einbildung, sondem fur sich bestehend, je nach ihrem eigenen Wesen seiend, wie sie geartet sind. 27

Mit diesem Konsens ist der Weg geebnet, urn einen ersten Zusammenhang zwischen der Natur eines jeden Gegenstandes und der optimalen Umgangsweise mit selbigem herzusteilen. Nur wenn der Gegenstand in seiner begrifflichen Struktur28 hinreichend bekannt und erfasst ist, sind wir als Handelnde in der Lage, eine angemessene Handhabung seiner zu erzielen. 29 Der soeben entwickelte Standpunkt kommt vollstandig zur Entfaltung in den folgenden Worten des Sokrates: (Sokrates:) Also auch benennen muss man[ ... ] vermittels dessen, wie es in der Natur des Benennens und des Benanntwerdens der Dinge liegt, nicht aber so, wie wir etwa jedesmal mochten, wenn uns anders dies mit dem vorigen iibereinstimmen soli, und nur so werden wir etwas davon haben und wirklich benennen, sonst aber nicht? 30

Von diesem Punkt aus ist es nur naheliegend, das Wort bzw. den Namen in Analogie zu einem herkommlichen Werkzeug zu setzen. Platons Beispiele zur Veranschaulichung dieser Analogie halte ich genereil fiir evident und treffend, weshalb ich von einer detaillierten Betrachtung dieser Passagen absehen werde. Die Quintessenz dieses Textpassus scheint sich mir in KRAT. 388b-c zu zeigen. Einem Wort eignen demnach wesentlich zwei Funktionen: Erstens soil es iiber einen Gegenstand (einen Sachverhalt, ein Individuum etc.) belehren, zweitens soil es zur Unterscheidung bzw. Einteilung des Seienden verhelfen. Ich mochte im Nachfolgenden auf die erste Funktion als die instruktive, auf die zweite als die dif26 KRAT. 386 c-d. 27 KRAT. 386d-e. 28

Das heillt, einem hinreichenden Teil seines eidetischen Gehalts.

29

Vgl. KRAT. 387a.

30 KRAT. 387a.

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2.2 Hermogenes' konventionalistische Position

27

ferenzierende zu sprechen kommen. 31 Insbesondere die Letztgenannte wird uns

hinsichtlich des im dritten Teil der vorliegenden Arbeit rekonstruierten semantischen Naturalismus naher interessieren- namlich dann, wenn es um die Rolle der ontologischen Implikationen von Entscheidungen fiir oder wider einen jeweiligen Sprachrahmen geht. Die Charakterisierung des Wortes als Werkzeug zur Kommunizierbarkeit der Welt impliziert gleichzeitig die Tatsache, dass eine techne, eine bestimmte Kunstfertigkeit, existiert, um das Werkzeug so zu gestalten, dass es den strukturellen Eigenschaften desjenigen Weltstiicks, welches es bezeichnet, angemessen ist. Genau wie der Herstellungsprozess eines Werkzeugs ein W1Ssen um die mit dem Werkzeug zu verfolgenden Zwecke und die Beschaffenheit des Materials etc. erfordert, muss auch der sprachliche Ausdruck an die Beschaffenheit der Sache angepasst werden. Diesem Zusammenhang zwischen objektiven Eigenschaften von Namenstragem und den diese reprasentierenden sprachlichen Ausdriicken soil im Folgenden nachgegangen werden.

31 Vgl. auch Kretzmann (1971: 128).

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3 Semantischer Naturalismus im

KRATYLOS

3.1 Vorbemerkung Die folgenden Oberlegungen betreffen die Explikation der von Platon diskutierten physei-Auffassung von Wortbedeutungen. Ausgehend vom ersten Entwurf eines konventionalistisch-semantischen Ansatzes wird von Platon nun die Gegenposition in all ihren Facetten vorgestellt. Dabei wird vor allem die Frage danach virulent, was als >semantisch korrekt< gelten kann, welche Bezeichnungsfunktion eines Ausdrucks also kraft einer natiirlichen Relation richtig oder falsch ist. Urn dieser Frage nachzugehen und einen Interpretationsvorschlag zu machen, mochte ich zunachst eine semantische Position, die sich innerhalb der analytischen Philosophie der Sprache 32 sowie des Geistes33 als sehr einflussreich erwiesen hat, vorstellen, urn sie anschlieBend in Beziehung zu Platons semantischem Naturalismus zu setzen. Die Rede ist von der Auffassung des semantischen Externalismus. Diese Auffassung, vor allem durch die amerikanischen Philosophen Hilary Putnam und Saul Kripke in der Mitte der 1970er Jahre begriindet, liefert den Gegenentwurf zu einer individualistischen Semantik, also einer solchen, die sprachliche Bedeutungen fiir allein durch die innerpsychischen Zustande eines jeweiligen Sprechers (eben intern) individuiert halt. Dementgegen behauptet der semantische Extemalist, class die Bedeutungen der Ausdriicke einer Sprache hinsichtlich ihrer Extension durch die spezifische Beschaffenheit ihrer Bezugsgegenstande (der Namenstrager) bestimmt sind. Die Beschaffenheit der Welt, so eine gangige, als Slogan formulierte Fassung dieses Ansatzes, legt demnach die Referenz unserer sprachlichen Ausdriicke fest. Was konnte dies mit der platonischen Konzeption des semantischen Naturalismus zu tun haben? Das Folgende: Der semantische Extemalismus scheint meines Erachtens eine Antwort auf die Frage bereitzustellen, worin die >Richtigkeit< sprachlicher Ausdriicke liegt, von der gleich zu Beginn des KRATYLOS die Rede ist. So wird in KRAT. 383a-b der Leser mit der These konfrontiert, ein jeder Name sei auf eine korrekte oder inkorrekte Weise auf seinen Trager beziehbar. Hermogenes klan Sokrates tiber den Stand seines Disputes mit Kratylos auf: (Hermogenes:) Kratylos [... ] behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung [... ]. [E] s gebe eine natiirliche Richtigkeit der Worter, fur Hellenen und Barbaren insgesamt die namliche. 34 32 Vgl. insb. Pumam (1975a, 1975b, 1975c), Kripke (1980). 33 Vgl. etwa Burge (1979). 34 KRAT. 383a-b.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Worin die erwahnte Richtigkeit der Narnenszuweisung allerdings genau besteht bzw. in welchen Fal.len man von einer korrekten Narnensvergabe sprechen kann, bleibt in Platons Uberlegungen unklar. Nach meiner Ansicht sind generell drei Ansatze denkbar, die oben zitierte Textstelle zu interpretieren. Den Ersten werde ich hier nicht weiter erortern, weil es sich dabei urn die wortliche Auslegung handelt. Der zweite Ansatz, also diejenige Auslegung, die ich als moderaten Naturalismus bezeichne, wird an spaterer Stelle diskutiert werden, da er momentan argumentativ nur schlecht plausibel zu machen ware. Es bleibt jedoch eine dritte Alternative, Platons Redeweise von der Korrektheit von Narnenszuweisungen zu deuten, der ich im Folgenden nachgehen mochte: die des strikten semantischen

Naturalismus.

Platons Worte scheinen demnach zunachst eine Art deskriptivistischer Auffassung nahezulegen: Bestimmte, mit dem Narnen paradigmatisch verkniipfte Kennzeichnungen sorgen dafiir, dass eine korrekte oder inkorrekte Applikation des Narnens auf einen Tragergegenstand vorliegt. Entweder erfullt demnach ein Narnenstrager diejenigen Beschreibungen, die an einen Narnen gebunden sind, oder nicht. 1m letzteren Fall kann dann von einer falschen Narnenszuweisung gesprochen werden, so, wie sie auch Kratylos im Hinblick auf sein Gegeniiber Hermogenes behauptet. Es handelt sich hier offenkundig urn einen Ansatz, der sich auch in der klassischen sowohl auf Frege als auch den spaten Wittgenstein zuriickgehenden und spater von Searle weiter gefiihrten Beschreibungstheorie der Bedeutung findet. 35 Nach einer solchen Theorie bezeichnet ein Name seinen Tragergegenstand deshalb, weil er synonym ist mit einer definiten Beschreibung, die den Tragergegenstand kennzeichnet. Eine Alternative zu dieser Erklarung >natiirlicher Korrektheit< scheint die eines, wie ich ihn nennen mochte, strikten Naturalismus zu sein. Danach wird die reine Kennzeichnungsebene sprachlicher Ausdriicke verlassen und dazu iibergegangen, ein Enthaltensein bestimmter intrinsischer Eigenschaften im sprachlichen Ausdruck selbst anzunehmen, die den Tragergegenstand an den Ausdruck binden. Demnach soli es moglich sein, dass der sprachliche Ausdruck, zunachst eine reine Laut- bzw. Zeichenfolge, Merkmale der auBersprachlichen Realitat enthalt, die Wort und Sache miteinander teilen und die fiir das Wesen beider konstitutiv sind. 36 Diese Fassung des semantischen Naturalismus verlasst also die extensionale Dimension sprachlicher Bedeutung und greift erheblich friiher, indem sie nicht auf Beschreibungen des Narnenstragers rekurriert, sondern die Moglichkeit in Betracht zieht, dass Laute direkt mit der Realitat verkniipft sind, ja sie sogar inkorporieren. Laute sollen in der Lage sein, so schlagt es Sokrates in seiner spektakular anmutenden Theorie vor, die Wrrklichkeit in ihrer Beschaffenheit direkt

Vgl. Wittgenstein (2003: §79), Searle (1958). 36 Vgl. z.B. Schofidd (1982); Fine (1977). 35

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3.1 Vorbemerkung

31

zu reprasentieren. Dieses Vorgehen, das den Charakter einer Ahbildtheorie der Bedeutung hat, werde ich an spaterer Stelle genauer analysieren. Wenn wir nun jedoch auf eine neutralere Form eines semantischen Naturalismus zuriickblicken (die auf den ersten Blick wahrscheinlich plausibler erscheinen mag als seine strikte Form), dann scheint mir der Erklarungsrahmen, den ein semantischer Externalismus bieten kann, fiir die Beantwortung unserer grundlegenden Fragestellung durchaus fruchtbar und die Anwendung seiner Grundfiguren auf das platonische Modell der Bedeutungstheorie daher gerechtfertigt. Geht man namlich von der Pramisse aus, dass eine korrekte Benennung eine solche ist, die (a) die Realitat optimal verkorpert, und dass auBerdem (b) Kriterien fiir die erwahnte Korrektheit bereitgestellt werden miissen, findet man innerhalb der platonischen Semantik sehr ahnliche Erklarungs- und Argumentationsfiguren wie im Externalismus. Insbesondere gilt dies fiir die Etablierung von Bedeutungen einer Sprache auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen, auf denen jeweils unterschiedliche Kompetenzen der Verifikation der Extensionszugehorigkeit von Namenstragem sowie spezifische pragmatische Zwecksetzungen der Verwender eines Namens eine Rolle spielen. In diesem Zusarnmenhang fallt unmittelbar Putnams rationale Rekonstruktion der sprachlichen Arbeitsteilung in den Blick, die von der semantischen Erstbelegung (s.o.) his hin zu einzelnen Verwendungsinstanzen sprachlicher Ausdriicke einen explanativen Rahmen spannt. 37 Ich werde versuchen zu zeigen, dass sich die verschiedenen Stufen dieses Modells analog zu den von Platon ausgemachten Instanzen38 verhalten und hierdurch vor allem auch epistemologische sowie ontologische Beziige der Semantik deutlich werden - im extemalistischen wie im platonischen Bild der Ontogenese sprachlicher Bedeutungen. Die Figuren, welche ich zum Zwecke dieses Aufweises zunachst besprechen mochte, sind, auf der extemalistischen Seite, die der kausalen Tradierung von Bedeutungen ausgehend von sogenannten >'Thufakten< sowie die zu letzteren notwendige Expertisekompetenz hinsichtlich der natiirlichen, d. h. substanziellen Beschaffenheit des Tragers einer Bezeichnung. Beide stellen die zentralen Module fiir die sogenannte kausale Theorie der sprachlichen Bezugnahme dar, das Herzstiick des semantischen Extemalismus.

37 Vgl. Putnam (1975b: 227ff.). 38

Diese Instanzen sind innerhalb der platonischen Semantik der nomothetes und der dialektikos.

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32

3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

3.2 Semantischer Externalismus 3.2.1 Vorbemerkung

Platons naturalistisch-semantische Auffassung, die im Vordergrund des vorliegenden Kapitels steht, lasst sich grundsatzlich als der Entwurf einer realistischen Semantik beschreiben: Verantwortlich fiir einen gelungenen Benennungsakt ist ihr zufolge die Art und Weise, in der ein sprachlicher Ausdruck die Natur eines Tragers bezeichnet. 39 Damit wird auch der Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Realitat und ihrer Auswirkung auf die in einer Sprache enthaltenen Ausdriicke offenkundig. Ein Ansatz, der sich zu diesem Gedanken in weiten Teilen analog verhalt, ist der des zeitgenossischen semantischen Externalismus. Hier finden wir eine Antwort auf die Frage, auf welche Weise Bedeutungen individuiert werden- geschieht dies primar aufgrund subjektintemer Vorgange oder spielt auch die dem Subjekt exteme Realitat, d. h. also die Gesamtheit der in der Welt enthaltenen Gegenstande selbst, eine Rolle bei der Genese sprachlicher Bedeutungen? Die Antwort des Extemalisten versteht sich diesbeziiglich als eine realistische und antiindividualistische40 Erwiderung auf das Problem, welches eine individualistische Semantik generell mit sich bringt. Dieses Problem soil im Folgenden dargelegt werden. Ich mochte jedoch zuvor einige grundsatzliche Anmerkungen machen, die den Status der im Nachfolgenden vorgestellten Theorie betreffen. Denn obwohl ich den semantischen Extemalismus zunachst als eine schliissige Position vorstellen werde, werde ich schlieBlich dennoch nicht an ihm festhalten, was in seinen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen begriindet liegt. Der Extemalismus geht namlich davon aus, class die Realitat vollkommen unabhiingig von unseren epistemischen Mitteln und Situationen in der Lage ist, uns auf ihre Ontologie zu verpflichten. Ist dies aber der Fall und haben wir dementsprechend den Gegenstandsbezug eines sprachlichen Ausdrucks >ermitteltModulekausale Theorie sprachlicher Bezugnahme< sowie das Konzept der >sprachlichen Arbeitsteilungirn Kopf< eines Sprechers vorgeht. 53 Damit sollten die hauptsachlichen Defizite individualistischer Semantik auf den Punkt gebracht worden sein. Eine solche namlich vermag nicht zu erklaren, inwiefem den irn Hinblick auf die Alltagssprache plausiblen Intuitionen angemessen Rechnung getragen werden kann. Selbst wenn man annirnmt, dass zwei Individuen dieselben sprachlichen und psychischen Dispositionen mitbringen, ist es denkbar, dass sie mit ihren Worten vollkommen unterschiedliche Objekte (bzw. in unserem Fall Klassen von Objekten) bezeichnen und damit durch ihre psychische Verfassung allein keine Korrektheit ihrer Sprachverwendung gewahrleistet ist; >Korrektheit< hinsichtlich des faktischen Zustands der Welt. AuBerdem ist die gerade angesprochene Voraussetzung bereits irn Ansatz heikel, denn der Intensionsbegriff, so, wie Camap ihn konzipiert, scheint dem Durchschnittssprecher einer Sprache deutlich zu viel WISsen abzuverlangen. Der Fundus an WISsen, der zu einer Verifikation und damit zum Erlemen eines Ausdrucks notwendig ware, wenn man dem Explikationsvorschlag Camaps und seiner Epigonen nachkommen will, ist so betrachtlich, dass kaum vorstellbar ware, wie genau man sich ein solches Sprechersubjekt vorzustellen hatte. 54 53

Putnam (1975b: 227).

54 Der Intensionsbegriff stellt natiirlich philosophisches Gemeingut dar. Nicht nur die unmittelbare

Nachfolgerschaft Camaps, wie etwa Richard Montague und David Lewis (die diejenige formalsemantische Linie innerhalb der analytischen Sprachphilosophie exemplifizieren, welche Putnam auch als >kalifornische Semantik< bezeichnet (vgl. Putnam (1975b: 262f.)), sondern auch die gegenwartigen Vertreter der sogenannten Z!Weidimensionalen Semantik bauen auf dem Begriff der Intension auf, wenn auch mit deutlichen Modifikationen daran (vgl. z.B. Soames (2005), Chalmers (1996)). Die Frage nach der Verfiigung tiber Vollstiindigkeit der episternischen Bedeutungsanteile sollte allerdings meines Erachtens stets gestellt werden, und besonders im Hinblick auf komplexe semantische Entitiiten, wie sie im Zweidimensionalismus entstehen, wenn primare und sekundare Intension zueinander in Beziehung gesetzt werden, scheint rnir die erforderliche individuelle Sprecherkompetenz eklatant hoch zu sein und die faktischen Moglichkeiten des Subjekts bei weitem zu iibersteigen. Selbstverstiindlich, so konnte man einwenden, handelt es sich beim Ansatz der 2D-Semantik lediglich urn eine formale rationale Rekonstruktion semantischer Sachverhalte, jedoch scheint rnir eine grundsatzliche Besinnung auf intuitivere Erklarungen und Begriffe durchaus gerechtfertigt.

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3.2 Semantischer Externalismus

39

Am Aufbau des Twin Earth-Beispiels wird ersichtlich, wie subjektexteme Faktoren sich auf sprachliche Bedeutungen auswirken. Mit diesem Grundgedanken, welcher den Ansatz des semantischen Extemalismus charakterisiert, werden wir uns im Folgenden naher beschaftigen. 3.2.3 Taufakte und die kausale Theorie sprachlicher Bezugnahme

Urn zu verstehen, wie Putnams Argumentation innerhalb des Twin Earth-Szenarios genau funktioniert, ist es notwendig, die spezifische semantische Theorie in den Blick zu nehmen, welche im Hintergrund dieser Dberlegungen steht - sie ist der Angelpunkt aller Implikationen, die aus dem Gedankenexperiment gefolgert werden konnen. Sowohl fiir die rationalen Rekonstruktionen Kripkes als auch Putnams ist die kausale Theorie der Bezugnahme ein entscheidendes Modul. 55 Ausdriicklich soil es sich hierbei urn eine reine Referenz-, nicht urn eine Bedeutungstheorie handeln, und dies liegt im Wesentlichen daran, dass fiir beide Autoren ein Eigenname keinerlei deskriptiven Gehalt, keinen Fregeschen Sinn, besitzt. 56 Vielmehr liegt die Bedeutung eines Eigennamens schlichtweg in der Person bzw. dem Gegenstand, den er sprachlich reprasentiert. Darin folgen Kripke wie auch Putnam der Auffassung Mills, fiir den Namen auf Gegensriinde verweisen und nicht auf die Merkmale und Vorstellungen, die wir moglicherweise mit ihnen assoZlleren: Names[ ... ] shall always be spoken of[ ... ] as the names of the things themselves, and not merely of our ideas of things. 57

55

56

57

Als Urheber der kausalen Referenztheorie sind in die Philosophiegeschichte die Autoren Kripke und Pumam eingegangen. Kripke entwickelt seine diesbeziiglichen Uberlegungen als Gegenposition zu den bestehenden Beschreibungstheorien der Bedeutung von Eigennamen; Pumam entwirft seine Version der Kausaltheorie eher im Hinblick auf die wissenschaftstheoretische Dimension der Sernantik - er untersucht vor allern die Sernantik von natiirlichen Pradikatoren. Andere Autoren, die ebenfalls im Paradigma der kausalen Theorie der Referenz arbeiten, sind allerdings keineswegs dieser Ansicht. Einer ihrer prorninentesten Vertreter ist der britische Theoretiker Gareth Evans. Evans macht die Kategorie des Fregeschen Sinns auch fiir Eigennamen aus; ihm zufolge besteht der Sinn eines Eigennamens in der spezifischen Weise, in der wir in der Lage sind, den Bezugsgegenstand zu identifizieren (beim Taufakt) und zu reidentifizieren (bei spateren Verwendungssituationen, die auf einen initialen Taufakt zuriickgehen). Der Sinn umfasst hier eine Art der Information iiber den Bezugsgegenstand und dariiber, in wdchern Kontext er urspriinglich benannt worden ist; diese Informationsmenge existiert aber nur dann, wenn auch der Bezugsgegenstand tatsachlich existiert. Anders ausgedriickt: Namen haben genau dann einen Sinn, wenn sie tatsiichlich ein Denotat haben (vgl. Evans (1985: 23f.)). Mill (1996: 25). Allerdings kann auch John Stuart Mill gewisse epistemische Anteile der Bedeutung von Namen nicht vollig ausblenden; er unterscheidet diesbeziiglich die denominative und die konnotative Funktion von Namen (vgl. etwa Mill (1996: 36f.))

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40

3.

Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Die referenzielle Verkniipfung von Namen und ihren Bezugsobjekten, so behaupten Kripke und Putnam, ist gewisserma.Ben iiber aile moglichen Deskriptionen des Bezugsgegenstandes erhaben. Diese distinktiven Eigenschaften ausnutzend, bildet die kausale Theorie der Bezugnahme (oder, wie ich sie der Kiirze halber ebenfalls nennen werde: die kausale Referenztheorie) eine Alternative zu den oben erwahnten deskriptivistischen Theorien der Bedeutung von Namen, wie sie etwa von Frege und Wittgenstein, spater auch von Searle vorgestellt worden sind. Demnach referieren wir auf Individuen, indem wir die mit ihrem Namen verkniipften Merkmale (bei Frege ist die Rede von einer Beschreibung, bei Searle von einer hinreichenden Menge kennzeichnender Eigenschaften58, die eine erfolgreiche sprachliche Bezugnahme garantieren sollen) zur Eingrenzung bzw. zum Herausgreifen der Referenz heranziehen. Die Kemthese der kausalen Referenztheorie lautet dementgegen, class wir als Sprecher in der Lage sind, mittels einer ostensiven Definition (etwa in Form einer Zeigegeste59) innerhalb eines performativen Sprechaktes den Bezug unserer sprachlichen Aufierungen festzulegen und somit ein Objekt der Welt auf direktem Wege herauszugreifen. Ausgangspunkt hierfiir ist ein Einfuhrungsereignis, also z. B., im Faile der Benennung von Personen, eine tatsachliche Taufsituation, in der zwischen einem Individuum und einem Namen durch Ostension eine elementare Referenzrelation hergestellt wird. 60 Alle bei der Taufe Anwesenden werden Zeuge des Benennungsaktes und erwerben dadurch WISsen iiber die Referenzrelation. Diese durch direkte Applikation erfolgte Referenznahme des Eigennamens wird nun, so nimrnt der Kausaltheoretiker an, von den Zeugen der Situation weitertradiert, bspw. iiber miindliche Kommunikation mit anderen Personen, vermittels medialer Reprasentationen etc. Jede singulare sprachliche Bezugnahme besteht damit grundsatzlich in einer reversen Kausalrelation: sie wird durch eine kausalkommunikative Kette, welche vom jeweiligen Verwender des Namens his hin zum urspriinglichen Taufakt reicht, ermoglicht. Aufgrund der Einbettung in einen spezifischen A.ufierungskontext, innerhalb dessen die Namensgebung erfolgt ist, fungiert der gewahlte Name aufierdem als sogenannter starrer Designator, d. h. er denotiert in jeder moglichen Welt, in der

58 59

60

Vgl. Searle (1958: 171). Gemeint sind hier die in unserer gesellschaftlichen Praxis etablierten hinweisenden Gesten, wie z.B. eine richtungsweisende Handbewegung. Denkbar, und dies wird oft iibersehen, sind aber genauso subtilere Ostensionsgesten, wie etwa eine Andeutung der intendierten Hinweisrichtung durch Augenbewegung. Albert Newen etwa verdeutlicht diesen Punkt, wenn er darauf hinweist, »[. . .]daft die deiktischen Ausdriicke durch Blicke oder Gesten ergiinzt werden, die erst einen Referenten im Wahmehmungskontext festlegen. [. . .] Statt einer Zeigegeste wiirde in vie/en Kontexten auch ein Blick von Seiten des Sprechers genugen. [.. .] Die Zeigegeste oder ein anderes nichtsprachliches Hinweisen des Sprechers hat diese/be Funktion wie der Blick des Sprechers.« (vgl. Newen (1996: 54)). Vgl. Bremer (2005: 249).

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3.2 Semantischer Externalismus

41

er iiberhaupt etwas denotiert, denselben Gegenstand bzw. dieselbe Klasse von Gegenstanden. 61 Eine mogliche Welt ist - nach Kripke - nichts anderes als die Reinszenierung aktualer Beschaffenheiten der Welt. Sie umfasst die Annahme kontrafaktischer Umstande, durch welche die Menge der in der Welt enthaltenen Objekte, deren Qualitiiten sowie ihre Relationen neu strukturiert sind. Somit hat die modale Auffassung, die hier vertreten werden soil, nichts mit der vergleichsweise starken Konzeption moglicher Welten zu tun, die z. B. Lewis vorschlagt. 62 Kripke verweist darauf, class es stets die aktuale Welt ist, die uns diktiert, welche Objekte und welche Klassen von Objekten es generell gibt und welche sprachlichen Ausdriicke sie bezeichnen. Sofem nun die Person Platon in unserer Welt durch den oben beschriebenen Sprechakt auf den Namen »Platon« getauft worden ist, ist die dadurch erfolgte direkte Referenznahme dafiir verantwortlich, class der Name »Platon «, wenn er mit der Intention geauBert wird, den historischen Philosophen, welcher der Autor des Theaitetos ist, nur und genau diesen Platon, zu benennen. Dabei ist egal, ob es unter der Vielzahl von moglichen Weltzustanden einen geben konnte, in dem Platon keinen Platz hatte und nicht existierte (er konnte bspw. nie geboren worden sein)- in einem solchen Fall besaBe der Name schlichtweg eine Null-Extension. Entscheidend ist, class der sprachliche Ausdruck genau dann, wenn er einen Referenzgegenstand besitzt, in jeder moglichen Welt denselben besitzt: Let's call something a rigid designatur if in every possible world it designates the same object[ ... ]. Of course we don't require that the objects exist in all possible worlds.[ ... ] When we think of a property as essential to an object we usually mean that it is true of that object in any case where it would have existed. 63

Nach Wolfgang Spohn ist die Bedeutung eines Eigennamens damit eine moglicherweise nur partiell definierte, aber in jedem Fall konstante Funktion, die in jeder maglichen Welt, in der ein sprachlicher Ausdruck iiberhaupt eine Extension besitzt, diesem dieselbe Extension zuweist. 64 Darnit wird klar: Jedem Namen eignet ein indexikalisches Moment, das ihn an den jeweiligen AuBerungskontext (an einen bestimmten moglichen Weltzustand) und damit an die spezifische Umgebung des Sprechers anbindet. Wrr werden im Folgenden sehen, class auch eine bestimmte

61 Vgl. Kripke (1980: 48). 62 1m Gegensatz zu der Position, nach der mogliche Welten lediglich kontrafaktische Weltzustiinde

63 64

darstellen, vertritt Lewis neben seiner modallogischen Gegenstiickstheorie moglicher Welten, die erhebliche Unterschiede zur Kripke-Semantik aufweist, auch einen modalen Realismus, d.h. er behauptet die reale Existenz einer jeden moglichen Welt (vgl. Lewis (1987)). Kripke (1980: 48). Vgl. Spohn (1985: 73).

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3.

Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Klasse von Priidikatausdriicken diese Eigenschaft der (verborgenen) Indexikalitat besitzt und daher semantisch analog zu singularen Termen funktioniert. 3.2.4 Natur der Gegenstiinde und sprachliche Bedeutungen

Erinnem wir uns noch einmal an den Ausgang des Putnamschen Gedankenexperimentes zuriick: Die Sprecher des jeweiligen Planeten referieren mit ihren sprachlichen Ausdriicken auf unterschiedliche Extensionen, da ihre Umgebung jeweils verschiedene Stoffe hervorbringt. Warum sollten die erwahnten als qualitativ identisch angenommenen Sprecher sich mit ihren Worten auf jeweils >falsche< Gegenstande - zumindest hinsichtlich ihrer Verwendung der Umgangssprache beziehen? Die Antwort liegt darin begriindet, class Pradikate fiir natiirliche Arten genau wie auch Eigennamen (singulare Terme) eine indexikalische Bedeutungskomponente besitzen, durch welche sie auf die gleiche Art und Weise durch die kausale Theorie der Bezugnahme semantisch handhabbar werden wie letztere. Auch Pradikate fiir natiirliche Arten sind namlich nach Kripke und Putnam starre Bezeichner; ist ihre Bezeichnungsfunktion einmal durch einen Taufakt festgelegt, iibertriigt sich ihre Referenz auf aile moglichen Verwendungssituationen, also auf aile moglichen Weltzustande. Durch den kausalen Anschluss eines Sprechers an den urspriinglichen Taufakt kann schlieBlich die erfolgreiche Bezugnahme auf den bezeichneten Gegenstand, hier: ein paradigmatisches Exemplar der bezeichneten natiirlichen Art, gewahrleistet werden. Wrr wollen diesen Punkt am Beispiel des Ausdrucks »Wassertaxonomischen RealismusZwerdenwasser< (XYZ) beziehe, entscheidet sich nach Auffassung des Externalisten nicht nach den oberflachlichen Merkmalen der transparenten Fliissigkeit im vor mir stehenden Glas, auf die ich in diesem Moment zeige. Ebenso gut, so kann unschwer zugestanden werden, konnte sich diese erste phanomenologische 73

Die subjektinvariante Beschaffenheit des Referenten sdbst, die sernantisch gewisserma.Ben verpflichtend ist, betont in diesern Zusammenhang auch Manud Bremer: »{. . .] [Entscheidend ist}, dass auch das Indukti.onswissen der gesamten Sprechergemeinschaft die Extension nicht bestimmt. Dies liegt gemafl der Kausaltheorie der Bezugnahme daran, dass die Bezugnahme sich iiber eine indexikalische Festlegung der Extension daran bindet, wie die Wirklichkeit an sich ist.« (Bremer (2005: 248))

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Betrachtung als Irrtum mit fatalen Folgen erweisen, wenn ich das vermeincliche Wasser als Durstloscher einzusetzen gedenke und es sich als Brennspiritus entpuppt (dabei sei einmal konzediert, class tiber die markanten Geruchseigenschaften von Spiritus geflissenclich hinweggesehen wurde).74 Es bedarf also eines Verifikationswissens, welches die tiefer liegenden Merkmale eines Referenzgegenstandes herauszufinden in der Lage ist, urn festzustellen, ob ein Gegenstand zur Extensionsmenge eines Ausdrucks gehort oder nicht. In Kapitel3.2.2 hatten wir bereits festgestellt, classes keineswegs sinnvoll ist anzunehmen, ein jeder Sprecher einer Sprache mtisse prinzipiell tiber das vollsriindige Verifikationswissen im oben skizzierten Sinne verfiigen. Vielmehr kann der durchschnittliche Sprecher in der Regel problemlos einen Ausdruck erlemen und anwenden, ohne class er tiber das komplette Biindel an begrifflichem Wissen verfiigt, das wir zuvor mit dem Wtssen urn die Intension (im Sinne Camaps) eines Ausdrucks gleichgesetzt hatten. Ein solcher Durchschnittssprecher folgt generell den pragmatischen Kriterien, die zurn Erlemen sowie zur Beherrschung eines Ausdrucks notwendig sind. Dabei handelt es sich urn ausgewahlte, stereotypische Bedeutungsmerkmale, also urn genau die Merkmale des Referenten bzw. der Referenzklasse, die in einem bestimmten sprachlichen Kontext ausschlaggebend bzw. von Interesse sind. Doch insofem es sich bei diesen Kriterien urn die soziale Extension eines Ausdrucks handelt, welche variant gegentiber einer Vielzahl von

74

Vielleicht klingt dieses Beispiel auf den ersten Blick zu konstruiert, immerhin gehort zu einer aussagekriiftigen phanomenologischen Betrachtung neben der Erforschung der optischen Qualitaten natiirlich genauso gut die Bestimmung sonstiger sinnfalliger Eigenschaften eines Stoffes, wie in meinem Beispielfall der distinktive Geruch. Putnam bemiiht oft ahnliche - nach dieser MaBgabe defizitare - Beispiele, etwa, wenn er davon spricht, dass es eines Expertenwissens bediirfe, urn Beispiele von Gold und sogenanntem Katzengold (Pyrit), die phanomenal gleich seien, hinsichtlich ihrer Mikrostruktur zu unterscheiden. Aber zumindest in der Alltagspraxis ist der Fall wahrscheinlich !angst nicht so kompliziert, wie Putnam ihn darstellt. Pyrit, das die chernische Struktur FeS2 besitzt, teilt zwar die markanten Farbqualitaten mit >echtem< Gold (Au), doch ist es z.B. wesentlich hatter als das Edelmetall und daher kaum formbar. Der im Twin Earrh-Experiment dargestellte Fall verhalt sich meines Erachtens sehr vie! anders, da davon ausgegangen wird, dass zwei differente Mikrostrukturen vollig gleiche oder zumindest sehr ahnliche Oberflacheneigenschaften hervorrufen (Ein Beispiel, welches fur Putnams Zwecke grundsatzlich besser geeignet ware, ist jenes des sogenannten schweren Wassm (D20) -, das namlich phanomenal fast identisch mit gewohnlichern Wasser ist, jedoch gerade in hoheren Dosen Ieicht giftig wirkt. - Diesen Hinweis verdanke ich Nicole Potenza.) - Man konnte mit Recht fragen, inwiefern dies wirklich sernantisch zwingende Implikationen hat. Diese Frage, die gleichermaBen die Moglichkeit externalistischer Sernantik in Zweifel zieht, kann in unserern Rahmen Ieider nur erwahnt werden. Joseph LaPorte thematisiert sie ausfiihrlich und argumentiert grundsatzlich dafiir, dass Extensionen keineswegs >entdeckt< bzw. errnittelt werden. Auch in F:illen, die sich analog zu Putnams Twin Eanb-Szenario verhalten, stipuliert die Sprechergerneinschaft schliefllich den Sprachgebrauch, unabhangig davon, was wir iiber die Natur des Namenstragers (der natiirlichenArt) herausgefundenhaben (vgl. LaPorte (1996), (2004)).

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3.2 Semantischer Externalismus

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Anwendungskontexten ist, miissen sie durch Experten abgesichert sein, die so etwas wie die >objektive< Bedeutung ermitteln konnen. Derartige Experten stellen ihr Wtssen dem Soziolekt bereit; durch ihr Urteils- und Einordnungsvermogen wird das sprachliche Repertoire der gesamten Sprechergemeinschaft erweitert und diese kann, etwa in Zweifelsfallen, auf die entsprechenden Verifikationsmethoden zuriickgreifen. Da dieses Modell auf den spezifischen Sriirken und Moglichkeiten der Sprecherindividuen sowie der durch sie konstituierten Anwendungskontexte beruht, gleicht das Procedere, eine Extension zu ermitteln und sie sprachlich zu etablieren, der Kooperation innerhalb eines Produktionsbetriebes. Urn namlich ein bestimmtes Produkt herzustellen, ist es hinsichtlich der faktischen Machbarkeiten oftmals unumganglich, die individuellen Kompetenzen aller am Handlungsprozess beteiligten Personen optimal zu nutzen. Dabei ist auf Anhieb evident, dass nicht jedes Glied der Produktionskette aile erforderlichen Herstellungsverfahren und Ablaufe gleicherma&n beherrscht; je komplexer sich ein Verfahren zur Erzeugung eines Produktes gestaltet, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Spezialwissen etwa zur Realisierung bestimmter handwerklicher Fertigkeiten vonnoten ist. Putnam bezeichnet diese Verfahrensweise, den Bezug eines Ausdrucks fur das Sprecherkollektiv als Ganzes festzulegen, als sprachliche Arbeitsteilung: Every linguistic community exemplifies [a] sort of division of linguistic labour [... ] : that is, possesses at least some terms whose associated >criteria< are known only to a subset of the speakers who acquire the terms, and whose use by the other speakers depends upon a structured cooperation between them and the speakers in the relevant subsets. 75 Analog zu dem Produktiortsbetrieb ist auch eine Sprechergemeirtschaft bereit, bestimmten Wissensautoritiiten zu folgen - oder aber, sie im Bedarfsfall zu bemiihen, denn haufig wirken die echten Experten eher rnittelbar, >im Hintergrund< (fur eine riickwirkende Verifikation), wahrend sich ganz bestimmte Ausdriicke im Soziolekt durchsetzen - sofern es sich jedenfalls urn die Feststellungskompetenz des korrekten sprachlichen Bezugs dreht. Was die Laienverwender eines Ausdrucks vorwiegend interessiert, sind ganz distinktive pragmatische Kriterien zur diskursiv erfolgreichen Verwendung, die sich tiber kurz oder lang als bedeutungskonstitutiv im Hinblick auf die Extensionen sprachlicher Ausdriicke erweisen. Denn: Was, so mochte ich behaupten, fur uns als Sprecher einer Sprache in erster Linie ausschlaggebend fur das Erlernen eines Vokabulars ist, ist sein pragmatischer Vorteil der Sicherstellung einer erfolgreichen Kornmunikation. Hierzu benotigen wir keineswegs ein vollstandiges, ja nicht einmal ein irrtumsfreies Wissen, son-

75

Putnam (1975b: 228); s. hierzu auch Putnam (1988: 25): »{. . .]OJhere is no problem ahout how nonexperts can use the word: in doubtful cases, they can always consult the local experts! There is a linguistic division of labour. Language is a fonn of cooperative activity, not an essentially individualistic activity.«

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

dem prinzipiell nur die stereotypische - soziale - Bedeutung, die sich im jeweiligen Diskurs durchgesetzt hat: Whenever a term is subject to the division of linguistic labour, the >average< speaker who acquires it does not acquire anything that fixes its extension. In particular, his individual psychological state certainly does not fix its extension; it is only the sociolinguistic state of the collective linguistic body to which the speaker belongs that fixes the extension. 76

Die stereotypischen Bedeutungsmerkmale dtirfen natiirlich nicht >aus der Luft gegriffenSchnittstelle< bereitzustellen. Abbildung 1 (S. 50) soil den Stufenaufbau der sprachlichen Arbeitsteilung veranschaulichen und dabei gewisserma.Ben die >Rollen< auf der >Biihne der Reflexion< klarmachen. Auf der obersten Ebene (Stufe 1) sind die bereits mehrfach erwahnten Experten angesiedelt. Thre Rolle ist es, das groBtmogliche WtSsen tiber die sprachlich zu reprasentierenden Referenzgegenstande zu erlangen und fiir die Sprachgemeinschaft bereitzustellen. Die im Vorhergehenden von mir verwendete Metapher der >Schnittstelle< zur auBersprachlichen Realitat sollte dabei so verstanden werden, dass an dieser Stelle der eigentliche Kausalkontakt im Sinne der in den letzten heiden Kapiteln dargestellten Referenztheorie erfolgt. Kausale Wrrkungen der jeweiligen Referenzgegenstande werden wahrgenommen und definit beschrieben, wobei den durch die wissenschaftlichen (und allgemein rationalen) Theorien etablierten Erkenntnissen der Sprechergemeinschaft interpretativ Folge geleistet wird. Man erhalt dadurch allgemeine kennzeichnende Beschreibungen der Gegenstande, die das auf dem jeweiligen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis groBtmogliche Wissen tiber sie einschlieBen und somit fiir die spater erfolgende rein phanomenologische Beschreibung aile verfiigbaren Merkmale bereitstellen. Fiir eine sprachliche Bezugnahme ist es, wie wir sehen konnten, unumganglich, dass unsere jeweiligen Verwendungsinstanzen eines Ausdrucks an die sprecherinvariante AuBenwelt angekoppelt sind. Die Kausalkette, welche wir im Alltag in der Regel vorfinden, reicht von einzelnen Verwendungssituationen zunachst zuriick his zu den in Abbildung 1 auf der zweiten Stufe angesiedelten sekundiiren Experten, die als vorlaufige Autoritaten tiber die Extensionen unserer Ausdriicke innerhalb eines eingegrenzten Bezugsrahmens fungieren. Das bedeutet genauer, dass hier spezielle Kriterien oder Merkmale zur erfolgreichen Anwendung eines sprachlichen Ausdrucks gemaB eines spezifischen Anwendungskontextes in den Soziolekt eingefiihrt werden. 77 Jene werden von den Teilnehmem des Diskurses 76 Putnam (197Sb: 229). 77 Einer der prominentesten Gegner dieser Auffassung soli hier nicht unerwahnt bleiben. Michael

Dummett bemerkt beziiglich dieser >Ersteinfiihrung< zum einen, dass zu ihr ein Fregescher Sinn not-

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3.2 Semantischer Externalismus

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iibemornmen, jedoch durchaus begriindetermaBen, denn im Regelfall sind es die konstitutiven begrifflichen Merkmale, die hier versammelt sind, die einen Sprecher zu einem jeweiligen Sprachspiel befahigen. Die kausale Kette kann dabei zahlreiche Formen annehmen: Sie kann bspw. in der Weitergabe der Referenz durch Print- wie auch Telekornmunikationsmedien etc. bestehen. Aber natiirlich kann die Kausalkette nicht ohne einen realistischen Input von aufien auskornmen, da sonst kein sinnvoller Entscheid tiber korrekte oder inkorrekte Referenz gegeben werden konnte. Nach der extemalistischen Auffassung bestirnmt ja die Welt die extensionalen Anteile unseres sprachlichen Bedeutungsbegriffs; die Aufgabe des Menschen ist nicht mehr und nicht weniger a1s die Ermittlung dieser faktischen Gegebenheiten fiir die Sprecher einer Sprache und die hierdurch gestaltete begriffliche Klassifizierung bzw. Differenzierung der Realiriit vermittels der uns zur Verfiigung stehenden sprachlichen Repriisentationssysteme. Es ist vollkornmen einsichtig, dass er sich dabei dem jeweiligen Gegenstandsbereich und den Umsriinden angemessener epistemischer Mittel zu bedienen hat. Die Welt bewirkt eine deutliche Motivierung unserer semantischen Strukturen, welche aber selbst wiederum solchen linguistisch beschreibbaren Phanomenen wie etwa einem Bedeutungswandel unterworfen sind. Der letztgenannte Punkt ist von besonderer Tragweite. Ausdriicklich namlich verweist ein extemalistisch-semantischer Ansatz auf ein realistisches Welt- und Wissenschaftsbild, in welchem die Gegensriinde der Realiriit unabhangig von unserer jeweiligen epistemischen Verfassung existieren. Eine Ermittlung der Extension unserer Ausdriicke bedeutet daher die Erforschung denkunabhangiger Entitaten (bzw. Gesamtheiten von Entiriiten) sowie gut gestiitzte Hypothesen dariiber, was genau diese Entiriiten ontologisch konstituiert- was ihnen zugrunde liegt. Erinnem wir uns an diesem Punkt zuriick an die versteckte Indexikalitiit von Pradikaten fiir natiirliche Arten, wird emeut der bereits erwahnte hypothetische Essenzialismus deutlich: In unserer Alltagspraxis gestalten wir unsere begrifflichen Konstruktionen deutlich nach einem >objektiven< Standard, d. h. wir gehen davon aus, dass eine jede sprachliche Bezugnahme auf eine stabile Extensionsmenge gerichtet ist, deren wendig ist (vgl. Dummett (1973: 148)) - eine Kategorie, die Kripke und Putnam fur Eigennamen und natiirliche Artenpriidikate leugnen. Eine andere Schwierigkeit des kausaltheoretischen Paradigmas ist !aut Dummett auBerdem die Unmoglichkeit, Kommunikationsketten der oben beschriebenen Art in der Alltagspraxis detailliert nachzuvollziehen. Zwar gesteht er zu: »Often, however; we can, by making a large number ofconjectures, tender it quite probable that an earlier use [ofa name] is connected with a present one, though often we cannot go back all the way to the original introduction ofthe name." (Dummett (1973: 150)), doch steht er der kausalen Theorie als adaquater Theorie sprachlicher Bedeutung auBerst skeptisch gegeniiber, was eben ihrer (ausschlieBiichen, so Dummett) Eigenschaft als Referenztheorie geschuldet ist. Der Sinn und Zweck einer angetnessenen Referenztheorie sei es, das Kriterium fur gelungene oder misslungene Referenz eines Ausdrucks anzugeben, unabhangig von der Historie des Ausdrucks und seiner Weiterreichung innerhalb einer kausal-kommunikativen Kette (vgl. ebd.).

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Seinsweise nicht von episternischen Situationen und Moglichkeiten der Sprecher abhangt. Unsere Aussagen i.iber die Welt, so nehmen wir in sprachlichen Alltagssituationen an, konvergieren auf einen ihnen allen gemeinsamen Ausschnitt der Welt hin, z.B. ein bestimmtes in unserem Sichtfeld befindliches konkretes Objekt, i.iber welches wir uns unterhalten. Die Frage, an welche sich unsere semantische Untersuchung hier unrnittelbar anschlieBt, ist offenkundig jene nach Realismus oder Antirealismus der Gegenstande der Welt sowie der sprachlichen Strukturen, rnithilfe derer wir sie reprasentieren. Im nachfolgenden Kapitel werde ich rnich dementsprechend ausfi.ihrlicher mit den metaphysisch-ontologischen und episternischen Voraussetzungen des semantischen Extemalismus beschafti.gen. SEMANTISCHER EXTERNAllSMUS P!uMAlu:R ExPERTE: besitzt uneingeschriinkte Expertisekompetenz zur Feststellung (Ermittlung) unserer Termextensionen SEKUNDARER ExPERTE: besitzt eingeschrankte Expertisekompetenz; wahlt bestimmte Oberiliicheneigenschaften des Referenzgegenstandes mit Blick auf einen jeweiligen pragmatischen Rahmen aus ALLTAGSSPRECHER (>LAIEgetauftheraustretenvon auBenIsolierung< der Wesenseigenschaften herausgegriffen worden ist. Und da diese Essenz in sich eine Stabiliriit aufweist, kann diese auch von allen ihren sprachlichen Reprasentationen angenommen werden. Im Faile unseres nunmehr vertrauten Wasserbeispiels etwa sorgt die Konnexion zu einem zuriickliegenden einfuhrenden Benennungsakt (dem Taufakt) dafiir, class sich aile Verwendungsinstanzen des deutschen Ausdrucks »Wasser« auf die Gesamtheit von bestimmten Molekiilen beziehen. Und zwar handelt es sich urn die Molekiile, die wir innerhalb unserer wissenschaftlichen Beschreibungs- und

83 Vgl. Willaschek (2000: 22).

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLos

Klassifizierungsrahmen als »H2 0« bezeichnen und deren chemische Zusammensetzung wir als die Substanz dessen betrachten, womit wir im Alltag operieren. Dabei soll die Referenz letztendlich in keiner Weise abhangig von unserem wissenschaftlichen Kenntnisstand sein, denn es kann clavon ausgegangen werden, class es die gleichen kausalen Wirkungen sind, die fiir das Herausgreifen der natiirlichen Art Wasser zu eben dem Zeitpunkt des Taufaktes gesorgt haben, die nun im jeweiligen Fall der weiteren Bezugnahme vorliegen. Urn diesen Punkt anschaulich darzustellen, fiihrt Putnam den Beispielfall einer Sprechergemeinschaft an, der in Ermangelung chemischer Erkenntnisse die (metallurgische) Expertisemethode zum Nachweis von Gold nicht zuganglich ist. Konnte man nun sinnvollerweise behaupten, ein Mitglied dieser Sprechergemeinschaft, welches ein Stiick Pyrit (Katzengold) in Handen hielte, referierte mit der Aufierung des Ausdrucks »Gold« tatsachlich auf dieselbe natiirliche Art wie wir, deren Ausdruck »Gold« fest mit dem Edelmetall Aurum verkniipft ist? Sicher nicht. Denn auch riickwirkend muss nach Ansicht des Extemalisten der maximale Kenntnisstand beziiglich des Referenten beriicksichtigt und der Bezug des sprachlichen Ausdrucks damit festgelegt werden. Die Eigenschaften der Substanz selbst sorgen dann clafiir, class eine Konstanz in der Beschaffenheit aller Exemplifikationen einer natiirlichen Art besteht, und diese iibertragt sich qua kausal-kommunikativer Kette auch auf alle zuriickliegenden Verwendungssituationen. Ob ein Term korrekt angewandt worden ist, wird durch eine Dberpriifung des spezifischen Bedeutungsgehalts unter Rekurs auf eine ihn einbettende Theorie iiber den bezeichneten Referenten entschieden und tragt cladurch einen objektiven Charakter. Halten wir also fest: Konstitutiv fiir den Ansatz des semantischen Extemalismus ist die Annahme, class die Realitat letztlich eine feste, distinktive, nichtbeschreibungsrelative Beschaffenheit besitzt. Diese verpflichtet uns darauf, die in ihr enthaltenen Kategorien, Relationen und Klassen fiir die Etablierung unserer sprachlichen Reprasentationen zu iibemehmen - zur Ermoglichung einer stabilen sprachlichen Bezugnahme iiber verschiedene Einzelsituationen hinweg. Mit dem extemalistischen Ansatz ist aufierdem eine bestimmte Annahme iiber die Erkenntnismoglichkeiten des Menschen verbunden, namlich der exteme Standpunkt gleichsam >aufierhalb der Weltahnlichen< Anteilen der Sprache. Zu dieser auBergewohnlichen Auffassung gelangt Sokrates deshalb, weil er nach einem Weg sucht, urn die an friiherer Stelle postulierte Auffassung, class Namen ihre Referenten durch eine Ahnlichkeitsrelation bezeichnen, zu explizieren. Unklar ist an dieser Stelle natiirlich, inwieweit es sich hierbei urn eine Theorie handelt, die sich ausschliefllich auf onomatopoetische Eigenschaften sprachlicher Ausdriicke kapriziert. Diese Frage muss jedoch vorerst zuriickgestellt werden, da sie erst im Zuge genauerer Analyse hinreichend geklart werden kann. Bemerkenswert ist zunachst, wie Sokrates die Nachahmungstheorie der Sprache unter dem naturalistischen Gesichtspunkt derart iibertrieben ausformuliert (wozu ihm sein spaterer Gesprachspartner Kratylos auch hinreichend Gelegenheit gibt; wiederum ein anschauliches Beispiel fiir Platons dialektische literarische Konstruktionen), class er auf diese Weise ihre Grenzen deutlich machen kann 86

Es sollte nicht unerwahnt bleiben, class keine klare Entscheidung dariiber getroffen werden kann, ob Platon ausschlieBlich von phonetischen oder phonematischen Entiriiten spricht: der erste Fall betrii.fe den Bereich der reinen Geriiuscherzeugung, also des >blankennariirliche Korrektheit< sprachlicher Ausdriicke besitzt. Das fuhrt Sokrates darauf hin, bei den Sachverstandigen fur solche Angelegenheiten zu suchen - wobei zunachst die Sophisten in den Blick riicken, die sich ja ohnehin irn Ruf wahnen, auf fast jedes Problem, das in den Bereich kultureller Bildung fallt, eine fundierte Antwort geben zu konnen. Der Vorschlag, sich an die Sophisten zu wenden, stellt nariirlich prirnar eine ironische Spitze Sokrates' gegen die griechischen Privatlehrer und ihr falschlicherweise sicher geglaubtes Wissen dar. Sogleich wird zur nachsten Wissensautoritat bezi.iglich der Sprache i.ibergegangen, namlich jener der Dichter, spezieller noch ihrem ehrwi.irdigsten Vertreter, Homer. Gotter, von denen Homer ja aufgrund seines besonderen Talents in privilegierter Weise zu erzahlen vermag, haben eine gro6ere Autoritat i.iber sprachliche Benennungen als Menschen, so kommen Sokrates und Hermogenes i.iberein; wenn Gotter etwas benennen, also einen Namen verwenden, tun sie das ziel- und treffsicher, was ihrem perfekten und infalliblen Wesen geschuldet ist. 90 Diese Annahme wird nariirlich, insofem sie eine Standardauffassung der griechischen Antike darstellt, nicht hinterfragt und wird von heiden Gesprachspartnem als vollkommen evident angesehen. Der platonische Sokrates beginnt irn Folgenden, d. h. ab KRAT. 392a, seine gro6 angelegte Analyse verschiedener etymologischer Fallbeispiele. Diese Untersuchung erfolgt in mehreren Schritten; zunachst betrachtet und analysiert Sokrates komplexe Namen, etwa solche der griechischen Mythologie, auf ihre Konstituenten hin und rasoniert i.iber die jeweils mit ihnen verkni.ipften kennzeichnenden Eigenschaften. Auch gehen zahlreiche kulturelle Hintergrundinformationen in diese Rekonstruktionen ein, welche Sokrates wiederum die Inspiration zu neuen Analysen geben. Ein typisches Beispiel fur dieses Vorgehen ist etwa das folgende, welches der Genese des Eigennamens >> Hektor« auf den Grund zu gehen sucht: 89 Heitsch (1993: 51). 90 Vgl. KRAT. 391d-e.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS (Sokrates:) Hat etwa, du Guter, auch dem Hektor selbst Homeros seinen Namen beigelegt? (Hermogenes:) Wieso? (Sokrates:) Weil es mir damit fast ebenso zu sein scheint wie mit dem Astyanax und diese Namen ganz hellenischen gleichen. Denn Anax, Herr, und Hektor, Inhaber, bedeuten fast dasselbe und scheinen beide konigliche Namen zu sein. Denn woriiber einer Herr ist, davon ist er auch Inhaber; denn offenbar beherrscht er es und besitzt es und hat es. Oder scheine ich Dir nicht zu sagen und riiusche mich, indem ich glaube, die Spur ausgefunden zu haben von Homeros' Meinung tiber die Richtigkeit der Benennungen?91

Tatsachlich ist dies nur der Beginn einer sehr langen Liste von Beispielen fiir etymologische Rekonstruktion, die Sokrates in seinem weiteren Diskurs mit Hermogenes beschaftigen. Ohne Frage werden die Falle, die er analysiert, mit fortschreitender Untersuchung immer farbenfroher und spekulativer; gegen Ende der langen Passage dieser Untersuchungen ist schlie6lich die Grenze zwischen feinsinniger sokratischer Ironie und ernst gemeinter methodischer Argumentation kaum noch auszumachen. Dieser simple Umstand- dies sei vorweg angemerkt- hat offensichtlich dazu gefiihrt, dass der KRATYLOS nie eine so einheitliche, orthodoxe Interpretation erfahren hat, wie dies etwa bei Platons PouTEIA oder dem THEAITETOS der Fall ist, ganz zu schweigen von den friihen, den sokratischen Dialogen Platons. Der grundlegende Widerstreit der lnterpreten des KRATYLOS besteht stets zwischen der Auffassung, die Etymologienanalysen seien eine reine Demaskierung der Idee etymologischer Rekonstruktion und ihrer Aussagekraft durch Platon, 92 sowie der entgegengesetzten Meinung, dass Platon diese Rekonstruktionen nicht nur durchaus ernst meint, sondern sie gar als Produkt einer techne ansieht, welche seriose und verlassliche Erkenntnisse iiber die Semantik einer Sprache zur Verfiigung stellen kann, wenn sie nur richtig ausgeiibt wird. 93 Auch eine weniger extreme Ansicht wird von der gangigen Forschungsliteratur vertreten; nach ihr liegt der tiefere Sinn des gesamten Dialogs, insbesondere aber der Etymologienpassage, in der Kritik an der Sprache als Mittel zur Erkenntnis begriindet. 94 Ich werde an spaterer Stelle noch auf diese Typisierung eingehen und sie diskutieren; an dieser Stelle soil uns aber etwas Anderes interessieren, 91

393a. So bekundet bspw. Simon Keller, das Leitthema des KRATYLOS sei »[. . .] Plato's attack upon etymology as a form of philosophical inquiry. Other philosophical questions come up, but they are subordinate.« (Keller (2000: 285)). Walter Brocker augen sich mit Bezug auf den Status der Etymologie in Platons Dialog folgenderm~en: »Plato selbst nimmt das Etymologisieren, das er hier treibt, offenbar nicht ganz ernst [. . .]. [. . .} Was da getrieben wird, will [. . .} nur als halbpoetisches Spiel gelten, nicht ganz ohne tiefere Bedeutung, aber nicht wiirtlich emstzunehmen.« (Brocker (1990: 336)). 93 Vgl. Sedley (2003c: 149f., 2003a), der sicher der prominenteste Vertreter dieser Auffassung ist. 94 Vgl. Kahn (1973: 153). KRAT.

92

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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namJich die Art und Weise, wie der platonische Sokrates Aufschluss iiber seine essenzialistischen metaphysischen Uberzeugungen und deren Auswirkungen auf die Funktionsweise natiirlich-sprachlicher Bedeutungen gibt. Die hierfiir relevanten Textstellen sind im Wesentlichen der Etymologienrekonstruktion vorgelagert und leiten sie ein. Der Grund hierfiir ist, class sie das platonische Untemehmen vorbereiten, Teile sprachlicher Ausdriicke (und spater auch elementare Namen und deren Konstituenten, die Phoneme) mit Kennzeichnungen iiber ihre Tragergegenstande zu verkniipfen. Die Relevanz dieser Kennzeichnungen ist allerdings nicht im Sinne einer reinen Beschreibungstheorie der Bedeutung zu verstehen (s.o.). Denn nach einer solchen miisste es, wie wir festgestellt hatten, moglich sein, class Namen allein cladurch ihren Gegenstandsbezug haben, class eine Kennzeichnung oder ein Biindel von Kennzeichnungen auf den Gegenstand zutrifft. Dieser Ansicht scheint Platon allerdings keineswegs zu sein, was vor allem darin begriindet liegt, class er eine strikte Trennung von Sprache bzw. sprachlichen Ausdriicken und der nichtsprachlichen Wrrklichkeit vor Augen hat. Fiir ihn sind ja sprachlich fixierte Propositionen immer nur sinnliches und damit potenziell fallibles Material, mittels dessen wir auf die tatsachlichen Gegenstande und Sachverhalte der Realitat Bezug nehmen. Die >ultimative< Wahrheit liegt nach Platon aber stets in den Ideen, da nur sie fiir ihn eine in sich stabile Struktur besitzen. Diese Abhangigkeit sprachlicher Strukturen von der Realitat manifestiert sich auch in der Auffassung, class im Falle von Lebewesen deren natiirliche Abstammung fiir die Bedeutung von Namen eine Rolle spielt- ein Gedanke, der uns aus den Uberlegungen zum semantischen Extemalismus bestens bekannt ist. Sokrates bringt diese Auffassung folgenderma.Ben im Gesprach an: (Sokrates:) Recht wenigstens ist es, wie mir scheint, eines Lowen Abkommling Lowen zu nennen und eines Fferdes Abkommling Fferd. Nicht so meine ich es, wenn, als ein Wunder, einmal von einem Fferde etwas anderes geboren wiirde als ein Fferd; sondem was einer Gattung Abkommling ist der Natur nach, das meine ich, so daB, wenn ein Fferd widernatiirlich ein Kalb geboren hatte, was seiner Natur nach Abkommling eines Stieres ist, man dies auch nicht Fiillen nennen miillte, sondem Kalb. Ebensowenig, meine ich, miillte man, wenn, was von einem Menschen geboren wiirde, nicht eines Menschen Abkommling ist, diese Ausgeburt Mensch nennen. Und ebenso mit Baumen und mit allem anderen. 95

Sokrates geht also clavon aus, class es beziiglich einer korrekten Benennung darauf ankommt, was dem jeweiligen Gegenstand, in diesem Fall also einer Tierart, realiter zugrunde liegt. Die Struktur, die der Gegenstand clabei besitzt, genauso wie die ontologische Einteilung der Realitat im Hinblick auf Klassen von Gegenstanden, soli clabei durch die Sprache iibemommen werden.

95 KRAT. 393b-c.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

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Entscheidend ist dabei der deutliche Hinweis Platons darauf, class die ontologische Beschaffenheit etwa einer biologischen Abstammungslinie eine bestimmte Namenswahl zur Folge hat. Diese Feststellung macht auch Walter Brocker, der Platon zuschreibt, ein System von Priidikationen im Blick zuhaben, wenn er die dem Subjekt extemen Fakten der Welt als semantisch relevant interpretieren mochte: [E]s gibt [nach Platons Vorstellung] eine absolut richtige Namensgebung, oder (da diese Namen logisch gesprochen Pradikate sind) ein ideales Pradikatensystem. 96

Selbstverstandlich hat eine solche Sichtweise Konsequenzen im Hinblick auf die iiberhaupt zulassigen Moglichkeiten sprachlicher Benennung, und >BenennungAbstammungslinienrichtigen< Sprachgebrauchs Folge zu leisten. Die nichtsprachliche Realitat wirkt sich dementsprechend auf die Etablierung von Verwendungskri96 Brocker (1990: 334). Brocker (1990: 336). 98 KRAT. 393c.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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terien sprachlicher Ausdriicke aus - sie ist ma.Bgeblich an der Normierung der Verwendungsweise sprachlicher Ausdriicke beteiligt. Der Grundgedanke ist hier meines Erachtens der gleiche wie im Paradigma des semantischen Extemalismus: Benannt wird mit einem Namen letztlich die Substanz, die Essenz einer Art, dasjenige, was die paradigmatischen Beispiele einer Art im Wesentlichen ausmacht und somit in allen Artzugehorigen gleicherma.Ben realisiert vorliegt. Und was von ebenso frappierender Obereinstimmung ist: Auch der Mechanismus, den Platon zur Festlegung von sprachlichem Bezug postuliert, 99 ist ein im semantischen Externalismus systematisch fundamentaler, namentlich der der direkten Referenz. Denn analog dazu, wie bspw. im Twin Earth-Gedankenexperiment Putnams die natiirliche Art Wasser per Ostension, also durch eine hinweisende Geste, referenziell herausgegriffen wird, so geschieht dies auch in Platons Konzeption hinsichtlich makroskopischer Gegensrii.nde. 100 Auch Platon ist die direkte Referenz und die hiermit unmittelbar verbundene Art des Tauf- oder Einfuhrungsaktes bestens bekannt, wie es scheint. Explizit gibt er dies in den folgenden Ausfiihrungen zu verstehen, die inhaltlich die semantische Begriindung der Stammwiirter zum Gegenstand haben. Wenn wir, so Sokrates, noch keine Worte, die ihrerseits Bedeutung tragen, zur Verfiigung haben, ja noch nicht einmal die Moglichkeit sprachlicher Artikulation besitzen, dann sind wir auf eine andere Art der Bezugnahme auf die Welt angewiesen - eben auf jene, die durch hinweisende Gesten ermoglicht wird: (Sokrates:) Wenn wir weder Stimme noch Zunge batten und doch einander die Gegenst:ande kundmachen wollten, wiirden wir nicht, wie auch jetzt die Stummen tun, versuchen, sie vermittels der Hande, des Kopfes und der iibrigen Teile des Leibes anzudeuten? 101 Unser momentaner Stand der Dinge ist demnach folgender: Ausschlaggebend fiir die korrekte Bezugnahme eines sprachlichen Ausdrucks ist, dass er die Natur, das Wesen des Gegenstandes enthalt. Ob dabei das lautliche Material variiert, spielt, so Sokrates, keine Rolle; entscheidend fiir gegliickte, also korrekte, Referenz ist, dass die Essenz des Gegenstandes im Wort untergebracht ist. Damit ist die Bezeichnungsrelation eben auch konstant; dies ist durch die interne Stabilitat des auBersprachlichen Bezugsgegenstandes gewahrleistet. Sokrates fasst diesen Punkt schlieBlich mit den folgenden Worten zusammen: (Sokrates:) Das naturgeiili:ill entstandene muB also auch denselben Namen empfangen.102 99 Im Sinne eines sozialen Extemalismus (s.o.)!

100 Allerdings reicht die von mir aufgewiesene Analogie zu Platons Gedanken nicht so weit zu behaupten,

class dieser andere als die makroskopischen Objekte im Blick hat.

101 KRAT. 422e. 102 KRAT. 394d.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLos

Und wenig spater verweist Sokrates abermals darauf, class die Gattungszugehorigkeit eines Individuums (also eine essenzielle Eigenschaft) dafiir verantwortlich ist, class eine Benennung als korrekt gelten kann. Sokrates bemiiht dazu clas oben aufgefiihrte hypothetische Beispiel eines auf wunderliche Weise geborenen Bastards (eines Kalbs namlich, das von einem P{erd geboren wurde) und stellt fest, class in einem solchen Fall die korrekte Benennung von nichts Anderem abhangig ist als von dem, was das Neugeborene im Wesentlichen ausmacht. 103 Blicken wir an diesem Punkt emeut zuriick und versuchen wir, einige Parallelen zu ziehen: Was ist clas >WesenBauplan< fur die jeweilige Art. Diese Erklarung scheint mir grundsatzlich eine modeme Fassung dessen zu sein, was Platon unter der >Natur< eines Gegenstandes versteht. Zwar verfugt eine Sprechergemeinschaft, wie Putnam sie zeichnet, iiber ein Mehr an wissenschaftlicher Erkenntnis und damit iiber differenziertere Moglichkeiten, Wissen iiber die einem jeweiligen Gegenstand zugrunde liegende Struktur zu erlangen. 104 Daraus ergeben sich selbstverstandlich auch mehr Moglichkeiten, sich - urn Platons Terminologie zu verwenden - >an der Sache selbst< zu orientieren. Letztlich verhalt sich der modeme Fall aber analog zu dem von Platon diskutierten Bild der Etablierung von Ausdriicken innerhalb einer Sprachgemeinschaft, denn auch in seiner Sichtweise ist es die Natur der Gegenstande, die ma.Bgeblichen Einfluss auf jene ausiibt, und diese Naturist fur Platon eben auch durch die Essenz bestimmt, welche wiederum in den Ideen der Dinge angelegt ist. 3.3.3 Physei II: Strikter semantischer Naturalismus

Wrr haben im Vorhergehenden bereits eine erste Antwort auf die Frage nach der Korrektheit sprachlicher Ausdriicke kennengelemt, die auf dem Gedanken beruht, class die ontische Struktur des bezeichneten Gegenstandes bzw. der Klasse von Gegenstanden die extensionale Dimension des Bedeutungsbegriffs bestimmt und die Natur auf diese Weise eine Wortbedeutung motiviert. Versteht man unter einer korrekten Bezugnahme eine, die die hierdurch festgelegten Verwendungskriterien beriicksichtigt, so gewinnt die Sprechweise von korrekten Bezeichnungen im Lichte der Figurationen des semantischen Extemalismus an Plausibilitat. Ich 103 104

Vgl. ebd. Und selbstverstiindlich liegt der Unterschied zwischen heiden auch und vor allem in den WISsensgegenstiinden. Platon hat eben keinen Schwerpunkt auf den Phanomenen der Empirie, sondern ist stets urn eine kritische Reflexion auf die Grundlagen sinnfalliger Dinge bemiiht, in der er das genuine Tatigkeitsfeld der Philosophie (oder besser: der Dialektik) sieht.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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hatte diese Deutung des sokratischen Naturalismus bereits als die moderate Lesart bezeichnet und werde an anderer Stelle auf sie zuriickkommen. Im Folgenden allerdings wird uns die Fortfiihrung der naturalistischen Konzeption Sokrates' beschaftigen, welche diese Auffassung mit den Grenzen ihrer Moglichkeiten konfrontieren soil: die strikte Interpretation des semantischen Naturalismus. Vergessen wir aber nicht, dass an dieser Stelle des Elenchos eindeutige Grenzen gesetzt werden, was das semantisch-naturalistische (bzw. extemalistische) Programm Platons angeht. Denn aile naturalistische Argumentation, die Platon in den oben genannten Passagen prasentiert, ergibt sich daraus, dass sprachliche Ausdriicke kraft ihrer Verkorperung der N atur des Seienden, welches sie ausdriicken, zu referieren vermogen. Ich habe speziell im letzten Hauptkapitel dieser Arbeit darauf hingewiesen, dass einer solchen Semantik eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zugrunde liegt. Diese Theorie lasst aber einige Punkte ungeklart, z.B. den, wie es genau moglich ist, dass eine Korrespondenzannahme berechtigt und eindeutig zutreffend ist. Und, damit unmittelbar verbunden: wie genau der Einfluss extemer Gegenstande auf den Geist und damit auf die verwendeten Ausdriicke iiberhaupt moglich wird. Denken wir an die Oberlegungen zur kausalen Theorie der Referenz zuriick, so wird offenkundig, dass eine ihrer notwendigen Voraussetzungen der Begriff der direkten Referenz ist, d. h. die Festlegung einer subjektiven Sprecherreferenz durch hinweisende Gesten oder auch sehr eindeutige phanomenale Beschreibungen. Doch bleibt die Referenzrelation als primitive GroBe irreduzibel stehen und wird nicht inhaltlich explizit gemacht. 105 Zwar ist ein wesentliches Moment des semantischen Extemalismus die Argumentation mittels einer kausal-kommunikativen Kette, die vom Einfiihrungsakt his hin zu einem jeweiligen Verwender eines Ausdrucks reicht und dadurch eine Bezugnahme ermoglicht, doch wird, wie wir spater noch sehen werden, eine Bezugnahme durch einen Ausdruck nur unter Riickgriff auf intentionales Vokabular moglich. In jedem Fall entsteht eine Erklarungsliicke zwischen der intendierten Bezugnahme eines Sprechers durch z.B. eine ostensive Geste und dem Referenzgegenstand. 106 105

106

Hilfreich in diesem Zusammenhang scheint mir Wolfgang Stegmilllers Charakterisierung der Putnamschen kausalen Referenzrelation: Stegmiiller kennzeichnet sie als eine rein funktionale, nicht als physikalistische Relation. Seine Begriindung hierfi.ir: »[Externalistische Semantikauffassungen nach der Art Putnams und Kripkes] sol/ten eine differenziertere Bezeichnung bekommen als die irrefiihrende Etikette >Kausale Theorie der ReferenzTheorie der sozialen Kooperation und des Beitrages der Umgebung zur Festlegung der Referenzrichtig< oder >passend< fiir die Bezeichnung eines Gegenstandes oder einer Person ist. Dabei rekurriert er auf die mit dem Ausdruck verbundenen assoziativen Merkmale, die einen Sprecher einen jeweiligen Ausdruck A2 einem anderen At gegeni.iber vorziehen lassen; A2 trifft eben aufgrund seiner lautlichen Gestaltung den Referenten besser als At. Dieses Element entscheidet fiir Sokrates i.iber korrekte oder inkorrekte Referenz eines Wortes. Soweit befinden wir uns noch auf der Ebene des moderaten Naturalismus: Einem jeden Objekt der Realitat, also einem jeden potenziellen Referenten, entspricht nach der semantisch-naturalistischen Vorstellung ein sprachlicher Ausdruck, der aufgrund seiner Merkmale eine >nati.irliche< Verkni.ipfung mit dem Referenten eingeht, indem er dem Sprecher (zutreffende) Informationen i.iber den Referenten liefert. Der entscheidende Schritt in Richtung des strikten Naturalismus vollzieht sich darin, die oben dargestellte Kennzeichnungsebene zu verlassen und eine noch feinkornigere naturalistische Verankerung der Kennzeichnungen zu erzielen. Diese Aufgabe namlich evoziert die etymologische Rekonstruktion, an der sich der platonische Sokrates versucht. Indem er die Ansatze der vor allem durch die Sophisten vertretenen Semantik priift und gleichzeitig deren Methode zur Kritik des Naturalismus heranzieht, trifft Sokrates eine erste wichtige Differenzierung. Benennungen konnen, so gibt er zu verstehen, - durch Vorfahren festgelegt und von der aktuellen Sprechergemeinschaft i.ibernommen worden sein (und sind daher unter Umstanden unangemessen); - sie konnen als Pradikation etwa gewisser Wi.insche fungieren (z.B. in »Gotthilf«, »Gottlieb«, »Gottlob«); - oder sie erfolgen gemaB dem in der Natur des Tragergegenstandes Fortbestehenden.t07

tOl

Eigennamen nur als eine •Quasi-Theone< einzustufen; er behauptet, es handele sich im Wesentlichen urn ein >BildMeaning: etwas ausweichend auf den den normalen Sprachgebrauch rekonstruierenden Charakter seiner Uberlegungen verweist (Putnam (1975b: 271 )); dies konnte nahelegen, class auch Putnam keine vollstii.ndige Theorie intendiert. Spater jedoch, mit Beginn seiner intem--realistischen bzw. intemalistischen Phase (vgl. z. B. Pumarn (1981 )), lenkt ihn genau der Mangel an einer angemessenen Explikation der naturalistischen Kausalrelation dahin, seine Semantik auf eine neue epistemologische Basis zu stellen. Unter anderem wird darin die wechselseitige Abhangigkeit pragmatischer (intentionaler) und externalistischer Komponenten des Bedeutungsbegriffs deutlich. Vgl. KRAT. 397b. Sokrates verweist auEerdem darauf (exemplarisch etwa in KRAT. 399a), class in einer gesprochenen Sprache dynamische Entwicklungen vorherrschen, wie z.B.lautliche Variationen, Abkiirzungsregeln oder pragmatisch begriindete Inversionen, urn nur einige zu nennen.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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Diese Kriterien zieht Sok.rates nun heran, urn die etymologische Methode auf basale Ausdriicke des Griechischen anzuwenden. Sokrates beginnt seine Analyse mit den Namen der GOtter, geht dann iiber zu jenen der Himmelskorper, der Elemente, der Jahreszeiten, woraufhin er sich den Ausdriicken fiir Tugenden zuwendet. Stets spricht er in seinen Analysen davon, class es sich urn (nach den oben dargelegten Mafigaben) beg;rUndbare Ansichten iiber die ausdrucksgeschichtliche Entwicklung handelt, die die Etymologie ans Licht befordert. Eine solche Begriindung einer Ausdrucksbedeutung geschieht mittels des Riickbezugs auf kleinere lexemische Bestandteile des Ausdrucks, also auf Worter mit einer ihrerseits eigenen Bedeutung. Es gibt jedoch, wie Sokrates feststellt, Grenzfalle solcher Analysen. Ausdriicke fiir die Elemente Feuer oder Wasser z. B. miissen seiner Ansicht nach anderen Sprachen entliehen sein, weil sie einer fruchtbaren etymologischen Erklarung einfach nicht zuganglich scheinen. Ebenso sei dies, so Sokrates, der Fall beim Ausdruck »Luft«. Solchen Ausdriicken miisse »Gewalt angetan« werden, urn sie im etymologischen Paradigma erklarbar zu machen. Will man sie mit den zuvor herangezogenen Mitteln semantisch erschlieBen, so miissen ihre Konstituenten zielgerichtet urngestellt werden. 108 Das heillt, class aus semantisch kontingenterweise passenden Einheiten, die in einem Ausdruck enthalten sind, eine neue Form des Wortes rekonzipiert wird. Die Annahme derartiger Rekonzeptionen ist deshalb gerechtfertigt, weil »der Verschonerung wegen« sowie »aus Schuld der Zeit« zahlreiche Ausdriicke durch Anreicherung von Silben und Buchstaben sowie interne Umstellungen verfremdet worden sind. 109 Selbstverstandlich muss auch eine historisch bedingt erschwerte etymologische Rekonstruktion nach gewissen Mafistaben erfolgen; sie kann entweder bedacht oder unbedacht angestellt werden. Im ersten Fall bemiiht sich der Ausiibende ganz besonders urn eine besonnene Rekonstruktion, ihm ist also daran gelegen, die Wahrheit aufgrund von Plausibilitatserwagungen und darnit in gewissen Grenzen zu suchen. Im zweiten Fall, dem der unbedachten etymologischen Analyse, orientiert sich der Ausiibende lediglich am Wohlklang, an rein phonetischen Qualitaten, und agiert ohne wirkliches Ziel und mit Blick auf eine Angemessenheit der Mittel, welche notwendig sind, urn einen Ausdruck interpretierbar zu machen. Eine relative Willkiir, die darin resultiert, class durch lauter hinzugefiigtes Lautmaterial das Wort vollkommen verfalscht wird, ist schlieBlich die Folge: (Sokrates:) Wenn man [ ... ] jeden nach Belieben Buchstaben hineinsetzen IaBt in die Worte und herausnehmen, so muB es wohl sehr Ieicht sein, jeden Namen jeder Sache anzupassen. 110

Vgl. KRAT. 412c-413d. 109 KRAT. 414c. 108

110 KRAT. 414d-e; vgl. ebf. KRAT. 418a.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Auch Sokrates' Gesprachspartner Hermogenes wird es an dieser Stelle sichtlich zu spekulativ; die Exemplifikation des von Sokrates oben genannten bedachten Vorgehens bei der etymologischen Rekonstruktion vermischt sich ganz offensichtlich mit dem unbedachten, so class die freigelegten semantischen Informationen zunehmend besser zueinander passen und teilweise wie freie Assoziationen wirken. Abermals taucht die Frage auf, was den MaBstab dafiir bereitstellt, sich insoweit an der Sache zu orientieren, class man im Riickblick auf ihre Natur die zur etymologischen Analyse notwendigen Anpassungen des Ausdrucks in angemessener Weise vollzieht. Mit diesem neuerlichen Aufgriff der Fragestellung gelangt der Diskurs an die Definition gleichsam der Urbestandteile komplexer sprachlicher Ausdriicke, der sogenannten Stammworter, und zwar iiber das Problem der Begriindung einer sprachlichen Korrektheit. So gibt Sokrates zu verstehen, class abgeleitete und komplexe Ausdriicke vermittels der primaren, also der Stammworter, auf eine semantische Korrektheit verweisen. Doch wodurch wird der semantische Inhalt der Stammworter ihrerseits begriindet? Es entsteht ein Begriindungstrilemma111 : - Entweder handelt es sich urn ein auslandisches Wort, das iibemommen worden ist, - oder aber der Ausdruck ist schlichtweg zu alt, urn seinen semantischen Ursprung noch angeben zu konnen, - oder die Untersuchung erfahrt einen dogmatischen Abbruch (»notwendiges Verstummen«). Wann besteht aber das Recht, sich auf die letzte Moglichkeit, den dogmatischen Abbruch des Fragens, zu bescheiden? Nach Sokrates genau dann, wenn der Fragende bei den Grundbestandteilen von Satzen und Worten angelangt, [d]enn von diesen konnte man ja wohl billigerweise nicht mehr zeigen sollen, daB sie aus andem Wortem zusammengesetzt sind, wenn es sich wirklich wie angenommen mit ihnen verhalt. 112

Die Frage lautet nunmehr: Auf welche Art und Weise konnen die Stammworter im oben dargelegten Sinne voraussetzungslos ihre semantische Funktion erfullen? Sokrates stellt die Hypothese auf, class sprachlicher Kommunikation eine gestikulare Nachahmung des Bezugsobjektes zugrunde liegt. 113 Seine These von der

111 Ich borge mir diese Begrifflichkeit, ein wenig variiert, von Hans Albert (1968: 13). Gemeint sind die

vom platonischen Sokrates vorgeste!lten Altemativen (a) des infiniten Regresses der Untersuchung, (b) eines drohenden logischen Zirkels oder (c) des dogmatischen Abbruchs der Untersuchung, wie sie in der Annahme der gottlichen Verursachung oder Setzung des erwahnten semantischen Kemgehalts besteht. 112 113

422a. Vgl. KRAT. 422e-423b.

KRAT.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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stimmlichen Nachahmungsfunktion sprachlicher Ausdriicke lautet dementsprechend: (Sokrates:) Das Wort ist [ ... ] eine Nachahmung dessen, was es nachahmt, durch die Stimme, und derjenige benennt etwas, der, was er nachahmt, mit der Stimme nachahmt [ .. .].« 114

Diese Hypothese wird sogleich auf den Priifstein gestellt; u. a. ist zu belegen, class sich sprachliche Kommunikation und spezieller ihre Unterart, das Benennen, in reiner Nachahmung erschopft. Dies konne, so Sokrates, schon intuitiv gesehen nicht der Fall sein, da durch den bloBen Nachahmungsakt noch nicht die Verkniipfung zwischen Ausdruck bzw. Lautfolge und dem Tragergegenstand hergestellt wiirde. Es miisse noch etwas hinzutreten, urn von einem Akt des Benennens (der Applikation eines Ausdrucks auf einen Referenzgegenstand) zu sprechen. Benennung ist also, so die erste Gegenthese, nicht blofl Nachahmung. Im nachsten Argumentationsschritt beruft sich Sokrates darauf, class Nachahmungshandlungen an bestimmte Fertigkeiten (technai) gebunden sind, wie bspw. eine Nachahmung eines Gegenstandes durch Farben die Fertigkeit der Malerei betrifft. Dabei haben Farbqualitaten, Stimme etc. generell ihr eigenes Wesen, welches es mittels der technischen Mittel, die irn Rahmen einer Kunstfertigkeit zur Verfiigung stehen, nachzuahmen bzw. abzubilden gilt. Genau darin liegt schlieBlich die iiber die Natur des Bezugsobjekts informierende Funktion, die ein korrekt gebildetes Wort besitzt: (Sokrates:) Wenn eben dies, das Wesen eines jeden Dinges, jemand nachahmen und darstellen konnte durch Buchstaben und Silben, wiirde er dann nicht kundmachen, was jenes ist? 115

Genauer noch fasst Sokrates als die alles umtreibende semantische Frage des momentanen Untersuchungskontextes diejenige auf, ob [Worte] durch Buchstaben und Silben das Sein jener Dinge ergreifen, so da6 sie ihr Wesen abbilden, oder ob nicht. 116

Die hierzu notwendige Erorterung der Frage, ob und, wenn ja, wie die Nachahmung des Wesens eines Bezugsobjekts durch lautliche Mittel erfolgen kann, gliedert sich programmatisch in drei Schritte. Zunachst miissen die nachahmenden Eigenschaften der Buchstaben beleuchtet werden, dann, daraus hervorgehend, diejenigen der Silben und schlieBlich die der SilbenmaBe. Sokrates vergleicht dabei, emeut in Analogie zur Malerei, das Wort mit einem Gemalde, bei dem eine bestimmte phonetische Qualitat einer bestimmten Farbe gleicht, die in diesem abbildenden Gemalde enthalten ist. 114 KRAT. 423b. 115 KRAT. 423e. 116 KRAT. 424a-b.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Die Untersuchung beginnt bei den Selbstlauten, welche gewissermaBen als phonetisch eigenstandig und abgeschlossen anzusehen sind, d. h. ihre phonetischen Qualiriiten fallen mit ihren phonematischen Qualiriiten zusammen. Mit anderen Worten: Die Bedeutung von Vokalen erschiipft sich in ihren phonetischen Eigenschaften, ohne class ein Laut hinzutreten oder ausgespart werden kann. Ziel des Untersuchungsganges ist es, eine 1:1-Entsprechung zwischen Realiriit und Sprache, zwischen einzelnen Ausdriicken bzw. ihren Konstituenten und Stiicken der Realiriit aufzuweisen. Sokrates befiirchtet zwar bereits im Vorhinein, class ein derartiges Untemehmen zu guter Letzt scheitem wird, doch scheint es die einzige Moglichkeit darzustellen, die Auffassung des semantischen Naturalismus derart konsequent weiterzudenken, class er auch in letzter Instanz eine Begriindung sprachlicher Bedeutungen durch die Natur selbst erhalt. Die Abbildungsfunktion von Sprache wird also von Platon deshalb ins Spiel gebracht, weil sie nach seiner Ansicht die letzte vormals klaffende Liicke in der Relation [Ausdruck - Gegenstand] zu schlieBen vermag. Eine Mimesis-Tbeorie der Bedeutung stellt nach Auffassung Platons die einzige Moglichkeit dar, urn auf einem konsequent naturalistischen Wege den determinierenden Einfluss der Realiriit auf die Sprache zu erklaren: (Sokrates:) Lacherlich wird es freilich herauskommen, glaube ich, Hermogenes, wie durch Buchstaben und Silben nachgeahmt die Dinge kenntlich werden. Aber es muss doch so sein, denn wir haben nichts besseres als dieses, worauf wir uns wegen der Richtigkeit der urspriinglichen Worter beziehen konnten. 117

Obwohl der momentan durch den Text vorgegebene Untersuchungskontext die Ebene der Stammworter betrifft, also jene der Ausdriicke und ihrer Konstituenten, die ihrerseits die Grundbestandteile fiir komplexe Ausdriicke darstellen, gilt die Auffassung von der Korrektheit von Namenszuweisungen durch die Reprasentation des Wesens eines Tragergegenstandes auch fiir diese Ebene. Denn, so Sokrates: wer ein Sachverstandiger auf dem einen Gebiet - der Untersuchung der Stammworter - ist, der ist es auch auf dem anderen, dem der Untersuchung der protera, der konstitutiven Einheiten der Stammworter. 118 Das oben skizzierte Programm wird im weiteren Verlauf der Untersuchung auf die Empirie angewandt. Es werden die Zuordnungsverhaltnisse bestimmter Eigenschaften der Realiriit zu jeweiligen Lautwerten untersucht, wobei die Phoneme diese Eigenschaft selbst abbilden bzw. nachahmen sollen. Auf genau diese Weise muss, so gibt Sokrates zu verstehen, durch die Instanzen des Gesetzgebers sowie des ihn beaufsichtigenden Dialektikers, ein korrekter Ausdruck gebildet worden sein: Nach bestmoglicher Einsicht in die Natur der Gegenstande wurde diese im Lautmaterial verkorpert. Das auf diese Weise gebildete Wort ist kraft sei117 KRAT. 425d. 118 Ebd.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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ner Bestandteile ein korrekter Ausdruck fiir seinen Trager. Sokrates zufolge scheint dies der einzig gangbare Weg, der im Vorfeld angenommenen Abbildungsfunktion der Sprache auf die Spur zu kommen: (Sokrates:) Und so scheint auch im iibrigen der Wortbildner sowohl durch Buchstaben als Silben jeglichem Dinge seine eigene Bezeichnung und Benennung angewiesen und hieraus dann das iibrige ebenfalls nachahmend zusammengesetzt zu haben. Dieses nun [ ... ] scheint mir die Richtigkeit der Benennungen sein zu wollen [... ].119

Kratylos stimmt all dem im Wesentlichen zu. Er teilt die Ansicht, class semantische Korrektheit darin besteht, iiber die innere Beschaffenheit des jeweiligen Bezugsgegenstandes zu instruieren und class dem Sprechen der Zweck der Belehrung iiber eine Sache zukommt. Ebenso unterschreibt Kratylos, class das Benennen den Charakter einer techne besitzt, deren Ausiibender der nomothetes, der Gesetzgeber, ist. 1m Weiteren jedoch stoBt der platonische Sokrates auf Einwande seitens Kratylos, der von den zuvor von ihm affirmierten Meinungen schlieBlich doch abweicht und iiber sie hinaus geht. Hier liegt ein Kernstiick des Argumentationsganges gegen die strikte Form des semantischen Naturalismus vor, dem ich mich im Folgenden detailliert widmen werde. Ausgehend von der These, die Tatigkeit des Benennens gleiche strukturell der der Malerei, stellt Sokrates zur Disposition, es gebe doch selbstverstandlich schlechtere und bessere Maler. Was bedeutet es aber, class ein Maler besser oder schlechter die ihm zukommende Fertigkeit ausiibt, so class auch ein von ihm hervorgebrachtes Artefakt von besserer oder schlechterer Artist? 1m Faile der nachahmenden, also abbildenden, Darstellung durch ein Gemalde heillt dies nach Platon, class am im Bild enthaltenen eidos des abzubildenden Gegenstandes zu bemessen ist, von welcher Giite es ist. 120 Genauso miisse es sich doch bei Worten respektive ihren Kleinstbestandteilen auch verhalten: ~nn es etwas gibt, das einen objektiven Standard darstellt, nach dem Ausdriicke vom nomothetes gleich dem Griff zur Farbpalette zu einem >Bild< des abzubildenden Gegenstandes geformt werden konnen, so miissen die daraus resultierenden Artefakte eine derartige Moglichkeit der Differenzierung beinhalten. 119 KRAT. 427c-d. 120 Platon zeigt eine

offenkundig sehr strikte Auffassung von asthetischer piktoraler Reprasentation: diese ist dann als gelungen zu berrachten, wenn sie das jeweilige Seiende in seiner phanomenalen Gestalt abzubilden und damit nachzuahmen vermag. Platons Blick richtet sich aber nicht auf davon abweichende Ansatze, welche etwa in einer bestimmten Art der Verfremdung bei der Darstellung des asthetischen Inhalts bestehen. Deutlich driickt er seine Auffassung etwa im zehnten Buch der PoLITEIA aus, wenn er davon spricht, dass ein Kiinstler immer nur scheinbar Seiendes erzeugen konne, indem er die seienden Gegenstande nachbildet. Dabei bemiiht Platon die Metapher eines Spiegels, den der Kiinstler an die Welt ansetzt und vermittels dessen er »[. . .]bald die Sonne mach[t} und was am Himmel ist, bald die Erde, bald auch [s]ich selbst und die Ubrigen lebendigen ~sen und Geriite und Gewiichse [. . .]«(PoL. 596d-e).

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3.

Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Entscheidend ist also die Annahme, dass ein jeder Name genau dann seine Korrektheit erlangt, wenn er im Stande ist, die Natur bzw. das Wesen der durch ihn bezeichneten Sache angemessen zu benennen. Wenn dem so ist, so der Gedankengang, muss es prinzipiell moglich sein, diesen semantischen Kemgehalt auch tiber samtliche einzelsprachlichen Variationen lautlicher Gestaltung hinweg zuriickzuverlolgen - dies ist das erklarte Ziel der etymologischen Methode. 121 Diese wird nun im Dialog dezidiert vor dem Hintergrund der naturalistischen Grundeinstellung betrieben. Sokrates priift die Moglichkeit, ob es zwischen jeder aktualen Ausgestaltung eines korrekten Namens, dem urspriinglichen Benennungsvorgang sowie der Natur des bezeichneten Gegenstandes einen von Natur aus notwendigen Zusammenhang geben kann, der unabhangig von jeglichem Gebrauch der Sprechergemeinschaft die Bezeichnungsfunktion sichert. Diesen Zusammenhang stellen Sokrates und seine Gespriichspartner - zunachst Hermogenes, dann Kratylos - durch die Annahme her, Sprache sei von primar mimetischem Charakter. Dies erklart sich aus folgendem Umstand: Einmal konzediert, dass allen Namen eine sprachinvariante Substanz zugrunde liegt - worin besteht das Fundament dieser Relation? Die Etymologie, welche sich methodisch mit der Geschichte einzelner Bedeutungen eines Wortes, jedoch nicht mit dem Ursprung einer Bedeutung beschaftigt, kann lediglich dazu verhelfen, den Bedeutungswandel diachron nachzuvollziehen - zumindest im giinstigsten Fall, wenn namlich ausreichend Hintergrundinformationen vorliegen und neben sprachlichen Data auch noch weitere Kenntnisse tiber die Kultur einer Sprechergemeinschaft zur Verfiigung stehen. Denn Etymologie muss zu allererst als eine relative und interpretative Disziplin begriffen werden. Was sie jedoch nicht zu leisten vermag, ist die Beant121

Insofem handdt es sich bei der Etymologie ganz klar urn eine Kunstfertigkeit, eine techne, die auch in gewissem Sinne zur Wahrheitsfindung dienen kann. Damit ist Sedley (bes. 2003a), der als einer der Wenigen das etymologische Procedere im KRATYLOS ernst nimmt, meiner Ansicht nach absolut zuzustimmen. Autoren wie etwa Keller (2000) oder Derbolav (1972) sprechen der Etymologie einen Erkenntniswert fast ganzlich ab und behaupten zudem, eines von Platons ausgemachten Ziden im KRATYLOS sei es, die Etymologie als wissenschaftliche Disziplin ad absurdum zu fiihren. Von Kutschera etwa halt Platons Diskussion der Etymologie fur giinzlich ironisierend: »Platon macht sich dabei iiber die ersten Ansatze zu einer Bedeutungstheorie und -geschichte Iustig, die damals entstanden." (von Kutschera (2002: 151)). Ich mochte diesen Punkt hier nicht in extenso diskutieren, doch sei bemerkt, class begriffliche Wahrheiten, die relativ zu einem sprachlichen Rahmenwerk sind, durch besonnene etymologische Rekonstruktion sicherlich aufgewiesen oder zurnindest als Hypothesen etabliert werden konnen. Das gesamte etymologische Untemehmen ist sicher !angst nicht so naiv, wie die Forschungsliteratur es oftmals gekennzeichnet hat. Ich werde diese Angdegenheit zu einem spateren Zeitpunkt emeut aufgreifen. Eine weitere Bemerkung gilt dem Status der Etymologie in der Naturalismus-Passage: Man konnte die Frage stdlen, ob die Etymologie gerade fiir die naturalistische Anschauung verpjlichtend sei. Dies scheint mir prima facie nicht der Fall zu sein: Etymologische Rekonstruktionen konnen ein zulassiges Mittd der semantischen Erklarung sowohl fur das naturalistische als auch fur das konventionalistische bzw. intentionalistische Paradigma darstellen.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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wortung der Frage, wie die >Schnittsteile< zwischen dem lautlichen Ausgestalten eines Namens 122 und den Eigenschaften des Namenstragers beschaffen ist. Methodisch wird die Begriindungskette schlieBlich durch die bereits erwahnte Reduktion komplexer Namen auf ihre Kleinstbestandteile geschlossen. Nach und nach nahert sich clas Gesprach dem Problem einer Erklarung falscher Benennungsvorgange. Denn wenn es eine natiirliche Verkniipfung zwischen Name und Sache gibt, dann bliebe noch zu erklaren, wie es iiberhaupt irrtiimliche Benennungen geben kann. Kratylos leugnet die Moglichkeit einer Fehlbenennung ganzlich. Er vertritt dementgegen die Ansicht, class, wenn ein Name iiberhaupt ein solcher sein soil und nicht nur ein bedeutungsloses Gerausch, er auch notwendig der korrekte Name fur einen jeweiligen Gegenstand sein muss. Anders ausgedriickt: Wenn ein Name nicht clas herausgreift, was er >eigentlich< herausgreifen soil, so ist er iiberhaupt kein Name. Dem Namen als Namen kommt es notwendig zu, alle zum Bezeichnen relevanten Eigenschaften des Denotats eindeutig zu reprasentieren. Prima facie, so wird man zugeben miissen, klingt diese Ansicht iiberaus unplausibel. Bei naherer Betrachtung wird meines Erachtens jedoch klar, und dies zeigt sich im besonders Textpassus urn KRAT. 430a, class fur Platon die von Kratylos artikulierte These eine notwendige Konsequenz eines strikten 123 naturalistischen Ansatzes beinhaltet: Wenn eine natiirliche Relation gedacht wird, die ihre Referenten und Ausdriicke ursachlich verbindet, dann existiert keine Erklarung fur die Fehlreferenz bzw. Fehlzuweisung eines Namens. Die Beschaffenheit des Namens mitsamt seinem Ahnlichkeitscharakter legt seinen Bezug eindeutig fest, andernfalls handelt es sich zumindest nach einer naturalistischen Konzeption, sofern sie konsequent gedacht wird, nicht urn einen Namen. Jede bedeutungsvoile Sprechhandlung124, d. h. jeder AuBerungsakt, der mit einem semantischen Gehalt versehen ist, ist auch per definitionem der richtige. Kratylos' starke These exemName erf:ihrt dann historisch bedingte Variationen, so etwa durch pragmatische Faktoren oder durch systematische Abanderungen begrifflicher Rabmenwerke (dieser Fall tritt z. B. ein beim taxonomischen Gestalten von Begriffssystemen). Gemeint ist ein semantischer Naturalismus, der nicht nur eine auBersprachliche Beschrankung der Extensionen unserer Ausdriicke zugesteht, sondem ein solcher, der intrinsische Eigenschaften lautlicher Zeichen annimmt, durch die sich die Wrrklichkeit repriisentieren !asst. Damit dehnt sich der naturalistisch-semantische Ansatz auch auf die Bedeutungsebene (also jene des Sinns bzw. der Intension) aus. Zur ausfuhrlicheren Differenzierung dieser heiden Typen naturalistischer Semantik vgl. Kap. 3.3.3. Bei der von mir verwendeten Terminologie ist allerdings eine gewisse Vorsicht geboten, weil der Begriff der Sprechhandlung nahdegt, dass auf die innerhalb der zeitgeni:issischen analytischen Sprachphilosophie gangige Typisierung illokutionarer Rollen, wie sie von Austin (1962) und Searle (1969) vorgeschlagen worden sind, rekurriert wird. Diesen linguistischen Beschreibungsrahmen ordne ich einem hi:iheren diskursiven Niveau zu, als wir es gerade untersuchen. Es ist vorerst nur basales (und kaum kodifiziertes) sprachliches Verba/ten gemeint.

122 Der

123

124

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYWS

plifiziert sornit lediglich, was der Fall ware, wenn dem Sprecher einer natiirlichen Sprache durch natiirliche Motivation allein alles an die Hand gegeben ware, urn an eine bestimmte Wortbedeutung zu gelangen; die These wird als Implikat des Untersuchungsganges aufgewiesen. Der platonische Elenchos gelangt damit also zu einem vorlaufigen Zielpunkt: Die These des semantischen Naturalismus wird in ihrer ersten Fassung ad absurdum gefiihrt und muss revidiert werden. Zu Recht wehrt sich unser alltagliches Empfinden gegen eine in diesem Sinne referenziell >unfehlbare< Sprachpraxis. Und dementsprechend erfolgt auch Sokrates' Nachweis, class falsche Rede entgegen Kratylos' Ansicht durchaus moglich und ebenfalls erklarbar ist. Die Argumentation beruht auf den folgenden Thesen:

(1) Worte und Referenten sind voneinander getrennte Entitaten. (2) Worte besitzen einen ihren Referenzgegenstand nachahmenden Charakter. (3) Bilder sind ebenfalls eine bestimmte Art von Nachahmung, die aber von der in (2) verschieden ist. (4) Zwischen Bildem und Worten besteht die Gemeinsamkeit, class sie jeweils Merkmale ihres Originals enthalten bzw. wiedergeben. Aber: Wo liegt der Unterschied hinsichtlich der Art und Weise, wie Bilder und Worte ein Original abbilden? Die Annahme im Dialog: Man stelle sich zwei Personen vor, einen Mann und eine Frau, sowie ihre bildlichen Reprasentationen. Nun vertausche man die Reprasentationen so, class das Bild der Frau dem Mann und clas Bild des Mannes der Frau zugeordnet wird. Kratylos stimmt zu, class dieser Fall eine Fehlzuordnung darstellt. Doch aufgrund von (2), (3) und (4) stellt sich die Frage, warum er diese Moglichkeit nicht auch fiir die Reprasentationsfunktion von Worten konzedieren wi.irde. So erfiille doch eine Lautfolge genau die gleiche Funktion wie das Bild und lieBe dadurch die Moglichkeit fehlerhafter Namenszuweisung durchaus zu. 125 Kratylos bejaht diese Behauptung, wie wir gesehen haben, und gibt damit den entscheidenden Schritt frei, urn die Auffassung des semantischen Naturalismus durch sprachpragmatische Anteile am Bedeutungsbegriff zwar einerseits einzuschranken, andererseits aber auch zu erganzen. Dies alles steht deutlich der zeitgenossischen Auffassung entgegen, die Relation zwischen sprachlichen Ausdriicken und ihren Referenten sei von arbitrarer Art, es bestehe also keine notwendige intrinsische Verbindung zwischen beiden. 126 Sobald man aber, und dies scheint mir Platons Punkt zu sein, den semantischen Naturalismus so strikt, d. h. so komequent konzipiert, class man die natiirliche Verankerung sprachlicher Bedeutungen nicht nur als Motivation fiir eine an der Realitat orientierte Gestaltung sprachlicher Strukturen auffasst, sondem als tatsachliche Fixierung, ist man gewissermaBen gezwungen, den Arbitraritatsgedanken des 125 Vgl. KRAT. 431a. 126 Vgl. Lyons (1968: 63).

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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sprachlichen Zeichens vollkommen aufzugeben, cla die Welt in diesem Fall nicht nur mitbesti:mmend ware bei der Ausdruckswahl, sondem eine adaquate Semantik bereits vollstandigfestlegte. Diese Konsequenz ist jedoch durch die Empirie nicht gedeckt, insofem sie samtlichen Alltagsmomenten der (kommunikativ erfolgreichen) sprachlichen Praxis entgegensteht. Denn natiirlich, so wird man sofort zugeben miissen, ist der Fall einer Fehlreferenz durch unsere Ausdruckswahl ohne Weiteres moglich, so z. B. bei einer falschen Zuweisung von Eigennamen- wer hat nicht schon einmal im Alltag einen Namen durcheinandergebracht und >eigentlich< Stefan statt Andreas gemeint? Ware eine Abbildtheorie, wie der platonische Sokrates sie nach der Vorstellung Kratylos' ausbuchstabiert, zutreffend, so konnte dieser Fall niemals eintreten, cla beide Namen nur aus eben solchen phonetischen Einheiten gebildet waren, die bereits fiir sich genommen bestimmten Eigenschaften der jeweils bezeichneten Person korrespondierten. AuBerte man aber Namen, die nach diesem Kriterium unzureichend sind, hatten sie nach der Auffassung Kratylos' rein gar keine Bezeichnungsfunktion, ja nicht einmal eine, die wir a1s die Falsche ansehen wiirden. Dadurch, class die den Namen konstituierenden Phoneme mit ihren Bezugsgegenstanden unmittelhar verbunden sind, sind es auch, makroskopischer betrachtet, die aus ihnen komponierten Namen. Das Resultat ist clas von Kratylos vorgestellte: Wohlgebildete sprachliche Ausdriicke 127 sind entweder semantisch erfolgreich in dem Sinne, class sie den richtigen Bezugsgegenstand aus der Welt herausgreifen miissen, oder sie sind bloBes Gerausch und in diesem letzten Fall nicht einmal als Ausdruck einzustufen. Die starken Implikationen, die die naturalistische Semantik in ihrer strikten Form beinhaltet, liegen damit offen. Sie munden in die Hauptthese, class Merkmale der sprachlichen Reprasentation und der Realitit dieselbe Klasse bilden; ein Arbitrarititsgedanke wie oben angesprochen muss demnach diesem Ansatz zufolge aufgegeben werden. Wie argumentiert nun Sokrates gegen den strikten Naturalismus? Er weist auf die ontologischen Implikationen hin, die eine solche Auffassung beinhaltet. Abermals wird dazu die Analogie zwischen dem Benennen und der Malerei bemiiht. Sokrates konstruiert den folgenden Fall: Angenommen, ein Maler fertigte ein Bild an, das Sokrates' Dialogpartner Kratylos reprasentiert. Dieses Bild, so sei weiter angenommen, erlangt dadurch seine Giite als Artefakt, class es Kratylos in bestmoglicher Weise nachahmt respektive abbildet, also die konstitutiven Eigenschaften Kratylos' enthalt. Sofem nun eine groBere Menge an in diesem Sinne im Bild untergebrachten Eigenschaften eine urn so authentischere Abbildung bedeutet, ergibt sich, class eine Vollstandigkeit der enthaltenen Eigen127

Wie eingangs bereits erwahnt, ist Platons Obergang von Eigennamen zu generellen Bezeichnern flieBend, weshalb sich seine Argumente nach meiner Einschatzung stets auf beide Wortklassen gleichermaBen beziehen.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

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schaften keine piktorale Reprasentation von Kratylos mehr ware, sondern sogar eine Verdopplung des Herakliteers. 128 Dadurch namlich, class sich der Begriff der Reprasentation durch die strikte naturalistische Voraussetzung quasi >auflostnicht zukommen>die Grundziige des Dinges«) durch die lautliche Beschaffenheit des Ausdrucks erhalten bleiben. Obwohl Kratylos sich mit den irn Vorhergehenden dargelegten Argumenten irn Grunde einverstanden zeigt, scheint er dennoch Schwierigkeiten damit zu haben zu sagen, ein Ausdruck sei schlecht abgefasst bzw. inkorrekt hinsichtlich der intendierten Bezeichnungsfunktion. 131 Sokrates' Kontra: Ware dann nicht doch die attraktivere Losung des semantischen Grundproblems die von Hennagenes zu Beginn der Diskussion vorgeschlagene, namlich die konventionalistische Erklarung? Doch diese Moglichkeit lehnt Kratylos ab; sie irnpliziere, so auBert er, zu groBe Willkiir bei der Ausdrucksbildung. Fiir ihn ist letztlich der Ahn-

128 Vgl. KRAT. 432b; vgl. ebf. Gauss (1956: 205). 129 Ich miichte allerdings auf eine Unklarheit hinweisen, die beziiglich dieser Konsequenz nicht aus-

zuraumen ist und die Platon sicher nicht in voller Tragweite abgesehen hat. Sie besteht in Folgendem: Bedeutet eine Verdopplung aller Merkmale einer bestimmten Person eine Identitat zwischen der Gesamtheit dieser Merkmale und der besagten Person? Oder sind hierzu nicht auch Faktoren wie etwa die individuelle Geschichte der Person (z.B. fur die Entwicklung mentaler Dispositionen) ausschlaggebend? Piaton scheint hier nicht zu differenzieren, was bedeutete, dass er einen fast schon materialistischen Kurs verfolgt. Dies anzunehmen, scheint mir allerdings mit Blick auf die platonische Psychologie generell und gerade in der spaten mittleren Phase von Platons Schaffen unplausibel; man erinnere sich in diesem Zusammenhang bspw. an den sehr deutlich artikulienen psychophysischen Dualismus, den Platon bspw. im PHA.moN vertritt. 130 KRAT. 432d. 131 Vgl. KRAT. 433c-e.

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lichkeitsaspekt eines sprachlichen Ausdrucks ein Weg, in diesem Punkt :fur eine Eingrenzung der bestehenden Benennungsmoglichkeiten zu sorgen. Das Ergebnis lautet vorerst: Ahnl.ichkeit allein reicht, so Platon, nicht zur sprachlichen Repriisentation einer Sache hin. Es sind durchaus Faile denkbar, in denen die Abbildtheorie sprachlicher Bedeutung zutri:fft - so etwa im Hinblick auf onomatopoetische Ausdriicke, :fur die angenommen werden kann, class sie aus der groBtmoglichen Menge >gegenstandsahnlicher< Laute bestehen. Solche Ausdriicke sind jedoch als ein Spezialfall anzusehen. Wo die Abbildtheorie nicht ausreicht, urn sprachliche Bedeutungen zu erkHiren, kommt die Normativiriit der Sprache ins Spiel. Sie ware nicht notwendig, wenn durch eine (konsequente) Abbildtheorie bereits aile Fakten beziiglich sprachlicher Bedeutungen festgelegt waren. Platons vorHiufiger Zielpunkt ist dernnach folgender: Einige Grundmomente des semantischen Naturalismus konnen der argumentativen Priifung standhalten und erlangen dadurch ihren explanativen Wert :fur die Konstruktion einer Bedeutungstheorie. Eine naturalistische Semantik umfasst, sofem ihr Grundanliegen vemiinftig interpretiert wird, eine Ausrichtung unserer sprachlichen Ausdriicke an der Beschaffenheit der Dinge, die durch sie bezeichnet werden. Dabei grenzt die Ontologie der Welt unsere Moglichkeiten der Benennung deutlich ein. Wichtig ist es zu beobachten, class sich diese Einwirkung der Realiriit auf den sprachlichen Bereich nicht unmittelbar vollzieht, also nicht auf direktem Wege und ohne eine zwischengeschaltete reprasentationale Ebene. Die Welt kann, wie in Piatons Diskussion der strikten Form des semantischen Naturalismus deutlich wird, sprachliche Bedeutungen nicht direkt bestimmen- die Auffassung Kratylos', nach der eine 1:1-Entsprechung zwischen Lauten und Weltstiicken besteht, bleibt ein unerfiillbares Desiderat. Deshalb besteht letztendlich immer die Notwendigkeit, auch die pragmatische Dimension der Sprachbeschreibung heranzuziehen, wenn eine Interpretation der auBersprachlichen Realiriit angestrengt wird. Ein semantischer Naturalismus (im Sinne Platons) ist sornit durchaus als zulassiger Anteil an einer Bedeutungstheorie anzusehen, wenn er nicht die iiberhohte Form einer Abbildtheorie annimmt, sondem die Strukturmomente eines semantischen Externalismus besitzt (im Sinne der weiter oben vorgestellten Entwiirfe Putnams und Kripkes). Die naturalistische Erklarung der sprachlichen Bedeutung, die zu Beginn des KRATYLOS aufgeworfene physei-These, kann fortbestehen, doch nur in eingeschranktem MaBe - in jenem namlich, in dem sie eine Beschrlinkung sprachlicher Ausdrucksformen durch die Beschaffenheit der Realiriit behauptet, jedoch keine vollsriindige Determinierung.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

3.3.4 Platons Begriff des Wissens Ich mochte nun einen kurzen Blick auf den THEAITETOS werfen, in welchem Platon den Begriff des Wissens diskutiert. In mehreren Schritten gelangt Platon in diesem Dialog zu einer Explikation des Begriffs, die >Wissen< a1s gerechtfertigte und wahre Meinung ausweist. 132 Doch sind der Reichweite dieses Explikationsvorschlags in jedem Fall gewisse Grenzen gesetzt, die sich aus dem Rahmen philosophischer Einsichten der gesamten Philosophie Platons ergeben. Platon ist sich des Aspekts der Fallibiliriit menschlicher Erkenntnis durchaus bewusst, weshalb seine Begriffsklarung auch keinen Absolutheitsanspruch erheben kann und will. Derzeit, d.h. in der gegenwartigen philosophischen Literatur, ist diese Einschrankung allerdings weitestgehend aus dem Blickfeld geriickt: Insbesondere innerhalb der analytischen Erkenntnistheorie wird allzu oft von einer >auf Piaton zuriickgehenden klassischen W1Ssensdefinition< gesprochen. 133 >Wissen< wird nach dieser Auffassung kriterial definierbar:

Vom > Wissen< eines epistemischen Subjekts S kann man sprechen, wenn (1) S die Vberzeugung besitzt, dass eine Proposition p zutrifft, (2) S die Vberzeugung, dass p, begriinden kann, (3) die Proposition p realiter zutrifft. Deklariert man dies allerdings als eine tatsachliche Definition von Wissen, so unterschatzt man die Reichhaltigkeit und Differenziertheit des platonischen Wissensbegriffs. Platon lasst seinen THEAITETOS nicht umsonst in einer Aporie enden; er will klarstellen, dass alle im Elenchos vorgeschlagenen und diskutierten Explikationsversuche des WISsensbegriffs auf eine interne Beantwortung der Frage »Was ist Wissen?« abzielen. Es handelt sich hierbei urn einen vergleichsweise schwachen Begriff, da er stets einer regionalen Eingrenzung unterliegt. So werden die in der obigen kriterienbasierten >Definition< erwahnten Auflagen der Begriindung von Propositionen auf einen Kontext relativiert, innerhalb dessen sich i.iberhaupt sinnvoll definierende Kriterien angeben lassen. Gleiches gilt fiir die operativen Eigenschaften von Wissensgehalten, die sich auf Beobachtungsdaten und theoretische Hintergrundi.iberzeugungen griinden. Mit anderen Worten: Der Wissensbegriff wird auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, und ebenfalls auf die erkenntnistheoretischen Moglichkeiten, diesen Bereich zu beschreiben, relativiert.

132 Vgl. THEAIT. 201c-d. Ahn!ich formuliert sich Platon au&rdem im SYMPOSION: »{. . .} Oder hast Du nicht gemerkt, daft es etwas mitteninne gibt zwischen Weisheit und Tarheit? [. . .] Wenn man richtig

vorstellt, ohne jedoch Rechenschaft davon geben zu konnen, weifit Du nicht, daft das weder Wissen ist - denn wie kiinnte etwas Grundloses eine Erkenntnis sein?- noch auch Unverstand, denn da sie doch das Wahre enthiilt, wie kiinnte sie Unverstand sein? Also ist offenbar die richtige Vorstellung so etwas zwischen Einsicht und Unverstand. [. . .}« (SYMP. 202a).

133 Vgl. etwa Spitzley (1986: 5); Baumann (2002: 39), urn nur zwei zu nennen.

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Ein relativistisches Verstandnis des Wissensbegriffs ist dernnach grundsatzlich mit Platon vereinbar. Platon kennt dariiber hinaus aber noch einen weitaus starkeren Begriff von Wissen, jenen namlich, der sich in der argurnentativen Grundhaltung des platonischen Sokrates widerspiegelt. Das viel zitierte Diktum aida ouk eidos (> Ich weifi als Nichtwissenderwir kennen< und >wir kennen nichtwir wissen davon< und >wissen nicht davonnicht wissen< und >versteheniiberregionalFertigwelt< an, die bereits fest in bestimmte Klassen, wie die natiirlicher Arten und Einzeldinge, eingeteilt ist und deren Ontologie wir durch unsere epistemischen Moglichkeiten zu ermitteln in der Lage sind. Der metaphysische Realismus geht dabei davon aus, class es letztendlich nur eine giiltige und vollstandige Beschreibung der Welt geben kann, eben deshalb, weil die Realitiit in ihrer Beschaffenheit letztlich nicht von unseren Beschreibungs- und Interpretationsleistungen abhangt, sondem sie objektive Tatsachen bereitstellt, die es, etwa durch wissenschaftliche Forschung, herauszufinden gilt. 137 Im Gegensatz hierzu steht eine andere Form des erkenntnistheoretischen Realismus, die Putnam und andere als internen Realismus bezeichnen. 138 Thre deutlichste Differenz zum metaphysischen Realismus besteht darin, class der interne Realismus (oder auch lnternalismus) die Behauptung, die Realitat sei per se in der Lage, uns ihre Ontologie (und auf semantischer Ebene die Erfiillungsbedingungen fiir Propositionen) aufzuerlegen, ablehnt. Folgt man diesem Vorschlag, dann werden Wahrheit und damit auch Referenz in bestimmtem Ma.Be beschreibungsrelativ, was schlieBlich zur Folge hat, class Kennzeichnungen wieder an Gewicht gewinnen, urn diese Begriffe zu klaren. Platon scheint (dies wird im Hinblick auf seine Bedeutungstheorie klar) einen sehr ahnlichen Standpunkt einzunehmen. Die Plausibilitat dieses Vergleichs steht und fallt zugegebenermaBen mit der grundsatzlichen Einordnung und Interpretation von Platons Ideenlehre. Nach der Zwei- ~/ten-Interpretation etwa nimmt Platon zwei Bereiche von Seiendem an: Einen mundus intelligibilis, der die ontologisch primaren Gegenstande der Realitat beinhaltet, sowie einen mundus sensibilis, der den Gegenstandsbereich der sinnfalligen Einzeldinge darstellt, denen jene zugrunde liegen. Den Erstgenannten kommt >wirklicheeigentlichen< Gegenstande erlangen, erwerben wir WISsen bzw. erinnem uns an die apriorischen WISsensanteile, die die Seele vorgeburtlich bereits >geschaut< 137

Hagler (1994: 173) spricht in diesem Zusammenhang treffend vom Mythos der ewigen An da

138

Vgl. Putnam (1981), Millikan (1995) und Ellis (1988). Putnam bezeichnet die Position auch gelegentlich als pragmatischen Realismus (vgl. Putnam (1988: 114)); als eine grundsatzliche inhaltliche Einordnung deklariert Pumam diese Auffassung als dritten Wl;og zwischen klassischem Realismus und Antirealismus (vgl. Pumam (1988: 107)).

draufien.

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

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hat. 139 Und damit stiinde einer dem metaphysischen Realismus entsprechenden Ansicht nichts im Wege: Durch den dialektischen Aufstieg erlangen wir- zumindest im giinstigsten Fall - Wissen i.iber an sich seiende Gegenstande, die als solche unveranderlich sind und uns damit schlussendlich eine einzige - und per se korrekte - Beschreibung aufdiktieren. Ich mochte hier nicht ganzlich die oben angedeutete Zwei- We/ten-Interpretation der Ideenontologie Platons zu verwerfen versuchen, doch mochte ich von ihrer starken ontologischen Version absehen, nach der die erwahnten Seinsbereiche unabhangig voneinander realiter existieren. Ich pladiere fiir eine Einschrankung bzw. eine Offnung dieser Interpretation von Platons Ontologie hin zu einer intem-realistischen Lesart. Das soil bedeuten, class die eidola Platons meines Erachtens eine Art erkenntnistheoretisches Regulativ darstellen, das zwar z.B. eine feste Essenz einer nati.irlichen Art postuliert, diese Essenz aber als nicht ganzlich unabhangig von menschlichen Vernunft- und Begri.indungsstandards ansieht. Damit weiche ich von einer streng realistischen Deutung Platons, in der die Ideen realiter existierende abstrakte Gegenstande darstellen, ab, mochte mich allerdings auch nicht auf die Seite der neokantianischen Auslegung Platons schlagen. 140 Ich sehe folglich deutliche Parallelen zwischen Platons Erkenntnislehre und Ontologie und der zeitgenossischen Auffassung des internen Realismus, die gerade auf der Ebene der Bedeutungstheorie hervortreten. Durch eine Interpretation wie ich sie hier anstrebe wird somit erreicht, class die von Platon ausdri.icklich vorgebrachte >Korrektheit der Namen< sinnvoll ausgelegt werden kann. Denn ebenso wie ein jeder Wissensgehalt, der als solcher identifiziert werden kann, bezi.iglich seines Status und seiner Verifizierbarkeit an ein bestimmtes Bezugssystem gebunden ist, sind auch sprachliche Ausdri.icke im Hinblick auf ihre extensionale Dimension fiir Platon an derartige Bezugssysteme oder -rahmen gebunden, welche die Kriterien dafiir vorgeben, ob korrekt auf einen Gegenstand Bezug genomrnen wird oder nicht. Diese Bezugssysteme, die ich als Wissensrahmen bezeichnen werde,

139 Vgl. MEN. 8Se-86b. 140 Etwa jener Paul Natorps. Der von Natorp (2001) vertretene Interpretationsansatz ist zwar

grundsatzlich interessant, da er die Rolle der Erfahrung in Platons Werk besonders hervorhebt. So, wie ich ihn verstehe, sieht Natorp in den platonischen Ideen allerdings Gesetzeshypothesen betreffend empirische Gegenstande und die sie behandelnden naturwissenschaftlichen Theorien. Solche Hypothesen haben fiir Natorp eine Erkenntnis begriindende Funktion, und das in sehr ahnlicher Weise wie fiir Kant, namlich im Sinne eines (transzendentalphilosophischen) Systems von Begriffen, welches unsere empirische Erfahrung a priori fundiert (vgl. KrV A ttf.). Zwar deute ich in den vorliegenden Ausfuhrungen zusammenhangend mit der Grundauffassung des intemen Realismus ebenfalls solche Erkenntnis konstituierenden Systeme von Begriffen an, jedoch sind diese meiner Auffassung nach nicht starr im Sinne der kantischen Tradition, sondem unterliegen einer Dynamik. Dieser Punkt bediirfte prinzipiell einer eigenen ausfuhrlichen Untersuchung, so dass es kaum angemessen scheint, ihn hier in aller Kiirze abzuhandeln - rnir bleibt jedoch im Hinblick auf das hier verfolgte Programm keine andere Moglichkeit.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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sorgen letztlich dafiir, class innerhalb des Sprecherkollektivs eine Art >epistemischer Fundus< etabliert wird, aus dem heraus bestimmte Kennzeichnungen, die mit einem sprachlichen Ausdruck verkniipft sind, ihre Geltung erlangen. Dabei sehe ich die Erforschung des Gehaltes solcher Kennzeichnungen als einen im weiteren Sinne wissenschaftlichen Prozess an, der in unterschiedlichen Auspriigungen erfolgen kann; die Gesamtheit aller in einer Gesellschaft etablierten technai triigt dazu bei, WISsensrahmen festzulegen und damit autorisierende Kriterien fiir das Vorliegen von WISsen zu geben. 141 Sind solche WISsenskriterien erst einmal identifiziert, dann konnen vermittels ihrer auch Erfiillungsbedingungen fiir die korrekte Anwendung sprachlicher Ausdriicke angegeben werden. Wenn die Gesprachsteilnehmer im KRATYLOS also auf eine korrekte Verwendung von Namen rekurrieren oder ebenso davon sprechen, class ein Gegenstand oder eine Person >Zu Recht< ihren Namen triigt, dann birgt eine solche Aussage meines Erachtens stets die Relativierung und Bezogenheit auf bestimmte einem Wissensrahmen enthobene und als Kriterien fungierende definite Beschreibungen. 3.3.5 Wissensrahmen als kriteriale Rahmen fiir semantische Korrektheit

Nachdem ich im letzten Kapitel auf einige Grundlagen von Platons Konzeption des Wissens eingegangen bin, mochte ich mich im Folgenden emeut der Frage zuwenden, an der sich Sokrates' Diskurs mit seinen Gespriichspartnem Hermogenes und Kratylos entziindet: Worin besteht die oft erwahnte >Richtigkeit der Namen< (orthores tOn onomaton), oder anders ausgedriickt: die semantische Korrektheit? Mein Vorschlag lautet, semantische Korrektheit als einen relativen Begriff aufzufassen. Wrr haben gesehen, class ein absoluter Begriff keine Option und daher eine intelligente Alternative dazu gefragt ist. Eine solche Alternative sehe ich in der Relativierung der semantischen Korrektheit auf ein Bezugssystem von Oberzeugungen und Verifikationsmethoden, mithin auf ein System von Kennzeichnungen oder Beschreibungen des Referenten eines sprachlichen Ausdrucks. Insofem auf diese Weise kennzeichnende Eigenschaften eines Namenstragers emeut referenzielle Funktion bekommen, haben wir es hier mit einer partiellen Riickkehr zum Deskriptivismus zu tun: Entgegen der Auffassung des semantischen Extemalismus spielen deskriptive Anteile fiir den Bedeutungsbegriff eine zentrale Rolle. 142 141 Vgl. Rescher (1988: 188f.). Auch im Paradigma des Externalismus kommt man nicht wirklich umhin, beschreibenden Merkmalen eine entsprechende Funktion fiir die Bezugnahme sprachlicher Ausdriicke zuzugestehen. In Putnams metaphysisch-realistischer Semantik bspw. muss ein Mindestma.B an episternischen Bedeutungsanteilen Bestandteil des von ihm rekonstruierten Bedeutungsbegriffs sein, urn die Minimalvoraussetzungen zu einer diskursiv korrekten Ausdrucksverwendung durch einen Sprecher zu gewahrleisten: diese Rolle kommt dem sprachlichen Stereotypen zu, gewisserma.Ben einem Derivat der Intension. Diese Einsicht in die Notwendigkeit beschreibender Bedeutungsanteile soli hier im Hinblick auf die platonische Naturalismus-Konzeption weiterverfolgt werden.

142

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Beginnen wir die folgenden Uberlegungen mit einem Rtickblick auf die zuvor getroffene begriffliche Differenzierung zwischen sozialem und kausalem Externalismus. Ersterer meint eine gesellschaftlich motivierte Individuierung sprachlicher Bedeutung nach extemen Ma.Egaben; letzterer umfasst ja bekanntlich die realistischen und ganzlich subjektextemen Einfltisse auf die Individuierung von Bedeutungen ohne die Zuhilfenahme einer sozialen Abstimmung. 1m ersten Fall haben wir es dementsprechend, und diese Feststellung ist fiir die nachfolgenden Ausfiihrungen von besonderer Tragweite, mit der Ontogenese sozialer Bedeutung zu tun, die, gema.B der von Putnam konstatierten arbeitsteiligen Konzeption, aufgrund bestimmter pragrnatischer Kriterien erfolgt und gewisserma.Een die >AlltagsbedeutungAnbindung< an die Welt zu verstehen? Nach der Auffassung des semantischen Extemalismus werden die Referenten sprachlicher Ausdriicke durch die Sprechergemeinschaft ermittelt, d. h. es obliegt der epistemischen Verfassung des gesamten Sprecherkollektivs, etwa die Mikrostrukturen natiirlicher Arten wissenschaftlich zu beschreiben und stabile Hypothesen tiber ihre innere Beschaffenheit aufzustellen. Dabei werden diese Hypothesen, wie bereits angesprochen, als approximativ wahre Beschreibungen der Realitat angesehen, die es aufrecht zu erhalten gilt, his sie falsifiziert (und durch neue ersetzt) werden. Ein wichtiger Punkt, den man in diesem Zusammenhang im Auge behalten sollte, ist der, class durch eine solche Semantikauffassung die sprachlichen Bedeutungen eben durch etwas auBerhalb der Sprache Befindliches restringiert werden, und zwar, wie ich meine, in dem AusmaE, in dem der Aufbau und die Wrrkung unserer Begriffssysteme betroffen ist. Die Auffindung und die Einbettung von Referenzklassen innerhalb der Sprache ist eine Aufgabe des wissenschaftlichen Experten; er verfiigt tiber Erkenntnismoglichkeiten, die ihm gestatten, dasjenige zu erklaren, was den Einzelinstanzen z. B. natiirlicher Arten zugrunde liegt. Dabei agiert der Wissensexperte innerhalb bestimmter Erkenntnisraume oder Bezugssysteme, die (a) den spezifischen Gegenstandsbereich seiner Forschungen und (b) die spezifischen zu dessen ErschlieBung notwendigen Methoden umfassen. Dariiber hinaus folgen aus diesen einzugrenzenden Rahmenwerken des Erkenntnisprozesses auch bestimmte Kriterien zur Subsumtion eines Gegenstandes oder 143 Vgl. z.B. Stalnaker (1999a: 195), (1999b: 213).

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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einer Klasse von Gegensriinden unter einen bestimmten Begriff. Diese Kriterien gehen ihrerseits aus Eigenschaften hervor, die ein Experte des jeweiligen Wtssensbereichs anzugeben in der Lage ist; der Experte stellt demnach einen begrifflichen, besser noch: kriterialen Rahmen zur Verfiigung, durch den es moglich wird, eine in unserem Sinne korrekte epistemische Einordnung bestimmter Einzeldinge zu erreichen. Ich bezeichne diese kriterialen Rahmenwerke (oder Bezugssysteme) a1s Wissensrahmen. Sie sind als Systeme von Erkenntnisinhalten zu verstehen, die jeweils einen bestimmten Gegenstandsbereich des iiberhaupt moglichen Wissens tiber die Realiciit betreffen. Dadurch, class sie die ontologische Einteilung der Welt beschreiben und entsprechende begriffliche Partitionierung der Realiciit ermoglichen, beinhalten sie auch Vorgaben fiir die begriffliche Struktur unserer Sprache. Blicken wir an dieser Stelle zuriick auf das im vorhergehenden Kapitel diskutierte Wissensversriindnis im THEAITETos, so sollte klar werden, class die kriteriale Auffassung (der schwache Begriff) des Wissens unmittelbar mit meinem Entwurf, semantische Korrektheit zu interpretieren, zusammenhangt. Der Kern meines Ansatzes namlich ist, class innerhalb eines jeden Wissensrahmens der deskriptive Gehalt, der mit einem Namen verkniipft ist, das ihn verwendende Subjekt befahigt, ein Objekt aus der Welt herauszugreifen. 144 Dies geschieht gerade dadurch, class durch die Relativierung des Wissensanspruchs auf ein Rahmenwerk ganz spezi:fische Merkmale des Bezugsgegenstandes in Form kennzeichnender Beschreibungen relevant sind. Die kriteriale Auffassung der Wahrheit von Propositionen hat, wie Stekeler-Weithofer anfiihrt, auBerdem eine Antiindividualisierung der Wahrheit zur Folge: Wenn klar ist, welche Kriterien relevant sind, sind [... ] Urteile der Willkiir des einzelnen Menschen entzogen. Er ist als einzelner auf keine Weise das MaB der Dinge oder des rechten Urteils. 145

Wrr sollten vorab festhalten, class dies grundsatzlich keine Option ist, die ein semantischer Extemalist zugestehen wiirde; im Gegenteil, der Extemalist mochte ja gerade der Auffassung entgegenwirken, Beschreibungen seien in der Lage, den Gegenstandsbezug unserer Ausdriicke vollsriindig zu bestimmen. Indem ein Ausdruck vermittels seiner deskriptiven Funktion also den entsprechenden Referenten bezeichnet, 146 kann auch der Begriff einer semantischen Korrektheit aufrechterhalten und erklan werden: semantisch korrekt ist die Anwen144

145 146

Dieser Ansatz scheint sich schon allein deshalb anzubieten, wei! Platon eine deutliche Tendenz dazu hat, Namen weitestgehend als synonym mit bestimmten inhaltlichen Kennzeichnungen aufzufassen - wie auch z.B. von Kutschera feststellt (von Kutschera (2002: 142)). Stekeler-Weithofer (199: 59). Ahnlich auBert sich iibrigens Sedley, wenn er die Funktion von Namen bei Platon charakterisiert: »[. . .} [T]he power of a name lies in its success, by means of its informational content, in separating the being of its nominatum. The infonnational or descriptive content of names is not itself their function; it is the means by which they fulfill that function.~ (Sedley (2003c: 85))

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dung eines Ausdrucks genau dann, wenn sie den Kriterien des Wtssensrahmens entspricht, d. h. wenn die innerhalb eines Rahmenwerkes vorherrschenden Kennzeichnungen auch tatsachlich auf den Tragergegenstand zutreffen. Auf diese Weise wird es moglich, innerhalb eines Begriffsschemas die Wahrheitsbedingungen fiir eine AuBerung festzulegen und somit von der korrekten Anwendung eines sprachlichen Ausdrucks zu sprechen. 3.3.6 Die Etymologien in Platom KRATYLOS

-

Ein kurzer Rikkblick

Die bislang auBerordentlich umstrittene Rolle der irn KRATYLOS thematisierten Etymologie als linguistische Disziplin wird irn Lichte unseres lnterpretationsansatzes sehr viel besser einordbar. Platen praktiziert diese zu seiner Zeit gangige semantische Methode, urn sich innerhalb gewisser kulturell bedingter und in sich geschlossener Bezugsrahmen zu bewegen und dadurch der bedeutungsgeschichtlichen Entwicklung sprachlicher Ausdriicke auf die Spur zu kommen. Dieser Riickgang besteht darin, den Bedeutungsgehalt eines Ausdrucks innerhalb eines rekonstruierten Verwendungskontextes einzusehen und gleichzeitig eine Analyse komplexer Ausdriicke anzustellen, die einen weiteren Riickgang auf jeweils kleinere und wiederum selbst bedeutungstragende Einheiten gestattet. Die Etymologie beschaftigt sich mit dem Laut- und Bedeutungswandel einzelner Lexeme iiber die zeitliche Entwicklung hinweg, soil dabei Sinnbeziige zwischen diesen Entwicklungen ausmachen und semantische Verwandtschaften zwischen z.B. morphologisch ahnlichen Lexemen aufweisen. 147 Selbstversrii.ndlich, und fiir diesen Punkt sind die ungeheuer phantasievollen Verkniipfungen des Sokrates irn Dialog der meiner Meinung nach beste Beleg, erfordert ein etymologischer Riickgang (oder, wie Sedley treffend formuliert: eine Methode des Dechiffrierens von Worten 148) einerseits ein ausreichendes Wissen iiber z.B. kulturelle Hintergriinde eines Verwendungszeitraumes eines Ausdrucks, wie etwa - irn Faile Platons - die Hierarchie der Gotter der griechischen Antike oder auch der Naturphanomene. Ebenfalls wichtig sind in diesem Zusammenhang natiirlich Stereotypen, d. h. fiir die Sprechergemeinschaft aus (alltags-) praktischen Griinden relevanten kennzeichnenden Eigenschaften, die mit einem jeweiligen Namen verbunden werden. Solche Informationen fungieren als Wegmarken auf der Suche nach den semantischen Grundbestandteilen der in einer Sprache verwendeten Ausdriicke. Auch hier kann man deutlich nachvollziehen, wie einzelne Wissensrahmen fiir die semantische Einordnung herangezogen werden. Der platonische Sokrates des KRATYLOS hat die interpretatorische Methode der etymologischen Rekonstruktion anscheinend vollends verinnerlicht, hat ihre Moglichkeiten und Grenzen offensichtlich durchschaut und praktiziert sie irn 147 Vgl. Lyons (1968: Sf.). 148 Vgl. Sedley (2003a: 54).

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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Dialog in extenso. Under ist in diesem Unterfangen auch durchaus erfolgreich: Immerhin gelingt es Sokrates, iiber mehrere Komplexitatsebenen hinweg die von ihm untersuchten Ausdriicke immer wieder zu segmentieren, zu reduzieren und auf auBerst geschickte Weise Beziige zwischen einzelnen semantischen Feldem aufzudecken; der Athener spielt virtuos mit den Beispielen von Laut- und Bedeutungswandel und lotet kreativ jeden erdenklichen Weg semantischer Erklarung aus. 149 Mehrfach zeigt sich jedoch, class die Etymologie als solche primar die sprachgeschichtliche Entwicklung eines jeweiligen Ausdrucks, nicht aber seinen semantischen Ursprung im Blick hat. Es muss daher grundsatzlich nach einem Beginn der etymologischen Rekonstruktion gesucht werden, einem Ausgangspunkt gleichsam der forttradierten Benennungsrelation. ISO An diesem anvisierten Punkt kommen fur Platon schlieBlich, und hiermit greift er die zwei in der Antike gangigen Erklarungsaltemativen auf, die Begriindung durch Gewohnheit und Gebrauch (thesez) sowie durch die Natur (physez) auf. 3.3.7 Ennittlung der Natur des Namenstragers- Sprachliche Arbeitsteilung bei

Platon

Die bisherigen Uberlegungen betreffend die Konzeption der Wissensrahmen zielen allesamt darauf ab, die Vermittlung und Erarbeitung des zur korrekten Interpretation einer Sprache notwendigen Weltwissens zu rekonstruieren. Ein solches Wissen ist notwendig, urn sprachliche Ausdriicke und begriffliche Schemata so zu

Dieser kreative lmpuls des Sokrates geht so weit, class Platon ihn schlieBlich selbstironisch feststellen Hisst, er wisse auch nicht recht, wie ihm gerade geschehe, so sehr sei er ergriffen von den ihn erfullenden Ideen und einer (fur ihn selbst fraglichen) Weisheit (vgl. KRAT. 428d). Diese Ironie bezeugt sicherlich ein gewisses Unvertrauen Platons in die Methode der Etymologie, doch wiirde ich davon absehen, diesen Punkt iiberzubewerten und daraus zu folgem, class Platon hiertnit auf eine ganzliche Verballhomung der Methode abzielt. Es wird hier lediglich die Einsicht vorbereitet, class eine etymologische Erklarung aufgrund der Bemiihung >weicher< Fakten mit einer gewissen Vorsicht zu genieBen ist; schnell ist man namlich eben an jenem Punkt, an dem assoziativ fast alles moglich ist. Dennoch sollte man sicherlich nicht dem Fehler erliegen, die Etymologie als eine Wissenschaft zu begreifen, die eine Semantizitat bestirnmter Ausdriicke durch strikte >Ableitungen< ermoglicht. Vie! eher geht es ihr offenbar urn Begriindungsanspriiche, die durch eine Beleuchtung der Entwicklungsgeschichte eines Ausdrucks etabliert werden; diese sind nicht in einem strikten, zwingenden Sinne zu verstehen, sondem miissen auf vemiinftigem Wege gegeneinander abgewogen und gepriift werden. ISO Ubrigens wird hier sehr deutlich, class es his zu dem Punkt, an dem eine derartige Begriindung ins Auge gefasst wird, keine Rolle spielt, ob man einen konventionalistischen bzw. intentionalistischen oder aber einen naturalistischen Kurs innerhalb der Semantik verfolgt. Die Etymologie als vorwiegend empirische Rekonstruktion innerhalb einer gesprochenen Sprache ist zunachst mit heiden Erklarungsansatzen kompatibel. Anderer Ansicht ist z.B. Charles Kahn, der die Ansicht vertritt, class aus der Betrachtung der Etymologien unmittelbar die herakliteische Fluss-These und damit auch der konventionalistische Charakter von Sprache hervorgeht (vgl. Kahn (1973: 168)).

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gestalten, class sie sich an der tatsachlichen ontologischen Einteilung der Welt orientieren. lnnerhalb der jeweiligen Wissensrahmen, so war die Annahme, ermoglichen Teilmengen des Gesamtkollektivs der Sprecher einer natiirlichen Sprache, reprasentiert durch die Experten fiir einen jeweiligen Gegenstandsbereich, eine derartige Orientierung der Sprache an den Strukturen der Welt, indem sie versuchen, die Natur eines Namenstragers herauszufinden. Blicken wir zuriick auf Platons erste Charakterisierungen der physei-These, so wird dem Leser dariiber Auskunft gegeben, class ein korrekter Ausdruck der Sprache ein solcher ist, der sich an der Natur seines Bezugsgegenstandes ausrichtet. Trifft er diese moglichst genau, so erfiillt er seine Funktion optimal, verfehlt er sie, dann ist er als unzureichend anzusehen. Wir gelangen folglich immer naher an die bereits angesprochene >Schnittstelle< zwischen auBersprachlicher und sprachlicher Realitat: Nach Platon muss eine Moglichkeit bestehen, erstgenannte zu beschreiben bzw. kognitiv zu erschlieBen, urn dann, in zweiter Instanz, die Kenntnis der daraus hervorgehenden Informationen iiber zu bezeichnende Gegenstande sprachlich zu verarbeiten. Genauer muss durch den Experten die Natur der Tragergegenstande erfasst werden, urn dann zu den entsprechenden Subsumtionskriterien zu gelangen, die in einem jeweiligen Wissensrahmen enthalten sind. Dadurch gelangen wir erneut an einen Punkt, der die platonische Sprachphilosophie sehr stark an ein Grundmoment der Theorie des semantischen Externalismus anbindet. Dieser Punkt betrifft die zuvor angesprochene sprachliche Arbeitsteilung, nach der ein Soziolekt auf verschiedenen Ebenen arbeitsteilig fi.ir die Ontogenese der in seiner Sprache verwendeten Bedeutungen sorgt; die Arbeit der Sprechergemeinschaft gleicht darin der eines Betriebes, welcher die unterschiedlichsten Kompetenzen etwa zur Herstellung eines bestimmten Produktes verwendet. Die resultierende Effizienz gewinnt ein derartiges Vorgehen aus der Konzentration auf die individuellen Starken der Sachverstandigen auf einem bestimmten Gebiet - und spatestens hier wird man sehr deutlich der Parallele zu sehr grundlegenden philosophischen Auffassungen Platons gewahr. Platon sieht gelingendes menschliches Handeln und menschliche Erkenntnis generell in der Fahigkeit begriindet, Wissen iiber einen Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich zu besitzen; ein Verfiigen iiber solches Wissen garantiert Platon zufolge maximalen Handlungserfolg. 151 Wissenschaftliches Wissen in diesem Sinne, also Wissen, das sich in einer Fertigkeit, einer techne, ausdriickt, lasst sich in viele Bereiche einteilen, und dementsprechend existieren in Platons Weltbild auch die unterschiedlichsten Sachverstandigen fiir die entsprechenden Gebiete. Darnit ist Platon eben auch der Gedanke, unterschiedliche Kompetenzen in den Prozess, sprachliche Bedeutungen zu etablieren, einflieBen zu lassen, keineswegs fremd. 1m Gegenteil: Platon gibt sehr deutlich zu verstehen, class fiir die Verfertigung

151 Vgl. Eum. 280a; ebf. Wieland (1983: 129).

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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von Ausdriicken zwei Personengruppen die ma.Bgeblichen Autoritaten sind: der nomothetes einer-, der dialektikos andererseits. Erstgenannter hat, nach unserem revidierten Bild, die Aufgabe, Verwendungsnormen fiir sprachliche Ausdriicke zu schaffen, d. h. ihm kommt die Funk.tion zu, das spezifische Wissen urn die Essenzen der Gegenst:ande dahingehend auszuwerten, class bestimmte Merkmale in die Bedeutung eines Ausdrucks eingehen und damit tiber die korrekte Anwendung innerhalb eines Diskurses entscheiden. Solche Merkmale sind als relativ auf pragmatische Anforderungen des Gesamtsoziolekts zu betrachten; denkbar sind die unterschiedlichsten Merkmalsbiindel, die mit einem Ausdruck einhergehen. 152 lnsofern also bestimmte ausgewahlte beschreibende Merkmale eines Bezugsgegenstandes fiir die sprachliche Bedeutung eine Rolle spielen, ist es demnach die Aufgabe des nomothetes, beim Kreieren kommunikationsfahiger sozialer Bedeutungen ma.Bgeblich mitzuwirken. Solche Bedeutungen ermoglichen einem jeden sie beherrschenden Mitglied der Sprechergemeinschaft, erfolgreich an einem Diskurs teilzunehmen. Sie beinhalten eine Art Grundwissen zur Teilnahme an den allt:aglichen Sprachspielen des Soziolekts und damit zur korrekten Bezugnahme der Sprache auf die Gegenst:ande der Welt. Diese soziale Bedeutung ist vergleichbar mit Pumams Stereotypen, da sie die oben beschriebene Funktion tibernehmen: Ihre Beherrschung befahigt einen Sprecher, Kommunikation zu betreiben und eine Bezugnahme auf die Welt herzustellen. Stereotypen fungieren als sprachliche Werkzeuge, die dazu verwendet werden, diskursiv tatig zu sein, sie enthalten einen Grundstock an WISsen tiber den Referenten eines sprachlichen Ausdrucks (ergo an ausgewahlten Merkmalen). Wie Pumam betont, ist die Beherrschung von Stereotypen einer Sprache obligatorisch, d. h., jeder Sprecher, der innerhalb eines bestimmten Soziolekts an einem Diskurs teilnehmen will, ist gezwungen, das Stereotypenvokabular dieses Soziolekts zu erlernen und in sein sprachliches Repertoire aufzunehmen, will er sich an den entsprechenden Sprachspielen beteiligen. 153 Da es sich bei den Inhalten sprachlicher Stereotypen urn kontingente und kulturabhangige Kennzeichnungsbiindel handelt, bedarf es jedoch einer Verankerung der in ihnen enthaltenen Merkmale, urn eine korrekte Anbindung der Sprache an die Realitat zu gewahrleisten. Dies geschieht, indem ein Stereotyp sich an den Informationen tiber die tatsachliche Extension eines Ausdrucks orientiert, und diese gelangen tiber wissenschaftliche Experten in die Sprechergemeinschaft.

152

153

Die unterschiedlichsten, aber keineswegs beliebige. Sprachliche Kennzeichnungsbiindel miissen den kausal wirksamen realistischen Merkmalen der zu bezeichnenden Gegenstiinde korrespondieren. Doch ist dies nicht irn Sinne eines >harten< korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs zu verstehen (d. h. eines nicht-epistemischen) (vgl. Devitt (1997: 28)). Ich werde auf diesen wichtigen Aspekt irn Zuge der Darstellung des intemen Realismus noch nliher eingehen und zeigen, dass Platons Wahrheitsverstiindnis als eine Art Mischform eines epistemischen und eines nicht-epistemischen Wahrheitsbegriffs angesehen werden kann, wie er auch irn internen Realismus zum Tragen kommt. Vgl. Putnam (1975b: 249).

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3. Semancischer Naturalismus im KRATYLOS

Der sekundare Experte ist damit auf die Bereitstellung entsprechenden Wissens, also von Informationen beztiglich des Referenzgegenstandes eines sprachlichen Ausdrucks angewiesen, gleicherma£en aber auch auf Verifikations- und Expertisemethoden, die eine Extensionszugehorigkeit zu bestimmen erlauben. Aus der Gesamtheit des auf diese Weise verfiigbaren Wissens werden schlieBlich konstitutive Merkmale ausgewahlt, die fur einen jeweiligen Soziolekt besondere Geltung haben und fur eine erfolgreiche Verwendung sprachlicher Ausdriicke sorgen. Die Normierung einer sozialen Bedeutung erfolgt also anhand der Ma£stabe, die uns die bestmoglichen (wissenschaftlichen) und grundlegendsten Beschreibungen von Referenten vorgeben. Zwar werden nicht alle durch jene Theorien ermittelten beschreibenden Merkmale semantisch relevant, wahl aber die Gesamtheit dessen, was der Experte (respektive die Expertengemeinschaft) als Sachkundige(r) der jeweiligen techne an Wissen tiber einen Referenten erlangt. Aus dieser Gesamtheit werden dann jeweils fur den Soziolekt relevante Kennzeichnungen ausgewahlt und in den Inhalt eines Stereotypen aufgenommen. 154 Eine ahnliche Figuration lasst sich auch in der Semantik Platons ausmachen, denn auch er identifiziert verschiedene funktionale Rollen hinsichtlich der Ontogenese sprachlicher Bedeutung. Im Falle der >Absicherung< der Produkte des nomothetes nun erfolgt der Rekurs auf eine oberhalb des Gesetzgebers positionierte Instanz: den Dialektiker. Dieser hat die Aufgabe, den Informationsgehalt, der sich (tiber den nomothetes) in sprachlichen Ausdriicken niederschlagt, zu autorisieren - er verfiigt rnithin tiber die groBtmogliche Menge an Wissen tiber die Natur eines bestimmten Tragergegenstandes. Der Dialektiker stellt in Platons Erkenntnistheorie die hochste Wissensautoritat dar, da er ihm zufolge in die Grnndlagen all dessen, was uns in der Realitat umgibt, Einsicht hat. Die ihm zukommende techne ist (a) die methodische Reflexion auf die eidetischen Prinzipien aller menschenmoglicher Erkenntnis sowie (b) ihrer Grenzen. Folgt man dem ontologischen Stufenaufbau, nach dem Platon die Erkenntnisgegenstande im Hinblick auf ihren Realitatsgrad anordnet, 155 dann wird evident, class der Dialektiker innerhalb der Gesellschaft diejenige Person bzw. Personengruppe 156 reprasentiert, die sich der allgemeinsten Wissensgegenstande annimmt, der Ideen. Insofem diese fur Platon die hochsten dem menschlichen Verstand zuganglichen Gegenstande darstellen, besitzen sie gleichzeitig die Funktion, unser Wissen regional, d. h. bezo-

154

155

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Dass sprachliche Kategorien einer Einzelsprache sich nach den Zwecken und spezifischen Urnwelthandhabungen ihrer Sprecher richten, betont z.B. auch Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen (vgl. Cassirer (1964: 262f.)). Platon deutet in einer Vielzahl von Textpassagen iiber seine mittleren und spaten Dialoge verteilt eine solche Rangfolge an; exernplarisch rnochte ich mich hier auf seine Darstellungen im Linien- und Hohlengleichnis der PouTEIA beziehen (vgl. PoL. 509d-517a). Es handelt sich sowohl bei Platons Gesetzgeber als auch beim Dialektiker rneiner Auffassung nach nicht urn konkrete Einzelpersonen, sondem jeweils urn Kollektive von Personen.

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3.3 Platons semanti.scher Naturalismus

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gen auf die menschlichen Erkenntnisfahigkeiten, zu hegriinden. Damit wird der Dialektiker auch zur Autoritat iiher die Leistungen des nomothetes: Wahrend Letzterer es gewisserma.Ben mit einem pragmatisch motivierten Derivat aus einer hestimmten Menge an Wissen zu tun hat, erreicht der Dialektiker per se einen sehr viel hoheren Grad der Klarheit iiher die Grundlagen hzw. Voraussetzungen solcher Derivate. Diese Positionen zusammen genommen, wird es moglich, einen Stufenaufbau der Kooperation eines Soziolekts zu formulieren, der zu dem des semantischen Extemalismus analog ist. Emeut werden damit durch eine rationale Rekonstruktion bestimmte Rollen innerhalh einer Sprechergemeinschaft sowie ihre lnterdependenzen deutlich, die >sprachlich arheitsteilig< fiir das Zustandekommen von Bedeutungen verantwortlich sind. Im Folgenden werde ich auf diese Rollen im Einzelnen eingehen und sie anschlieBend im Zusammenhang darstellen. 3.3.7.1 Der Gesetzgeher (nomothetes) Platon sieht, wie zuvor festgestellt, eine Instanz vor, welche die techne, also die Kunstfertigkeit, des Designs sprachlicher Ausdriicke praktiziert: den Gesetzgeber (nomothetes). 157 Die diesem zukommende Fertigkeit ist von einer speziellen Art und kann, so Sokrates, durchaus nicht von jedem ausgeiibt werden, der eine Sprache heherrscht: (Sokrates:) Also [ ... ] kommt es nicht jedem zu, Worte einzufiihren, sondem nur einem besonderen Wortbildner. Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Kiinsclem unter den Menschen der seltenste. (Hermogenes:) So scheintes. [ ... ] (Sokrates:) Ebenso wirst Du auch dafiir halten, daB unser Gesetzgeber, der hiesige wie unter den Barbaren, solange er nur die Idee des Wortes, wie sie jedem insbesondere zukommt, wiedergibt, in was fur Silben es auch sei, daB als dann der hiesige kein schlechterer Gesetzgeber ist als irgendwoanders? (Hermogenes:) Freilich. 158

Der platonische Sokrates charakterisiert den Gesetzgeher als jemanden, der (a) dafiir zustandig ist, Worte in eine Sprache einzufiihren, der (b) in einer Gesellschaft nicht in der gleichen Haufigkeit anzutreffen ist wie andere Sachkundige irgendeiner sonstigen Disziplin, 159 und der (c) seine Aufgahe genau dann gut und angemes157 In KRAT. 388e7 spricht Platon vom Gesetzgeber auch als onomaturgos, einem >Wortschaffenden
Handwerker der Namenverpackt< werden muss. Der Grund dafiir scheint mir schlichtweg der zu sein, class, wie wir bereits festgestellt hatten, ein strikter semantischer Naturalismus die Ebene der Reprasentation eines Gegenstandes prinzipiell unverstandlich werden lasst. Wenn aber die Reprasentation wegfallt, dann inkorporiert die Idee eines Namenstragers auch automatisch seine lautliche Gestaltung. Welche Alternative gibt es zu dieser Sichtweise? Meines Erachtens ist es plausibel, mit der Aufgabe des strikten Naturalismus auch die Anspriiche an den Inhalt der techne des Gesetzgebers neu zu bewerten und unter der Voraussetzung der moderaten Lesart des semantischen Naturalismus zu fassen. Das Ziel der techne der >Gesetzgebung< ist dann primar, die extensionale Seite der sprachlichen Bedeutung in den Blick zu nehmen und dariiber hinaus auch Gebrauchsaspekte der Sprache zu beriicksichtigen. Dem Gesetzgeber obliegt es, die von ibm in die Sprache eingefiihrten Ausdriicke soweit an der Natur der Dinge orientiert zu kreieren, wie dies nur eben moglich ist. Dies bedeutet genauer, class er auf ein bestimmtes Wissen rekurrieren muss, urn die entsprechenden einen Gegenstand konstituierenden Merkmale in clas Wort einzubringen. Ein derartiges W1Ssen ist demnach notwendig, urn eine Einordnung des zu benennenden Gegenstandes in bestehende Begriffsschemata zu ermoglichen, wie ebenfalls, urn Koharenz innerhalb eines solchen Begriffsschemas zu schaffen. Ein Gesetzgeber muss dementsprechend eine eingrenzbare Menge an Wissen iiber einen potenziellen Namenstrager beachten und vermittels dessen auf die giinstigste Weise die Ausformung eines sprachlichen Ausdrucks fiir die Benennung vomehmen. Es stellt sich die Frage, was genau der spezifische Gegenstandsbereich der Fertigkeit des Gesetzgebers ist. Ich sehe in der Tatigkeit des nomothetes neben der Auswahl der konstitutiven Merkmale eines Namenstragers das Wissen urn seine Einordnung. Seine techne besteht eben darin, Ausdriicke nach MaBgabe bereits bestehender sprachlicher Ausdriicke und der ihnen zugrunde liegenden Begriffsschemata zu bilden. Da ein jeder Gegenstand, der benannt werden soli, der jedem Dinge von Natur aus zukommt, und seinen Begriff in die Buchstaben und Silben einzubilden versteht.« (Gauss (1956: 205)).

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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Beschreibung innerhalb eines Wissensrahrnens zuganglich ist, sollte ein Gesetzgeber in der Lage sein, eine Ubersicht iiber aile involvierten Wissensrahrnen und ebenso die enthaltenen Merkmale zu bewahren. Nimmt er auf diese Bezug, so ist er- optimalerweise- in der Lage, die Anwendungsnormen des von ihrn etablierten Ausdrucks fiir einen jeweiligen Verwendungskontext anzugeben. Damit zeigt sich eine gewisse Parallele zum zuvor angesprochenen Stufenaufbau derjenigen lnstanzen, die fur das Zustandekomrnen von Wortbedeutungen innerhalb der extemalistischen Semantik verantwortlich sind: darin ist diejenige des nomothetes tendenziell auf der zweiten Stufe anzusiedeln, der der sekundaren Experten. Wir hatten festgestellt, class letztere einen Teilbereich der Sprechergemeinschaft reprasentieren, der fur die Einfiihrung sprachlicher Ausdriicke innerhalb eines pragmatisch motivierten Rahrnens verantwortlich ist, und genau so verhalt es sich meiner Ansicht nach auch mit dem platonischen Gesetzgeber. Dieser namlich agiert auf einer Stufe, auf welcher spezifische pragmatische Anforderungen vorgeben, nach welchen Kriterien ein Ausdruck gestaltet wird. Dabei erfolgt die Auswahl der entsprechenden Kriterien durch den Blick sowohl auf den Gegenstand, der zu benennen ist, als auch den jeweiligen Kontext, in dem er sich befindet. Die Tatigkeit des nomothetes findet also keinen endgiiltigen Abschluss, sondem besteht in einer stetig andauemden Aufgabe. 160 3.3.7.2 Der Dialektiker (dialektikos) Komrnen wir nun zur zweiten fur die Wortbildung relevanten lnstanz, jener des Dialektikers. Wie bereits festgestellt, sieht Platon im Dialektiker den Aufseher iiber die Tatigkeit des Gesetzgebers, und dies aus einem guten Grund. Immerhin reprasentiert der Dialektiker eine noch hohere Ebene episternischer Autoritat. Denn wahrend der nomothetes innerhalb bestimmter Kontexte agiert, urn der Ausiibung seiner techne nachzukomrnen, zielt der Dialektiker seiner Funktion nach auf die episternischen Gmndlagen solcher Kontexte ab. Er ist nach Platon in der Lage, auf die allgemeinsten Gegenstanden und darnit den Einzelinstanzen gegeniiber invarianten Voraussetzungen der Erscheinungen und Reprasentationen der Dinge zu reflektieren. Das aus dieser hochsten wissenschaftlichen Tatigkeit hervorgehende Wissen soil den Dialektiker schlieBlich dazu befahigen, den Gesetzgeber gegebenenfalls zu korrigieren. Platon auBert sich zur Funktion des Dialektikers fur den Prozess sprachlicher Ausdrucksbildung folgendermaBen: (Sokrates:) Wer aber konnte am besten i.iber dieses Geschaft des Gesetzgebers die Aufsicht fi.ihren und seine Arbeit beurteilen, hier sowohl als auch unter den Barbaren? Nicht, der sie auch gebrauchen soli? [ ... ] Ist das nun nicht der, welcher zu fragen

160

Vgl. Sedley (2003b: 7).

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS versteht? [... ] Und derselbe doch auch zu antworten? [... ] Und der zu fragen und zu antworten versteht, nennst Du den anders als Dialektik.er? (Hermogenes:) Nein, sondem so. 161

Platons Dialektiker zeichnet sich also vor allem dadurch aus, class er sich auf den korrekten und angemessenen Gebrauch von Wortem versteht. 162 Er ist der Spezialist fiir das >Fragen und Antworteninstructor< or >educationalistbeing< of things, and (ii) as asker[ ... ] of questions.« 163

Die spezifische Fertigkeit des Dialektikers ist clas Erkenntnis erweitemde Fiihren einer Unterhaltung, und somit ist gerade er der pradestinierte Anwender und Bewerter der Giite von Worten. Platon analogisiert diese differenzierende Funkcion des dialektikos mit der sonstiger Sachkundiger und weist in diesem Zusammenhang auf das dem Dialektiker eigene Gebrauchswissen hin: (Sokrates:) Des Zimmermanns Geschaft also ware, ein Steuerruder zu machen unter der Aufsicht des Steuermannes, wenn das Ruder gut werden soil. [... ] Des Gesetzgebers aber [... ] Worter, wobei er zum Aufseher hatte einen dialektischen Mann, wenn er die Worter gut bilden soll. 164

Dies legt nahe, class Platon im Gesetzgeber, dem nomothetes, zunachst einmal lediglich einen >Handwerker< sieht, welcher es versteht, mit Lautmaterial einer bestimmten Sprache sowie sprachlichen Kontexten umzugehen und dementsprechend sprachliche Ausdriicke zu >entwerfen< oder zu >verfertigenBauplanwirkliche< W1Ssen iiber die Realitat zu erlangen. >Wirklich< bedeutet dabei vor allem: weitestgehend infallibel und moglichst frei von Kontingenz. Eine maximale Infallibilitat gewinnt die Klasse von Erkenntnissen, auf welche die Tatigkeit des Dialektikers gerichtet ist, durch ihren Allgemeinheitsgrad. Sokrates betont, class es im Grunde nur eine herausstechende Disziplin im Korpus aller verfiigbaren Wissenschaften verdient habe, wirklich so genannt zu werden, namlich die Dialektik, die sich mit genau jenen Voraussetzungen und Grundlagen, die ein Einzelwissenschaftler schlichtweg nicht anzugeben in der Lage ist, beschaftigt und der es zukommt, reflexiv die Grundlagen einer jeden einzelwissenschaftlichen Erkenntnis zu erhellen. Dieser Kontrast wird besonders im Vergleich der Dialektik mit der hochsten Form der exakten (Verstandes-) Wissenschaft, der Mathematik, deutlich. Die Domane der dialektischen Wissenschaft, der >andere Teil des Denkbaren< namlich, ist das, was die Vernunft selbst ergreift mittels des dialektischen Vermogens, indem sie die Voraussetzungen nicht zu Anfangen, sondern wahrhaft zu Voraussetzungen macht [ ... ] ohne sich iiberhaupt irgendeines sinnlich Wahmehmbaren zu bedienen, sondern nur der Ideen selbst an und fiir sich, und so bei den Ideen endigt. 170

Wenn man es also innerhalb der Philosophie Platons mit Dialektik zu tun hat, so auch immer mit dem prim(iren Bereich menschlicher Erkenntnisgegenstande, dem geistigen Bereich - denn nur die ihm angehorenden Gegenstande sind invariant gegeniiber sinnlich begreifbarer Veranderung und stellen damit den Gegenbereich etwa zu dern des herakliteischen Werdens und der eleatischen Vielfalt des Seienden dar. Geistige Objekte sind fiir Platon ewiges und unvergangliches Seiendes. Der Ausiibende der Dialektik als der W1Ssenschaft von den eidetischen Grundlagen der sinnfalligen Dinge besitzt also per se ein groBeres W1Ssen als der Einzelwissenschaftler, da sein Wissen nicht ausschlieBlich auf konkrete Gegenstande gerichtet ist, die dem Werden unterliegen, sondem auf solche, die jeglicher sinnenbedingter Kontingenz entbehren - dies eben dadurch, class es sich urn Vernunftwahrheiten handelt. Diese Forderung eines vollkommen sicheren Wissens, einer Gewissheit, kann nur regulativ zu verstehen sein; Platon gibt keine Methode an, durch die man garantiertermaBen an gewisse Erkenntnis gelangen konnte. Generell schweigt er sich iiber die Moglichkeit eines unurnstoBlichen Fundaments des fiir menschliche Wesen erlangbaren Wissens aus. Es gibt, und dies ist fiir Platons gesamte Philosophie und vor allem fiir seine Konzeption des philosophischen Diskurses absolut entscheidend, bessere oder schlechtere Auffassungen und Begriindungen unserer Uberzeugungen. Wrrd von mir demnach eine Vermeidung von Kontingenz hinsichtlich unseres Wissens betont, dann verstehe ich Platon so, als ziele er auf die regulative Annahme maximal gerechtfertigter Glaubensanspriiche ab, urn Erkenntnisinhalte von der vordergriindigen Fehlbarkeit 170 PoL. Sllb-c.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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sinnlicher Wahmehmung sowie der Verblendung durch bloBe Meinung abzukoppeln. Halten wir somit fest: Dialektik ist eine Disziplin, die durch den priifenden Austausch von Dberzeugungen und Thesen insofem zu einer Sicherung von WISsen gelangen will, als dieser Austausch eine vemiinftige und tiefe Einsicht in einen jeweiligen Gegenstand und damit stabile Kriterien zum Urteilen tiber einen Gegenstand ermoglicht. 171 Der Dialektiker enthebt seine Untersuchungen demzufolge dem Skopus einer auf einen bestimmten Gegenstandsbereich gerichteten Fertigkeit und stellt die Grundlagen dieses Gegenstandsbereichs wie auch der Untersuchungsmethode selbst in Frage. 172 Im Hinblick auf Platons Charakterisierung des Verhaltnisses von Gesetzgeber und Dialektiker mit Blick auf die Theorie der Bedeutung heillt das: Egal, wie gut ausgebildet ein einer bestimmten techne Kundiger auch ist, wie gut also seine Kenntnisse z. B. der politischen, juristischen, mathematischen oder auch der Holz verarbeitenden Kunstfertigkeit sein mogen, der Dialektiker (respektive der Philosoph; Platon gebraucht diese Bezeichnungen ja bekanntlich synonym) hat ihm gegentiber stets einen WISsensvorsprung, der daraus hervorgeht, class er zusatzlich zu bestimmten eingrenzbaren Wissensgehalten, die eine partikulare techne konstituieren, noch das Urteilsvermogen besitzt, tiber den Rahmen dieser einzelnen Gehalte hinauszugehen und somit Einsicht in die Grenzen der Rechtfertigung und Begriindung ihrer zu gewinnen. Dem Dialektiker kommt dadurch im Rahmen einer Bedeutungstheorie die Aufgabe zu, durch die ihm eigene Methode an WISsen tiber die Realitat zu gelangen, welches dann insofem in die Bildung sprachlicher Ausdriicke eingeht, als es eine korrektive Funktion bei der Aufsicht tiber die Tatigkeit des nomothetes besitzt. Der Dialektiker hat innerhalb der Sprachgemeinschaft die Funktion, landlaufige Meinungen durch sein Verfahren entweder zu stiitzen oder gar zu entkraften so er wirklich in den Prozess des Namenschaffens eingebunden ist und seine faktische Autoritat gegentiber dem Gesetzgeber gesichert ist. 1st aber dies der Fall, so bringt er seine Erkenntnisse tiber die Natur jeweiliger Namenstrager in den Prozess der Benennung mit ein. Eine treffende und unseren Zwecken dienliche Charakterisierung der Rolle des Dialektikers fiir die Bildung sprachlicher Ausdriicke bietet Norman Kretzmann. Mit Blick auf dasjenige, was die Grundlage einer sprachlichen Bedeutung darstellen soli, also gewissermaBen die Substanz der sprachlichen Bedeutung, spricht 171 Vgl. Stekeler-Weithofer (1995: 38). 172

Terence Irwin verdeutlicht diesen Punkt mit dem Verweis auf den Status mathernatischer Wahrheiten innerhalb der platonischen Erkenntnistheorie: Er stellt heraus, class abstrakte Ideen wie die mathematischen fiir gewohnlich so behandelt werden, als ob sie selbstevident auf die Wrrklichkeit beziehbar sind. Dies ist jedoch nicht der Fall; es ist die spezi£sche Aufgabe des Dialektikers zu sehen, class ein Mathernatiker zur Verwendung seiner Inhalte Annahmen machen muss, die aufierhalb des theoretischen Rabmens der Mathematik weiterer Rechtfertigung bediirfen (vgl. Irwin (1995: 279)).

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Kretzmann vom model correct name eines Gegenstandes. Dieser ist eine au.Bersprachliche Enticiit, die die Kriterien verkorpert, nach denen ein Name beschaffen sein muss, urn im von rnir bereits beschriebenen Sinne als >korrekt< zu gelten. 173 Es handelt sich dabei also urn eine Art >Konstruktionsvorschrift< fiir die Herstellung eines sprachlichen Ausdrucks, rnittels derer sich dieser adaquat an der Realiciit orientieren soil und eine optimale Anpassung des Ausdrucks an die Realiciit erzielt werden kann. Kretzmann sieht dariiber hinaus die Korrektheit von Namen, ganz gleich, welcher Einzelsprache sie angehoren, darin begriindet, class ihnen ein und derselbe model correct name zugrunde liegt. Darnit scheint auch Kretzmann in seiner Interpretation klarerweise von einem au.Bersprachlichen Begriffsschema auszugehen, an dessen Etablierung der Dialektiker den Hauptanteil hat. 174 Solche vorgelagerten Begriffssysteme bilden dann die Grundlage fiir die Bildung eines einzelsprachlichen Ausdrucks. Was den nomothetes darnit schlieBlich vom Dialektiker unterscheidet, ist, class der Dialektiker ein extensional, auf die Referenzklassen bezogen korrektes Begriffssystem repriisentiert, welches der Gesetzgeber aufgreifen muss, urn korrekte Ausdriicke zu bilden. Ein solches System erhalten wir durch den Prozess wissenschaftlicher Forschung, sowohl der empirischen als auch der philosophischen, wie Kretzmann zu verstehen gibt: [H]ow do the various linguistic authorities come to know the model correct names they are to embody in the sounds of their various languages? By attending to philosophical and scientific authority, personified as the >dialectician< [ ... ] the one whose essential concern is taxonomy. 175

Es liegt also beim Dialektiker, WISsen tiber die Welt zu erlangen und in einem begrifflichen System zu verankem, das in der Lage ist, die ontologische Beschaffenheit der Realiciit moglichst genau zu repdisentieren. Eine der Hauptaufgaben des Dialektikers ist damit die taxonornische Beschreibung der Ontologie der Welt. 176 Man beachte vor diesem Hintergrund Kretzmanns Darstellung der epistemologisch-wissenschaftstheoretischen Dimension von Platons Semantik, die er mit Blick auf den falliblen Charakter taxonornischer Systeme folgendermaBen zusammenfasst:

173 174

175 176

Vgl. Kretzmann (1971: 129). Kretzmanns model correct name stellt eine auBersprachliche Entitiit dar (vgl. Kretzmann 1971: 129). Eine ahnli.che Auffassung vertritt auch Gail Fine, die Platons begriffliche Differenzierungen a1s >typos-Theone< sprachlicher Ausdriicke bezeichnet. Danach muss ein Ausdruck, so er adaquat gebildet ist, die Essenz des Namenstriigers korrekt freilegen bzw. beschreiben: »{. . .] to name x, [a name] must reveal the typos or outline of the essence of x; [. . .]it must correctly describe xj essence.« (Fine (1977: 298)). Kretzmann (1971: 130) (Hervorhebung von mir.). Vgl. ebd.

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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Thus according to [Plato] [ ... ] we are capable of avoiding incorrect names - such as >phlogiston< and >monad< to the extent to which science and philosophy (personified as the >dialecticianLAIEGesamtiiberblick< behalten, urn die Gegenstande des Denkens mit einem ganzheitlichen Blick koharent zu interpretieren. Die Dialektik wird somit auch als eine Tatigkeit des Abwagens etwa der Plausibilitat bestimmter Inhalte gegeniiber anderen ausgewiesen, z. B. im Falle verschiedener widerstreitender wissenschaftlicher oder ideengeschichtlicher Paradigmen. Ich mochte hier bewusst offenhalten, ob es sich dabei urn genau die Bereiche menschlicher Wissenschaft handelt, die uns gegenwiirtig gelaufi.g sind und die wir

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3.3 Platons semantischer Naturalismus

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innerhalb des szientistischen Weltbildes, das mittlerweile in den aufgeklarten Teilen der Welt vorherrscht, als primaren Erklarungsrahmen fur samtliche Phanomene heranziehen. Doch in der Tat handelt es sich bei den angesprochenen Wissensbereichen auch urn Ansichten und Uberzeugungen, die der Metaphysik und der Religion zuzurechnen sind, auBerdem ganz lebensweltliche Anschauungen, die wir mit unseren abstrakten Theorien der Wissenschaft in Einklang bringen miissen, urn ein koharentes Bild der Welt zu kreieren. Solche lnterpretationsleistungen kommen dem Dialektiker zu, will man einen >SachkundigenLaiensprecher< besitzt ein sehr geringes Wissen iiber den Weltbezug derjenigen Ausdriicke, die er benutzt; dieses Wissen muss lediglich hinreichen, urn an den gewiinschten Sprachspielen teilzunehmen. Damit das gelingt, muss die subjektive Kompetenz des Alltagssprechers nicht allzu hoch sein; es ist vielmehr entscheidend, class er soziolektisch an die oberste Stufe der Sprechergemeinschaft (entweder den Experten oder aber den Dialektiker) kausal-kommunikativ angeschlossen ist, urn auf das relevante Wissen zugreifen zu konnen. Damit wird klar: Auf der obersten Ebene findet der kausale Anschluss der Sprechergemeinschaft an die auBersprachliche Realitat statt; die zu bezeichnenden Gegenstande werden nach den besten zur Verfiigung stehenden Methoden und Erklarungsrahmen herausgegriffen und benannt. Sie werden dabei jeweils unter einen ihnen zukommenden Begriff subsumiert. Dieses Moment der Extensionsfestlegung eines Ausdrucks wird an die darunter liegende Stufe weitergegeben und auf jener dann eine Derivation der Gesamtmerkmale des Namenstragers erzielt, die sich nach unterschiedlichsten Anwendungsbereichen gestaltet. Auch das somit fixierte Bedeutungswissen wird abwarts weitergereicht, so class schlieBlich sprachliche Bedeutungen, auf dem >kleinsten gemeinsamen Nenner< der Sprechergemeinschaft vom Alltagssprecher aufgrund fest fixierter Anwendungskriterien erlemt werden konnen.

Christoph Diehl - 978-3-89785-944-9 Downloaded from Brill.com02/06/2023 03:11:52PM via University of Toronto

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3. Semantischer Naturalismus im KRATYLOS

Ich mochte an dieser Stelle auf zwei Punkte besonders hinweisen. Der erste betrifft die in diesem Schema enthaltene Normativiriitskomponente der sprachlichen Bedeutung. Bisher war die Untersuchung gerade des semantischen Naturalismus vorwiegend auf die deskriptive Dimension sprachlicher Bedeutungen gerichtet, d. h. die innerhalb der kausalen Referenztheorie und der Hypothese der sprachlichen Arbeitsteilung fiir uns bislang interessante Ebene betraf die deskriptive Erfassung bzw. Ermittlung der Natur des Namenstriigers und deren Weitergabe innerhalb der verschiedenen Instanzen des Soziolekts. Am gegenwartigen Punkt allerdings ist es offensichtlich, class fiir die beschriebenen Modellierungsversuche eine normative Ebene zu beriicksichtigen ist, urn dem Phanomen der sprachlichen Bedeutung explanatorisch angemessen Rechnung zu tragen; diese normative Ebene zeigt sich sehr deutlich im Hinblick auf die genuin epistemischen Anteile des Bedeutungsbegriffs, ohne die auch ein dezidiert naturalistisches Bild nicht auskommt. So waren wir auch und gerade durch die Parallelisierung des platonischen Naturalismus mit der extemalistischen Semantik davon ausgegangen, die entsprechende Erfassung der Natur eines jeweiligen Referenten eines sprachlichen Ausdrucks statte uns bereits mit der richtigen, der objektiven, Kennzeichnung dieses Referenten aus. Doch wie schon abzusehen war, ist der Fall nicht so einfach geartet, wie er sich zunachst darstellt. Die Betrachtung der rein deskriptiven Ebene reicht, wie anfangs bereits angesprochen, fiir eine adaquate semantische Theorie nicht aus. Mit Blick auf die hier dargestellte Rekonstruktion dessen, was an naturalistisch-semantischen Intuitionen Uberhaupt sinnvoll aufrechterhalten werden kann, ist die normative Dimension fiir das Gelingen jeglicher Kommunikation konstitutiv. Denn obgleich realistische Eigenschaften der Welt in die Bedeutung unserer Ausdriicke eingehen, unterliegt dieser Prozess einer jeweiligen Interpretationsleistung, und diese ist in jedem Fall normativ aufgeladen. Dies fi.ihrt uns zum zweiten Punkt. Dadurch, class wir nun einen Hinweis darauf gewonnen haben, wie hoch der Anteil bzw. das Mitwirken normativer Elemente fiir den Bedeutungsbegriff bei Platon (und, nach dem Anspruch der vorliegenden Untersuchung, auch generell) ist, muss eingestanden werden, class die Annahme, die Erforschung der atillersprachlichen Natur ermogliche uns einen epistemischen Zugriff auf ein interpretationsunabhiingiges An-sich-Sein der Gegensriinde, aus welchem sich dann eine bestimmte Anwendungsnorm ableiten lieBe, unplausibel ist. 1m Gegenteil ist eine realistische Semantikkonzeption zwar sinnvoll und auch aus explanatorischen Griinden geboten, 180 doch sollte 180 Die Notwendigkeit einer objektiven oder zumindest subjektinvarianten Semantik zur Gewahrleis-

tung gelungener Kommunikationspraxis ist aus systematischen Griinden durchaus nachvollziehbar und daher auch in der zeitgenossischen Diskussion relevant: •Denn warauf beruhen Konventionen und die intersuhjektiv gleichartige Regelhaftigkeit der 'Vorstellungen